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German Pages 628 Year 2019
Ömer Alkin Die visuelle Kultur der Migration
Postmigrantische Studien | Band 5
Editorial Im postmigrantischen Diskurs, der nicht nur in den Sozialwissenschaften an Verbreitung gewinnt, kommt eine widerständige Praxis der Wissensproduktion zum Ausdruck – eine kritische und zugleich optimistische Geisteshaltung, die für postmigrantisches Denken von zentraler Bedeutung ist. Die Vorsilbe »post-« bezeichnet dabei nicht einfach einen chronologischen Zustand des Danach, sondern ein Überwinden von Denkmustern, das Neudenken des gesamten Feldes, in welches der Migrationsdiskurs eingebettet ist – mit anderen Worten: eine kontrapunktische Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse. In der radikalen Abkehr von der gewohnten Trennung zwischen Migration und Sesshaftigkeit, Migrant und Nichtmigrant kündigt sich eine epistemologische Wende an. Das Postmigrantische fungiert somit als offenes Konzept für die Betrachtung sozialer Situationen von Mobilität und Diversität; es macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die nicht etwa am Rande der Gesellschaft anzusiedeln sind, sondern zentrale gesellschaftliche Verhältnisse zum Ausdruck bringen. Kreative Umdeutungen, Neuerfindungen oder theoretische Diskurse, die vermehrt unter diesem Begriff erscheinen – postmigrantische Kunst und Literatur, postmigrantisches Theater, postmigrantische Urbanität und Lebensentwürfe –, signalisieren eine neue, inspirierende Sicht der Dinge. Mit der Reihe »Postmigrantische Studien« wollen wir diese Idee und ihre wegweisende Relevanz für eine kritische Migrations- und Gesellschaftsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und dazu einladen, sie weiterzudenken. Die Reihe wird herausgegeben von Marc Hill und Erol Yildiz.
Ömer Alkin ist Medien- und Kulturwissenschaftler sowie Filmemacher und lebt in Köln und im Ruhrgebiet. Neben zahlreichen Tätigkeiten in den Bereichen Interkulturalität, Audiovision und Digitalisierung ist er ebenfalls an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen sowie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg beschäftigt und war Stipendiat des BMBF-finanzierten Begabtenförderwerks Avicenna Studienwerk e.V.
Ömer Alkin
Die visuelle Kultur der Migration Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos
Für meinen Großvater Ömer Alkin. Und für alle anderen Gastarbeiter_innen und ihre Nachkommen auf dieser Welt... Köln im Oktober 2019
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Yakup Barokas, Coverbild des verschollenen Kurzfilms »Bir Alamanya ki« (1968, TR) (dt. »So ein Deutschland ist es«) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5036-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5036-9 https://doi.org/10.14361/9783839450369 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Vorwort: »Epistemischer Ungehorsam« ................................................................. 11 Vorwort: Wir sind nie transkulturell gewesen.......................................................... 13 Danksagung.................................................................................................. 17 Hinweise für die Leser_innen ............................................................................. 21 Einleitung ................................................................................................... 23 Kommunikationsvektoren: Phatische Funktion und Übersetzung ............................................ 27 Erste Forschungshistorie .............................................................................................. 28 Logotektonik der Arbeit: Makroebene .............................................................................. 30 Logotektonik der Arbeit: Mikroebene ............................................................................... 33 Visuelle Kultur der Migration? – Analysefokus der Arbeit...................................................... 38 Zurück zu den Kommunikationsvektoren ...........................................................................44 1. 1.1.
Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen .................. 47 Wissenschaftstheoretische Explikationen zum Forschen am Film .................................. 48 1.1.1. Sichtbarmachungen in der Filmwissenschaft: Zwischen Meta- und Pataphysik..................................................................... 48 1.1.2. Variabilitäten im Untersuchungssetting: Aisthetisches im Forschen am Film .......... 52 1.2. Filmwissenschaft und Science and Technology Studies: Forschen zum Forschen ........................................................................................ 59 1.3. Zum Untersuchungsdesign der Arbeit: Hinweise zu den Operationalisierungen .................................................................... 63 1.3.1. Intelligibler Theorien- und Methodenpluralismus ............................................... 63 1.4. Überleitung in den Historisierungsteil ...................................................................... 64
TEIL I: Polyzentrierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹ 2. Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹........................... 69 2.1. Die wissenschaftliche Konstruktion des ›deutsch-türkischen Kinos‹ .............................. 69 2.2. Das ›deutsch-türkische‹ Betroffenheitskino................................................................ 75 2.2.1. Ensemble I: Betroffenheitskino der 1970er – Gastarbeiter_innenfilme ..................... 76 2.2.2. Ensemble II: Betroffenheitskino der 1980er – (Des)Integrationskino....................... 83 2.2.3. Zwischenresümee....................................................................................... 93 2.3. Das neue ›deutsch-türkische Kino‹ ......................................................................... 95 2.3.1. Ensemble III: »Pleasures of Hybridity« als liminale Phase (1990er) ........................ 101 2.3.2. Ensemble IV: Nachwehen & Exzeption Fatih Akın (2000er).................................. 108 2.3.3. Ensemble V: Betroffenheit, Culture Clash, Post-Migration (2000-2010er) ................. 116 2.3.4. Epistemologische Vereinseitigung: Blinder Fleck ›türkisches Kino‹....................... 127 3. Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹ ....................... 131 3.1. Kritik der wissenschaftlichen Konstruktion des türkischen Emigrationsfilms ................... 131 3.2. Der ›türkische Emigrationsfilm‹ in der Yeşilçam-Phase ...............................................137 3.2.1. Vorstory I: Kemalismus und die Entstehung einer nationalen Kinematographie .......137 3.2.2. Vorstory II: Die Entstehung des Yeşilçam-Kinos und die Binnenmigrationsfilme ...... 145 3.2.3. Ensemble I: Migrationskino in der High-Yeşilçam-Phase I (1960er)........................ 155 3.2.4. Ensemble II: Migrationskino in der High-Yeşilçam-Phase II (1970er) ....................... 157 3.2.5. Ensemble III: Migrationskino in der Late-Yeşilçam-Phase (1970-1980er).................. 161 3.2.6. Ensemble IV: Migrationskino in der Post-Yeşilçam-Phase (1990-2010er).................. 167 4. 4.1.
4.2. 4.3. 4.4.
4.5.
World, Transnational und Polycentric Cinema: Neuverortungen des ›deutsch-türkischen Kinos‹ .............................................. 171 Der ›türkische Film‹: World Cinema.......................................................................... 172 4.1.1. Einleitung: Der schwierige geopolitische Ort der Türkei ...................................... 172 4.1.2. Zur Rezeption der türkischen Filmgeschichte ...................................................173 4.1.3. Türkei im World Cinema: Eurozentrismus und Orientalismus ................................ 174 4.1.4. World Cinema: Geschichte und Kritik ............................................................... 177 4.1.5. Differenz zum Third Cinema .......................................................................... 179 »Flexible Geographien«: Von der ›Welt‹ zu den ›Regionen‹........................................... 181 Zwischenresümee ............................................................................................... 186 Das ›deutsch-türkische Kino‹: Transnational Cinema ...................................................187 4.4.1. Transnational Cinema: Transkulturalität oder Critical Transnationalism? ................187 4.4.2. Fortwirken des Eurozentrismus?.................................................................... 191 Verloren zwischen World und Transnational Cinema? – Für ein inklusives Modell des ›deutsch-türkischen Kinos‹............................................ 195
TEIL II: Filmische Konstruktionen der Migration im High-Yeşilçam-Kino der 1970er Jahre 5. 5.1. 5.2. 5.3.
Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films.................................. 201 Film und Soziales: Überlegungen zur Medialität des Films ........................................... 201 Die visuelle Konstruktion des Sozialen – Wider dem ›Inhaltismus‹ ................................ 203 Grundüberlegungen zur Untersuchungsstruktur ........................................................ 206 5.3.1. Drei heuristisch gewonnene Relationsbestimmungen: Die minimale Ereignisstruktur von Emigration ................................................. 209
6. Figuration I: Abwesenheit und die Home Group ................................................ 213 6.1. Einige Vorwegnahmen........................................................................................... 221 6.2. Abwesenheitssequenz I: Davaro (1981) – Die Produktion der home group ......................... 224 6.2.1. Filmanalytische Beschreibung – Davaro ......................................................... 224 6.2.2. Die Entfaltung der home group in Davaro........................................................ 228 6.2.3. Konstruktionen des Emigranten in Absenzszenen: Suggestive Verbalisierungen ........................................................................ 238 6.3. Die filmische Konstruktion der Heimzusammenhänge: Migration und Film ...................... 242 6.4. Abwesenheitssequenz II: Kara Toprak (1973) – Die paradigmatische Heimkonstellation ..... 245 6.4.1. Eine kleine Geschichte des Dorffilms ............................................................. 247 6.4.2. Kara Toprak als Dorffilm..............................................................................251 6.4.3. Plot von Kara Toprak .................................................................................. 253 6.4.4. Filmanalytische Beschreibung – Kara Toprak .................................................. 254 6.4.5. Die (Ur-)Szene der Emigrantenrückkehr: (Er-)Wartende Eltern............................. 255 6.4.6. Räume der Verfremdung – Emigration als Alteritätsdiskurs ................................ 265 6.5. Abwesenheitssequenz III: Oğlum Osman (1973) – Erinnerungen und Preservation .............. 273 6.5.1. Oğlum Osman als Millî Sinema........................................................................ 276 6.5.2. Die Sichtbarmachung der Westernisiertheit eines Bildungsmigranten................... 282 6.5.3. Beschreibung: Absenzsequenz ..................................................................... 284 6.5.4. Das Prinzip der Konservierung – Emigration und Preservation(-sbild) ................... 288 6.5.5. Von der Abwesenheit zur Anwesenheit – Überleitung ........................................ 296 7. Figuration II: Anreise ............................................................................. 305 7.1. Einleitung: Der Emigrationsfilm Acı Zafer ................................................................. 307 7.1.1. Der Plot von Acı Zafer ................................................................................ 308 7.1.2. Andersmachung des Emigranten: kurzer Exkurs .............................................. 309 7.2. Zur Struktur des Kapitels ...................................................................................... 313 7.3. Anreisesequenz I: Acı Zafer (1972) – Zug, Dorf, Teestube, Andersmachung .......................315 7.3.1. Sichtbarmachung transnationaler Migration: Der Zug .........................................316 7.3.2. Deiktika als Sichtbarmachungsinstanzen von Dorf, Reise und Lokalitäten .............. 317 7.3.3. Teehaus als Eintrittsmarker und Herstellung des ersten heteronormativen, ordnungsindizierenden Orts ......................................................................... 318 7.3.4. Und doch: Eine ›stille‹ Differenzmarkierung der Andersheit ................................319
7.4. Anreisesequenz II: Kara Toprak (1973) – Räume der Soziohierarchie...............................321 7.4.1. Anreiseszene in Kara Toprak ........................................................................321 7.5. Anreisesequenz III: Baldız (1975) – Präsentationsraum des Visual Othering...................... 323 7.5.1. Die Abwesenheitssequenz in Baldız: Ein Mini-Re-Exkurs .................................... 326 7.5.2. Der Plot von Baldız .................................................................................... 328 7.6. Anreisesequenz IV: Öfkenin Bedeli (1973) – Akusmatik und Ambiguitäten der Migration..... 330 7.6.1. Der Plot von Öfkenin Bedeli..........................................................................333 7.6.2. Anreisesequenz: Akusmatik der Blicke und Ambiguitäten der Migration ................ 335 7.7. Zwischenresümee: Das Zeigen der Reise als spurhafte Sichtbarmachung der Migriertheit . 340 7.8. Anreisesequenz V: Vahşi Arzu (1972) – Migration als Eintritt in den Bildraum ....................341 7.8.1. Yavuz Figenlis Emigrationsfilme und der migrantische Videomarkt .......................341 7.8.2. Plot Vahşi Arzu ......................................................................................... 343 7.8.3. Filmanalytische Beschreibung – Anreisesequenz.............................................. 344 8. Figuration III: Ankunft ............................................................................ 353 8.1. Blicksequenz I: Acı Zafer (1972) – Blickpolitiken als sexuelle Politiken............................ 359 8.2. Blicksequenz II: Dönüş (1972) – Andersmachung des Emigranten................................... 363 8.2.1. Aisthetische Transformation: Regisseurin-Werden – Ein Exkurs .......................... 366 8.2.2. Ästhetische Materialität und die Differenz von Auge und Blick in der Welterzeugung ..................................................................................... 377 8.2.3. Filmanalytische Beschreibung – Dönüş........................................................... 381 8.2.4. Die visuelle Konstruktion als Produktionsmoment einer Stereotype ..................... 386 8.3. Blicksequenz III: Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) – Arabesk und Blickkrise ...................... 392 8.3.1. »Ich habe gehört, du hast vergessen…« – Ein Arabeskfilm zur Emigration ............ 393 8.3.2. Arabeskfilm und Gurbet – Das türkische Migrationsgenre schlechthin? ................ 394 8.3.3. Filmanalytische Beschreibung – Almanya’da Bir Türk Kızı .................................. 404 8.3.4. Analyse: Zoom, Zoom, Zoom – Blickbegegnung als Blickkrise .............................. 406 8.3.5. Zweiteilung – Raumproduktion im Film und Migration ......................................... 416 8.3.6. Plot von Almanya’da Bir Türk Kızı: Ein Frauen-Arabeskfilm................................. 420 8.4. Blicksequenz II (Fortsetzung): Dönüş (1972) – Schirme ................................................ 423 8.4.1. Das auseinanderklaffende Sehen zwischen Gülcan und Zuschauer_innen.............. 423 8.4.2. Blickregime I: Das Bild vom ›Deutschländer‹ zwischen Idealbildern ..................... 426 8.4.3. Blickregime II: Die Spaltung von Auge und Blick – und der Schirm ....................... 428 8.4.4. Blickregime III: Die Geste des Verdeckens....................................................... 436 8.4.5. Plot en detail – Dönüş ................................................................................. 438 9.
Figuration IV: Anwesenheit und Triplett – Migration in den Nationalen Filmprogrammatiken ............................................ 443 9.1. Nationale Filmprogrammatik I: Memleketim (1974) als Millî Sinema.................................. 445 9.1.1. Das Filmposter I: Dichotomie als Prinzip des Millî Sinema ................................... 449 9.1.2. Der Plot: Zwischen Orientalisierung, Okzidentalisierung, Turkisierung und Europhilie............................................................................................451 9.1.3. Die verkehrte Abwesenheitssequenz .............................................................. 455 9.1.4. Okzidentalisierung I: Die Rollenspielszene........................................................ 461 9.1.5. Okzidentalisierung II: Çakmaklıs Arbeitsmigrant_innen...................................... 479
9.1.6. Okzidentalisierung III: Das Reiterstandbild ...................................................... 495 9.1.7. Okzidentalisierung IV: Konstruktionen des Westens .......................................... 499 9.1.8. Das Filmposter II: Dekonstruktion des strukturalistischen Programms...................512 9.2. Nationale Filmprogrammatik II: Bir Türke Gönül Verdim (1969) als Ulusal Sinema .............. 517 9.2.1. Grundthesen einer Filmprogrammatik: Ulusal Sinema (»Das Nationale Kino«).......... 517 9.2.2. Das Ulusal Sinema als Resultat von Refiğs Wandel ............................................ 518 9.2.3. Bir Türke Gönül Verdim (1969) als Ulusal Sinema .............................................. 523 9.2.4. Kritik an der repräsentationslogischen Umsetzbarkeit des Ulusal Sinema.............. 543 9.2.5. Ulusal Sinema und Millî Sinema: Verschieden und doch gleich? ............................ 547 9.3. Identitätsmigration: Mediale Gouvernementalität in den Filmprogrammatiken ................. 548 9.3.1. Identitätsmigration I: Migration von Körpern, Konzepten und Identitäten............... 549 9.3.2. Identitätsmigration II: Sprunghafte Änderung und Änderungsresistenz – Millî Sinema und Ulusal Sinema ..................................................................... 557 9.3.3. Identitätsmigration III: Mediale Gouvernementalität im Migrationskino.................. 562 9.3.4. Ein Fortdenken »medialer Gouvernementalität«: Affektivität .............................. 574 Schluss ..................................................................................................... 577 Epilog: Gescheiterte Abreisen........................................................................... 581 Literatur- und Quellenverzeichnis ...................................................................... 587 Filmverzeichnis ........................................................................................... 617 Abbildungsverzeichnis .................................................................................. 623
Vorwort: »Epistemischer Ungehorsam«
Bis heute steht nicht nur der politische, sondern weitgehend auch der wissenschaftliche Diskurs über Migration zu großen Teilen noch unter dem Leitbegriff der Integration. Diese Situation beruht auf einem spezifischen, im Migrationskontext vorherrschenden Verständnis: Gesellschaften und Kulturen werden idealtypisch als homogene Einheit gedacht, mehr oder weniger explizit wird dabei zwischen zugewanderten Herkunftskulturen und heimischer Mehrheitskultur getrennt. Das scheint auch ein Dilemma der Interkulturellen Bildungsvorstellungen, in denen oftmals das Bild von geschlossenen, eindeutig abgrenzbaren Kulturen weitertradiert wird. Die klassische Migrationsforschung war von Anfang an eine Ausländer- bzw. Fremdheitsforschung. Nicht Mobilität oder grenzüberschreitende transkulturelle Phänomene standen im Mittelpunkt, sondern Integrationsleistungen, die von Eingewanderten gefordert wurden, um sich in die Aufnahmegesellschaft einzupassen. Aus dieser Perspektive wurden alle Bezüge, die die Menschen zu ihren Herkunftsorten hatten, geradezu reflexartig als desintegrativ eingestuft und abgewertet. Die weitverbreitete Rede von einer kulturellen Zerrissenheit nach dem Muster »morgens in Deutschland – abends in der Türkei« bringt diese öffentliche Dramatisierung zum Ausdruck. Gefordert wurde ein eindeutiges Bekenntnis zur »Mehrheitskultur«. Integration bedeutete mit anderen Worten, sich von Herkunftskontexten völlig zu befreien und auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten vor Ort zu beschränken. Diese Denkart hat die Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum lange Zeit geprägt. Die Trennung zwischen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften führte dazu, dass die mitgebrachten Erfahrungen von Migranten und die Auseinandersetzung mit den Folgen der Auswanderung an den Herkunftsorten fast gänzlich übersehen oder ausgeblendet wurden. Das Auswanderungsgeschehen in den 1960er und 1970er Jahren spielte jedoch auch in den Herkunftsländern nicht nur im Alltagsleben eine wichtige Rolle, sondern war auch ein wesentliches Thema in Film, Literatur, Musik und Kunst. Wenn wir beispielsweise die türkisch-deutsche Migrationsgeschichte wirklich verstehen wollen, brauchen wir einen Zugang, der beide Entwicklungen in die konzeptionellen Überlegungen einbezieht, eine non-dualistische Lesart (vgl. Mitterer 2011), die das Denken über Migration von Polarisierung befreit und breitere Perspektiven auf Migration eröffnet. Dies bedeutet zugleich einen epistemologischen Bruch mit eingespielten
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Die visuelle Kultur der Migration
Gewissheiten, eine Idee, die hier als »postmigrantisch« bezeichnet wird. Die Aufmerksamkeit gilt geteilten Geschichten, »unterworfenes Wissen« (Foucault zit.n. Alkin hier im Buch, S. 75), transkulturellen und translokalen Verschränkungen jenseits nationaler Inszenierungen (vgl. Yildiz 2018). Aus dieser Blickverschiebung erscheint die hegemoniale Normalität und die ihr zugrunde liegende lineare Denkweise mit ihrer kategorialen Trennung in Herkunfts- und Ankunftsorte, in Herkunfts- und Aufnahmekulturen zunehmend fragwürdig. Sie weicht der Einsicht in das Arrangement diverser und miteinander verbundener Erfahrungen und Ereignisse. Hier setzt die vorliegende Untersuchung Ömer Alkins über »Die visuelle Kultur der Migration. Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos« an. Der Autor kritisiert die separierte Betrachtung des »deutsch-türkischen Kinos« und des »türkischen Emigrationsfilms« in der Forschung und plädiert für ein Konzept der »Polyzentrierung« (Teil I), das beide Entwicklungen zusammendenkt. Durch diese Lesart werden die bis dahin kaum beachteten Yeşilçam-Filme der 1970er Jahre in der Geschichte der deutsch-türkischen Filmkultur sichtbar gemacht und neue Zusammenhänge, geteilte Geschichten, Verschränkungen, Brüche und marginalisierte Sichtweisen ins Bewusstsein gerückt, die von den herrschenden Erzählmustern deutlich abweichen. So bringt Ömer Alkins Arbeit für die »Postmigrantischen Studien« interessante Perspektiven ein, die zwischen »Geschichte« und »Ästhetik« der Migration angesiedelt sind. Indem die Erarbeitung einer »visuellen Kultur der Migration« im Medium Film im Raum steht, wird neben den Geschichten auch die Ästhetik der Migration untersucht. Und dadurch dass auch die Auseinandersetzung mit den Migrationsfolgen in den Herkunftsorten einbezogen wird, geraten am Beispiel des türkisch-deutschen Filmschaffens bisher ignorierte Geschichten ins Blickfeld, erscheinen auch Entwicklungen in der Ankunftsgesellschaft in einem neuen Licht. Es entstehen Zwischenräume (»Transtopien«, Yildiz 2013), in denen Migrationserfahrungen neu geschrieben und repräsentiert werden – eine Art »epistemologischer Ungehorsam« (Mignolo 2019). Univ.-Prof. Dr. Erol Yildiz (Reihenherausgeber »Postmigrantische Studien«), Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Literatur Mignolo, Walter D. (2019): Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien: Turia + Kant. Mitterer, Josef (2011): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Yildiz, Erol: Postmigrantische Urbanität: Von der Heterotopie zur Transtopie. Vortrag an der Universität Siegen. https://www.youtube.com/watch?v=DFasqD0CquY, Zugriff: 5. August 2019. Yildiz, Erol (2018): Vom Methodologischen Nationalismus zu postmigrantischen Visionen. In Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, hg. Marc Hill und Erol Yildiz, 43-61. Bielefeld: transcript Verlag.
Vorwort: Wir sind nie transkulturell gewesen
Es gehört zu den fragwürdigen Wirkungskräften von Kultur, besser: von kulturellen Praktiken und Selbstverständnissen, dass diesen eine Tendenz zum Dichotomischen, zur Essentialisierung, zum Quasi-Natürlichen zu eignen scheint. Die kulturelle Ordnung der Welt gedanklich so anzulegen und zu praktizieren, dass sie nach Deutungsmustern wie etwa Subjekt/Objekt, Individuum/Gemeinschaft, Mensch/Natur, Realität/Fiktion oder auch dem der Nationalität funktioniert, ist uns allen weitaus geläufiger, als wir es wohl gerne möchten. Anders gesagt: Mit dem Begriff »Kultur« geht eine Wertzuschreibung einher, die schon Adorno in »Kulturkritik und Gesellschaft« einer vielfachen und kritischen Befragung unterzogen hatte, da sie allzu leicht zu Ausschließung und Machtpositionierung führt. Ist es da besser statt von »Kultur« von »Transkulturalität« zu sprechen? Oder schärfer: nicht nur von ihr ›zu sprechen‹, sondern sie gedanklich zugrunde zu legen. Ob das ›besser‹ wäre, sei dahingestellt, mindestens aber ist es komplexer und anspruchsvoller in Hinblick auf die Beschreibung und Wahrnehmbarmachung dessen, was uns kulturell ausmacht. Denn wenn ich nicht mehr auf eine positionale Beschreibungsweise von Kultur zurückgreifen möchte, muss ich mich dem gedanklichen, begrifflichen und methodischen Anspruch stellen, Kultur als Gemisch, Gemenge, als relationale und insbesondere generische Form zu erfassen. Das wäre sowohl eine Möglichkeit transkulturellen Denkens, als auch, das Transkulturelle zu denken. In medienkulturwissenschaftlicher Hinsicht bedeutete dies auch, nicht mehr (nur) menschliches Handeln als konstitutiv für Kultur anzusehen, sondern auch andere agentielle Kräfte zu berücksichtigen. Und tatsächlich stellt ein Denken, das sich nicht nur in Auseinandersetzung mit anthropologischen Systemen schult und entwickelt, sondern ästhetisch-künstlerische Relationen wie Medien und technische Ensembles bzw. Dispositive ebenfalls als eigenständige und einflussreiche Formen des Denkens auffasst (und nicht nur als ›Objekte‹), Analysemöglichkeiten zur Verfügung, komplexe Akteurnetzwerke zu erfassen, die jene nicht-menschlichen Formen des Denkens auch für (trans-)kulturelle Existenzweisen als konstitutiv erkennbar werden lassen. Ein solches intellektuelles Arbeiten bzw. Verfahren sieht sich mithin vor das Problem gestellt, einer doppelten Bewegung folgen zu müssen: Jener, die ein vorliegendes kulturanalytisches System (z.B. das der Erörterung, Einordnung und Bewertung eines
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Die visuelle Kultur der Migration
Filmkorpus) rekonstruiert und zugleich jener, die aus dieser Lektüre ein eigenes Modell, anhand neuer, vielleicht zunächst kontraintuitiver Begriffe und Methoden entfaltet (z.B. der Polyzentrierung filmischer und interkultureller Konstruktionen). Ömer Alkin legt mit den zwei Teilen, die sein Buch strukturieren nun sowohl eine gattungstheoretische (Teil I »Polyzentrierung des deutsch-türkischen Kinos«) als auch eine systematisch-begriffliche (Teil II »Filmische Konstruktionen der Migration«) Studie vor, die den zuvor skizzierten Anforderungen zur Analyse transkultureller Konstituenten und Existenzweisen auf beeindruckende Weise, ja, nicht nur entspricht, sondern diese allererst entwickelt und entfaltet. Sie erforscht die Voraussetzungen, an denen die in Frage stehenden kulturellen Konzepte, existenziellen Erfahrungen und filmischen Kosmen ansetzen und ihre Argumentationen zum Zuge bringen. So liegt der Gewinn dieser Untersuchung darin, durch die Kombination einer intensiven (›close readings‹ der Filme) mit einer extensiven (nämlich der Entfaltung begrifflicher Filiationen) Perspektivierung ein bildtheoretisch gedachtes, neues Paradigma für die Film- und Medienkulturanalyse von Migration vorgelegt zu haben, die in einer Bestimmung einer »visuellen Kultur der Migration« mündet. Doch was muss – grundsätzlich – berücksichtigt werden, um diese »visuelle Kultur der Migration« theoretisch freizulegen, sowohl mit Blick auf das soziokulturelle System von Migration (zwischen Deutschland und der Türkei) als auch in Konsequenz für seine filmästhetische, mithin fiktionale Existenzweise? Es geht hier um die Analyse der visuellen Konstruktion deutsch-türkischer Migration, statt diese als schlicht filmisches Motiv vorauszusetzen. Alkin möchte »durch die Untersuchung (bewegt-)bildlichen Materials aufzeigen, wie sich das zuerst vorgefasst angenommene namens ›Migration‹ in den filmischen Bildern konstituiert: Migration ist nicht nur so, weil wir uns ihres So-Seins sprachlich versichern, sondern weil wir als sehende Kultur ständig auf ihre visuelle Konstituierung angewiesen sind. […] Bilder, und auch ganz besonders filmische Bilder beinhalten etwas Blickhaftes, das sie zu vitalen Agenten einer Vermittlung macht, auf deren Grundlage überhaupt das Soziale als solches versicherbar wird« (S. 36). Ömer Alkin eignet hier also die Haltung eines mit Walter Benjamin positiv verstandenen »Barbarentums«: »Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen« (Benjamin 1991). Demgemäß trieb Ömer Alkin ein doppelter Zweifel an, ein konstruktiver allerdings: Ein Zweifel daran, ob mit den etablierten filmtypologischen, -historischen und -kulturellen Taxonomien das von ihm identifizierte Corpus überhaupt zu verstehen sei; und ein Zweifel sozusagen an den eigenen Augen, am eigenen Blick: Ob denn tatsächlich das in jenen – ihm seit langem vertrauten – deutsch-türkischen und türkischen Filmen visualisiert sei, was man darin zu sehen meinte (nämlich vermeintlich eine Illustration von Migration). Mit der vorliegenden Studie sind diese Zweifel intellektuell durchquert und durchgearbeitet.
Wir sind nie transkulturell gewesen
Nun ist klar benennbar, worum es gehen muss, nicht nur in dem vorliegenden Buch, sondern auch in dem es umgebenden Forschungskontext: Übersetzung. »Übersetzung meint hier nicht, eine hermeneutische Leistung an den türkischen, zumeist in kaum einer synchronisierten oder untertitelten Form vorliegenden Filmen zu vollbringen. Übersetzung bedeutet hier zweierlei: das erste betrifft die Ebene der Repräsentationsregime, das zweite betrifft die Ebene der Filmmedialität. Die Arbeit wird aufzeigen, dass […] Migration und die Figur der_s Migrant_in in ein sehr viel differenzierteres und vielfältigeres transnationales, kinematographisches Diskursfeld eingebettet sind, als das Feld der Arbeitsmigration bereithält. Auf der Ebene der Filmmedialität bezieht sich ›Übersetzung‹ auf einen untersuchungstechnischen Vorgang, der darin besteht herauszustellen, wie Migration in den Filmen durch unterschiedliche Prozeduren ›ontologisch stabilisiert‹ wird. Diese Untersuchungsprozedur der Herausstellung ›ontologischer Stabilisierung‹ ist deswegen notwendig, weil dadurch zuallererst ersichtlich wird, wie die Filme das, was als Migration angenommen wird, überhaupt erst sichtbar machen. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich Filme oder wie hier ganze Ensembles von Filmen mit wissenschaftstheoretischen Annahmen als eine Kultur ›epistemischer Dinge‹ verstehen, die über ganz eigene Logiken und Prozeduren verfügen, mit denen sich in ihnen etwas zeigt« (S. 28). Wichtig hierfür: Die Untersuchung besticht durch eine beachtliche Reihe an detailorientierten und nah an den Argumenten liegenden Analysen komplexer film- und bildtheoretischer Modelle, durch deren souveräne Entfaltung Ömer Alkin überhaupt erst zur argumentativ wirksamen Bestimmung einer »visuellen Kultur der Migration« kommen kann. So hat sich diese Dissertation an dem Anspruch zu messen, auf welche Weise sich, mit Hilfe der Theorieperspektivierungen, das Entanglement eines neuartigen (Film-)Analysemodells für den Kontext von Migration und Transkulturalität erhellen lässt. Ich bin der Meinung, dass dies in der vorliegenden Studie ausgezeichnet gelungen ist. Als hierfür mit entscheidend darf wohl angesehen werden, dass der Person Ömer Alkin nicht nur ein faszinierendes Verstehen von filmischen Erzählungen und von visueller Funktionalität möglich ist, sondern er das Verstehen dieses Verstehens in seine Reflexionen Modellbildend mit einzubeziehen weiß. Wie Werner Hamacher 1998 schreibt: Verstehen will verstanden sein – »Ob man es als Geschehen, Prozeß, oder Akt bestimmt, Verstehen ist niemals eine Relation zwischen zwei vorgegebenen, unverrückbar statischen Entitäten, die von dieser Relation unberührt blieben. Vielmehr ist es diejenige Relation, in der sich ihre Relata allererst konturieren […] und also ein Vorgang der wechselseitigen Affektion und Alteration« (Hamacher 1998, S. 7f.). Ein solches Verstehen in Relationen führt beispielsweise in den Kapiteln 6-9 dazu, die große Anzahl der ›besprochenen‹ Filme auf einen zusammenhängenden Komplex aus »Relationsbestimmungen« rück zu beziehen, der den Kern der filmimmanenten, also visuellen Konstituierung von Migration ausmacht. Es sind dies »Abwesenheit«, »Anreise«, »Ankunft« und »Anwesenheit«, die die – wie Ömer Alkin sie bezeichnet – »Figurationen« bilden für den Zusammenhang von Medialität, Migration und Subjektivität. Ein gedankliches und analytisches Meisterstück! Denn so wird durch die Filmanalysen und die diskurs- und filmkulturhistorischen Einordnungen und Rekonstruktionen schrittweise freigelegt, wie, warum und als was Migration als Paradigma in filmästhetischen und kulturpolitischen Zusammenhängen erscheint. So ist dieses opus magnum
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auch als ein emphatisches (und durchaus politisches) Plädoyer dafür zu verstehen, »die Verquickung von Medialität, Migration und Subjektivität von einem medientheoretischen Standpunkt aus zu denken, in dem die Fluidität der Verhältnisse zwischen Medien, Nutzer_innen und Inhalten in ihren gegenseitigen konstitutiven Bedingungen berücksichtigt wird« (S. 582). Zudem zieht sich durch alle Teile der Arbeit wie ein roter Faden die Reflexion über die Bedingungen, Chancen und Grenzen des eigenen Tuns und dessen Relation zum Gegenstand. Ergebnis ist ein neuer Blick und eine neue Blickermöglichung auf den Zusammenhang von Migration und Medialität. Dieser gründlichen, sehr genau beobachtenden und emphatischen Studie mit Pioniercharakter sind – nicht zuletzt wegen des methodisch ansprechenden, die gesamte Studie durchlaufenden Rhythmus von Problembefund, Fragestellung, Erörterung und Filmanalyse – eine weitreichende Wirksamkeit und anregende Reaktionen zu wünschen. Denn: Vermutlich sind wir nie transkulturell gewesen. Univ.-Prof. Dr. Timo Skrandies, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Literatur Benjamin, Walter (1991): Erfahrung und Armut. In Gesammelte Schriften 2, Walter Benjamin, 213-219. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Danksagung Für meinen Großvater Ömer Alkın. Und für alle anderen Gastarbeiter_innen und ihre Nachkommen auf dieser Welt…
Fast ein Jahrzehnt ist vergangen, seitdem die ersten Ideen zu dem vorliegenden Buch angestellt wurden. Die Gedanken mussten auf einem langen Weg gebändigt und geformt werden, bis sie endlich nun das Licht der Welt erblicken durften. Die Gedanken und Suchen, die sich auf unbekannte Pfade aufmachten und Unsichtbares sichtbar zu machen versuchten, brauchten eine Vielzahl an helfenden und produktiven Kräften. Mir bleibt nicht viel mehr übrig, als all jenen, die zum Werden dieses Buchs ihren Beitrag geleistet haben, für ihre Leistungen zu danken. Für den Austausch sowie ihr Lektorat des Manuskripts und ihr substantielles Feedback danke ich Julia Reich, Katharina Neumann, Dr. Katrin Ullmann, Svetlana Chernyshova, Ilka Brinkmann, Dr. Taha Kuzu, Romina Dümler, Dr. Pamela Geldmacher, Esther Voßwinckel-Filiz sowie Canan Bayram. Dem Institut für Kunstgeschichte danke ich für die Gelegenheit, meine Arbeit auf seinen jährlichen Kolloquien präsentieren zu dürfen. Auch den Teilnehmer_innen des Doktorand_innen- und Forschungskolloquiums »Atopie« am selben Institut gilt mein Dank für die zahlreichen Feedbacks, die zu einer tieferen Sicht auf die Dinge geführt haben. Den Mitstipendiat_innen des Avicenna Studienwerks gilt ebenfalls mein Dank für Ihre Einsichten. Anne Friedrich und Manon Havemann danke ich für den Support bei der Disputation. Cüneyd Erbay danke ich für seine Hilfe bei der Recherche turkistischer/osmanischer Bezüge. Can Sungu danke ich für die Gelegenheiten des Austauschs und die Möglichkeit, in seinem Filmfundus zu stöbern und davon zu profitieren. Für ihren konkreten fachlichen Austausch danke ich besonders Alena Strohmaier, Ulrike Mothes, Tim Wolfgarten, Johanna Steindorf, Julia Ringies und Prof. Dr. Thomas Kühn (IPU Berlin). Can Candan danke ich für seine große Gastfreundlichkeit und Freundschaft, ohne die mein Forschungsaufenthalt in Istanbul nicht möglich geworden wäre. Die Tugenden, denen ich in seiner Person begegnen durfte, sind mir noch oft Vorbild. Herrn Abdülhamit Avşar danke ich für die Großzügigkeit der Erlaubnis, die Archive der TRT für Sichtungen von Filmmaterial aufsuchen zu dürfen.
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Eckart Lottmann, Hartmut Horst, Tevfik Başer, Sema Poyraz, Barış Saydam (TSA), Zeynep Ünal (MAFM), Melis Behlil, Savaş Arslan danke ich für ihren Support, der aus ihrer Interviewbereitschaft, ihrem Erfahrungsschatz, institutionellen Ressourcen oder in Recherchehinsicht bestanden hat. Dem Institut für Kunstgeschichte, besonders Prof. Dr. Jürgen Wiener sowie Dr. Astrid Lang, sei für die motivierenden Worte gedankt. Prof. Dr. Dr. Rauf Ceylan bin ich für die vielen mentoralen Stützen dankbar, die den oft mit Unwägbarkeiten versehenen akademischen Weg zu vereinfachen halfen. Prof. Dr. Reinhild Rumphorst danke ich für Ihre erfahrenen Einsichten für das Manuskript. Prof. Dr. Kurt Weichler und Marcus Rüddenclau von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen danke ich für die vielen Momente des verbalen und institutionellen Supports. Erol Yildiz danke ich für sein Vertrauen in mein Tun. Es freut mich sehr, dass die Publikation in den »Postmigrantische Studien« nun möglich werden konnte. Cem Öztan danke ich für unsere vielen Gespräche über das Verhältnis von Film und Gesellschaft, Migration und Rassismus. Lena Geuer danke ich für die vielen Gesprächsund Austauschgelegenheiten zum Thema des Postkolonialismus und nationaler Zuschreibungen. Zwei Menschen durften die Publikation dieser Arbeit nicht mehr miterleben: Dr. Hans W. Malmede. Ich werde unsere zahlreichen und langen Gespräche sowie ihren akademischen Tonus sehr vermissen. Ihm gilt mein besonderer Dank. Die Arbeit atmet seinen wissenschaftlichen Ethos, den ich während seiner Lehrveranstaltungen gelernt und erfahren habe. Prof. Dr. Ali Osman Özcan danke ich für seine Bemühungen, seine Netze während meines Forschungsaufenthalts in Istanbul so weit ausgeworfen zu haben. Ich hätte gerne mit ihm noch über meine Findungen und Gedanken gesprochen. Baki und Nalan Dağlayan im Besonderen, Mohammed Rezki, Erdoğan Keskin, Burak Bayrak, Lydia Jochim sowie dem gesamten Team von Atelier Baumeister in Köln danke ich für die institutionelle Unterstützung, das Engagement, ihre motivierenden Worte sowie die tatkräftige Unterstützung während des gesamten Prozesses. Jun.-Prof. Dr. Martin Doll danke ich für seine spontane Bereitschaft, sein Interesse und seine grundsätzliche Offenheit, mit der er der Arbeit entgegengetreten ist. Seine differenzierte wie produktive Lektüre zur Bewertung der Arbeit ist ein großer Gewinn für die Publikation gewesen. Prof. Dr. Johanna Schaffer danke ich für ihren kritischen Spirit, die zahlreichen Gespräche, ihr genaues Auge und die unendliche Ehrlichkeit, die ganz maßgeblich meine Arbeit vorangetrieben haben. Ich hoffe sehr, dass sie in dem Buch viel von dem Spirit wiederfindet, für den ich sie bewundert habe und noch bewundere. Ganz besonders danke ich Timo Skrandies für sein Vertrauen und seine unbändige Lust, die Arbeit nach ihrer höchstmöglichen Qualität voranzutreiben. Es war seine unendliche Geduld, Weisheit und Weitsicht, die großen Anteil daran hatte, dass ich die Arbeit überhaupt fertigstellen konnte. Ich glaube nicht, dass diese Arbeit besser von jemandem hätte betreut und begleitet werden können. Ich hoffe, dass ich diesem Engagement gerecht werden konnte und blicke mit Wehmut auf die intellektuellen Gespräche der vergangenen Jahre.
Danksagung
Meinem Freund Mehmet Bayrak danke ich für die unzähligen Gespräche und die Unterstützung, die er mir seit unserer Begegnung 2014 auf so viele Arten und für die Arbeit entgegengebracht hat. Es ist unsere gemeinsame Sicht auf die Welt, die das vorliegende Buch auszeichnet. Ich bin zuversichtlich, dass es in unser beider Sinne wirken wird. Meinen Eltern, namentlich meiner Mutter Saliç und meinem Vater Mustafa Alkin, meinen Geschwistern Tolga, Arzu und Mert, meinen Schwiegereltern und dem Rest meiner Familie und Verwandten danke ich für ihr jahrelanges Vertrauen in meine meist für sie im Verborgenen gebliebene Arbeit, die das Leben eines ›Gastarbeiter_innen‹Kindes, das relativ früh viel Verantwortung auf sich nehmen musste, besonders gefordert hat. Ohne die Zuversicht, die sie in mein Tun gesetzt haben, hätte ich die Arbeit nicht mit der nötigen Ruhe verfassen können, die eine mit viel sozialem Rückzug geschriebene Dissertation erfordert. Dem Avicenna Studienwerk e.V., konkret dem Geschäftsführer Herrn Hakan Tosuner, meinem Betreuer Bilal Erkin sowie den weiteren Mitarbeiter_innen des Werks, sowie allen dort, die an meine Förderung geglaubt haben, sei ganz herzlich gedankt. Die finanzielle, ideelle und organisatorische Unterstützung meiner Person als Stipendiat erster Stunde des ersten muslimischen Begabtenförderwerks Deutschlands hat die Abfassung dieser Dissertation in so schönem Maße möglich gemacht. Zuletzt: Ohne die Zuneigung meiner geliebten Ehefrau Ümran und unserer Tochter Leyla, die sie mir stets zuteil werden ließen, wäre die Arbeit sinnlos geblieben. Ich danke Ihnen, dass sie der Arbeit den Sinn verleihen, nach dem ein solches Projekt stets dürstet. All jene unerwähnt Gebliebene bitte ich um ihr Nachsehen. Sie wissen, dass ich doch an sie denke und sie nur aufgrund der Notwendigkeit, eine solche Danksagung irgendwie beenden zu müssen, hier unerwähnt geblieben sind.
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Hinweise für die Leser_innen
Für ein Verständnis der Analysen im Buch gehören untrennbar die Sichtungen der entsprechenden Filmszenen. Das →-Zeichen weist darauf hin, dass die entsprechende Szene online einsehbar ist. Unter der Website www.oemeralkin.de/emigrationskino und dem Passwort emigration können die entsprechenden Szenen abgerufen werden.
Wahrscheinlich können die, die sich in der Gesellschaft ›am rechten Platz‹ befinden, sich ihren Dispositionen mehr und vollständiger überlassen oder ihnen vertrauen (darin liegt die ›Ungezwungenheit‹ von Menschen ›besserer‹ Herkunft) als die, die etwa als soziale Auf- oder Absteiger – Zwischenpositionen einnehmen; diese wiederum haben mehr Chancen, sich dessen bewußt zu werden, was sich für andere von selbst versteht, sind sie doch gezwungen, auf sich achtzugeben und schon die ›ersten Regungen‹ eines Habitus bewusst zu korrigieren, der wenig angemessene oder ganz deplatzierte Verhaltensformen hervorbringen kann. (Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft)1
1 Bourdieu (2010, S. 209).
Einleitung Aus diesem Grund gibt es für diejenigen unter unseren Aufgeklärten, die mit der Kunst des Westens groß geworden sind, so etwas wie ein türkisches Kino nicht. So wie es für die Westlichen so etwas wie eine türkische Kunst nicht gibt…1 (Halit Refiğ, Ulusal Sinema Kavgası [»Der Streit ums nationale Kino] (1971))2
Die literarisch oder auch filmisch verarbeiteten Geschichten von den so genannten Arbeitsemigranten, jenen Menschen also, die zumeist aus finanziell prekären Verhältnissen in Industrieländer emigriert sind, sind oft von Melancholie, Leid und Trauer getragen. Der Kunstkritiker John Berger und der Photograph Jean Mohr erschaffen Mitte der 1970er Jahre mit »Arbeitsemigranten«3 (im Original »A Seventh Man«4 ) einen mit lyrischen sowie essayistischen Texten bespickten Photoband, der diese Gefühle und Empfindungen im europäischen Kontext paradigmatisch einfängt. Die Bezeichnung ›siebenter Mann‹ für die aus Arbeitsgründen emigrierten Menschen geht auf diesen von Berger und Mohr kreierten Band zurück. Die Begründung für diese Bezeichnung, die in der englischen Originalausgabe auch titelgebend ist, ergibt sich aus einer statistischen Angabe, die die Autoren auf einer der ersten Seiten unter das Gedicht von Atilla József »Der Siebente« machen: »In Deutschland (und in England) ist einer von sieben Handarbeitern ein Immigrant«5 . Exemplarisch für die Vielzahl der Bilder des Bandes und dem darin entworfenen Repräsentationsregime scheint besonders die Photographie auf Seite 42 zu sein, die aus Aufsicht eine Menge von Männern darstellt. Eine Vielzahl von ihnen schauen mit einem fragend anmutenden Blick in die Aufnahmerichtung und so auf die potentiellen 1 »Bu yüzden, Batı kültürüyle yetişmiş aydınlarımız için Türk sineması diye bir şey yoktur. Tıpkı batılılar için Türk sanatı diye bir şey olmadığı gibi…« Sämtliche Übersetzungen vom Türkischen ins Deutsche, wenn nicht anders angegeben, durch Ömer Alkin 2 Refiğ (2013, S. 71). 3 Berger und Mohr (1975). 4 Berger et al. (2010). 5 Berger und Mohr (1975, S. 12).
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Abbildung 1 – Fotografie
Quelle: Berger und Mohr, »Arbeitsemigranten« (1975), S. 42
Betrachter_innen des Bildes, die wiederum in den teilweise mit tiefen Falten gefurchten Gesichtern all jene ›schwarzköpfigen‹ Menschen erkennen können, die im weiteren Verlauf des Buchs in weiteren Photographien immer wieder als Arbeitsemigranten entworfen werden. In der hochformatigen Photographie sind konkret unzählige junge und ältere Männer, die dicht beieinander stehen, zu sehen: Männer mit Schiebermützen stehen neben Männern mit Anzug und Krawatte oder jungen Kerlen. Der Kleidungsstil der einzelnen ist so different wie die sozialen Herkünfte, aus denen sie zu kommen scheinen. Das von oben auf die Gesichter abfallende Licht produziert Schatten
Einleitung
über die Brauen der Männer hinweg, sodass die Augen nur als schwarze Schattenflächen zu erkennen sind. Dadurch werden die Gezeigten ein stückweit undurchdringlich. Die Mimiken der Männer sind nicht einheitlich. Doch in ihrer Summe explizieren die Gesichtsausdrücke ein Gefühl von Apathie. Ihre geschlossenen Münder lassen sie als stumme Individuen zurück, die scheinbar nicht reden wollen, sondern nur neugierig herüberblicken. Die Gesichter durchwimmeln die Bildfläche, produzieren eine eigenartige Bewegtheit im Bild, die nicht nur das Produkt all jener Energien des Wimmelns der Körper im Bildraum ist, sondern auch der aneinander dicht liegenden, aber in der Photographie zum Stillstand gebrachten Körper der unzähligen Männer. Konkret sehen diese Körper in der Photographie wie aufeinandergetürmt aus, wobei sie durch die scharfen Konturen ihrer Körper quasi als ins Bild montiert erscheinen. Die Unruhe, die sich im Bild aus der Präsentation der Masse an Männern als dicht beieinanderstehende, aufgetürmt erscheinende Individuen ergibt, erzeugt eine Diskrepanz zur Stummheit und tendenziellen Ausdruckslosigkeit der dargestellten Männer. Von dieser Spannung zwischen Stummheit und einer Unruhe aus der migratorischen Beweglichkeit der Körper sind viele der Bilder des Photobandes bestimmt, der in dieser diskrepanten Tonalität und Atmosphäre eine Kultur der Arbeitsmigration zu erfassen sucht. Getragen ist der Photoband von dem Wunsch »vorgefaßten Meinungen über sein Thema in Frage zu stellen«, denn »[d]er Arbeitsemigrant ist keine Randerscheinung gegenwärtiger Erfahrung; er steht in ihrem Mittelpunkt«6 . Insofern könnte man Bergers und Mohrs Band auch als ein Medium verstehen, das darauf aus ist, in der Stummheit der Arbeitsemigranten ihre Sichtbarkeit und Zentralität für die Welt deutlich zu machen. So führen die beiden Autoren aus, »ihre Bedeutung gilt für die ganze Welt«7 .
Abbildung 2 – Standbild aus BABA (1971); Abbildung 3 – Standbild aus Almanya Aci Vatan (1979)
Auch in filmkultureller Hinsicht lassen sich Bilder finden, die den »siebenten Mann« in dieser Spannung von Stummheit und Sichtbarkeit aufgreifen. Hier zeigen zwei türkische Filme das Dilemma von der Paradoxie zwischen Stummheit und Sichtbarmachung des »siebenten Mannes« besonders deutlich, was an je einem Standbild aus den Filmen erörtert werden soll (Abb. 2 und 3): 6 Klappentext in Berger und Mohr (1975). 7 Berger und Mohr (1975, S. 7).
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Das erste Standbild zeigt einen Mann mittleren Alters, mit weit geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen, der mit leicht angewinkeltem Kopf an der Kamera vorbeiblickt. Vielleicht blickt er in einen Spiegel. Vielleicht ist es ein immenser Schmerz, der ihn dann zum Schrei bewegt. Vielleicht scheint er auch nur aus purem Selbstausdruck zu schreien. Vielleicht ist es auch nur ein stummer Schrei? Vielleicht ist es nur ein geöffneter Mund, der in den Schlund eines Stimmlosen blicken lässt, der durch irgendetwas besonders affiziert ist? In jedem Falle ist der Kommunizierende alleine im Bild. Sein geöffneter Mund richtet sich gegen etwas, das abwesend ist, beziehungsweise das nicht im Bildraum sichtbar ist. Der Schrei, ob stumm oder stimmhaft, zielt auf die Umsetzung einer phatischen Funktion, das Sich-Anzeigen einer Existenz, einer minimalen Selbstversicherung oder auch Äußerung gegenüber einem potentiellen, weil im Bildraum unsichtbaren Anderen. Das zweite Bild zeigt drei Männer in einer Kommunikationssituation. Einer der Männer, der dem Raum der Betrachter_innen zugewandt ist, steht erhöht mit Standmikrofon vor einem anderen Mann, der einen Karoanzug trägt. Der Letztgenannte steht mit dem Rücken zu uns und ist so nur leicht von der Seite zu erkennen. Im Hintergrund blickt ein weiterer Mann mit Brille und lächelndem Gesicht auf den erhöht situierten Mann mit Schnauzbart, der damit in den Raum der Betrachter_innen zugewandt steht. Der Mann mit Schnauzbart steht schließlich zwischen beiden Männern. Es ist aufgrund des geöffneten Mundes des Mannes mit Schnauzbart anzunehmen, dass dieser dem Mann vor ihm etwas mitteilt. Der Karoanzug-Mann scheint Mediator zu sein, der zwischen dem Mann auf dem Podest und dem Mann im Hintergrund vermittelt. Gesetzt den Fall, dass im zweiten Bild tatsächlich eine Übersetzungssituation dargestellt wird, expliziert sich im Bild die Situation einer Vermittlung. Bei einer Vermittlung, die als Übersetzung fungiert, ist nie ganz auszumachen, ob sie gelingen wird oder nicht; ob der Übersetzungsvorgang eine Grundstruktur des Übersetzten, hier also den Sinn der Worte des Mannes mit Schnauzbart, ausreichend intakt lassen wird oder nicht. In dem hier gezeigten ersten Standbild aus dem Film Baba (»Vater«) (1971)8 ist der Vater einer vierköpfigen türkischen Familie ein solcher potentieller ›siebenter Mann‹. Wenige Augenblicke zuvor hatte er die Ablehnungsentscheidung durch den deutschen Arzt erhalten, der ihm dadurch die Emigration nach Deutschland und so die Aussicht auf eine finanzielle Besserstellung seiner verarmten Familie verwehrt hatte. Zur Sicherung der finanziellen Situaton seiner Familie lässt er sich auf einen Deal ein, indem er die Schuld eines wohlhabenden Unternehmersohns auf sich nimmt und dafür ins Gefängnis geht. Und auch im zweiten Standbild ist ein ›siebenter Mann‹ zu sehen. Der Müllmann Polat erhält von der Stadt Berlin eine Medaille für seine Leistungen an der städtischen Sauberkeit. Da Polat kein Deutsch spricht, muss ein Dolmetscher dessen Worte übersetzen, denen der hinter ihm stehende städtische Repräsentant interessiert lauscht. 8 Güney (1971).
Einleitung
Kommunikationsvektoren: Phatische Funktion und Übersetzung Wie sieht die Struktur der Kommunikation der zentral angelegten Figuren in den Bildern aus: auf der einen Seite der stumme Mann, der in seiner Stimmlichkeit auf Basis einer materiellen Qualität schon der Vermittlung beraubt ist, oder, dessen Ansprache sich gegen etwas richtet, das im Bildraum abwesend ist, sodass die Ankunft der Nachricht schon ungewiss erscheint; auf der anderen Seite die klassische trianguläre Vermittlungssituation einer Übersetzung zwischen Sender, Medium und Empfänger, die im Vorgang des Übersetzens höchstwahrscheinlich all jene Prekaritäten aufruft, die eine Übersetzung provoziert. Beide Bilder geben in der in ihnen enthaltenen semantischen Kommunikationsstruktur zugleich die zwei Vektoren an, die die vorliegende Arbeit im Hinblick auf ihre wissenschaftsdiskursive Kommunikationssituation wiedergeben. Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung entspricht dem Wunsch einer Wahrnehmbarmachung. Sie hat zuallererst phatische Funktion. Wahrnehmbar gemacht werden soll der von der Forschungslage her diskursunterminierte ›türkische Emigrationsfilm‹, der im größer angelegten Forschungsdiskurs zum ›deutsch-türkischen Kino‹ nahezu völlig unbedacht oder ungewusst bleibt. Mit der Bezeichnung ›türkischer Emigrationsfilm‹ – zumal das Präfix »e/ex« in Emigration allein Vorstellungsweisen der in den Filmen verhandelten Migrationsbewegungen auf die Auswanderungshandlung selbst verlagert – ist im Folgenden die Rede von in türkischen Produktionszusammenhängen hergestellten Filmen, die die transnationale Migration von Menschen aus der Türkei und die Lebensverhältnisse der wandernden/gewanderten Subjekte sowie ihrer Nachkommen in ihren unterschiedlichen lebensräumlichen Zusammenhängen sichtbar machen. Da in der deutsch- und englischsprachigen Forschung die hier beispielhaft genannten türkischen Filme nie auftauchen, soll die Untersuchung in ihrer übergeordneten Kommunikationsstruktur auf diese Filme zuallererst aufmerksam machen. Hierfür wird die Arbeit nicht nur das Feld fiktionaler, filmischer Verhandlungen türkisch-deutscher Migration umfassend historisch rückvergewissernd nachvollziehen (▶ Kap. 2 und 3), sondern auch forschungsmethodische und forschungshabitualisierende Angebote machen (▶ Kap. 4). Damit geht es in diesem ersten Teil nicht nur um die Wahrnehmbarmachung des ›türkischen Emigrationsfilms‹ im Allgemeinen. Es gilt, die beiden getrennt gedachten nationalen Kinematographien (Türkei und Deutschland) zusammenzudenken. Erst dieses Zusammenbringen der beiden oft noch separiert gedachten Filmkulturen wird der »Stimmlosigkeit« des Feldes der ›türkisch-deutschen Migration‹, um in der Metapher des Standbilds aus Baba zu bleiben, eine Hörbarkeit ebnen, die es ermöglicht, die Filme aus der Türkei in der Beschäftigung mit ›deutschtürkischen Filmen‹ mitzudenken: Ziel ist es nicht nur, türkische Filme zur türkischdeutschen Migration zu untersuchen, die ›türkischer Emigrationsfilm‹ genannt werden, sondern eine zwischen deutschen und türkischen Filmen separierende Filmkultur in Dialog miteinander zu bringen. Dieser erste Schritt (Teil I) bereitet also zuerst die Bedingungen interkulturellen Verstehens vor, von denen ausgehend eine Kommunikationsstruktur entstehen kann, wie sie das zweite Standbild entwirft: die Übersetzung. Übersetzung meint hier nicht,
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eine hermeneutische Leistung an den türkischen, zumeist in kaum einer synchronisierten oder untertitelten Form vorliegenden Filmen zu vollbringen. Übersetzung bedeutet hier zweierlei: Das erste betrifft die Ebene der Repräsentationsregime, das zweite betrifft die Ebene der Filmmedialität. Die Arbeit wird aufzeigen, dass sich die Filme ›türkisch-deutscher Migration‹ nicht nur in der Figur des ›siebten Mannes‹ erschöpfen, sondern dass Migration und die Figur der_s Migrant_in ein sehr viel differenzierteres und vielfältigeres transnationales, kinematographisches Diskursfeld eingebettet sind, als es das Feld der Arbeitsmigration bereithält. Auf der Ebene der Filmmedialität bezieht sich ›Übersetzung‹ auf einen untersuchungstechnischen Vorgang, der darin besteht, herauszustellen, wie Migration in den Filmen durch unterschiedliche Prozeduren »ontologisch stabilisiert«9 wird. Diese Untersuchungsprozedur der Herausstellung »ontologischer Stabilisierung« ist deswegen notwendig, weil dadurch zuallererst ersichtlich wird, wie die Filme das, was als Migration angenommen wird, überhaupt erst sichtbar machen. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich Filme oder wie hier ganze Ensembles von Filmen mit wissenschaftstheoretischen Annahmen als eine Kultur »epistemischer Dinge«10 verstehen, die über ganz eigene Logiken und Prozeduren verfügen, mit denen sich in ihnen etwas zeigt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Grundlage lassen sich nun folgende Fragen ableiten: Warum ist die Sichtbarmachung/Hörbarmachung türkischer Filme überhaupt nötig? Und warum gilt es, zugleich die Differenzierung einer diskursiv schon erörterten Phase wie die 1970er nochmal in ihren Filmen zu rekapitulieren? Wieso soll ausgerechnet an dieser Filmkultur jener Jahre eine medientheoretische Reflexion einsetzen, die das Verhältnis von Filmmedialität und einem bestimmt-unbestimmten Konzept wie Migration darin untersucht? Zur Beantwortung dieser Fragen, lohnt es, drei paradigmatische Veröffentlichungen aufzuzeigen.
Erste Forschungshistorie 1987, also mehr als fünfundzwanzig Jahre nach Beginn der offiziellen Arbeitsmigration, verfasst Oğuz Makal die erste wissenschaftliche Arbeit zu den Arbeitsemigranten, die aus der Türkei nach Deutschland emigriert sind. Den Titel seines Buchs leiht sich Makal genau bei der von Berger und Mohr für die Figur des Arbeitsemigranten entwickelten begrifflichen Prägung. So heißt sein, in drei Hauptteile gegliedertes Buch: »Sinemada Yedinci Adam. Türk sinemasında iç ve dış göç olayı« (»Der siebte Mann im Kino. Das Ereignis der Binnen- und Emigration im türkischen Kino«). Da es sich bei der Schrift um die erste dezidiert filmwissenschaftliche Dissertation aus der Türkei handelt11 , macht die Hinwendung an die Migrationsthematik die Zentralität der gesellschaftlichen, transnationalen Wanderungsprozesse für die Türkei ab der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich: eine Einschätzung von der Bedeutsamkeit der Migrationsbewegungen für die türkische Gesellschaft, die Makal in seiner Einleitung und über das gesamte 9 Skrandies (2016, S. 12f., 35, 49). 10 Rheinberger (1992). 11 Makal (1994), siehe Innencover der hier genannten zweiten Ausgabe.
Einleitung
Buch hinweg mehrmals betont. Nicht nur sind Millionen von Menschen in der Türkei ab den 1950er Jahren aus den Dörfern in die Städte migriert. Nicht nur haben sich damit umfassende demographische Entwicklungen initiiert. Nicht nur haben diese Vorgänge Modernisierungsprozesse und damit gesellschaftliche Konfliktpotentiale katalysiert. Es haben auch Unzählige die Möglichkeit der Auswanderung ins europäische Ausland erwählt, wodurch Migration ein umso transkulturell komplexeres Ereignis wurde. Für Deutschland lässt sich festhalten, dass nicht erst ab Oktober 1961, also mit dem offiziellen Abschluss des Anwerbeabkommens in Bad Godesberg, sondern schon früher die ersten Arbeitsemigranten nach Deutschland gereist sind, um im Zuge der produktiven Wiederaufbauphase dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.12 Die Folgen dieser Migrationsbewegungen sind vielfältig und lassen sich mit der oft zitierten, allerdings relativ spät eingetroffenen Einsicht nach der Evaluierung Deutschlands als Einwanderungsland nur in ihrer Tragweite und grundlegenden Auswirkung zusammenfassen: die Formen des Zusammenlebens haben sich in Deutschland durch die Migrant_innen maßgeblich geändert.13 Was sich aus Sicht des Einwanderungslandes Deutschland als Immigration darstellt, steht aus Sicht der Türkei als Emigration da, als Entsendung ihrer Bürger_innen in ein Partnerland, von deren Zusammenarbeit sie sich gut ausgebildete Rückkehrer_innen und viele Devisen erhofft haben, die die Migrant_innen in die Türkei einbringen sollten. Im ersten Teil seiner Arbeit führt Makal nun allgemein in die Geschichte des türkischen Films ein. Im zweiten widmet er sich einer inhaltsanalytischen und den Produktionskontext herausstellenden Untersuchung von Binnenmigrationsfilmen sowie der Rückbindung der dargestellten Ereignisse auf die sozialen Umstände der Türkei, die er zu Beginn des zweiten Teils rekapituliert. Der dritte Teil ist parallel aufgebaut wie der zweite Teil, widmet sich jedoch gänzlich den Filmen, die die türkische Emigration repräsentieren. Makals Arbeit, die teilweise auch deutsche und türkisch-schwedische Produktionen fokussiert, versteht die Filme hierbei als Widerspiegelungsmedien einer vorgängigen Wirklichkeit der Migration. So resümiert Makal für den Emigrationsfilm zum Beispiel, dass »auch das Ereignis der Emigration darauf wartet, tief und effizient in seinen vielfältigen Dimensionen in unser Kino [dasjenige der Türkei, Ö.A.] einzudringen«14 . Acht Jahre nach Makals Arbeit entsteht auf deutscher Seite Ernst Karpfs et al. Publikation »Getürkte Bilder«15 . Der 1995 als Resultat einer vorhergehenden Tagung veröffentlichte Aufsatzband widmet sich weniger den türkischen Filmen, sondern thematisiert in Deutschland entstandene Filme, die die Migrant_innen ins Zentrum stellen. Da sind Filme wie Helma Sanders-Brahms Shirins Hochzeit oder Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf, die die Arbeitsemigrant_innen in genau jener als Opfer gezeigten Rolle darstellen, die die Autor_innen des Bandes dann als unterminierend 12 Eryılmaz und Kocatürk-Schuster (2011). 13 Der hier aufgeworfene historische Kontext wird von postkolonialen Theoretiker_innen oft als historische Verschleierungspraxis kritisiert, da in dieser Gründungserzählung der Migration die grundsätzliche Migrationssituation Deutschlands verdeckt und die historischen Fortsetzungslinien nationalsozialistischer Strukturen im Kontext der Arbeitsmigration verschleiert würden. Siehe besonders Ha (2003). 14 Makal (1994, S. 123). 15 Karpf et al. (1995).
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kritisieren. In jedem Falle konnten die Beiträger_innen des Bandes damals noch nicht auf die Bandbreite an Filmen zurückblicken, die die Vielfalt dessen zeigen, was derzeit als ›deutsch-türkisches Kino‹ verhandelt wird. Ein Gestus ist dem im Sammelband vereinten Beiträgen zu Eigen: Sie gehen von einem Feld aus, das ›Repräsentation‹ als mediales Konzept ins Zentrum zur analytischen Verhandlung des Films stellen. Fünfundzwanzig Jahre nach Bergers und Mohrs Band und dreizehn Jahre nach Makals Arbeit wird die Germanistin Deniz Göktürk ebenfalls auf den »siebten Mann« rekurrieren: Das ›Migrantenkino‹ als sozial-realistisches Genre, das sich seit den 60er Jahren im Gefolge der Masseneinwanderung von Arbeitsmigrant/innen in Deutschland etabliert hat, gedieh allerdings völlig abseits fröhlicher Vermischung. Vielmehr hat es sich eingebürgert, die neuen Migrant/innen als Opfer am Rande der Gesellschaft darzustellen. Unzählige Dokumentar- und Unterrichtsfilme beschäftigten sich mit dem »Ausländerproblem« (Filmkatalog in Schoenberner/Seifried 1983). Insbesondere der türkische ›Gastarbeiter‹ in Deutschland erscheint bis heute als der »siebte Mann«, eine mythisch-stumme Figur – unfähig zu Kommunikation und Integration (Berger/Mohr 1975).16 In diesen distanznehmenden Worten zu einer solchen Formatierung der Migrant_innen als Opfer zeigt sich die Kraft eines Veränderungspotentials an, das nicht nur Göktürks Text auszeichnet, sondern überhaupt erst noch seine volle Entfaltung in der Durchsetzung eines Konzepts von ›deutsch-türkischem Kino‹ finden wird: dadurch dass Filme entstehen, die sich, um Makals metaphorischer Beschreibung nahe zu bleiben, »tief und effizient« in die visuelle Kultur in Deutschland sowie andere deutschsprachige Länder und der Türkei einschreiben. Die Filme Fatih Akıns stellen hierbei sicherlich die populärste Ausprägungsform dieser Einschreibungen dar: Filme, die ästhetisch und erzählerisch komplex von transkulturellen Austauschprozessen erzählen, ethnisierende Vereinfachungen und stereotypisierende Repräsentationsregime vermeiden; Filme voller Offenheit, die nicht mehr von unterdrückten Migrant_innen erzählen, sondern getragen sind, von lebensweltlicher Differenziertheit und Komplexität. Inzwischen haben sich so viele Filme zum deutsch-türkischen Zusammenleben entwickelt, dass eine filmarchivische Arbeit, die diese Filme systematisieren und aufarbeiten wollte, auf mehr als 2000 Filme und mehr als 40 Jahre Filmgeschichte zurückblicken müsste. Um dieses umfassende Feld, das in vielerlei Hinsichten noch unerforscht ist, geht es in der vorliegenden Arbeit.
Logotektonik der Arbeit: Makroebene Auch wenn hier ein umfassender historischer wie diskursiver Rahmen aufgespannt ist, hat die vorliegende Arbeit doch einen fokussierten Untersuchungszeitraum. Es sollen die aus türkischen Produktionszusammenhängen entstandenen Filme der 1970er Jahre 16 Göktürk (2000, S. 330).
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zur türkisch-deutschen Arbeitsmigration, die im Verlaufe der Arbeit ›türkischer Emigrationsfilm‹ genannt werden, in bestehende wissenschaftliche Auseinandersetzungen zum ›deutsch-türkischen Kino‹ in einer medienkulturwissenschaftlich untersuchten Sicht eingebracht werden. Doch was ist ›das deutsch-türkische Kino‹? Warum ist ausgerechnet eine Revitalisierung von veraltet und desintegrativ wirkenden Filmen der 1970er aus der Türkei, die sich dem Phänomen des ›siebten Mannes‹ gewidmet haben, im Zeitalter des Postmigrantischen, der nationalen De-Essentialisierung und der Transkulturalität überhaupt noch wichtig? Und was bedeutet es, diese Filme ›medienkulturwissenschaftlich in die bestehenden Forschungsdiskurse einzubringen‹? Oder um wieder zur Übersetzungssituation zu kommen: Wie sieht die Rolle des Mediums der vorliegenden Arbeit in dieser Übersetzungssituation zwischen ›türkischem Emigrationsfilm‹ und ›deutsch-türkischem Kino‹ aus? Zur ersten Frage: Das Genre des ›deutsch-türkischen Kinos‹ lässt sich am ehesten als filmwissenschaftlicher »Hilfsterminus«17 fassen, mit dem Filme bezeichnet sind, die entweder in Produktions- oder inhaltlicher Ausgestaltung Bezug nehmen auf das Phänomen ›türkisch-deutscher Migration‹. Kritische Überlegungen werden zu dieser Definition laut, die entweder medientheoretische Bedenken äußern18 oder die argumentieren, dass sie beispielsweise aufgrund eines ethnischen Rekurses von ›türkisch‹ und ›deutsch‹ kaum haltbar und zu verwerfen sei, »weil darin die Diversität der Regisseur_innen und filmischen Figuren, die zum Teil auch kurdischer Herkunft sind, ausgeblendet wird«19 . Die vorliegende Arbeit wird sich in diese Auseinandersetzungen zur genremäßigen Bestimmung nicht primär einlassen, denn es geht ihr einerseits um eine historisch rückvergewissernde und andererseits um eine solche Sicht, die sowohl medientheoretisch als auch methodisch neue Impulse für die Frage zu liefern sucht, wie Migration filmisch konstruiert wird. Aus dieser doppelten Haltung (historisch rückvergewissernd und Migration medientheoretisch im filmmedialen, -kulturhistorischen und -ästhetischen Kontext bestimmend) ergeben sich drei mehr oder weniger große Behauptungen für das Feld der Filmkultur rund um die türkisch-deutsche Arbeitsmigration und ihre Folgen, die nun am Anfang der Untersuchung stehen: Erstens fehlt es an archivischen und filmhistoriographischen Bestrebungen, filmische Verhandlungsformen zum so genannten ›deutsch-türkischen Kino‹ so zu erfassen, dass eine hinreichende Material- und Recherchebasis vorliegt.20 Trotz einiger Aufsätze und der genannten Monographien gibt es keine Nachschlagewerke oder umfassend angereicherte Datenbanken zu den Filmen. Dies hängt sicherlich auch mit genretheoretischen Schwierigkeiten zusammen, die ›deutsch-türkische Filmkultur‹ als solche zu bestimmen. Das hat mit der ephemeren Natur der Definierbarkeit von Migration zu tun, sodass die hier vorgelegten Ergebnisse durchaus auch für die Frage nach einer Bestimmbarkeit von Migrationsgenres nützlich sind. Zweitens findet eine eigenartige Separierung im wissenschaftlichen wie anderweitigen Diskurs zum ›deutsch-türkischen Kino‹ statt, die die Filme aus Produktionszusam17 Wikipedia. 18 Lehmann (2017b), Turan (2017). 19 Turan (2017, S. 338). 20 Vgl. Alkın (2017c).
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menhängen aus der Türkei nur sporadisch aufnehmen, was weitreichende Folgen für die Bestimmung des gesamten Feldes hat. Konkreter ausgedrückt: Permanent wird zwischen ›türkischen‹ Filmen zur türkisch-deutschen Migration sowie ›deutschen‹ Filmen dazu unterschieden oder bleiben die Bestimmungen und die berücksichtigten Filmkorpus derart vage, dass nicht hinreichend klar wird, wie sie sich zusammensetzen. Das wiederum hat zur Folge, dass die entsprechende Filmkultur in ihrem transkulturellen Potential jeweils nur einseitig berücksichtigt wird. Die Folge ist dann, dass Wissenschaftler_innen diskursiv zwischen ›türkischen‹ und ›deutschen‹ Filmen unterscheiden und grundsätzlich auf deren Verschiedenheit pochen. Das ist insofern problematisch, als dass diese Separierung dazu geführt hat, dass die in der Türkei hergestellten Filme in der deutsch- und englischsprachigen Auseinandersetzung nahezu vollständig ausgeblendet wurden. Drittens ist filmästhetisch auch jenseits des Feldes von Filmen zum ›türkisch-deutschen Kino‹ nicht hinreichend genug untersucht worden, wie sich das Verhältnis von Migration und Film verhält.21 Wie kommt es dazu, von Migrationsfilmen zu sprechen? Eine einfache und bislang allzu oft erwählte Variante ist diejenige danach, von einem bestehenden Konzept namens Migration auszugehen und dies auf die narratologisch verstandenen Filme zu übertragen: Weil sie Migration abbilden, sind es Migrationsfilme. Diesen drei Behauptungen und den aus ihnen resultierenden Defiziten möchte die Arbeit durch einen zweiteiligen Aufbau begegnen, der sich besonders der unterbestimmten Forschungslage verdankt: Zunächst widmet sich ein Prolegomenon in Teil I wissenschaftsreflexiven Überlegungen, die den Status des Filmischen als komplexe Medialität in am Werk orientierten Untersuchungen sowohl methodisch als auch theoretisch neu zu bestimmen erlauben. Ein solcher Ansatz, der von wissenschaftsreflexiven Überlegungen auf die medientheoretischen Bestimmungen des Filmischen schließt, erlaubt es, Filme multimethodisch und multitheoretisch zu denken ohne zugleich die Konstitutionsbedingungen zu relativieren, die die jeweiligen Untersuchungsansätze mit sich bringen. Sind filmanalytische Untersuchungen von derartigen Überlegungen zum Status des Ästhetischen getragen, wird dadurch den Eigenlogiken des filmischen Materials ein Raum beigemessen, der sich nicht in hermeneutischen, subjektzentristischen oder inhaltistischen Ansätzen erschöpft. Neben diesem Prolegomenon wird in Teil I der Forschungsstand zu den jeweils bis heute separat diskurrierten Feldern ›deutsch-türkisches Kino‹ und ›türkischer Emigrationsfilm‹ erarbeitet. Zunächst wird eine historische Rückvergewisserung nach der wissenschaftlichen Konstruktion dessen geleistet, was ›deutsch-türkisches Kino‹ genannt wird (▶ Kap. 2). Hieran folgt die historische Rückvergewisserung danach, was in der türkischsprachigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung türk dış göç sineması, also ›türkisches Emigrationskino‹ genannt wird (▶ Kap. 3). Die Auseinandersetzung in diesem Teil geht jedoch auch darüber hinaus. Zum einen werden diskurshistorische Aktualisierungen bestehender Historisierungsmodelle des ›deutsch-türkischen Kinos‹ vorgenommen und zum anderen werden eigenständige werkhistorische Ergänzungen und Einordnungen geliefert. Damit werden die filmhistorischen Desiderate bedient, die es 21 Ansätze finden sich in Heidenreich (2015) und Eleftheriotis (2012).
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ermöglichen, überhaupt in dem Feld zwischen einem ›deutsch-türkischen Kino‹ und einem ›türkischen Emigrationsfilm‹ interkulturell sensitiv zu forschen. Der zweite Teil nimmt die bestehenden Defizite in den wissenschaftlichen Untersuchungsfeldern zum ›deutsch-türkisch Kino‹ und zum ›türkischen Emigrationsfilm‹ ernst und widmet sich mit Hilfe einer multimethodischen Herangehensweise der Bestimmung von Migration im ›türkischen Emigrationsfilm‹ in einer ganz bestimmten Phase: der High-Yeşilçam-Phase. Was ist Yeşilçam? Die Türkei ist den 1960er und 70er Jahren im Hinblick auf die Anzahl hergestellter Filme eines der produktivsten Länder der Welt (teilweise mehr als 300 Filme pro Jahr). Aufgrund der immens schnellen und auf ein zentrales Akteursnetzwerk zugreifenden Produktionsstruktur, können binnen weniger Wochen ganze Filme hergestellt werden, die sich auf inhaltlicher Ebene sehr stark an den kommerziellen Produktionen Hollywoods orientieren. Aufgrund fehlender Urheberrechtsbestimmungen werden ganze Filmmusiken und Plotstränge aus Hollywood-Produktionen übernommen und zugleich auf ein türkisches Publikum zugeschnitten. Der Name der Ära verdankt sich der Straße, in der die Filmproduzent_innen gelegen waren: Sie waren nahezu alle in der auf europäischer Seite in Istanbul gelegenen Yeşilçam-Straße situiert. Dieser Teil II lässt sich als Untersuchungs- und Hauptteil verstehen. Hier werden die filmischen Konstruktionen der Emigration in der überaus produktiven Dekade der türkischen Filmkultur, nämlich der Yeşilçam-Filmkultur der 1970er Jahre, analysiert. Wie sehr eine solche, die bestehenden Diskurse auffrischende Sicht nötig ist, zeigt sich auf einen ersten Blick schon an der Vielfältigkeit der Repräsentationen der Migrationsfigur in den Filmen: Nicht nur taucht die Figur in der Geschichte des ›türkischen Emigrationsfilms‹ als stummer Arbeitsmigrant auf, wie die meiste Forschung über diese Zeit festhält, sondern als Figur, die von im Ausland verdorbenem Casanova (▶ Kap. 7.5), verwestlichten Bildungsmigranten (▶ Kap. 6.5 und 9.1) bis zu reintegriertem erfolgshungrigem Westler (▶ Kap. 9.2) reicht. Aufgrund der Hervorkehrung bisher ungewusster filmischer Verhandlungen ›türkisch-deutscher Emigration‹ versteht sich die Arbeit auch als filmhistoriographische Leistung, die das Feld des ›türkischen Emigrationsfilms‹ und dessen Historisierung durch filmarchivische Arbeiten in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen hilft. Mit Hilfe eines solchen Ansatzes wird nicht nur das Feld ›deutsch-türkischen Kinos‹ transkulturell gedacht und interkulturell erweitert, sondern es wird ermöglicht, kulturhistorisch gesättigter über das Feld insgesamt zu sprechen.
Logotektonik der Arbeit: Mikroebene Nachdem nun der grobe Aufbau zusammengefasst wurde, soll der Feinaufbau der Arbeit genauer erläutert werden. Die folgende Erläuterung der Struktur hat hierbei auch die Aufgabe einer Leseanleitung, die die Logotektonik der Arbeit sichtbar macht. Kapitel 1 stellt als Prolegomenon zunächst methodische und wissenschaftsreflexive Überlegungen an, die die große medienkulturwissenschaftliche Klammer aufwirft, in der die Arbeit zu situieren ist. Diese Situierung ist deswegen als wissenschaftsreflexiv zu verstehen, weil sie in Anlehnung an Überlegungen zur Differenzierung von ästhetischen Forschungspraktiken und Forschungspraktiken am Ästhetischen die Medialität
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des Filmischen darin verortet. Dadurch wird es für den Fortgang der Arbeit möglich, ein Bezugsfeld und medientheoretische Überlegungen zu eröffnen, die sich durch die gesamte Arbeit ziehen und in Kapitel 5, vor Beginn der eigentlichen Untersuchungen, zur dezidierten methodisch-theoretischen Explikation führen. Die Lektüre des Prolegomenons eröffnet Einsichten in die medientheoretischen, grundlegenden Annahmen der in der Arbeit unternommenen Forschungspraktiken. Das Kapitel 2 verfolgt zwei Ziele. Das erste Ziel besteht darin, den deutsch- und englischsprachigen Forschungsstand zum so genannten ›Migrationskino‹/›deutsch-türkischen Kino‹ anhand einer Rekonstruktion der Werkfilmgeschichte zu rekapitulieren. Mit Hilfe von dezidierten Kurzanalysen entsprechender Filme jener Einteilungen der Geschichte des so genannten ›deutsch-türkischen Kinos‹ werden zugleich diskurshistorische Erweiterungen und Differenzierungen vorgenommen. So wird unter anderem aufgezeigt werden, dass der bestehende Forschungsdiskurs nicht zwischen Betroffenheitsfilmen über Gastarbeiter_innen und Integrationsfilmen, die jedoch desintegrativ angelegt sind, differenzieren. Diese differenzierende Rekapitulation des Forschungsstandes ist nötig, um das zweite Ziel des Kapitels umsetzen zu können: eine Kritik am Forschungsstand sowie den in der Forschung etablierten Historisierungsmodellen zum ›deutsch-türkischen Kino‹ zu formulieren. Mit Hilfe von argumentativen Angeboten aus der postkolonialen Theorie und anhand eines ausgewählten Filmbeispiels aus den 1980er Jahren (das Zwangsverheiratungsdrama Aufbrüche) soll der im Historisierungsmodell enthaltene Eurozentrismus transparent gemacht und aufgezeigt werden. Dabei werde ich nicht nur eurozentrische Tendenzen in der wissenschaftlichen Forschung zum ›deutsch-türkischen Kino‹ sichtbar machen, sondern die Konsequenzen für die weitergehende Forschung im Bereich aufzeigen. Diese postkolonial informierte Kritik am Forschungsstand, resultiert daraus, dass ich die aus dem Bereich der Forschung zum ›deutsch-türkischen Kino‹ ausgeschlossenen Filme aus der Türkei überhaupt erst als zu untersuchenden Gegenstand benenne und damit als Forschungsdesiderat sichtbar mache. Kapitel 3 liefert dreierlei: Erstens bietet es einen ersten historisierenden Einblick in die filmischen Konstruktionen zur deutsch-türkischen Migration im Film aus der Türkei und rekapituliert damit den Forschungsstand zum türkischen Emigrationsfilm (türk dış göç sineması). Eine die kultur- sowie gesellschaftspolitischen Entwicklungen nachzeichnende ausführliche Auseinandersetzung zur Entstehung der Filmkultur in der Türkei bereitet dabei den Verstehensgrund für die in Teil II im Vordergrund stehenden Filmanalysen. Mit der getrennt angelegten historisierenden Betrachtung der nationalen Kinematographien reproduziert die Historisierung zugleich eine solche Trennung, wie sie in Kapitel 2 schon als Problem des derzeitigen Forschungsstands untersucht wird: Wenn man Migration im Film untersucht bedeutet das, mindestens die transnationale Bi-Direktionalität von Migration in der Forschungsobjektgenerierung und auf der Ebene der Erwählung des nationalkinematographischen Bezugsfelds zu berücksichtigen. Legitimiert ist diese heuristische Trennung produzierende Historisierung des türkischen Emigrationsfilms durch die sowohl filmarchivischen als auch filmkulturhistorischen Desiderate, die durch das informierende Kapitel in Ansätzen geschlossen werden:
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so, dass das für das weitere Verständnis der Hauptkapitel notwendige filmkulturelle Vorwissen etabliert wird. Für den Umgang mit der filmhistorisierenden Diskursproduktion im Kapitel gilt noch Folgendes zu beachten: Statt von Phasen zu sprechen, spreche ich von Ensembles. Mit dem Begriff des Ensembles soll auf die Konstruktionsleistung jener Historisierungen verwiesen sein, da die sinnstiftenden Historisierungen, die einem modalzeitlichen, chronologischen Modell folgen, aus einer Praxis des Anordnens von Filmen zu Gruppen aufgrund spezifischer Klassifikationsmerkmale geschehen (siehe dazu auch nochmal Anfang ▶ Kap. 2.2.1). Diese Klassifizierung ist in seiner Behauptung eines sinnstiftenden Moments derart entzogen, dass die Rede vom Ensemble die Heterogenität und Konstruiertheit sowie die darin deutlich werdende Heuristik der Klassifizierung entzifferbar belässt. In Kapitel 4 erörtere ich kritisch zwei filmanalytische Modelle (world und transnational cinema) und zeige durch die Kritik an diesem Umgang mit dem ›deutsch-türkischen Film‹ und dem ›türkischen Emigrationsfilm‹ die Unfähigkeit der Modelle auf, angemessen auf Migrationskinematographien einzugehen. Mit dem Angebot ent-eurozentrisierender Modelle wie dem »Polyzentrismus«22 und der »flexiblen Geographie«23 wird zugleich darüber reflektiert, ob und wie sich darüber die postkolonialen Strickfallen, wie sie sich in Kapitel 2 anzeigten, vermeiden lassen. Die Kapitel 5 bis 9 bilden den zweiten Teil der Arbeit (Teil II), der zugleich als Hauptuntersuchungsteil zu verstehen ist. Hier nimmt die Arbeit dezidierte Analysen zahlreicher Einzelfilme aus dem Untersuchungssetting ›türkischer Emigrationsfilm des HighYeşilçam_Kinos der 1970er Jahre‹ vor. Der Grund, warum sich die Arbeit einer frühen Filmkultur widmet, ist besonders auch kulturhistorisch motiviert. Mit der Untersuchung wird zum ersten Mal überhaupt eine umfassende Sichtbarmachung der filmischen Verhandlungsformen der ›türkisch-deutschen Migration‹ im deutschsprachigen Diskursraum vorgelegt.24 Aufgrund der defizitären Stellung des türkischen Films im Kontext einer global verstandenen Filmkultur hebt die Arbeit das unterrepräsentiert und damit auch minoritär gebliebene Kino der Türkei in einen Raum wissenschaftlicher Auseinandersetzung, der gerade vor dem Hintergrund zunehmend komplexer werdender, transkultureller Austauschprozesse für eine von Migration konstitutiv geprägte Gesellschaft von Bedeutung ist (phatische Funktion). Nicht nur ist die Arbeit filmkulturhistorisch motiviert. Die Untersuchungen sind zugleich von methodischen und theoretischen Strategien getragen, die helfen Zusammenhänge von Film und Migration zu bestimmen. Die Untersuchung einer Filmkultur zur Migration ermöglicht es Bestimmungen dahingehend vornehmen zu können, wie filmische Regime Migration visuell konstruieren. Filmische Regime sind solche, die sich durch die Vektoren von Bewegtbildlichkeit aufspannen. Bewegtbildlichkeit ist hierbei 22 Stam und Shohat (2002). 23 Nagib (2006). 24 Der einzige deutschsprachige Beitrag bislang (Stand: 2019) ist Ersel Kayaoğlus Aufsatz (2012). Eine Publikation der Qualifikationsschrift von Deniz Güneş Yardımcı, die sich den Repräsentationen der Migration im transnationalen Kino zwischen Deutschland und der Türkei widmet, steht noch aus.
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wiederum eng an die Kategorie des Visuellen geknüpft, die es in einer Hinsicht zu analysieren besonders lohnt: nämlich in die Richtung danach, dass das Soziale durch eine Kultur von sehenden Menschen konstituiert ist, die sich der Konstituierung ihrer Welt besonders über das Sehen versichert.25 Was heißt das? Gerade vor dem Hintergrund einer filmischen Medialisierbarkeit von Migration wird ein pluralistischer, sich den Filmästhetiken zuwendender Zugang nötig, da zwei in ihrer Medialität komplex fungierende Konzepte, Migration und Film, hier in einer Verschränkung zu untersuchen sind, die nicht in den gängigen Sackgassen repräsentationskritischer und sprachzentrierter Untersuchungsmodelle enden sollen. Was bedeutet Migration im Film überhaupt? Wie lässt sich von Migration im Film sprechen? Wie kommt es, dass Migration im Film so sichtbar wird, dass die Rede von einem ›Migrationsfilm‹ möglich wird? Weil eine solche am Status des Ästhetischen interessierte Untersuchung immer wieder auf die Bedingungen des eigenen Forschens zurückverweist, wird das Prolegomenon zu dieser Schnittmengenproblematik zwischen Forschungen am Ästhetischen sowie dem Status des Ästhetischen im Forschen, die Forschungsbedingungen transparent machen, unter denen die Arbeit die Filme untersucht hat.26 In diesem medien-, bildund filmtheoretisch aufgespannten Rahmen werden sich die zentralen theoretischen Ansätze und Überlegungen finden lassen, die sich in den jeweiligen Untersuchungskapiteln aktualisieren. Teil II der Arbeit will also nicht nur eine hermeneutische Lektürearbeit im Sinne eines close reading leisten, sondern durch die Untersuchung (bewegt)bildlichen Materials, aufzeigen, wie sich das zuerst vorgefasst angenommene namens ›Migration‹ in den filmischen Bildern konstituiert: Migration ist nicht nur so, weil wir uns ihres So-Seins sprachlich versichern, sondern weil wir als sehende Kultur ständig auf ihre visuelle Konstituierung angewiesen sind. Diese komplexe Überlegung fußt auf der visualitätstheoretischen Überlegung des Bildwissenschaftlers W. J. T. Mitchells, der in folgender, hier noch allgemeiner gehaltenen Formulierung die Auseinandersetzung am Visuellen als konstitutiven Teil analytischer Beschäftigung ersieht, um das Kulturelle in der Welt zu untersuchen. Bilder, und auch ganz besonders filmische Bilder beinhalten etwas Blickhaftes, das sie zu vitalen Agenten einer Vermittlung macht, auf deren Grundlage überhaupt das Soziale als solches versicherbar wird.27 Mitchell hält fest: »Nicht nur sehen wir, wie wir sehen, weil wir soziale Tiere sind, sondern unsere sozialen Übereinkünfte nehmen die Form, die sie haben, auch an, weil wir sehende Tiere sind.«28 Als solche sehenden Tiere kommen wir um die Untersuchung der Konstitution des Visuellen nicht umhin, wenn wir die Vermittlungen des Kulturellen, die ja auch die Migration ist, verstehen wollen. Auf diese zentrale bildperformative Überlegung29 wird im weiteren Verlaufe der Arbeit immer wieder, auch in unterschiedlichen Zusammenhängen zurückzukommen sein. Zurück zum Vorgehen der Arbeit: In Kapitel 5 reflektiere ich den analytischen Zugang zu dem erwählten Forschungsbereich. Der Forschungsbereich sind die in den türkischen High-Yeşilçam-Filmen der 1970er Jahre hergestellten Filme, die ein zuallererst vorausgesetztes Motiv ›deutsch25 26 27 28 29
Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008a). Vgl. Mersch (2015a), Mersch (2015b). Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 334f.). Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325f.). Vgl. Krämer (2009).
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türkische Migration‹ verhandeln. Dass und wie überhaupt von Migration im Film gesprochen werden kann, erörtere ich anhand medientheoretischer Modelle. Ich erweitere diese Modelle um Überlegungen aus der Visuellen Kultur und schlage so ein filmkulturwissenschaftliches Untersuchungsverfahren für Film vor, das vornehmlich semiotische Modelle und einseitige filmtheoretische Zugänge aufgrund ihrer besonders filmkulturhistorischen Komplexitätsreduktion hinter sich zu lassen versucht. Dabei ist das vorgeschlagene Untersuchungsverfahren davon motiviert, ein zuallererst vorausgesetztes Motiv ›deutsch-türkische Migration‹ über dessen visuelle Konstruktion in den Filmen, die ich im Sinne wissenschaftshistorischer und -theoretischer Überlegungen als eine spezifische Kultur »epistemischer Dinge« verstehe, herauszustellen. Mit visueller Konstruktion sind all jene Dimensionen gemeint, die in das weite Feld von Visualität hineinragen: Spezifisch ist damit gemeint, dass nicht nur soziale Konventionen darüber entscheiden, wie bestimmte Repräsentationen signifizieren oder mit ihnen signifiziert und Wirklichkeit hergestellt wird, sondern dass das Feld des Visuellen in seiner gesamten Komplexität aufgrund einer organismischen Konstante im Menschen (Auge und Sehen) sozialen Konventionen in dem Maße vorausgeht, wie sich die sozialen Übereinkünfte zugleich über die Art und Weise des Sehens und der Materialität der Bilder (Blicke, Positionalitäten, Farben, Intensitäten, Kontraste, Blick- und Bildbewegungen, sinnliche Qualitäten, Verkörperungsstrategien) konstituieren. Das wiederum bedeutet in Filmen, Bildern und anderen ästhetischen Konfigurationen, die ästhetische Formierung nachvollziehen zu können, die in die Konstitution des Sozialen hineinspielt und sie teilweise – aufgrund ihres Status als »intermediäre[s] Ding«30 – gar erst ermöglicht. In den Kapiteln 6 bis 9 folge ich dem in 5 erörterten Untersuchungszugang, indem ich einer Vorbestimmung der medialen Relation von Migration und Film in einer vierfachen Ereignissegmentierung von Migration folge: Abwesenheit (▶ Kap. 6), Anreise (▶ Kap. 7), Ankunft (▶ Kap. 8), Anwesenheit (und Triplett) (▶ Kap. 9). In diese Kapitel sind filmkulturhistorische Einordnungen einstrukturiert, wobei das letzte Kapitel besonders die filmpolitische Dimension der erwählten Filme stark macht. Daher werden im Gegensatz zu den Kapiteln 6 bis 8 im Kapitel 9 filmhistorische und medienpolitische Kontextualisierungen im Vordergrund stehen, die die in der türkischen Filmhistoriographie oft geäußerte Behauptung vom türkischen Kino/Kino der Türkei als Migrationskinematographie analytisch konkret an den Filmen nachvollzieht. Diese exkursiv angelegte Zuspitzung des letzten Kapitels erlaubt sich durch das Leistungsversprechen dieser Arbeit, die darin besteht in der Herausarbeitung der visuellen Konstruktionen der Migration in den Filmen einer bestimmten Dekade (1970er) zugleich die Zentralität einer bestimmten Konzeption von Migration in filmkulturpolitischen Zusammenhang nachzuzeichnen. Doch wie wirken diese vier Kapitel miteinander? Wie sind sie aufgebaut? Wonach strebt in ihnen das Erkenntnisinteresse? Wie sieht ihre innere Struktur, ihre innere Logik aus? Warum werden sie in solcher Weise konstelliert? 30 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 335).
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Visuelle Kultur der Migration? – Analysefokus der Arbeit Zuerst noch: Migration ist nicht nur die Reise einer Person von A nach B mit einem dauerhaften Bezugswechsel auf B. Wo muss das Auge situiert werden, um Migration als solches Ereignis begreifen zu können? Wohin muss also das Sehen bewegt werden, um es in dieser Form als Ereignis fixieren zu können? Müssen wir uns den Blick, der dieses transnationale Ereignis sieht, als einen göttlichen Blick vorstellen, der über die raumzeitlichen Zusammenhänge hinweg schwebt – als kartographierenden Blick, der die »Welt als Bild«31 verbürgt? Was passiert, wenn wir diesen Blick, der die Migration bestimmte, auf das migrierende Subjekt selbst legen? In jedem Falle kann das migrierende Subjekt selbst den sozialen Ort, an dem es verweilte, nicht mehr sehen, sobald es den Ort verlassen hat. Können menschliche Augen zwei raumzeitlich getrennte Orte zur selben Zeit sichten? Mit den telemedialen Möglichkeiten der Entkopplung sichtender Instanzen (Kameras) wird dies dadurch möglich, dass zwei Quellen audiovisuelle Ressourcen über diese beiden Orte zur Verfügung stellen. Doch was passiert, wenn diese beiden Orte auch noch in unterschiedlichen Zeitlichkeiten zueinander figuriert werden? Der Mensch allein kann dieses Sehen an zwei verschiedenen Orten nicht vollführen und schon gar nicht in wechselnden Zeitbezügen – zumal unterschiedlichen Zeitlogiken unterschiedliche Ästhetiken entsprechen. Diese Überlegungen zeigen, dass Migration als monumentales Ereignis, nicht nur ein Wanderungsereignis entwirft, sondern zugleich zweierlei: Es ist die Monumentalität von Migration, die dazu führt, dass sie sich ontologischer Stabilisierungsformen entzieht.32 Verlässt ein Subjekt seine sozialen Zusammenhänge, spaltet sich das solche Soziale in zwei Lager auf: das wandernde, ausreisende Subjekt sowie die Daheimverbliebenen, die selbst wieder je nach sozialer Lage verteilt sein können und keineswegs als sozial stabiles Gefüge anzunehmen sind. Wenn Migration aber mehr bedeuten soll als der Wanderungsprozess, müssen diese raumzeitlichen Zusammenhänge im sozialen Gefüge, umso strikter berücksichtigt werden. Das Medium Film liefert in diesem Kontext eine Möglichkeit, diese ästhetische Konstellation zwischen der Monumentalität von Migration als Ereignisform und ihrer visuellen Konstruktion zu reflektieren. Der Film erlaubt anhand seiner komplexen medienästhetischen Eigenschaften, die Verhältnisse zwischen Migration und ihrer Sichtbarmachung zu bedenken. Diese Medienästhetik ist es, die Migration überhaupt in ihrer Monumentalität verfügbar macht. Das filmische Material ist Ressource dieser Verfügbarmachung und als filmisch Konstituiertes sind nicht einzelne filmtheoretische Zugänge zu spezifizieren, die die Lesart und Untersuchung der Filme prädeterminieren. Vielmehr gilt es die Aufsammlung theoretischer Zugangsweisen zu diesem Material, über das Material selbst wieder agentiell werden zu lassen. Wie dies gelingt, dokumentiert sich an den Analysen selbst, die einer zunächst phasenmodalen, chronologischen Segmentierung vom Migrationsprozess folgen. Die Reihung der Kapitel geht mit der Logik von der segmentiellen Teilung der Migration einher: Abwesenheit, Anreise, Ankunft, Anwesenheit. Und doch ist in diese Rei31 Skrandies (2012). 32 Mirzoeff (2012, S. 29).
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hung ein Bruch eingeschrieben, der dem logischen Verlauf einer Migration widersteht. Beginnt Teil II, der sich also der Herausarbeitung der visuellen Konstruktion der Migration verschrieben hat, mit dem Umstand der Abwesenheit, so scheint hierin eine Fehlstellung zu liegen. Berger und Mohr konstellieren ihren Photoband beispielsweise mit der Segmentierung in »1. Abreise«33 , »2. Die Arbeit«34 und »3. Heimkehr«35 . Da allerdings die türkischen Filme der 1979er sich kaum für die Abreise oder die Arbeitssituation im Einwanderungsland interessieren, sondern vielmehr Ereignisse nach der Heimkehr fokussieren, zeigt sich an ihnen ein besonderer Umstand, der im Denken von Migration oft vernachlässigt wird. Gerade in dieser Irritation der Reihung der Arbeit (Abwesenheit, Anreise, Ankunft, Anwesenheit) liegen also Erkenntnisse, die weitreichend für zentrale Überlegungen sind. Warum sollte die Untersuchung von Migration in den Filmen mit der Abwesenheit beginnen: weil die Emigration die Abwesenheit der Emigrant_innen in heimischen Gefügen bedeutete. Wie gestalten sich die Filme, die sich mit dieser Abwesenheit beschäftigen? Was bedeutet dieses Fokussieren der heimischen Gefüge? Das erste der Untersuchungskapitel in Hauptteil II widmet sich drei Filmszenen, die der Figuration von Abwesenheit entsprechen. Alle drei Szenen widmen sich hierbei unterschiedlichen Aspekten der Abwesenheit in der Migration. Das Kapitel 6.2 arbeitet beim ersten Filmbeispiel Davaro heraus, wie eine soziale Größe namens Dorfgemeinschaft über die filmische Produktion hergestellt wird. Dies ist deswegen wichtig zu wissen, weil zur visuellen Konstruktion von Migration die entitätsbildende Separierung sozialer Größen eine Implikationsbasis bildet, auf deren Grundlage überhaupt von Migration gesprochen werden kann. Migration als Veränderung im sozialen Gefüge zu verstehen, bedeutet auch zu verstehen, wie das Soziale konstituiert ist, auf dessen Grundlage zwischen einer Gruppe von Nicht-Migrierenden und demjenigen, der migriert, unterschieden werden kann. Wie stellt der Film überhaupt das soziale Gefüge her, von dem ausgehend die Rede von Migration überhaupt möglich ist – wo kein Bezugsort, da keine Migration, da dann ja nur nomadisch gewandert wird. Die Analyse zeigt hierbei die »visuelle Konstruktion des Sozialen«36 der Daheimverbliebenen (home group) auf. Sie findet in Davaro eine solche Form der Produktion, dass sie als im wahrsten Sinne des Wortes Ent-faltung eines quasi-natürlichen Dorfsozialen entsteht. Konkret zeigt der Film eine ernüchternde Heimkunft eines Emigranten, den die Dorfbewohner_innen durch dessen Photographien zuvor als vermögenden und heilsbringenden Potentaten imaginiert hatten. Die Frage, der sich das Kapitel widmet ist: Wie funktioniert es, dass ein Kollektiv aus Menschen visuell erzeugt wird? In engem Bezug auf theoretische Angebote aus affekttheoretischen und neophänomenologischen Prämissen stellt die Analyse Qualitäten heraus, in der so etwas wie eine Dorfgesellschaft filmisch produziert wird. Warum ist dies im Kontext einer Untersuchung von Migration in den Filmen relevant? Die Produktion sozialer Instanzen im Film ist deswegen relevant, weil in dieser Herausstellung von der filmischen Produktion des Dorfsozialen 33 34 35 36
Berger und Mohr (1975, S. 9-78). Berger und Mohr (1975, S. 79-202). Berger und Mohr (1975, S. 203-230). Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325).
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soziale instanzmäßige Größen wie die home group nachvollzogen werden können. Filme stellen mediale Konfigurationen her (Spiegelverhältnisse, Rahmungen, Ästhetiken, Bilder), in denen sich zuallererst der subjektversichernde Status ermöglicht wird. Weshalb steht diese Untersuchung am Anfang des Hauptanalyseteils: weil die szenische Figuration eine Heimkehr samt Erwartungsereignis zeigt und damit dasjenige Ereignis, das die untersuchten High-Yeşilçam-Filme der 1970er am häufigsten filmisch aufgreifen. Wenn in den anderen Filmen eine Heimkehr gezeigt wird, warum wird sie dann ausgerechnet an diesem Film illustriert: weil die parodistische Machart des schon zwei Jahre außerhalb des Untersuchungszeitraum liegenden Films (1981) mit den grundsätzlichen Annahmen von Heimkehr so sehr spielt und die Erfahrungen sowie Bilder vorheriger Filme so verhandelt, dass hintergründige Dimensionen der Figuration der Heimkehr in den Vordergrund treten. So wird der Nachvollzug folgender Untersuchungen vorweggenommen und der Einstieg in die weitere Thematik erleichtert. Kurze Exkurse zu rezeptionsästhetischen Überlegungen zum Zusammenhang von Film und Dialog im Kontext von Migrationsmotiviken rahmen das Kapitel, wie eine grundsätzliche Vorwegnahme genereller Zusammenhänge zwischen Migration und Film. Die zweite Analyse (▶ Kap. 6.4) des Kapitels, das sich solchen Szenen widmet, in denen der Migrant sowohl im Bildraum als auch diegetisch abwesend ist (Abwesenheitsszene), untersucht den Dorffilm Kara Toprak. Der Film handelt von einem ins Dorf heimkehrenden Arbeitsmigranten, der im Zuge einer Verheiratung sich mit dem Dorfpatriarchen anlegt. Hier wird das Konzept Abwesenheitsszene als terminus technicus etabliert, das genau jenen Zusammenhang zwischen bildlicher Abwesenheit und Abwesenheit in der Migration (Diegese) aufgreift. Während eine Einführung in das Genre des türkischen Dorffilms den Kapitelteil generell einleitet, untersucht die Analyse die filmische Konstruktion der Abwesenheitsszene aus folgender Sicht: Abwesenheitsszenen in Filmen mit Remigration fokussieren oft die Daheimverbliebenen (home group). Diese home group thematisiert in ihren Dialogen aber zugleich die (noch) abwesenden Migrant_innen und erörtert zugleich auch ihre eigenen Ängste. Deswegen expliziert das Kapitel an einer Szene, die die Eltern eines bald zurückkehrenden Emigranten beim Dialog über den heimkehrenden Sohn zeigen. Ziel damit ist es, die im Dialog der Eltern aufkommenden Diskurse aufzuzeigen und diese in einen kulturtheoretischen Kontext einzuordnen. Das Ziel ist es also, die Wissensverhältnisse in dieser Konstellation von bevorstehender Heimkehr und Thematisierung durch die home group (Eltern) deutlich zu machen. Wurden in der Analyse von Davaro intramediale Konstellationen (Photographie in der Szene selbst) nur angerissen, werden sie in der Untersuchung von Kara Toprak besonders intensiv in ihrer medialen Qualität hervorgekehrt. Die Eltern hantieren mit einer Photographie des Sohns, bewegen sich im Wohnraum entlang medialer, komplexer Verhältnisse, die die Kategorien von Anwesenheit und Abwesenheit in unterschiedliche Verhältnisse bringt: Kategorien, die als mediale Qualitäten maßgeblich in die Konstitution von Migration involviert sind. So wird im Kapitel deutlich, dass Kategorien der Medialität für Migration maßgeblich von Bedeutung sind, nämlich als Aspekte, die ihre raumzeitliche Komplexität verantworten. Generell für die Untersuchung der Kapitel bleibt noch zu sagen: In die medialen Konstituierungsfragen des Subjektiven reichen bekanntermaßen imaginäre und symbolische Dimensionen hinein, die bei der Erörterung der filmischen Konstruktion der
Einleitung
sozialen Verhältnisse der Migrationssituation sowohl bei Davaro als auch bei Kara Toprak besprochen werden. Inwieweit diese Dimensionen in ein von Migration betroffenes soziales Gefüge hineinreichen, offenbart sich in den mikroanalytischen Untersuchungsprozessen der beiden Kapitel. Dabei sind die Untersuchungen als Mikroanalysen zu verstehen, die sich stets kurzen Ausschnitten widmen und dann aus der entkontextualisierten Betrachtung wieder einer in den filmischen Gesamtkontext einordnenden Perspektive widmen. Der dritte im Kapitel untersuchte Film ist der propagandistische Film Oğlum Osman (▶ Kap. 6.5). Der ideologiehistorisch in Kapitel 9.1 noch genauer zu spezifizierende Film wird nach der Umsetzung seiner politischen, nationalistischen Filmprogrammatik überprüft, die sein Regisseur entworfen hat, und die Rolle von Migration darin befragt. Auch hier widmet sich die Aufmerksamkeit zwei Abwesenheitsszenen: In der einen Szene verhandelt die Jugendliebe eines aus Studiengründen nach Deutschland gereisten Emigranten diesen in ihren von Tagebucheinträgen und Photoalben geprägten Vorstellungen. In diesem Schwelgen äußert sie zugleich okzidentalisierende Diskurse, die Abwesenheitsszenen an sich auszeichnen: die Abwesenheit des Emigranten produziert eine Leere, in die die Ängste und Sehnsüchte über den Anderen (Westen, Moderne) projiziert werden. Die anderen Szenen zeigen die Eltern des zurückkehrenden Emigranten einer islamisch geprägten Unternehmerfamilie in unterschiedlichen Situationen (Einrichtung des vormaligen Zimmers, Gespräche mit der Familie der versprochenen Frau). Diese Situationen offenbaren, dass die Eltern einer Annahme der Preservation folgen: der Annahme, dass der Sohn sich als solche fromme und mit nationaler Identität geprägte Person erhalten hat, die er vor der Ausreise nach Deutschland war. Als der Sohn heimkommt, wird er sich als Verwestlichter offenbaren, der sowohl den Islam als auch eine türkische Lebensweise schmäht. Erst eine Identitätskrise setzt einen Vorgang der Returkisierung in Gang: der Reversion zu einer türkisch-islamischen Identität. Diese Verquickung von Bewegung, Subjektivität, Raum, Ort, Erinnerung, Wahrnehmung, die sich in den Szenen findet und sich je spezifisch in die Prozesse des Zuschauens einschreibt, stehen im Vordergrund des von photo- und raumtheoretischen Annahmen geleiteten Kapitels, das aufzeigt, dass Migration nicht nur ein Ausnahmefall menschlicher Existenzweise, sondern eine konstitutive Dimension von Prozessen in der Welt ist. Das zweite Untersuchungskapitel (▶ Kap. 7) widmet sich der filmischen Konstruktion der Anreisen. Es verfügt im Vergleich zu Kapitel 6 über eine andere Struktur und verlagert die Aufmerksamkeit von mikroanalytischen Beobachtungen hin zu einer zunehmend empirisierenden Analyse: Fünf Dorffilme werden dahingehend untersucht, wie die Anreise in den Filmen sichtbar gemacht wird. Welche deiktischen Prozesse werden involviert? Welche Blickregime werden provoziert? Wie hängen Filmmedialität und die Medialität der Migration zusammen? Zuvor hatte Kapitel 6 die filmische Produktion der home group, die Konstruktion der Abwesenheitsszene als elterlich-heimisches Gefüge samt photomedialer und wissenstechnischer Verquickungen sowie die erinnerungstechnischen Verfahren im Zusammenhang einer zeitlogischen ideologischen Programmatik aufgezeigt. Die Kurzuntersuchungen in Kapitel 7 hingegen erörtern die Weisen, in denen die Emigrant_innen bei ihrem Eintritt in die vormaligen heimatlichen Gefüge gezeigt werden. So arbeiten die Kapitel nicht nur heraus, wie die Relation von
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Bewegung, intradiegetischer Elemente und der filmischen Elemente im Kontext von Migration in Beziehung zueinander stehen. Neben kulturtheoretischen Überlegungen zur Figur des ›Deutschländers‹ und zur Soziostruktur des Anatolischen, die die Dorffilme prägen, werden auch die medialen Wesensverwandtschaften von Migration und Film erörtert. Kapitel 8 ist wieder anders aufgebaut als Kapitel 6 und 7. Hier bildet eine Klammer die Struktur, die von zwei Filmen aufgeworfen wird. Im Zentrum der Untersuchung steht der paradigmatische Film Dönüş, der diese Klammer überhaupt erst aufwirft: ein Film, der die Figur des ›Deutschländers‹ bemerkenswert visuell erzeugt – in einer hochkomplexen Orchestrierung, die die zentralen bildtheoretischen Prämissen der vorliegenden Arbeit zur visuellen Konstruktion des Sozialen aufwirft. Grundsätzlich widmet sich Kapitel 8 den sozialen Begegnungsmomenten, also jenen Momenten, in denen Heimkehrer_innen und home group zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht einander gegenüberstehen. Diese soziale Ursituation menschlicher Intersubjektivität ist auch in Migrationsprozeduren maßgeblich einbezogen, weil die dauerhaften oder jeweils zum ersten Mal entstehenden Blickbegegnungen in die Herstellung von Rastern einbezogen sind, die die Migrant_innen dem Prozess des othering überstellt. Ist jemand emigriert und kehrt er wieder heim, so wird er als Anderer gesehen. Zugleich ist diese Sichtweise auch dadurch bedingt, dass sich die Ausgewanderten aus sozialen Distinktionsgesten als Andersgewordene darstellen wollen. Wie diese Andersmachung von Migrant_innen im Vorgang der filmischen Medialisierung sichtbar gemacht wird, leitet das Untersuchungsinteresse im Kapitel, das sich ganz besonders Blickfigurationen, den kameratechnischen Operationen und damit blicktheoretisch motivierten Perspektiven widmet. Ein medientheoretischer Exkurs zu autobiographischen Erläuterungen der Regisseurin zeigen theoretische Anschlussmöglichkeiten der Arbeit im Hinblick auf die Untersuchung von Migrationsfilmen auf. Der zweite untersuchte Film des Kapitels, Almanya’da Bir Türk Kızı, bringt das Moment der Blickbegegnung zwischen einem Emigranten und der home group als Krise hervor (▶ Kap. 8.3). Gerade weil es sich bei Almanya’da Bir Türk Kızı um einen Ableger des Migrationsgenres schlechthin, den Arabeskfilm37 , handelt, wird die Gelegenheit der Hervorkehrung der filmischen Konstruktion der Begegnung genutzt, um das Genre des Arabeskfilms vorzustellen und damit zur Schließung von Forschungsdesideraten zu den migrationskinematographischen Bemühungen aus der Türkei beizutragen. Die mit der Untersuchung des Dorffiilms Dönüş aufgeworfene Klammer wird, wird im letzten Teil des Kapitels wieder geschlossen: psychoanalytisch motivierte Überlegungen zur Andersmachungspraxis von Deutschländern und zum Konzept der Spaltung von Auge und Blick werden vorgenommen und auf die visuelle Konstruktion des Films rückbezogen, um darüber die Zentralität von Sehensvorgängen und Bildern in das Mi37 Mit Arabesk wird gemeinhin eine populäre Musikrichtung bezeichnet, die in den 1960er Jahren in der Türkei entstanden ist. Sie zeichnet sich durch die Vermischung ägyptischer (arabischer) Musik und türkischer Volksmusik aus. Im weiteren Verlauf seiner Kulturgeschichte hat sich die populäre Musikrichtung zu einer vielschichtigen Lebenskultur entwickelt, die sich bis heute vielfältig und auch im deutsch-türkischen Rap durchhält. Für mehr zu Arabesk siehe insbesondere Kapitel 8.3.
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lieu der filmischen Migrationsproduktion aufzeigen und reflektieren zu können (▶ Kap. 8.4). Das letzte große Untersuchungskapitel (▶ Kap. 9) stellt die beiden zentralen Filmprogrammatiken des türkischen Kinos der 1960er und 70er Jahre vor: das ulusal sinema und das millî sinema. Beides sind nationalistische Manifeste zweier Regisseure, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzten: Halit Refiğs ulusal sinema basiert auf der Überzeugung, dass es eine türkische Filmkultur geben kann/gibt, die sich grundsätzlich nicht am westlichen Kino orientieren dürfe, da die türkische Kultur über eigenständige historische Werte und kulturelle Ressourcen verfüge, die in zentralen Punkten völlig inkommensurabel mit der westlichen Kultur seien. Auch Yücel Çakmaklıs millî sinema Konzeption weist der türkischen Filmkultur denselben alteritär zum westlichen Kino konzipierten Stellenwert zu, ist aber mit einer grundsätzlichen Schwerpunktsetzung auf den Islam als Kern türkischer Gesellschaft vom ulusal sinema different. Beide Programmatiken sind als Reaktionen auf Filmpublizist_innen der 1960er und 70er entstanden, die forderten, dass sich das türkische Kino stärker am westlichen Kino zu orientieren habe. Je ein zentraler filmischer Ableger der Programmatiken steht im Untersuchungszentrum dieses Kapitels, die deswegen als besonders untersuchungswürdig erachtet sind, weil sie zugleich auf basaler Ebene Bezug zu Migration nehmen. Die Frage, ob diese Bezugnahme auf Migration durch propagandistische Filme zweier Filmmanifeste nur zufällig oder systematisch mit dem Verhältnis von Film und Migration zu tun hat, spielt in die Analysen und die Wahl zur Integration der Filme in die Untersuchung eine zentrale Rolle. Für das millî sinema wird der Film Memleketim untersucht, der die sich in Wien abspielende melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer verwestlichen Istanbulerin und einem angehenden anatolischen Arzt erzählt (▶ Kap. 9.1). Weil die Grundüberzeugungen im Hinblick auf den Stellenwert der Eigenkultur beider Figuren grundverschieden sind, die der Istanbulerin ist pro-westlich und die des Anatoliers ist protürkisch, trennen sich die beiden. Nachdem der junge Arzt in die Türkei zurückreist, um dort für seine Heimatbevölkerung nützlich zu sein, initiiert sich eine Sinnkrise auf Seiten der jungen Frau, die wie Osman in Çakmaklıs anderem paradigmatischen millî sinema-Film Oğlum Osman eine Returkisierung durchmacht. Die Analyse des Films stellt einerseits die durch Dichotomie zwischen Türkei und Westen geprägte strukturalistische Programmatik des Films durch filmästhetische Analysen heraus. Andererseits expliziert sie okzidentalisierende Diskurse, die sich durch den Film ziehen. Schließlich werden ideologiekritische Ansätze herangezogen, um die Involvierung von Migration in die propagandistische Produktion der filmischen Identitätspolitik der Filme aufzuzeigen: denn beide Filmprogrammatiken zielen darauf, eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse hin zur Etablierung der in den Filmen offensichtlich werdenden turkistischen Gesellschaftsentwürfe zu bewirken. Der zweite zu untersuchende Film ist der erste dezidierte ulusal sinema-Film: Die komplexe Liebesgeschichte in Bir Türke Gönül Verdim erzählt von der Anatolisierung einer deutschen Frau, die von ihrem in seiner Heimatstadt Kayseri aufgesuchten Arbeitsmigranten geschmäht wird (▶ Kap. 9.2). Ein im umliegenden Dorf lebender Anatolier nimmt sich der Frau und ihres Sohnes an, den diese mit dem Gastarbeiter in Deutschland gezeugt hatte. Im Fortgang ihrer Beziehung entwickelt sich eine Liebe, die
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die Frau zur Anatolisierung und in die Ehe mit dem Dörfler führt. Anhand einer kritischen Nachverfolgung der Aussagen des Regisseurs dazu, weshalb und wie der Film die ulusal sinema-Programmatik umsetze, wird die Unhaltbarkeit der medientheoretischen Implikationen des Regisseurs aufgrund der filmmedialen Spezifika von Polysemie und Ambiguität aufgezeigt. Die genaue Analyse der Involvierung der Variablen von Migration, Identität, Subjekt in der filmischen Konstruktion stellt die im Film entworfene Figuration der Migration heraus, und zeigt damit die Zentralität auf, in der Migration in identitätspolitische Zwecksetzungen eingebunden wird. Den Abschluss des Kapitels bilden gouvernementalitäts-theoretische Überlegungen zu den propagandistischen Programmatiken. Affekttheoretische Überlegungen, die das zentrale Konzept »medialer Gouvernementalität«38 als »Führen des Führens von ›Kommunikationsbeziehungen‹ (Foucault)«39 fortsetzen, werden in Kapitel 9.3 nur ausblicksmäßig angeführt, da es im Kapitel darum geht, vereinfachenden kommunikationswissenschaftlich gedachten Modellen oder medienwirkungstheoretischen Überlegungen im Anschluss an die Cultural Studies eine erweiternde Perspektive zur Seite zu stellen, die die zentralen Kategorien ›Subjekt‹ und ›Medien‹ medienkulturwissenschaftlich weiterdenkt. Das stellt ein theoretisches Denken der Filme dar, das filmanalytischen Modellen sowohl im deutsch- als auch türkischsprachigen Raum noch häufig fehlt. Dadurch wird es möglich, vereinfachende, kommunikationswissenschaftliche Vorstellungen der politischen Programme (propagandistischer Film bewegt sichtende Zuschauer_innen zum Identitätswandel) durch das medientheoretische Konzept der »medialen Gouvernementalität« zurückzuweisen. Dass ausgerechnet beide für die Filmprogrammatiken zentralen Filme nicht nur Migrationsfilme sind, sondern auf die bi-direktionale Figuration von Anwesenheit hinweisen, ermöglicht es, die in den vorher besonders im Dorf- und Arabeskfilm begangenen Figurationen von der Heimkehr/Remigration zu verlassen und die filmischen Konstruktionen der Anwesenheit der Emigrant_innen im Immigrationsland zu reflektieren (millî sinema).
Zurück zu den Kommunikationsvektoren Die beiden Vektoren der Kommunikationsabsicht der vorliegenden Arbeit lassen sich nun also wieder an die beiden Standbilder zurückführen: der Stimmlosigkeit des Emigranten aus dem Standbild kann nicht durch das Verleihen einer Stimme begegnet werden, wenn er gehört werden möchte. Es gehört zur zentralen Einsicht von Gayatri Chakravorty Spivaks postkolonialtheoretisch paradigmatischem Text »Can the Subaltern Speak?«40 , dass es nicht darum geht, ob die Subalternen, also die diskursunterminierten, prekären Subjekte sprechen können. Es geht auch nicht darum, ob sie überhaupt eine Stimme haben. Vielmehr geht es darum, ob die Nicht-Subalternen in der Lage sind, die Subalternen zu hören. Teil I möchte veranlassen, dass wir überhaupt in die 38 Skrandies (2014). 39 Skrandies (2014, S. 297). 40 Spivak et al. (2007).
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Lage kommen, die türkischen Filme zu ›hören‹. Dafür muss die Aufmerksamkeit auch zu den Filmen aus türkischen Produktionszusammenhängen gelenkt werden. Teil II selbst schlägt einen Übersetzungsvorgang für einen dezidierten Teil der im westlichen Diskurs subaltern gebliebenen türkischen Filmkultur vor. Nachdem in Teil I die Aufmerksamkeit also auf den türkischen Emigrationsfilm gelenkt ist, bereitet Teil II mit seinen Analysen der Produktion von Migration in den filmischen Regimen der HighYeşilçam-Filmkultur der 1970er Jahre eine Übersetzung auf: die Fähigkeit, nicht nur aufmerksam für die Filme zu sein (phatische Funktion), sondern bei aller erzählerischen Stupidität ihrer teils abstrus gestrickten Storys und Erzählweisen auch die Komplexität ihrer populärkulturellen Formen zu verstehen, die maßgeblich durch die »visuelle Konstruktion des Sozialen«41 verbürgt ist. Es stellt sich hier die Frage, warum die Arbeit in ihrem ersten Hauptteil zuerst eine transkulturelle Verschränkung einfordert, wenn sie im zweiten Hauptteil wieder genau jene Separierung fortschreibt, die sie zuvor kritisiert hat. Kapitel 4 zeigt auf, dass das Argument eines Zusammendenkens von Filmen aus der Türkei und Deutschland nicht darauf zielt, die Kategorie des Nationalen als Untersuchungsmuster im Sinne einer nationalistischen Programmatik zu verwerfen. Ganz im Gegenteil: Gerade weil die Kategorie des Nationalen aufgrund progressiver Argumentationslogiken und immer noch unzureichend reflektierter filmwissenschaftlicher Modelle, verworfen wird, kommt es dazu, dass die Filmkulturen von Entsenderländern zu Migrationsphänomenen als blinde Flecke im Kontext von Untersuchungen von Migrationskinematographien bleiben. Die Argumente zum inklusiven Zusammendenken deutscher und türkischer Filme argumentieren für einen sensiblen Umgang mit der Kategorie des Nationalen im Hinblick auf die Forschungsobjektgenerierung. Um künftigen Arbeiten ein solches sensibles Vorgehen überhaupt zu ermöglichen und das Argument entsprechend nachvollziehbar zu gestalten, erarbeiten die beiden historisch rückvergewissernden Kapitel aktualisierende Nachvollzüge der Filmwerkkulturen zur ›türkisch-deutschen Migration‹ aus beiden nationalen Produktionszusammenhängen. Auch wenn die vorliegende Arbeit ein so separierend angelegtes Verständnis nach Migrationsfilmen voraussetzt, um die Filme auf der Ebene der Generierung des Forschungsobjekts überhaupt erst zu bestimmen, bringt sie in ihrem zweiten Teil wieder Distanznahmen zu einer solchen Bestimmung ein und untersucht, wie sich Migration in den Filmen überhaupt »ontologisch stabilisiert«42 .
41 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 335f.). 42 Zum Begriff der »ontologischen Stabilisierung« siehe Skrandies (2016, S. 12f., 35, indirekt auch 49).
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1. Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
Forscht man zum Film, so steht man stets in unterschiedlichen Wahrnehmungszusammenhängen, die dann Fragen nach dem Status dieser Zusammenhänge aufwerfen. Dass dieser Status weit in die Bestimmungen danach hineinreicht, wie sich die Forschung konkret gestaltet (Forschungsdesign), ist in der jungen Disziplin der Filmwissenschaft – wie sogleich zu zeigen sein wird – in gewissen wissenschaftstheoretischen Hinsichten noch nicht umfassend reflektiert worden, zum Beispiel durch einen bislang erst im Entstehen begriffenen Bezug1 auf die wissenschaftsreflexiven Science and Technology Studies. Die vorliegende Arbeit, die im besten Sinne medien-, bild-, kultur- und migrationswissenschaftliche Fragestellungen miteinander in Bezug bringt, operiert von einem medienreflexiven Standpunkt aus, in dem Filme als denkende Agenturen2 angenommen werden. In der Beschäftigung mit diesen denkenden Agenturen ist ein flexibler Umgang mit dem filmischen Material nötig, der dann erlaubt, die Wechselbeziehung zwischen medialen Leistungen und prä-diskursiven Annahmen nicht nur auf die bekannte Relation von Repräsentation3 zurückzuführen. Für die Arbeit hier bedeutet das, das Denken der Filme mit einer Prämisse der Visuellen Kultur in Verbindung zu bringen: derjenigen danach, dass Soziales durch Visuelles konstituiert wird4 (▶ Kap. 5). So wird es möglich, die Zusammenhänge zwischen Migration und Film von einem Standpunkt aus zu denken, der den Filmen nicht nur eine Rolle der Repräsentation zuweist, sondern Ansätze sowie filmtheoretische Überlegungen einbezieht, die den ästhetischen Eigensinn der Filme in den Vordergrund rücken. Die Zusammenhänge zwischen Migration und Film werden in diesem Vorgehen an einem kulturhistorisch reich gesättigten Kontext einer Filmkultur stattfinden, die weder im deutsch- noch englisch- noch 1 Vgl. Spöhrer (2016), Wendler (2013). 2 Vgl. Engell (2010). 3 Kritische Überlegungen zu Repräsentation als wirkmächtigem Konzept in den Kulturwissenschaften zum Beispiel im Anschluss an den affective turn siehe Adorf und Christadler (2014). 4 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325).
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türkischsprachigen Raum angemessen untersucht wurde. Das ist die High-YeşilçamFilmkultur der 1970er Jahre. Das methodische Vorgehen der Arbeit involviert insbesondere im Analyseteil (Teil II) Überlegungen zur Rolle von Visualität, die hier in puncto Forschungskontext expliziert werden sollen. In dieser Verortung wird deutlich werden, welcher Umgang mit dem filmischen Material gepflegt wurde und unter welchen medientheoretischen Prämissen dies geschah. Um also das Forschungsdesign der hier vorliegenden Arbeit zu spezifizieren, sind einige zumeist implizite und bis dato auch in anderen Kontexten der Filmwissenschaft noch nicht ausreichend explizierte Annahmen aufzuzeigen. Hier wird genau die eingangs bemerkte Überlegung nach dem Stellenwert des Aisthetischen im Film die Ausführungen zum Forschen am Film motivieren. Dabei gilt das Augenmerk solchen filmwissenschaftlichen Arbeiten, die sich dem Film als Objekt (Subjekt) der Forschungstätigkeit widmen. Um einige Abkürzungen zu nehmen und die Navigation durch vorentwickelte Systematisierungen möglichst nachvollziehbar zu halten, werden dahingehend zwei Texte von Dieter Mersch die erste Ausgangsbasis der weiteren Erörterungen bilden. Darin sucht Mersch den Stellenwert einer »Epistemologie des Ästhetischen«5 und so zugleich die Ver- und Ent-wicklungen zwischen Kunst und Wissenschaft herauszustellen. In dieser operativen Dichotomie zwischen zwei Feldern, die Mersch heranzieht, um seine Überlegungen zu führen, lassen sich die Filmkunst und das Forschen an ihr verorten. Es wird sich zeigen, dass die Kulturwissenschaft, unter denen ich die Filmwissenschaft verorte, darin einen hybriden Status einnimmt. Eine Bewusstmachung dieses hybriden Status ermöglicht es, methodisch mit dem Filmischen so umzugehen, dass dieses nicht nur auf einen einseitigen forschenden Zugang (zum Beispiel nur kognitionswissenschaftlich; nur formalistisch; nur psychoanalytisch) reduziert wird. Die Öffnung auf einen multitheoretischen Zugang hin, die dieses Vorgehen impliziert, fußt auf einer grundlegenden Prämisse, nach welcher der Status des Visuellen sämtliche Untersuchungsbereiche im Forschen am Film durchzieht.
1.1. 1.1.1.
Wissenschaftstheoretische Explikationen zum Forschen am Film Sichtbarmachungen in der Filmwissenschaft: Zwischen Meta- und Pataphysik
Die Differenzen in dem, wie ästhetische im Verhältnis zu wissenschaftlicher Forschung verfährt, hat Dieter Mersch anhand der Frage erörtert, »[w]as [es] heißt, im Ästhetischen [zu] forschen«6 . Ein solches Forschen habe als zentrale Ordnung die Inversion einiger grundlegender wissenschaftlicher Prinzipien inne. Konkret bedeutet das für ein solches Forschen, dass es gerade nicht um eine derartige Erkenntnisproduktion von 5 Mersch (2015a). 6 Im Folgenden beziehe ich mich auf zwei unterschiedliche Varianten des Textes Mersch (2015a), Mersch (2015b), die einander nahe sind und grundsätzlich gleich argumentieren. Der letztgenannte, kürzere Text betont noch schärfer die Differenzen der Forschungsweisen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung.
1 Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
möglichst lang anhaltenden Wahrheiten gehe, die im Experiment gefunden, in der Wiederholung reproduziert und so verifiziert würden. Vielmehr geht es im künstlerischen Forschen um die Herausstellung von Singularitäten, die dadurch, salopp gesprochen, Normierungen transzendieren und nichtsprachliche oder propositionale Formen des Denkens, Wahrnehmens und Empfindens geradezu erzwingen. Mersch nennt es das ›Andere-des-begrifflichen-Denkens‹. Zur Illustration und weiteren Erläuterung bezieht sich Mersch auf ein Experiment Marcel Duchamps, das er so wiedergibt: Dazu ließ Duchamp im dreifachen Wurf drei, am Pariser Urmeter geeichte Bindfäden aus einer Höhe von genau einem Meter auf eine horizontale Fläche fallen. Jedesmal ergaben sich durch den freien Fall, den Luftwiderstand und andere Randbedingungen andere Figuren, die er sorgfältig wie ein Präparator auf eine Leinwand fixierte, um an ihnen noch unbekannte ›Maß-Stäbe‹ zu entwickeln, deren gekrümmte Kanten jedem ernst zu nehmenden Messungsversuch Hohn sprachen. […] Ersichtlich handelt es sich um eine ganz andere Art von Experiment als das wissenschaftliche, aber um ein nicht minder exaktes und beweiskräftiges. Es kehrt die klassische epistemologische Ordnung geradezu um. Die künstlerische Praxis partizipiert damit an Wissenschaftskritik, die sich dezidiert ästhetischer Verfahren bedient, um ihr Argument zu führen, nicht nur, um deren Methodologie auf den Prüfstand zu stellen, sondern auch, um sie mit ihrem Anderen, ihrer Kontingenz und Grundlosigkeit zu konfrontieren – eine Subversion, die allerdings kaum einen Wissenschaftler je interessierte, geschweige denn überzeugt hätte. […] Es handelt sich um eine Er-Forschung des Singulären, die mit lauter singularia argumentiert, um eine Aussage aus der Abweichung zu treffen. Die Abweichung ist aber die Regel im Sinnlichen.7 Das Verhältnis von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung sei dabei keineswegs dialektisch, sondern »verflochten«8 . Die Wissensformen zwischen »ars« und »scientia« seien »intersektional«9 , wobei ein Kern der wissenschaftlichen Forschung sich seiner künstlerischen Formen kaum bewusst sei – denn ihr Unterschied verweist zunächst darauf, dass es zwar keine Kunst gibt, die nicht zugleich aisthetisch verfährt, dass es aber umgekehrt ästhetische Praktiken gibt, die forschend vorgehen, aber keineswegs für sich den Status erheben können, Kunst zu sein.10 Mersch selbst bezeichnet das künstlerische Erkenntnisprogramm unter Rückbezug auf den Roman »Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll« (1911) des französischen Schriftstellers Alfred Jarry als »Pataphysik«. Es besteht also in einer Konzeption der Wissensaneignung, die nicht das Universelle der Wissenschaft als Maßstab ersieht (Metaphysik), sondern »[die pataphysische Einsicht] zielt auf die Gewahrung der Einzigkeit des Einzelnen. Die ästhetischen epistēmē nehmen daran ihren Maßstab«11 . In solcher Inversion wissenschaftlicher Forschung bestünde das Forschen als »Arbeit im Aistheti7 Mersch (2015b, S. 4). 8 Mersch (2015a, S. 24). 9 Mersch (2015a, S. 35). 10 Mersch (2015a, S. 25). 11 Mersch (2015a, S. 6).
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schen«12 nicht nur in der »Wissenschaft von der Ausnahme«13 , sondern der Erzeugung einer Selbstreflexivität der Wahrnehmung, die dadurch »in die Bereiche der Wahrnehmung und des Wahrnehmbaren andere Schneisen, Unterteilungen oder Gliederungen einzieht und dadurch das bislang Unsichtbare, das Unerhörte oder kaum Wahrgenommene, eben die inframinces Duchamps, allererst aufdeckt und erschließbar macht«14 . Das Wissen der Kunst sei damit »sich zer-zeigend«15 . Duchamps Experiment sei nämlich ein Experiment über das Experiment, ein »Meta-Experiment«16 , das sich gerade im Entzug von Verstetigungen zugunsten von Sichtbarmachungen als solches konstituiere. Wenn Kunst die Möglichkeit solcher selbst-reflexiven, singulären Wahrnehmungsereignisse erlaubt, dann regulieren sich damit Sichtbarkeitsordnungen so, dass sich Unsichtbares oder Noch-Nicht-Sichtbares sichtbar macht.17 Kunst ist für Mersch nicht einfach in den vielfältigen Verhältnissen der artistic research zu verorten, sondern als das Andere der Wissenschaften zu betrachten, das andere Formen des Denkens mit sich bringt, die sich nicht im Begrifflichen erschöpfen: Eine Epistemologie des Ästhetischen, die in Praktiken wurzelt, bedarf der genauen Beschreibung jener Performative, die im Aisthetischen, d.h. im Wahrnehmbaren solche Wirkungen induzieren, die die Kraft einer Reflexion freisetzen. Ästhetisches Wissen ist solches Reflexionswissen, die epistēmē der Künste eine Erkenntnis, die diesen Wissenspraktiken entspringt. […] Der Befund schlägt insofern auf das Verständnis ›künstlerischer Forschung‹ zurück, als deren ›Natur‹ von so anderer Art als die wissenschaftliche ist, dass es schwer fällt, beide unter denselben Begriff zu subsumieren.18 Dass sich in diesen sichtbarmachenden Momenten der Reflexion zugleich ein Kern des Politischen ausmacht, entwickelt sich derzeit beispielsweise in den Visual Culture Studies19 , als auch in den Film- und Medienwissenschaften20 mit Bezug auf Jacques Rancières Text zur »Aufteilung des Sinnlichen«21 zu einem diskursiven Allgemeinort. Ilka Brombach et al. fassen das in ihren Überlegungen zum Begriff der »Ästhetisierung« folgendermaßen zusammen: Teile der Philosophie, Religions- und Geschichtswissenschaft, der Literatur- und Kunstwissenschaft behaupten, dass das Ästhetische für politische, epistemische und religiöse Praktiken konstitutiv sei. Statt im Ästhetischen einen externen Störund Krisenfaktor zu sehen, handelt es sich nun darum, entweder den wesentlichen Beitrag des Ästhetischen für das Gelingen oder Funktionieren dieser Praktiken zu akzentuieren, oder das Ästhetische als Schlüsselbegriff zu betrachten, um die 12 13 14 15 16 17
Mersch (2015a, S. 2). Mersch (2015a, S. 4). Mersch (2015a, S. 16). Mersch (2015b, S. 49). Mersch (2015a, S. 7). Dabei ist stets daran zu erinnern, dass dies nur auf Kosten des Rückzugs von anderem Sichtbaren gehen kann, vgl. Schaffer (2008). 18 Mersch (2015b, S. 59). 19 Vgl. Mirzoeff (2009, S. 19). 20 Vgl. Kappelhoff (2008a). 21 Rancière (2008). Dazu Mersch (2015b, S. 15f.) und Mersch (2015a, S. 68).
1 Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
Begriffe des Wissens, des Politischen und Religiösen einer grundlegenden Revision zu unterziehen. In dieser letzteren Strategie erscheint folglich gerade das Fehlen oder die Schwächung jener ästhetischen Dimension als Zeichen einer Krise, die das Wissen, die Politik und die Religion ihres immanenten Potenzials beraubt. Die prominente Stellung von Jacques Rancières Konzeptionen einer ›Ästhetik der Politik‹ oder einer ›Ästhetik der Erkenntnis‹ innerhalb der gegenwärtigen Diskussion ist paradigmatisch für diese Auffassung.22 Was Mersch in seinen Ausführungen beschreibt, lässt sich für eine filmwissenschaftliche Forschung, die besonders am Film als ästhetischem Artefakt23 interessiert ist, in der Variabilität des Untersuchungssettings feststellen, in dem künstlerische und wissenschaftliche Prozesse, bei all ihrer grundsätzlichen Differenz, sich eher noch über den Begriff der ›Modi‹ differenzieren lassen. So sind jedem Forschen künstlerische und wissenschaftliche Modi inhärent, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen und auch nicht der Reflexion ihrer unentwegten Bedingtheit bedürfen, so sich Forschungen bislang ja auch vielerorts ohne diese Reflexionen vollziehen. Auch Mersch beschreibt eine der populären Positionen zur artistic research als solche, die davon ausgeht, dass »die Wissenschaften selber […] eine Art von Kunst [bilden], die sich ihrer immanenten Ästhetizität nicht bewusst ist«24 . Was bedeuten diese Zusammenhänge für solche Forschungen, die sich für das Filmische interessieren? Im filmwissenschaftlichen Forschen gibt sich jedoch eine besondere Verkomplizierung der Untersuchungsverhältnisse, weil das, was mithin als Forschungsobjekt in den Fokus der Untersuchungspraktiken gerät, selbst noch in medialen Figurationen besteht, die das Verhältnis von Aisthetischem und Wissenschaftlichem verkomplizieren. In dem von Mersch aufgeworfenen Binarismus zwischen Kunst und Wissenschaft sind die solchen Filmwissenschaften, die am Film an sich interessiert sind, damit noch genauer zu lokalisieren. Es wird in den kommenden Ausführungen daher jene reflektierte Vorstellung von wissenschaftlicher Forschung so zu spezifizieren sein, dass Folgendes deutlich wird: Die Apparate, Aufschreibesysteme oder die Stile einer habitualisierten Laborpraxis und deren Theatralisierung arbeiten entschieden mit an den Resultaten der Wis22 Brombach et al. (2010, S. 7f.). Generell zu dieser Einsicht im Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Medialen siehe Marchart (2005). 23 Artefakt bezeichnet nur eine Existenzweise des Films. Film ist nie als abgeschlossenes Werk zu betrachten, sondern allenfalls als »semi-permeabel«, womit zum Beispiel der unabschließbare Prozesscharakter zwischen Filmentstehung bis zur Distribution und auch darüber hinaus bezeichnet ist, vgl. Spöhrer (2016, S. 161-186). Neophänomenologisch inspirierte Ansätze gehen davon aus, dass es ohne Zuschauer_innen keinen Film gibt, vgl. Lehmann (2011, S. 149). Demgegenüber geht die Deleuze’sche Filmtheorie von der Untrennbarkeit zwischen Geistes- und Filmprozessen aus, weshalb beides unentscheidbar, beides Bild beziehungsweise Typen von Bildern sind, vgl. Elsaesser und Hagener (2011). Um diese Überlegung an die Spitze zu treiben, könnte man mit Deleuze Film als eine Immanenz von Perzeptionen und Affektionen verstehen, was er an anderer Stelle und für die Kunst als »Empfindungsblock« beschreibt, »das heißt eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten« Deleuze und Guattari (2003, S. 191). Weiterführend zu einer Deleuze’schen Artefakttheorie siehe Delitz (2010, S. 86f.). 24 Mersch (2015a, S. 27).
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senschaften – ein Umstand, der die Wissenschaften gleichzeitig auf ihr Anderes, die Unabdingbarkeit des Ästhetischen wie ebenfalls auf Techniken, auf die Praktiken der Invention, der Narrativierung oder auf das ›Weiße‹ des Rauschens und die Unkontrollierbarkeit der Dinge und ihre Widerborstigkeit verweist. Verdeutlicht wird dadurch, dass sich die Diskursivität des Wissens und der akademischen Forschung einer Umgebung manifester Intransparenz verdankt, die im selben Maße ihre manifeste Blindheit gegenüber ihren medialen und ästhetischen Bedingungen aufdeckt.25 Es wird also durchzugehen sein, inwieweit im basalen Untersuchungssetting infinitesimale Differenzierungen und unmögliche Normierungen jeder Untersuchung Ereignishaftes im Forschen am Film konstituieren: ein Ereignishaftes, eine Er-fahrung im Sinne der Widerfahrnis, das im Forschen selbst Momente einer anderen Sichtbarkeit erzeugt, die die Kunst als ihr ursächliche epistemische Leistung auszeichnet. Wie steht die Singularität jedes Untersuchungsereignisses zu den »singularia«, die die künstlerische Forschung auszeichnet? An einer Beschreibung und Reflexion des konkreten Forschens am Film möchte ich nachzeichnen, inwieweit ein medienkulturwissenschaftliches Forschen am Filmischen, dem sich die folgende Arbeit grundlegend verschrieben hat, nicht nur jenen Weisen des Forschens verpflichtet ist, die sich als Forschen im Ästhetischen, als »pataphysischem« Forschen, als Erfahrungen des Singulären, des Wahrnehmbarmachens der Wahrnehmung und dadurch der »Aufteilung des Sinnlichen«26 geben. Daran deutlich wird bestenfalls dann auch, dass medienkulturwissenschaftliches Forschen am Film nicht nur metaphysischem Forschen gewidmet ist, das auf der Suche nach möglichst lang anhaltenden Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten besteht, zum Beispiel in der Bestimmung der Relationalität von Film und Zuschauer_innen, wie sie zahlreiche Filmtheorien anbieten. Auszugehen ist davon, dass Forschen am Filmischen schon jeher als undurchdringliche Mixtur zwischen pata- und metaphysischen Weisen der Erkenntnisproduktion besteht – und das auf eine Weise, die aufgrund »d[er] Gleichzeitigkeit einer Präzision im Arbeiten wie die Unmöglichkeit einer Aufzählung oder Klassifizierung ihrer Verfahrensweisen«27 und damit der Unerschöpflichkeit ihrer Differenzierund Beschreibbarkeit sich stets der Undurchdringlichkeit ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Erkenntnismodi beugen muss.
1.1.2.
Variabilitäten im Untersuchungssetting: Aisthetisches im Forschen am Film
Was sind nun die Variabilitäten des basalen Untersuchungssettings? Wie lässt sich diese Irreduzibilität von forscherischer Hybridität, die Mersch entlang von fünf disziplindis25 Mersch (2015b, S. 33f.). 26 Rancière (2008). 27 Mersch (2015a, S. 59). Mersch betrachtet diesen Doppelcharakter als dezidiertes Spezifikum künstlerischer Forschung. Weil aber selbst systematische Wissenschaften sich (unbewussten) künstlerischen Prozessen nicht entziehen können, eignet dieser Charakterisierung Merschs auch die Möglichkeit an, Forschungen im Generellen zu charakterisieren, die sich den Implikationen ihrer eigenen Verfahrensweisen nicht bewusst sind. Bei Mersch ist das die Position 2, also diejenige, die für artistic research als sinnvolles Konzept plädieren (2015b, S. 30-34).
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tinkten Forschungsbegriffen zur Differenzierung segmentiert28 und damit wieder zu essentialisieren droht, am konkreten Beispiel divergenter, (noch junger) filmwissenschaftlicher Forschung nachvollziehen? Eine mögliche Antwort darauf ist: Die Variabilität beim Forschen am Film gibt sich durch den Raum der Forschung29 und auch das, was mithin Werkzeuge und Apparate genannt wird. Diese Variabilität muss im Kontext der Kulturwissenschaften per se jede Differenzierung zwischen Forschen im Ästhetischen und wissenschaftlichem Forschen unterlaufen, so das Untersuchungssystem der Kulturwissenschaften (und damit auch Filmwissenschaften) von zu vielen (In-)Determinanten besetzt ist, um es der einen oder anderen Forschungsmodalität allein zuschreiben zu können. Das Labor der Kulturwissenschaften gibt sich im flexiblen medientechnischen Ensemble30 und damit in dem, was man heute profan ›modernes Büro‹ nennen könnte – ein Raum, der »Speicher- und Operationsmacht«31 ist: Ich trete ein in mein Arbeitszimmer. Es ist ein ca. 15 m² großer Raum mit einem Schreibtisch daran und Büchern, die sich am Regal daneben ordnen. Es gibt ein rechteckiges Fenster mit Blick auf eine vorausliegende Wiese und die Lichtmöglichkeit ist dadurch tagsüber je nach Jahreszeit und Wetterlage als besonders hell zu bezeichnen. Ich schließe die Festplatte, die die zahlreichen Filme zur so genannten türkisch-deutschen Emigration gespeichert hat, an den Computer an. Was diese Filme genau sind, bleibt für mich nach wie vor fraglich beziehungsweise ist mein Ziel, herauszufinden, wie sich von diesen Filmen sprechen lässt. Ich stelle sie mir noch als Dinge vor, kleine Pakete, die etwas beinhalten und die man auspacken kann, sodass dann Lichtspiele auf einem Schirm erscheinen.32 Sie sind meine »epistemischen Dinge«33 und mein Arbeitsraum mein Labor.34 Mein Computerbildschirm hat eine Größe von 21 Zoll und damit rechnerisch eine Bildschirmdiagonale von ungefähr 53,34 cm. Ich sitze in einigem Abstand zu ihm, ca. 45 cm. Der Monitor ist nicht genormt farbkalibriert, sein Farbspektrum und die Strahlkraft der Farben ist relativ. Dabei ist diese Farbkalibirierung immer relativ, da selbst im Falle eines genormten Bildschirms jedes optische System eines Menschen je individuell konfiguriert ist. Zum Beispiel variiert die Rezeptorenanzahl von Stäbchen und Zapfen im Auge, die ja gerade die Modulation von Hell-Dunkel- und Farbverhältnissen 28 Mersch (2015a, S. 65): Konkret unterscheidet er philosophische, soziologische, naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche und künstlerische Forschungsformen. 29 Engell (2010, S. 137ff.). 30 Vgl. Simondon (2012). 31 Meynen (2010, S. 107). 32 Zu einer Zusammenfassung des theoretischen Status des filmischen Bildes im Verhältnis zwischen Körper und ›Geist‹ siehe Elsaesser und Hagener (2011, S. 189-215). 33 Rheinberger (1992). 34 Mersch will das Labor im Falle von Forschungen im Aisthetischen eher als Atelier verstanden wissen (2015a, S. 21), weil es dem alchemistischen Experimentieren näher ist als dem systematischen Experimentieren im Labor. Ich würde das alchemistische noch um den Modus des Spielerischen ergänzen. Tatsächlich ist eher davon auszugehen, dass sowohl Labor als auch Atelier im Hinblick auf die Variabilität der Prozesse, die sich aus den medientechnischen Ensembles in den jeweiligen Untersuchungssettings ergeben, nicht mehr sind als Setzungen, die einen etwaigen Schwerpunkt der Selbstcharakterisierung der Forschungen wiedergeben.
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im Vorgang der visuellen Wahrnehmung regulieren. Man denke hier nur an die Vielfältigkeit, in der bestimmte Varianten der Farbblindheit (Rot-Grün-Sehschwäche) auftauchen. Das heißt, dass die Farbkalibrierung beziehungsweise das Farbsehen nur bis zu einem gewissen Grad an ein Normspektrum heranreicht, weil sowohl die menschlichen als auch die nicht-menschlichen Ressourcen dahingehend zu variabel und kaum modulierbar funktionieren. Hinzukommt, dass jeder Monitor entsprechend seiner technischen Bedingungen nur zur Darstellung bestimmter Helligkeits- und Kontrastverhältnisse fähig ist, die sich nicht normierend einstellen lassen. Zum Beispiel variiert die Paneltechnologie des Monitors die Verhandelbarkeit zahlreicher dieser Faktoren, von denen eine auch die Reaktionszeit einzelner Pixel ist. So kann eine hohe Reaktionszeit, die auf die ›Trägheit‹ eines Pixels hinweist, den Sichteindruck von Schlieren erzeugen, wenn die Darstellungen auf dem Monitor schnelle Pixelveränderungen involvieren (ca. ab 10 Millisekunden Reaktionszeit eines Pixels). Die Auflösung des Bildschirms beträgt 1920 zu 1080 Bildpunkten, steht also auch in einem bestimmten Darstellungsverhältnis zur Auflösung der wiederzugebenden Medien, hier der Filme. Meine Brille fungiert als weiteres technisches Medium, das die Variabilität des Seheindrucks im Hinblick auf Farbspektrum, Sehschärfe (Kontrast- und Helligkeitsverhältnisse), Brechungsverhältnisse und Verzerrungen erhöht. Den Sound der Filme höre ich durch Studio-Kopfhörer, deren tonale Abgestimmtheit genau jene Relativität im Verhältnis zu meinem menschlich-akustischen-System annimmt, wie sie sich auch in der Abgestimmtheit optischer Erfassung und Wiedergabe eingestellt hat: Höhen, Tiefen und Bässe variieren mit jener individuellen Abgestimmtheit und an das Hirn angedockten Plastizität, die das akustische Systems eines jeden Menschen auszeichnet. Dabei verfügt das Gehirn selbst und das gesamte neuronale System über eine Plastizität, also ein stabilisierendes, flexibles, reziprok-resonantes Veränderungspotential (Neuroplastizität).35 Welche Lautstärke stelle ich dann für die Wiedergabe des Films ein? Verschränken sich die sinnlichen Interfaces, zwischen nicht-menschlich vertechnisierten und menschlichen Systemen nicht in jenem Moment? Verduplizieren sich damit die Akteur_innen und Aktanten nicht so, dass ein mannigfach verkompliziertes Wahrnehmungsereignis stattfindet? Und ist dieses deswegen so komplex und different emergierende Wahrnehmungsereignis dadurch schon hinreichend singulär, Widerfahrnis produzierend? Gerade mit Blick auf die Komplexität des Filmischen selbst, das hier noch ausgespart und allein auf die technischen Bedingungen seines Erscheinens hin befragt wurde, gibt sich eine Relativität des Ereignisses der Sichtung.36 Wodurch gibt sich eine Normierung des Aisthetischen im Untersuchungssetting, die ja nötig ist, um in der vorgestellten Diskursgemeinschaft eine shared perception voraussetzen zu können, die damit gerade als nicht-pataphysische, weil nicht-singuläre, sondern reguläre Erkenntnisform fungiert? Bevor auf diese zentrale Frage zurückzukommen ist, soll die Variabilität im methodischen Setting in zweierlei Hinsicht aufgezeigt werden: Die Bildfläche des Monitors erlaubt mir, nur eine bestimmte Anzahl von Bildern in bestimmter Größe nebeneinanderzulegen. Drucke ich sie zur Ausbreitung auf dem 35 Vgl. Ansermet und Magistretti (2005). 36 Pantenburg (2010, S. 37ff.).
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Tisch aus, so vollzieht sich ein wirkmächtiger Materialitätswechsel von der glatten Monitorfläche zum je individuell belichteten, bedruckten Papier. Zugleich hat das Farbschema des Druckers im Verhältnis zur Erscheinungsweise auf dem Monitor eine völlig andere Farblichkeit und Auflösungsdichte produziert, die die Entscheidung nach der Quellenorientierung (Papier oder Bildschirm) schwierig macht – es sei denn, ich beherrsche die komplexe Struktur der Farbschemata, die die Farblichkeit im Druck und in der filmimmanenten Ebene möglichst gleichwertig zu erhalten im Stande ist (aber auch dann noch reichen Material des Papiers, der Drucktypus [Laser- oder Tintenstrahldrucker] und andere Faktoren hinein). Der Film, den ich zu untersuchen gedenke, besteht in digitaler, gespeicherter Form. Der Transformationsprozess, den der Film als digitalisierte VHS-Kassette genossen hat, ermöglicht es nicht, die Historie dieser Transformationen nachzuvollziehen. Wie viele digitale Konvertierungen hat der Film erfahren und mit welchen Kompressionsraten im Übergang welcher digitalen Formate und ihren komplexen, je spezifischen Änderungsparametern? Haben eventuell Modulierungen an dem Film stattgefunden, wie die Bearbeitung visueller oder akustischer Daten? Die Quellenverfolgung (Erwerb über ein digitales Onlineportal) ermöglicht keine Rückschlüsse. Wie viele Übertragungsvorgänge über welche medialen Transformationen hat die szenische Präsentation erfahren, die die Regisseur_in für die Entstehung des Films nun umgesetzt hat: zuerst noch durch die Kamera aufgenommen mit den je spezifischen ästhetischen Transformationsprozessen, die im Aufnahmeprozess live vor der Kamera sich ereignen; dann im Filmlabor bearbeitet, zurechtgeschnitten und in den komplexen Postproduktionsabläufen der Filmentwicklung samt ihrer komplexen chemischen Vorgänge je spezifisch auch ästhetisch-materiell verändert (Reduktion von Gamma-Werten, Ausbleichungen und Sättigungseffekte, Entstehung von Kratzern und Schmutzpartikeln, Dichteeinheiten, Körnigkeit, Klebestellen im Schnitt und viele mehr)37 . Was hat sich an den zahlreichen Kopieherstellungen an Ästhetischem daran transformiert? Was bedeuten diese Unbestimmtheiten für den Forschungsprozess? Es gibt sich also eine Variabilität, die sich aus den Ästhetisierungs- und damit auch Experimentalisierungsmöglichkeiten am Material herstellt. Das digitale Abspielprogramm erlaubt mir die Beweglichkeit der Filmbilder zu kontrollieren, ich kann sie verlangsamen, zoomen, also vergrößern und verkleinern, dies aber nur insoweit, wie die Maus und Tastatur sowie der Monitor mit seiner begrenzten Bildfläche38 sowie die softwareseitigen Bedingungen jene Operationen in einer bestimmten Zeitlichkeit und Abfolge ermöglichen. Würde ich den Film auf einem Tablet mit händischen Gesten bearbeiten, sähen die Operationen am Film anders aus. In beidem kann ich auf das Gesicht einer Person skalieren, die sich auf dem Bildschirm zeigt, oder ich zoome in das Gesicht hinein, nehme also Veränderungen am Material selbst vor, durchschreite die innere Ordnung der intakten Wahrnehmungsstruktur, die der Film vorgibt, die selbst wieder in den vielfältigen Prozessen des Einwirkens, die vorhin beschrieben wurden, jene verstetigte Experimentalanordnung flexibilisiert. Ich kann künstliche Verzerrungen hinzufügen, so zum Beispiel eine Asynchronität zwischen Audio- und Tonspur 37 Siehe Case (2004). 38 Zur Rolle »technisch-apparativer Praxen« im Labor siehe Bauer et al. (2017a, S. 19).
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erzeugen. Ich kann zwei Filme gleichzeitig nebeneinander herlaufen lassen, und die Bildgröße durch Vergrößern/Verkleinern der Fensterrahmen je spezifisch zueinander variieren. Ich kann den Film anhalten, snapshots anfertigen und sie in ein mannigfaches Verhältnis zueinander bringen, zum Beispiel durch Anlegen einer Collage. Doch die filmwissenschaftliche Herangehensweise im Sinne dessen, was mit close reading bezeichnet ist, versucht die vom Film vorgegebene Wahrnehmungsstruktur, also dessen Normalität intakt zu lassen, die jedoch durch die genannten Variabilitäten nie als solche bestehen kann. Besonders eine rezeptionshistorisch interessierte Filmwissenschaft kann die Rezeptionsbedingungen daher kaum reproduzieren, in denen der Film ursächlich und je unterschiedlich erschienen ist.39 In der Segmentierung in Einzelbilder, die die vorliegende Arbeit methodisch vielfältig im Sinne von der Herstellung von Standbildern genutzt hat (Teil II), erzeugt sich zugleich eine Transformation der immanenten Wahrnehmungsstruktur des Films, die sich nicht als solche der festgestellten Filmbilder gibt. Warum erlaubt die filmanalytische Herangehensweise eine solche im Verhältnis zu anderen nicht? Ist die Singularität, die sich in den hier beschriebenen mikro-prozessual differenten Wahrnehmungsereignissen gibt, jene Forschungsweise, die Mersch als »Forschen im Ästhetischen« bezeichnet? Ist die einzige Differenz zwischen Forschen im Ästhetischen und kulturwissenschaftlichem Forschen nicht diejenige, die sich durch den Entzug der Frage nach dem Was der Forschung gibt? Ist also Kunst oder künstlerische Forschung nicht lediglich durch den Entzug nach dem gesamten Setting einer Rahmung der Forschung gegeben? Ist künstlerische Forschung nicht diejenige, die lediglich ihren Rahmen und ihre Rahmungen aufgibt (siehe oben)? Die Variabilität im ästhetischen Forschen, die Flexibilität, die sich aus ihr ergibt, steht zu analytischen Feststellungen, die auf reguläre Weisen der Erkenntnisproduktion zuarbeiten wollen, keineswegs in einem Verhältnis von Gegensätzlichkeit. Vielmehr verweist die Reflexivität auf jene Unentscheidbarkeit und damit die bewusste Entscheidung oder das un-/bewusste Ereignen für das Hervor- und Zurücktretenlassen jener Erkenntnis- und Wahrnehmungsmodi und ihrer hybriden Existenzweisen auf eine Verschränkung, in der sich noch die unvorhersehbaren Beobachtungen und Beschreibungen im hybriden Setting des Forschens wiederfinden lassen. Und bislang völlig ausgespart wurde in den Überlegungen noch die Variabilität in dem, was man die Darstellung der Ergebnisse, ihre Aufschreibesysteme (Kittler) nennen könnte. Dabei eröffnet sich schon am Computer eine so genannte digitale Welt als Interface und denkende Struktur, die nicht nur die Zugangs- und Handlungsweise prädeterminiert, sondern gleichsam die Welt prozessiert, in der das Forschen im konkreten Umgang mit dem Film hergestellt wird: die komplexe Welt des so genannten Betriebssystems. Wenn Mersch also feststellt, dass der künstlerischen Forschung ihr »Systemisches« fehle40 , um ihr Setting als »Experimentalsystem« bezeichnen zu können, so bedenkt er eine dichotome Struktur wissenschaftlichen Arbeitens zwischen Naturwissenschaften und Kunst, in der das, was im deutschsprachigen Raum bevorzugt Kulturwissenschaften genannt wird, nicht eindeutig zu verorten ist. Kulturwissenschaften, 39 Abweichend zu dieser Meinung siehe Ellenbruch (2011, S. 9f). 40 Mersch (2015a, S. 21f.).
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die die Medialität ihrer Forschungsobjekte mitdenken, stellen sich bestenfalls ihrem Systemischen41 , also der Frage nach der Stellung ihrer Reflexion, dem Wie des Wahrnehmbarwerdens von Dingen, und damit jener Hybridität zwischen Pata- und Metaphysischem. Sie lassen den hier benannten Binarismus dadurch hinter sich und dürfen auch nicht auf die Verfahren von »Kommentar, Interpretation und kritischer Lektüre«42 reduziert werden. Generell lässt sich die Forschungssituation in jenem Arbeitsraum als komplexes medientechnisches Ensemble bestimmen43 , in dem gar die Grenzen des Selbst nicht nur entlang der Grenzen des Körpers der Forscher_innen fungieren. Man kann sich das Subjekt im Anschluss an den wirkmächtigen Text von Jane Bennett zur Agentialität von Materiellem in jenem Arbeitsraum als eine »Assemblage«44 vorstellen, die sich aus Ensembles und der Umwelt des Arbeitsraums je spezifisch konstituiert und entsprechend wirksam wird, wobei allen Elementen darin spezifisches Handlungspotential beikommt. Zu diesem medientechnischen Ensemble gesellt sich die im Medium des Subjekts angelegte Kontingenz seiner Situativität, die auch den Vorgang der Sichtung prägt. Wie sichte ich einen Film, wenn ich ihn mit gesättigtem Magen schaue oder stressbelastet durch einen schlechten Schlaf in der Nacht zuvor? Wie reicht das Somatische, das die neophänomenologische Filmtheorie so interessiert, in das je spezifischsituative Gefüge hinein, das die kognitionswissenschaftliche Filmtheorie als rückstellbar einstuft? Die (medientechnische) Variabilität des Settings koppelt sich mit einer Variabilität der Ereignishaftigkeit, die sich genauso durch die Hybridität von Verstetigung und Kontingenz auszeichnet: Diese Erkenntnis gehört zum Kern der materialitätstheoretisch reflektierten Wissenschaftsforschung, wie sie derzeit Karen Barad mit ihrem Konzept des »agentiellen Realismus«45 wirkmächtig vertritt. Wenn in dem SternGerlach Experiment, auf das sie sich zur Illustration ihrer Überlegungen bezieht, sich eine neue Sichtbarkeit nur dadurch generiert, dass im experimentellen Setting einer der Forscher eine Zigarrre raucht46 , dann bedeutet die Kontingenz im Untersuchungssetting, dass ästhetisches Forschen innerhalb eines stabilisierten Settings, wie es das soeben beschriebene »Labor« der meisten Filmwissenschaftler_innen (und anderer Kulturwissenschaftler_innen) bildet, unentwegt auftreten kann und auftritt. Diese singulären Ereignisse, die zu Ideen, Assoziationen und neuen »Schneisen im Wahrnehmbaren« führen, gehören konstitutiv zum Untersuchungssetting, das dadurch andere Verfahren der Beschreibung erfordert. Die Theorien, die die Filmwissenschaft zur Beschreibung jener Erscheinungen auf dem Schirm anbietet, sind als Ansichten (theōria) unter anderem selbst noch Werkzeuge, die in das Setting (Labor, Experiment) als Maschinen der Regulierung von Sicht41 42 43 44 45 46
Blumenthal-Barby (2016, S. 17). Mersch (2015b, S. 65). Vgl. Simondon (2012). Bennett (2010, S. 23f.). Barad (2012). Otto Stern konnte die Silberatome, die ihre Strahlenrichtung anzeigen konnte (darum ging es), erst dann auf einer Platte sehen, nachdem sich die Silberatome durch seinen mit Zigarettenrauch versehenen Atem in schwarzes Silbersulfid verwandelt hatten.
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barkeiten auch in Form von regulierenden Denkstilen47 hineinreichen. Zudem: Es ist ja noch nicht ausgemacht, wie und ob die Theorien in dem Sinne fungieren, wie sie fungieren. Man denke nur an den Dilettantismus der Forschung: an verkehrte Annahmen, an Fehler und Projektionen. Auch das bringt die Auseinandersetzung mit dem Material mit sich. Damit produziert jedes Forschen an sich ein Über-Sich-Hinausweisendes. Gerade in ihrer Radikalität und logischen Ausschließlichkeit sind Theorien zugleich Größen der Regulierung von Wahrscheinlichkeiten und Wahrheiten und damit, wie Mersch sagt, nicht jener Pataphysik zuzuschreiben, wie sie das Forschen im Ästhetischen auszeichnet. Sie sind verstetigte Ansichten und damit selbst dem Prinzip einer nachvollziehbaren, empirisch überprüfbaren Wissenschaft verpflichtet. Aber aufgrund ihrer Plastizität, einem manchmal innewohnenden Moment ihres Scheiterns, ihrer Fehlanwendung und Undurchdringlichkeit, ihrer Temporalität und Unberechenbarkeit und so im Sinne eines variabel zu determinierenden Umgangs mit ihnen gehören sie auch zur Pataphysik. Obwohl also der Wille zum Nachvollzug spezifischer Wahrnehmungsweisen des Films (Filmtheorie) mit einem bestimmten Objektivierungsanspruch von statten zu gehen versucht, produzieren sich an den Prozessen des Umgangs mit dem Material selbst noch singuläre Veränderungen, die dadurch die Hinfälligkeit jener Unterscheidungen zwischen pata- und metaphysischen Erkenntnisgewinnungen offensichtlich werden lassen. Jede Untersuchung am Film ist zugleich ein Forschen im Ästhetischen als auch ästhetische Forschung, verschränken sich die Modi der Untersuchung. Singularität und Regularität sind keine Dichotomien oder Orientierungsmuster oder -rahmen, sondern Qualitäten, die sich in der kontingent-gesetzmäßigen Ordnung in jenen hybriden oder irreduziblen Weisen sichtbar machen, wie es die Welt als Prozess eben auszeichnet. Diese Ausführungen zeigen den Kern der Irreduzibilität des wissenschaftlichen Forschens als aisthetischem Forschen an. Forschungen, die auf Reproduktion von Ergebnissen und Erkenntnissen aus sind, können diese nur um den Preis einer Ausblendung unzähliger flexibler, plastischer Faktoren gewährleisten. Wissenschaftliches Forschen versucht Variabilitäten des Untersuchungssettings zu minimieren, um ein ›reines‹ Labor herzurichten und um ›reine‹ Forschung zu betreiben, weil es sich einer spezifischen Handhabbarkeit und Kommunizierbarkeit der Erkenntnisse und zum Beispiel gewissen, eigentlich variablen Normen wie der Objektivität48 verschrieben hat. Das Aisthetische ist kein Scheidungsfeld für unterschiedliche Varianten von Forschungen, sondern die Praktiken an dem Aisthetischen regulieren die Modalität der Erkenntnisproduktion. Dahingehend ist künstlerische Forschung quasi der Nullpunkt wissenschaftlicher Forschung, in der sich der Entzug des Zugangs sämtlicher begrifflicher Bestimmungsweisen den Grund für Sichtbarmachungen, für das (anders als das Begriffliche) Aisthetische gibt. Das Untersuchungssetting (Dispositiv) ist maßgeblich daran beteiligt, wie sich das Filmästhetische erzeugt und wie sich Nachvollzüge und Untersuchungen am Material gestalten lassen (Praxis). Die Singularität jedes Filmsichtungsereignisses ergibt sich 47 Vgl. Bauer et al. (2017a). 48 Daston und Galison (2007).
1 Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
aus den infinitesimalen Veränderungen innerhalb der Gefüge, in denen sie sich ereignet, und den komplexen Transformationsprozessen, die sich im Falle werkorientierter Untersuchungen zwischen Entstehung, Handhabbarkeit, Darstellung und der Operativität ergeben: Die Reflexion des methodischen Umgangs mit diesem Umstand wird das Kapitel 5 leisten. Davor gilt es aber nochmal zu berücksichtigen, inwieweit eine Kultur des Sehens sich im Verhältnis von Wissenschaftskultur, untersuchtem Artefakt und dem Sozialen verschränkt. Hier hilft ein Blick auf die Science and Technology Studies.
1.2.
Filmwissenschaft und Science and Technology Studies: Forschen zum Forschen
Über diese materiellen und kontextuellen Untersuchungsaspekte oder die Kontingenz jeder Filmsichtung ist in der Filmwissenschaft, die sich besonders der Untersuchung von Filmen widmet, relativ wenig reflektiert worden. In den wirkmächtig aufkommenden Science and Technology Studies (STS) ist die Wissenschaftsreflexion beziehungsweise die »empirisch orientierte und dezidiert methodisch reflexive Analyse der Produktion und Aneignung wissenschaftlichen Wissens«49 hingegen zum Hauptforschungsobjekt avanciert. So gibt sie jene Verschränkung als Untersuchungsmodalität an, die Mersch noch als gegensätzliche Paradigmen forscherischer Praxis zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung aufzeigte. Es ist nicht der Ort, aktuelle Allgemeinorte der STS zu rekapitulieren, so zum Beispiel die umfassende Mobilisierung von der Handlungsfähigkeit nicht-menschlicher Entitäten in besonders epistemischen Produktionsprozessen oder die Proliferation ontologischer Pluralismen zur besseren Beschreibbarkeit prozessualer Vollzüge, wobei gerade das einen Trend in den Kulturwissenschaften markiert und oben in Ansätzen schon angesprochen wurde. So schreibt zum Beispiel auch Matthias Wiese: Auf dem Gebiet der Analyse spezieller kultureller Praktiken im engeren Sinne (Kunst, Film, Literatur und Musik) wiederum kann die ANT, wie die Studien von Bennett zeigen, die Analyse bereichern in dem Sinne, dass die Forscherin den materiellen settings und Instrumenten eine größere Aufmerksamkeit schenkt (vgl. Kapitel 5).50 Was hier aber einführend durchaus reflektiert werden soll und auch in Ansätzen reflektiert wurde, ist die Feststellung eines Schnittstellenproblems zwischen Wissenschaft und filmischer Regime: Erkenntnispraxen können nicht absehen von der Dimension des Aisthetischen. Dass dies ein besonderes Schnittmengenproblem von Wissenschaft im Allgemeinen und Filmwissenschaft im Besonderen ist, hat André Wendler erkannt, wenn er im Rekurs auf Bruno Latour festhält: Offenbar fallen in bewegten Bildern Prozesse der Übersetzung, Skalierung, Verkettung und des Referenzierens mit ihrer eigenen Beschreibung zusammen. Weil Bilder und namentlich bewegte Bilder immer etwas und zugleich sich selbst zeigen, können sie bei Latour jene zentrale Stelle besetzen, an der die Welt und ihre Beschreibung 49 Bauer et al. (2017a, S. 7). 50 Wieser (2012, S. 251).
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als Bild zusammenfallen und zugleich als Prozess auseinander driften. Epistemologie und Ontologie finden am gleichen Schauplatz statt. Würde die ehemalige Filmwissenschaft und jetzige Bewegtbildforschung sich diesen Hybriditäten stellen und nicht versuchen, sie zu tilgen, könnte sie jenen zentralen Punkt für die Beschreibung der zeitgenössischen visuellen Kultur besetzen, auf den sie immer wieder Anspruch erhoben hat.51 Weil in Untersuchungen von Film der Wahrnehmungsvorgang im Untersuchungszustand auf das Filmische trifft, das selbst als Wahrnehmungsvorgang fungiert, ruft noch jede filmische Untersuchung die Gefahr davon auf, dass das ›Leben im Film‹ und das ›Leben außerhalb des Films‹ als getrennte Wirklichkeiten bar ihrer Ästhetisiertheit beschrieben werden. Dieser Effekt äußert sich in vielen (geistes-)wissenschaftlichen Arbeiten als »Inhaltismus«52 . Es wird vom Film so gesprochen als sei das durch ihn Vermittelte pures Ereignis, das sich im Sinne einer Erzählung versprachlichen lässt. Eine solche Annahme ersieht Film als Inhaltsmedium, das einen sinnhaften Inhalt lediglich vermittelt. Der Raum der Arbeit an einem Film, den ich eingangs als meinen Arbeitsraum beschrieben habe, ist zugleich der Schauplatz der Welt, in dem sich auf dem Bildschirm des Computers und den variablen Fenstern, die den Film anzeigen, die bildlichen Verhältnisse von Innen und Außen als »ikonische Differenzen« an unterschiedlichen Skalierungen dieser Welt reproduzieren. Der Film des Lebens und das Leben des Films fallen zusammen, weil die Binnenereignishaftigkeit, die das Bildliche kennzeichnet53 , mit jedem Blickhaften selbst seine eigene Rahmung und Zurichtung herstellt – und hier im Film immer je spezifisch transzendiert wird. Man kann dieses Problem als ein Problem der visuellen Kultur perspektivieren, insofern das Blickhafte nie nur im Sehen selbst gründet, sondern in all den schwierigen Konzeptionen des Visuellen, das gerade die Vermittlung des Sozialen54 verbürgt. Diese Bürgschaft gründet vielleicht zuerst in dem, was man die Verschränkung von Sehen und Gesehenem, von Blicken und Angeblicktwerden bezeichnen kann, das das Sehen und den Blick in die Welt und in das Subjekt gleichermaßen setzt (▶ Kap. 5 und ▶ Kap. 8.4). Wenn Boehm bei der Rekapitulation dieser Ansicht besonders auf Lacan und vorher Merleau-Pontys Konzeption der Selbstreflexivität zurückgeht, so eröffnet sich in diesen Überlegungen zugleich die nahezu unausweichliche Involvierung von Visualität (und damit auch des Ästhetischen) in Fragen wissenschaftlichen Erkennens: Das Auge ist in der Welt, die Welt ist im Auge. Selbstreflexion meint eine doppelte menschliche Befähigung: zu sehen und sich selbst dabei zuzuschauen. Auch Husserls intentionales Bewusstsein verschränkt, was er intentio recto (Blick auf die Dinge) und intentio obliqua (Blick auf dieses Sehen durch es selbst) nannte. Diese Überkreuzung 51 52 53 54
Wendler (2013, S. 181). Generell dazu Heidenreich (2015). Konkreter S. 74f. Boehm (2001, S. 29f.). Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325).
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vollzieht sich gleichsam am Rande der Welt. Wer so auf sich selbst reflektiert, scheint über der erkannten Realität zu schweben.55 Donna Haraway hat in ihrem Text zum »situierten Wissen«56 und zur Notwendigkeit einer verkörperten Vision eine Kritik an der Annahme von der Kopplung zwischen Objektivität und Reflexivität als wissenschaftlicher Forschungshabitualisierung geäußert. Das »Schweben über der Realität« gibt noch jene Empfindung einer Identifikation mit einem göttlichen Über-Blick preis, die das Sehen tatsächlich auch als göttlich-objektives, wissenschaftliches Sehen phantasmiert. Haraway weist dann zugleich selbst darauf hin, dass dieses Sehen sich selbst nie als solches umsetzen kann57 . Diese mächtige Version der »Vision« ist hochgradig problematisch, insofern sie mit den Phantasmata der Wissenschaftskultur der Objektivität58 zusammenfällt, die nur eine spezifische Wissenschaftskultur unter vielen möglichen darstellt. Nicht ohne Polemiken einfließen zu lassen, beschreibt Haraway die machtvolle Version »realitätsschwebender« Vision: Die Augen eines gewöhnlichen Primaten, wie die des Menschen, lassen sich endlos verstärken durch Ultraschallgeräte, Visualisierung magnetischer Resonanzen, elektronische Bildbearbeitung, […] Monitore für zu Hause und fürs Büro, Kameras für jeden Zweck, vom Filmen der mukosen, den Verdauungstrakt eines Meereswurms umschließenden Membran, der zwischen Kontinentalplatten in von Verwerfungen freigesetzten Gasen lebt, bis zur Kartierung einer planetarischen Hemisphäre irgendwo im Sonnensystem. In diesem technologischen Fest wird Vision unkontrollierte Gefräßigkeit. Jegliche Perspektive weicht unendlich beweglicher Vision, die den göttlichen Trick, alles von nirgendwo aus sehen zu können, nicht länger nur mythisch erscheinen lässt, sondern den Mythos zur alltäglichen Praxis gemacht hat. Und wie der göttliche Trick kopuliert das Auge mit der Welt (fucks the world), um Techno-Monster hervorzubringen. […] Aber diese Sicht einer unendlichen Vision ist selbstverständlich Illusion und ein göttlicher Trick. […] In der westlichen Kultur ist jede Erzählung über Objektivität eine Allegorie auf die Ideologien sowohl der Beziehungen dessen, was wir Körper und Geist nennen, als des Verhältnisses von Distanz und Verantwortlichkeit, die in die Wissenschaftsfrage im Feminismus eingebettet sind.59 Diese Form der selbstreflexiven, sich über der Welt erhaben betrachtenden Vision, die sich eigentlich nie als solche einlösen kann, verkennt das, was Boehm an späterer Stelle seiner Ausführungen mit den Reflexionen zu Lacans Modell als Spaltung von Auge und Blick und als Grund des Bildes erörtert. Dieses Modell des objektiven Sehens und des subjekt-entkoppelten Blicks ist ein besonders angstbehaftetes und lässt vielleicht gerade deswegen ein weltidentifizierendes »erkennendes Sehen«60 als vornehmlichen 55 Boehm (2001). Zu demselben Problem in der Systemtheorie siehe dazu auch die Ausführungen in Blumenthal-Barby (2016, S. 17), aber auch generell die Überlegungen im Einleitungskapitel des Buchs von Blumenthal-Barby. Generell zur Theorie von der Spaltung von Auge und Blick siehe den Band Blümle und Heiden (2005a) sowie den Text von Tholen (2011). 56 Haraway (2017). 57 Vgl. auch Copjec (2005, S. 88). 58 Vgl. Daston und Galison (2007). 59 Haraway (2017, S. 381, 383). 60 Waldenfels (2001b).
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Sehensmodus der Wissenschaft zurück (Repräsentation), das sich seine Welt erkennend unterwürfig machen möchte. Sein Sinn besteht dann in der Tilgung jeglicher Form von Unvorhersehbarkeit61 , die die Potentialität der Welt als Möglichkeit von der Möglichkeit und damit unbestimmbaren Offenheit beschreibt: »Entzauberung der Welt«62 . Es ist dieser Grund des Bildes, auf dem die filmischen Regime der Filmkultur untersucht werden. Auf diesem Grund werden die Filme dahingehend befragt, wie sie so etwas wie Migration sichtbar machen. Es sind solche Befragungen nach den Prozeduren, in denen Migration im Sozialen versicherbar wird als »visuelle Konstruktion des Sozialen«63 . Es sind diese Fragen, die den Motor der vorliegenden Arbeit bilden. Die Arbeit erachtet Filmkulturen und ihre Beschreibung als komplexes Material, das stets mehr Analytisches abwirft als in einer einzigen disziplinären Perspektive oder Anschauung (theōria) zu erarbeiten wäre. Die Untersuchungen sind von der Motivation getragen, nicht das Material gegen die Theorien, Pataphysisches gegen Metaphysisches auszuspielen – zumal jede Theorie nur beschränkt zur metaphysischen Totalität gehört, die ihren Blick zuerst ermöglicht –, sondern wollen ein situiertes, verkörpertes Sehen an einer spezifischen Kultur »epistemischer Dinge«64 einnehmen. Deswegen ersieht die vorliegende Arbeit Film zunächst als epistemisches Ding, als solches Ding, das etwas medialisiert, sichtbar macht, »ontologisch stabilisiert«, aber auch sich selbst erst als Ding »ontologisch stabilisiert«65 . Als eigenständige Wahrnehmungsstruktur sind Filme zugleich auch denkende Operateure und haben dahingehend einen aisthetischen Eigenwert, der in etwa dem besteht, was Mersch als aisthetische Forschung bezeichnet. Die Sichtbarmachung dieser eigenwertigen Denklogiken des Films ist ebenfalls Thema dieser Arbeit. Die Grundstrategie der vorliegenden Arbeit liegt darin, sowohl den medialen Zusammenhang (Film), als auch das zu Medialisierende/Medialisierte (Migration) als Bestimmtheitstelle zurückzunehmen und immer wieder von neuem zu konfigurieren. Daraus folgt eine intelligible Forschungsstruktur. Indem für die Arbeit die Sichtung zuallererst vorausgesetzter Filme, die das Motiv ›türkisch-deutscher Migration‹ gemeinsam haben, in einem empirisch umfassenden Materialkonvolut vorgenommen wurde, liefert die Arbeit Ergebnisse zur visuellen Konstruktion dessen, was mithin als Migration angenommen wird. Das von mir vorgenommene Untersuchungssetting entspricht insofern aktuellen medientheoretischen Ansätzen, als dass ich die visuellen Konstruktionen in den Filmen analytisch herausarbeite und mich bei der Spezifizierung des Films als ›epistemischem Ding‹ auf den Film als visuell Konstituiertes einlasse. Diese Schließung von Film als Artefakt ist als permeabel zu denken und zugleich notwendige Bedingung eines jeden Zugriffs auf Film.66 61 62 63 64 65 66
Vgl. Trinkaus (2011). Weber und Winckelmann (1988, S. 594, 612). Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). Rheinberger (1992, S. 67-72). Skrandies (2016, S. 12f., 35, 49). Vgl. Spöhrer (2016, S. 141).
1 Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
1.3. 1.3.1.
Zum Untersuchungsdesign der Arbeit: Hinweise zu den Operationalisierungen Intelligibler Theorien- und Methodenpluralismus
In den Zugängen zu den Filmen folge ich einem intelligiblen und flexiblen System, das mir eine medientheoretisch umfassende Bestimmung von Migration im filmmedialen Kontext ermöglicht. Dabei schließe ich filmkulturhistorische, filmideologiehistorische oder kulturtheoretische Kontextualisierungen nicht aus, sondern betrachte die Vorstellung der einzelnen Filme zugleich als Gelegenheit einer je nach Möglichkeit gegebenen entsprechenden Kontextualisierung, welche entsprechende Sinnhorizonte für ein Verständnis der Filme öffnet. Wenn hierbei einander ausschließende Ansätze wie Neoformalismus oder psychoanalytische Filmtheorie in einer Analyse eines Films auftauchen, bedeutet das nicht, die filmtheoretischen Bedingungen zu relativieren oder unsensibel gegenüber den konstitutiven Elementen zu verbleiben67 , sondern intelligibel damit umzugehen, dass an einer ›Kultur epistemischer Dinge‹, als die ich die Ensembles von Filmen betrachte, selbst epistemische Operationen ansetzen können, die Aussagen aus einander ausschließenden Annahmesystemen ermöglichen. Die Zugangsweise für die vorliegende Arbeit bestimmt sich aufgrund dieser medientheoretischen Vielfalt durch das Erkenntnisinteresse danach, umfassende Bestimmungen an der ontologischen Stabilisierung von Migration in einer spezifischen Filmwerkkultur, einer ›Kultur epistemischer Dinge‹, zu treffen. Mit jeder Erwählung einer filmtheoretischen Prämisse als Zugang zu einer epistemisch produzierten oder zugerichteten Ansicht des Films gehen unterschiedliche Erkenntnis- und Sinngebungsverfahren einher, die in den vorgenommenen Analysen je spezifisch vorgenommen sind. So folgen einige Analysen den strukturalistischen Programmen der Filme selbst, erarbeiten aber durch neophänomenologisch informierte Detailanalysen Zuarbeitungen zum strukturalistischen Programm heraus (▶ Kap. 9). Die Hauptfrage zielt darauf, sichtbar zu machen, wie die Filme das, was als Migration angenommen wird, stabilisieren, also auch zu filmischen Regimen gerinnen lassen. Dabei setze ich mit einer dekadenorientierten Fokussierung auf eine spezifische Filmkultur eine Grenze, die die Untersuchung operationalisiert, also die Grenzen der Kultur »epistemischer Dinge«68 entlang kulturhistorischer Determinanten setzt. Dadurch geht die vorliegende Arbeit methodisch einen mehrstrategischen Weg. Zum Beispiel setze ich die Existenz eines bestehenden Diskurses zur ›deutsch-türkischen Migration‹ voraus und verstehe jenes Ereignis, das diese Filme vermitteln, im Sinne von Annahmen nach einer Poiesis69 als unendlich prozessual medialisiert-stabilisiert und entsprechend analysierbar. Zugleich folge ich damit produktionstheoretischen Einsichten, doch ich ergänze sie um eine epistemologische Operation, die darin besteht, die blinden, postkolonialen Flecken des Forschungsstands offen zu legen: Er liegt in der interkulturel67 Zur In-/Kommensurabilität von Neoformalismus und psychoanalytischer Filmtheorie siehe zum Beispiel Hediger (2002). 68 Rheinberger (1992, S. 21-25). 69 Vgl. Lehmann (2017b).
63
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Die visuelle Kultur der Migration
len Öffnung und damit einer kulturwissenschaftlich-ethischen Haltung begründet, die nach dem Ausgeschlossenen und Anderen in den Ordnungen der Dinge jener Filmkulturen fragt. Denn mediale Aneignungen vollziehen sich nicht nur je spezifisch, mikroprozessual, die zugleich global und zirkulierend stattfinden, sondern sie werden selbst heimgesucht durch mediale Aneignungsformen, die im Noch-Nicht-Sichtbaren jenes Feldes liegen, das mit der allgemeinen, induktiven Voraussetzung überhaupt erst als gegeben festzustellen wäre. Oder nochmal anders gesprochen: Es geht neben der medientheoretischen Reflexion eines Feldes auch darum, postkolonialtheoretisch überlegt nach dem großen Anderen oder genauer Ausgeschlossenen des zuallererst vorausgesetzten Feldes zu fragen. Um das Anliegen an dem Verhältnis zwischen Vor- und Nachgängikeit zu illustrieren, ließe es sich durch Fragen zu Identität und Alterität, oder auf Bilder bezogen, durch Fragen zum Verhältnis von Vor- und Nachbildern (der Historizität medialer Aufgreifungen) nochmal zuspitzen. Damit wäre das Anliegen der vorliegenden Arbeit, »zu zeigen, dass eine transkulturelle Film- oder Bildwissenschaft immer auch zuerst die Frage nach dem Anderen des Selbst des Nachbildes stellen muss.«70 Dann würde »[n]icht nur der Blick in eine Zukunft oder die Vergangenheit […] so das Verhältnis von Vor- und NachBild [bestimmen], sondern auch ein Blick zum Anderen hin, den man als konstitutiven Teil des Nach-Bildes selbst verstehen dürfte.«71 Das bedeutet, dass noch jede mediale Aneignungsform und ihre Untersuchung selbst eingebettet ist in einen übergeordneten systemischen Zusammenhang, innerhalb dessen die Fragen nach dem systemischen Zusammenhang selbst einer postkolonial-theoretisch, kritischen Infragestellung bedarf (Stichwort »situiertes Wissen«, ▶ Kap. 4). In diesen Annahmen entwirft sich eine Vorstellung film- und bildwissenschaftlicher Transkulturalität, die die Arbeit durch eine ent-eurozentrisierende Perspektive zu erarbeiten beansprucht – eine Perspektive, die davon ausgeht, »dass das Vor-Bild nicht immer ein dem Bild Vorgelagertes ist, sondern das eines gleichzeitig Anderen, das der Grund einer dekolonialen Auseinandersetzung werden könnte.«72
1.4.
Überleitung in den Historisierungsteil
Im Sprechen über den filmwissenschaftlichen Diskurs zum ›deutsch-türkischen Kino‹ lässt sich dieser durch die Diskurse, die dazu existieren, als Genre relativ einfach voraussetzen. So kann man das Genre im filmwissenschaftlichen Sinne als »Hilfsterminus«73 ernst nehmen und sich damit der »kommunikativen Praxis«74 der Diskursgemeinschaft anschließen, die darin besteht, Filme über die ›deutsch-türkische Migration‹ als ›deutsch-türkisches Kino‹ zu bezeichnen. Dasselbe lässt sich auch für ›den türkischen Emigrationsfilm‹ vornehmen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist diese kommunikative Praxis eurozentrisch und auch gewisse bestehende Untersuchungsprämissen 70 71 72 73 74
Alkın (2015a, S. 211). Alkın (2015a, S. 211). Alkın (2015a, S. 211). Wikipedia. Zur Dimension von Genre als kommunikativer Praxis siehe Hickethier (2007, S. 63ff.), Casetti (2001).
1 Prolegomenon: Forschen im Ästhetischen, das Ästhetische im Forschen
der Filmwissenschaft arbeiten einem solchen Eurozentrismus zu (▶ Kap. 4). Deswegen ist es nötig, eine postkolonialtheoretisch motivierte Kritik an der kommunikativen Praxis über das Genre des ›deutsch-türkischen Kinos‹ zu leisten, die mit dem Nachvollzug einer Operationalisierung ermöglichenden Werkgeschichte zusammengehen wird: im Sinne einer kritischen historischen Rückvergewisserung (▶ Kap. 2). Eine solche Kritik am Genre muss sich um medientheoretische Auseinandersetzungen ergänzen, will man über die Problematik eines repräsentationsorientierten Untersuchungsansatzes, das ein medientheoretisch einseitiges Verständnis von Film impliziert, hinausweisen. Die medientheoretischen Prämissen werde ich konkreter in Kapitel 5 diskutieren und um Thesen sowie Begründungen aus dem Bereich der Visuellen Kultur erweitern. Dies ist deswegen notwendig, da erst aufgrund dieser Erörterungen verstehbar wird, wie und ausgehend von welchen Prämissen ich mich in der Hauptuntersuchung, den türkischen Migrationsfilmen des High-Yeşilçam-Kinos widme und mit welchen Zielen. Ich werde in dem Kapitel also eine medientheoretische Erörterung vornehmen, mit der ein polyzentrisch zu verstehendes Feld des ›deutsch-türkischen Kinos‹ überhaupt als Forschungssubjekt zu denken ist. Damit werde ich die Bedingungen transparent machen, unter denen ich das Filmkorpus für die vorliegende Untersuchung zusammengestellt, recherchiert, gesichtet und untersucht habe. Ziel damit ist es, eine eigene Kontextualisierung des Forschungsfelds namens ›deutsch-türkisches Kino‹ sowie ›türkischer Emigrationsfilm‹ vorzunehmen – unabhängig einer einseitigen epistemologischen Rahmung und vielmehr durch medientheoretische Spezifizierung und methodologische Überlegungen zur Untersuchung von Migrationsfilmen im Generellen. Bevor dahingehend eine medientheoretische Auseinandersetzung stattfinden kann, wird das epistemische Bezugsfeld der untersuchten ›epistemischen Dinge‹ im Gröbsten aufgespannt. Das geschieht durch eine historische Rückvergewisserung der wissenschaftlichen Konstruktion des Diskursfelds des ›deutsch-türkischen Kinos‹ und des ›türkischen Emigrationsfilms‹ sowie eigenständiger filmhistorischer Einordnungen. Auf der Grundlage einer solchen Rückvergewisserung und der Erweiterung werkbezogener filmhistorischer Ergänzungen wird es möglich, durch Überlegungen zum wissenschaftsdiskursiven Umgang blind spots bestehender Untersuchungsprämissen sichtbar zu machen, von denen ausgehend eine Rekonfiguration des gesamten Forschungsfeldes namens ›deutsch-türkisches Kino‹ möglich wird. Zentral für die Logotektonik der vorliegenden Arbeit ist es, die medientheoretische Positionierung, sowie die methodischen Erläuterungen als ein Bezugskapitel zu verstehen, in denen die grundsätzliche, wissenschaftsreflexive Überlegung nach der Zentralisierung der Forschungsfrage als Frage nach der visuellen Konstruktion des Sozialen immer wieder aufgegriffen wird. Wie sieht der Zusammenhang von Film und Migration als verschränkte, doppelte Unbestimmtheitsstelle, die im Kontext der türkischen Filmwerkkultur der 1970er Jahre untersucht wird, aus?
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TEIL I: Polyzentrierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹
2. Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutschtürkische Kino‹
2.1.
Die wissenschaftliche Konstruktion des ›deutsch-türkischen Kinos‹
In dem vorliegenden Kapitel wird es nicht darum gehen, eine erschöpfende Geschichte des ›deutsch-türkischen Films‹ vorzulegen. Das ist auch nicht möglich, liegen dazu bisher weder genretheoretisch zufriedenstellende Erörterungen noch Versuche vor, das ›deutsch-türkische Kino‹ umfassend von seiner Werkgeschichte her zu fassen (für mögliche Ansätze ▶ Kap. 5). Vielmehr möchte ich den Fokus auf diejenigen filmhistorischen Ansätze richten, die eine Entwicklungsgeschichte der ›deutsch-türkischen Filme‹ von den 1970ern bis heute nachzeichnen. In den akademischen Arbeiten, deren Kernreferenz auch heute noch Deniz Göktürks Aufsatz1 ist, schält sich nämlich eine akademische Diskursgeschichte über den ›deutsch-türkischen Film‹ heraus, die die Entwicklungen des deutsch-türkischen Kinos als eine zwei- bis dreiphasige Emanzipationsgeschichte der Repräsentationsformen der türkischen Emigrant_innen konstruiert. Die Perspektive, aus der diese Geschichte resultiert, ist allerdings häufig integrationspolitisch und damit zumeist einseitig motiviert. In der Nachverfolgung dieser akademischen Diskurse wird es mir darum gehen, die darin fehlende Thematisierung des türkischen Emigrationsfilms als postkoloniales Symptom2 , Eurozentrismus3 sowie filmhistorische4 und wissenschaftliche Unzulänglichkeit5 zu untersuchen. Diese Gründe möchte ich für den Vorschlag einer Re-Konfiguration des Feldes nutzen, mit der der türkische Emigrationsfilm unter dem transnationalen Terminus des deutsch-türkischen Kinos fassbar und das Ereignis deutsch-türkischer Migration in seiner Reichweite umfassender begreifbar werden soll. Als Deniz Göktürk Anfang der Jahrtausendwende ihren wirkmächtigen »Mitleidskultur«-Aufsatz6 schreibt, hat sie sich für die Filme in Deutschland zum Thema der 1 2 3 4 5 6
Göktürk (2000). Vgl. Alkın (2016c). Vgl. Alkın (2015b). Vgl. Alkın (2015a), Alkın (2017c). Vgl. Alkın (2017c). Göktürk (2000).
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Die visuelle Kultur der Migration
Migration mehr »wechselseitige humoristische Spiegelungen«7 gewünscht. Dass zeigt sich auch an ihrem Kulturbegriff und ihrer Evalierung der frühen Phase des »Migrantenkinos«8 : Traditionelle Auffassungen von Kultur gehen von einem lokal verwurzelten und gewachsenen, nahezu geschlossenen System aus. Dagegen stellt die Mobilität von Migranten diese Geschlossenheit in Frage und eröffnet einen ›dritten Raum‹ der transnationalen Übersetzung, in dem herkömmliche Klassifikationsmuster in Frage gestellt werden (Bhabha 1994). Diese Verunsicherung ist insofern produktiv, als sie uns bewußt macht, daß es sich bei Definitionen von Kultur auf der Grundlage von nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit meist um fragwürdige Konstruktionen und Zuschreibungen handelt. Das Migrantenkino […] gedieh allerdings völlig abseits fröhlicher Vermischung. Vielmehr hat es sich eingebürgert, die neuen Migrant/innen als Opfer am Rande der Gesellschaft darzustellen. Unzählige Dokumentar- und Unterrichtsfılme beschäftigten sich mit dem »Ausländerproblem« (Filmkatalog in Schoenberner/Seifried 1983). Insbesondere der türkische ›Gastarbeiter‹ in Deutschland erscheint bis heute als der »siebte Mann«, eine mythisch-stumme Figur – unfähig zu Kommunikation und Integration (Berger/Mohr 1975).9 Mit ihrer Formulierung von der »fröhliche[n] Vermischung«, die sie dem frühen »Migrantenkino« im Hinblick auf dessen Wirkweise abspricht, arbeitet sie ihrem später auch dezidiert geäußerten Wunsch nach einer reflexiven und humoristischen Verhandlung von Themen der Identität und Ethnizitiät zu. Dass sie damals noch nicht das transnationale Label ›deutsch-türkisch‹ für dieses »Migrantenkino« nutzte, lag womöglich auch daran, dass sie nationale Rahmungen für die Evaluierung der des »Migrantenkinos« für unangemessen hielt. Zahlreiche ihrer Fragen nach der Bestimmung einer nationalen Zugehörigkeit filmischer Determinanten (Crew, Filmproduktion)10 verweisen dabei auf die schwierigen Zuschreibungsmöglichkeiten, wenn man Filme in der Kategorie des Nationalen fasst.11 Sie sind nämlich nicht nur auf der Produktions-, sondern auch auf der Inhalts- und Rezeptionsebene und vielen anderen Ebenen (▶ Kap. 4) transnationale Erfahrungen und Konstellationen, für die ein bi-nationaler Begriff wie ›deutsch-türkisch‹ gerade vor der Konstruktion eines Nationalen12 nicht angemessen scheint. Filme zirkulieren durch die gesamte Welt und ermöglichen durch die Präsentation spezifischer Lebenswelten damit ihren Zuschauer_innen transkulturelle Erfahrungen, während die Produktion zahlreicher, finanziell auch aufwendiger Filme ohne 7 Vgl. Göktürk (2000, S. 344). 8 Göktürk (2000, S. 330). 9 Göktürk (2000, S. 330). 10 »Welche Nationalität hat beispielsweise ein Film, der in Hamburg spielt und dort unter deutscher Regie produziert ist, in dem jedoch türkische Schauspieler türkisch-deutsche Dialoge sprechen und türkische Milieus darstellen? Ist ein solcher Film dem deutschen oder dem türkischen Kino zuzurechnen? Macht er Aussagen über die deutsche oder die türkische Kultur oder über beide? Wie verhält es sich, wenn der Regisseur ein in Deutschland lebender Türke ist, der unter ähnlichen Produktionsbedingungen arbeitet wie seine deutschen Kolleg/innen? Fällt dann die Zuordnung leichter?«, Göktürk (2000, S. 331). 11 Vgl. Higbee und Song (2010). 12 Vgl. Anderson (2005).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
transnationale Finanzierungs- und Produktionskooperationen kaum mehr zu realisieren ist13 – ganz zu schweigen von den kulturellen Biographien ihrer Herstellenden, die oft transnational oder generationell verkompliziert sind.14 Göktürks Fragen deuten damit die Schwierigkeit der filmwissenschaftlichen Debatten um ein transnational cinema an. Aus ihren Überlegungen folgt der auch andernorts in der Filmwissenschaft15 artikulierte Anspruch danach, dass es begriffsschärfender und genretheoretischer Auseinandersetzungen bedarf, um das genauer zu bestimmen, was als ›deutsch-türkisches Kino‹ verhandelt wird. Einer solchen Problematisierung nationaler Kinoformen bietet Göktürk als Lösung das in der Filmwissenschaft intensiv verhandelte Konzept world cinema an.16 Für sie zeigt der Begriff die »Universalität von Mobilität und Diversität«17 : Filme aus nicht-westlichen Ländern, die sich populärer, im Westen bekannter Genreformen bedienen und mit lokalen Elementen vermischen; transnationale Filme bi-national kulturalisierter Regisseur_innen über Themen der Migration und der Diaspora. So attestiert sie Konzeptionen wie der von Hamid Naficys accented cinema18 die Fähigkeit, den nationalen Kontext überschreitende und transnationale Themen und Narrative anzubieten, die zugleich eine gesellschaftliche Mehrheit ansprechen. In der Beschäftigung zu Fragen von Film, Welt und Migration eröffnet sich so ein kulturwissenschaftlicher Forschungsbereich, der die Involviertheit des Migrationskinos aus Deutschland in größere Zusammenhänge offensichtlich werden lässt. Darauf weist das umfassende Programm von Naficys wirkmächtiger Arbeit hin, in dem Filme aus Deutschland zum Thema deutsch-türkischer Arbeitsmigration und ihrer Folgen, aber auch türkische Exilfilme ihre Verortung finden. Dabei gliedert sich Naficys Klassifikation des accented cinema, das sich in der Tat »polyzentrisch« und »flexibel geographisch« (▶ Kap. 4) gibt, entlang bestimmter Parameter, die sich im Übrigen auch in meiner Hauptuntersuchung (Teil II) ergeben haben: Kommunikationsmedien (»Epistolarity«) sowie »Chronotopes of Imagined Homeland« und »Exile«, sowie »Journeying, Border Crossing and Identity Crossing« liefern die großen Rahmungen, in denen Naficy seine close readings von Filmen zahlreicher Migrationskinematographien vornimmt. Naficys Konzept eines accented cinema hat dabei nicht nur die jeher transnationalen und weltumspannenden Aspekte des Kinos berücksichtigt, sondern durch eine differenzierte Systematik an einer Vielzahl von Filmen jenseits des euroamerikanischen Raums übergreifende Charakteristika filmkultureller Entwicklungen bestimmt. Dieses differenzierte, aber auch weit gefasste, Konzept19 eines »akzentuierten Kinos« bezieht sich als historischen Ausgangspunkt auf die zahlreichen Migrationsbewegungen auf 13 14 15 16 17 18 19
Shaw (2013, S. 47). Vgl. Tunç Cox (2011). Vgl. Turan (2017), Lehmann (2017b). Göktürk (2000, S. 331). Göktürk (2000, S. 331f.). Naficy (2001). Als differenziert zu werten ist es deshalb, weil es im Detail und werkorientiert ausgearbeitet ist, sodass nahezu alle nicht-europäischen und nicht-nordamerikanischen Filme darin gefasst werden können, die den nationalen Produktionsrahmen ökonomisch, ästhetisch und politisch überschreiten.
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der Welt ab den 1960er Jahren. In dieser Einschätzung knüpft er an Appadurais Beobachtungen in »Modernity at Large«20 an.21 Sein Klassifikationsvorschlag des accented cinema beschreibt so letztlich eines der vielen massenmedialen Phänomene, die er eben in Anlehnung an Appadurais Argument als Kernelement einer Proliferation der Imagination als zur Alltäglichkeit gewordenen Aktivität einer jeden Gesellschaft beschreibt.22 Mit der nun zunehmenden Fähigkeit auch nicht-europäischer Subjekte im Ausland und in ihrer eigenen Heimat Filme herzustellen, sei eine Multiplizität der Kinoformen entstanden, die die nicht-europäischen deplatzierten (displaced) Subjekte von rezipierenden Zuschauer_innen zu teilnehmenden Akteur_innen in je unterschiedlichen Feldern (Kunst, Politik et cetera) transformierte23 . Naficy beschreibt die Filme dieser ›NichtWestlichen‹ als solche, die durch einen Modus der »performance«24 bestimmt seien. Denn die Filme zeichnet nicht nur aus, dass sie darin allgemein Geschichten aus je spezifischen kulturellen Zusammenhängen erzählen. Vielmehr nehmen sie auch stets Bezug zum exilischen oder diasporischen Kontext, sodass Themen der Lokalisierung und Deplatzierung und damit immer schon das Spannungsverhältnis von Lokalität und Globalität auf einer Berührungsebene zwischen dem Herstellungs- und Erzählbedingungen verhandelt werden. Genauer in Naficys Worten: […] the style characterizing these films, whose components, discussed in various chapters and at various points throughout, are open-form and closed-form visual style; fragmented, multilingual, epistolary, self-reflexive, and critically juxtaposed narrative structure; amphibolic, doubled, crossed, and lost characters; subject matter and themes that involve journeying, historicity, identity, and displacement; dysphoric, euphoric, nostalgic, synaesthetic, liminal, and politicized structures of feeling; interstitial and collective modes of production; and inscription of the biographical, social, and cinematic (dis)location of the filmmakers.25 Bei dieser umfassenden Aufzählung all der Eigenschaften eines akzentuierten Kinos verweist er zurecht auf das, schon jeher das Nationale überschreitende Charakteristikum des Filmemachens – denn beteiligt an Filmen aufgrund ihrer Produktionsspezifität sind immer zahlreiche Akteur_innen, in dem transnationale Zusammenarbeit nicht nur Ausnahmeerscheinung, sondern konstitutiv ist.26 Zu bedenken bei diesen relativ euphorischen Ausführungen zur Globalisierung und Migration ist, dass in die Moderne nicht nur eine euphorische Segnung eingeschrieben ist, wie sie Appadurai in seinem relativ frühen Buch beschreibt – zumal er dann in späteren Büchern diese Ansicht gegen pessimistische eintauscht.27 Exil, Diaspora, Grenzerfahrungen gehen mit hoch20 21 22 23 24 25 26 27
Appadurai (1996). Naficy (2001, S. 8) Naficy (2001, S. 8). Naficy (2001, S. 4). Naficy (2001, S. 4). Naficy (2001, S. 4). Naficy (2001, S. 7f.). Appadurai (2009).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
affektiven Mechanismen und konfliktreichen und tödlichen Vorgängen einher (▶ Kap. 9.1.7.1).28 Weiterer ambivalenter Aspekt der Moderne: In sie ist ein Spaltungswille eingeschrieben. Die Moderne kann sich ihrer maßgeblichen Charakteristik von ›Fortschrittlichkeit‹ besonders darüber versichern, dass Traditionalität mit ›Rückschritt‹ konnotiert wird. Die Folge ist, dass damit enthumanisierende, rassistische und kolonialistische Risse in die globale Topographie ›geritzt‹ werden. Dieser Spaltungswille findet sich im Feld des ›deutsch-türkischen Kinos‹ als orientalisierender und paternalistischer Gestus der frühen Filme wieder. Göktürk schreibt in besagtem »Mitleidskultur«-Aufsatz gegen derartige Filme, die ihre orientalisierende Kraft der Abwertung der Migrationskultur verdanken. Konkret beginnt sie ihre Analyse mit der Beobachtung, dass die ersten Filme, die sich mit türkischen Migrant_innen in Deutschland auseinandersetzen – sie bezeichnet diese als »Migrantenkino« – vornehmlich »ein sozialrealistisches Genre« bevorzugten.29 Migrant_innen seien in den Filmen als Leidexistenz repräsentiert worden, denn ihre Darstellung als ent-menschlichte und ›ent-heimatlichte‹ Arbeitskräfte machte sie sowohl ökonomisch als auch psychisch zu Figuren des Mitleids. Erst mit den 1990ern Jahren habe ein Wandel stattgefunden: »Migrant/Innen, die im Kino lange Zeit als Objekte in Erscheinung traten, agieren jetzt – vor und hinter der Kamera – selbstbewußt als Subjekte und wissen sich rhetorisch zu behaupten.«30 Das Motiv der türkischen Frau im deutsch-türkischen Kino ergibt in einer Anordnung bestimmter Standbilder ein symptomatisches Bild dieser Emanzipation: zuerst Figuren wie Shirin (Abb. 4.1) in Helma Sanders-Brahms Shirins Hochzeit (1976)31 , die als Emigrantin zuerst im türkischen patriarchalischen und dann im deutschen kapitalistisch-patriarchalischen Setting ausgebeutet wird; oder die von ihrem Ehemann in eine 40m² große Wohnung eingesperrte Turna in Tevfik Başers 40m² Deutschland (1985)32 (Abb. 4.2); oder die Figur der eingeschüchterten Elif, die sich in der Haft emanzipiert (Abb. 4.3) in Başers Abschied vom falschen Paradies (1989)33 ; Hark Bohms selbstbewusste, aber zwischen zwei kulturellen Lebensstilen hin- und herwechselnde Jugendliche Yasemin, die sich im gleichnamigen Film Yasemin (1988)34 (Abb. 4.4) dem Willen ihres Vaters wiedersetzt und mit dem jungen deutschen Mann, in den sie sich verliebt hat, dann flieht. Doch diese Bilder der unterdrückten Frauen wandeln sich dann langsam. Es tauchen Bilder auf, von selbstbewusster auftretenden Migrant_innen, wie die Mutter zweier Kinder und Putzfrau Anam (»Meine Mutter«) 35 (Abb. 4.5) in Buket Alakuşs gleich28 Vgl. Appadurai (2009). In dem Buch vertritt Appadurai die These, dass majoritäre gesellschaftliche Gruppierungen minoritäre genozidal auszulöschen versuchen, um ihre »[f]ear of small numbers« (so der Originaltitel des Buchs) durch die Ausrottung der als bedrohlich empfundenen Minderheit zu beseitigen. 29 Göktürk (2000, S. 330). 30 Göktürk (2000, S. 344). 31 Sanders-Brahms (1976). 32 Başer (1985). 33 Başer (1989). 34 Bohm (1988). 35 Alakuş (2001).
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namigen Film – eine Frau, die selbst entscheidet, wann sie das Kopftuch trägt und sich auch von ihrem Mann nicht das Kopftuch diktieren lässt; Thomas Arslans junge Deniz in Der schöne Tag 36 (Abb. 4.6), die die Beziehung zu ihrem deutschen Freund selbstbewusst beendet und agil und frei durch Berlin zieht, während die Kamera ihr minutenlang durch die Hauptstadt folgt; die vorehelich schwangere Canan (Abb. 4.7), die entgegen ihrer Befürchtung Verständnis für den Ehrenkodex-Bruch durch ihren Großvater erfährt und gar als Voice-Over Erzählerin der humorvollen Familiengeschichte in Almanya – Willkommen in Deutschland 37 auftritt; die lebensfrohe, unentwegt sich selbst suchende Esra in dem vom Til Schweiger produzierten Mystery-Liebesdrama 8 Sekunden (2015)38 (Abb. 4.8), die sich in Freiheit tanzend durch den Film bewegt, oder die selbstbewusste Hatice (Abb. 4.9; Dritte von links) in Buket Alakuşs Romanverfilmung Einmal Hans mit scharfer Sosse (2014)39 , die den Mann fürs Leben sucht und hier mit ihren Freundinnen auf im freien Dasein trinkt. In dieser diachronen Perspektive auf die Emigrantinnen lässt sich der Repräsentationswandel in den Filmen erahnen, von dem Göktürk und in der Folge dann etliche andere bis heute sprechen (siehe ▶ Kap. 2.3).
Abbildung 4.1-9 – Standbilder aus diversen ›deutsch-türkischen‹ Migrationsfilmen seit 1970 bis 2010er Jahre
36 37 38 39
Arslan (2001). Şamdereli (2011). Sorak (2015). Alakuş (2014).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
In dem vorliegenden Kapitel werde ich den aus dieser Bildanordnung sich abzeichnenden Argumentationsgang des Repräsentationswandels von viktimisierten zu empowerten Migrant_innen als derzeitigen Forschungsstand des ›deutsch-türkischen Kinos‹ kritisch aufgreifen (▶ Kap. 2.2). Zugleich werde ich einige diskurshistorische Aktualisierungen vornehmen, die filmhistorische Differenzierungen zum Feld des ›deutschtürkischen Kinos‹ leisten, sowie die neueren Entwicklungen des Genres durch Einblicke in aktuelle Produktionen aufzeigen (▶ Kap. 2.3).
2.2.
Das ›deutsch-türkische‹ Betroffenheitskino
Ich erachte an dieser Stelle eine Rekapitulation danach, wie eine Konstruktionsstrategie in dem ersten Ensemble dieses Kinos aussieht, die die Migrant_innen in den Filmen als Leidexistenz hervorbringt, für sinnvoll. Das ergibt sich dadurch, dass erst daran deutlich wird, wie verschiedene machtlogische und erkenntnisprägende Orientierungsmuster besonders im Feld von Migrationskinematographien epistemische Unterminierungen begünstigen, also das, was Foucault »unterworfenes Wissen«40 nennt. Ein solches unterworfenes Wissen ist das Wissen um den ›türkischen Emigrationsfilm‹. So macht es Sinn nachzuvollziehen, nicht nur dass, sondern wie dieser Wandel der Repräsentation von Migrant_innen als Opfern zu selbstbewussten Subjekten in den Filmen sich abzeichnet. Da die Konstruktionsdynamik des von den 1970ern differenten Betroffenheitskinos der 1980er in der akademischen Diskussion am häufigsten an den schon genannten Filmen des türkischen Regisseurs Tevfik Başer und dem schon emblematisch für ein solches Kino stehenden Yasemin von Hark Bohm dokumentiert wird, werde ich mich bei der Erläuterung des Betroffenheitskinos der 1980er im Sinne einer werkund diskurshistorischen Erweiterung stattdessen auf einen im Diskurs bislang unbeachtet gebliebenen Film konzentrieren. Dieser Film, der quasi den Vorfilm für jenen paradigmatischen Film Yasemin abgibt, hilft aufgrund seiner Einbettung in eine Zeit medienhistorischer Transformationsprozesse (von Film zu Video) Differenzierungen im Untersuchungsfeld vorzunehmen. Es handelt sich um Hartmut Horsts und Eckart Lottmanns Aufbrüche (1986)41 . Entlang der Untersuchung dieses Films werde ich gleichzeitig die Intensität der Konstruktion der mehrphasigen emanzipativen Filmgeschichte in der akademischen Diskussion42 skizzieren können. Göktürks Verständnis eines »Migrantenkinos« und ihre integrationspolitisch motivierten Hoffnungen werde ich dann auf Grundlage der filmhistorischen Erörterung um eine kurze Geschichte des neueren ›deutsch-türkischen Films‹ erweitern. Schließlich werde ich auf die beiden angesprochenen postkolonialen Gegendynamiken (Eurozentrismus, epistemologische Einseitigkeit) zu sprechen kommen. Sie machen meinen film- und genrehistorischen Vorschlag, den ›türkischen Emigrationsfilm‹ unter dem Konzept des ›deutsch-türkischen Films‹ mitzudenken und ihn werkhistorisch unter dem Begriff zu fassen, plausi40 Foucault und Ott (1999, S. 15). 41 Horst und Lottmann (1986). 42 Vgl. Yaren (2011), Berghahn (2013), Burns (2006), Burns (2007), Burns (2009), Burns (2013), Tunç Cox (2011), Hake und Mennel (2012), Halft (2012), Uecker (2013).
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bel. Dass sich hieran zugleich eine in der Forschungsliteratur erstmalig so umfassende Diskurrierung und Historisierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹ ergibt, soll keineswegs bedeuten, dass sie sich in diesen Ausführungen erschöpft. Wie tiefschürfend die film- und medienhistorischen Lücken zur Beschäftigung mit dem Migrationskino in Deutschland sind, habe ich an anderer Stelle eingehend erläutert.43 Da der Diskurs um das Betroffenheitskino stets einvernehmlich konstruiert ist, werde ich mich hier auf die Diskontinuitäten und unvermuteten Kontinuitäten konzentrieren, die sich für mich aufgrund der noch gering differenzierten Forschungslage zuerst nur in einer diachronen Sicht auf die Filmkultur verstehen lässt. Zuvor möchte ich die unterschiedlichen Dynamiken der Minorisierung in dem Betroffenheitskino kurz festhalten, um auch gleichzeitig eine Differenzierung vorzunehmen, die in der Debatte zum Betroffenheitskino oftmals verloren geht und die Simplifizierung der Filmgeschichte des Genres aufzeigt. Dabei werde ich mit dem Begriff des ›Ensembles‹ eine vorsichtigere und weniger das Sinnstiftungsmoment stark machende Einteilung vorzuschlagen versuchen. Dass die Einteilung solcher filmhistorischer Orientierungen in Epochen/Dekaden und generell Pauschalisierungen und Verdichtungen von Filmen zu filmhistorisch eng beieinander liegenden Zeiträumen zu spezifischen Ensembles zugleich schwierig ist, lässt sich verstehen, wenn man bedenkt, dass Filme in ihren Erscheinungsfrequenzen und -formen kontingent sind und dass Repräsentationsformen in Filmkulturgeschichten, die an sich schnellphasig fungieren, »hierbei in viel zu eng beieinanderliegenden zeitlichen Phasen abklingen und wieder auftauchen, als dass man historische Differenzierungen mit hoher Genauigkeit behaupten könnte.«44
2.2.1.
Ensemble I: Betroffenheitskino der 1970er – Gastarbeiter_innenfilme45
Es ist bemerkenswert, dass gerade in der sehr konfliktreichen innenpolitischen Atmosphäre der 1960er und 1970er Jahre (RAF, 68er Bewegung), in der der Neue Deutsche Film zum Zwecke der Ablösung eines vermeintlich innovationslosen deutschen Mainstream- (vornehmlich Heimatfilme) und Politkinos hervorgebracht wurde46 , eine differenziert filmische Auseinandersetzung mit der türkischen Gastarbeiter_innenthematik kaum vorzufinden ist. Denn eigentlich zeichnet die Filmemacher_innen jener Zeit doch gerade aus, dass sie sich »sehr oft mit der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft aus der Sicht ihrer Opfer beschäftigten«47 . Die Filmemacher_innen thematisierten gesellschaftliche Missstände anhand von ästhetisch-explorativen Innovationen 43 Vgl. Alkın (2017c). 44 Alkın (2015a, S. 201f.). 45 Bei diesem Begriff verzichte ich auf den Gender-Gap, um die Kluft zur bestehenden kommunikativen Praxis an dieser Stelle geringer zu halten. Dabei sollen hier die Forschungsdesiderate auch auf soziologischer und historischer Ebene zur Erarbeitung des Feldes zur Gastarbeiter_innenschaft betont werden. 46 Brockmann (2010, S. 286f.), Ludewig (2014, S. 62f.). 47 Im Original: »very often engaged with contemporary German society from the point of view of its victims«, Clarke (2006, S. 2). Die für die Arbeit vorgenommenen Übersetzungen von Zitaten aus Originalquellen sind alle von Ö.A., sofern es nicht anders angegeben ist.
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
im Film. Ermöglicht wurde ihr künstlerisches Engagement durch ihr Bestehen auf einer staatlichen Filmförderung in Deutschland. Ob und wie zwischen dem soziopolitischen Anspruch der Filmeschaffenden des Neuen Deutschen Films und dem Themenfeld ›Gastarbeiter_innen‹ konkrete Berührungspunkte bestehen, bleibt bislang eine ungeklärte, filmkulturell jedoch wichtige Forschungsfrage. Die Problematisierung einer Filmgeschichte, die dem Offensichtlichen und Majoritären Vorschub leistet, und nicht genauer oder minimalistischer fragt, setzt sich die New Film History als Ziel. Paul Kusters skizziert eine solche anhand von binären Gegensatzpaaren zur ›klassischen‹ Filmhistoriographie. Damit erweitert er die bereits benannten Schwierigkeiten einer diachronen, werkhistorisch verfahrenden Filmgeschichte: Die folgende Untersuchung greift die Gegenüberstellung von ›Altem‹ und ›Neuem‹ auf, um den Revisionismus verstehbar zu machen. Die Begriffe ›wissenschaftlich‹ und ›nicht-wissenschaftlich‹ stehen dabei im Mittelpunkt. Zahlreiche Teilaspekte lassen sich unter diesen beiden Kategorien subsumieren: Makro- versus Mikrogeschichte, die Konzeption des Geschichtsverlaufs (linear versus nicht-linear), die Darstellungsweise (narrativ versus nicht-narrativ), die Quellenproblematik, great man theory versus Individuum im historischen Kontext. Es entsteht eine Reihe binärer Paare.48 Ein solches Verständnis filmhistorischer Arbeit, das nicht nur den Spuren einer bereits begangenen, diachronen, narrativen und sinnstiftenden Geschichte folgt, kann allerdings nur dann wirksam werden, wenn sie nicht nur als unsichtbarer ›Schatten‹ hinter den etablierten Filmchroniken im Sinne einer gewöhnlichen Filmgeschichtsschreibung verbleibt, sondern intervenierend zu den sich reproduzierenden Diskursen durch Gegenüberstellung und Ergänzung anderer Geschichten unmittelbar eine Gegengeschichte erzeugt. Solcher spezifizierenden und sicherlich erhellenden Untersuchungsfragen zum Trotz lässt die aktuelle wissenschaftliche Diskurrierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹ aufgrund eines repräsentationskritisch motivierten Gestus49 die 1960er rasch hinter sich.50 Jochen Neubauer argumentiert, dass die frühen Filme nicht auf Repräsentationen türkischer Gastarbeiter_innen fokussiert sind, sondern auf die Erzählung von 48 Kusters (1996, S. 41). 49 Mit Repräsentationskritik ist ein zumeist kulturwissenschaftlich motiviertes Programm gemeint, das auf der einen Seite das Konzept der Repräsentation in sein Untersuchungszentrum rückt und damit zumeist diskurstheoretisch an seinen Untersuchungsgegenständen im Sinne einer strukturalistischen Perspektive ansetzt, um darüber die Konstruiertheit der Welt herauszuarbeiten. In einem erweiterten Sinne impliziert das Konzept der Repräsentationskritik aber auch Ansätze, die sich dem Dekonstruktivismus und anderen poststrukturalistischen Überlegungen verpflichtet sehen. Genauer dazu siehe Figge (2016a). 50 Dass Fassbinder als einer der dezidiert Jungen Deutschen Filmer und wenigen sich mit der Gastarbeiterthematik auseinandersetzte, vermag sich auch darauf zurückführen lassen, dass er »[i]n Köln […] die beengten Wohnverhältnisse von Gastarbeitern, deren finanzielle Probleme und vor allem die Diskriminierung durch die deutsche Umgebung kennen[lernt] (ebda., p20) – Aspekte des ›Gastarbeiterproblems‹ also, die in der zeitgenössischen bundesdeutschen Presse keine, oder allenfalls eine marginale Rolle spielen«, Rings (2013 S. 5).
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Situationen einer Fremd- und Selbstzuschreibung zwischen deutschen und ausländischen Figuren.51 In diesen relativ frühen Filmen wie Toxi 52 oder Bis zum Ende aller Tage 53 habe der Kontakt der deutschen54 Charaktere beziehungsweise auch der Gesellschaft mit den Fremden oft die Funktion einer Gesellschaftskritik.55 Denn der Umgang der in den Filmen präsentierten meist deutschen Charaktere mit den ›Fremden‹ sei von Rassismus und Ausbeutung geprägt. Die ersten im Film gezeigten türkischen Gastarbeiter_innen tauchen Neubauer zufolge erst in der zweiten Hälfte der 1970er auf.56 Zu nennen sind hier der Film des Iraners Sohrab Shahid Saless’ In der Fremde 57 , Helma Sanders-Brahms Shirins Hochzeit sowie Peter Keglevics Zuhaus unter Fremden (1979)58 . Dass die Gesellschaftskritik einiger Filme allerdings an ihrem eigenen Ziel vorbeiläuft, behauptet Stefan Reinicke mit seiner Evaluation solcher Filme als Filme einer »projektiven Übermalung«59 . Damit meint er, dass durch die in den Filmen angelegte Kritik zu einer rassistischen oder fremdenfeindlichen deutschen Gesellschaft eine Form des politischen Selbstausschlusses aus dem fremdenfeindlichen Gesellschaftskreis seitens der Filmemacher_innen hergestellt wird. Wenn also die Regisseurin eines der ersten deutsch-türkischen Migrantinnendramas, Helma-Sanders-Brahms, über ihren Film Shirins Hochzeit sagt, dass »sie und ihre Protagonistin im Film Shirin Fremde in Deutschland sind«60 , dann stellt sie damit eine solidarische, links-feministische Identifikation mit ihrer Protagonistin und den repräsentierten Migrant_innen her. Dadurch kann sie sich aus dem Kreis einer patriarchalischen Souveränität ausschließen. Problematisch ist dies insofern wie sie die repräsentierten und identifizierten Subjekte als sprachlos vereinnahmt und darüber unterminiert. Die Narration des Films verdeutlicht diesen Zusammenhang: Die der Zwangsheirat in der Türkei durch eine Flucht nach Deutschland entkommene Shirin sucht in Köln nach ihrer arbeitsmigrierten Kindheitsliebe Mahmut. Dort landet sie aber aufgrund der kapitalistischen, sexuellen und fremdenfeindlichen Ausbeutung in den Händen eines deutschen Zuhälters. Zuvor verliert sie ihre Anstellung als Fabrikarbeiterin und wird in ihrer neuen Position als Reinigungskraft von einem Angestellten vergewaltigt. 51 Neubauer (2011). Neubauer folgt hier offensichtlich der Filmographie, die Göktürk, Gramling, Kaes und Langenhohl in Ihrer Herausgeberschaft angelegt haben: Göktürk et al. (2011). Berücksichtigt werden muss hierbei, dass dies keine besonders vollständige werkhistorische Filmographie darstellt (ohne dass Neubauer diesen Anspruch selbst formuliert). Neubauers historische Kontextualisierung des Betroffenheitskinos ist meiner Recherche nach trotzdem eine der umfassendsten. 52 Stemmle (1952). 53 Wirth (1961). 54 Auch österreichische Filme wurden zum Thema Fremdkontakt im Migrationskontext hergestellt, siehe zum Beispiel Ruf der Wälder (1965). 55 Neubauer (2011, S. 171). 56 Die Gastarbeiterthematik wird bereits 1968 in Peter Beauvais Fernsehfilm Der Unfall (1968) aufgegriffen. Darin wird die Geschichte eines fremdenfeindlichen Anschlags auf einen spanischen Gastarbeiter erzählt. 57 Shahid Saless (1973). 58 Keglevic (1979). 59 Reinecke (1995). 60 Reinecke (1995, S. 15).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
Weiter argumentieren repräsentationskritische Ansichten, dass in solchen erzählerischen Settings die Filmemacher_innen oft nur ihre eigenen Ängste danach verhandelten, als Teil der Oppressoren dazustehen.61 Die zu Opfern stilisierten, meist sprachlosen Migrant_innenfiguren dienten den Regisseur_innen damit dazu, gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen, und produzierten darüber eine spezifische »politische Positionierung«62 der Regisseur_innen jenseits einer Fremdenfeindlichkeit. Resultat sei dann, dass die gezeigten Migrant_innen weniger als ermächtigte Subjekte auftauchten, sondern aufgrund der unterminierenden Repräsentation als stumme Ausgebeutete. Annette Brauerhoch beschreibt das für Shirins Hochzeit, im Sinne eines repräsentationskritischen Ansatzes, anhand der »lacanistisch ausgerichteten Filmtheorie« über das Konzept von »discours« und »histoire«, einer psychoanalytischen Modulation der erzähltheoretischen Konstruktion Tzvetan Todorovs.63 In Lacans Modell bezeichne »discours« den Sprechakt der Filmfigur. Demgegenüber stehe »histoire« für den Sprechakt des auktorialen Erzählers, der in Sanders-Brahms der ausschließliche Modus der Erzählung sei. Brauerhoch kritisiert das Vorgehen der Filmemacherin, den Voice-Over der Figur Shirin mit ihrem eigenen Voice-Over zu ergänzen, als ein auktoriales Verfahren, das sich seiner repräsentierten Figuren ermächtigt. Denn nicht nur weiß die Erzählerin mehr oder versteht die Erzählerin mehr als die Figur Shirin: »Mit ihrer narratologischen Macht begibt sie sich in eine mütterliche Position zu ihr. Filmsprachlich jedoch stellt sie sie bloß.«64 Brauerhoch resümiert: Shirin hat in der Tat filmisch eine schwere Last zu tragen: das allgemeine, soziale Leid biologischer Frauen und das spezifisch nationale Glück wie Unglück türkischer Frauen zu repräsentieren. Dabei vollzieht die Filmemacherin an ihrer Figur noch einmal nach, was sie thematisch in ihrem Film kritisiert: die Ausbeutung und schlechte Behandlung ausländischer Arbeitnehmer. Die Form der Kolonialisierung, die diese Form der Arbeit gesellschaftlich darstellt, erstreckt sich im Rahmen des Films bezogen auf ihre Hauptfigur Shirin bis in deren Innenleben. Der Vorgang, der die Kolonisation auch bestimmt, die Enteignung von Geschichte, findet in ›Shirins Hochzeit‹ seine Verdoppelung. Wird von der Frauenbewegung die Geschichtslosigkeit von Frauen angeprangert, so reproduziert der Film in gewisser Weise genau das: Indem er Shirins spezifische, türkische Geschichte in das allgemeine Los von ›Frauenschicksal im Patriarchat‹ eingemeindet, macht er Geschichte zu Metaphysik.65 Um von diesen Einsichten in repräsentationskritische Überlegungen auf die Migrationsfilme der 1970er Jahre zu einer filmhistorischen Gesamteinschätzung zu kommen, kann man sagen: Es entstehen zu der Zeit vornehmlich Filme über Fremdheit. Als historisch-künstlerische Produkte, die in einer Zeit gesellschaftlicher Umbruchsstimmung und filmhistorischer Neuerungsprozesse entstanden sind, gehören sie einem hauptsächlich feministischen, kapitalismus- und fremdenfeindlichkeitskritischen Gestus der 61 62 63 64 65
Vgl. Reinecke (1995). Neubauer (2011, S. 174). Brauerhoch (1995, S. 109). Brauerhoch (1995, S. 113). Brauerhoch (1995, S. 115).
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Kulturschaffenden dieser Zeit an.66 Die Filme der 1970er Jahre zielen auf Gesellschaftskritik, da die Figuren der Gastarbeiter_innen hauptsächlich als leere Projektionsflächen auftauchen und in narrativen Figurationen gezeigt werden, deren Konflikte nicht intrakulturell, also zwischen Mitgliedern der eigenen kulturellen Herkunft entstehen, sondern extra-kulturell zwischen Mehrheitsgesellschaft und Emigrant_innen. Claudia Bulut, die zugleich die Fortsetzungslinie zur NS-Zeit als Triebkraft für die Filmemacher_innen der 1960er und 70er bedenkt, fasst das so zusammen: Als in den frühen 70ern eine sozialkritische und »randgruppenorientierte« Ideologie erwachte, wurde auch das Interesse an der medialen Darstellung der Fremden geweckt. Zwar gab es wenig Berührungspunkte mit den Fremden und von der Mehrzahl der Deutschen wurden sie als Bedrohung ihrer »kleinkarierten« Identität empfunden, doch die Regisseure, die um die Zeit des Zweiten Weltkrieges geboren und im geteilten Nachkriegsdeutschland aufgewachsen waren, beschäftigten sich mit alternativen Bildern und Gegenentwürfen und setzten sich intensiv mit sozialpolitischen Fragen auseinander. Es entstanden mehrere Filme wie Katzelmacher (R.W. Fassbinder, BRD 1969), Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1974), Emigration (Nino Jacusso, BRD/Schweiz 1978) und Das Boot ist voll (Markus Imhoff, Schweiz/BRD/Österreich 1978), die den »Gastarbeiter« in das Zentrum des Interesses rückten.67 An dieser Stelle werde ich den »projektiv übermalenden«68 Gastarbeiter_innenfilmen der 1970er Jahre ein ›Kino der kulturalisierenden Minorisierung‹ gegenüberstellen, das ich (Des-)Integrationskino nenne – ein Kino insbesondere der 1980er Jahre, das sich weg von der viktimisierenden Vereinnahmung von Gastarbeiter_innen-Subjekten hin zu filmischen Verhandlungen bewegt, die die türkisch-migrantische Kultur zuerst als rückständig herstellt und durch Auswegsnarrative für betroffene Subjekte kritisiert. Das ist eine Form der Kritik, die weniger Solidarität mit den Migrant_innen hervorruft als sie vielmehr als nicht zur Gesellschaft zugehörige Andere zuallererst herstellt und dadurch von einem deutschen/nicht-anderen ›Wir‹ ausgrenzt und sie so desintegriert. Mit dieser Differenzierung wird damit in der Reproduktion des Forschungsstands zugleich eine besondere historische Differenzierung geleistet, die im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs ansonsten ausgeblendet bleibt.69 66 Komplexere als rein viktimisierende Repräsentationen werden im Forschungsdiskurs zumeist in den Filmen Fassbinders ersehen, so zum Beispiel Reinecke (1995, S. 12), Hake und Mennel (2012, S. 6), Behrens (2005), Heidenreich (2015, S. 264-275). 67 Bulut (2000, S. 5). 68 Reinecke (1995). 69 Um zugleich auch die Unhaltbarkeit der im akademischen Diskurs unterstellten Repräsentationsdynamik an die Filme aufzuzeigen, wäre eine kurze Erörterung zum Konzept der Betroffenheit schon hinreichend, da sie es ermöglichte, die vermeintlich unterminierende Repräsentationspolitiken der Filme jener Jahre in ein produktives Licht zu rücken: Betroffenheit berührt beide Seiten: den, der von der Betroffenheit betroffen ist und den, gegen den sich diese Betroffenheit richtet. Wie viele der Empathienuancen (Mitleid, Mitgefühl et cetera) inhäriert auch Betroffenheit eine hegemoniale Struktur, da sie die beiden Lager des Zu-Sich-Stehens in eine Figuration bringt (sich gegenüber stehen), die beide räumlich voneinander getrennt voraussetzt, anordnet und meist die Betroffenheit empfindende Seite mit Souveränität auflädt (nicht immer, und das ist ein Schlüsselpunkt für die Diskussion um das ›deutsch-türkische Kino‹). Es braucht also ein Außen, auf das sich die Be-
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
Differenzierung des Betroffenheitskinos: Gastarbeiter_innenfilme (1970er) vs. (Des-)Integrationsfilme (1980er) Günter Wallraffs investigativ-journalistischer und auf seinem Buch basierender Dokumentarfilm unter der Regie von Jörg Gförer Günter Wallraff: Ganz Unten (1976)70 ist ein relativ später Marker in der filmischen Verhandlung von Themen deutsch-türkischer Migration aus einer Betroffenheitsperspektive. Verkleidet als der türkische Migrant Ali Levent Sinirlioğlu71 schleust er sich illegal bei den Thyssen Stahlwerken ein und zeigt die ausbeuterische Praxis innerhalb des Unternehmens gegenüber den dort beschäftigten migrantischen Arbeitern. Höhepunkt der Dokumentation ist die Episode über den deutschen Vorarbeiter, der auch nicht davor zurückschreckt, finanziell abhängige Arbeiter_innen illegal für einen von den Dokumentarfilmer_innen kreierten fiktiven, tödlichen, weil verstrahlenden Job in einem Atomkraftwerk einzusetzen. Über die konkreten gesundheitlichen Folgen klärt der Vorarbeiter die migrantischen Arbeiter_innen nicht aufgrund einer Vermittlungsprovision, die in Aussicht steht, nicht auf. Wallraff arbeitet damit einer Sichtbarmachung der Arbeitsumstände türkischer Arbeiter_innen zu und versucht so verstehbar zu machen, was in Deutschland vermutet, gewusst, aber anscheinend kaum öffentlich thematisiert wurde: dass die prekären, kolonialen Arbeitsverhältnisse aus der Anfangszeit der Arbeitsmigration72 noch fortdauerten. Ungeachtet der soziopolitischen Motivationen seiner Investigationen, bleibt er vor dem repräsentationskritischen Argument des minorisierenden und kulturelle Komplexität auslöschenden Gestus problematisierender Filme nicht gefeit: Wallraffs eigene schauspielerische Verkörperung eines Türken zeige diesen als »uneducated, unskilled, naïve and pitiful«73 und reproduziere die Minorisierung der Ausländer_innen in der gesellschaftlichen Imagination.
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troffenheit richten muss. Man empfindet Betroffenheit in der Sehnsucht nach einem gemeinsamen (sozialen) Raum, der ja die Reduktion der sozialen wie räumlichen Distanz bemüht. Betroffenheit kann man nur empfinden, wenn es um eine Bemühung nach Distanzreduktion zwischen mir und dem Anderen/das Andere geht. Betroffen kann man nur sein, wenn einen die Sache angeht, sie setzt also schon eine räumliche und soziale Mangeldistanz voraus, auch wenn Betroffenheit besonders dazu dient, gerade eine Distanz aufrecht zu erhalten. Wovon ich betroffen bin, habe ich abgewickelt und in meiner Ordnung als Ordnungselement aufgestellt. Schon diese Ausführungen erhellen, dass es sich bei Betroffenheit um ein komplexes Phänomen handelt, das trotz der in ihr angelegten Dynamik der einseitigen Souveränitätsaufladung soziale Bindungsbedingungen beinhaltet, die den Diskurs des deutschen Betroffenheitskinos maßgeblich prägen. Damit wäre schon ein Kritikpunkt an der sich weiter verzweigenden Wucherung des wirkmächtigen Betroffenheitsdiskurses benannt: Es betont nur die negative Seite des komplexen Betroffenheitsbegriffs und verschließt sich den Bindungsgefügen oder, etwas nüchterner formuliert, verschließt die komplexen Relationalitäten, die überhaupt erst zur Betroffenheit führen. Artikuliert soll eine komplexere Verhandlung des Betroffenheitskonzepts hier bleiben, um so einen Ausblick auf die Notwendigkeit der differenzierteren Auseinandersetzung auch schon mit diesen unterminierten Filmen zu geben, deren wissenschaftlich reduktive Beschäftigung sich im akademischen Diskurs zum ›deutsch-türkischen Kino‹ sich nach wie vor reproduziert. Gförer (1986). Übersetzt bedeutet der Name »der wütende Sohn«. Vgl. Ha (2003). Burns (2006, S. 127).
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Rob Burns nimmt ebenfalls die schon für Shirins Hochzeit beschriebene minorisierende Vereinnahmung türkischer Frauen auf und ordnet beide Filme dem kapitalismuskritischen Gestus eines Betroffenheitskinos zu, das damit von Sanders-Brahms Shirins Hochzeit bis hin zur Wallraff-Doku und auch darüber hinaus andauert.74 Wie allerdings vorher schon argumentiert, sehe ich keine strikte Fortsetzungslinie eines Betroffenheitskinos aus den 1970ern bis in die 80er Jahre, sondern würde durch die Berücksichtigung der filmischen Themen, die die ökonomische Ausbeutung der Gastarbeiter_innen fokussieren, von einem Gastarbeiter_innenfilm75 sprechen – ohne dabei die Behauptung aufstellen zu können, dass dieses keine Positionen der Betroffenheit bereithielte. Im Gegenteil: Auch die Filme der 1970er sind Betroffenheitsfilme insofern, wie sie eine Repräsentationsdynamik realisieren, die sich durch die Darstellung der Migrant_innen als Opfer auszeichnet. Allerdings scheint mir der Begriff ›Gastarbeiter_innen‹ hier angemessener zu sein, denn die in den Filmen gezeigten Figuren der 1970er werden auf ihre Existenz als Gastarbeiter_innen reduziert und die Darstellungen der entsprechenden Figuren offenbaren bis auf wenige Ausnahmen keinen permanenten Niederlassungs- und Anpassungswillen. Die Verwendung des euphemistischen Begriffs ›Gastarbeiter_innen‹ bleibt aus begriffspolitischer Sicht fragwürdig, fordert mit dieser provokanten Konnotation aber zugleich auch die rassialisierte Diskursgeschichte des Feldes auf. In diesem Sinne der bewussten Provokation ist die erwählte Begrifflichkeit zur Bezeichnung entsprechender Filmensembles zu verstehen. In der nachfolgend skizzierten Geschichte des Betroffenheitskinos der 1980er wird sich zeigen, dass in den Filmen dieser Dekade eine Thematik der kulturalisierenden Minorisierung vorherrschend ist, die vielmehr integrationspolitischen Ansprüchen als gesellschaftskritischen Zielsetzungen folgt. Die Wallraffs-Doku zeigt in diesem Kontext auf, dass das Thema ›Gastarbeiter_innen‹ auch in Filmen der 1980er Jahre wichtig bleibt. Die vorgeschlagene Differenzierung der Filmensembles entlang der beiden Dekaden berührt dies allerdings weniger. Denn zu unterscheiden sind die Betroffenheitsfilme weniger in ihrer tendenziell sozialrealistischen ästhetischen Gestaltung, die grundlegend für nahezu alle Betroffenheitsfilme ist. Entscheidender ist vielmehr die Thematisierung des Verhältnisses von erzähltem Grundkonflikt der Protagonist_innen und dem gesellschaftlichen Auftrag, der daraus abgeleitet werden kann: kapitalismus- und fremdheitskritische Filme der 1970er vs. integrationspolitisch motivierte, minorisierend kulturalisierende Filme der 1980er Jahre. Symbolisch kann man die hier vorgeschlagene Splittung des Betroffenheitskinos in Gastarbeiter_innenfilme der 1970er und (Des-)Integrationskino der 1980er Jahre, die ich argumentieren möchte, an zwei politisch bedeutsamen Entscheidungen festmachen: dem Anwerbestopp von 1973 und der Einführung einer Rückkehrprämie unter der Regierung Kohl in den 1980ern. Während das erste Ereignis für den sozioökonomischen Wandel in Deutschland, also der Sättigung des Bedarfs nach Arbeitskräften und damit für ein Ende einer »invers kolonialisierenden«76 gastarbeiterorientierten Arbeitsmarktpolitik steht, zeigt das Letztgenannte, dass politisch versucht wurde, dem offensichtlich werdenden Niederlassungswillen 74 Vgl. Burns (2006). 75 Siehe zum Beispiel Bruns (2012). 76 Ha (2003).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
der Emigrant_innen durch Auszahlung ihrer eingezahlten Rentenversicherungsbeiträge entgegenzuwirken77 – und dann, nach einer (un/bewussten) Anerkennung des Umstands von der Nicht-Rückkehr auf der Integration kulturfremder Ausländer_innen zu pochen.78 Ausführlicher verdeutlichen möchte ich die hier politisch begründete Differenzierung des Betroffenheitskinos weniger an einer soziohistorischen Verortung der Filme als an einem etwas extensiveren, ästhetisch argumentierenden Blick auf eine Videofilmproduktion, die als Vorgänger für einen der prototypischsten Filme des desintegrativen Betroffenheitskinos der 1980er gilt, nämlich Hark Bohms Yasemin: Das ist Eckhart Lottmanns und Hartmut Horsts Film Aufbrüche (1986).
2.2.2.
Ensemble II: Betroffenheitskino der 1980er – (Des)Integrationskino
Eckart Lottmans und Hartmut Horsts Aufbrüche Als die beiden Regisseure 1985 anfangen, an dem Drehbuch zu Aufbrüche zu schreiben, haben Eckart Lottmann und Hartmut Horst in Berlin Lehr- und Dokumentarvideos im Auftrag der damaligen Ausländerbeauftragte des Senats Berlin, Barbara John, produziert. Dieser Tätigkeit gingen die beiden im Kontext der Arbeit der Medienoperative Berlin e.V. (mob) nach, die Lottmann 1977 mitgründete. Sie entstand im Zuge auch andernorts (USA, Kanada) sich entwickelnder Video- und Medienbewegungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, eine »Gegen-Öffentlichkeit«79 zu den vom Profit orientierten Massenmedien zu etablieren: »Das Medium Fernsehen sollte entmystifiziert werden.«80 Erreichen wollten das die Videobewegungen durch die Transformation der Bürger_innen von alleinigen Medienrezipient_innen zu -produzent_innen und gelingen sollte dies durch die Gründung eben jener Medienzentren, die nicht nur die technischen, sondern auch die pädagogischen Ressourcen für die Bürger_innen zur Durchführung einer selbst-initiierten und thematisch eigenerwählten Berichterstattung anbieten sollten. Mit der Entstehung des Mediums Video waren nämlich Möglichkeiten einer operativen und kostengünstigen Medienproduktion81 möglich geworden. Durch die enge Beziehung zur türkischen Community in Westberlin konnten sie und andere Mitglieder des Vereins Videos herstellen, die den türkischen Migrant_innen Anleitungen zur Lebensbewältigung in der BRD geben sollten, beispielsweise zu Themen wie Aufenthaltsgenehmigung und Verkehrsregeln. Damit differenziert Lottmann die Medienoperative Berlin von den anderen Zentren besonders auch mit Blick auf die Kooperation mit der kommunalen Politik: 77 Der Arbeitgeberanteil verblieb dadurch bei Deutschland, Eryılmaz und Kocatürk-Schuster (2011, S. 39f.). 78 Eryılmaz und Kocatürk-Schuster (2011, S. 39ff.). 79 Hoofacker und Lokk (2011, S. 65). 80 Hoofacker und Lokk (2011, S. 65). 81 Videokameras waren größtenteils leichter und mobiler. Das Trägermaterial war günstiger und öfter bespielbar und bedurfte keiner aufwendigen Entwicklungstechnik. Videogeräte konnten im Gegensatz zu den Filmgeräten auch Aufnahme- und Abspielgeräte in einem sein, da man mit ihnen sich sofort das Aufgenommene über die interne Abspielfunktion oder vorerst noch über eine unmittelbare Anbindung an das Fernsehgerät anschauen konnte.
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Mitte der siebziger Jahre gründeten sich in Hamburg, Berlin und anderen Städten Medienkollektive, die als »Medienzentren« über vereinzelte Produktionen hinaus wollten. Sie verliehen Aufnahme- und Schnittgeräte, organisierten Videokurse, führten öffentlich Videofilme vor und verliehen sie auch. Die meisten dieser Medienzentren verstanden sich als politische Projekte (Fussnote) [Anmerkung E.L.]. Die MedienOperative Berlin, die drei Kollegen und ich 1977 gründeten, setzte von Anfang an einen anderen Akzent. Medienarbeit zu aktuellen Ereignissen war zwar auch bei der MedienOperative ein Schwerpunkt. Die Medienarbeit im sozialpädagogischen Bereich, in der Schule und im lokalen Umfeld waren [sic!] jedoch mindestens genau so wichtig. Während andere Videogruppen und Medienzentren betonten, keine mit öffentlichen Geldern finanzierte Projekte durchzuführen, um ihre politische Unabhängigkeit wahren zu können, nahm die MedienOperative projektweise Gelder von verschiedenen Berliner Senatsverwaltungen in Anspruch.82 Im Zuge dieser Videoarbeiten für Migrant_innen fielen den Videofilmer_innen insbesondere die Probleme junger türkischer Migrantinnen auf, die sich dadurch, dass sie »zwischen zwei Kulturen«83 aufwuchsen, – familiär in der traditionsbehafteten türkischen Kultur und außerfamiliär in der deutschen Gesellschaft – Identitätsproblemen ausgesetzt sahen. Allerdings fehlte den Filmemacher_innen der Medienoperative der Zugang zu den türkischen Familien: »[Sie] war[en] wiederholt auf Schwierigkeiten gestoßen, einen Dokumentarfilm über die Situation türkischer Mädchen in Berlin zu drehen. Es scheiterte oft am fehlenden Einverständnis der Eltern«84 . Die Videofilmer_innen sahen sich so gezwungen, die für sie wichtige Thematik einer identitätsproblematischen Verhandlung einer weiblich-restriktiven familiären Erziehung in einem fiktionalen Format wiederzugeben. Bevor letztendlich Lottmann und Horst den hier vorzustellenden Videospielfilm Aufbrüche filmten, hatte der Erstgenannte gemeinsam mit Burkhard Voiges den 60-minütigen Videofilm Am Rand der Träume produziert, ebenfalls im Rahmen der Tätigkeiten der Medienoperative und mit Hilfe von Barbara John, die den insgesamt 150.000 DM teuren Videofilm mit 90.000 DM mitfinanzierte.85 Am Rand der Träume zeigt die Situation in einer türkischen Familie und die soziale Unterdrückung der Tochter Gül durch den Familienvater und endet, als sie von der drohenden Zwangsverheiratung erfährt, mit ihrem Entschluss, die Familie zu verlassen. Ein Jahr später, 1986, durften Lottmann und Horst, erneut mit finanzieller Hilfe von 250.000 DM durch John, schließlich den ersten fiktionalen Videofilm in Spielfilmlänge der Medienoperative realisieren. Aufbrüche beginnt, obwohl nicht als Fortsetzung von Am Rand der Träume angelegt, genau dort, wo der Letztgenannte aufhört: mit der Flucht eines türkischen Migrant_innenmädchens aus ihrem elterlichen Zuhause. Die siebzehnjährige Esma Köroğlu bleibt nach ihrer Flucht aus ihrem Zuhause im Jugendheim. Obgleich sie zunächst von der Gruppe dort geschmäht wird, findet sie schließlich schnell Zugang zur deutschen Melanie, zu der sich rasch eine Freundschaft entwickelt. Zwischenzeitlich erfährt Esmas Vater Kemal (Tuncel Kurtiz) von der Flucht 82 83 84 85
Lottmann 2015. Lottmann (05.02.2015). Brockschmidt (17.03.1985). Brockschmidt (17.03.1985).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
seiner Tochter. Dieser Umstand ›macht ihm einen Strich durch die Rechnung‹, denn der Sohn eines Familienfreunds aus der Türkei hält um ihre Hand an und Kemal ist der Vermählung der beiden sehr zugeneigt. Noch am selben Tag entschließt er sich, Esma mit dem Auto in der Stadt zu suchen. Als er hört, dass seine Tochter in einem Heim untergebracht ist, bleibt der Beamte im Jugendamt auch nach ausgiebigen Überzeugungsund Erklärungsversuchen Kemals hartnäckig: Esmas genauer Aufenthaltsort wird nicht bekannt gegeben und sie muss nicht nach Hause zurück. Kemal versucht Wege zu finden, Esma wieder nach Hause zu holen. Währenddessen leidet das Eheleben daheim, da Kemal seine Ehefrau und deren aufgeschlossenen Bruder und Anwalt Ahmet für die selbstemanzipatorischen Verhaltensweisen seiner Tochter verantwortlich macht. Esma findet derweil Zugang zu den anderen Bewohnerinnen des Heims und versucht, eine Karriere als Photographin zu beginnen. Ihre Freundin Melanie hilft ihr dabei, indem sie sie in einem Photostudio als Mitarbeiterin unterbringen kann. Gleichzeitig lernt Esma den dort arbeitenden Deutschen Jan kennen. Beide entwickeln Zuneigung füreinander. Der Druck auf Vater Kemal wächst zusehends, denn er kann die um Esmas Hand anhaltende Familie nicht mehr mit Lügen nach Esmas Krankheit im Zaum halten. Beim Amtsgericht verzeichnet Kemal einen ersten Erfolg: Das Gericht spricht den Eltern das Sorgerecht zu, Esma muss heimkehren. Noch bevor die Berufungsfrist für die richterliche Entscheidung abläuft, wird Esma allerdings kurze Zeit später durch ihren Bruder entführt. Sie wird zur Familie eines anderen künftigen Bräutigams gebracht. Es ist Esmas Cousin Mehmet. Doch Esma schafft es erneut zu fliehen. Letztendlich resigniert Esmas Vater, nachdem er auch noch vom Boxverein gezwungen wird, sein lange antrainiertes junges Boxtalent und seine Position im Verein aufzugeben. Er flüchtet sich in Alkohol. Zwar zerbricht Esmas Beziehung zu Jan, nachdem dieser wenig übrig für ihre kulturelle Interessen am Türkischen hat, doch findet demgegenüber auf dem Wochenmarkt eine erste Annäherung zwischen Esma und ihrer Mutter statt. Und auch Esmas Vater sucht Trost beim Schwager Ahmet und zeigt Reue über sein Verhalten gegenüber der Tochter. Ob und wie es für alle Beteiligten weitergeht, lässt der Film offen. Die vorletzte Szene setzt eine symbolische Geste im Hinblick auf die Zukunft der Protagonistin: Esma stellt sich während ihrer Arbeit im Photostudio neben die Büste einer jungen Frau. Dann nimmt sie den Fernauslöser in die Hand, blickt selbstbewusst in die Leere und photographiert sich (Abb. 5.4): Esma hat die Verfügungsmacht über ihre eigene Repräsentation erlangt. Die dem Film zugrunde liegende Konzeption eines aufklärerischen Gestus, den ich nachher als Strategie der Betroffenheit vorstellen werde, wird bereits in der Einstiegssequenz nachvollziehbar. Die nachfolgende Analyse dieser Einstiegssequenz wird an den filmästhetischen Gestaltungsweisen des Films die visuelle Konstruktion einer Betroffenheitsperspektive herausstellen, die die gezeigte Figur als Opfer herzustellen sucht. Zugleich hilft sie zu argumentieren, dass die Filme der 1980er Jahre Produktionen eines (Des)Integrations- statt eines Gastarbeiter_innenkinos sind.
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Einstiegsszene in Aufbrüche86 Die filmische Konstruktion der Eingangsszene hat zum Ziel, ein Bedrohlichkeitsszenario zu entwerfen, in dem eine junge Frau auf einem öffentlichen Platz ängstlich um sich blickt. Die Szene liefert dabei keine Begründung für die Bedrohlichkeit der Umwelt, die am ehesten durch den Einsatz von Musik und der filmischen Blickkonstruktion zwischen Kamera und Figurblick als solche entsteht. Esma blickt um sich, in den offscreen space und schreitet nur mit langsamen Gang und an ihre Tasche geklammert voran (→ siehe Filmszene, Abb. 5.1). Weil der Film mit einer solchen Szene einsetzt, der eine junge als türkisch anzunehmende Frau als verängstigt zeigt, produziert er bereits eine Verschränkung von Atmosphärenproduktion der Unbehaglichkeit und der konnotativen Dimension ›ausländischer Frauen‹: Migrant_innen im öffentlichen Raum sind verängstigte Subjekte in einer für sie stets als bedrohlich erscheinenden Umwelt. Weil diese Szene unkontextualisiert einsetzt, ohne genau das Ziel des Wegs der jungen Frau zu vermitteln, stellt sich die sinnhafte Einordnung der Szene als solche der Produktion einer von ihrer türkischen Familie aus Ehrenkodexgründen bedrohten Existenz erst nachträglich ein. Doch in ihrer schon im Vorfeld emotional rahmenden Hergestelltheit, verknüpft sie die konnotative Ebene mit jener spezifischen emotionalen Qualität einer Bedrohlichkeit und Dissonanz (hier besonders die Musik). Ein statischer, das blaue Treppengeländer des Bahnhofs »Zoologischer Garten« fokussierender, halbnaher und die junge türkische Protagonistin dann von vorne filmender tracking shot zeigt die Ausreißerin mit übergroßer und mit beiden Händen fest umklammerter Umhängetasche dabei, wie sie die Treppen des U-Bahnhofs ›Zoologischer Garten‹ hervorkommt. Esma blickt um sich, als trete sie in eine ihr unbekannte Welt ein. Eine aus psychedelischen, disharmonisch wirkenden Piano-Tonfolgen und EBassimprovisationen bestehende Jazzmusik des Filmkomponisten Tayfun Erdem, die durch ungedämpfte Hi-Hats, rar gesetzte Beckenschläge und metallene Schlagklänge ergänzt wird, produziert ein negatives mood. Die Kamera verfolgt nun Esmas Gang über den Platz am Zoologischen Garten in halb-naher Einstellungsgröße und von vorne zeigend. Während zu Beginn noch niemand zu sehen war, als Esma die U-Bahntreppe hinaufgekommen ist, tauchen plötzlich nach ihren ersten Schritten zahlreiche Menschen auf dem Platz auf, den sie mit Nachdenklichkeit vermittelnder Miene durchschreitet. Zwar kümmern sich die Menschen kaum um Esma und es ist helllichter Tag, doch werfen die den Platz umrahmenden hohen Gebäude dunkle Schatten auf Esmas Gestalt und den Platz, sodass die Helligkeit der Szene reduziert und die Stimmung der Protagonistin auch auf der Lichtebene deutlich bleibt (Abb. 5.2). Allein durch die Auswahl der Musikinstrumente der Filmmusik zeigt sich, dass der Film trotz der türkischen Herkunft des Komponisten keine türkische Musik bemüht, sondern auf die Erzeugung eines unbehaglichen mood aus ist und funktional bleibt. Der Film etabliert mit immer schneller werdenden Pianoklängen und tiefen, unnachgiebigen Bassklängen eine Anspannung, die – nachdem Esma mehrere Schritte über den Platz gegangen ist – auch das mit Posaunen gespielte musikalische Leitmotiv mit Beckenschlägen einführt. Die Musik arbeitet auch als Dramatisierungsmittel, das die schwierige Situation 86 Sämtliche Szenenhinweise (siehe →-Zeichen) können mit dem Passwort emigration auf meiner Website betrachtet werden: www.oemeralkin.de/emigrationskino.
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Esmas atmosphärisch vermitteln soll. Dadurch, dass die Kamera ihrem langsamen, nahezu schon abtastenden Gehen folgt, mutiert ihr Gehen zu einem Erkundungsgang in einer ihr fremd oder nicht heimisch erscheinenden Umwelt.
Abbildung 5.1-4 – Standbilder aus Aufbrüche (1985)
Die Mise en Scène und die Musik im Film sind in meiner Lesart auf die Produktion einer Atmosphäre der Unbehaglichkeit angelegt, die die innere Verfasstheit der dargestellten Protagonistin wahrnehmbar zu machen suchen: Die Anordnung von Esmas Körper im Verhältnis zum sie umgebenden weiten Bahnhofsplatz, der große Schatten, der sich über den gesamten Platz legt und damit die Szenerie verdunkelt und die schauspielerische Anlage einer Nachdenklichkeit vermittelnden Mimik kommunizieren eine Atmosphäre, die das Unwohlsein der gezeigten Filmfigur visuell und musikalisch zu vermitteln versucht. Esmas Hervortreten an den U-Bahn-Treppen produziert in seiner Gehrichtung von unten nach oben spezifische Deutungszusammenhänge, die die genannte Lesart einer Konstruktion einer Atmosphäre des Unbehagens weiter nahelegen. Esma kommt aus den räumlich begrenzten Gängen der Untergrundbahn auf den nach oben und in die Weite hin nahezu unbegrenzt geöffneten Platz am Zoologischen Garten. Esma wird dann auch noch durch einen reverse tracking shot von vorne begleitet, denn Rückwärtsfahrten werden hauptsächlich im Film genutzt, »um den Raum zu ›öffnen‹: Die Kamera fokussiert etwas und enthüllt den Kontext, indem sich durch eine Rückwärtsfahrt die Einstellungsgröße verändert«87 . Dadurch legen sich Lesarten der Szene nahe, die Esmas Ortsbewegung von unten nach oben sinnbildlich mit ihrer Emanzipationsentscheidung kurzschließen. Durch das Einstiegsbild verknüpft sich in einer nachträglichen Perspektive auf die Szene die filmräumliche Figuration zu einem Deutungsbild, das nicht mehr sichtbaren, räumlich begrenzten Untergrundraum des U-Bahnhofs mit den beengenden räumlich-sozialen Verhältnissen Esmas vor ihrem Auszug aus ihrem Hause deutbar lässt. Dennoch bleibt auch der physisch offene Raum des Platzes in der Kadrage des Bildes begrenzt, da Esma in Relation zum Bildausschnitt stets gleich groß und die Umgebung auf die Gebäude beschränkt bleibt. Der Himmel ist nicht zu sehen und durch die Kadrierung wird die die räumliche Offenheit des Himmels über dem begangenen Platz gekappt. Das bietet kaum Möglichkeiten, den offscreen space88 des Architekturraums als offen zu denken. Interessant bleibt unter Berücksichtigung des tracking shots die Bewegung einer Gruppe von Menschen, die parallel zur Tracking-Geschwindigkeit der Kamera im Hintergrund läuft. Die links 87 Khouloki (2009, S. 121). 88 Siehe die sechs-facettige Konzeption der filmischen Off-Räume in Burch (1981, S. 17f.); hier ist es die zweite Facette.
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im Bild auftauchenden und mit Esmas Gang dann zurückbleibenden Bäume und Laternen strukturieren hierbei die räumliche Tiefe des Architekturraums89 und machen die räumliche Distanz zum Hintergrund und dem bogenartigen Gehweg der Protagonisten wahrnehmbar(er). In der Szene bei ihrem Gang durch den Park, die Esmas bei ihrer zweiten Flucht zeigt, füllt sich der offscreen space (Abb. 5.3) mit der möglichen Bedrohung der erneuten Gefangennahme durch ihre Familie. Die Einstiegsszene, in der der offscreen space noch unbestimmte Bedrohung war, hat sich in jener Szene mit dem potentiellen Einbrechen der patriarchalischen Gewalt angereichert. Raum, Betroffenheit, (Des)Integration In Aufbrüche verknüpfen sich auch im weiteren Fortgang derartige Raumfigurationen des Architekturraums, die die sozialen Verhältnisse auf einer Ebene der Raumkonfigurationen doppeln. Solche spezifischen Raumfigurationen zeigen sich als zentral zu untersuchende Figuration90 in der Geschichte des frühen ›deutsch-türkischen Films‹ der 1980er Jahre. Wie die meisten dieser Filme offeriert der Film seinen Zuschauer_innen eine Position der Betroffenheit, also die Anteilnahme an der schwierigen Existenz entheimatlicht figurierter Migrant_innen, was derartigen Filmen durch Rob Burns den Begriff ›Betroffenheitskino‹ (englisch »Cinema of the Affected«) einbrachte – ein Begriff, den Burns dem Begriff ›Betroffenheitsliteratur‹ entlehnt, der in literaturwissenschaftlichen Kontexten für die Gastarbeiterliteratur der ersten Jahre Verwendung findet: This is my term for the typically miserabilist representations of the migrant experience as found in the work of New German Cinema directors such as Helma Sanders-Brahms and Hark Bohm and in the feature films of the first-Generation Turkish-German filmmaker Tevfik Baser (Burns 2006: 133).91 In dieses vielzitierte Korpus der drei Filmemacher_innen, die im Zitat genannt werden, müssen noch weitere Filme integriert werden, zum Beispiel der hier analysierte Aufbrüche sowie İsmet Elçis ebenfalls selten erwähnter Düğün (»Hochzeit«) (1990)92 . Das letztgenannte Drama gehört zu einem der wenigen Filme, der nicht nur eine Frau als Opfer einer türkischen patriarchalischen Unterdrückung inszeniert, sondern einen Mann: Der in Deutschland sozialisierte Sohn muss sich aus Gründen der Landvereinigung mit einer aus dem Dorf stammenden Frau verheiraten. Weil dieser sich weigert, begegnet der Vater seinem Sohn mit Unverständnis, Manipulation und Gewalt. Das Patriarchat in der türkischen Kultur wäre demnach ein Machtsystem, dessen Mechanismen der Machtausstattung zwar ausschließlich den Männern vorbehalten ist, sich aber erst mit einem generationell gespeisten Legitimationszusammenhang als funktional herausstellt: (Groß-)Väter gegen Kinder und Enkel. Damit wären die auf das Betroffenheitskino gerichteten Zuschreibungen, dass es vornehmlich das patriarchalische 89 Ich berufe mich hier auf Eric Rohmers Raumkonzeptionen aus seiner Dissertation zu »Murnaus Faustfilm« (1980). Der Architekturraum, ist derjenige Raum, den der Filmemacher als architektonisch vorliegenden Raum zur Erzeugung des Filmbildes nutzen kann. Das entspricht auch dem Konzept des Profilmischen, vgl. Kessler. 90 Vgl. Mennel (2010). 91 Burns (2009, S. 12, Randnote 2). 92 Elçi (1990).
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Normensetting der türkischen Kultur gegenüber den Frauen zeige, nicht haltbar. Es ist also auch interessant, die Narrationen als Erzählungen über Generationenkonflikte zu lesen, wohingegen gerade Başers 40m² Deutschland und Abschied vom falschen Paradies ein im Rahmen einer Ehe stattfindendes Patriarchat und weniger ein generationelles zeigen. Dass es gerade Tevfik Başer ist, der als eine_r der einzigen Filmemacher_innen auch mit einer türkischen Sozialisation weniger den Generationenkonflikt als vielmehr das Patriarchat innerhalb einer ehelichen Beziehung filmisch inszeniert, bleibt ein bemerkenswertes Verhältnis. Die Repräsentationspolitik des Films ist noch in seine Produktionsgeschichte eingeschrieben. Die Filmemacher_innen werden durch staatliche Unterstützung zur Realisierung eines solchen Films angeleitet beziehungsweise mindestens dabei unterstützt, einen ebensolchen Film zu drehen, der die Viktimisiertheit der repräsentierten türkischen Migrant_innen zuallererst voraussetzt. Es bleibt offen, inwieweit mit der Verwirklichung solcher Filme, migrantische Familien zu offeneren Lebens- und Sozialisierungsweisen bewegt wurden oder betroffene Frauen durch den Film den Mut gewonnen haben, ihre eigenen Interessen gegenüber einer oppressiven Familie durchzusetzen. Indem der Film aber eine Problematik entwirft, in der schon feststeht, welche Lebensführungsweisen (liberale, emanzipierte, geschlechter-gleichberechtigte) wünschenswert und welche unerwünscht sind, begibt sich der Film in eine paternalistische Haltung.93 Auf der einen Seite finden sich die Filme der 1970er, die eine Gastarbeiter_innenexistenz als Leidexistenz verhandelten, so wie zum Beispiel Sanders-Brahms Shirins Hochzeit. Sie entwirft ihre Protagonistin als stummes Opfer einer von männlicher Gewalt und kapitalistischer Ausbeutung dominierten Welt, in der es weniger um Anpassunsgnotwendigkeiten der Akteur_innen als vielmehr um die Solidarisierung mit ihrer Position geht. Auf der anderen Seite finden sich Filme wie Aufbrüche und Yasemin, die vielmehr auf die Emanzipation der Mädchen und Frauen in rückschrittlichen türkischen/migrantischen Familien zielen, indem sie genau jene Emanzipation als Narration verhandeln. Eine derartige Vorgehensweise, die darauf zielt, kulturell schwierig verhandelbare Matrizes in Frage zu stellen, proliferiert aufgrund des darin impliziten kulturellen Überheblichkeitshabitus vielmehr Desidentifikation für all jene Zuschauer_innen, die im Film als solche Betroffene angerufen sind: Erst auf der Grundlage der Andersheit der Repräsentierten wird eine Differenz zwischen ›wir‹ (Deutsche) und ihr (Türk_innen) etabliert, die zugleich das ›ihr‹ auf repräsentationslogischer Ebene abwertet. Aufgrund dieses Interventionscharakters in eine als different angenommene migrantisch-patriarchalische Kultur sind diese integrationspolitisch motivierten Filme von den Gastarbeiter_innenfilmen der 1970er Jahre zu differenzieren, die vielmehr die Probleme der Migrant_innen als kapitalistisch und von Fremdheit unterdrückte Existenzen anlegen. Die Filme der 1980er entwerfen vornehmlich eine eurozentrische Überlegenheitsphantasie und zielen auf die Sichtbarmachung einer solchen Emanzipation von Mi93 Dabei besteht schon seit den 1960ern im türkischen Kino eine Filmkultur der Geschlechteremanzipation, die auch zum kulturellen Gedächtnis der ersten und zweiten Generation türkischer Migrant_innen gehört, siehe Kapitel 3.
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grantinnen, die die zuschauenden Migrant_innen zur eigenen Emanzipation motivieren und die Übertragung der Verhältnisse auf ihre eigenen Lebenszusammenhänge leisten sollen. Fragen nach ökonomischer Ausbeutung der Gastarbeiter_innen tauchen in Aufbrüche kaum auf.94 Stattdessen eint die geldgebenden und herstellenden Akteur_innen der Wunsch nach einer Darstellung der widrigen Lebensumstände junger Migrant_innen in Deutschland. Die Filme der 1970er Jahre fokussieren gesellschaftliche und teilweise auch ökonomische Missstände in Deutschland über Thematisierungen von Fremdheit im Horizont einer globalen und linken Solidarität. Das narrative Setting von Aufbrüche hingegen zeigt die Widrigkeiten im Umgang mit der Zwangsverheiratung im deutschen gesellschaftlichen Kontext auf und solidarisiert sich mit denjenigen Migrant_innen, die sich einer solchen Verheiratung entziehen wollen. Zugleich stellt der Film hierfür die türkische Familie als patriarchale soziale Struktur dar, in der der Ehefrau nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen ist. Dass solche Erzählungen wie in Aufbrüche und Yasemin so auch erst in den 1980er Jahren entstehen können, lässt sich darauf zurückführen, dass in jenem Jahrzehnt generell ein Fokus auf integrationspolitische Fragestellungen gelenkt wird, die in den 1970ern in der Annahme zurückkehrender Emigranten noch nicht vollends als solche sichtbar waren. Damit lässt sich in den Betroffenheitsfilmen der 1980er Jahre eine differente Dynamik wiederfinden, für die ich den Begriff der minorisierenden Kulturalisierung verwenden möchte. Was ich damit meine, zeigt sich im Verhältnis von filmischem Raum und Betroffenheitskino insbesondere an 40m² Deutschland von Tevfik Başer, der nach wie vor als Prototyp des Betroffenheitskinos gilt95 und der auch im öffentlichen Diskurs größte Bekanntheit genießt. Daniela Berghahn charakterisiert die beiden Filme Başers so: Başer’s best-known features Vierzig Quadratmeter Deutschland/Forty Square Metres of Germany (1986) and Abschied vom falschen Paradies/Farewell to a False Paradise (1989) are sombre, claustrophobic depictions of the plight of Turkish women, suffering from the oppression under Muslim patriarchy while living in Germany.96 Die Verhältnisse des Bildraums und des Architekturraums in Başers Ehedrama sind komplex und intensiv aufeinander bezogen, die 40m² große Wohnung des türkischen Emigrantenehepaars Turna und Dursun, in der sich die meiste Zeit des Films abspielt, also je spezifisch an den Filmraum geknüpft. Arbeitsemigrant Dursun ist nach Deutschland migriert und heiratet die fast zwanzig Jahre jüngere Turna in der Türkei, um zusammen mit ihr in Deutschland zu leben. Dort angekommen sperrt er sie in die Wohnung und entlässt sie nicht in die seiner Meinung nach verwerfliche, bedrohliche und unberechenbare deutsche Außenwelt, auch wenn er Turna mehrmals verspricht, sie auszuführen. Der generell in dunklen Szenen erzählende Film konstruiert eine klaustrophobische Atmosphäre und proklamiert in seinen ästhetischen Strategien eine 94 Als der Vater der Protagonistin beispielsweise dem Mitarbeiter des Jugendamts sagt, dass er immer gearbeitet und getan habe, was die Deutschen von ihm wollten, findet sich darin ein Hinweis auf die oftmals typische devote Haltung der ersten Generation der türkischen Arbeitsemigrant_innen während ihrer Arbeitszeit in Deutschland. 95 . 96 Berghahn (2006, S. 142).
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Kulturhomogenität voraussetzende kulturelle Differenz zwischen deutscher/westlicher und türkischer Kultur. Die Protagonistin wird als fremdes Subjekt einer wiederum für sie fremden Umwelt gezeigt, in der die vom Ehemann vorgegebenen Strukturen die migrantische Kultur als patriarchalische und von Angst nach Identitätsverlust besetzte entwerfen.97 Özkan Ezli erkennt auch in Başers zweitem Film Abschied vom falschen Paradies (1989) eine Verknüpfung ästhetischer Strategien mit der kommunikativen Absicht des Regisseurs98 , eine generelle Kulturverschiedenheit zwischen Deutschem und Türkischem zu konstruieren sowie zu repräsentieren. Hierbei richtet sich Ezlis Aufmerksamkeit auf die im Film dargestellte Wandlung der türkischen Protagonistin Elif, die ihren gewalttätigen Ehemann tötet und wegen Totschlags im Gefängnis landet. Dort legt Elif nun Stück für Stück […] ihre anatolische Kleidung ab. Zuerst verschwindet das Kopftuch dann folgt ein Abendkleid, das sie für das erste Treffen mit dem einen unbekannten Geliebten aus dem Männertrakt trägt, und schließlich sehen wir Elif nur noch mit Jeans und Bluse. […] und für den Zuschauer wird klar, dass damit eine Steigerung ihres Selbstbewusstseins einhergehen muss. Elif will Busfahrerin werden und damit verbunden sind die Konnotationen von Emanzipation, moderner Subjektivität und Integration. Hier läuft der Motor westeuropäischer Aufklärung.99 Beide Filme Başers legen in ihrer Narration also eine weibliche Protagonistin an, deren Handlungsfähigkeit durch den patriarchalisch geprägten Sozialraum begrenzt ist. Im Ersteren fällt die Begrenzung des Handlungsraums durch das Patriarchat mit dem physischen Handlungsraum zusammen. Im Letzteren schafft gerade die Begrenzung des physischen Handlungsraums Schutz vor dem Patriarchat und damit einen erweiterten Sozial- und Handlungsraum. Während in 40m² Deutschland die Begrenzung des physischen und des sozialen Handlungsraums durch das Patriarchat des Ehemannes gewährleistet wird, der sie einsperrt und für seine Bedürfnisse (sexuell, hauswirtschaftlich) ausnutzt, konfiguriert der spätere Film die Verhältnisse von sozialem und physischem Raum auf inverse Weise. Nachdem die Protagonistin in Başers zweitem Film, Elif, ihren Mann getötet hat, engt das Gefängnis ihre Handlungsfähigkeit durch die Begrenzung des physischen Handlungsraums ein, aber ihr Sozialraum bleibt erweitert. Denn das Gefängnis verhindert die Einflussnahme durch die türkischen Männer, die es sonst bestimmten. Dass in dieses Verhältnis von Sozial-, Handlungs- und physischem Raum auch noch der psychische Raum zu berücksichtigen ist, zeigt Naficys Analyse von 40m² Deutschland: Throughout the film, she [Turna] unwillingly acquiesces to her husband’s sexual demands, grimacing with pain, shame, or disgust. She also fights him by withdrawing from him emotionally and psychologically: she unwillingly reduces her conversations with him and refuses even to look at him directly. In the meantime, she works hard, 97 Vgl. Alkın (2015a, S. 194f.). 98 Ezli entnimmt sie nicht nur filmanalytisch, sondern auch aus Interviewaussagen von Başer selbst, siehe Ezli (2009, S. 213). 99 Ezli (2009, S. 212).
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washing clothes, cooking, and cleaning. These strategies of denial and aversion and her constant labor reduce her space considerably. By so doing, she is both ›behaving herself‹ by overcompensation and embodying her protest against her husband’s oppression. The result is that she is trapped and powerless. She possesses neither forty square meters of Germany nor forty square meters in Germany. All she owns is the space of her own body, her warm memories of her childhood home, and the suitcase and the ethnic niche in the apartment that contain Turkish clothing, objects, and souvenirs.100 Ganz im Sinne feministischer Repräsentationskritik ordnet Ezli nun die Filme Başers einer Inszenierungshaltung zu, die er einer »Logik der Repräsentation«101 folgend evaluiert. Sie stelle essentialistische und kulturalisierende Entwürfe her: Seine Filme [Başers, Ö.A.] zielen daher auf Vermittlung, deren Grundlage eine Trennung von ›türkischer‹ und ›deutscher‹ Lebenskultur voraussetzt. Sie implizieren trotz ihrer künstlerisch sehr gelungenen Darstellungen von Einsamkeit und Verlorenheit ihrer Protagonisten eine Logik der Repräsentation dieser Kulturen in Form von Kleidung, Sprache etc., die versucht, allgemein die emotionalen Erfahrungen der türkischen Migranten der ersten Generation darzustellen. Seine Protagonisten sind Kollektivsubjekte, deren Grenzen mit einem Kultursystem zusammenfallen. Kultur wird hier homogen und normativ aufgefasst und interessanterweise gerade durch die Bestimmung und den repräsentativen Gebrauch einer ›deutschen‹, die den Diskurs der Aufklärung darstellt, und einer als rückständig dargestellten türkischen Kultur.102 Eine solche »Logik der Repräsentation« in den Filmen spiegelt, so Göktürk, bestimmte Vorannahmen der Filmemacher_innen und der sie Fördernden wider, die der gelebten Realität der Migrant_innen in Deutschland gegenüber nicht vertretbar seien: Um der Förderung teilhaftig zu werden, reproduzierten in Deutschland lebende Autor/innen und Regisseur/innen ausländischer Herkunft in ihren Drehbüchern und Filmen häufig Klischees über die ›eigene‹ Kultur und deren archaische Sitten und Bräuche. Wer aus der Türkei stammte und in Deutschland Filme machen wollte, hatte lange Zeit nur Chancen mit einem Drehbuch, das von der Unterdrückung rückständiger Landbevölkerung handelte.103 Auch in Aufbrüche finden wir die gegenseitige Bezugnahme von Filmförderung und der Filmemacher_innen aus einer Haltung des Verantwortungsbewusstseins wieder. Die Grundidee zu Aufbrüche geht nicht nur aus einem journalistisch motivierten Dokumentarfilmethos der Filmemacher_innen hervor und ist auch nicht nur im politischen Auftrag der Medienoperative selbst angelegt. Vielmehr ermöglicht Barbara John als Ausländerbeauftragte des Senats Berlin und damit der Staat selbst erst die 100 Naficy (2001, S. 193f.). 101 Ezli (2009, S. 213). 102 Ezli (2009, S. 213). 103 Göktürk (2000, S. 333).
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Realisierung eines solchen Films. Auch Aufbrüche ist damit einem »cinema of duty«104 zuzurechnen: ein Begriff, den Göktürk für das Betroffenheitskino aus dem britischen Kontext in den deutschen überträgt105 . Damit charakterisiert sie derartige Filme als solche, die weniger aus einer ästhetischen Prämisse des Sozialrealismus heraus entstehen, als vielmehr aus einer Motivation politischer Verantwortung, das gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen versucht. Das Defizit derartiger Vorhaben besteht aber gerade darin, dass sie eine kulturalisierende Minorisierung erzwingen. Doch dabei klären die Filme weniger über kulturelle Differenzen auf, als dass sie diese vielmehr als unversöhnlich voraussetzen und damit reproduzieren. Johanna Schaffer zeigt dies aus einer Perspektive der Repräsentationskritik auf. Sie untersucht die Repräsentation türkischer Frauen im ›deutsch-türkischen Film‹. Dabei bezieht sie sich in ihrer Analyse auf drei Filme: Yılmaz Arslans Yara (»Seelenschmerz«) (1999)106 , Bohms Yasemin sowie Yüksel Yavuz’ Aprilkinder (1998)107 . Dadurch, dass die Filme die türkischen Mütter in filmischen Settings wie der »beengte[n], ärmliche[n] Küche, in der die hausarbeitende, Kopftuch tragende Mutter steht und türkisch spricht« zeigen, wird das »Türkische […] antimodern, d.h. archaisch hergestellt, und vor allem als von patriarchaler Gewalt geprägt. Im Gegenzug dazu entsteht das Deutsche als modern, aufgeklärt, urban, und vor allem antisexistisch bzw. als Raum der freien Entfaltungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen«108 . Bohm erzählt diese Binarität zwischen türkischer und deutscher Kultur in seinem Yasemin nahezu archetypisch. Denn es ist der deutsche Freund Jan, der die junge Yasemin vor der Zwangsremigration in die Türkei durch den Vater auf seinem Motorrad ›rettet‹. Schaffer teilt hier die von Göktürk vorgenommene Beobachtung zum minorisierenden Betroffenheitskino: Meist funktioniert deren Narration, so Göktürk, über die Errettung türkischer Frauen durch deutsche Männer: ›Die Befreiung der armen Türkin aus Gefangenschaft, Unterdrückung, Abhängigkeit oder gar Prostitution ist eine populäre Phantasie, die dem Überlegenheitsgefühl des deutschen Publikums entspringt. Das Mitleid mit den Opfern der gewalttätigen anderen Kultur dient in erster Linie der eigenen Selbstbestätigung. (Göktürk 2000: 336)‹.109
2.2.3.
Zwischenresümee
Die Filme der 1970er verhandeln weniger eine dezidiert ›türkische Kultur‹, sondern ›die türkische Kultur‹ wird als Migrationskultur vielmehr im Kontext gesellschaftskritischer 104 Was zumeist unterschlagen wird: Sarita Malik hat das Konzept zuerst selbst entlehnt bei Cameron Bailey: »Social issue in content, documentary-realist in style, firmly responsible in intention – [the cinema of duty] positions its subjects in direct relation to social crisis, and attempts to articulate ›problems‹ and ›solutions to problems‹ within a framework of centre and margin, white and nonwhite communities. The goal is often to teil buried or forgotten stories, to write unwritten histories, to ›correct‹ the misrepresentations of the mainstream. (Bailey, 1992, p. 38)«, Malik (1996, S. 203f.). 105 Vgl. Göktürk (2000, S. 333). 106 Arslan (1998). 107 Yavuz (1998). 108 Schaffer (2008, S. 64, 66). 109 Schaffer (2008, S. 67).
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Repräsentationspolitiken virulent. Es geht um die kritische Verhandlung patriarchalischer (wie in Shirins Hochzeit), ökonomisch-kapitalistischer (wie in In der Fremde)110 oder rassistischer (Angst Essen Seele auf) Dimensionen von Migration. In der Forschungsliteratur bleibt eine repräsentationskritische Haltung bestimmend, die davon ausgeht, dass die Filme mit ihren Darstellungen der Migrant_innen als Opfer die Viktimisierung im Feld der Vorstellung111 fortschreiben. Die Filme der 1980er adressieren im Gegenzug zu den Filmen der 1970er vielmehr die Problematiken der türkischen Kultur. Ihre Archaik und Patriarchalität wird als Gegenmodell zu einer deutschen aufgeklärten Gesellschaft konstruiert.112 Dadurch lässt sich an ihnen ein integrationspolitischer Auftrag ablesen, der noch aus den dezidierten staatlich geförderten Finanzierungskontexten heraus (Das kleine Fernsehspiel; Barbara John als Ausländerbeauftragte in Berlin) als solcher offensichtlich wird. Obgleich die Filme mit diesem integrationspolitischen Auftrag an türkische Migrant_innen gerichtet sind, deren kulturelle Verfasstheit (Ehrenkodex, Islam) so angenommen wird, dass sie einer auf Gleichbehandlung und Selbstverwirklichung der Frauen gerichteten deutschen Kultur bedürfe, lassen sie sich vielmehr »als Versuche lesen […], antirassistische Filme für den Mainstream herzustellen, d.h. für die majoritäre, weiße Zuschauer_innenposition, die das bundesdeutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen projiziert«113 . Dass das nicht nur eine Vermutung gegenüber den Filmen verbleibt, zeigt sich an dem erörterten Aufbrüche, der als Integrationsfilm damals von Barbara John in Auftrag gegeben wurde, und auch an anderen Produktionen wie zum Beispiel der Fernsehserie »Türkisch für Anfänger« wird das deutlich. Die Serie war unmittelbares Resultat des Nationalen Integrationsplans unter Angela Merkels Regierung.114 Dieses in den zuletzt genannten Filmen analysierte kulturhegemoniale Modell setzt aber eine kulturelle Differenz zwischen deutscher und türkischer Kultur voraus und offenbart damit eine kulturalisierende Prämisse, die aufgrund des separierenden Charakters von ›wir‹ und ›ihr‹ desintegrativ ist. Paul Mecheril hat das als Integrationsdispositiv erörtert (▶ Kap. 2.3): Das Integrationsdispositiv ist mithin ein dem Strategienbündel der Nation gegenüber komplementäres strategisches »Manöver«. Es spiegelt das nationale Dispositiv. Mit Blick auf Deutschland kann man sogar behaupten, dass sich Integrations- und nationales Dispositiv wechselseitig stützen und hervorbringen. Das Integrationsdispositiv reagiert somit nicht auf den Umstand, dass sich in Deutschland zu viele »Nicht-Deutsche« aufhalten und es einer statistischen und bevölkerungspolitischen Regulation bedarf, sondern darauf, dass das, was Deutschland ist, als Krisenphänomen in Erscheinung tritt: Wenn wir uns verlieren, wer sind wir dann noch? […] Es unterschei110 Eine Ausnahme aus den 1970ern, die das türkisch-gesellschaftliche Setting kritisch zur Abgrenzung zur aufgeklärten Deutschheit adressiert und damit eher (Des)Integrationskino ist, ist Peter Keglevics Zuhaus unter Fremden (1979), der als später Film aus dem dekadenbestimmten Differenzierungsraster gerade wegen seiner späten Realisierung fällt. 111 In repräsentationskritischen Arbeiten als zweites Bedeutungsfeld des Repräsentationskonzepts verstanden. Vgl. Schaffer (2008, S. 83), Heidenreich (2015, S. 20). 112 Vgl. Schaffer (2008, S. 70f.). 113 Schaffer (2008, S. 62). 114 Vgl. Posos-Devrani (2017).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
det mittels Bezeichnungs- und Visibilisierungspraxen sowie der allseitigen Legitimität staatlicher Kontrollen zwischen natio-ethno-kulturellem »Wir« und »Nicht-Wir«.115 Doch nicht nur geht es um eine Unterscheidungspraxis, sondern die Distinktionsgeste in derartigen Filmen wird zugleich mit einer Konstruktion belehnt, in der ein aufgeklärtes ›wir‹ einem rückständigen ›Anderen‹ gegenübergestellt wird. Repräsentationskritisch gedacht, schlage ich für diese Filme, die Integration intendieren, aufgrund dieser vorausgehenden kulturalisierenden Spaltung und einem paternalistischen Gestus allerdings Desintegration produzieren, den Begriff (Des-)Integrationskino vor. Die hier vorgenommene Differenzierung ist als filmhistorisches Spezifizierungsangebot für eine Geschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹ zu verstehen. Dass für eine umfassendere Beschäftigung mit jenem Kino eine solche repräsentationspolitisch gerahmte Historisierung und Verhandlung nicht ausreicht, soll hier Anmerkung bleiben. Als Kontextualisierungs- und Informierungskapitel hat es den Forschungsstand aufgezeigt, Differenzierungen einbezogen und diskurshistorische Rückvergewisserungen sowie einige Aktualisierungen geleistet. Nur in diesem Sinne als Historisierungskapitel, das einen zuerst vorauszusetzenden Gegenstand namens ›deutsch-türkisches Kino‹ umfassender bestimmt, ist das Kapitel zu verstehen. Es operationalisiert die Hauptuntersuchung insofern, wie es ermöglicht, den ›türkischen Emigrationsfilm‹, das grundsätzliche Untersuchungsobjekt der Arbeit, in ein Forschungsfeld namens ›deutsch-türkisches Kino‹ einzuschreiben. Das nun folgende Kapitel wird jenes Leistungsspektrum einer diskurshistorischen Rückvergewisserung auch für das ›deutsch-türkische Kino‹ nach den 1990er Jahren zu leisten suchen.
2.3.
Das neue ›deutsch-türkische Kino‹
Anders als in den frühen Filmen des Betroffenheits- und (Des)Integrationskinos zeigt Thomas Arslans Der schöne Tag (2001) das Leben einer deutsch-türkischen 21-Jährigen als selbstbewusste, freie und eigenwillige Existenz: Deniz ist einundzwanzig Jahre alt. Sie lebt in Berlin und arbeitet als SynchronSprecherin. Sie will Schauspielerin werden. Deniz stellt Ansprüche an ihr Leben. Es fällt ihr schwer, jemanden zu finden, der ihren Erwartungen und Sehnsüchten entspricht. Mit ihrem Freund Jan ist sie nicht glücklich.116 Doch dieses Unglück legt sie schon in den ersten Minuten des Films ab, als sie mit dem Freund Schluss macht. So bietet der Film auch ein nahezu diametral angelegtes filmisches Raumkonzept im Hinblick auf die frühen Betroffenheitsfilme an. In diesem Konzept sind zwar ähnliche Architekturräume als Handlungsraum seiner deutsch-türkischen Protagonistin erwählt wie in Aufbrüche. Aber diese Räume sind im Hinblick auf die Bildräume anders besetzt.117 Zentrale Architekturräume im Film sind die Räume 115 Mecheril (2011, S. 53). 116 Terhechte (o. A.). 117 Vgl. Burns (2013).
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der benutzten Transportmittel (Bahnen, Züge, Busse), aber auch die konkreten Gebäude, Parks, Plätze, Treppenaufgänge et cetera: Deniz geht [sic!] Jeder U-Bahnhof hat seinen Charakter: Farbe und Größe der Wandkacheln, Geruch, Luftfeuchtigkeit, Temperatur, mehr oder weniger niedrige Decken in den Eingangsbereichen, Wand- und Deckenbeleuchtung, Akustik. Wer sich auf Schienen durch Berlin bewegt, erkennt ›seine‹ Stationen, ohne Schilder lesen zu müssen. Die wenigsten Berlin-Filme scheren sich um die Topographie der Stadt, die entweder unkenntlich bleibt oder in pittoreske Kulissen zerlegt wird. Wie bewegt man sich wirklich durch die Stadt, was geschieht auf den zurückgelegten Wegen? Das Wesen der Filme von Thomas Arslan liegt ebensosehr [sic!] in den Begegnungen und Gesprächen wie in den Pausen dazwischen, dem Stillhalten und der Bewegung von Ort zu Ort.118 Arslan zeigt in seinem Film sehr lange Einstellungen, in denen die Kamera den lang erscheinenden Fußwegen der Protagonistin teilweise minutenlang folgt, die »sich nach der realen Topographie der Stadt richten«119 . Die Protagonistin begibt sich am Morgen, noch während ihr deutscher Freund Jan schläft, auf den für sie selbstverständlichen Weg in ihre Wohnung und sie wird beim Verlassen des Wohngebäudes durch die Außentür des Hauses gezeigt. Man fühlt sich nicht an »images of captivity«120 wie in 40m² Deutschland erinnert, obgleich auf ästhetischer und konzeptioneller Ebene Arslan Başers Filme aufzugreifen scheint: Sowohl in Hark Bohms Yasemin, als auch in Aufbrüche heißt der Freund der Türkin Jan. Dass sich die Protagonistin in Arslans Film vom deutschen Freund trennt, zeigt den im Film früh angelegten Bruch mit den Frauenfiguren aus den frühen Filmen: Sie entscheidet sich dafür, mit ihrer Beziehung zu brechen und dafür werden keine kulturalisierenden Gründe kultureller Inkompatibilität angezeigt. Ein Gespräch in einem Café mit Jan endet im Streit. Im darauffolgenden Gespräch am See schlägt sie ihm die Trennung vor, weil sie ihn nicht mehr liebe. In dieser Darstellung der Trennung entsteht so eine bewusst angelegte Distanznahme vom Betroffenheitskino. Diese Distanzierung entsteht dadurch, dass das »aufgeklärte« Deutschtum in Form des deutschen Freundes Jan nicht mehr als wünschenswerte oder erlösende (Yasemin, Die Fremde und Nur eine Frau (2019)121 ), sondern sogar zu emanzipierende und zu trennende Instanz gezeigt wird: Jan muss eine Stunde auf sie warten, ihr nach dem Gespräch im Café bis zur U-Bahntreppen hinterherlaufen, um dann dort von ihr ihren Trennungswunsch mitgeteilt zu bekommen. In der Kadrage der Gesprächsszene im Wald steht sie im Vordergrund. Er steht hinter ihr im Mittelgrund. Im Betroffenheitsfilm 40m² Deutschland machte der Treppenausgang, mit dem Der schöne Tag beginnt, nicht den Anfang des Films aus, sondern das Ende. Die Protagonistin Turna muss ihren Ehemann, der noch kurz zuvor an einem epileptischen Anfall verstorben ist, zur Seite drängen, um ängstlich an die große Haustür des Wohngebäudes zu treten. Sie will raus aus der Wohnung, die ihr Gefängnis für die vergan118 Terhechte (o. A.). 119 Arslan in Seidel und Arslan (o.A.). 120 Burns (2009, S. 11, 25). 121 Horman (2019).
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genen Wochen war. Jener Austritt aus der Wohnung, vorbei am Boden liegenden toten Ehemann, führt in eine ungewisse Zukunft. Rings beschreibt das so: Symbolically and physically, Dursun blocks the door to the outside world, even after his death in an epileptic attack when Turna has to use all her strength to move his body so that she can finally leave the flat. Whether this solves her problems or not remains doubtful, as the film ends with her going down empty stairs, a symbolically dense anticipation of her isolation and lack of communication in the new world ahead.122 Während der Tod des türkischen Ehemanns dessen männliche Herrschaft über die türkische Frau beendet, hindert er selbst im toten Zustand als Leiche noch Turna vor ihrem Heraustreten in die von Dursun verteufelte deutsche Außenwelt. Rob Burns lässt in seiner vergleichenden Lesart der Enden der beiden Filme besonders das Ende des Betroffenheitsfilms als ambigue zurück, wenn er schreibt: As if to illustrate the enormous distance that separates Deniz’s position from that of Turna in 40 Square Metres of Germany, the opening of a A fine Day reprises the final sequence of Başers film by showing the protagonist descending the stairwell of a tenement block. In both cases, as she walks out on to a sunlit street the camera remains behind focusing on the doorway and empty hallway. However, whereas 40 Square Metres of Germany this signals the end of the film and thus we can only speculate as to whether Turna has truly been liberated from her claustrophobic marginal space.123 Nicht nur von der Mise en Scène her betrachtet sind die beiden Filme konträr angelegt. Die Gegensätzlichkeit findet sich auch auf der Ebene der Figurenrelationen, nämlich zwischen den Protagonistinnen und ihrem Verhältnis zu ihren Männern. Während Turna sich von ihrem Mann nicht lossagen kann, gar sein Opfer und eingesperrt bleibt, wird Deniz sich in Der schöne Tag von ihrem Freund Jan unerwartet trennen und damit die Verfügungsgewalt über ihr eigenes Leben bestimmt einsetzen. Diese Relation zwischen Betroffenheitsfilm und neuem deutsch-türkischen Kino wird trotz gewisser Parallelen, beispielsweise der Ausgangsräume (beides Wohnungsaustritte), auch ästhetisch als chiastische Figuration verstehbar: Ein Mittagssonnenlicht strahlt durch die Glasscheiben der Türen. Trotz gleicher Belichtungsstärke ist die Endszene des Betroffenheitsfilms, in der die Protagonistin Turna ängstlich vor der Außentür steht, eine in kühles Weiß-Blau getränkte Szenerie (Abb. 6.1-2). Der schöne Tag hingegen zeigt Deniz’ hastigen Gang die gelb-grünen Treppenhauswände entlang bis zum Heraustreten durch eine ebenfalls lichtdurchlässige Außentür. Bis zu Deniz’ Ankunft überwiegen in den Bildern hier Rot- (Treppengeländer, Türen, Deniz’ Pullover) und Grüntöne (Wände, Bäume) (Abb. 7.1-2) und damit liegt in der hier vorgenommenen vergleichenden Perspektive ein farblicher Kontrast zwischen beiden Szenen vor. Dieses antagonistische Verhältnis, das zwischen dem Ende des genannten Betroffenheitsfilms und dem Anfang dieses neueren ›deutsch-türkischen Films‹’124 besteht, 122 Rings (2008, S. 14). 123 Burns (2013, S. 84). 124 Zugeordnet werden Thomas Arslans Filme vornehmlich der Berliner Schule und auch einem »Kino der Métissage«, vgl. Burns (2013).
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ist, wenn man Arslans Einstellung zum Betroffenheitskino heranzieht, kein unbeabsichtigtes: Das Verhältnis [sic!] Deutschen und Türken wird (in den Filmen der 1970er und 1980er Jahre) auf einen angeblich alles durchdringenden Gegensatz von Moderne und Traditionalismus verengt. Hier das moderne, aufgeklärte Deutschland, dort eine archaischen Traditionen verhaftete Türkei. Hierbei werden die Heterogenitäten der als fremd eingestuften Kultur unterschlagen und gleichzeitig die Vermischungen und das Gewordene der eigenen (deutschen) Kultur verschwiegen oder verschleiert.125
Abbildung 6.1-2 – Standbilder aus 40m ² Deutschland (1985)
Abbildung 7.1-2 – Standbilder aus Der schöne Tag (2001)
Arslan versucht mit seiner Protagonistin jene kulturalisierende Repräsentationslogik aufzulösen: nicht nur, indem er sie filmisch dekonstruiert, sondern darüber, dass er ein ästhetisches Programm einer Entdramatisierung, das als typisch für die Berliner Schule angenommen wird126 , anlegt. So werden die Filme weg von einer auf sinnstiftenden Erzählung fußenden Logik hin zu wahrnehmungsbetonten Dimensionen zu führen versucht. Generell für die Berliner Schule, einer Filmrichtung, die ihren Namen dem 125 Arslan in Ezli (2009, S. 210). 126 Vgl. Abel (2011).
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Filmkritiker Merthen Worthmann verdankt und als kohärentes Konzept nach wie vor fraglich bleibt127 , hat Marco Abel das als »a representational realism« untersucht – ein Realismus, der sich nicht in einer empirisch vorgegebenen, profilmischen Welt findet, die er zu vermitteln versucht, sondern [i]nstead of alienating us from their images in order to »get out« of them, the Berlin School films immerse us in their images (and sounds) to get us away from the clichés of reality – to affect us so that we may begin to re-see and hear again, that is, to rethink our own relation to the world that we all too often perceive in overly reductive ways.128 Im konkreten Film, der übrigens das letzte Werk Arslans im türkischen Migrationskontext darstellt, wird die Protagonistin Deniz als jemand gezeigt, deren Gänge agil und zielgerichtet sind. Sie trägt bei ihren Gängen nichts in der Hand, was eine spezifische Künstlichkeit vermittelt, denn ihre Hände scheinen unnatürlich neben ihrem Körper zu taumeln, zum Beispiel wenn sie auf die Bahn wartet. Das verstärkt noch den Eindruck einer Hast oder Dynamik, denn sie wirkt so, als hätte sie keine Zeit, ihren Händen durch eine Orientierung Rast zu geben. Die Schnelligkeit ihres Gehens zeigt eine mangelnde Relationalität zu ihrer Umwelt. Sie schaut ihre dingliche Welt nicht an, nur die Menschen um sie herum sind ihrer Blicke wert und doch wirken die Blicke dann unnatürlich zielgerichtet.129 Ihr Bett in ihrer Wohnung ist ungemacht. Sie trägt Turnschuhe, was die möglichen Konnotationen zu einem türkischen Hausfrauendasein oder einer möglichen weiblichen, pubertären Mädchenhaftigkeit, die sich durch besondere Hingabe an klischeehafte Schönheitsideale auszeichnet, dann vollständig zerstört. So trägt sie auch durch den gesamten Film hinweg lässige Kleidung wie Jeans und ein T-Shirt. Sie wirkt jung und lässig, aber ihre Worte und ihre Einstellung zum Leben, die sich beispielsweise in ihrem Interview bei der Castingagentur offenbaren, sind von starker Klarheit, so wie die Symmetrie offenbarenden Kadrierungen der Filmbilder130 , die die Symmetrie des Architekturraums als solche in den Bildraum transportieren. Auch im zuvor vorgestellten (Des-)Integrationsfilm Aufbrüche sehen wir die Protagonistin in späteren Szenen durch die Stadt gehen. Doch was in Der schöne Tag 127 Abel (2011, S. 27f.). Abel stellt zum Beispiel fest, dass viele der Filme selbst überhaupt nicht in Berlin spielen und teilweise sehr heterogen sind. Allerdings hält er den Begriff im Sinne einer kommunikativen Praxis für nützlich und notwendig. 128 Abel (2011, S. 38). Abel rekurriert hier implizit auf jenes ästhetisch-ethisch normative Programm aus Kracauers »Theorie des Films« (Kracauer (1985 [1964])), benennt ihn allerdings nicht explizit als Referenz. Kritisch an Abels Einschätzung wird so die Erarbeitung eines ästhetischen Programms für die Berliner Schule, die sich als generelle ästhetische Praxis von Arthousefilmen auf der ganzen Welt besonders seit den 1990ern etabliert hat und sich damit nur wenig als Differenzierungskriterium für die Berliner Schule als Filmrichtung eignet. 129 Arslan sieht das zum Beispiel anders: »Deniz wird, an dem Tag, den der Film beschreibt, von Gefühlen und Gedanken getrieben, die sie einen focussierten [sic!] Blick auf alles um sie herum werfen lassen. Ein Blick, der nur die Dinge wahrnimmt, die mit dem zu tun haben, was sie zur Zeit beschäftigt«, Arslan in Seidel und Arslan (o.A). 130 Für die Unterscheidung zwischen mise en scène und mise en images siehe Fußnote 6 bei Khouloki (2012, S. 158) beziehungsweise Prümm (2006). Prümms mise en image-Konzeption korrespondiert mit dem Bildraum (2. Raumtypus) aus Rohmers Konzeption des Raums im Film. Siehe Fußnote 89 hier im Kapitel.
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eine filmisch-mobile Eröffnung der Stadttopographie entlang der Figur ist, ist in den anderen Filmen eine Besetzung des Offs, das für die Figuren durch Bedrohlichkeit charakterisiert ist. Für Aufbrüche gesprochen: Esmas Gänge sind von der Angst begleitet, von ihrem Vater oder ihrem Bruder wieder nach Hause gebracht und damit in die Zwangsehe gedrängt zu werden. Der off-screen space wird wie in 40m² Deutschland und Abschied vom falschen Paradies als bedrohlicher patriarchalischer Raum angelegt, der jederzeit in Form einer Szene männlicher Gewalt in den on-screen space einbrechen kann. Der soziale Handlungsraum ist in Aufbrüche stets von der Angst nach patriarchalischer Vereinnahmung bedroht. Die in Der schöne Tag demgegenüber angelegte Topographie, die durch die Bewegungen der Protagonistin, der Kamera und damit über das Bild als eine extensiv ausgeweitete Stadt erfahrbar wird, steht einer solchen on-/off screen Konzeption gegenüber. Der off-screen space in Der schöne Tag verbleibt als offene Stadttopographie in der Vorstellung zurück: Wohin Deniz als nächstes gehen wird, ist höchstens durch Aussagen der Figuren zu wissen, und es entfalten sich die Räume durch die flüssigen und Raum öffnenden Kamerafahrten mit der Bewegung der Figur.131 In diesen hier erörterten Logiken von Arslans Der schöne Tag zeigt sich die oft behauptete Wende des ›deutsch-türkischen Kinos‹. Wie zuvor schon angemerkt herrscht im akademischen Diskurs um das ›deutsch-türkische Kino‹ Einigkeit in der Annahme danach, dass besonders ab Mitte/Ende der 1990er Jahre ein solch ›anderer‹, kulturhybrider oder besonders auch humorvoller filmischer Umgang mit Emigration und Emigrant_innen in deutschen Filmen möglich geworden sei. Die »Migrant/innen in der kulturellen Imagination« hätten begonnen, »der subnationalen132 Nische zu entwachsen und in transnationale Netzwerke einzutreten«133 . Die im Kapitel zuvor vorgenommene Gegenüberstellung zwischen jüngeren und älteren Filmen verdeutlicht diese im akademischen Diskurs zum Allgemeinort gewordene Annahme. Als Beispiel für ein reflektiertes Kino, das das Betroffenheitskino ablöse, nennt Göktürk, die in ihren Schriften um die 2000er Jahre rum diesen Wandel als eine der ersten argumentiert hat, zwei Filme: Der erste Film ist Hussi Kutlucans Ich Chef, du Turnschuh 134 , der mit seiner humorvollen Thematisierung überhaupt erst performative Möglichkeitsräume unverhandelbar erscheinender Identitäts- und Kulturkonstruktionen biete.135 Der zweite Film, an dem Göktürk einen Wandel im »Migrantenkino« in Deutschland schon Anfang der 1990er Jahre ersieht, ist Sinan Çetins Berlin in Berlin 136 , der produktionstechnisch betrachtet ein ›türkischer‹ Film ist (türkischer Regisseur, türkische Produktionsfirma, fast ausschließlich türkischer Sprachanteil). Und auch Polizei 131 Als Jan sie bittet, ihn zum See zu begleiten oder Deniz sich mit ihrer Cousine für den Mittag verabredet, ist ihre Gehrichtung bestimmt. Der Gang zur Mutter kann nicht vorhergesehen werden, genauso wenig ihr Gang zum Casting oder zur Arbeit im Synchronstudio. 132 Für einen Begriff des »subnationalen Kinos« siehe Endnote 1 in Burns (2006, S. 147). Die Bezeichnung dient als ethnisierender Begriff für indigene oder andere minoritär-nationale Kinoformen. 133 Göktürk (2000, S. 332). 134 Kutlucan (1998). 135 Göktürk (2000, S. 342). 136 Çetin (1993).
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(1988)137 des Yol138 -Regisseurs Şerif Gören, eine »›Köpenickiade‹ rund ums Kottbusser Tor«139 , gehört für Göktürk zu jener Riege von humoristischen Filmen: »Durch das ironische Rollenspiel eröffnen sich Perspektiven, die über den sozialen Realismus anderer Migrantenfılme jener Jahre hinausreichen und eindeutige Zuordnungen von ethnischer und kultureller Identität karnevalistisch unterlaufen.«140 Filmhistoriographisch gedacht ist ihre hier vorgebrachte Einschätzung Anfang des neuen Milleniums eher als Beobachtung einer Übergangsphase zu bewerten, die erste Anhaltspunkte eines Wandels der Repräsentationsformen ersieht. Für diese Phase greift sie dabei auf die aus dem britischen Kontext bei Sarita Malik entlehnte Formulierung »pleasures of hybridity«141 zurück und parallelisiert sie damit mit der Entwicklung des British Cinema, das von einem »cinema of duty« zur Lust an dem spielerischen Umgang mit Identität und Hybridität übergegangen sei.142 Wie sie diese liminale Situation im »Migrantenkino« ersieht, möchte ich durch eine vergleichende Untersuchung dreier Filme nachzeichnen. Um weiterhin im Sinne einer werk- und diskurshistorischen Erweiterung zu operieren, möchte ich Göktürks Argumentation, die sie an den beiden Filmen Ich Chef, du Turnschuh und Berlin in Berlin erarbeitet, um einen Film erweitern, der in der bisherigen akademischen Diskussion selten besprochen wurde: Rasım Konyars und Enis Günaydıns Vatanyolu – Die Heimreise 143 . Diese Rekapitulation des so genannten »Wandel«144 - oder »Fortschrittsnarrativs«145 wird sich um Überlegungen zu Filmen nach den 2000er Jahren erweitern, sodass daran die Einwände an bestehenden Historisierungs- und Untersuchungsmodellen dazu deutlich werden.
2.3.1.
Ensemble III: »Pleasures of Hybridity« als liminale Phase (1990er)
Eine türkische Familie aus Deutschland muss gezwungenermaßen Rast machen. Mit ihrem Kleinbus haben sie auf dem Weg zur endgültigen Heimkehr in die Türkei einen Unfall, die Achse bricht. Nun arrangiert sich die Familie bis zum Kauf der Ersatzachse auf einem Feld in Deutschland ein improvisiertes Zuhause, mit selbst beackertem Land 137 Gören (1988). 138 Gören und Güney (1982). Yol (»Der Weg«) ist ein 1982 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneter, türkeikritischer Film des linken Filmemachers Yılmaz Güney. Güney ist ins französische Exil geflohen ist, nachdem er wegen des Mordes an einem Richter für schuldig befunden wurde. Aufgrund der reisetechnischen Beschränkungen drehte der Regisseur Şerif Gören den Film in Absprache mit Güney, der das Drehbuch verfasst hatte. 139 Göktürk (2000, S. 337). 140 Göktürk (2000, S. 337). 141 Malik bezieht sich auf den Term in ihrer Überschrift, vgl. Malik (1996). 142 Vgl. Malik (1996). Dabei pocht Malik gerade darauf, dass es nicht eine solche lineare Entwicklung geben, sondern: »There has not been a simple progress model in the history of Black British film, from the ›cinema of duty‹ to a ›cinema of freedom‹. There are aesthetic and political concerns which overlap the two, and there is nothing to suggest that, with institutional support, both types of films will not continue to be made«, Malik (1996, S. 215). Zur These von der Unaufhörlichkeit konservativer und progressiver Filmformen, die gar die Binarität in Frage stellt siehe Alkın (2017c) und Alkın (2015b). 143 Günay und Konyar (1988). 144 Alkın (2017c, S. 5). 145 Heidenreich (2015, S. 19).
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zur eigenen Bewirtung und zum Verkauf des Gemüses. Trotz anfänglicher Skepsis und Intoleranz wird die Familie vom deutschen Eigentümer des Landstücks dann toleriert. Der Familie gefallen das neu errichtete Heim und ihr Leben schließlich so gut, dass keine Gedanken zur Rückkehr in die Türkei mehr aufkommen. Mit genau dieser Story verfilmen Rasım Konyar und Enis Günaydın 1988 ihre auf eigenem Drehbuch basierende Komödie Vatanyolu – Die Heimreise146 , der trotz einer tendenziell patriarchalisch angelegten Konstellation (Vater als Oberhaupt, der das Schicksal der Familie bestimmt) als einer der frühesten Indikatoren für das Kino der »pleasures of hybridity« betrachtet werden kann. Einen Genre-Mix (Thriller, Komödie, Drama) bietet der fünf Jahre später entstandene Film des türkischen Regisseurs Sinan Çetin: Berlin in Berlin. Der Film erzählt vom deutschen Photographen Thomas, der die schöne Ehefrau eines türkischen Bauarbeiters photographiert. Als der Ehemann davon Wind bekommt und er den Photographen bedrängt, stößt Thomas den aufgebrachten Migranten vor den Augen der Ehefrau versehentlich tödlich gegen einen großen Nagel an einer Säule. Thomas wird vom dort arbeitenden deutschen Vorarbeiter gedeckt und kann im Schock noch fliehen. Als Thomas sich nach einiger Zeit bei der Frau erklären und entschuldigen möchte und ihr folgt, wird er nur so lange von dem Bruder des umgebrachten türkischen Emigranten vor dessen tödlicher Vergeltung verschont, wie dieser in der Wohnung der türkischen Familie verbleibt. Denn die Familienälteste, die Großmutter des Verstorbenen, bestimmt, dass der Deutsche eine Herausforderung Gottes an die Familie sei und Gästen im eigenen Hause so lange Schutz zu geben sei, wie sie sich darin aufhielten. Thomas kann sich nämlich zwischenzeitlich im Schlafzimmer der Frau verstecken und bleibt mit dem Entdecktwerden dann durch den Befehl der Großmutter geschützt. Nun muss der Photograph fortan in der Wohnung bleiben und sich deswegen mit der Familie arrangieren, während der Bruder des Verstorbenen permanent versucht, diesen aus der Wohnung zu drängen, um ihn töten und sich rächen zu können. Die innerfamiliären Verhältnisse verkomplizieren sich dadurch, dass sich die Witwe in den Photographen verliebt. Ich Chef, du Turnschuh von Hussi Kutlucan thematisiert den armenischen Asylbewerber Dudie, der aus dem deutschen Asylant_innenheim flieht, weil er abgeschoben werden soll. Eine ruhige Zeit ist dem Flüchtling auf einer Baustelle und bei seinen drei anderen Asylantenfreunden nur kurz vergönnt. Den Jungen vor dem Jugendamt rettend, mit dessen Mutter Dudie zusammen war und die aus Eifersucht von ihrem Ex-Mann umgebracht wurde, findet der Armenier nach allerlei turbulenten Erlebnissen durch eine List Unterschlupf bei einer allein lebenden Seniorin: Er hält der alten Frau ein gefälschtes Schreiben des Bezirksamts hin, das deutschen, allein lebenden Bürger_innen den Zwang zur Aufnahme von Asylant_innen in ihrem eigenen Heim bescheinigt. Nach anfänglicher Skepsis entwickelt sich zwischen der alten Frau, Dudie und dessen Ziehsohn eine innige Beziehung. Die Synopsen der drei Filme zeigen, dass hier keine Narration bemüht wird, die darauf aus ist, eine sozialrealistische Referenz auf Leiderfahrungen der Migrant_innen oder eine Zuschauer_innenposition der Betroffenheit zu konstruieren. So abstrus die Synopsen klingen, so humoristisch ist der Grundton der drei Filme. Was sie eint, ist 146 Günay und Konyar (1988).
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die Erwählung eines in seiner Struktur ähnlichen äußeren Ziels aller drei Protagonisten: durch eine veränderte Raumsituation einen neuen Ort147 zu finden. Für den Photograph ist dieser Raum der Wohnraum der Familie, der zwischen Überlebens- und Integrationsort changiert. Für den Asylbewerber Dudie entpuppen sich alle von ihm als neues Lebensumfeld angedachten Orte und Menschen als lebensfeindlich, er bewegt sich von Ort zu Ort, sein Ort ist die stetige Bewegung. Und für die Familie aus Vatanyolu ist es die Notunterkunft, die sich als ein Lebensraum herausstellt, der sie alle glücklicher macht, als es in ihrem frühen Sozial- und Wohnraum in Deutschland war und sie es sich in der Türkei selbst vorstellen können.148 So wie in den Frauenfigurzentrierten Filmen, die ich bisher besprochen habe, zeigt sich dabei das Verhältnis der unterschiedlichen Raumtypen (physisch, psychisch, sozial, filmisch) als ein erhellendes Merkmal, das das Argument einer ›Lust nach Hybridität‹ (»pleasures of hybridity«)149 der ›deutsch-türkischen Filme‹ Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre und später nachvollziehbar werden lässt. Der Unterschied in diesen drei Filmen im Hinblick auf die Aushandlung der räumlichen Situierung ergibt sich nun durch die komplexe geographische, psychische und damit je spezifische Raumkonstellation, die in allen drei Filmen für das Subjekt eine prekäre ist. Vatanyolu beschreibt den Versuch einer transnationalen Reise und damit eine als Migration anerkannte Bewegung vom Emigrationsland in die Heimat. Als diese nicht funktioniert, erzeugt die Familie in der Stagnation der Bewegung der Migration selbst, also im Raum der Bewegung einen verwirklichten Ou-Topos, ein Heim in einer a-sozialen, also von keinem Menschen bewohnten und sozial abgeschiedenen »Heterotopie«150 . Es sind keine Menschen weit und breit zu sehen in der grünen Landschaft. Der Innenraum des defekten Kleinbusses dient als Schlafplatz und die eigentlich zu transportierenden Möbel werden daneben zum Essplatz aufgestellt bis wenige Wochen später mit dem Verkaufserlös der selbst geernteten Tomaten eine kleine Lehmhütte gebaut werden kann. Der Rahmen des staatlichen Ortes verbleibt Deutschland, aber dadurch, dass die Familie ihr Aufenthaltsrecht durch die Rückkehrprämie verwirkt hat, bleibt ihre innerstaatliche Verortung in ihrem kleinen Haus prekär, denn ihr produzierter Ort auf dem Feld kann nur darüber funktionieren, dass das außerfamiliäre Soziale in dem geographisch neu besiedelten Raum ausgeschlossen bleibt. Prekär ist ihr Ort dadurch, dass das Feld im Besitz eines deutschen Rentners ist und von diesem der Familie jederzeit entzogen werden kann und dass die Erfüllung von Grundbedürfnissen Geld und Ausweisdokumente (Gesundheit) und damit den Kontakt zum ausgeschlossenen Sozialen erfordert, der durch die Inkenntnissetzung der Polizei eine zwangsweise Abschiebung mit sich bringen könnte. Berlin in Berlin ordnet die Figuren in dem Mikro-Raum einer Wohnung an und konzentriert sich damit auf den interpersonellen Raum, der durch die Beengtheit ein intensiviertes häusliches Zusammenleben fordert. Die Wohnung ist nicht sonderlich 147 148 149 150
Zur heuristischen Unterscheidung von Raum und Ort siehe Certeau (1988, S. 217-220). Wie dieser Zwischenraum als ›dritter Raum‹ par excellence genau liegt verhandelt Alkın (2016b). Im Folgenden werde ich die deutsche Variante weiter nutzen. Foucault charakterisiert »Heterotopien« als verwirklichte Utopien, siehe Foucault (2005, S. 935).
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groß und dadurch, dass es von neun Personen bewohnt wird (die Großmutter, der Vater, die Mutter, ihr Sohn, die drei Brüder des Verstorbenen und nun Stefan), ist die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen, schier unmöglich. Die Raumsituation erfordert damit auch eine Veränderung des sozialen Gefüges im Zuge eines verständnisvollen kommunikativen Zusammenlebens unterschiedlich sozialisierter Personen, denn es wird auch gemeinsam gespeist, ferngesehen, gelebt. Die Raumsituation ist durch das angespannte Verhältnis zwischen Bruder und Photograph aber nicht nur interpersonell, sondern auch zwischen Bruder und Vater konfliktreich besetzt. Die Großmutter und in der Folge auch der Vater wollen den Tod des Photographen vermeiden, der Bruder jedoch genau diesen herbeiführen. Der konkrete Ort wird in einen notwendig transkulturellen Austauschort transformiert, der nicht nur kulturelle, sondern auch emotionale und psychische Anpassungsleistungen erfordert, um als von kulturellen Normen konstruierter (Gast muss Schutz im Haus haben) Kollektivraum bestehen zu können. Für den Photographen bleibt der Wohn- und vorübergehende Lebensraum dadurch stets prekär. Auch verkomplizieren auf den ersten Blick die sich abzeichnenden konkreten narrativen, ästhetischen und intertextuellen Bezüge zu 40m² Deutschland den Rahmen des Films: Hier wird die Figuration von türkischer Frau, die zum Schutz vor der vermeintlich gefährlichen deutschen Außenwelt von ihrem Ehemann in ihre Wohnung gesperrt wird, invertiert in die Figuration von einem deutschen Photographen, der in einem türkischkulturell-sozialen Mikrokosmos gefangen ist, den er nicht verlassen kann. Ich Chef, du Turnschuh beschreibt in den permanenten Entortungsgeschehnissen des Asylbewerbers Dudie eine innerstaatliche Bewegung als Verortung, aber der Bleibezustand von Dudie ist stets prekär. Er flieht aus dem Asylantenheim, um ein beständiges Leben in Deutschland führen zu können; in der neuen illegalen Lebenssituation mit seinen anderen Asylantenkollegen wird er auf der Baustelle fast von der Polizei erwischt, sodass er sich die Miete dann durch den Arbeitsplatzverlust nicht mehr leisten kann; Dudie und der als Türke gestylte deutsche Waisenjunge der getöteten Ex nisten sich in der Flucht dann in der Wohnung einer alten deutschen Frau ein und werden schließlich gegen den Willen der alten Dame, die beide ins Herz geschlossen hat, durch die Polizei gefasst und abgeschoben. Die Notwendigkeit sozialen Kontakts zu Behörden und Mitmenschen (er muss Geld verdienen, ärztliche Versorgung, wofür er Ausweisdokumente braucht et cetera) lässt diese Prekarität auch stets offensichtlich werden, zum Beispiel als der in der Meldebehörde tätige Beamte Dudies Pass einbehalten will und Dudie diesen nur dadurch zurückerhält, dass er dem Beamten den Pass wegschnappt und verschwindet. Diese Prekarität birgt eine Unbestimmtheit, die konstitutiv für das ist, was in kulturwissenschaftlichen Diskursen als kulturelle Hybridität verhandelt wird. Hierfür hat sich das von Homi K. Bhabha erörterte Modell des dritten Raum/»third space« als Bezugskonzept entwickelt. Mit dem Konzept ist einen Raum gemeint, der die grundlegende Bedingung für die Aushandlung von Identifikation als phantasmatischer SelbstVersetzung (Lacan) ist. So ist der »third space« kein aus zwei disparaten Positionen oder Elementen entstandener Mischraum im Sinne einer evolutiven Prozessualität, sondern ein ›negotiation space‹, ein Möglichkeitsraum permanenter Aushandlungen:
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge.151 Warum sind diese Filme trotz der permanenten Prekarität der jeweils sich zufällig ergebenden Raumsituationen dann als solche zu bewerten, die von einer ›Lust nach Hybridität‹ zeugen? Warum arbeitet diese Prekarität keiner Einordnung als viktimisierte Existenz der tragenden Figuren der Filme zu? Diese Frage bleibt in bisherigen Forschungen noch ausgeklammert. Einige Ausführungen dazu sollen die Charakterisierung der liminalen Phase des ›deutsch-türkischen Kinos‹ daher erhellen. Die konkreten Verortungssituationen der Figuren in allen drei Filmen sind prekär und von Tod oder Elend bedroht, aber deswegen auch gleichzeitig von einer produktiven Unbestimmtheit besetzt, die damit außerordentliche Identifikationsmöglichkeiten jenseits vorgegebener Sozialräume bietet. Für die Familie in Vatanyolu transformiert sich die neu erwählte Unterkunft auf dem Feld als ein neuer, glücklicherer Lebensraum, der nicht vom sozialen und fremdkulturellen Anerkennungs- und Identifizierungswunsch mehr besetzt ist. In einer Szene geht der Vater Yusuf ins türkische Teehaus. Einer seiner alten Arbeitskollegenbringt sein Missfallen darüber zum Ausdruck, dass Yusuf das Türkenbild in Deutschland beschädigt, wenn er trotz der Einbehaltung der Rückkehrprämie in Deutschland verbleibt. Durch diese Äußerung wird die zwischen den beiden Emigranten bestehende Anspannung spürbar. Klar werden die Gründe für den Zorn des Arbeitskollegen nicht ganz. Als Yusuf sein Bleiben in der Türkei damit erklärt, dass der deutsche Staat ihm für die zwanzig Jahre andauernde ununterbrochene Beschäftigung Kompensation schuldig ist und er sich deswegen keine Sorgen macht, rastet sein Kollege mit der Aussage aus, dass der deutsche Staat ihm überhaupt nichts schulde. Diese Problemsituation entsteht in der Stadt, im sozialen Milieu von dem sich Yusuf verabschiedet und entfernt hat. Nachdem aus dem verbalen Streit eine handgreifliche Auseinandersetzung wird, geht Yusuf, resigniert aus einer Flasche Rakı trinkend, zurück zur vorläufigen Unterkunft auf dem Feld. Dort konfrontiert sein Sohn ihn mit Gurken- und Tomatensamen, die sie auf dem Feld pflanzen sollen. Betrunken öffnet er eine Tüte Gurkensamen und reißt sie auf, nur um dann mit dieser zu Boden zu stürzen. Yusuf lacht herzlich mit der Einsicht, dass in Deutschland nur Gurken wachsen würden. Das Wort Gurke heißt im Türkischen hiyar, was auch ›Idiot‹ bedeuten kann. In dieser nur dem Türkisch sprechenden Teekesselchen wird der Grund für Yusufs Lachen ersichtlich: Deutschland bringt nur Idioten hervor, Idioten, wie ihn und andere Türk_innen. Diese Stelle des Films markiert insofern einen Wendepunkt, als dass Yusuf von nun an sicher ist, weiter in dieser Notunterkunft bleiben zu müssen und dass seine Existenz keine ist, die der Anerkennung auch seiner ehemaligen Migrant_innengemeinde überantwortet sein wird. Deutlich sagt er vor seinem Sturz auch nochmal, dass sie nie eine Achse für den Kleinbus finden werden. Gutiérrez Rodríguez macht in ihrer Untersuchung deutlich, dass Identifikationsstrategien migrantischer Subjekte weniger bewusste Entscheidungen als vielmehr eine 151 Bhabha in Rutherford und Bhabha (1990, S. 211).
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Politik der Verortung sind. Ihr Resümee lautet demnach auch »Ort statt Identität«152 . Migrant_innensubjekte können in einer Situation ein- und ausschließender Sozialverhältnisse nur über Verortungsstrategien diese Verhältnisse verhandeln, so wie es Yusuf eben tut. Weder das soziale Umfeld in der deutschen Stadt haben einen Raum für ihn und seine Familie übrig, wie die feindliche Situation im Teehaus zeigt153 , noch eine ihnen fremd gewordene türkische Heimat kann ihnen einen lebensfähigen Raum anbieten, in dem sie wieder als so genannte »Migrationsandere«154 auftauchen würden. Die Entscheidung auf dem Feld zu bleiben ist also keineswegs eine Handlung der Selbstverwirklichung, sondern resultiert aus der »aporetischen« Logik155 des Migrant_innenDaseins: fremd in beiden Ländern und sogar im migrantischen, sozialen Umfeld, aber durch den nationalen Status, ethnische Zugehörigkeitsvorstellungen zu ihr gehörend. Die Unbestimmtheit der Situation von Yusuf und seiner Familie macht wegen dieser aporetischen Logik die Konstruktion eines eigenen materiellen, aber auch mentalen Raums notwendig. Wenn sie sich aufgrund dieser aporetischen Logik mitten auf der Vatanyolu, also der Heimreise, wie der Titel heißt, niederlassen, dann wird Bhabhas dritter Raum als Aushandlungsraum hier nicht nur psychisch, sondern auch »materiell realisiert«.156 Für den Photographen Thomas aus Berlin in Berlin wird die Wohnung vom erzwungenen Überlebensraum zu einem kulturellen Lern- und Veränderungsraum, das genau jene Bedingungen erfüllen hilft, aus denen heraus ein Leben mit der ihn liebenden Witwe außerhalb der Wohnung möglich wird157 . Er lernt beispielsweise die türkische Tradition des Handkusses gegenüber Älteren kennen und das familial enge Zusammenleben schätzen. Der dritte Raum, der hier die kulturelle Hybridität über das Maß hinaus ermöglicht, ist der Schutzraum, den die Regel der Großmutter bietet. Der Mordwille des Bruders ist der andere Pol dieses Schutzraums. In diesem Schutzraum, der in sich eine binäre Logik birgt (Schutz und Gefangenschaft), kann Thomas an der Kultur der Wohnung partizipieren ohne verstoßen zu werden. Die ›Lust nach Hybridität‹ gibt sich aus verkehrten Figurationen zwischen den repräsentierten Subjekten und den ihnen angedachten Sozialräumen. Die Verkehrung der identitären Positionen in inversen Raumfigurationen (deutscher Photograph in türkischer Migrantenwohnung) eröffnet die Lust durch Ambiguitäten, Verkehrungen und Spiegelungen.158 152 Gutiérrez Rodríguez (1999, S. 243). 153 Das türkisch soziale Umfeld in Deutschland scheint für Yusuf das einzige, was ihm noch irgendwie eine soziale Anbindung anbietet. 154 Vgl. Castro Varela und Mecheril (2010). 155 Gutiérrez Rodríguez (1999, S. 243ff.). 156 Genauer dazu Alkın (2016e). Leslie Adelson kritisiert die Metapher des Dazwischen, das »betweenism«, insofern, als dass es ethnischen Essentialismus fortschreibe. Ein Dazwischen-Sein erfordere, dass es ja ein kohärentes Hier und Dort gebe, das aber allenfalls eine phantasmatische Vorstellung verbleiben kann, sind Kulturen als performativ und prozessual zu denken, Adelson (2002). 157 Die auslösenden Ereignisse (initial incidents) für die räumlichen Ausnahmesituationen der Hauptfiguren sind nicht figureninduziert, sondern von außen bestimmte Ereignisse, die hereinbrechen. Vatanyolu: Wagendefekt; Berlin in Berlin: Totschlag; Ich Chef, Du Turnschuh: Abschiebung. 158 Angelica Fenner betrachtet in ihrer ideologiekritischen Lesart den Film zu keiner eindeutigen kulturellen Hybridität hin geöffnet: »Are the various viewer subjectivities I have outlined merely strategies of consumerism within the neoliberal framework outlined earlier, codified and perhaps merely
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
Nicht nur wird die ›Lust der/an Hybridität‹ in den Filmen also filmästhetisch und dem humoristischen Grundton deutlich, der notwendig die Verhandelbarkeit unverhandelbar erscheinender soziokultureller Normen ermöglicht, sondern sie zeigt sich auch in den Raumfigurationen zwischen den gezeigten Figuren und den räumlich-sozialen, sowie räumlich-materiellen Verhältnissen.159 Diese produktive Instabilität einer zugleich karnevalesken Phase160 in einer Zeit, in der auch noch Betroffenheitsdynamiken, Ambivalenzen, spielerische Neugier und postkoloniale sowie rassistische Dynamiken aufeinandertreffen, bleibt ein bis dato noch umfassender zu erarbeitendes Forschungsfeld. Dieses Feld muss allerdings zugleich medientheoretisch reflektiert werden, da es viel zu sehr semiotisch einseitigen Konzeptionalisierungen des Filmischen folgt (▶ Kap. 5). Dass und wie diese produktive Instabilität in ein Moment ethnischplakativer Zelebration kippt, wird zudem in der Untersuchung der 2010er-Dekade und danach noch deutlich werden. Die Filme von Yüksel Yavuz, Ayşe Polat, Kutluğ Ataman und vielen anderen, die hier nicht mehr aufgegriffen werden können, bedürfen schließlich in Zukunft größerer Forschungszusammenhänge und historiographischer Beobachtung und damit »thigmotaktischer« (durch Berührungsreize induzierte) Manöver, damit sie nicht weiter diskursiv ausgeschlossen oder unterminiert verbleiben. Unter solchen Manövern versteht David Gramling, ganz im Sinne der Prämisse der vorliegenden Arbeit, eine Enthebung festgefahrener Strukturen und diskursiver ›Verknöcherungen‹, die epistemische Grenzen ziehen. Sie verlaufen oft genug nicht nur an Integrationsdispositiven entlang, sondern auch an sprachlichen Begrenzungen (Türkischsprachiges), durch die die Filme der genannten Regisseure auch im Kontext germanistischer Untersuchungen und so auch philologisch informierter Medienwissenschaften reduziert ausfallen: Indeed, when we look at all of the literary and proto-literary work linking Germany and Turkey, it is a vast field with little philological or disciplinary order to it. […] Such multilingual, translingual, code-switching, and otherly-languaged meanings – though made on German territory, through German institutions, or in complex contact with the same – are still, and sometimes increasingly, construed as too ›far afield‹, as belonging to »someone else’s story« (Buck-Morss 822). But it is often there – in the other-languaged satellite spheres of German and Turkish-German Studies – that we hypothetical ways in which viewers consume and derive pleasure from the viewing experience, or can and do these spectatorial positions truly trigger social change and thoughtful reflection? The emergent positioning of the film’s protagonists, as of the real audiences the film hails, remain open to the scholarly discussion this essay has initiated«, Fenner (2000, S. 139). 159 Die Notwendigkeit, die visuelle Kultur ›deutsch-türkischer Filme‹ komplexer zu untersuchen, zeigt Angelica Fenner in ihrem Aufsatz zu Berlin in Berlin. Nicht nur thematisiert sie die komplexe Rezeptionssituation des Films, der ›türkische‹ und ›deutsch-türkische‹ Zuschauer_innen gleichermaßen aktiviert, sondern erörtert ihn auch im Hinblick auf ideologische und unterschiedliche Rezeptions- und Theoriemodelle. Wie ich im Hauptkapitel zum türkischen Film zeigen werde, ist eine solche Perspektive im Hinblick auf ein umfassendes Verständnis des Migrationsphänomens in den Filmen fruchtbar und verdient mit einer Analyseperspektive der Visuellen Kultur (die visuelle Konstruktion des Sozialen) erweitert zu werden. 160 Vgl. El Hissy (2011).
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are to find our most compelling counterevidence, which in turn challenges the validity of many of our discursive formations around transnational topics, and the ways we tend to debate them.161
2.3.2.
Ensemble IV: Nachwehen & Exzeption Fatih Akın (2000er)
In der aktuellen Diskussion um die Entwicklung und den Status des neuen deutsch-türkischen Kinos liegen nur graduell unterschiedliche Evaluationen vor (zwei- vs. dreiphasig), die ich hier vorstellen werde. Am Ende des Kapitels werde ich Fatih Akıns im Diskurs exzeptionell betrachtetes Kino und die damit einhergehenden Feststellungen zum ›deutsch-türkischen Kino‹ einer diskursanalytischen Betrachtung unterziehen. Ästhetische Analysen spare ich weitgehend aus, da hierzu schon zahlreiche Publikationen vorhanden sind. Anschließend werde ich einige neuere Tendenzen des so genannten ›deutsch-türkischen Kinos‹ vorstellen und sie mit einer zuspitzenden Fragestellung als Untersuchungsfragen für künftige Arbeiten argumentieren. Sabine Hake und Barbara Mennels leiten ihren Aufsatzband zum »Turkish German Cinema in the New Millenium«162 mit der Skizze einer drei-phasigen emanzipativen Filmgeschichte des Genres ein. Sie stimmen mit Göktürk überein, dass das Betroffenheitskino ab Mitte der 1990er Jahre durch ein Kino abgelöst wird, das nicht mehr an Problemdarstellungen der Migrant_innen interessiert ist, sondern »the emphasis in many films is on playfulness and performativity, and the affective habitus is one of empowerment and self-assertion«163 . Während Phase eins und zwei noch der üblichen Unterscheidung zwischen einem Betroffenheitskino und einem Übergangskino der ›Lust nach Hybridität‹ entspricht, gehen sie mit der dritten Phase in ihrem historisierenden Strukturierungsversuch einen Schritt weiter und argumentieren, dass sich das ›deutsch-türkische Kino‹ im neuen Jahrtausend selbstbewusst dem Genrekino widme und die Filmemacher_innen unterschiedliche Produktionsformate, Themen und Gattungen für sich entdeckten, die gar – ganz im Sinne von Argumenten zum Postmigrantischen – jenseits der Themen von Migration vorlägen: Today genre cinema has emerged as the dominant form of Turkish German cinema, […]. […] Feature-length films privilege genre conventions, some with ironic distance, and others with calculated conventionality.164 Rob Burns zweiphasige Historisierung bezeichnet diese neue Phase des deutsch-türkischen Kinos165 als ein »Kino der Métissage« (cinema du métissage) und ordnet Thomas Arslans filmtopologisch und -poetisch komplexe Berlin-Trilogie Geschwister 166 , Dea161 162 163 164 165
Gramling (2011, S. 393). Hake und Mennel (2012). Hake und Mennel (2012, S. 5). Hake und Mennel (2012, S. 7). Das ist eine Anlehnung an Georg Seeßlens Begriff aus seinem Aufsatz zum »Kino der doppelten Kulturen« (2000). 166 Arslan (1997).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
ler 167 und den bereits vorgestellten Der schöne Tag (2001) darin ein. Trotz der Anlage der ersten beiden Filme als Kleinkriminellen-Story, die dadurch die türkischen Figuren klischeehaft anzulegen droht, ersieht Burns in den filmischen Strategien eine Komplexität, die deswegen Stereotypisierungen und eine Haltung der Betroffenheit unterlaufe.168 Der Begriff des cinema du métissage ist entlehnt aus dem Diskurs zum französischen cinema beur 169 , der das Kino in Frankreich bezeichnet, das im arabischfranzösischen Kontext entstanden ist oder diesen verhandelt. Der Begriff métissage beschreibt gegenüber dem Begriff beur die Vermischung von Arabischem und Französischem. Damit sind die Thematisierungen bi-kultureller Erfahrungen (maghrebinische und französische Kultur) in den französischen Filmen gemeint, für die der Film Le Thé au harem d’Archimède (»Tee im Harem des Archimedes«) (1985) als Prototyp gewertet wird. Wie derartige bi-kulturelle, bi-nationale Hybridkulturen Praktiken der Vermischung etablieren, ist auch für Theoretiker_innen der Visuellen Kultur besonders relevant. Einer ihrer Protagonisten, Nicholas Mirzoeff, stellt eine solche Vermischung in seiner Erörterung zur »multiple Sichtweise« vor170 – ein Konzept, das er in Anlehnung an Ella Shoat und Robert Stams »polyzentrische Vision«171 entwickelt. Darin argumentiert er, dass eine »multiple Sichtweise« die Authentizität essentialistischer Nationalkulturen fragwürdig werden lasse. In seinem Beispiel werden konkret die Ähnlichkeiten zwischen ›deutsch-türkischem Kino‹ und französischen cinema beur deutlich: Die »multiple Sichtweise« funktioniert darüber, dass polyzentrische visuelle SichtPositionen eingenommen werden, die weder ganz die eine, noch die andere Lesart von Bildern oder visueller Kulturen favorisieren, sondern mit der man die Welt immer auch als ein offenes, diasporisches Produkt verstehen kann. Als Illustration für diese »multiple Sichtweise« beschreibt Mirzoeff eine Szene aus Matthieu Kassovitz’ La Haine (»Hass«) (1998)172 , in der in einer Wohnung in einem Banlieu-Viertel ein Jugendlicher bei offenen Fenstern Edith Piafs »Non, je ne regrette rien« mit afroamerikanischem Hip-Hop Beat unterlegt und dadurch »eine neue Mischung herstellt, die, nur für einen Moment, den leeren Raum der Wohnanlage in einen Ort verwandelt, an dem Menschen verschiedener Herkunft zu Hause sein können«173 . Der konkrete Lebensraum artikuliert sich in seinem Beispiel als »offene diasporische Örtlichkeit«, die sich von ihrer kulturellen Verfasstheit her weder der französischen Bourgeoisie noch eindeutig der sozial schwächeren Schicht zuordnen lässt. Er geht hier weniger auf das filmische Blickregime selbst ein, sondern bezeichnet eine Sinn- und Rezeptionssituation in der sich eine Vielschichtigkeit in den kulturellen Zwischenräumen eröffnet, die nicht mehr 167 Arslan (1999). 168 Burns (2013). 169 Das Wort ›beur‹ ist aus dem Verlan, ein aus arabisch-französischer Umgangssprachpraxis von Jugendlichen entstandenes Sprachspiel, das die Silbenfolge von Wörtern variiert. ›A-ra-be‹ wird dadurch zu ›beur‹, siehe auch Tarr (1993, S. 322). Métissage meint demgegenüber die ethnische Vermischung und weniger die Bezüglichkeit zum ›Arabischen‹ selbst. 170 Mirzoeff (2012). 171 Mirzoeff (2012, S. 35). 172 Kassovitz (1995). 173 Mirzoeff (2012, S. 44).
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das Marginale, sondern das Zentrale der Welt ausmachen. Dieser Zwischenraum, den man nach wie vor mit Bhabha als dritten Raum bezeichnen könnte, und derartige Konzeptionen des Kulturellen zeichnen die Strahlkraft des ›deutsch-türkischen Kinos‹ aus. Eine solche Zwischen-Raum-Konzeption des Kulturellen zeichnet auch die ersten beiden Filme von Fatih Akıns »Liebe, Tod und Teufel-Trilogie«174 aus, die […] eine Komplexität des ›deutsch-türkischen‹ Alltags exemplifizier[en], die jenseits einer dichotomischen Kulturunterscheidung einer deutschen Leit- und einer traditionell-archaischen ›türkischen‹ Kultur steht. Vielmehr hat sich spätestens seit Auf der anderen Seite (2007), auch wenn der Film topographisch zwischen Deutschland und Türkei spielt, Fatih Akıns Kino vom deutsch-türkischen Konnex gelöst und ist nun als internationales und globales Kino zu verhandeln. An die Stelle der interkulturellen Kompetenz rückt die kulturelle Kompetenz, die nicht mehr allein deutsch-türkische Geschichte erzählt, sondern zugleich auch transnationale und transkulturelle.175 Sich den komplex konstruierten Filmen Fatih Akıns widmend formuliert Özkan Ezli auch in einer Forschungsprojektbeschreibung, dass die neueren deutsch-türkischen Kulturprodukte, die »poetologisch auf höchstem Niveau176 erzählen, nicht nur türkische, deutsch-türkische, sondern explizit auch deutsche Geschichten [sind], die kulturelle Wissensformationen in die deutsche Kunstproduktion und Geschichte einschreiben […]«177 . Doch worin besteht diese poetologische Komplexität, die gerade auch Fatih Akıns ersten beiden Filme seiner »Liebe, Tod, Teufel«-Trilogie zugesprochen wird und die in ihrer übermäßigen Sichtbarkeit im Forschungskontext die Arbeiten anderer Regisseur_innen im Feld wie Ayşe Polat, Seyhan Derin, Yüksel Yavuz, Kutluğ Ataman und viele weitere dadurch fast schon randständig erscheinen lässt? Ortrud Gutjahr rekurriert in einem 2009 erschienenen Aufsatz zu Fatih Akın auf die gängige zweiphasige Filmgeschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹.178 Für sie ist Fatih Akıns Gegen die Wand (2004) derjenige Film, der einen Umbruch in der migrantischen Filmkultur in Deutschland markiert, und das nicht nur wegen des Repräsentationswandels von Migrant_innen als viktimisierten zu selbstbewussten Subjekten, sondern wegen exzeptioneller Qualitäten des Films.179 Zur Untermauerung ihrer Argumentationen rekurriert sie auf publizistische Texte, die gar vom Wechsel der in der Gesellschaft kursierenden Bilder von Migrant_innen dank der künstlerischen Leistung des Films sprechen180 . Für sie liegt die besondere Leistung von Gegen die Wand an 174 Damit sind die beiden Dramen Gegen die Wand (2004) und Auf der anderen Seite (2007) gemeint. 175 Ezli (2009, S. 211). 176 Diese Einschätzung eines poetologisch komplexen Beitragspotentials teilt auch Randall Halle. Ausgehend von den medialen Arbeiten von Ayşe Polat, Kutluğ Ataman, Neco Çelik, Aysun Bademsoy und dem Guerilla-Internet Projekt Kanak TV identifiziert er die Produktionen dieser Akteure als experimentelle Formationen, die diese aber mit Modi der Repräsentationen mischten und darüber interessante Impulse für Diskurse der Avantgarde anböten, Halle (2009, S. 40). 177 Ezli (2011). 178 Gutjahr (2009, S. 232-237). 179 Gutjahr (2009, S. 246). 180 Gutjahr (2009, S. 225f.).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
der ganz spezifischen Subtilität und Variation gängiger »Plotmuster« und erzählerischer Strategien des transnationalen Genres. Obwohl der Film eine Story erzählt, in der »Stereotype früherer Filme aufgekündigt werden«181 , schaffe die subtil verhandelte Migrationsgeschichte eine Komplexität, die über ein übliches »Plotmuster« des frühen ›deutsch-türkischen Kinos‹ hinausweise, das die Geschichte einer Scheinehe bereithalten könnte. Genauer erzählt Akın in Gegen die Wand die schwierige Liebesgeschichte zwischen einem deutsch-türkischen, abgehalfterten Punk namens Cahit (Birol Ünel) und der jungen Sibel (Sibel Kekilli). Während Cahit aufgrund des Tods seiner Frau keinen Halt mehr im Leben findet und sterben möchte, hegt die junge türkische Migrantin Suizidwünsche, weil sie ihre einengende Situation in ihrem konservativen Elternhaus und die drohende Zwangsehe nicht mehr aushält. Als Lösung bittet sie nun Cahit, den sie im Krankenhaus kennenlernt, um dessen Einwilligung zu einer Scheinhochzeit, damit sie sich aus ihrem Elternhaus befreien und ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben erfüllen kann. Nachdem Cahit sich zur Scheinhochzeit bereit erklärt, entsteht zwischen den beiden Protagonist_innen eine Liebesbeziehung, die jedoch an der emotionalen Instabilität der beiden zerbricht: In einem Eifersuchtsrausch tötet Cahit versehentlich einen der Liebhaber Sibels. Durch die Ereignisse wird Sibel in den Medien als Ehebrecherin dargestellt, was für ihre dem türkischen Ehrenkodex folgende Familie der Zusammenbruch bedeutet. Sibel flieht vor der möglichen Vergeltung der Familie, besonders ihres Bruders, nach Istanbul und beginnt dort ein neues Eheleben mit dem Taxifahrer, der sie in einer Nacht blutüberströmt auffindet. In jener Nacht provoziert sie durch Beleidigungen die Gewalt zweier Männer von denen einer sie schließlich ersticht. Nachdem Cahit aus dem Gefängnis entlassen wird, begibt er sich auf der Suche nach Sibel nach Istanbul. Dort angekommen tritt ihm Sibel als Ehefrau und Mutter entgegen. Sie weist ihn ab. Denn auch wenn Topoi früherer Migrationsfilme anzitiert werden, geht es hier weder in Figurenkonzeption noch Handlungsmuster um eine ›direkte‹ Thematisierung von Migration und ihre psychosozialen Folgen, noch allein um die Selbstbestimmungsbestrebungen junger Türken mit Migrationshintergrund, sondern vielmehr um ein filmisches Erzählen, das in einer Geschichte – wie der von einer Scheinehe und (un)möglichen Liebe – zugleich Narrative erkennbar werden lässt, in denen ein transgeneratives Gedächtnis der Migration formiert und seine identitätsstiftende Bedeutung erkundet wird. Wichtiger Teil dieser Gedächtnisgeschichte ist die Geschichte der deutsch-türkischen Filme selbst, die mit Akins Gegen die Wand auch in ihrem ästhetischen Innovationspotential in den Blick rückt.182 So in ein historisches Genrebewusstsein gerückt, sieht Gutjahr in genau jenen reflexiven und ästhetischen Qualitäten des Films dessen Exklusivität, die ihm einen Sonderstatus sowohl als analytisches Forschungsobjekt, als auch in der Historie ›deutsch181 Gutjahr (2009, S. 227). 182 Gutjahr (2009, S. 246).
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türkischen Kinos‹ beschert. Daniela Berghahn widmet Akıns Film gar eine dezidierte Arbeit, in der sie den Film in den Kontext auch der Arabesk-Kultur stellt183 (▶ Kap. 8.3.2). Diese Zuschreibung eines exklusiven Status beschränkt sich nicht auf die wissenschaftliche Perspektive, sondern erweitert sich auch auf die publizistische. Dass Akın mit seinem Film, der mit dem Europäischen Filmpreis und dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, in den nationalen Medien je auf deutscher und türkischer Seite vereinnahmt wurde, zeigt dabei die jeweils taktisch zuschreibbare nationale Zugehörigkeit an Filme auf (▶ Kap. 4). Für Kien Nghi Ha deutet sich mit der Handhabung des vielbeachteten Films für die deutsche Seite jener taktische Gestus sehr deutlich an und er findet für die darin enthaltene Ausbeutung der kulturellen Hybridität rund um den Film und den Filmemacher folgende Worte: Im deutschen Feuilleton ist der Triumph des Filmemachers Fatih Akin bei der Berlinale 2004 nicht selten deutsch eingerahmt und in den Dienst der Nationalkultur gestellt worden. Statt wie bei anderen Preisträgern die individuellen Leistungen zu betonen, entwickelt sich ein merkwürdiger Diskurs, der die kulturelle Zwischenstellung der Filme von Fatih Akin nicht zuletzt als Nachweis für die Leistungsfähigkeit und internationale Konkurrenzfähigkeit des »deutschen Kinos« und der deutschen Förderpolitik anführt. Zu den wiederkehrenden Bildern in der Inszenierung junger, moderner und erfolgreicher Migrant/innen gehört der individuelle Aufstieg, der oftmals auch als Teil der nationalen Erfolgsgeschichte Deutschlands erzählt wird. Unter diesen Umständen schlägt die frühere Abwertung in eine selektive Integration in die Nation um, die sich die hybriden Potentiale des Anderen einverleibt.184 Auch auf türkischer Seite wird der Film zu Zwecken einer nationalen Identifikation im publizistischen Diskurs anfänglich extensiv verhandelt185 und auch für den Literaturwissenschaftler Özkan Ezli steht Gegen die Wand als exklusiver Film da. Dabei erachtet Ezli eben jene von einer »Logik der Repräsentation« gelösten Charakteristika des Films als Eigenschaften, die seinen exklusiven Status gerade im Vergleich zum repräsentierenden frühen Kino legitimieren. Die Figur Cahit spricht zum Beispiel nur gebrochen Türkisch und ist im Punk-Milieu Hamburgs verortet. Allein durch diese Konzeption der Figur Cahits erschweren sich Möglichkeiten einer repräsentationslogischen Lektüre des Films, weil darin das Türkische an bisher unbekannte identitäre Figurationen wie Punk geknüpft ist und damit die national-kulturellen Vereinfachungen des frühen Kinos destabilisiert werden: Es geht nicht um eindeutige Zuschreibungen kultureller Identitäten, die auf einer Trennung der kulturellen Substanzen basiert. Die Übergänge zwischen ›türkisch‹ und ›deutsch‹ sind ›in‹ den Protagonisten fließend, die erst durch Aktionen im Film kenntlich werden, denn vom Habitus her gesehen, repräsentiert weder ihre Kleidung noch ihr Auftreten etwas ›Türkisches‹. Sie gehören zum Hamburger Kiez wie jeder andere.186 […] Es liegt kein versuchter Dialog wie in den Filmen Başers vor, sondern eine 183 184 185 186
Berghahn (2015). Ha (2010, S. 251). Dazu weiterführend Alkın (2016c). Tunç Cox (2012, S. 164-171). Ezli (2009, S. 215f.).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
Kommunikation von disparaten Ordnungen, die sich mit einer essentialistischen Unterscheidung von deutscher und türkischer Kultur nicht greifen lässt. An die Stelle einer künstlerisch interkulturellen vermittelnden Kompetenz ist eine problematisierende Kompetenz getreten, die den Konnex des deutsch-türkischen von einer subkulturellen/-nationalen in eine transkulturelle/-nationale überführt hat.187 Was aber hier für Cahits Figur gilt, gilt in anderer Weise nicht für die Nebenfiguren, wie Sibels Vater oder ihren Bruder, die in ihren sozialen Rollen stereotyp konzipiert sind.188 Die an den Film herangetragenen Qualitäten lassen sich in einer ästhetisch untersuchenden Perspektive untersuchen, doch – so meine Perspektive auf diesen Exzeptionalität avisierenden Umgang mit Akins Œuvre – die Erarbeitung einer solchen Einschätzung bedarf weitergehender filmarchivisch-, kulturhistorisch- und medientheoretisch-sensibler Analysen. Um auf den Aspekt der medientheoretischen Sensibilität einzugehen: Für die Zuweisung von Repräsentationalität (Ezli) und einer Gedächtnisfunktion (Gutjahr) an einen Film sind zum Beispiel Fragen nach der Medialität des Filmischen unabdingbar. Hier offenbaren sich generell die medientheoretischen Unzulänglichkeiten in den bestehenden Forschungsansätzen zum ›deutsch-türkischen Kino‹, denn es »ist bis dato im deutschsprachigen Wissenschaftsraum oft noch im Interesse und Untersuchungsfokus einer interkulturellen Germanistik und Literaturwissenschaft (gewesen)«189 , die die Medialitätsbestimmung des Filmischen in jenem Kontext allzu gering berücksichtigt. Dabei lässt sich schon aus semiotischen Perspektiven heraus die Zuweisung von repräsentationslogischen Dynamiken an die Filme, die sie als Betroffenheitskino oder wie hier als ›Kino der kulturellen Hybridität‹ oder Transkulturalität untersuchen, als eine Reduktion schon der diskursiven Spezifika der Filme erarbeiten. Wenn Angelica Fenner in einer Untersuchung eines prominenten, oscarprämierten Migrationsfilms wie Reise der Hoffnung (1990)190 mit Bezug auf Stuart Halls Encoding-Decoding-Modell die Diversitäten der Lesarten aufzeigt191 , so lässt sich diese Diversität der Rezeptions- und damit Produktionsweisen auch für Akıns Filme festhalten, die auch unter Migrant_innen je spezifisch ausfällt. Deswegen muss ausgehend von der Erarbeitung eines Forschungsstands heraus betrachtet, festgestellt werden: eine Berücksichtigung der Diversität der Lesarten der Filme in den wissenschaftlichen Arbeiten zu Akıns Filmen, die inzwischen ein immenses Ausmaß angenommen ha187 Ezli (2009, S. 220). 188 Das ist in Anbetracht der Unvermeidlichkeit und Selbstverständlichkeit von Stereotypie kaum mehr der Rede wert, vgl. Schweinitz (2006). 189 Alkın (2017c, S. 13). 190 Koller (1990). 191 Vgl. Fenner (2003).
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ben192 , lässt sich kaum wiederfinden.193 Die allgemeine Tendenz der meisten Arbeiten scheint darin zu liegen, dass sie an seinen Filmen kulturwissenschaftliche Topoi zur Hybridität und Transkulturalität untersuchen, die essentialistische, weil an nationalkulturellen Spezifika ablesbare Kulturentwürfe hinter sich lassen.194 Fast allen Perspektiven auf das Kino Akıns ist eines gemeinsam: Problematisieren lassen sich die meisten Analysen an Akıns Filmen dadurch, dass in den Leseweisen, die Akıns Filmen einen exklusiven Stellenwert beimessen, Migrant_innen als mögliche Rezipient_innen nicht mitgedacht werden – oder auch nicht mitgedacht werden können, weil sie ethnokulturelle Konzeptionen vorab verwerfen. Wie sieht es aber mit »oppositionellen Lesarten« der Filme im Sinne des Encoding-Decoding-Modells Stuart Halls195 aus? Was ist mit semiotischen Ansätzen anzufangen, wenn sich Beobachtungen einstellen wie diejenige danach, dass Zuschauer_innen in Italien an anderen Stellen des Films lachen als solche aus Deutschland?196 Warum fühlen sich bestimmte türkische migrantische Zuschauer_innen von dem Film eher abgestoßen oder verurteilen ihn ganz im Sinne einer desintegrativen Wirkung als pro-deutsch, Integrationsfilm oder bewusst türkeikritisch?197 Eine vorläufige Antwort auf die Frage nach der permanenten Reproduktion des paradigmatischen Status von Akıns Filmen ist, dass integrationsdispositive Bedingungen, Sag- und Sichtbarkeiten im Kontext des deutsch-türkischen Kinos strukturieren. Den Begriff Integrationsdispositiv hat Mecheril aus Sicht der Migrationsforschung reflektiert, indem er darunter ein Bündel von Vorkehrungen, Maßnahmen und Interpretationsformen [versteht], mit dem es in öffentlichen Debatten gelingt, die Unterscheidung zwischen natio-ethnokulturellem »Wir« und »Nicht-Wir« plausibel, akzeptabel, selbstverständlich und legitim zu machen. Das Integrationsdispositiv antwortet einem strategischen Regelungsbedarf, der dadurch entsteht, dass die imaginierte Einheit »Nation« in eine Krise gerät. Sie gerät durch Prozesse in die Krise, die nicht allein mit Migrationsphänomenen einhergehen und aus ihnen resultieren, bei denen jedoch Phänomene des faktischen und symbolischen Überschreitens und Infragestellens des Prinzips der nationalen Grenze eine prominente Rolle spielen. Diese Krise lässt sich in einer grammatisch simplen Paraphrase wiedergeben: »Wer sind wir?«198 192 Lang (2010), Arslan (2012), Asutay und Atik (2012), Bayrakdar (2011), Berghahn (2006), MacKuth (2012), Eken (2009), Hobi und Hess-Lüttich, Ernest W. B. (2011), Ezli (2010), Neubauer (2011), Eren (2012), Hillman und Silvey (2012), Machtans (2012) und zuletzt die Monographie Klos (2016) sowie viele mehr. Eine neuere Monographie, die sich von einer repräsentationskritischen Herangehensweise an die Filme verabschiedet ist Naiboğlu (2017). 193 Die damals aktuelle divergente Rezeption des Films wird thematisiert in Wienen und Twele (2004, S. 19). 194 Vgl. Berghahn (2006), MacKuth (2012), Eken (2009), Neubauer (2011). 195 Hall (2004b). 196 So lautete eine der Rückmeldungen zu dem Film auf einem institutsinternen Kolloquium an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, in der ich die wissenschaftliche Konstruktion des ›deutschtürkischen Kinos‹ vorstellen durfte. 197 Vgl. Wienen und Twele (2004, S. 19). 198 Mecheril et al. (2013, S. 52).
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Mit dieser Bestimmung des Konzepts des Integrationsdispositivs ist nur einseitig begründet, weshalb sich die Rede von »Wir« und »Nicht-Wir« allzu häufig einstellt, also inwieweit sich das »Bündel von Vorkehrungen etc.« Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeitsbedingungen so kanalisiert, dass besonders diese separierende oder überhaupt die Integration betreffende Perspektive, seien es auch differenziertere als die einer spaltenden Rede sich einstellen. Oder anders formuliert: Es geht nicht nur darum, das Möglichkeitsnetz von Artikulationsweisen kritisch zu berücksichtigen, die eine bestimmte Weise nahe legen, über Integration zu sprechen, sondern dasjenige Möglichkeitsnetz im Auge zu behalten, mit dem das Themenfeld der Integration überhaupt andere Weisen des Sprechens oder Diskurse verunmöglicht oder überlagert. In der von mir hier genutzten Variante meint der Begriff ›Integrationsdispositiv‹ noch Aspekte einer Dispositivanalyse im Sinne einer Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen von Sagund Sichtbarkeiten, sowie deren »vektorielle Verschränkungen«.199 Ausgehend von einer historisch-überblickenden Perspektive auf das Feld des ›deutsch-türkischen Kinos‹ wird nämlich deutlich, wie durch die vornehmliche Verhandlung von Fatih Akıns Œuvre auf dem wissenschaftlichen Diskursfeld eigentlich integrationspolitische Fragen gerade nicht gestellt werden, sondern eine hegemoniale Diskurspolitik unterstützt wird, in der mögliche Verhandlungsweisen ›deutschtürkischer Filme‹ in postkolonialer, feministischer, subjektkritischer und anti-rassistischer Rahmung marginal bleiben.200 Damit würden gerade Fragen, die sich von publizistisch-diskursiven Zusammenhängen befreien, einen offeneren epistemischen Bezugsrahmen bieten und gar die Stellung von Akıns Filmen innerhalb der immens weiten Filmkultur des ›deutsch-türkischen Kinos‹ und der Forschungskultur zu jenen Filmen relativieren.201 Dass Fragen nach oppositionellen Lesarten bei Akıns Filmen und damit kritische Perspektiven noch relativ unartikuliert bleiben, zeigt Hatice Ayten. Aytens Einordnung des Films, die sich den gängigen Diskursen rund um den Film entziehen, realisiert sich gerade aufgrund einer kulturhistorisch sensiblen Perspektive, die ihn nicht als »kulturrevolutionär« sondern bezugsgesättigt durch jenes Kino sieht, das im Forschungsdiskurs in Deutschland gar marginalisiert, blinder Fleck und dessen Ausgeschlossenes ist: das türkische Yeşilçam-Kino, das im Fokus der vorliegenden Arbeit steht. Heidenreich gibt Aytens kritische Sicht auf Akıns Film wie folgt wieder: »Tatsächlich findet man aber eine völlig konventionelle Geschichte im Film. So hat der türkische Filmkritiker Atilla Dorsay wohl Recht, wenn er den Film gerade nicht als kulturrevolutionär sieht, wie die deutsche Rezeption, sondern vielmehr das YeşilcamKino in ›Gegen die Wand‹ durch die ganze Bandbreite der klassischen Melodramatik und Erzeugung von überzogenen Klischees auferstanden sieht.« Das erfolgreiche Yeşilcam-Kino, so schreibt Ayten weiter, »entstand ab 1952 und feierte sein goldenes Zeitalter in den 60er und 70er Jahren. Pro Jahr wurden fast 300 Filme produziert, die von melodramatischen Geschichten der Frauen erzählten, die in einer grausamen Welt verstoßen, verraten und vergewaltigt werden. Frauen, die sich gegen die Zwangsehe auflehnten, nach deren Widerstand gegen die traditionelle Familie 199 Siehe dazu besonders Sieber (S. 73ff.). 200 Eine Ausnahme bildet Nanna Heidenreichs Monographie (2015). 201 Vgl. die Gesamtkonzeption des Bands Alkın (2017a).
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der Verlust der Ehre und der Ausschluss aus der Gemeinschaft folgte.« Die Ära des Yeşilcam endete in den 1980er Jahren mit dem Entstehen des Autorenfilms, »der sich kritisch mit aktuellen Themen wie Geschlechterbeziehung, Sexualität der Frauen und sozialpolitischen Themen auseinander setzte.« Entsprechend, so Ayten, erkannte die türkische Filmkritik »in den Protagonisten des jetzigen Akin-Filmes vor allem die zweite und dritte Generation der in Deutschland lebenden Migranten. Diese Geschichte handelt also von den ›Anderen‹, den ›Deutschländern‹ oder den vergessenen Söhnen und Töchtern, die zwischen allen Stühlen der Welt stehen, die weder mit der heutigen fortschrittlichen noch mit der traditionellen Kultur der Einheimischen etwas gemeinsam haben. Nicht das Eigene, sondern das vom Ursprung Entfremdete projiziert sich so auf die Leinwand der Kinos im türkischen Raum. Für türkische Zuschauer bietet der Film kaum Identifikationsmöglichkeiten, auch wurde keine Wand berührt.«202 Dass der integrationspolitisch motivierte Gestus, der solche kritische Ansichten auf Akıns Filme rar macht, nach mehr als vierzig Jahren Betroffenheitskino immer noch nicht ausgeblieben ist, darauf verweisen zwei Filme, mit denen ich den diskurshistorischen Nachvollzug zum ›deutsch-türkischen Kino‹ in der Erörterung des nächsten Ensembles fortsetzen und mit Verweis auf generelle fiktionale spielfilmische Tendenzen schließlich beenden werde.
2.3.3.
Ensemble V: Betroffenheit, Culture Clash, Post-Migration (2000-2010er)
Die seit den 2000er Jahren entstandenen Filme rund um das Thema der deutsch-türkischen Migration sind bis dato in keiner wissenschaftlichen Arbeit in einen werkhistorisch-analytischen Zusammenhang gestellt worden. Die nachfolgenden Ausführungen liefern einen kursorischen Streifzug durch das heterogene und genremäßig relativ unbestimmte Filmfeld. Allerdings nutze ich die Gelegenheit und zeige auf, dass jene Filmwerkkultur so divergent ist, dass sie sich gar in einer einzigen Dekade kaum mehr in ihrer Vielfältigkeit der Repräsentationsdynamiken fassen lässt. Damit will ich im Gegensatz zu den anderen Phasen keine genauen Analysen oder diskurshistorische Erweiterungen oder Differenzierungen anbieten, sondern ein erstes filmhistorisches Angebot machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die postkoloniale Vereinseitigung der so fortgesetzten Filmgeschichte nicht destabilisiert wird. Indem ich allerdings auf einen besonderen Film der 2010er Jahre vergleichend mit einem türkischen Migrationsfilm eingehe, zeige ich die Notwendigkeit einer transkulturellen Perspektive zum ent-eurozentrisierenden Umgang mit dem Diskursfeld auf. Für die Jahre ab 2000 und später gilt, was ich an anderer Stelle schon formuliert habe: Das folgende Kapitel wird Argumente für die postkoloniale Kritik der bestehen202 Heidenreich (2015, S. 233f.). Es bleibt bedenkenswert, weshalb Aytens Artikel nicht mehr im Internet auf den Seiten des Evangelischen Pressediensts auffindbar und gelöscht ist. Hat sie mit ihren tendenziell provokativen Aussagen sich wieder in den Bereich der Unsagbarkeit begeben, der die Löschung des Texts im Hypertext provozierte? Ist der Text durch Integrationsdispositiv verdrängt worden? Heidenreich nimmt selbst keine Stellung dazu. Die von Heidenreich genannte Quelle lautet: www.epd.de/medien_index_27924.html.
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
den historisierenden Ansätze des ›deutsch-türkischen Kinos‹ vorbereiten. Generell wird dann nämlich das im Forschungsfeld oft reproduzierte Fortschritts- und »Wandelnarrativ«203 zur Geschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹ »brüchig«204 . So lässt sich mit Nanna Heidenreich darin insistieren, dass der Abstand zwischen dem Problemkino von ›damals‹ und dem ›heutigen‹ angekommenen Kino gar nicht so groß ist, wie zumeist angenommen wird, und dass sie beide in repräsentationspolitische Logiken impliziert sind, die sich im postmigrantischen Kino auch als identity-based claims manifestieren.205 Und vorher noch: Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass die deutschen »Problemfilme« der 1970er und 1980er Jahre (Teils auch der 1990er) mit ihrem »humanistisch-pädagogischen Impuls« und ihrer »subnationalen Mitleidskultur« als ›überholt‹ gelten können und durch ein neues »Kino der Métissage«, des »wechselseitigen Grenzverkehrs«, der Vielfalt, der Souveränität, der Normalität und der Kontinuität ersetzt worden sei. Diese Lesart beinhaltet jedoch eine problematische Fortschrittslogik, die die konservativen (konservierenden) Elemente dieses Kinos – das nicht umsonst auch als neues Heimatkino auf den Plan tritt – nicht zu erfassen vermag, zumal ein Großteil dieses Kinos mit dem Label ›türkisch-deutsch‹ zu einem beschreibbaren, einem ›ethnisch‹ zuschreibbaren Korpus verdichtet wird.206 Ausgehend von den Repräsentationslogiken auch anderer Filme hält Heidenreich an der Unhaltbarkeit einer solchen Fortschrittsgeschichte, als die die Geschichte des ›deutschtürkischen Films‹ erzählt wird, fest. Ihre Kritik an der Durchhaltekraft des frühen Betroffenheitskinos, die die sonst im akademischen Diskurs reproduzierte Fortschrittsgeschichte zum ›deutsch-türkischen Kino‹ als besonders perfide, integrationspolitisch gerahmte Erzählung entlarvt, möchte ich an einem vergleichenden Verhältnis zweier aktueller Betroffenheitsfilme zugleich als epistemische Vereinseitigung produzierend illustrieren. Feo Aladağs Die Fremde (2010), der in Anlehnung an den Ehrenmord an Hatun Sürücü in Berlin entstanden ist, erzählt vom tragischen Schicksal der jungen deutschtürkischen Mutter Umay. Die Geschichte beginnt damit, dass die in Deutschland aufgewachsene und dann an einen Türken in der Türkei verheiratete Frau gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn vor ihrem gewalttätigen Ehemann nach Deutschland zu ihrer eigenen Familie flüchtet. Doch die traditionelle Familie will ihre Trennung und ihren Wunsch zu studieren nicht wahrhaben und drängt sie zur Rückkehr zu ihrem Mann. Als sich die innerfamiliären Konflikte zuspitzen, flieht Umay dann auch vor ihrer Familie in ein Frauenhaus. Nachdem sie mit einem deutschen Arbeitskollegen eine Beziehung beginnt und der ständige Kontaktversuch zur Familie aus Versöhnungsgründen 203 204 205 206
Alkın (2017c). Alkın (2017c, S. 5). Heidenreich (2015, S. 20). Heidenreich (2015, S. 19).
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die Familienehre gefährdet, bewegt ihr Vater in Absprache mit dem Familienältesten in ihrer türkischen Heimat die beiden Söhne zum Ehrenmord. Nur zwei Jahre später wird ein türkischer Film genau jenes Betroffenheitsgenre bespielen und so die Persistenz jener Repräsentationsdynamiken sichtbar machen, die die Migrant_innen viktimisieren und zur Aufwertung des westlich Eigenen als rückständig rassialisieren. Doch bevor ich auf den anderen Betroffenheitsfilm zurückkomme, der 2019 nun jüngst auch noch vom Betroffenheitsfilm Nur eine Frau (2019)207 flankiert wurde und den Sandra Maischberger produziert hat, möchte ich die Heterogenität der migrantischen Frauenbilder der neueren Filme aufzeigen und so einige Einblicke in die »repräsentationspolitischen Logiken«208 der Filme der Post-2000er und 2010er Jahre geben. Denn eine den Repräsentationslogiken und -politiken folgende Historisierung der Filme nach 2010 steht dabei noch aus. Frauenbilder Die Zuweisung an deutsch-türkische migrantische Frauenfiguren als nur im Kontext einer Betroffenheitsperspektive auftauchend bleibt mit Blick auf Filme wie Die Fremde zwar bestehen, wird ab den 2010er Jahren (und vorher auch schon, ▶ Kap. 2.3.2) durch Filme wie Buket Alakuşs Die Neue (2015)209 und Umut Dağs Kuma (2012)210 aber auch instabil. Ersterer erzählt von der Selbstreflexion der Lehrerin Eva (Iris Berben), die im Umgang mit ihrer Kopftuch tragenden Schülerin Sevda eine Sinnkrise durchlebt. Damit erzeugt das TV-Drama einen Rahmen, in dem weibliche Selbstbestimmung, Toleranz und Selbstachtung in der interpersonellen Beziehung zwischen einer deutschen Frau und einer neu in die Klasse getretenen migrantischen Schülerin verhandelt wird. Dass sie über ein konservatives muslimisches Selbstverständnis samt Kopftuch verfügt, destabilisiert das Selbstbild der unverheirateten Lehrerin, die eine Liebesaffäre mit einem Lehrerkollegen eingegangen ist, denn in der Auseinandersetzung mit ihr und ihren als konservativ erachteten Werten finden Vorgänge der Selbstreflexion bei Eva statt. So wird Die Neue zu einem Film deutscher Selbstbefragung, in dem ›das muslimischmigrantische Andere‹ im Sinne kultureller Alterität als Notwendigkeit für eine Stabilisierung des ›deutschen Eigenen‹ als Gegenpol erzeugt wird: An solchen Punkten, an denen die ›deutsche Aufgeklärtheit‹ der Lehrerin vor dem Selbstbewusstsein der jungen Frau auch argumentativ resigniert, wird Eva wieder zu sich selbst zurückgeworfen und die Konstitution ihres eigenen labilen Lebens für sie offensichtlich. Dass Fragen der identitären Selbstbefragung in männlichen Konstellationen auch repräsentationspolitisch stärker in den Vordergrund treten, zeigt sich in Züli Aladağs damals medial kontrovers diskutiertem211 TV-Film Wut (2005)212 . Letztgenannter Film ist im Vergleich zu Die Neue von der Figurenkonstellation her ähnlich angelegt, stellt aber durch die Darstellung einer nicht weiblichen sondern männlichen interpersonellen Beziehung zwischen einem ›weißen‹ Universitätsprofessor sowie Familienvater und 207 Horman (2019). 208 Heidenreich (2015, S. 20). 209 Alakuş (2015). 210 Dağ (2012). 211 Vgl. Figge (2016b, S. 39). 212 Aladağ (2006).
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dem »›migrantischen‹ Jugendlichen Can«213 Prozesse der Andersmachung und der symbolischen wie physischen Gewalt in den Vordergrund. Dabei wird der gewalttätige, terrorisierende Jugendliche für den Professor und dessen Familie »zum Zeichen der Sichtbarkeit und der Bedrohung«214 . Nachdem der Professor zum Schutz seines Sohns Felix den Kontakt zu dem migrantischen Schläger sucht, entsteht daraus eine sich zunehmend zuspitzende Konfliktspirale, die darin endet, dass der in Anbetracht der terrorisierenden Eskapaden des Migranten resignierende Mann den Jugendlichen schließlich umbringt. Aus den Blickpolitiken heraus und zugleich repräsentationskritisch fundiert liest Maja Figge den Film anhand dessen Verfahren der »Verdrehung der Wahrnehmung«215 (weißer Professor wird Täter und migrantischer Jugendlicher Opfer) eine »präzise Studie der Mechanismen rassistischer Wahrnehmung und der visuellen Herstellung der ›Anderen‹«216 . Die Skandalisierung, die Aladağs TV-Film mit sich brachte, weicht in seltenen anderen Filmen einer erzählerischen Zurückgezogenheit, die dann aber zugleich die Repräsentationsverhältnisse im ›deutsch-türkischen Kino‹ verkompliziert. Der Kinofilm des kurdisch-österreichischen Michael Haneke-Schülers Umut Dağ, der so wie Aladağ, Ayşe Polat, Yavuz Yüksel und viele andere Filmemacher_innen des ›deutsch-türkischen Kinos‹ eigentlich aus kurdisch geprägten Sozialisationszusammenhängen kommt, irritiert die gängigen Repräsentationsverhältnisse des Genres. Er erzählt nämlich von der familiären Verkomplizierung durch eine türkische Ehefrau, die an Krebs erkrankt ist. Eine junge kuma aus der Türkei, so der türkische Begriff für eine vom Familienvater angeheiratete oder herangeholte (Ehe-)Frau, soll an Stelle der bald sterbenden Mutter für die Familie sorgen. Diese Ausgangssituation nimmt der Film zum Anlass, die zwischenmenschlichen Konflikte in der Familie durch das Ereignis der kuma-Holung zu verhandeln. Die transnationalen Verstrickungen, die intergenerationelle und geschlechtliche Figurenkonstellation sowie die von den Handlungen der Figuren her hergestellten kulturellen Praktiken, die auf soziale wie religiöse Traditionen und Rituale referieren, entwerfen rund um den Film eine komplexe kulturelle Matrix. Bedächtig, langsam, in dunklen und ruhigen Bildern und beengten Räumen gedreht konzentriert der Film sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familie. So konstelliert lässt er sich zugleich kaum in andere filmische Genrezusammenhänge im Kontext des ›deutsch-türkischen Kinos‹ einordnen, da hier intergenerationalle und kulturelle Diversitäten in eine familiäre Verkomplizierung überführt werden, in denen kein interkultureller Konflikt zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft ausgetragen werden muss – und trotzdem werden vielschichtige Layer angelegt, mit denen die Überkreuzungen unterschiedlicher Lebensdispositionen der Figuren zwischen den verschiedenen kulturellen Matrizes von so genanntem Herkunfts- und Migrationsland und damit die systemischen Zustände im interkulturellen Kontext reflektiert. Die vielschichtigen Layer geben sich daraus, dass die kuma kaum eine Altersdifferenz zu ihren Kindern aufweist, aus der Türkei in einen für sie fremden kulturellen Kontext übersetzt wird und zu 213 214 215 216
Figge (2016b, S. 40). Figge (2016b, S. 40). Figge (2016b, S. 49). Figge (2016b, S. 40).
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der Aktion aus finanziellen Gründen gezwungen ist: Die generationelle, kulturelle und klassistische Kontextualisierung der kuma verweigert eindeutige prädiskursive Lesarten und vermengt sich mit der zurückhaltenden, wenig pathetischen Inszenierung zu einem vieldeutigen Film. Als die kuma beim Geschlechtsakt mit dem türkischen Arbeitskollegen erwischt wird, ruft sich die identitäre Zersetzung der eigentlichen Ehefrau auf, die die Verletzung des Ehrenkodex durch den Ehebruch der kuma selbst nach dem Tod ihres Ehemanns nicht zu ertragen weiß. Häufiger als derart komplex figurierte Storys finden sich Dramen, die wie Die Neue die Selbstfindung migrantischer Frauen ins Zentrum stellen. Das Coming-of-Age Drama Hördur (2015)217 erzählt in der Tradition früherer Emanzipationsgeschichten junger türkischer Migrant_innen, so wie dem paradigmatischen Yasemin oder auch Aufbrüche, von der jungen Aylin (Almila Bağrıaçık), die gegen den Willen ihres alleinerziehenden Vaters (Hilmi Sözer) sich für einen Reitwettbewerb vorbereitet. Während in Yasemin die Legitimation für die Erzwingung des väterlichen Willens noch durch den Ehrenkodex motiviert war, ist in Hördur das Verbot durch den Vater durch dessen Wunsch nach Remigration aufgrund wirtschaftlicher Notsituationen und Ausbeutung am Arbeitsplatz fundiert und zugleich durch dessen Unfähigkeit mit dem Tod seiner Frau emotional umzugehen. Insofern erzählt Hördur von einem intergenerationellen statt kulturalistisch aufgeladenen Konflikt, wie ihn beispielsweise auch Vatanyolu erzählt: Darin setzte der Vater seinen Remigrationswillen gegenüber dem Bleibewunsch seiner beiden Söhne durch. Dass heranwachsende Frauen wie Aylin nicht die einzigen migrantischen Figuren sind, die in Deutschland ihren Weg finden müssen, ist nicht nur in den 1990er und 2000er Jahren oft erzählt worden, sondern setzt sich in den 2010er Jahren als persönliche Selbstfindung fort. Das von Till Schweiger produzierte Mystery-Drama 8 Sekunden (2014)218 des Regisseurs Ömer Faruk Sorak basiert auf dem Drehbuch von Esra İnal, der Schülerin des mexikanischen Schamanen Miguel Ruiz. Der Film erzählt das persönliche Selbstfindungsschicksal einer eigenwilligen Deutsch-Türkin und adressiert auch ausgehend von paratextuellen Elementen wie dem Trailer und in seinem Stab – der Regisseur hat vorher vornehmlich in türkischen Produktionen gearbeitet – sowohl den türkischen als auch den deutschen Zuschauer_innenmarkt. Repräsentationspolitisch gelesen entfaltet der Film ein migrantisches Frauenschicksal, das empowernd für Angerufene insofern daherkommt, wie die Figur sich aus einer unterdrückerischen und sie unglücklich machenden Ehe emanzipiert und eine neue Stufe der Selbstfindung in jenen esoterischen Prinzipien Miguel Ruiz’ findet. Was hier zu einem visuell betörenden, professionell und mit großem Budget gedrehten Gute-Laune-Film avanciert, stellt aus repräsentationskritischer Sicht scheinbar den Höhepunkt jener deutsch-türkischen, migrantischen Frauenbilder dar, die von Verena S. Freytag (alias Sülbiye Günar) zuvor als differenzierte Charakterstudien entworfen wurden. Freytags drei ›Frauenfilme‹ entwerfen aus je spezifischen Konstellationen heraus Porträts deutsch-türkischer Frauen in Deutschland. Während ihr erster Film Karamuk 217 Ergün (2015). 218 Sorak (2015).
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(2003)219 die Identitätsfindung der pubertären Johanna erzählt, die erfährt, dass ihr biologischer Vater türkischen Hintergrund hat, schildert sie in ihrem Beziehungsdrama Saniyes Lust (2004)220 die Geschichte vom unbedingten Schwangerschaftswunsch der Deutsch-Türkin Saniye, die ob den Widrigkeiten von Unfruchtbarkeit, Ablehnung der Schwangerschaft durch ihren deutschen Mann sowie den Schwierigkeiten in ihrem Job unentwegt an ihrem Kinderwunsch festhält. In Abgebrannt (2011)221 erzählt Freytag die Geschichte der allein erziehenden, drogenabhängigen Pelin, die immer wieder aus ihren widrigen Lebensumständen heraus versucht, ein für sie und ihre Kinder besseres Leben zu erarbeiten. Freytags Œuvre setzt damit das von Thomas Arslan in Der schöne Tag angelegte Prinzip der reflektierten Erkundung weiblicher Lebensentwürfe migrantischer Frauen fort. Culture Clash, Islam, NSU, Postmigrantisches und Gangster Neben diesen Filmen, die Migrantinnen in den Mittelpunkt stellen, finden sich besonders auf der Ebene der TV-Spielfilme allerlei Culture Clash-Komödien und -Romanzen, die den interkulturellen Kontakt zwischen Nicht-/Migrant_innen thematisieren. Dreiviertelmond (2011)222 , Kebab mit Alles (2011)223 , Willkommen bei Habib (2013)224 , Macho Man (2015)225 , Der Hodscha und Frau Piepenkötter (2016)226 , Einmal Hans mit scharfer Sosse (2014)227 , 3 Türken und ein Baby (2015)228 , Krüger aus Almanya (2016)229 , Ein Fisch namens Liebe (2015)230 , Liebeskuss am Bosporus (2011)231 , Schlaflos in Istanbul (2013)232 , 300 Worte Deutsch (2015)233 , Plötzlich Türke (2016)234 und zahlreiche andere schon in den 2000er Jahren entstandenen Filme235 und die auf den gleichnamigen Romanen Su Turhans basierende Krimireihe Kommissar Pasha (2017-) verhandeln auf je spezifische Weise Themen kultureller Klischees und Stereotypen, die aus der Kulturverschiedenheit zwischen den Figuren und den Milieus ihr humoristisches, aber zugleich auch entsprechend integrationspolitisches Potential schöpfen: Kulturelle Diversitäten sind auf der Grundlage einer fundamentalen Gleichheit menschlicher Existenz überwindbar, sofern die grundlegenden Werte von Freiheit, Gleichberechtigung und gegenseitiger Toleranz geachtet werden. 219 Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye] (2003). Zu einer psychoanalytisch informierten Lesart des Films siehe Kılıçbay (2014). 220 Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye] (2004). 221 Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye] (2011). 222 Zübert (2011). 223 Murnberger (2011). 224 Baumann (2013). 225 Waldenfels (2001c). 226 Alakuş (2016). 227 Alakuş (2014). 228 Akkuş (2015). 229 Bochert (2015). 230 Thurn (2015). 231 Kürten (2011). 232 Ulbricht (2013). 233 Aladağ (2015). 234 Braak (2016). 235 Vgl. Kebab Connection (2004), Alles Getürkt! (2002), Meine verrückte türkische Hochzeit (2006), Evet, Ich Will! (2008), Süperseks (2004), Soul Kitchen (2009).
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Bemerkenswert in dieser Reihe von Filmen ist sicherlich der finanziell erfolgreiche Almanya – Willkommen in Deutschland (2011), der mit seiner intergenerationellen und interkulturellen Konstellation einen weiten erzählerischen Bogen von Beginn der Arbeitsmigration bis in die 2000er Jahre spannt und sich aufgrund seiner dezidierten sozialhistorischen Referenzen auf die deutsch-türkische Migration bewusst kulturhistorisch vermittelnd gibt. In Canan Turans repräsentationskritischer Lesart geht »[d]er Film […] mit seinen Figuren in diesem Sinne anerkennender und empowernder um als Die Fremde, da er ihnen Handlungspotenzial, Würde und Stärke zugesteht«236 . Leberkäseland (2015)237 , der die Geschichte einer kemalistisch und säkular geprägten Istanbuler Familie aus der Perspektive der türkischen Mutter erzählt, konzentriert sich dabei auf das geschlechterbestimmte eheliche Verhältnis, das besonders durch ihren Ehemann Burhan bestimmt wird. Unter dessen Karrierepläne und unter die Verpflichtungen einer Mutter dreier Töchter ordnet Latife ihre wissenschaftliche Karriere unter, doch ihr Selbstentfaltungsdrang wird auch in Deutschland zunehmend stärker und kann durch das Verlassen der vormaligen türkischen Universität, an der sie lernte und arbeitete, nicht mehr unterdrückt werden. Was Leberkäseland zu einem Ausnahmefilm macht ist die Darstellung des sozial gehobenen, intellektuellen und entmuslimisierten Milieus im türkisch-migrantischen Kontext, in dem sich die Selbstverwirklichungsgeschichte der Mutter nicht unbedingt auf eine ethnisierte oder kulturelle Andersheit rückführen lässt. In den Rassismen, die die Familie später erfährt und den patriarchalischen, kleinbürgerlichen gesellschaftlichen Strukturen der 1960er, zeigt Leberkäseland wenig zuvor Erzähltes und ordnet die komplexen soziohistorischen Hintergründe für einen Fernsehfilm ungewohnt unkontextualisiert ein. So nimmt Leberkäseland allerdings auch einen hybriden Status innerhalb bestehender Systematisierungen des ›deutsch-türkischen Kinos‹ ein, die die Notwendigkeit nach einer zunehmend differenzierteren Forschungsperspektive auf das Feld und Historisierungsentwürfen deutlich macht. Mit der alltagsmedialen Hervorbringung muslimischer Identitäten und des Islams als das westliche Andere haben schließlich Themen zum Islam vermehrt Einzug in die durch Migration kontextualisierten Filmproduktionen erhalten. Die deutsch-türkische Ko-Produktion Takva (2006)238 greift jenes Diskursfeld auf, indem sie vom Schicksal eines muslimischen frommen Mannes, der an der Korruption der islamischen Finanzgeschäfte, in die er verwickelt ist, sowie den sexuellen Versuchungen aufgrund der psychischen Dilemmata, die sie in ihm hervorrufen, zerbricht. Ben Verbongs Thriller nach Kadir Sözens Drehbuch Takiye (2010)239 , der ebenfalls zwielichtige Spendenaffären im islamischen Umfeld verhandelt, eröffnet ein Diskurs- und Repräsentationsfeld, das in seiner Anlage ähnlich wie Dağs Kuma sich kaum in bestehende genreorientierte Muster einfügen lässt und eigenartig ambigue verbleibt. Um zwei weitere Beispiele zu geben: Bijan Benjamins Zelle (2007)240 thematisiert thrillerhaft die Radikalisierung eines türkischen Migranten, der einen Anschlag auf eine U-Bahn plant, während 236 237 238 239 240
Alkın (2017a, S. 354). Willbrandt (2015). Kızıltan (2006). Verbong (2010). Benjamin (2007).
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Fremder Freund (2003)241 in der intensiven Auseinandersetzung einer Freundschaft zweier Studenten die einander Fremdwerdung durch die plötzliche Radikalisierung des jungen Mannes mit jemenitischem Migrationshintergrund erzählt. Burhan Qurbanis episodisch erzähltes Drama Shahada (2010)242 greift die Thematik der Schuld und des Islams auf und zeigt an der besonders charakterbetonten Auseinandersetzung von drei Migrant_innen deren Lebenskonflikte in einer für sie feindlichen Umwelt in Deutschland auf. Mit dem Berlinale Gewinner für den besten Erstlingsfilm bei der Sektion Perspektive Deutsches Kino Oray kommt 2019 ein Psychogramm auf die kinematische Oberfläche, das sich auf den von inneren Zwisten heimgesuchten, jungen erwachsenen Moslem Oray konzentriert und dabei dessen Entwicklungen während der Trennung von seiner Ehefrau in Köln verhandelt. Der von der Kritik besonders positiv diskutierte Film zeigt von jungen muslimischen Erwachsenen durchzogene Milieus und dokumentiert, in dunkel gehaltenen, Milieunähe antizipierenden Bildern die selbstgerechte Lebenswelt seiner Hauptfigur. Durch die dunkle Bildgestaltung des Films werden vormalige ästhetische Entwürfe von muslimischer Spiritualität heraufbeschworen, die sie mystizieren, doch die an dem Protagonisten und den Figuren dicht bleibenden Bildlogiken (Großaufnahmen, viele Intimräume wie Wohnräume etc.) entwerfen eine soziale Nähe, die die Figur des Moslems als Stereotype zu destabilisieren helfen. Eine weitere Entwicklung: Waren Fragen von Rassismus in den Filmen zumeist noch so ausgeklammert, dass sich kaum ein Film dezidiert dem Thema widmete, finden sich nun zahlreiche Filme, die besonders auf tatsächliche Ereignisse rekurrieren: Filme zu den Geschehnissen rund um die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), so zum Beispiel die ARD-Fernsehtrilogie243 , der TV-Film Letzte Ausfahrt Gera – Acht Stunden mit Beate Zschäpe (2016)244 , der auf den Gesprächsprotokollen jener Fahrt basiert; Fatih Akıns zuletzt erschienener Cannes-Beitrag Aus dem Nichts (2017)245 , der die fiktive Selbstjustizgeschichte einer Ehefrau erzählt, deren Ehemann und Kind bei einem rechtsradikalen Attentat ums Leben kommen. Diese Filme erweitern sich gar noch um die Kinodokumentationen wie Der Kuaför aus der Keupstrasse (2016)246 und den zuletzt erschienenen essayistische 6 Jahre, 7 Monate & 16 Tage – Die Morde des NSU (2017)247 . Auch Burhan Qurbanis Wir sind jung. Wir sind stark (2015)248 , der sich den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen gegen eine Flüchtlingsunterkunft richtet, greift neuerdings das Motiv der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gegen »Migrationsandere« auf. Dass sich nun vermehrt Filme den Themen des Fremdenhasses widmen bleibt insofern bedenkenswert, als dass die genannten Filme weniger die Unsichtbarkeitsverhältnisse des Rassismus im gesellschaftlichen Lebensalltag adressieren, sondern vielmehr das über besondere Reichweite verfügende Thema des NSU oder andere medienwirksame Ereignisse im Migrati241 242 243 244 245 246 247 248
Fischer (2003). Qurbani (2010). Schwochow und Christian (2016), Aladağ (2016) und Cossen (2016). Ley (2016). Akın (2017). Maus (2016). Swobodnik (2017). Qurbani (2014).
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onskontext verhandeln.249 Mit dieser Beobachtung soll nicht der Vereinfachung nach der komplexen Dimension des Politischen zugearbeitet werden, d.h. das Politische soll nicht auf das Feld der politics und Repräsentation reduziert (▶ Kap. 9) werden, doch die thematische Ausklammerung genau jener Themenfelder bleibt repräsentationskritisch besonders augenfällig und im Kontext der hier vorgenommenen kursorischen Nachzeichnung der Dekade erwähnenswert. Um den Einblick in die Dekade und damit das Kapitel zu schließen, soll hier die Überlegung nachvollzogen werden, dass das Konzept des »Postmigrantischen« eine allererste und noch weiter zu klärende Basis dafür liefert, wie die Filmkultur im Migrationskontext um die späten 2000er Jahre und die 2010er Jahre herum beschrieben werden kann: Wenn Fatih Akın 2014 den letzten Film seiner Liebe, Tod und TeufelTrilogie, The Cut (2014)250 , auf Hollywood-Niveau und ohne deutsch-türkischen Migrationsbezug dreht; wenn er zwei Jahre später Wolfgang Herrndorfs Beststeller »Tschick« als Film251 realisiert; wenn der kurdisch-deutsche Mennan Yapodreht Premonition (2007)252 mit Sandra Bullock einen Hollywood-Mystery-Thriller dreht; wenn die Nachwuchstalente İlker Çatak und Hüseyin Tabak Literaturverfilmungen wie Es war einmal Indianerland (2017)253 oder Das Pferd auf dem Balkon (2012)254 umsetzen, die keinen deutsch-türkischen Migrationsbezug auf inhaltlicher Ebene mehr ausweisen; dann verlassen die genannten Regisseur_innen nicht nur einen vorher erwählten migrantischen Kontext als Sujet, sondern bewegen sich mit ihrem Filmeschaffen auf einem kommerziellen Niveau, das sich nicht mehr im Kontext einer Low-Budget- oder Nachwuchsproduktion bewegt. Als postmigrantisch sind die beschriebenen filmkulturellen Zusammenhänge deswegen, weil sich an ihnen eine Entkoppelung migrantischer Zusammenhänge anzeigt: Schauspieler_innen mit so genanntem türkischem Migrationshintergrund stellen die Protagonist_innen in Krimis. In TV-Serien wie Alle lieben Jimmy (2005-2007)255 um eine Migrant_innen-Familie spielt beispielsweise der migrantische Hintergrund kaum noch eine vordergründige Rolle mehr. Diese Umstände lassen sich so als Indikatoren für eine Veränderung im Hinblick auf die Bestimmung des Migrantischen in jenen kulturproduktiven Feldern selbst lesen. Genau dieser andere Ort des Migrantischen konstituiert die dritte Phase in der Historisierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹, die auch Hake und Mennel analysieren256 oder Redakteur_innen anerkennen257 . Während das Fortschrittsnarrativ vom ›deutsch-türkischen Kino‹ zunächst noch hervorhob, dass die Migrant_innen überhaupt in die Lage gekommen waren, ihre 249 Zu nennen sind noch: Die Inhaftierung von Murat Kurnaz in Guantanamo und die Enthaltung des damaligen Außenministers Frank Walter Steinmeiers in dessen Sache, wurde von Fatih Akın in einer Episode von Deutschland 09 (2009) verhandelt. Ein Spielfilmbeitrag zu Kurnaz’ Schicksal ist das Drama 5 Jahre Leben (2013). 250 Akın (2014). 251 Tschick (2016). 252 Yapo (2007). 253 Vgl. Gueneli und Çatak (2017, S. 409). 254 Tabak (2012). 255 Bavaria Media GmbH (2005-2007). 256 Hake und Mennel (2012). 257 Alkın und Tronnier (2017, S. 394)
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
eigenen Repräsentationen zu verwirklichen, so muss mit jenen zumindest kommerziellen Erfolgen und den Wandlungen und Heterogenisierungen in den Repräsentationsregimen diese Erfolgsgeschichten und Veränderungen auch in Richtung eines internationalen und auf gehobener Ebene stattfindenden Regisseur_innen- und Kulturerfolgs erweitert werden. In so einer Historisierung wird die Unweigerlichkeit der Kopplung von Migration mit kultureller Fremdheit, die die frühen Filme auszeichnete, relativiert. Für Kultur und Gesellschaft wird zudem eingestanden, dass die Normalisierung von Migration und der mit ihr einhergehenden Hybridität aus Gründen der prozessualen Fortentwicklung von Kultur sie eher als eine postmigrantische Gesellschaft verstehen lässt. In diesem Sinne wäre mit derartigen auf inhaltlicher Ebene weniger mit deutsch-türkischer Migration beschäftigten Filmen von einer Filmkultur des Postmigrantischen zu sprechen, einer Filmkultur, in der der so genannte migrantische Hintergrund nicht zwingend zu migrantischen Themen führt und in der deutlich wird, dass Migrationssituation jeher einen gesellschaftlichen Konstituens und einen konstitutiven Modus des Gesellschaftlichen bezeichnet.258 Der Begriff ›postmigrantisch‹ hebt auf einen Zustand an, in dem das Migrantische von seinen Charakteristika als Exklusivität oder Andersheit enthoben ist. Die Selbstverständlichkeit und Akzeptanz von Migriertheit als Zustand der Normalität der Gesellschaft rückt die Migrierten von ihrem Status als Andere weg hin zur Annahme ihrer gesellschaftlichen Normalität, weshalb Migrationsthemen nun auch jenseits Kulturdifferenz verhandelnder Filme auftauchen können. Damit ermöglicht sich langsam eine Auflösung der integrationspolitischen Rahmung des Felds der Migration im filmkulturellen Kontext. In diesem Kontext setzt seit geraumer Zeit ein zunehmend gelassenerer Umgang mit Stereotypen und Klischees ein. Migrant_innen sind so nicht mehr nur auf Rollen als Nebenfiguren oder als Teil einer Rahmenhandlung reduziert, sondern spielen zunehmend eine vordergründige Rolle. Das zeigt sich zum Beispiel an der Auftragsproduktion 4 Blocks (2017-?)259 des Bezahlsenders TNT. Die aus sechs Episoden bestehende Serie, die unter der Regie Marvin Krens entsteht, stellt eine aktuelle erfolgreiche Gangsterstory über einen arabischen Drogenclan in Berlin, Neukölln dar. Schon zuvor hatten die beiden Schauspieler Frederick Lau und Kida Khodr Ramadan, die in der Serie die Hauptrollen spielen, in Cüneyt Kayas Drama Ummah – Unter Freunden (2013)260 vor der Kamera gestanden und damit eine Freundschaft zwischen einem ehemaligen V-Mann und einem arabischen Kleinhändler erzählt. Diese nicht nur schauspielerische, sondern auch erzählerische Grundlage nimmt die Serie auf und figuriert die beiden Schauspieler parallel zum Vorfilm Ummah. In 4 Blocks spielt Lau so 258 Wobei bei dem Begriff des ›Postmigrantischen‹ zugleich all jene Problematisierungen zu berücksichtigen wären, die das Prädikat ›postmigrantisch‹ in einer postkolonialtheoretisch informierten Sicht mit sich bringt. Als da wären besonders das Problem des Präfix ›post‹, das einen so kaum haltbaren Bruch antizipiert, die Verkennung des kritischen Potentials von Hybridität, sowie die essentialistische Auslegung auf Seiten soziologischer Rahmungen des Begriffs. Siehe zu den Kritiken an den zelebratorischen Verweisen des Konzepts besonders anti-rassistische, postkolonialtheoretische Texte im deutschen Kontext, so zum Beispiel Mecheril (2014). 259 Kren (2017-). 260 Kaya (2013).
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den verdeckten V-Mann Vinz, der den arabischen Drogenclan ausspionieren soll. Tony (Kida Khodr Ramadan), der Kopf der Bande, muss mit dem Wegfall von Drogenlieferungen neue Bezugswege erarbeiten, will aber eigentlich aussteigen und mit seiner Tochter und Frau ein ruhiges, nicht mehr kriminelles Leben führen. Just zu der Zeit tritt sein ehemaliger Kollege Vinz auf, eben jener V-Mann, den Tony ohne Wissen über dessen V-Mann-Aktivitäten in die Truppe holt. Der sich immer weiter zuspitzende Konflikt mit dem Berliner Konkurrenzclan verschärft die Umstände für den arabischen Clan und die Polizei. Vinz versucht auszusteigen und mit einer früheren Jugendliebe, die inzwischen mit einem inhaftierten Clan-Mitglied aus Tonys Truppe verheiratet ist, durchzubrennen. In diesen Verstrickungen ziehen sich Fragen nach Loyalität und Vertrauen in den Mittelpunkt der Handlung. Als Gangsterserie steht 4 Blocks für ein Genrekino, das sich nicht für die political correctness des Integrationsdispositivs interessiert und keine bürgerlich normalisierten Migrant_innen als Integrationsvorbilder präsentiert, wie in der ARD-Serie Türkisch für Anfänger (2006-2008)261 , die ein dezidiertes Produkt aus dem von der Bundesregierung unter Angela Merkel erarbeiteten Nationalen Integrationsplan ist.262 Was mit Özgür Yıldırıms Hip-Hop-/Gangsterfilmen Chiko (2008)263 , Blutzbrüdaz (2011)264 , sowie Umut Dağs Risse im Beton (2014)265 und anderen Hip-Hop-Filmen wie Kanak Attack (2000)266 oder Detlev Bucks Knallhart (2006)267 oder dem Bushido-Biopic Zeiten ändern dich (2010)268 , aber auch mit Neco Çeliks Alltag (2002)269 und Fatih Akıns Langfilm-Debüt Kurz und Schmerzlos (1998)270 erfolgreich gelaufen war, findet mit der Gangsterserie nun eine fast durchweg gut rezensierte serielle Ergänzung. Dass das Themenfeld der Migration in Filmproduktionshinsicht gerade bei der Serie kritisch zu berücksichtigen ist, liegt in dem Umstand begründet, dass sich unter dem Kernstab jenseits der Schauspieler_innen Name identifizieren lässt, der auf einen orientalischmigrantischen ›Hintergrund‹ schließen lässt. Inwieweit eine solche, für kulturelle Diversität blinde personalpolitische Perspektive auch für das Feld der visuellen Kultur des ›deutsch-türkischen Kinos‹ relevant ist, soll hier als unbedingt zu diskutierende Frage angesprochen, aber nicht weiter erörtert bleiben.271 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271
Dağtekin (2006-2008). Vgl. Posos-Devrani (2017). Yıldırım (2008). Yıldırım (2011). Dağ (2014). Becker, Lars (2000). Buck (2006). Edel (2010). Çelik (2002). Akın (1998). Interessant wird der Film also in einer produktionstechnischen Hinsicht: Unter dem Stab findet sich außer den Schauspieler_innen und dem Location Scout kein türkischer oder arabischer Name. Ob und inwieweit kulturelle Diversität im Kernstab sich über die beteiligten Akteur_innen durchzieht bedarf allerdings einer mehr als nur über die Inspektion der Namen ausgehende Analyse. Trotzdem: Dieser rassismuskritisch sicherlich interessante Umstand lässt Thesenbildungen zu Fragen nach der Filmproduktionskultur in Deutschland zu, die in einer gesellschaftskritischen production studies-Perspektive interessant wären.
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
Mit diesen Überlegungen zur Postmigration steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung neuerer Entwicklungen noch an ihrem Anfang, zumal noch nicht umfassend genug geklärt ist, wie mit Postmigration und der Beschreibungsqualität dieses Begriffs einigermaßen sinnvoll umzugehen ist. Vorschläge für eine allgemeine analytisch gewinnbringende Perspektive finden sich einige. Naika Foroutan meint mit »postmigrantischer Gesellschaft« dezidiert, dass »[d]as Präfix ›post‹ […] dabei nicht für das Ende der Migration [steht], sondern beschreibt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die in der Phase nach der Migration erfolgen«. Für sie sind »postmigrantische Gesellschaften« jene, in denen mindestens »Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat«272 . Für das Theater beschreibt die Intendantin des Ballhaus Theaters an der Naunynstraße, Shermin Langhoff, die als Begriffsgründerin gilt, das »Postmigrantische« in einem Interview so: Wir haben uns das Label ›postmigrantisch‹ gegeben, weil wir mit dem oben beschriebenen Zustand brechen wollten. Gleichzeitig geht es um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht ›postmigrantisch‹ in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.273 Soziologische Arbeiten zum Begriff finden sich in den Schriften von Erol Yıldız. Gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Marc Hill versteht er unter dem Postmigrantischen beispielsweise »eine Geisteshaltung, eine eigensinnige Praxis der Wissensproduktion. Im Mittelpunkt steht eine kritische Reflexion des restriktiven Umgangs mit Migration und deren Folgen, eine widerständige Haltung gegen hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse«274 . Für die in Ihren Anfangsschuhen steckenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen sind die hier vorgestellten Filme noch keine zentralen Objekte, weshalb es nach wie vor einer Verortung der Filme in den Diskurskämpfen zum Postmigrantischen fehlt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu den Filmen ist jedoch in vollem Gange, erst an ihrem Anfang und medientheoretisch umstritten.275
2.3.4.
Epistemologische Vereinseitigung: Blinder Fleck ›türkisches Kino‹
Die hier vorgenommene Darstellung der Filmwerkekultur der Post-2000er Jahre, die gar nur in einigen Ansätzen und an einigen Beispielen illustriert werden konnte (den Bereich des Dokumentarfilms und anderer Gattungen wie den Kurz- und unkommerziellen Festivalfilm habe ich vollständig außen vor gelassen) und heuristisch einige Filme genremäßig einordnete, verweist zugleich auf ein filmkulturwissenschaftlich durchaus 272 273 274 275
Foroutan (2015). Langhoff in Donath und Langhoff (2011). Hill und Yildiz (2018). Alkın (2017c) und Michaelsen (2019).
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noch der Aufarbeitung bedürftiges Feld. Dass dieses Feld, will es die Fortschrittsgeschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹ als unhaltbare und eurozentrische nicht reproduzieren, noch Filme aus türkischen Produktionszusammenhängen berücksichtigen sollte, will ich an einem konkreten Beispiel aufzeigen, um so die Spannweite des Felds und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit ihr zu illustrieren und zugleich die vorliegende Arbeit vorzuschlagen, die innerhalb jenes Untersuchungsfelds zu verorten wäre. Zwei Jahre nach Erscheinen von Aladağs Die Fremde kommt auch Ali Levent Üngörs vornehmlich mit Produktionsmitteln aus der Türkei gedrehter Mevsim Çiçek Açtı (2012)276 in die Kinos. Letzterer erzählt, so wie Die Fremde auch, von der Flucht einer in Deutschland lebenden türkischen Migrant_in, die vor ihrem alkoholsüchtigen und gewalttätigen Ehemann Nazmi in Deutschland in ein Frauenhaus flüchtet. Dort solidarisieren sich andere Frauen mit ihr. Zugleich stehen der Taxifahrer Asaf und sein Mentor Musa den Frauen bei, zumal Asaf sich in die nun alleinlebende Mevsim verliebt hat. Durch die Involviertheit von Mevsims Ehemann Nazmi in die Angelegenheiten der türkischen Mafia in Deutschland verkomplizieren sich die Verhältnisse zwischen den Figuren so sehr, dass Nazmis Versuch der Ermordung seiner Ehefrau Mevsim aus Ehrengründen mit seinem eigenen Tod endet. Eine repräsentationskritische Arbeit im Feld des ›deutsch-türkischen Kinos‹, die die Konstruktionen von Männlichkeit in jenen Filmen herausarbeiten würde, verbliebe bei der Berücksichtigung nur derjenigen Filme, die vornehmlich deutschen Produktionszusammenhängen entstammen, reduziert. Ein solcher auf Filme aus Deutschland beschränkter epistemologischer Rahmen verschließt sich einem inter- oder transkulturellen Kontext, obgleich mit der Migrationsvorstellung ein jeher Grenzen transgredierender Aspekt sowohl auf Seiten der Untersuchungen als auf inhaltlicher Ebene der Filme verhandelt wird. Der in vielfältigen Ebenen als solcher entstehende transkulturelle Kontext bleibt also reduziert, wenn in Untersuchungshinsicht die transnationale Verstrickung im Migrationskontext zu Gunsten nur einer nationalen Richtung ausgeblendet wird. Das Männerbild des gerechten, gläubigen Schwiegervaters, der den eigenen alkoholkranken und gewalttätigen Sohn verschmäht und die Enkelin und Schwiegertochter umsorgt, reißt in das nur von deutschen Filmen aufgespannte Repräsentationsregime, das Die Fremde mit dem vom Ehrenmordgedanken getriebenen Vater als patriarchalische Figur herstellt, einen ›Riss‹, der zugleich die bestehenden filmhistorischen und -analytischen Bestimmungen affiziert, die sich im englisch- und deutschsprachigen Raum zunehmend vereinseitigen. Die Figuren der beiden Taxifahrer, die als eine männliche schützende Instanz für die als hilflos dargestellten Frauen angelegt sind (dieser Schutz umfasst zugleich auch Gewährleistung der Aufrechterhaltung des Ehrenkodex, siehe dazu die späteren Analysekapitel türkischer Filme) werden als antagonistisches Bild zum gewalttätigen Ehemann Mevsims angelegt. Die Figuren verweisen so auf die Produktion von Männerbildern im Film, die auf unterschiedlichen Inverhältnissetzungen zu den Frauen aufbauen. Aus solchen ›Rissen‹ schimmert ein Wissen heraus, das 276 Üngör (2012).
2 Historische Rückvergewisserung I: Das ›deutsch-türkische Kino‹
sich erst aus einer kulturell spezifischen und schließlich diskursanalytisch-kritisch sowie postkolonialtheoretisch informierten Perspektive differenzieren und auseinandersetzen lässt.277 Eine solche epistemologisch geöffnete Haltung als polyzentrische Sicht auf eine flexible Geographie werde ich in Kapitel 4 für den filmwissenschaftlichen Kontext genauer erarbeiten. Dass hierhin für den Film zugleich die visuelle Konstruktion zu bedenken ist, will man die visuelle Kultur an der Etablierung derartigen Wissens verstehen, wird dann in den Hauptanalysen aufgezeigt werden.
277 Eine genauere Analyse beider Filme im Kontext meiner hier etablierten Argumentation findet sich auch in Alkın (2015b, S. 125-128) sowie Alkın (2018).
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3. Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
Das Kapitel wird zunächst die wissenschaftliche Konstruktion des türkischen Emigrationsfilms vorstellen, die eine Kritik an bestehenden Systematisierungs- und medientheoretischen Vorannahmen dieser Konstruktionen in den Blick nimmt. Der Hauptteil des Kapitels führt in die kultur- und filmhistorische Situation des türkischen Films ein, um dann dem Motiv türkisch-deutscher Migration in den Filmen der 1970er Jahre bis heute nachzufolgen. Statt von den Repräsentationsdynamiken der Einzelfilme auszugehen und sie im Hinblick auf ihre Repräsentationsleistungen hin zu Phasen zu verdichten, die mehr oder minder rund um die Ermächtigungs- und bildstrategischen Leistungen hin gruppiert sind – ähnlich wie in der Historisierung des deutsch-türkischen Kinos und meinen an anderer Stelle formulierten Vorschlägen zum türkischen Emigrationsfilm geschehen1 –, werde ich die für das Yeşilçam-Kino erarbeiteten genreund motivmäßigen Kategorisierungen ernst nehmen und die deutsch-türkische Migration darin verorten. Dadurch wird zum ersten Mal ein umfassender Überblick über die auch filmarchivisch bislang unenthoben gebliebenen Filme geleistet.
3.1.
Kritik der wissenschaftlichen Konstruktion des türkischen Emigrationsfilms
Seit Oğuz Makals »Sinemada Yedinci Adam. Türk Sinemasında İç ve Dış Göç Olayı« (»Der siebte Mann im Kino. Das Binnenmigrations- und Emigrationsereignis im türkischen Kino«) im Jahre 19872 hat es keine monographische Arbeit mehr gegeben, die sich der filmischen Verhandlung von Emigration im türkischen Film gewidmet hat.3 Damit gleicht das Schicksal, des im Forschungsdiskurs oft als ›türkisches Emigrationskino‹ (Türk dış göç sineması) bezeichneten Filmensembles dem des ›deutsch-türkischen Kinos‹, zu dem 1 Vgl. Alkın (2015a). 2 Makal (1994). 3 Gülseren Güçhan hat sich den Filmen der Migration in der Türkei gewidmet, allerdings mit besonderem Fokus auf die Binnenmigration und zwei Jahre vor Makals Arbeit, siehe Güçhan (1992).
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Die visuelle Kultur der Migration
es nach wie vor einer durch umfassende Archivarbeiten werkhistoriographisch gesicherten Forschungsarbeit fehlt. Immer wieder kommen in vornehmlich soziologisch motivierten Aufsätzen und Abschlussarbeiten Versuche von historischen und analytischen Abrissen des ›türkischen Emigrationsfilms‹ vor, die oftmals sogar in die zumeist am türkischen Kino orientierten filmhistorischen Entwürfe noch Filme des ›deutsch-türkischen Kinos‹ integrieren.4 Doch weder sind die Arbeiten im Hinblick auf eine Systematik zur Erarbeitung eines entsprechenden Korpus noch im Hinblick auf die Medialitätsbestimmung des Filmischen so perspektiviert, dass sich medientheoretisch zufriedenstellende Aspekte in ihnen anzeigen. Medientheoretisch unterbestimmt bleiben die meisten Arbeiten deswegen, weil die Filme in den Arbeiten auf ihre Wiederspiegelungskapazität eines zumeist als vorgängig angenommenen sozialen Ereignisses von türkischer Emigration reduziert werden. Makals Arbeit enthält sich genauerer analytischer Perspektiven auf die Filme und präsentiert lediglich zusammenfassende Darstellungen der Filminhalte und eine zusammenfassende Darstellung des Emigrationsereignisses als Forschungsstand der soziologisch motivierten Migrationsforschung jener Jahre. Dabei wird in den Arbeiten wie denen von Makal ein Blick sowohl auf Binnenmigration als auch Emigration geworfen, da die umfassenden Migrationsbewegungen der 1950er Jahre in der Türkei als vornehmliche Landflucht sich später zur Emigration figurierten und in ihren Anfangsphasen damit vornehmlich aus sehr ähnlichen Dynamiken resultierten. Deshalb wurden die Filme in frühen Phasen ihrer Untersuchung fast ausschließlich im Sinne von Arbeitsmigrant_innenfilmen angenommen. Gülseren Güçhans sich auf Binnenmigrationsfilme konzentrierende Arbeit bietet eine über die Wiederspiegelungsmetapher hinausgehende Differenzierung des Filmmedialen an, indem sie zugleich auf die gesellschaftsgestaltende Kraft5 und die Konstruktion einer »visuellen Ideeneinheit«6 jenes Massenmediums hinweist. Damit weist sie auch auf die kulturproduktive Dimension des Filmischen hin, die unter anderem darin besteht, das visuelle Gedächtnis einer Gesellschaft zu formieren. Dass sich die Filmkultur, verstanden als Filmwerkkultur, je diffizil und bisher unbestimmbar noch entlang der kulturellen Entwicklungen verändert, bildet einen Schlussgedanken ihrer Ausführungen zur Leistung des Filmischen im Verhältnis zum Gesellschaftlichen. Damit geht sie von einem reziproken Verhältnis zwischen medialer und sozialer Sphäre aus: eine solche Verhältnisbestimmung wird in den Hauptanalysekapiteln der vorliegenden Arbeit (Teil II) noch in einigen Hinsichten zu erörtern sein. In der Tat sind die Bestrebungen zur wissenschaftlichen Klärung des Verhältnisses zwischen dem Sozialen und dem Filmischen so breit und zugleich noch in einem so frühen Stadium7 , dass diese Fragen entlang weiterer theoretischer Arbeiten in dem 4 Anık (2012), Duruel Erkılıç und Erkılıç (2013), Osmanoğlu (2016), Alkın (2013), Serarslan und Özgür (2009), Tamer (1978), Tosun (2006), Toy Par (2009), Yarar (2010), Yüksel (2001), Güçhan (1992), Ulusay (2008). Aus interkulturell germanistischer Perspektive und deutschsprachig siehe Kayaoğlu (2012). Imagologisch weitergedacht: Kayaoğlu (2011). 5 Güçhan (1992, S. 66). 6 Güçhan (1992, S. 67). 7 Vgl. Winter (1992), Heinze et al. (2012).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
Feld der Filmsoziologie gerade mit Blick auf die derzeit besonderen Anklang findenden Tendenzen der Science und Technology Studies noch ihrer Bearbeitung harren. Wie in Kapitel 5 noch zu zeigen sein wird, schlägt sich die vorliegende Arbeit auf eine Seite filmkulturwissenschaftlicher Analyse, die sich einem bestimmten Kerngedanken der so genannten »Visuellen Kultur«8 verbunden fühlt, um darüber andere als bisher geleistete Impulse zum Forschungsfeld des ›türkischen Emigrationsfilms‹ zu geben. Weil sich das vorliegende Unterkapitel zum Ziel gesetzt hat, aufgrund der filmarchivischen Defizite und historischen Unterbestimmtheit der Filmwerkkultur zum ›türkischen Emigrationsfilm‹ eine Historisierung für zukünftige Arbeiten sowie die Hauptanalyse in Teil II anzubieten, werden analytische oder medientheoretische Überlegungen zurückgestellt. Insofern funktioniert das Kapitel zwar wie Kapitel 2, nimmt sich aber im Hinblick auf analytische Erörterungen oder kritische Evaluierungen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen zurück. Es ist eher an einer grundlegenden film- sowie sozialhistorischen Kontextualisierung orientiert, die den Verstehenshintergrund für die Analysen in Teil II liefert: gezwungenermaßen, da es im Gegensatz zum Feld deutschsprachiger Kulturwissenschaft noch relativ wenige türkischsprachige Auseinandersetzungen zu kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen gibt, die eine kritische Evaluierung des Feldes und bestehender Bestimmungen erlaubten. Da genrehistorische Ausführungen sich in den jeweiligen Hauptanalysen wiederfinden, nimmt sich das Kapitel auch dahingehend zurück. In der hier vorzunehmenden historischen Rückvergewisserung der wissenschaftlichen Konstruktion des ›türkischen Emigrationsfilms‹ wird der gering ausgeprägte Forschungsstand zusammenfassend erörtert werden, da die kritische Auseinandersetzung zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem türkischen Film in Kapitel 4 fokussiert wird. Von dort aus führt der Weg dann zu den Analysen, die die Kultur ›türkischer Emigrationsfilme‹ der 1970er Jahre unter dem Blickwinkel untersucht, wie die Filme, das, was als Migration angenommen wird, ontologisch stabilisieren. Wird eine kritische Erörterung an der wissenschaftlichen Konstruktion des ›türkischen Emigrationsfilms‹ hier also noch zurückgehalten, findet sie in Kapitel 4, im Kontext einer Kritik filmwissenschaftlicher Forschungshabitualisierungen, einen umso größeren Raum. Ersel Kayaoğlus im Jahre 2012 entstandener, deutschsprachiger Aufsatz arbeitet ein umfassendes Filmkorpus heraus. Ausgehend von einer Perspektive, die die Repräsentationsangemessenheit und Verhandlungskomplexität der Filme im Hinblick auf die türkisch-deutsche Emigration untersucht, attestiert Kayaoğlu dem Gros der Filme eine besondere Unfähigkeit, jenes soziale Ereignis besonders untersuchungswürdig darzustellen. Er wünscht sich gar, dass vormalige Bilder früherer Filme durch neue Bilder überschrieben werden. Sein Fazit lautet deswegen: Eine adäquate und reflektierte filmische Thematisierung der Arbeitsmigration nach Deutschland, die die im kollektiven Bewusstsein von Vorgängerfilmen eingezeich8 Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008a).
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neten Vorstellungen und Bilder verändern könnte, lässt aber immer noch auf sich warten.9 Mit Blick auf die Defizite in der Filmarchivrecherche zum türkischen Emigrationsfilm ab den 1980er Jahren bis heute kann keineswegs von einem umfassenden Verständnis der filmischen Verhandlungsweisen deutsch-türkischer Migration gesprochen werden. Diese Defizite ergeben sich aus den Heuristiken zum Untersuchungsfeld: Weil die 1980er und insbesondere 1990er Jahre als Krisenjahre des türkischen Films gewertet sind, müsste eine Archivrecherche auf die Auslagerungsaktivitäten jener Filmkultur zielen, die für die türkische Filmkultur dieser Jahre das Fernsehen war. Weil TV-Filme in Ermangelung einer gattungssensiblen Sicht nicht in die Archivrecherche einbezogen werden, fallen die Defizite zur Bestimmung jenes Korpus besonders schwerwiegend aus. Zum Beispiel tauchen die Literaturverfilmungen Geyikler, Annem ve Almanya (»Die Rehe, meine Mutter und Deutschland«) (1987)10 sowie Yücel Çakmaklıs TVSerie Bağrıyanık Ömer ile Güzel Zeynep (»Der leidgetragene Ömer und die schöne Zeynep«) (1978)11 in keiner filmarchivischen Recherche auf, die publizistisch zugänglich wäre, obwohl die Filme dezidiert deutsch-türkische Emigration verhandeln und besonders der Regisseur der letztgenannten Miniserie, Yücel Çakmaklı (▶ Kap. 6.5), aus ideologiehistorischer Sicht und in seinem gesamten Œuvre immer wieder deutsch-türkische Migration thematisiert hat. Für die Zeit nach den 2000er Jahren lässt sich das Defizit ebenfalls aufrechterhalten, betrifft aber einen eher medientheoretisch sensiblen Umstand, den ich in Kapitel 5 näher erläutere, und das ist der nach der genremäßigen Bestimmung eines ›türkischen Emigrationsfilms‹. Wie Kayaoğlu in seinen Ausführungen zu den Filmen feststellen muss, lassen sich die Filme entlang ihrer Extensivität der Verhandlung der deutsch-türkischen Migration bestimmen. Eine solche Bestimmung muss aber im Vorfeld festlegen, was als ›deutsch-türkische Migration‹ anzunehmen ist und inwiefern die Extensivität der Verhandlung mit dem Filmmedialen zusammengeht: Worin definiert sich im Filmischen also eine extensive Verhandlung eines bestimmten Motivs oder eines als vorgängig bestimmten sozialen Ereignisses? Diese Frage ist problematisch. Sie berücksichtigt nicht, dass Ereignisse sich niemals unmedialisiert konstitutieren. Was als ›deutsch-türkische Migration‹ gilt, lässt sich nämlich erst über bestimmte mediale Stabilisierungen als solche bestimmen. Damit soll nicht für einen radikalen Konstruktivismus argumentiert werden, sondern vielmehr die Schwierigkeit benannt werden, ein Ereignis wie ›deutsch-türkische Migration‹ in seiner Medialität zu verstehen. Die andere Einschränkung einer solchen Bestimmung eines entsprechenden Genres gibt sich durch das Kriterium der Extensivität: Was als besonders extensive Verhandlung der ›deutsch-türkischen Migration‹ gilt, kann sich erst mit einer Bestimmung der Qualität eben jener filmischen Medialität geben. Wie lange müsste demnach zum Beispiel ein Film welchen Teil einer wie gearteten Wirklichkeit ›deutsch-türkischer Migration‹ verhandeln, um als extensiv verhandelnder und damit ›verdienter‹ Migrationsfilm durchzugehen? Und was bedeutet das Wort 9 Kayaoğlu (2012, S. 101). 10 Baytok (1987). 11 Çakmaklı (1978).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
›verhandeln‹ für eine medientheoretische Bestimmung des Filmischen? Weil also eine solche Bestimmung eines Genres nur unter medientheoretisch besonders prekären Bedingungen argumentierbar ist, muss für eine Arbeit, die die Existenz eines solchen Genres nicht einfach voraussetzt, aber eine medientheoretisch informierte Genrebestimmung reflektieren will, der forschende Zugriff erhellt werden (▶ Kap. 5). Für die Filmarchivrecherche bedeutet das, dass der Filmkorpus zur Erarbeitung türkischer Emigrationsfilme nach den 2000er Jahren besonders deswegen dürftig ausfällt, weil Filme als nicht mehr zugehörig zum Korpus gedacht werden. Denn auf den ersten Blick scheinen sie das Ereignis selbst nicht mehr ›extensiv‹ zu verhandeln. Migration wird als solche kaum mehr wahrnehmbar und wird nicht mehr mit entsprechenden Markierungen als Diskurs, auf den man sich bezieht, identifizierbar. Legt man aber ein filmmedial sensibles Verständnis an, mit dem das Ereignis nicht als vorausgesetzt angenommen wird, eröffnet sich eine filmarchivische Zugangsweise zur gesamten Filmhistorie der Türkei nach den 2000er Jahren, in denen die ›türkisch-deutsche Emigration‹ darin als zu suchende Entität angenommen werden muss. Eine solche Suche und Archivrecherche würde zugleich die Bestimmung all dessen erweitern, was in der Filmwerkkultur der Türkei jener Jahre als ›türkisch-deutsche Emigration‹ gilt. Eine solche Recherche kann die vorliegende Arbeit nicht leisten. Auf das damit verbundene Desiderat soll aber hiermit verwiesen sein. Ungeachtet dieser medientheoretischen Schwierigkeiten werde ich nun im Folgenden die mir zur Verfügung stehende, archivisch eigenständig erarbeitete Filmliste (siehe Anhang), die besonders für die 1970er Jahre eine Vollständigkeit behauptet, heranziehen, und eine mögliche Geschichte des ›türkischen Emigrationsfilms‹ entwerfen, die sich entlang genremäßiger Gruppierungen für die jeweiligen Jahrzehnte ergibt. Insofern ist das folgende Kapitel ein Hilfs- und Kontextualisierungskapitel. Es möchte eine Historisierung derjenigen Filme aus türkischen Produktionszusammenhängen anbieten, die das Ereignis der ›deutsch-türkischen Migration‹ verhandeln. Diese Historisierung wird sich entlang dekadenorientierter Rahmungen gestalten, die bestehende filmhistorische Angebote zur Segmentierung des Kinos in der Türkei aufgreift. Es geht also nicht darum, eine medienhistorische Perspektive zu zeichnen, die die vielfältigen visuellen Konstruktionen in den Einzelfilmen herausstellt, als vielmehr darum, eine Korpussammlung von türkischen Emigrationsfilmen anzubieten und sie entlang bestehender Gesamt- und Genrehistorisierungen des türkischen Kinos zu verorten. Eine Geschichte des türkischen Migrationskinos läuft Gefahr, jene Trennung von world cinema und transnational cinema zu reproduzieren, die in Kapitel 4 kritisiert wird. Sie muss nämlich die transnationalen Verstrickungen auf den vielschichtigen Ebenen und transkulturelle Austauschprozesse ausblenden. Sofern sie hier vorgenommen wird, ist sie als Hilfskonstruktion zu verstehen, mit der die Polyzentrierungen zukünftigen Arbeiten in dem Feld überlassen sein soll. Dabei ist diese Geschichte nur insofern als vollständig zu erachten, wie im Zuge der Filmrecherche entsprechende Filme ausfindig gemacht, gesichtet und eingeordnet werden konnten. Sie stellt also keineswegs einen Anspruch nach Vollständigkeit, sondern versteht sich als erster diachronischer Historisierungsversuch, der Evaluierungen wie ich sie zum Beispiel in meinem Aufsatz »Der türkische Emigrationsfilm. Vor-Bilder
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Die visuelle Kultur der Migration
Abbildung 8 – Inhaltsverzeichnis
Quelle: Arslan, »Cinema in Turkey: A New Critical History« (2010)
des deutsch-türkischen Kinos«12 geliefert habe, moduliert, differenziert und ergänzt. Zentral wird hierfür sein, eine erste filmkulturhistorische Skizze vorzulegen, in der der Rückgriff auf das hier zuallererst vorausgesetzte Motiv der deutsch-türkischen Migration in den jeweiligen dekadenorientierten Einteilungen der türkischen Geschichte offensichtlich wird. Ein Filmregister mit der Übersicht aller ausfindig gemachten Filme mit Bezug zur deutsch-türkischen Migration findet sich am Ende dieser Arbeit. Bei meiner Einteilung einer Geschichte des türkischen Migrationskinos halte ich mich an Savaş Arslans Filmgeschichte zum türkischen Film. Seine Einteilung der türkischen Filmgeschichte ist nur eine unter zahlreichen anderen13 . Was Arslans Perspektivierung der türkischen Filmgeschichte von anderen unterscheidet, ist die Zentralisierung der Yeşilçam-Ära, eine der produktivsten Phasen türkischer Filmhistorie, in die auch die meisten bislang von verschiedenen Stellen recherchierten türkischen Emigrationsfilme14 fallen. Dieses zeitliche Zusammenfallen von Yeşilçam und der deutsch-tür12 Alkın (2015a). 13 Andere Einteilungen finden sich zum Beispiel in Scognamillo (2010), Onaran (1994), Özön (2010), Teksoy (2008). 14 Eine weitere denkbare Bezeichnung wäre ›Emigrationsfilm der Türkei‹. Savaş Arslan plädiert nämlich für eine Sprechweise ohne Adjektiv, also für die Rede vom »Kino der Türkei«, um damit die kulturelle Diversität der nationalen Kinematographie, die unter anderem auch kurdische Filme umfasst, durch das Adjektiv ›türkisch‹ nicht zu unterminieren, Arslan (2009). Entlang dieser Begriffsdifferenz spannt sich eine bis heute fortführende Diskussion über die Redepraxis unter türkischen Filmwissenschaftler_innen und Akteur_innen auf. An der Begriffsorientierung lässt sich die politische Verortung tendenziell zuordnen. Die Bezeichnung Türk Sineması/'Türkisches Kino‹ verweist auf eine eher konservative, nationalistische Denkhaltung den nationalen Kinematographien gegenüber, weil es das
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kischen Arbeitsmigration (1960er bis 1970er) macht den Bezug der vorliegenden Arbeit auf seine Filmgeschichte so sinnvoll (Abb. 8). Dabei versteht Arslan Yeşilçam nicht nur als »category of culture industry or popular filmmaking«, sondern auch als »a specific filmic discourse and language developed by bringing together different films under one umbrella«15 . In Anbetracht dieser Zentralisierung von Yeşilçam und der Perspektivierung als filmischer Diskurs und Sprache in Arslans Filmgeschichte lädt die historische Engführung der vorliegenden Untersuchung auf genau diese Phase zu einer Gefahr ein: Wenn sich die türkische Filmgeschichte als eine Geschichte des Yeşilçam-Kinos lesen lässt, wäre die Yeşilçam-Modalität ein viel zu grobschlächtiger Filter, um damit eine differenzierte Historisierung des türkischen Kinos anbieten zu können. Diese historisch ungenau erscheinende Perspektivierung erfordert deswegen einige Plausibilisierung, die dann erhellen wird, wie die türkischen Emigrationsfilme in der türkischen Filmgeschichte zu evaluieren sind und auf welche Filmzusammenhänge der Fokus zu legen sein wird. Gleichzeitig wird so auch der film- und sozialhistorische Hintergrund aufbereitet, der für ein Verständnis der Untersuchung der Filme gerade im Hinblick auf die Desiderate zur türkischen Filmgeschichte16 im deutschsprachigen Kontext unerlässlich ist.
3.2. 3.2.1.
Der ›türkische Emigrationsfilm‹ in der Yeşilçam-Phase Vorstory I: Kemalismus und die Entstehung einer nationalen Kinematographie
Bis in die 1940er hinein war das Kino in der Türkei, so gemäß auch einer gängigen Evaluierung dieser Zeit, nur gering ausgeprägt, sowohl was die Anzahl an hergestellten Filmen betrifft als auch mit Blick auf die anderen Aspekte einer jeden Filmkultur wie zum Beispiel die Filmkritik. Zugleich war der Gang ins Kino in der Türkei schon bis in die 1940er hinein eine extensive kulturelle Praxis und eingebunden in den Lebensalltag zumeist noch wohlhabender und gebildeter Menschen, die allerdings vornehmlich ausländische wie beispielsweise ägyptische und Hollywoodproduktionen statt eigennationale Filme auf den Leinwänden sichten konnten/wollten. Blickt man auf diese Filmproduktionen bis in die 1930er allgemein so zeigt sich, dass eine Parallelisierung von Filmen und dem kemalistischen Regime sich ereignete. Aber was ist das kemalistische Regime? Wie realisiert sich die »Erfindung der [türkischen] Nation« zu einer Zeit, in der das Medium der Kinematographie seinen globalen Einzug hält? Kino adjektivisch essentialisiert oder das Türkische als Oberkonzept im Bezug auf minoritäre Kinoformen in der Türkei hin unterordnet und damit hierarchisiert. Der andere Begriff, nämlich Türkiye Sineması/Kino der Türkei« horizontalisiert die Hierarchieebene tendenziell, insofern die Türkei als Region gedacht wird, die in sich multiethnische/-kulturelle Diversität birgt (kurdisches, armenisches Kino et cetera). 15 Arslan (2011, S. 17). 16 Erst 2017 ist Ekkehard Ellingers »Geschichte des türkischen Films« erschienen (2017).
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Der General Mustafa Kemal »Atatürk«17 löst am Ende des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich mit der Gründung der Republik Türkei endgültig ab und verhindert damit die 1920 im Vertrag von Sèvres beschlossene Aufteilung des Osmanischen Reichs unter den Siegermächten durch einen 1923 neu aufgesetzten Vertrag von Lausanne. Trotz zahlreichen Länderverlusts bleibt ein großer, das anatolische Kerngebiet sichernder Teil des osmanischen Reichs zurück. Aus der vormals von einem geistlichen und weltlichen Herrscher18 geführten islamischen Monarchie soll eine demokratische, laizistische (Trennung von Staat und Religion) Republik werden, inklusive Modernisierung und ›Zivilisierung‹ mit Orientierung am Westen als Vorbild. Mit der Republiksgründung noch im selben Jahr ging die Erfindung einer Nation19 einher, für die der militärstrategisch intelligent operierende General Mustafa Kemal Paşa als erster Staatspräsident bereits als Gründerfigur und Nationalmythos dienen konnte, was sich bis heute an Bilderporträts in nahezu allen öffentlichen Bereichen durchhält (Schulen, Ämter, Militär, öffentliche Einrichtungen, Teehäuser, Vereinshäuser et cetera).20 Die Republiksgründung wurde hierbei mit einer umfassenden Notwendigkeit der Reformierung der gesamten Gesellschaft verknüpft, die die Trennung von Staat und Religion vorsah. Grund für eine solche bestand für den Staatspräsidenten und seine Regierung in der Annahme einer Modernisierung der Türkei, die ihr Überleben als wirkmächtige Nation auf der Weltbühne nur über eine, die gesamte Bevölkerung durchdringende Neuordnung zu erreichen dachte. Für den als rückständig betrachteten Islam war in dieser Ordnung und Erzählung kaum Platz. Eine Verfassung (im Türkischen matriarchalisch bezeichnet, Anayasa = Muttergesetz) wurde am 20. April 1924 beschlossen, wobei das Zivilgesetzbuch sich zu großen Teilen an demjenigen aus der Schweiz orientierte, mit umfassenden Rechten auch für Frauen.21 Zentrale kulturelle Neuerungen, die die Zivilisierung der Bevölkerung und die Modernisierung der Gesellschaft nach westlichem Vorbild vorantreiben sollten, waren die »Latinisierung des Alphabets« (zuvor war das Osmanische und Arabische vorherrschend), Ablösung des Fes als interkonfessionelle Kopfbedeckung und stattdessen das Tragen des Herrenhuts mit Krempe als Symbol kultureller Hinwendung zum Westen und symbolischer Sichtbarmachung des Wunsches nach Entkonfessionalisierung der Gesellschaft, Einführung des Familiennamengesetzes ab 1934 und vieles andere, mitten in die heterogene, vornehmlich sunnitischislamisch geprägte Alltagspraxis der Bevölkerung zielend.22 Die an kolonialistische Ideologien erinnernde Regierungsprogrammatik der Republiksgründer_innen, Verwestlichung mit Fortschrittlichkeit und Zivilisierung gleichzu17 Wörtlich übersetzt bedeutet der Beiname ›Atatürk‹ ungefähr »Vater der Türken« (»Ata« heißt auch Vorfahre oder Ahne und ist zunächst eigentlich geschlechtsneutral denotiert, jedoch männlich konnotiert) und wird ihm 1934 von der »Großen Nationalversammlung der Türkei« (TBMM, dem türkischen Parlament) gegeben, vgl. Kreiser (2012, S. 53) 18 Der ›Sultan‹ als weltlicher Herrscher war zugleich ›Kalif‹ und damit religiöses Oberhaupt. 19 Vgl. Anderson (2005) 20 Dietrich Jung beschreibt diese, den öffentlichen Raum durchdringende Strategie der permanenten Sichtbarkeit Atatürks in der gesellschaftlichen Sphäre in Anlehnung an Foucaults wissenschaftstheoretische Aufnahme von Jeremy Benthams architektonischem Gefängniskonzept als »kemalistisches Panopticon«, das die türkische Gesellschaft nach wie vor diszipliniere, Jung (2003, S. 94ff.). 21 Vgl. Kreiser (2012, S. 39, 44). 22 Vgl. Kreiser (2012, S. 44-45, 52-53).
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setzen verknüpfte die Nationalidee der Türkei mit einer rassistischen Ideologie ethnischer und konfessioneller Reinheit, der »Verschmelzung der Volksgruppen zu einer türkischen Nation«23 , in der Nicht-Muslime_a, Kurd_innen, Armenier_innen, Griech_innen et cetera integriert, assimiliert, umgesiedelt und vertrieben werden sollten. Dabei war der Islam zwar anerkannte Religion, aber »[r]eligious attachment was also seen as a subversive force, also posing a threat to the modernization and nationalization process in Turkey«24 , was sich beispielsweise an den relativ frühen, allerdings erfolglosen Bemühungen der Kemalisten zeigt, Frauen das Tragen des schwarzen Schleiers zu untersagen.25 Andere religiöse Praktiken oder säkularisierende oder einschränkende Gesetze wurden hingegen erfolgreich durchgesetzt, wie zum Beispiel im Jahre 1928 die Tilgung des Islams als Staatsreligion aus der Verfassung, das Verbot des »Vollzug[s] der Pilgerfahrt nach Mekka […] von 1934 bis 1947«26 , die Abhaltung des Gebetsrufs (Ezan) auf Türkisch (zumindest bis 1950), statt auf Arabisch oder [d]as von Atatürk 1925 erlassene Verbot der Sufi-Orden […]. Im umfassenden Gesetz Nr. 677 wurden alle osmanischen Sufi-Orden (tarikat), ihre Zeremonialstätten (tekke, dergâh) und Heiligengräber (türbe) geschlossen sowie alle rituellen Praktiken (vom Grabbesuch bis zum Heilen durch Behauchen), als wichtigste darunter das zikir-Ritual, verboten. Allein in Istanbul gab es damals über 300 Sufi-Ordenshäuser, welche enteignet, geplündert, zerstört, umfunktioniert und in den Folgejahren und -jahrzenten meistens dem Verfall überlassen wurden.27 Diese als Kemalismus bezeichnete Gründungsideologie was an ideology imposed on the people from above. Its self-declared mission was to revolutionize the society for the good of the people. For the good of a backward and uncivilized people, however, a people whose commitment to progress and civilization could not be relied on. The consequence was that the society – the real people, that is to say – could not be trusted to take part in its own revolution.28 Dieser Regierungsmodus der Souveränitätsmacht, deren Ziel die Verwestlichung »from above«29 war, hatte nicht erst im Kemalismus eingesetzt, sondern konnte sich auf einige Reformen aus dem osmanischen Reich stützen. Kader Konuk formuliert das so: However, the founder of the new republic broadened the reach of earlier reforms and made an additional strategic step: he called on Turkish citizens to identify as Europeans, even while seeking political independence from Western European countries like France.30 23 24 25 26 27 28 29 30
Kreiser (2012, S. 55). Robins (1996, S. 69). Kreiser (2012, S. 44). Neumann (2013). Voßwinckel-Filiz (2015, S. 141). Robins (1996, S. 70). Arslan (2011, S. 63). Konuk (2010, S. 8).
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Dieses schwierige politische Programm der Türkei, politische Unabhängigkeit von Europa aus Gründen politischer Selbständigmachung bei gleichzeitiger kultureller und Werteorientierung an Europa (ab den 1930ern Ablösung des osmanisches kulturellen Erbes durch ein humanistisches kulturelles Erbe, das sich am antiken Europa und der Renaissance orientieren sollte31 ), resultierte in einem verstärkt und bis heute andauernden disparaten Verhältnis der Türkei zu Europa seit Republiksgründung, die Konuk in Richtung der positiven Gestimmtheit zum Westen mit dem Begriff der »Europhilia« beschreibt: Europhilia – by which I mean a preference for Western literature, clothing, and other aspects of cultural and political life-became the norm that reinforced the reformers’ division of Turkish citizens into two factions – progressive Westerners and conservative Muslims.32 Das teilweise heterogene reformpolitische Programm brachte vielfältige Spaltungen in die Bevölkerung ein – Konuk nennt hier die zwischen fortschrittlichen Westlichen und konservativen Muslimen –, deren Folgen noch bis heute die gesamte Sphäre politischen, öffentlichen, privaten, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in der Türkei durchziehen. Die Kurdenfrage oder die insbesondere auch durch das Ausland herangetragene Frage nach der Evaluierung eines Armeniergenozids oder die kulturellen Hybridisierungen zwischen modernen, traditionellen, islamisch-gemäßigten und islamisch ausgeprägten Lebeweisen, ein vielfach komplexes Verhältnis zur kontinentalen und damit identitären Zugehörigkeit (EU-Frage) lassen die vielfältigen Spaltungen immer noch wahrnehmbar, generieren aber auch gleichzeitig eine übermächtige Erzählung, die in ihren gängigen Binarismen (Moderne vs. Tradition, Säkularismus vs. Religion et cetera) kaum mehr haltbar ist (▶ Kap. 3.1).33 Darauf wird an anderer Stelle noch genauer einzugehen sein (▶ Kap. 3.3). Dass gesamte Regionen, Gemeinden und Dörfer in den Anfangsjahrzehnten nach der Republiksgründung je spezifisch von der Regierungsprogrammatik erfasst wurden, mit Folge unterschiedlich ausgeprägter ›Modernisierungen‹, änderte nicht, dass sich bis heute ein Großteil der Reformen durchgesetzt hat, mit dem Ziel, dass »[d]ie in der Erziehung, in der Politik, in der Wirtschaft zu erschaffende Aristokratisierung [und damit auch nationale Europäisierung, Ö.A.], auch in der Kunst etabliert werden sollte«34 . Als Kernfigur dieser Aristokratisierung im Bereich des Kinos betrachtet Nazıf Tunç den im europäischen Ausland ausgebildeten Theatermacher, Schauspieler, Regisseur, Autor Muhsin Ertuğrul. Ihm wird durch Tunç, wie von anderen Stellen auch35 , der Vorwurf gemacht, Schuld an der unproduktiven und minder qualitativen Situation des türkischen Kinos in der Zeit zwischen der Republiksgründung bis in die 1940er Jahre zu sein. Hier wird der gewaltvolle, exkludierende staatliche Reformismus des Kemalismus 31 32 33 34 35
Vgl. Konuk (2015, 0:15:00). Konuk (2010, S. 19). Vgl. Konuk (2015). Tunç (2010). Es ist hier Scognamillos Einschätzung zu folgen, dass ein vorsichtiger und reflektierter Umgang mit dem Phänomen ›Muhsin Ertuğrul‹ vorzunehmen ist, der nicht mit Schuld zuweisenden oder ihn glorifizierenden Evaluierungen gemischt werden darf, vgl. Scognamillo (2010, S. 39).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
auf den Bereich des Films übertragen, indem Muhsin Ertuğrul eine Rolle als Monopolfigur des Films zugeschrieben wird, in der er die kemalistischen, aristokratisierenden, eurozentrischen Tendenzen der Regierung auf den Filmbereich übertragen haben soll: eine nicht ganz vorurteilsfreie Einschätzung, wie sich zeigen wird. Zwar bleibt die Filmgeschichte des türkischen Kinos von seinen Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die späten 1940er Jahre in einigen Teilen noch filmhistoriographisch aufzuarbeitendes und mit Belegen abzusicherndes oder wegen Quellmaterialmangels nur schwer noch weiter abzusicherndes Forschungsfeld türkischer Filmwissenschaftler_innen. Dennoch hat sich ein wissenschaftliches Narrativ von Muhsin Ertuğruls »Ein-Mann-Phase« etabliert, in dem ausgehend von der Grundlagenarbeit des Filmhistorikers Nijat Özön, dem türkischen Film bis in die 1940er Jahre eine kaum vorhandene Entwicklungsfähigkeit und Relevanz eingeräumt wird: eine Argumentation, die sich hauptsächlich auf die geringe Anzahl nationaler Filmproduktionen bis in die 1940er Jahre stützt (1914-1940 insgesamt 46 Spielfilme36 ).37 In seinen sehr frühen Anfängen war das Kino in der Türkei zunächst einmal immer auch Angelegenheit nicht-türkischer/osmanischer Akteure, wie dem rumänischen Filmvorführer Sigmund Weinberg, der unter anderem das »erste türkische« öffentliche Kino, Cinéma Théatre Pathé Fréres, eröffnete und gemeinsam mit dem »ersten türkischen« Regisseur Fuat Uzkınay, den »ersten türkischen« Spielfilm realisierte.38 Im Hinblick auf die Richtigkeit solcher Ursprungserzählungen verweisen zahlreiche Filmhistoriker_innen darauf, dass es eigenartig anmutet, beispielsweise den ersten türkischen Film auf 1914 zu datieren, wenn die türkische Republik selbst erst 1923 gegründet wurde.39 Dabei gibt es keine verlässlichen Dokumente zum Film oder den Film selbst, der von Fuat Uzkınay für das Militär gedreht wurde. Eine Sichtung von Ayastefanos’taki Rus Abidesinin Yıkılışı (»Die Zerstörung des russischen Denkmals in San Stefano«) (1914) hätte den Moment der Zerbombung eines Kriegsdenkmals durch das osmanische Militär gezeigt, das Russland nach Ende des russisch-osmanischen Krieges (1876-1877) als Symbol des Siegs gegen die Osmanen erbaut hatte.40 Dass trotz der schwierigen Materiallage und dem Nicht-Vorhandensein des Films der Beginn der türkischen Filmgeschichte auf 1914 datiert wird, zeigt die nach wie vor gültige Wirkmächtigkeit des nationalen Verständnisses türkischer Filmkultur an, die in dieser Gründungserzählung insistiert. Die nationalistische Haltung, die diese Erzählung vom ersten Film lediglich an das Türkische verstanden wissen will, erklärt, dass »[u]ntil recently, films related to oppressed ethnicities and surpressed languages were excluded from the discussions of Turkish feature films«41 . Ab 1915 war der Offizier Fuat Uzkınay an der Merkez Ordu Sinema Dairesi (MOSD)42 aktiv. Seine filmischen Tätigkeiten beschränkten sich allerdings gemäß der organisatorischen Zielsetzung der Institution auf militärische Dokumentatio36 Vgl. Tunç (2012, S. 31, 67). 37 Vgl. Işığan (2000, S. 199f.). 38 Vgl. Arslan (2011, S. 30f.). 39 Vgl. Arslan (2011, S. 33). 40 Vgl. Scognamillo (2010, S. 23ff.), Arslan (2011, S. 33). 41 Arslan (2011, S. 38). 42 Merkez Ordu Sinema Dairesi = »Zentralmilitärische Filmstelle«.
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nen und weniger auf fiktionale Spielfilme.43 Generell hatte das Militär großes Interesse an dem propagandistischen Potential von Film. Realisiert wurden allerdings vornehmlich »newsreel actualités [ähnlich den Wochenschauen, Ö.A.] and […] a handful of documentaries and feature films both of the army fighting the war for independence and as internal propaganda«44 . Lediglich zwei dezidiert türkische Filmstudios, Kemal Film und Ipek Film, produzieren in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts narrative, hauptsächlich melodramatische und theatralische Spielfilme45 : generell zeichnete den türkischen Film bis in die 1920er hinein ein an westlichen Filmen orientiertes Kino aus, das durch lange Einstellungen und eine inszenatorische wie erzählerische Nähe am Theater und weniger intellektuellen, sondern auf Konsum ausgelegten Melodramatischen ausgezeichnet war. In der reformistischen Agenda hatte der Film, anders als in anderen Künsten wie dem Theater oder der Literatur allerdings nie einen großen Platz gefunden, sodass auf den ersten Blick staatliches Regime und Filmkultur lange Zeit durchaus ›kontaktlos‹ blieben. Für Özön ist das auch auf das mangelnde Engagement der Filmherstellenden und -macher der Zeit zurückzuführen.46 Ab 1922 sei das türkische Kino den meisten Filmhistoriographen zu Folge hauptsächlich vom Engagement eben jenes unter anderem in Berlin ausgebildeten Muhsin Ertuğrul geprägt worden, dem eine Filmkultur theatraler Orientierung ambivalent47 zugesprochen wird. Der damit einhergehende, gleichlautende Vorwurf lautet, dass Ertuğrul Filme mit Orientierung an der westlichen Kultur ganz im Sinne des kemalistischen Ideals nach abendländisch-humanistischer Orientierung realisiert habe, voll an den Bedürfnissen der Bevölkerung und der Filmsprachkunst vorbei und oft das politische Programm der Regierenden affirmierend.48 Ertuğruls Film Bataklı Damın Kızı Aysel (»Aysel, das Mädchen vom Moorhof«) (1934) destabilisiert so eine einfache Zuschreibung, macht aber zugleich auch das Dilemma deutlich, in dem sich der türkische Film in diesen Jahren bewegen musste. Die Story des Films, ist eine Variante des schwedischen Films Tösen från Stormyrtorpet (»Das Mädchen vom Moorhof«) (1917)49 von Victor Sjöström basierend auf dem gleichnamigen Roman von Selma Lagerlöf, und wurde auf das Setting des türkischen Dorfmilieus übertragen: Ali, der Sohn eines Großgrundbesitzers ist einer Frau aus dem Milieu der vermögenden Oberschicht versprochen, verliebt sich aber in die dörfliche in einer Vergewaltigung geschwängerte Aysel. Neben einigen logischen Fehlern in der Handlung kritisiert der Filmkritiker Atilla Dorsay die unfreiwillig komische Unreflektiertheit des Films (der Protagonist Ali versteckt ein Messer in einem riesigen Moor, das der Vater dort trotz Beobachtung aus weiter Ferne mühelos wiederfinden kann). Positiv merkt Dorsay dem Film die Vermischung der hauptsächlich europäischen Einflüsse an, so zum Beispiel expressionistische (Lichtsetzung, harte Schwarz-Weiß-Kontraste), russisch-formalistische Elemente (zum Beispiel Assoziationsmontagen), mit dem der Türkei eigentümlichen Setting. Die Leistung der Übertra43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Refiğ und Zileli (2009, S. 68). Arslan (2011, S. 39). Vgl. Hayır (2014, S. 810ff.). Vgl. Özön (2010, S. 24f.). Vgl. Arslan (2011, xiii). Vgl. Işığan (2000, S. 201f.). Sjöström (1917).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
gungsfähigkeit im Film führt Dorsay auf den europäischen Ausbildungsweg Ertuğruls zurück50 . Zur europäischen, damit also am Westen orientierten Ästhetik des Films gesellt sich eine Repräsentation dörflicher Figuren, an der sich die Wunschvorstellung kemalistischer Ideologie nach einer Bildungsbevölkerung anzeigt. Indem der Film die als rückständig vorgestellte ländliche Bevölkerung durch gebildete und eloquent, sowie dialektfrei türkisch sprechende Figuren repräsentiert, das Milieu aber bäuerisch erwählt ist, oszilliert in der Betrachtung des Films die Antizipation von Bäuerlichkeit und moderner Verstädterung (Hochtürkisch), sodass die Figuren als Hybridwesen, als städtische Bauern wirken, die eigentlich nicht städtisch sozialisiert sein können (die Narration legt nahe, dass die Figuren nicht dort sozialisiert wurden). Auf diese filmische Strategie der Realisierung einer gesellschaftlichen Utopie im Film zu bevölkerungspädagogischen Zwecken, wie sie sich auch in anderen nationalen Kontexten zu propagandistischen Strategien im Umgang mit Film anzeigte, wird in Kapitel 4.2 zu den nationalen Filmprogrammatiken noch zurückzukommen sein. Verschärfend zu den ideologischen Implikationen im Kino von Muhsin Ertuğrul tritt hinzu, dass er im filmproduzierenden Umfeld mit der willentlichen Blockierung von Akteur_innen gegenüber denjenigen, die in der Türkei Filme produzieren wollten, zur Rückständigkeit des Kinos in der Türkei beigetragen, indem er beispielsweise bei ihm angestellten Schauspieler_innen Tätigkeiten bei Fremdproduktionen untersagte – und das, obwohl Kino für Ertuğrul immer nur Mittel zum Zweck eines als hochkulturell erachteten Theaters und damit von sekundärem Interesse war.51 Ibrahim Altuğ Işığan zeigt deutlich auf, dass die Deklarierung der frühen Phase des türkischen Kinos bis in die 1940er Jahre als so genannte »Ein-Mann-Phase«, in der Ertuğrul der einzige aktive Filmemacher gewesen sei, trotz dieser seiner Versuche einer Monopolstellung im Bereich Film mit einer Diskreditierung des Kinos der Türkei vor den 1950er Jahren insgesamt einhergeht, die der filmhistorischen Komplexität und Vielfalt in diesen Jahren nicht gerecht werde. Nicht nur verachte eine solche Geschichtsschreibung die komplexen Zusammenhänge zwischen der Alltagskultur der entsprechenden Jahre und den komplexen Verfahren der Produktion, Distribution, Rezeption von Filmen in der Zeit, sondern sie operiere selbst mit kaum gewinnbringenden Vorannahmen von Nationalität, die beispielsweise die filmherstellenden Tätigkeiten der makedonischen Manaki Brüder52 in der Türkei nationalstaatlich als türkisch vereinnahme oder sie gänzlich diskreditiere und ausschließe.53 Zurückzuführen ist die Widerständigkeit der Erzählung von der »Ein-Mann-Phase« Muhsin Ertuğruls sicherlich auch mit der Plausibilität, in der sie sich darstellt. Sie wird in der wissenschaftlichen Diskussion parallelisiert mit der Geschichte der Republiksgründung der Türkei, in der der »Ein-Mann-Phase« der Republik durch Atatürk auf politischem Feld, die »Ein-Mann-Phase« des Kinos durch Ertuğrul zugesprochen wird54 . Resultat ist dann unter anderem Erleichterung bei der filmhistoriographischen Recherchearbeit. Sie kann von solch einem auf die Quantität der nationalen Eigenproduk50 51 52 53 54
Vgl. Dorsay (2014, S. 35). Vgl. Arslan (2011, S. 55). Vgl. Refiğ und Zileli (2009, S. 67). Vgl. Işığan (2000, S. 208). Vgl. Tunç (2010, S. 168).
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tionen zielenden Einschätzung filmhistorischer Relevanz, die beispielsweise der Filmhistoriker Nijat Özön argumentiert55 , gerade auch mit Blick auf die überproduktive Phase des Yeşilçam-Kinos ab den 1960er Jahren, als übergehenswert betrachtet werden. Wenn hier jedoch eine geringe Berücksichtigung der Filmgeschichte der Türkei in seinen Anfängen bis in die 1940er Jahre vorliegt, dann nicht deswegen, weil die gesellschaftliche Rolle des Kinos in dieser Zeit nur marginal ist, lediglich als Wegbereiter eines Yeşilçam-Kinos evaluiert werden sollte oder diese Zeit generell als untersuchungswürdig zu diskreditieren ist, sondern schlichtweg weil der Beginn der Arbeitsmigration mit der Yeşilçam-Phase zusammenfällt und das Abebben ihrer Filmproduktivität mit dem Verschwinden des Motivs der türkisch-deutschen Emigration Hand in Hand geht (▶ Kap. 3.3). Zwar wurden in der Zeit von 1922 bis 1939 tatsächlich nur 28 ›nationale‹ Spielfilmproduktionen in der Türkei realisiert56 , was aber nicht als marginale Situation des Kinos in der Türkei zu deuten ist, haben Hollywood-Produktionen und ausländische (bis Mitte der 1920er Jahre noch deutsche Filme), insbesondere ägyptische Filme durchaus eine große Aufführungsfrequenz in den Kinos, welche hauptsächlich in den größeren Städten anzutreffen waren.57 Aufgrund der geringen Einkommensverhältnisse eines Großteils der Menschen und dem hohen Anteil an Analphebitismus (1923 war ca. 80 % der Gesamtbevölkerung ländlich situiert und 90 % konnten nicht schreiben und/oder lesen) war Kino bis in die 1930er oftmals noch Amüsement der besser verdienenden bourgeoisen Bevölkerung58 oder dann politisch ideologisches, aber auch kaum genutztes59 Erziehungsinstrument in den Dörfern, die unter anderem mit Agit-Trains bereist wurden, welche auch in Russland zu filmerzieherischen Gründen im Land im Einsatz waren.60 Oder Filme wurden in den zahlreichen im gesamten Land verteilten halk odaları (den Volksräumen) und halk evleri (Volkshäuser) gezeigt, die als zentrale Orte der kulturellen Bildung fungieren sollten. Für Özön waren in der Türkei alle filminstitutionellen Bereiche unterentwickelt bis auf die Projektionsorte und -techniken. Deswegen kann er festhalten, dass nahezu alle dieser Volkshäuser und Volksräume mit Aufführungsräumen oder zumindest mit Filmprojektoren ausgestattet waren.61 Trotz dieser soziokulturellen- und ökonomischen Schwierigkeiten (Armut, Analphebitismus) wurde seitens der Vorführer_innen und Produzent_innen versucht, die Leute ins Kino zu bewegen. Wenn Filmvorführungen für die große Menge stattfanden, entgegnete man dem Problem des Analphebitismus dadurch, dass die Zwischentitel der Stummfilme durch Kinobedienstete auf Türkisch vorgelesen wurden; eine Praxis, die auch auf die sprachliche Erziehung der Besucher_innen abzielte. Für die Regierung, die die neue lateinische Schrift und damit die Ablösung des Osmanischen und 55 Vgl. Özön (2010), Özön (2010, S. 24f.) 56 Vgl. Tunç (2012, S. 67). 57 Vgl. Arslan (2011, S. 42ff.). 58 Vgl. Arslan (2011, S. 46). 59 Arslan (2011, S. 41). 60 Vgl. Arslan (2011, S. 41), www.incite-online.net/heftberger4.html, 20.03.2019. 61 Özön (2013, S. 54).
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Arabischen bezweckte, stellte das einen wünschenswerten Beitrag zur Durchsetzung der Latinisierung in der Bevölkerung dar.62 Der Filmhistoriker Nijat Özön bezeichnet diese Phase der türkischen Filmproduktion von 1922 bis 1939 generell als »Phase der Theatermacher«, diejenige zwischen 1939 bis 1950 als Übergangsphase, die dann in eine »Phase der Filmemacher« (1952-1960) münde – bei aller Ambivalenz die eine solche ›harte‹ mit Jahreszahlen als Grenze operierende Einteilung mit sich bringe;63 eine Einteilung, die sich bis heute in der türkischen Filmgeschichte durchhält, aber durchaus grundsätzliche Schwierigkeiten einer besonderen historiographischen Vereinfachung mit sich bringt.64 Diese marginale eigennationale Produktivität darf jedoch nicht mit einer marginalen Situation des Kinos in der Türkei verwechselt werden. Den Untersuchungszeitraum filmischer Produktions, Distributions- und Rezeptionsaktivitäten samt ihrer kulturellen Eingebettetheit und Prozessualität auf die Yeşilçam-Ära zu fokussieren, liegt also in der Annahme begründet, dass die deutsch-türkischen Migrationsbewegungen mit der Zeit der Yeşilçam-Ära zusammenfallen und nicht in der Annahme, dass das Kino der Türkei vor 1940 nur marginal bedeutsam gewesen ist. Doch wie konnte diese sich in den folgenden zwanzig Jahren anbahnende Dynamisierung der türkischen Filmproduktionskultur verwirklichen? Statt wie bis hierher geschehen eine allgemeine historische Übersicht zu geben, die die polithistorische mit der filmhistorischen Ebene verschränkend informiert, werden nun mit Beginn der türkischen Filmgeschichte und dem Auftauchen der filmischen Verhandlung der deutschtürkischen Migration die Filme im Gesamtkontext der türkischen Filmgeschichte im Vordergrund stehen.
3.2.2.
Vorstory II: Die Entstehung des Yeşilçam-Kinos und die Binnenmigrationsfilme
Was nun genau hat es auf sich mit der Yeşilçam-Ära, die ihren Namen einer Straße in Istanbul verdankt und eine Anspielung auf die Pinewood Studios in Großbritannien impliziert (Yeşilçam, »grüne Tanne«)? Dabei ist 1948 das Schlüsseljahr für den türkischen Film und damit Ausgangspunkt für die Entstehung des Yeşilçam-Kinos, ebnet es zahlreichen Produzent_innen den Weg in die Rentabilität des Filmemachens. Es ist dieses Jahr, in dem in den türkischen Provinzen eine finanzielle Besserung der Steuerpflicht, der Belediye Eğlence Resmi65 (BER), für nationale Filmproduktionen beschlossen wird. Produzent_innen sind von da an nur noch zur Abgabe von 25 statt der bis dahin üblichen 70 Prozent für Einnahmen aus Filmvorführungen verpflichtet.66 Grund für diese 62 63 64 65 66
Vgl. Arslan (2011, xiii). Özön (2010, S. 24f.). Zur Notwendigkeit einer Kritisierung dieser Phaseneinteilung siehe Kirisci (28.08.2013). Belediye Eğlence Resmi = »Gemeinde-Unterhaltungssteuer«. Vgl. Arslan (2011, S. 10, 71), Kırel (2005, S. 56). Wortlaut einer Angabe in einer Zeitung: »Artikel 27 – Von dem von Unterhaltungsbetrieben in der Zeit ihres Betriebs erwirtschafteten Bruttogewinns werden gemäß den von den Stadträten angeordneten Tarifen und festgelegten Klassen A) bei den Kinos 70 %; B) bei vollständig nur regionale Film- oder Theatervorstellungen und Konzerten zeigenden Einrichtungen 25 % […] durch die Stadtverwaltungen Unterhaltungssteuern eingefordert.« Da in den unterschiedlichen Arbeiten zur Filmgeschichte der Türkei unterschiedliche Angaben zur
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Senkung ist unter anderem das Engagement der Yerli Film Yapanlar Cemiyeti (wörtlich ›Inländische Filmemacher_innen Vereinigung‹), die es auf die Förderung einer qualitativen türkischen Filmkultur abgesehen hatte und die Steuervergünstigung maßgeblich motivierte.67 Im Vergleich zu ausländischen Produktionen bleiben den beteiligten türkischen Filmemacher_innen damit fast die Hälfte mehr an Einnahmen, die ab dann an den Kinokassen der vornehmlich noch in den städtischen Gebieten gelegenen 209 Kinos zusammenkommen.68 Die von der prorepublikanischen, säkularen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) Regierung69 , der ersten Republikspartei, kurz vor ihrer Absetzung als regierende Partei im Parlament 1950 erwirkte Steuervergünstigung ist damit eine der folgenreichsten Maßnahmen für das türkische Kino, denn die Filmproduktivität nahm in den mehr als 30 Jahren im Anschluss daran ungeahnte Ausmaße an (teilweise mehr als 300 Filme pro Jahr). Diese regelrechte Filmexplosion von unzähligen kommerziellen, zumeist kostengünstig und unter besonders erschwerten technischen und finanziellen Bedingungen gedrehten Genrefilmen und (Hollywood-)Rip-Offs erreicht ihren Höhepunkt in den 1960ern. Doch es sind besonders die Entwicklungen in der so genannten »Filmemacher_innenphase«70 in den 1950ern, die zur Entstehung einiger der spannendsten Filmproduktionen bis in die 1970er führen und inmitten der wuchtigen Filmvielfalt nur entlang der Namen auch filmkünstlerisch ambitioniert arbeitender Regisseur_innen identifiziert werden können. Mit Metin Erksans 1964 mit dem Goldenen Bären auf der Berlinale ausgezeichnete Film Susuz Yaz (»Trockener Sommer«) (1963)71 erhielt erstmalig ein türkischer Film einen so prestigeträchtigen, aus dem Westen kommenden Hauptpreis und es war ausgerechnet ein solcher Regisseur, der diesen Preis erhalten
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Steuervergünstigung zu finden sind (bei Arslan z.B. von 75 auf 25 %), dient das übersetzte Zitat auch gleichzeitig der eindeutigen Bestimmung der Vergünstigungshöhe. Datei mit Scan des Originaldekrets gefunden in Belediye Gelirleri Kanunu, 9. Temmuz 1948 (1948). Vgl. Refiğ und Türk (2001, S. 88ff.), Özön (2013, S. 57). Tunç (2012, S. 65f.). Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) = »Republikanische Volkspartei«. Die gängige Phaseneinteilung der türkischen Filmgeschichte, die auf Nijat Özöns in den 1960ern entstandene Geschichte des türkischen Films zurückgeht, ist durchaus problematisch zu sehen, da sie erstens die bereits erwähnte Reduktion der türkischen Filmgeschichte bis in die 1950er Jahre durch die Einteilung in »Ein-Mann-Phase« und »Theatermacher-Phase« vollführt. Zweitens operiert sie auf der Grundlage einer normativen Setzung, die die Leistung des türkischen Kinos vor dem Hintergrund eines als hochwertig und leitend angenommenen europäischen oder amerikanischen Kinos und damit eurozentrisch bewertet. Siehe auch Kirisci (28.08.2013). Für Savaş Arslan stellen die 1940er bis 50er Jahre eine Vorphase für das Yeşilçam-Kino dar, werden also ähnlich wie bei Özön zugunsten der Priorisierung diesmal nicht des europäischen, sondern des populären Yeşilçam-Kinos bis in die 1950er Jahre von marginaler Relevanz betrachtet, siehe Arslan (2011). Auch die neueste, erste deutschsprachige Geschichte des türkischen Films von Ekkehard Ellinger reproduziert diese Phaseneinteilung. Ich werde mich dem Terminus der »Filmemacher-Phase« anschließen, möchte aber damit keine Herunterspielung der filmischen Leistungen auch der kommerziellen und populären Filme behaupten und sehe die Notwendigkeit einer Reevaluierung der auch populären Filme. Erksan (1963).
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sollte, der in der Riege der Regisseur_innen der Filmemacher_innenphase noch einen relativ jungen Status innehatte.72 Doch allen voran ist da Ömer Lütfi Akad zu nennen, der mit Kanun Namına (»Im Namen des Gesetzes«) (1952)73 einen filmästhetisch komplexen, besonders extensiv an städtischen Originalschauplätzen in Istanbul gedrehten Film74 realisiert und seinem Hauptdarsteller Ayhan Işık zu Starruhm verhilft. Dieser Schauspieler war wiederum in einem Schönheitswettbewerb, den das Boulevardmagazin Yıldız initiierte, durch die Leser_innenwahl als Sieger erwählt worden.75 Schon hieran zeigt sich eine Facette des Yeşilçam-Kinos, die sich später zu einer Programmatik entwickeln sollte: Es basiert als populäres Kino auf dem Star-System. Diese Stars in den Kinos sind die visuellen Inbilder jener Sehnsüchte der Leser_innen dieser Magazine damaliger Zeit. Und es sind nicht wenige Magazine: Ses, Artist, Kamera, Film Dünyası, Sineses, Kuli, um nur einige zu nennen. Sie treten den in den 1960ern bereits entstandenen Magazinen zur Seite.76 Die Modernisierung im städtischen Alltag vollzog sich rasant: Kühlschränke, Waschmaschinen, Radio halten Einzug in die Haushalte. Poster zu Auftritten von Sänger_innen zieren die Straße, die dann im gleichen Zug auch im Kino in Melodramen zu sehen sind, allen voran Zeki Müren. Der_die populärste Sänger_in türkischer Kunstmusik (Müren ist offen transsexuell) zählt zu den schillerndsten Figuren der 1950er Jahre und wird mit zunehmender Popularisierung des Kinos, der Zunahme der Kinosäle und Open-Air Kinos sowie der vermehrten nationalen Filmproduktion um noch zahlreiche weitere, diesmal zumeist nur auf Schauspielerei fixierte Stars ergänzt werden. Weil das türkische Kino nicht staatlich aktiv, sondern passiv durch die Steuererleichterung unterstützt wurde, konnte sich eine, auf Kommerz fixierte Produktionskultur entwickeln, die sich aufgrund eben jener fehlenden staatlichen Unterstützung auf die unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung einstellen musste. Diese Dynamisierung der Produktion hatte durchweg mit vielfältigen Problemen zu kämpfen, von denen ein erhebliches Problem sicherlich auch das Fehlen qualifizierten Personals, technischer Möglichkeiten sowie Wissensdefiziten in der Filmproduktion allgemein war. Die Funktionsweise des Yeşilçam-Systems offenbart sich auch an der Herstellungsweise der Storys. Die Drehbücher zu den in den 1960er Jahren verfassten Filmen sind fast ausschließlich den Drehbuchautoren Safa Önal, Erdoğan Tünaş und Bülent Oran zuzurechnen. Die genannten Autoren arbeiten auf Bestellung und stellen ›Konfektionsware‹ her: Das heißt, dass die Produzenten ihnen mit Kriterien für das Drehbuch entgegentreten, die diese in ein zu verfilmendes Drehbuch umwandeln. Das Prinzip ist eines der Mixtur: Ein Star muss in einem bestimmten Genre auftauchen und durch bestimme Storyelemente bestimmte Gefühle und Affekte evozieren. Dabei muss zugleich auf die Belange der Zensur Rücksicht genommen werden. So ist darauf zu achten, keinerlei den Staat verunglimpfende Elemente zu integrieren. Die Polizei muss den 72 Fatih Akın hat den Film für Martin Scorseses World Cinema Foundation als restaurierungswert vorgeschlagen, sodass inzwischen eine besonders gut restaurierte Fassung existiert. 73 Akad (1952). 74 Dorsay (2014, S. 42). 75 Ellinger (2017, S. 45). 76 Kırel (2005, S. 44ff.).
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Verbrecher stets fassen. Alles andere käme der Behauptung des Versagens der staatlichen Apparate gleich.77 Das Ausfindigmachen eines dann als Kassenerfolg fungierenden Genrefilms definiert der 1952 mit dem Drehbuchschreiben beginnende Bülent Oran als eine vielversprechende Strategie und legt so offen, worauf es beim Abfassen eines Yeşilçam-Drehbuchs ankommt: Auf die Befriedigung der Publikumsbedürfnisse zur Sicherung des finanziellen Erfolgs des Films. Die Grundlage für die Plots der Filme bilden türkische, aber auch amerikanische Kurzgeschichten gleichermaßen.78 Die industrielle Dimension dieser Drehbuchentwicklung wird dann deutlich, wenn man sich beispielsweise für das Jahr 1965 anschaut, wie viele der zu dem Zeitpunkt verfassten 218 Drehbücher aus der Hand von allein elf Drehbuchautoren stammen: 109. Diese Drehbuchproduktion beschreibt der Filmhistoriker Nijat Özön als Produkte eines »elektronischen Hirns«79 und spielt damit auf die nahezu schon automatistische Herstellung der Storys der Filme an. Als solche sind sie jedoch als Befriedigungsobjekte für die türkische Masse gedacht und entstehen als je gegenseitige Hervorbringungen zwischen Zuschauer_innensehnsüchten und den Vorstellungen derjenigen danach, wie diese Sehnsüchte aussehen könnten. Die Filmproduktion in dieser Zeit nimmt aufgrund des erheblichen Marktpotentials enorm zu und führt zu eben jener fast maschinistischen Produktionsweise von Filmen für das Publikum, in der manchmal binnen einer Woche ein einziger Film entsteht. Mit der finanziellen Erleichterung durch die Steuervergünstigung trauen sich Produzent_innen nun – auch aufgrund der geringen Zahl entsprechend ausgebildeter Filmemacher_innen und deswegen teilweise notgedrungen – jüngeren und unerfahrenen Regisseur_innen die Realisierung eigenständiger Filmarbeiten zu. Einige von ihnen, wie der am Anfang seiner Karriere pro-kemalistisch orientierte Halit Refiğ, haben vorher für Filmzeitschriften oder Zeitungen als Filmkritiker gearbeitet und später bei der Bildung wichtiger Filmvereinigungen und Filmclubs mitgewirkt, von denen in dieser Zeit besonders viele auch gewerkschaftlich motiviert waren.80 Neben den ambitionierten Regisseur_innen der 1950er und ihren Nachwuchsfilmemacher_innen bot sich mit den Steuervergünstigungen auch anderen kommerzieller motivierten Regisseur_innen, die ihre Arbeit vornehmlich als Teil einer kommerziellen Filmkultur verstanden, die Möglichkeit zahlreiche Erfahrungen in den 1950er Jahren zu sammeln. Hier ist als Beispiel der Regisseur Muharrem Gürses zu nennen, der mit seinen türkischen Dorfmelodramen erfolgreich und produktiv war.81 Liebesmelodramen, Historiendramen, die die Republiksgründung der Türkei fokussierten, und auch städtische Krimis waren bevorzugte Genres einer Dekade, die Ellinger so zusammenfasst: Bis Mitte der 50er Jahre waren in der Türkei fast alle Haupt- und Nebenzweige einer gut funktionierenden, nationalen Filmindustrie etabliert, die in den Jahren 1950 bis 77 78 79 80 81
Kırel (2005, S. 120/134). Kırel (2005, S. 128). Özön (2010). Ellinger (2017, S. 43). Ellinger (2017, S. 48).
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1959 über 500 Spielfilme, meist Imitate von Hollywoodgenres, in die türkischen Kinos brachte.82 Die Geschichte des türkischen Films lässt sich in den 1950ern also auf der Grundlage eines Binarismus verstehen, in dem die eher künstlerisch ambitionierten Filmemacher_innen wie Memduh Ün, Metin Erksan, Atıf Yılmaz Batıbeki, Orhon M. Arıburnu gegenüber einer eher kommerziell aktiven Gruppe von Filmemacher_innen und Regisseur_innen positioniert werden. Dieser Binarismus operiert auf einer vorausgesetzten Dichotomie von Kunst und Kommerz, die die Vorgänge für die 1950er vereinfacht. In den 1960ern sollten politische Ereignisse indirekt einen weiteren Einfluss auf die entstehende Filmkultur nehmen, die mit der Etablierung auch marxistischer Grundgedanken bei vielen Filmemacher_innen zu gesellschaftskritischen Filmen führen sollten: Filme, für die sich in der türkischen Filmgeschichte die Bezeichnung des ›türkischen Sozialrealismus‹83 entwickelt hat. In diesen Jahren sind Filme entstanden, an denen sich die Vielschichtigkeit des Migrationsmotivs innerhalb des türkischen Films nachvollziehen lässt. Bevor ich auf diese Filme zu sprechen komme, lohnt es die gesellschaftsund polithistorischen Umstände zu beschreiben, die die Gründe für die filmpolitischen Implikationen erhellen. Nach der Republiksgründung mit der CHP als einziger Partei, hatte sich der Nachfolger Atatürks, der zweite Staatspräsident der Türkei, Ismet Inönü, die Etablierung einer Vielparteilichkeit zum Zwecke der Einrichtung einer demokratischeren Grundordnung mehr oder minder freiwillig als primäres Ziel gesetzt; etwas, das der Türkeiforscher Klaus Kreiser als »[e]in demokratisches Experiment« nach dem Zweiten Weltkrieg einschätzt.84 Diese Schwerpunktsetzung erst einmal jenseits des Reformismus war aber erst zwanzig Jahre nach dem aggressiven Reformkurs der Regierung angedacht worden, denn schon »[a]b den späten 1920er Jahren nahm der Assimilationsdruck [der Regierung, Ö.A.] auf nichttürkische Gemeinschaften zu«85 . Zahlreiche gewaltvolle Deportationen und militärische Vorfälle mit zahlreichen Opfern waren die Folge. Involvierungen in den Zweiten Weltkrieg konnte die Türkei bis zum letzten Augenblick (Februar 1945) mit einer intelligenten Neutralitätspolitik entgehen. Zahlreiche wirtschaftliche Rückschläge und Embargos zu Zeiten des Kriegs hatten das Land bis dahin allerdings stark geschwächt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung lag 1945 bei ca. 31,4 Jahren, welche Resultat schlechter gesamtgesellschaftlicher Bedingungen und politischer Maßnahmen oder deren Folgen waren: Zwangsabgaben von Naturalien, Zwangsarbeit, Erhöhung der Wehrpflicht auf drei Jahre, schlechte gesundheitliche Versorgung, immense Inflation und damit wachsende Armut. Gleichzeitig versuchte die CHP-Regierung den Islam zunehmend in staatliche Kontrolle zu bringen und gründete so die so genannten Dorfinstitute: kleinere staatliche Institutionen, verteilt über die Türkei hinweg, die die Ausbildung von Lehrkräften und Dorfangehörigen auch aus kemalistischen Erziehungsmotivationen heraus übernahmen. Nach zahlreichen Wahljahren, in der die für den Kemalismus einstehende und seit Republiksgründung al82 83 84 85
Ellinger (2017, S. 59). Vgl. Daldal (2005). Die nachfolgenden historischen Informationen referieren auf Kreiser (2012). Kreiser (2012, S. 54).
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lein regierende Partei CHP stets die Mehrheit hatte, konnte die Demokrat Partisi (DP) unter der Führung unter anderem von Celal Bayar und Adnan Menderes bei Wahlen 1950 eine Mehrheit (53,59 %, 408 von 478 Sitzen) im Parlament (TBMM)86 erzielen, da »[d]as Regime der CHP […] im Rückblick auf die Weltkriegsjahre weder eine volksnahe noch eine solidarische Politik [betrieb]« und mit ihrem »Fiasko im ländlichen Raum« (Enteignungen zu Zwecken der Umstrukturierung der bestehenden feudalen Systeme) unbeabsichtigt in die Hände der daraufhin erfolgreichen DP zuspielte.87 Die Regierungszeit der DP zeichnete sich durch eine Verstärkung der Außenbeziehungen mit den USA aus. Schon vor deren Regierungsübernahme setzten 1948 immense finanzielle Hilfen durch den Marshall-Plan ein. Der Beitritt zur NATO 1952 hatte weitere finanzielle Zuschüsse für die Türkei zur Folge. Die von der CHP seit 1940 errichteten Dorfinstitute hatte Ministerpräsident Menderes mit Verweis unter anderem darauf, dass sie »die Kluft zwischen Städtern und Landbevölkerung [verbreiterten]«88 und dass »dort die kommunistische Ideologie eine Heimstatt [finde]«89 , wieder geschlossen, genauso wie die meisten der Volkshäuser und Volksräume, die ein populärer Ort von Filmaufführungen gewesen waren. An diesem anti-kommunistischen Vorwurf deutet sich an, dass die Öffnung in Richtung des Westens und insbesondere die USA in eine auch in der Bevölkerung und der weiteren Regierung sich breitmachende Disposition gegen den Kommunismus führen würde. Während die Steuererleichterung für nationale Filmproduktionen noch 1948, also vor der Regierung der DP einsetzte, ist von einem geringen Einfluss der staatlichen Regierung auf den Bereich der Film(produktions)kultur auszugehen. Nicht zuletzt mit der anitkommunistischen Haltung der DP setzte ein filmzensurieller Staatsapparat ein, der gegenüber den nationalen Filmproduktionen strengere Zensurkriterien in Anwendung brachte als gegen ausländische Filme. Mit der verstärkten Hinwendung der DP Regierung aus wirtschaftsliberalen Gründen an die USA schien sich also auch die anti-kommunistische Paranoia zu übertragen, die die US-Politik dieser Jahre besonders prägte. Durch eine repressive Politik gegenüber Regimegegner_innen, die an die zensuriellen und rechtlichen Gegenmaßnahmen der islamisch orientierten AKP-Regierung gegenüber Regierungskritiker_innen heutzutage erinnert, kam es zu studentischen Protesten und zahlreichen Demonstrationen, die auch auf die Korruption der Regierung, ihre auf die Groß-/Händler_innen zielende Vetternwirtschaft sowie das islamisch-konservative Bewusstsein der Bevölkerung und ihre unnachhaltig sowie kurzsichtig angelegten wirtschaftsliberalen Maßnahmen adressierten. Als Reaktion auf die innenpolitische Destabilisierung führte das Militär am 27. Mai 1960 einen Putsch durch, der in der Exekution der Spitzen der DP Regierung (Ministerpräsident Adnan Menderes, Außenminister Fatin Rüştü Zorlu und Finanzminister Hasan Polatkan) und der Festsetzung einer neuen Verfassung 1961 resultierte. Die 1960er Jahre werden für die Türkei eine umso produktivere Zeit, als dass die Filmkultur sich in die zunehmende wirtschaftsliberale Alltagskultur fügt, die die DP86 87 88 89
Türkiye Büyük Millet Meclisi = »Große Nationalversammlung«. Kreiser (2012, S. 75). Kreiser (2012, S. 82). Kreiser (2012, S. 82).
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Regierung in den zehn Jahren zuvor durch die umfassende Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten ermöglicht hatte. Da in dieser Zeit allerdings besonders die Händler_innen von reformpolitischen Entscheidungen profitierten und der Ausbau und die Förderung industrieller Bereiche ausblieb, war die Türkei wirtschaftlich instabil und besonders vom IWF und kleinsektoriellen Wirtschaftszweigen abhängig. Serpil Kırel hat für eine Kontextualisierung der Yeşilçam-Filmkultur die in den Großstädten einsetzende Alltagskultur herausgestellt, in der die Filmkultur durchaus eine zentrale Rolle einnimmt. Filmkultur meint hier unter anderem die entstehenden kommerziellen, nationalen Filme samt ihren als Vorbilder fungierenden Stars, den Filmzeitschriften mit ihren Postern der Stars sowie immer wieder stattfindenden Schönheits- und Schauspielwettbewerbe. Der infrastrukturelle Ausbau in den Dörfern, zu dem besonders die Versorgung mit Elektrizität galt, ermöglichte den Betrieb von Open-Air-Kinos auch in entlegenen Dörfern. Immense Binnenmigrationsbewegungen aus den Dörfern in die Städte setzten aufgrund zumeist perspektivloser Lebensverhältnisse im Dorf ein und sorgten für die Entstehung von Ballungsräumen an den Großstädten Istanbul, Izmir, Ankara, Adana. Die Proliferation von Hybridkulturen in diesen Städten war die Folge dieser Migrationsbewegungen, deren eigene hybridkulturelle Entwicklungen sich besonders in den 1970er Jahren noch weiter fortsetzen und als eine Art Gegenkultur entwickeln würden. Aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel bauten die Migrant_innen sich – fast immer ohne Baugenehmigung oder Rückversicherung von Landeigentümer_innen – an den Stadträndern gelegene gecekondus90 , die sich schließlich zu regelrechten neuen ghettoisierten Vierteln in den Großstädten bildeten. Diese umfassenden soziodynamischen Entwicklungen halten auch noch bis heute an, wobei die Anzahl an Großstädten inzwischen rapide angewachsen ist, und sich die Migrationsbewegungen so immer stärker dezentralisiert haben. Mit diesen Migrationsbewegungen gingen zugleich auch Modernisierungsprozesse einher, in der der Kontakt zwischen Stadt und Land und die kulturellen Austauschprozesse immer umfassender auch einen kulturellen und ästhetischen Ausdruck fanden wie zum Beispiel in der so genannten Arabeskkultur, zu der das Yeşilçam-Kino erheblich beigetragen beziehungsweise diese auch umfassend aufgenommen hat. Obgleich Arbeiten im Sinne einer Cultural Studies-Perspektive, wie sie sie Serpil Kırel in Ansätzen vornimmt, nach wie vor fehlen, die die kulturellen Entwicklungen in der Türkei in den 1960er und 70er Jahren mit ihrer zunehmenden Kulturalisierung des Alltags analysieren, zeigt sich eine immense Dichte an Faktoren und Prozessen, die die Etablierung einer modernen Lebensweise in der Türkei in diesen Jahren unterstützte – und das türkische Kino war ein umfassender Bestandteil davon. Um das zu illustrieren lohnt es einige empirische Daten aufzurufen: Allein in Istanbul wurden im Jahre 1966 über 50 Millionen Tickets verkauft, bei einer Einwohner_innenzahl von etwas mehr als 2 Millionen Menschen. Damit haben je Einwohner_in im Jahr durchschnittlich circa 25 Kinobesuche stattgefunden, ungefähr zwei pro Monat, wobei Ertan Tunç, der die statistischen Informationen zur türkischen Kinokultur gesammelt hat, zugleich anmerkt, 90 Gecekondu heißt wörtlich »Über-Nacht-aufgestellt«. Es handelt sich um mit einfachsten Mitteln gebaute Wohnhütten.
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dass diese 50 Millionen Tickets lediglich die registrierte Anzahl an verkauften Eintrittskarten wiedergibt und noch eine erhebliche Menge an unregistrierten Verkäufen in dieser Zahl nicht enthalten ist.91 Obgleich die massenmedialen Möglichkeiten aufgrund des Fehlens einer eher flächendeckenden Versorgung mit Fernsehern noch die Ausnahme war, zeigt sich an dieser gesellschaftshistorischen Kontextualisierung der Türkei der 1960er Jahre das Einsetzen genau jener Prozesse, die Arjun Appadurai als Katalysatoren der Modernisierung in seiner wirkmächtigen Arbeit Modernity At Large92 identifiziert: die Gleichzeitigkeit von umfassenden Migrationsbewegungen und die Entstehung massenmedialer Distributionsformen.93 Es lässt sich so von einer Gesellschaft sprechen, in der die Praxis der Imagination ihre Reserviertheit für bestimmte Bereiche (Religion, Kunst, Unterhaltung) verliert. Von ihrer privilegierten Rolle für privilegierte Menschen wird sie zu einer »alltäglichen Praxis«.94 Um all die hier beschriebenen Facetten mit einem klassischen türkischen Film auf einen Punkt zu bringen, ließe sich vielleicht Atıf Yılmaz‹ Außenseiterdrama Ah Güzel Istanbul (»Oh, du schönes Istanbul«) (1966)95 heranzitieren: Der in Istanbul zunächst reich aufgewachsene und dann verarmte Underdog Haşmet İbriktaroğlu bietet Besucher_innen der Metropole den Dienst an, sie vor einer aufgestellten Leinwand gegen ein kleines Geld photographisch zu verewigen. Eines Tages kommt ihm die hübsche Ayşe entgegen, die ihrem dörflichen Heim entflohen ist und in Istanbul an einem der besagten Wettbewerbe mitmachen möchte, um Star zu werden. Für die Teilnahme an einem solchen Wettbewerb möchte sie von dem mittellosen Haşmet nun eine Photographie. Diese Ausgangssituation bildet den Beginn einer Liebesgeschichte, in der die beiden im weiteren Verlauf des Films nahezu sämtliche sozialen Milieus der Stadt Istanbul durchlaufen. So treffen sie auf einen Intellektuellen Freund Haşmets, der sie in ein Istanbuler Restaurant führt und dort seine Ansichten einer höherwertigeren Kultur über die Musik reflektiert wissen will. Er befiehlt dem Restaurantbesitzer das Spielen westlicher Jazzmusik, die er mitgebracht hat, doch mit der Folge, dass sich alle Gäste über den fürchterlichen Sound beschweren. Die Aufoktroyierung einer vermeintlich höherwertigen Kultur des Westens auf die türkischen Menschen findet in jener Szene ein Kristallisationsbild, das auch den Konflikt der Filmkulturellen der Zeit widerspiegelt: Das türkische Kino soll westlich werden und sich vom Yeşilçam-Schund verabschieden (▶ Kap. 9.1). Als Ayşe die Möglichkeit bekommt, eine berühmte Sängerin zu werden, lässt sie Haşmet, der die Frau in seinem bescheidenen Heim aufnahm, links liegen. Während Haşmet die Erbarmungslosigkeit der Stadt Istanbul und ihre pseudo-intellektuellen, pro-westlichen Akteur_innen satthat, versucht Ayşe den Traum einer jeden modernen Flucht vor der vermeintlichen Perspektivlosigkeit des Dorflebens zu verwirklichen und verschmäht ihre gemeinsame Liebe für eine Karriere als Sängerin, die sie dann letztlich auch umsetzen kann. Oberschicht, Unterschicht, Stadt, Dorf, Armut, Aufstieg so91 92 93 94 95
Tunç (2012, S. 110f.). Appadurai (1996). Vgl. Appadurai (1996). Appadurai (1996, S. 1-12). Yılmaz (1966).
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wie der offensichtlich werdende Kampf zwischen einer unterschätzten, abgewerteten Eigenkultur und einer ersehnten westlichen Kultur gerinnen im Film zu Bildern, die besonders im Schicksal der karrieresüchtigen Ayşe die Mobilisierung der Subjekte durch die massenmediale Populärkultur jener Jahre sichtbar machen. Istanbul wird zum türkischen Hollywood. Dass Memduh Ün mit seinem melodramatischen Üç Arkadaş (»Drei Freunde«) (1958)96 demgegenüber gerade den Inbegriff einer Hollywoodlogik realisieren wird, soll hier kurz angemerkt werden. Der in Istanbul spielende Film handelt von drei verarmten Männern von der Straße, die ein blindes Blumen verkaufenden Mädchen aufnehmen und sich um sie kümmern. Um die von Leid geplagte Existenz des Mädchens mit Glück zu versehen, inszenieren sie ihre heruntergekommene Unterkunft sowie den Rest ihres in Armut geführtes Leben so, dass es als wohlständige Existenz dasteht. Doch was in Ah Güzel Istanbul eine diffizile Charakterzeichnung und Gesellschaftskritik war, wird in jenem fast schon als Ur-Melodrama der türkischen Filmgeschichte zu betrachtendem Film zu einer besonders melodramatisch-affektiven Geschichte, die an die Hollywoodmelodramen der 1940er und 50er Jahre erinnert. Der Film, der eine plotmäßige Variation von Charlie Chaplins Lichter der Grossstadt ist, ist so erfolgreich, dass der Regisseur der ersten Fassung, Memduh Ün, dreizehn Jahre später ein Remake desselben Films97 in Farbe dreht und produziert. Für die Menschen der Türkei in jenen Jahren bieten Körper-Genres bevorzugte Milieus, in denen Melodramen wie Üç Arkadaş als Ur-Gerne türkischer Filmkultur fungieren. Im weiteren Verlauf der türkischen Filmgeschichte zeigt sich Migration als solches Motiv, das mit dem Genre des Melodramas dann besonders im Hinblick auf die Figuration von Binnenmigration eine prägende Allianz eingeht. Der zentrale Binnenmigrationsfilm in diesem Zusammenhang ist sicherlich Halit Refiğs Gurbet Kuşları (»Zugvögel«) (1964)98 , der den Zerfall einer aus der anatolischen Provinz Kahramanmaraş stammenden Familie in Istanbul inszeniert. Der Film fügt sich in eine Reihe auch anderer Filme wie Otobüs Yolcuları (»Die Buspassagiere«) (1961)99 ein, die sich aus einer gesellschaftskritischen Motivation heraus – und ideologisch aus einer links-marxistischen Gesinnung gespeist – der Anprangerung gesellschaftlicher Missstände in der Türkei widmeten. Derart zu charakterisierende Filme lassen sich dem ›türkischen Sozialrealismus‹ zuordnen. Insbesondere Refiğ und Erksan bekannten sich zu einer sozialrealistischen, marxistisch inspirierten Inszenierungstradition. Aslı Daldal kann in ihrer Untersuchung dieser Phase des türkischen Films so beispielsweise die Realisierung des marxistisch-ästhetischen Programms eines Georg Lukács in Refiğs Filmen herausarbeiten. Besonders fanden diese Filme ihr Vorbild im Italienischen Neorealismus, sodass beispielsweise Gurbet Kuşları dezidiert in Anlehnung 96 97 98 99
Ün (1958). Ün (1972). Refiğ (1964). Göreç (1961).
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an Viscontis spät-neorealistisches Epos Rocco und seine Brüder (1960)100 entstanden sein soll.101 Dabei darf das Motiv der Migration keineswegs nur für die Filme der 1960er Jahre reserviert werden. Beispielsweise verhandelt Orhon M. Arıburnus auch ästhetisch interessanter Film Sürgün (»Der Vertriebene«) (1951)102 die Verbannung eines pro-osmanischen Offiziers zur Zeit des Ersten Weltkriegs durch die Jungtürken103 . Wie sich in den Hauptanalysen in Teil II zeigen wird, ist jedoch weniger das Motiv der Migration als vielmehr die Heimkehr, also Remigration, eine bestimmende Figuration von Migration, die die Filme der Jahre auszeichnet: So erzählt zwei Jahre vor Refiğs Gurbet Kuşları sein sozialrealistischer Film Şehirdeki Yabancı (1962)104 vom Leid eines aus Istanbul in seine Heimatstadt Zonguldak remigrierenden jungen Ingenieurs, der die korrupten Machenschaften rund um den Mienenbau vergeblich zu stoppen versucht. Aber auch Ömer Lütfi Akads auf Halide Edip Adıvars klassischem, pro-kemalistischem Roman basierender Film Vurun Kahpeye (»Schlagt die Hure«) (1949)105 beginnt mit einer Migrationssituation: Die aus Istanbul in ein anatolisches Dorf entsandte Lehrerin Aliye (Sezer Sezin) erregt mit ihren modernen Ansichten – sie trägt zum Beispiel kein Kopftuch – die Gemüter im Dorf, die der anti-kemalistische und pro-osmanische Dorfimam für seine Machenschaften ausnutzt und so das Lynchen der Frau durch die Dörfler_innen verantwortet. Und selbst der vorhin kurz erwähnte Ah Güzel Istanbul erzählt von der Binnenmigration der jungen Ayşe in die Stadt. In einer Zeit unentwegter und kostengünstiger Mobilität ist die dauerhafte Verlegung von Lebensmittelpunkten eine in jeglichen Kinematographien unentwegt auftauchende Figuration. Dass Migration eine zentrale gesellschaftliche Kraft jener Jahrzehnte ist, verdankt sich einer komplexen gesellschaftlichen Dynamik, die tief verwoben ist, mit politischen sowie kulturellen Zusammenhängen. Die Urbanisierung in der Türkei setzt in den 1950er Jahren mit der Finanzierungspolitik der DP-Regierung ein, die aufgrund ihrer pro-amerikanischen Haltung besonders gut von den Marshall-Plan-Hilfen profitiert. Die zunehmende Verteilung von Arbeitskräften in die zwar immer noch spärlich gesäten industriellen Bereiche nimmt in den 1960er Jahren eine solche Dimension ein, dass ca. 30 % der Arbeit auf jenen Bereich fällt.106 Die zunehmende Veränderung der landwirtschaftlichen Arbeitsstruktur in den feudal organisierten Dörfern drängt die Arbeiter_innen zur Migration in die Stadt, womit aufgrund der kostengünstigen und organisatorisch einfach zu bewerkstelligenden Umsetzung von Wohnsituationen zugleich eine Ghettoisierung der städtischen Randbezirke beginnt. Diese binnenmigrantischen 100 Visconti (1961). 101 Diese Ähnlichkeit findet sich jedoch allenfalls auf der Ebene des Migrationsmotivs und der Konstellation von Brüdern als Protagonisten (bei Refiğ sind es nur zwei, bei Visconti jedoch vier) und kaum in anderen Elementen des Films. 102 Arıburnu (1951). 103 Als Jungtürken (auch Kuvâyı Milliye, »Nationale Kräfte«, genannt) wurden diejenigen Anhänger_innen zur Zeit vor der Republiksgründung bezeichnet, die sich dem Befreiungskampf Mustafa Kemals und den politischen Zielen der Abschaffung der monarchistischen Regierungsform (Kalifat) des osmanischen Reichs verpflichtet sahen. 104 Refiğ (1962). 105 Akad (1949). 106 Güçhan (1992, S. 41).
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Bewegungen rufen so kulturelle Konflikte zwischen einer liberalen Stadtkultur und einer konservativen Dorfkultur auf, die ihre Zuspitzung durch die Etablierung einer amerikanisch geprägten Konsumkultur aufzeigt. Der Kalte Krieg bringt in den 1960er Jahren in die Türkei zusätzlich noch eine Spannung und Spaltung ein, die die DP-Regierung eigennützig instrumentalisiert. Die Folge für die Filmkultur ist dann nicht nur die Etablierung einer rigiden Zensur, sondern auch die Entstehung einer Autozensur unter den Filmemacher_innen.107
3.2.3.
Ensemble I: Migrationskino in der High-Yeşilçam-Phase I (1960er)
In diese Zeit der 1960er fallen hierbei nur zwei Filme, die die deutsch-türkische Arbeitsmigration dezidiert verhandeln: Der eine ist Turist Ömer Almanya’da (»Der Tourist Ömer in Deutschland«) (1966)108 . Der andere ist Halit Refiğs Bir Türke Gönül Verdim (»Ich gab mein Herz einem Türken«) (1969)109 . Der erste gehört zu einer insgesamt neunteiligen Filmreihe um den Vagabunden Ömer, der in bester Charlie Chaplin Tramp-Manier von einer abenteuerlichen Episode zur nächsten schlittert. Es ist symptomatisch für die Filmkultur jener Jahre, dass der wahrscheinlich erste türkische Film, der das Thema türkisch-deutscher Arbeitsemigration verhandelt, Teil einer Komödienserie und purer Genrefilm ist. Das Sujet der Emigration wird in Turist Ömer Almanya’da als Teil einer episodischen Staffage realisiert und zwar auf eine solche Weise, wie sie sich auch in »Dick und Doof«-Filmen oder anderen kommerziellen seriell funktionierenden Filmreihen anzeigt. Schon die Story des Films verweist auf den dekorativen Gestus in puncto Verarbeitung der Arbeitsemigrationsthematik: Der Film »thematisiert die Liebe zwischen dem witzigen und lässigen Gastarbeiter Ömer (Sadri Alışık) und der deutschen Blondine Helga (Sevim Emre)«110 . Ömer ist kein Arbeitsemigrant im wirklichen Sinne, sondern eine derjenigen unzähligen Komödienfiguren, für die das Arbeitssetting narrative Konstellationen für eine Sonderepisode in der Filmserienreihe darstellt. Als solcher Film einer komödiantischen Filmreihe stellt er eine klassische Yeşilçam-Produktion dar und die Migration ins Ausland gibt den Hintergrund für die situationskomischen Ereignisse um den Tramp ab. Die beruflichen Milieus als Settings der Filme werden als stereotype Wirklichkeiten in eine Staffage des Slapsticks transformiert. Der erste Film über das Leben der Arbeitsemigrant_innen ist so eine Anverwandlung von ›Jerry Lewis & Dean Martin‹-Komödien.111 Bedauerlich ist, dass der Film nicht mehr gesichtet werden kann. Er gilt als »verschollen«112 , eine Kopie ist unauffindbar. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Film wahrscheinlich um die erste fiktionale filmische Verhandlung der Arbeitsmigration handelt wiegt das damit verbundene film- und kulturhistorische Defizit umso schwerer. 107 Esen (2000). 108 Saner (1966). 109 Refiğ (1969). 110 Kayaoğlu (2012, S. 84). 111 Den ›Dean Martin‹-Charakter verkörpert die türkische Schauspielikone Ayhan Işık, die im frühen Alter von 50 an einer Hirnblutung verstarb. 112 Kayaoğlu (2012, S. 84).
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Die visuelle Kultur der Migration
Eine ähnliche Figuration von Migrationsmotiv und episodischer Yeşilçam-Komödie findet sich in dem Film Cilali Ibo Avrupa’da (»Cilali Ibo in Europa«) (1970), der jedoch weniger dezidiert die Arbeitsmigration thematisiert, als vielmehr Klischees über die Deutschen in eine abenteuerliche Agentengeschichte packt und so Verwechslungskomödie wird, die offen Bezüge zu Charles Chaplins Der grosse Diktator (1940)113 aufruft. Der andere Film, der noch in den 1960ern Bezüge zur deutsch-türkischen Arbeitsmigration herstellt, ist ein Film von Halit Refiğ und zugleich zentral für eine filmpolitische Diskussion in der Türkei, die als Ulusal Sinema Kavgası (»Der nationale Filmstreit) in die türkische Filmgeschichte eingeht. Dieser Streit lässt sich wie folgt kurz darstellen (dazu ausführlicher siehe Kapitel 9.2.1): In den 1960ern spalten sich die Filminteressierten zu der Zeit grob gesprochen in zwei Lager. Das eine ist pro-westlich, linksorientiert und wünscht sich vom türkischen Film ein am europäischen Kino orientiertes künstlerisches Kino (siehe auch Ausführungen zu Ah Güzel Istanbul). Das andere behauptet eine soziokulturelle Spezifität für die Situation des türkischen Kinos, dessen nationale Besonderheiten in der Filmproduktionskultur zu berücksichtigen seien. Vornehmlich selbst als Filmemacher_innen aktive Regisseur_innen wie Refiğ, Erksan und zahlreiche andere, die sich mit der letztgenannten Position eines eigenwertigen nationalen Kinos (ulusal sinema) identifizieren, stellen sich somit gegen eine solche Filmpolitik und betonen den Sonderstatus des türkischen Kinos, das aufgrund seiner kulturellen Besonderheit nicht durch eine westlich-hegemoniale Filmkultur unterminiert werden sollte und selbst als Yeşilçam-Kino und damit als Kino des Volkes, als halk sineması, seine Existenzberechtigung habe. Denn in der Forderung der pro-westlichen, aber zugleich eher links orientierten Filmherstellenden sahen die Filmemacher_innen in den Ansprüchen der pro-westlichen Filmkritiker_innen, die eine Revolution im Sinne der Nouvelle Vague verlangten, eine Gefährdung der eigennationalen Werte und Besonderheiten der Türkei, die so für die türkische Bevölkerung nicht funktionieren könne und vielmehr die westliche Kulturimperialisierung vorantreibe. So erzählt Refiğs dezidiert seiner Filmprogrammatik gewidmeter Emigrationsfilm Bir Türke Gönül Verdim von einem gutherzigen Anatolier, der eine nach Kayseri (Zentralanatolien) emigrierte Deutsche aus den Händen eines egozentrischen Arbeitsemigranten befreit, der sich auch seines Sohns, den er mit der deutschen Frau zeugte, nicht annehmen möchte. Die Frau, die sich in den gutmütigen Anatolier verliebt, erwählt im Laufe des Films die anatolische Lebensweise: Das Westliche weicht dem Anatolischen. So glaubt Refiğ damit seine Vision einer Unterminierung des Östlichen (Anatolischen) gegenüber dem Westen filmisch zu verwirklichen: eine Einschätzung, die sich in Anbetracht der Komplexität des filmischen Mediums so kaum aufrechterhalten lässt (▶ Kap. 9.2.3). Für die 1960er ist damit die Geschichte des türkischen Migrationskinos schon erzählt. Doch in den 1970ern nimmt die filmische Verhandlung rund um die deutschtürkische Arbeitsmigration trotz einer nur oberflächlichen Verhandlung eines solchen komplexen Gefüges immense Ausmaße an. Bevor auf die 1970er Jahre einzugehen ist, soll an dieser Stelle jedoch die Jahrzehnte und bis heute andauernde motivische Zentralität der Binnenmigration für die Filme des türkischen Kinos betont und dahingehend einige Erläuterungen formuliert werden. 113 Chaplin (1940).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
Wissenschaftliche Arbeiten zu türkischen Migrationsfilmen insistieren auf einer grundlegenden Differenz zwischen Binnenmigrations- und Emigrationsfilmen. So operiert auch Makals Arbeit114 auf jener Trennung. Zu den Binnenmigrationsfilmen hat Gülseren Güçhan eine Arbeit verfasst und die in den Filmen sich zeigenden Repräsentationen entlang der Konfliktdimensionen (Klassenkonflikt, Arbeiter_innenkonflikt) und der Wandlungsdimensionen des Sozialen (Familienstruktur, Beziehung zwischen Mann und Frau, intergenerationelle Beziehungen und Beziehungen zur Umwelt) untersucht.115 Obgleich die Differenz zwischen Binnenmigrations- und Emigrationsfilm sich auf einer motivischen Ebene aufrecht erhalten lässt, ist für künftige Arbeiten in dem Feld Folgendes zu wünschen: Die Differenzen, entlang derer die Differenz zwischen Binnen- und Emigrationsfilm behauptet werden, sollten in medientheoretische Überlegungen eingebunden werden, um darüber zugleich die filmkulturelle Relationalität der Filme nicht zu unterminieren. Wie in den Analysen in Teil II aufzuzeigen wird, verfügt Migration über vielfältige Figurationen, in denen die beiden genannten nur eine Form darstellt. Eine solche Aufarbeitung kann die vorliegende Historisierung des türkischen Emigrationsfilms nicht leisten, zumal auch im Hinblick auf Binnenmigrationsfilme noch filmarchivische und historiographische Desiderate zu erkennen sind.
3.2.4.
Ensemble II: Migrationskino in der High-Yeşilçam-Phase II (1970er)
In den Filmen der 1970er Jahre ist Emigration kein zentrales Erzählelement. In der Dekade finden sich stattdessen besonders Filme, in denen die Ausreise nach Deutschland nur Marginalie ist. Kayaoğlu teilt die Filme so in zwei Gruppen auf, die die Extensivität der motivischen Aufgreifung als Kriterium der Differenzierung heranzieht: Filme mit nur sporadischem Bezug darauf und Filme, die sich Migration in Gänze widmen. Dabei markieren die 1970er Jahre bereits eine Krise des türkischen Kinos. So nimmt zwar die Anzahl der hergestellten Filme nicht ab, doch die Herstellung ambitionierter und populärer Filme, die die Zukunftsfähigkeit des Yeşilçam-Kinos als wirtschaftlich erfolgreiches Systems gewährleisten können, bleibt aus, sodass zwei zentrale Ereignisse eine Krise des türkischen Kinos der 1970er Jahre markieren: erstens die Etablierung des Fernsehens in der Türkei und zweitens der unmittelbar daran anschließende Ausbruch der Sexfilmwelle, der viele Akteur_innen des Yeşilçam-Kinos aus dem Sektor vertreibt. Obwohl also ab den 1970er Jahren besonders Farbfilme gedreht werden, Superheldenfilme aus Hollywood und viele andere Blockbuster als Mockbuster (billige Abklatsche) entstehen, und obwohl um die 300 Filme jährlich hergestellt werden, findet sich die Branche inflationärer Entwicklungen gegenübergestellt, die schließlich ab 1974 in die Entstehung einer Sexfilmwelle münden. Yeşilçam-Strukturen sind nun festgefahren, die ambitionierten Filmemacher_innen der 1950er und 60er Jahre resignieren vor der Zensur und den harten Arbeitsbedingungen in der Branche, in der wöchentlich Filme abzudrehen waren. Zugleich etablierte sich das Fernsehen in den Städten und den 114 Makal (1994). 115 Güçhan (1992).
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Die visuelle Kultur der Migration
Dörfern, die inzwischen sehr großflächig mit Strom versorgt waren. Mit TRT116 war allerdings lediglich ein staatlicher Fernsehsender zu empfangen. Innenpolitisch war es um die Türkei nicht bessergestellt: In den 1970er Jahren waren die weltpolitischen Entwicklungen im Kontext des Kalten Kriegs zwar besonders intensiv durch Konflikte um eine entsprechende auch wirtschaftliche Weltordnung geprägt. Doch »[i]n kaum einem anderen Land bekämpften sich die entsprechenden Lager – Muslime, Linke, Rechte und westlich orientierte Kapitalisten – auf radikalere Weise«117 : »5713 Tote und 18480 Verletzte«118 . Das ist die Bilanz der Türkei in den 1970er Jahren bis am 12. September 1980 durch einen Militärputsch der Ausnahmezustand ausgerufen und der innenpolitisch rigide Rechts-Links-Konflikt damit ›beendet‹ wird. Die Regierungspraxis des eingesetzten Militärregimes unter dem General Kenan Evren, der den Putsch und Ausnahmezustand ausruft, zielt auf eine vollständige ›Entpolitisierung‹ des Lebens in der Türkei, um die innere Sicherheit wiederherzustellen. Dafür werden tausende, insbesondere dem linken Lager zugeordnete politisch Aktive gefoltert und ermordet. Viele versuchen ins Exil zu fliehen, auch nach Deutschland. Die Ereignisse um den Militärputsch werden zwar auch in den 1990er Jahren thematisiert, besonders aber seit den 2000er Jahren findet das kollektive Trauma des Putschs Eingang in die Filme und hält sich nach wie vor durch.119 Die Jahre vor dem Militärputsch 1980 hatten einen solchen schon vorher indiziert. 1971, also zehn Jahre nach dem ersten Militärputsch, hatte das Militär erneut geputscht und den damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel gestürzt. 1974 kommt es unter dem Ministerpräsidenten Bülent Ecevit zum Zypernkonflikt, der die weltpolitisch prekäre Lage der Türkei zwischen West und Ost noch einmal in seiner zugespitzten Ausprägung zeigt. So sind es auch die 1970er Jahre, in denen die islamisch orientierte Milli Selamet Partisi (»Nationale Heilspartei«) (MSP) entsteht, eine politisch wirkmächtige Stimme in der Türkei wird. Sie ist als Vorgängerpartei der AKP zu werten. Für die Filmwirtschaft bleiben diese Entwicklungen in den 1970er Jahren folgenreich. Die Verfassungsreformen nach dem Militärputsch 1960 bringen keine wirtschaftliche Besserstellung für die türkische Wirtschaft, ganz im Gegenteil: Die globale Wirtschaftskrise 1973 trifft die Türkei besonders hart – auch die Filmemacher_innen. Die Einfuhr von negativem Filmmaterial wird mit einem Embargo belegt. Doch die Yeşilçam-Filmemacher_innen sind kreativ und produktiv. Was in der türkischen Filmhistoriographie als Krise des türkischen Kinos dasteht, stellt eine der interessantesten, aber zugleich ambivalentesten Phasen in der türkischen Filmgeschichte dar. Zu der nationalen Filmbewegung des ulusal sinema um dem links-kemalistischen Halit Refiğ stellt sich mit der von Yücel Çakmaklı initiierten noch bis in die späten 1980er Jahre hinein fast nur von ihm vertretenen islamisch-konservativen Filmbewegung millî sinema eine weitere hinzu. Yılmaz Güney stellt in dieser innenpolitisch heiklen Zeit mit seinem antikapitalistischen, linken, oftmals auch anti-türkischen »militanten Kino«120 eine dritte Bewegung dar, die sich nicht nationalistisch vereinnahmt 116 Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu = »Türkische Rundfunk- und Fernsehanstalt«. 117 Ellinger (2017, S. 96). 118 Kreiser (2012, S. 99). 119 Vgl. Kara (2012). 120 Ellinger (2017, S. 119-122).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
wissen will, mit ihm als Star seiner Filme kommerziell besonders erfolgreich und im Ausland wegen seiner gesellschafts- und türkeikritischen Haltung vielbeachtet und gelobt bleibt. Der Dorffilm findet aus seiner melodramatischen Nische hinaus und wird immer komplexer – auch durch die Regisseure der Filmemacher_innenphase, die allerdings vor der Kommerzialität des türkischen Kinos und der rigiden Zensur in die Knie gehen: Sie ordnen sich den systemimmanenten Prinzipien günstiger Produktion und teilweise abstruser Genrekonventionen unter. Die Filme des Yeşilçam-Sinema, so wie im Hollywoodfilm auch, beuten erfolgreiche Figurationen permanent aus. Mit Figuration meine ich hier, dass bestimmte Elemente eines Films in ihrer Verbundanordnung von besetzten Schauspieler_innen, Story, Genre, Regisseur_in mehr oder minder stark über ein Vermögen verfügen, Zuschauer_innen zum Besuch eines Films zu verführen. In einem Genre der frühen 1970er Jahre findet sich das Motiv der Heimkehr besonders und am frühestens wieder. Es kommt wohl nirgends so häufig zum Einsatz wie im Dorffilm, in dem der Heimkehrer zumeist die dörfliche Ordnung Mal im Guten und Mal im Schlechten durcheinanderbringt. Es sind diese Filme, in denen sich die deutsch-türkische Arbeitsmigration umfassend verhandelt sieht – besonders also in ihrer Figuration von Remigration. Der von Türkan Şoray gedrehte Dönüş (»Die Rückkehr«) (1972)121 hat dahingehend sicherlich paradigmatischen Status, da er eine Allegorisierung und visuelle Andersmachung der Figur des Emigranten anbietet (▶ Kap. 8.2). Der Heimkehrende ist dann im heimatlichen Dorf mit allerlei widrigen Umständen konfrontiert und von diesen Umständen und Konflikten erzählen diese Filme, in denen der Feudalherr im Dorf zumeist den Antagonisten stellt. Das populärste aller Genres in der Türkei ist das Liebesmelodrama. Hier fungiert die Emigration als Motiv zur Steigerung der Konfliktdimension auf mehreren Ebenen: Zum einen fungiert eine interkulturelle Situation zwischen den Liebhaber_innen unterschiedlicher Herkunft als Konfliktherd insofern, wie der zumeist familiäre Kontext in Form von Vätern besteht, die in die Liebesbeziehung intervenieren. Orhan Aksoys Almanyalı Yarim (»Meine deutsche Geliebte«) (1974)122 ist ein solcher Film, in dem der Vater einer deutschen Frau sich gegen die Beziehung zu einem türkischen Arbeitsmigranten stellt. Dieselbe Figuration findet sich auch in Yücel Çakmaklıs Memleketim (»Meine Heimat«) (1974)123 und Halit Refiğs Bir Türke Gönül Verdim wieder: beides Filme, die als paradigmatische Werke einer ideologischen Filmprogrammatik auf den erzählerischen Kniff nach der Etablierung eines in die Liebesbeziehung intervenierenden deutschen Vaters zurückgreifen. Dabei ist Migration nicht nur in diesen beiden hauptsächlich um eine verwestlichte beziehungsweise deutsche Protagonistin kreisenden Liebesmelodramen Motivator einer Erzählung. Migration bindet sich komplex in das gesamte ideologische Gefüge der beiden Filmprogrammatiken ein, die sich gegen westliche Modernisierungsmodelle und für ein türkisches Kino aussprechen, das sich nicht einer Verwestlichung beugen sollte. Auf Seiten beider politisch divergenter Regisseure entstehen so auch weitere ideologisch motivierte Filme als Migrationsfilme (▶ Kap. 9). 121 Şoray (1972). 122 Aksoy (1974). 123 Çakmaklı (1974).
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Besonders interessant ist hier, dass die Filmbewegung Yılmaz Güneys und einer der paradigmatischen Filme dieser Filmrichtung ebenfalls um die Thematik der deutschtürkischen Arbeitsmigration kreist. Baba (»Vater«) (1971)124 erzählt die Geschichte eines Familienvaters, der in Folge der Intrigen eines reichen Unternehmersohns, für den er arbeitet, seine gesamte Familie an Prostitution, Vergewaltigung, Glücksspiel und Drogen verliert. Ein Verweis auf die Arbeitsmigration findet sich im ersten Drittel des Films: Um seiner Armut zu entgehen und seiner Familie ein angenehmeres Leben zu ermöglichen, entschließt er sich zur Arbeitsmigration nach Deutschland. Allerdings kann er die Gesundheitsprüfung durch die deutsche Verbindungsstelle aufgrund fehlender Zähne nicht bestehen und wird so ausgemustert (s. Schluss). Ein zentrales Subgenre des Melodramas sind die Arabeskfilme, welche als solche das Migrationsgenre schlechthin bilden. Es entsteht in den 1960er Jahren als Folge der Arabeskmusik, die selbst wieder aus der experimentellen Verquickung arabischer Elemente und türkischer Volksmusik resultierte. Die Arabeskmusik findet aufgrund der Thematisierung von Leiderfahrungen und ihrer masochistischen Affektstruktur Anklang bei Migrant_innen, die aufgrund ihrer Trennungssehnsucht und der gurbet-Erfahrung auf genau jene Konsumtion eines solchen kulturellen Angebots aus waren. Es verbreitet sich als Musikrichtung so sehr, dass sie sich ab den 1980ern tief in die gesamte Alltagskultur der Türkei, aber auch in die Migrationskultur der Emigrant_innen einschreibt. Die Filmproduzent_innen des Yeşilçam nutzen die Popularität der Sänger_innen und lassen in den späten 1970ern unzählige Filme mit ihnen in den Hauptrollen entstehen. Hier ist allen voran der mit Sänger Ferdi Tayfur in der Hauptrolle besetzte Batan Güneş (»Untergehende Sonne«) (1978)125 als Emigrations-Arabeskfilm zu nennen. Der Film erzählt die Geschichte des Dörflers Ferdi, der nach Deutschland ausreist, um die Mitgift für seine Geliebte Nazlı ansparen zu können. In seiner Abwesenheit wird dieser Opfer der Machenschaften des Feudalherrensohns, der sich ebenfalls in die ihm versprochene Nazlı verliebt hat. In der Videofilmära der 1980er finden die Arabeskfilme eine Neuauflage beziehungsweise werden als dezidiert für den Videomarkt entworfene Filme weiter hergestellt, teils unmittelbar in Deutschland (▶ Kap. 8.3.2). Mit dem Aufkommen der Sexfilmwelle ab 1974 findet die Emigration auch Einzug in den Sexfilm. Dabei sind zum Beispiel die Filme Alman Gelin (»Deutsche Braut«) (1977)126 sowie Çikolata Tarlası (»Schokoladenfeld«) (1975)127 als Beispiele zu nennen, in denen eine ausländische, in die Türkei zum Urlaub gereiste Frau (im erstgenannten Film eine Deutsche, im letztgenannten Film eine Schwedin) jeweils Sexualobjekt für die mit Sexszenen versehenen Filme fungiert. Dabei zeigt sich die Konfiguration von einer aus Deutschland in die Türkei eingereisten Frau auch jenseits der Sexfilmwelle als häufig rekurrierte Konfiguration, so zum Beispiel in der 1983 entstandenen Komödie Dolap Beygiri (»Kleiderschrank«) (1983)128 oder den beiden Ali Avaz Komödien (siehe später). 124 Zu einer Erörterung des Films im Kontext des deutsch-türkischen Kinos siehe Mennel (2010) und Sungu (2017). 125 Gürsu (1978). 126 Akıncı (1977). 127 Kosova (1975). 128 Alasya (1983).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
Mit dieser entlang der populären Yeşilçam-Genres orientierten Gruppierung der Emigrationsfilme der Türkei sind damit die Filme der 1970er Jahre schon hinreichend eingeordnet. Entlang der in den Filmen angelegten Vorstellungsbilder zur Emigration sowie zum Ausreiseland Deutschland zeigen sich kaum Darstellungen, die die Situation der Emigrant_innen als Leidsituation zeigten oder auf eine prekäre Situation als Arbeitsmigrant_innen hindeuten. Erst ab Mitte der 1970er Jahre fangen die Filme an, die Emigrationssituation als Leidsituation anzuzeigen und mit dem großen für die Türkei wichtigen kulturellen Konzept der gurbet zu verknüpfen. Erst Mitte der 1970er Jahre geht also das los, was für das deutsch-türkische Kino in seinen Anfangsjahren »Betroffenheitskino«129 genannt wird.
3.2.5.
Ensemble III: Migrationskino in der Late-Yeşilçam-Phase (1970-1980er)
In der zweiten Hälfte und besonders gegen Ende der 1970er sowie in den 1980er Jahren setzen sich vermehrt linke und kritische Regisseur_innen mit der Thematik der Emigration auseinander. Zugleich formieren sich in Schweden Ende der 1970er Jahre drei Filme, die durch ihre gesellschaftskritische Verhandlung von Emigration im Gesamtdiskurs bedeutsam werden. Es sind die Produktionen von Tuncel Kurtiz, Tunç Okan und Muammer Özer. Tunç in der Türkei verbotenes Drama Otobüs (»Bus«) 1976)130 handelt von einer Gruppe von zwölf illegalen Emigrant_innen, die mit einem Bus in Stockholm ohne Geld und Pass und mit der geplatzten Hoffnung auf eine Einreise nach Deutschland zurückgelassen werden: ein international sehr positiv aufgenommener Film, der mit seiner eigenwilligen Ästhetik und bedrückenden Atmosphäre sicherlich paradigmatischen Status für den türkischen Emigrationsfilms ist: In der Türkei wird der Film aufgrund einer besonders abwertenden Darstellung der türkischen Dörfler_innen als naive, dumme und stumme Personen lange Zeit verboten. Muammer Özers Film Kardeş Kanı/Splettring (»Geschwisterblut«) (1984)131 handelt von der zunehmenden innerfamiliären Verfeindung einer in Schweden lebenden türkischen Familie, die besonders durch das patriarchalische Verhalten des Vaters und die identitären Schwierigkeiten des ältesten Sohnes zu einem tödlichen Zwist zwischen den beiden Brüdern führt. Die Familie bricht unter dem Druck der Gesellschaft zusammen, die maßgeblich aus der Identitätskonfusion des ältesten Sohns resultiert. Tuncel Kurtiz‹ Gül Hasan (»Hasan, die Rose«) (1979)132 nimmt ebenfalls eine Betroffenheitsperspektive ein. Gezeigt wird die Ausbeutung von Arbeitsemigrant_innen in Schweden. Eine Gruppe von vier Migranten gibt sich als professionelle Filmproduktionsfirma aus und verlangt von interessierten Emigrant_innen Geld für ihre Beteiligung als Schauspieler_innen. Aufgrund der hohen Versprechungen lassen sich die Betroffenen auf den Deal ein. Die Crew simuliert den Dreh lediglich und plant mit dem Geld der Emigrant_innen kurz vor Drehende zu verschwinden. Kurtiz‹ Film nimmt im Kontext einer werkhistorischen Perspektive auf das Feld des türkischen Emigrationsfilms eine wichtige Rolle ein, die immer noch einer 129 Burns (2006). 130 Okan (1976). 131 Özer (1984). 132 Kurtiz (1979).
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eingehenden und angemessenen Auseinandersetzung bedarf, da mit seinen Verfremdungseffekten sowie metamedialen Strategien zugleich als medienkritischer Kommentar für das gesamte Feld der Emigration zu lesen ist. Die reflektiert aufscheinenden Pendants zu diesen gesellschaftskritischen Filmen bilden der linke, in Duisburg entstandene Film Kara Kafa (»Schwarzkopf«) (1979)133 , der aufgrund zensurieller Bestimmungen sowie Ausfuhrverbot erst 2011 in Antalya uraufgeführt werden konnte134 , sowie Şerif Görens Klassiker Almanya Acı Vatan (»Deutschland, bittere Heimat«) (1979)135 . Beide Filme widmen sich den widrigen Lebensumständen von Gastarbeiter_innen in Deutschland und setzen sich hierin besonders mit den alltäglichen Herausforderungen eines Lebens in der Migrationssituation auseinander. Insgesamt zeigt sich hier in diesen vornehmlich linken Filmen Ende der 1980er Jahre eine parallele Dynamik zu den deutsch-türkischen Gastarbeiter_innenfilmen. Es wird eine solidarische Perspektive mit den Arbeitsmigrant_innen eingenommen, ihre schwierigen und psychisch zersetzenden Lebensumstände verhandelt. Mit Beginn der 1980er löst sich in den Filmen schließlich die linke Gesellschaftskritik, die in den zuvor genannten Filmen ausgiebig zur Sprache kommt, zugunsten von Filmen, die das Konflikthafte in der Emigrationserfahrung in den psychischen Innenraum der Figuren verlagern. Die 1980er lassen sich nämlich als eine Phase verstehen, in denen besonders filmkünstlerisch ambitionierte Filmemacher_innen, die von der transnationalen Förderung auf europäischer Ebene profitieren, ihre tendenziell ruhigeren filmischen Visionen im inhaltlichen Kontext der türkisch-deutschen Emigration realisieren und sich so nun endgültig von der Yeşilçam-Modalität lösen. Ömer Kavur und Yusuf Kurçenli greifen in ihren Filmen die Emigration auf eine Weise auf, dass vormalige Stereotypen wie die Figur des ›Deutschländers‹ oder interkulturell dichotomisch angelegte Konflikte kaum mehr eine Rolle spielen. Auf der Seite der Autorenfilmer_innen der 1980er Jahre finden sich so die Filme Amansız Yol (»Der unbarmherzige Weg«) (1985)136 , Ölmez Ağacı (»Der unsterbliche Baum«) (1984)137 , Pehlivan (»Ringer«) (1984)138 , Yavrularım (»Meine Kinder«) (1984)139 und einige mehr (siehe Filmregister). Geht man von repräsentationslogischen Überlegungen aus, könnte man diese Riege an Filmen gar als Symptom für eine Entstereotypisierung des Diskursfelds der deutschtürkischen Migration verstehen. Hier kommt Tunç Okan zweiter Regiearbeit zur türkisch-deutschen Emigration, der Literaturverfilmung Mercedes Mon Amour (1987)140 , in der Geschichte des türkischen Emigrationsfilms eine besondere Rolle zu: Durch die Erzählung einer desillusionierten Heimkehr eines als Müllmann arbeitenden Arbeitsemigranten in sein Dorf reflektiert der Film Diskurse zum türkischen Emigrationsfilm selbst: Als der von Anerkennungswünschen seiner Heimat geleitete Protagonist Bayram in seinem Dorf ankommt, erwartet ihn eine archäologische Ausgrabungsstätte. 133 Yurtsever (1979). 134 Sungu (2017, S. 84). 135 Gören (1979). 136 Kavur (1985). 137 Kurçenli (1984). 138 Ökten (1984). 139 Olgaç (1984). 140 Okan (1987).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
Die Menschen im Dorf sind selbst nach Istanbul binnenmigriert. An die Stelle einer erfolgreichen Heimkehr wie sie viele Dorffilme der 1970er Jahre inszenierten ist die Demystifikation des Topos ›Heimkehr‹ eingetreten. Um ein anderes Beispiel für einen zunehmend distanziert-reflektierteren Umgang mit Emigration zu nennen: In Auteurfilmer Ömer Kavurs Amansız Yol spielt Kadir İnanır den LKW-Fahrer Hasan, der nach Jahren der Emigration in Deutschland wieder in die Türkei zurückkehrt. Dort taucht er bei seinem Jugendfreund Yavuz auf, der Hasans ehemalige Jugendliebe Sebahat geheiratet hat. Schnell offenbart sich, dass Sebahat sich zur Wahrung des Lebensunterhalts heimlich prostituiert, denn Yavuz hat eine Gehbehinderung und kann nicht mehr für seine Familie sorgen. Weil Yavuz sich bei Kriminellen verschuldet, bittet dieser seinen Freund Hasan darum, Frau und Tochter Ayşe sicher nach Istanbul zu bringen. Schließlich ist die prekäre Situation der Familie verzwickter als sie erst Mal erscheint, denn Yavuz weiß um die weiterhin anhaltende Liebe Hasans zu seiner Ehefrau und beutet diesen Umstand aus, um nicht nur die Familie vor den beiden Verfolgern in Sicherheit zu bringen, sondern auch ein Paket, das diese mit sich trugen, zu sichern: eine Strategie, die sich nur bedingt für ihn auszahlt. Nachdem Hasan ihm das mit Geld gefüllte Paket aushändigt, wird Yavuz wenig später von seinen Verfolgern ermordet. Sebahat verlässt Tochter und ehemaligen Geliebten, sodass Hasan die Tochter Ayşe schließlich nur noch bei Yavuz’ Eltern abgeben kann. Schon wenig später bereut Hasan diese Entscheidung und nimmt sich des Mädchens an. Beide fahren in Hasans LKW davon. Der Film erzählt die Flucht der drei Reisenden, in der sich Hasan und seine ehemalige Jugendliebe nun wieder näher kommen. Die Reise konfrontiert die beiden mit ihrer Vergangenheit. Damals Unausgesprochenes kann ausgesprochen, ungelebte Gefühle können wieder gelebt werden. Die Abwesenheit der Migration bildet das Reservoir für Aufsammlungen getrennt gebliebener Leben, in der die Reise mit dem LKW zugleich die Reise in die ungelebt gebliebene Beziehung doppelt. Kurçenlis Film Ölmez Ağacı hingegen lässt sich in seinen Bildpolitiken noch am ehesten einem differenzierten Betroffenheitskino zuordnen. Darin ist besonders die Einstellung repräsentativ für die Bildstrategie des Films, in der ein Familienvater einsam und verloren über die Landschaft vor dem ›dampfenden‹ Kraftwerk geht.141 Dabei geht es in dem Film generell um die interkulturelle Liebesbeziehung zwischen einem erwachsenen griechischen Migranten und der erwachsenen ältesten Tochter der dargestellten türkischen Migrant_innenfamilie. Der von seiner Migrantenexistenz depressiv geprägte Familienvater interveniert in diese Beziehung mit der Entscheidung von der Remigration der gesamten Familie in die Türkei, denn dadurch muss auch die Tochter remigrieren. Dass diese Entscheidung sich sehr spät im Film offenbart, zeigt auf, dass dem Film eher an der Darstellung der Lebensverhältnisse gelegen ist, die in der langsamen und kaum dramatisch konstruierten Struktur des Films Raum für die Darstellung der zwischenmenschlichen Verhältnisse gibt. 141 Hier offenbart sich die Schwierigkeit in der Erläuterung von Filmszenen anhand von Standbildern. Während im Bild die rauchenden Schornsteine auf eine mögliche Konnotation von innerer Unruhe verweisen, ist diese Konnotationsdimension in der fast einminütigen Einstellung nicht als solche wahrnehmbar.
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Neben diesen ambitionierten Filmen findet sich in den 1980er Jahren auch noch eine Reihe von Actionfilmen, die auf die Emigration Bezug nehmen. Als frühester solcher Actionfilm ist Yıkılış (»Der Niedergang«) (1978)142 von Natuk Baytan zu nennen. Der Film erzählt von der Heimkehr einer dreiköpfigen Familie in die Türkei, deren Erspartes nach dem Grenzübergang von einer Motorradgang gestohlen und der Sohn so schwer von einem der Gangmitglieder angefahren wird, dass dieser für den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbleiben muss. Die Emigrationssituation zielt auf die Erhöhung des Dramatisierungspotentials, da die Familie im Bezug verherrlichende Vaterlandsvorstellungen die Schicksalsschläge umso stärker an ein Ungerechtigkeitsempfinden rückbinden kann: Dass die zerstörerischen Ereignisse sie gerade in ihrer Anavatan (»Mutternation«) ereilen143 , erhöht das Resignationsempfinden, das auf Seiten des Vaters dann in ein übersteigertes Rachebewusstsein führt. Er entschließt sich im Alleingang der Motorradgang den Garaus zu machen und sich ihr Geld wiederzuholen, dass sich die Familie für einen Neuanfang in der Heimat angespart hatte. Eine jeweils wie hier in Yıkılış vorgebrachte »Figuration von Emigration«144 lässt sich für das Genre Actionfilm letztlich schwer wiederfinden. In dem Boxerfilm Kara Şimşek (»Schwarzer Blitz«) (1985)145 wird die Geschichte zweier Brüder erzählt. Der eine ist mit dem Vater für eine erfolgreiche Boxkarriere nach Deutschland emigriert, während der andere bei der allein lebenden Mutter im Dorf geblieben ist, obwohl auch dieser durchaus Boxtalent aufweist. Der Film setzt damit ein, dass der Vater mit dem Sohn für einen Boxkampf aus Deutschland zu Frau und älterem Sohn in die Türkei zurückkehrt. Dabei zeigt sich, dass der Vater im Ausland zu einem überheblichen Ekel geworden ist, zu dem der Boxererfolg des Sohns maßgeblich dazu beigetragen hat. Aus erzählstrategischer Sicht fungiert das Ausland als Ort, in dem die Wandlung des Vaters hin zu einem schlechten Charakter und einem lasterhaften Leben kommunizieren hilft. Dadurch dass das Ausland so imaginiert ist, als böte es umfassende gesellschaftliche Liberalitäten, kann es die Emigrant_innen als solche moralisch degenerierten Subjekte darstellen, die sich den Verführungen des westlichen Auslands hingeben. Auch in anderen Actionfilmen jener Jahre fungiert das westliche Ausland als Ort, in dem kriminelle Milieus durch Emigrant_innen besetzt sind, so zum Beispiel in Yücel Uçanoğlus Gurbet (»Die Fremde«) (1984)146 . In den vermeintlich apolitischen Post-Militärputsch-Komödien von Kemal Sunal führt sich das Motiv der Heimkehr in seiner im Dorffilm vorfindlichen Form besonders häufig wieder. In Üç Kağıtçı (»Das Schlitzohr«) (1981)147 ist der Heimkehrer Rıfkı (Kemal Sunal) ein Emigrant, der nach sechs Jahren Aufenthalt in Deutschland wieder in sein Dorf zurückkehrt. Er will das Erbe seines Vaters antreten. Dank seiner Fähigkeit, durch seine Rheumatismen Regen vorherzusagen, bringt er die die Dorfordnung durcheinander. Wie in unzähligen anderen Kemal Sunal-Filmen, die in der Türkei einen 142 Baytan (1978). 143 Im Türkischen wird das Heimatland nicht wie im Deutschen ›Vaterland‹, sondern wörtlich Anavatan also »Mutternation« genannt. 144 Kayaoğlu (2012). 145 İnanç (1985). 146 So zum Beispiel auch in Uçanoğlu (1984). 147 Baytan (1981).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
ähnlichen Kultstatus haben wie andernorts ›Bud Spencer und Terence Hill‹- oder ›Louis de Funès‹-Komödien, dreht sich im Film alles darum, dass er seinen Widersachern, die ihn um sein Erbe bringen wollen, das ›Handwerk legt‹. In einer anderen ›Kemal Sunal‹-Komödie, Postacı (»Der Briefträger«) (1984)148 , ist eine Nebenfigur ein Emigrant, nämlich der Bruder der Frau, in die der Briefträger Adem (Kemal Sunal) verliebt ist. Dieser Bruder ist ein ›Deutschländer‹-Typus der 1980er Jahre. Mit seinem Ford Transit hat er seine gesamte vierköpfige Familie in den Urlaub mitgebracht. Als solche Figur, die mit einem Kleinbus die Türkei zum Urlaub fährt und in Deutschland sich nun endgültig niedergelassen hat, gibt sie einen neuen Typus von Emigrant ab, der sich zum Beispiel auch in einer Nebenfigur des Films Pehlivan (»Der Ringer«) (1984)149 zeigt – ein Drama des Yılmaz Güney-Schülers Zeki Ökten. Der Film erzählt von den Bestrebungen eines in einfachen Verhältnissen lebenden Dörflers, der an einem professionellen Ringkampf teilnehmen möchte. Der Schwager des Protagonisten in dem Dorfdrama fährt, so wie die Nebenfigur in Postacı auch, einen blauen Ford Transit und wird als finanzstarker Unterstützer des Ringkampfvorhabens seines Schwagers gezeigt. In den 1980er Jahren sind die Emigranten zumeist nur Besucher_innen, keine endgültigen Heimkehrer mehr. Der Ford Transit steht hierbei aufgrund seiner Eigenschaft als Großraum-PKW als Synonym für den Umstand nach einer familienzusammengeführten fest bestehenden Existenz im Ausland. In dem in Deutschland hergestellten Film Vatanyolu wird dieser Typus persiflierend ins Zentrum der Filmhandlung gestellt (▶ Kap. 2.3). Um zu den Emigrationskomödien zurückzukommen: Während Davaro (1981)150 die Dorfheimkehr als Parodie eben jener früheren Yeşilçam-Filme inszeniert, nutzt die Ertem Eğilmez Komödie Banker Bilo (»Der Banker Bilo«) (1980)151 das Stereotyp von der illegalen Schleusung einer Gruppe von Migranten nach Deutschland als Ausgangspunkt für seine eigentlich binnenmigratorische Story. Darin geht es um das antagonistische Verhältnis zwischen dem gutherzigen Bilo und dem in der Stadt ›a-sozialisierten‹ Sülo, der ihn permanent ausnutzt: ein Verhältnis, das den selbstzersetzenden Parasitarismus der türkischen Gesellschaft repräsentieren soll, die sich mit ihrer mangelnden gesellschaftlichen Solidarität zugunsten materieller Bedürfnisse permanent selbst hintergeht. Weiterer zentraler Emigrationsfilm ist Gurbetçi Saban (»Der Fremdling Şaban«) (1985)152 , der dezidiert das Diskursfeld deutsch-türkischer Arbeitsmigration aufgreift und als derjenige Film im Œuvre Kemal Sunals dasteht, der sich Diskursen um die türkisch-deutsche Arbeitsmigration am umfassendsten widmet. Martina Priessner und Tunçay Kulaoğlu ordnen den Film im Kontext kulturpolitischer Fragestellungen ein: Dass es eben keine Wahrheit, keine ursprüngliche Ethnizität, kein eigentliches Türkisch-Sein oder Deutsch-Sein gibt, hat Kartal Tibet schon lange bevor »Performing Ethnicity« als subversive Strategie in den Cultural Studies verhandelt wurde, in seiner 148 Ün (1984). 149 Ökten (1984). 150 Tibet (1981). 151 Eğilmez (1980). 152 Tibet (1985a).
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Anarcho-Komödie Gurbetçi Şaban (1985) vorgeführt. Der überwiegend in Köln gedrehte Film erzählt die Geschichte des genialen Einfaltspinsels Şaban, gespielt vom legendären Schauspieler Kemal Sunal. […] Gurbetçi Şaban ist mit Klischees überfrachtet und beschreibt dennoch die gesellschaftlichen Verhältnisse vor dem Hintergrund von Migrationsprozessen und weist augenzwinkernd auf Überlebensstrategien in der Mehrheitsgesellschaft hin.153 Inhaltlich thematisiert der Film die erfolgreichen Emanzipationsversuche des Emigranten Şaban, der seine prekären Lebensbedingungen in Deutschland gar so verkehrt, dass er gegenüber den ihn unterminierenden deutschen Figuren als soziohierarchisch Überlegener dasteht. Insofern ließe sich vielleicht nicht nur von einem Film über »Überlebensstrategien«154 sprechen, sondern man könnte ihn verstehen als »jene Verkehrung eines Betroffenheitskinos in ein Ressentimentkino, das dadurch aus den betroffenen Opfern nun Potentaten zu machen versucht«155 . Neben diesen raffinierten Filmen Kemal Sunals und anderer gesellschaftskritisch durchaus reflektierter Filme der Arzu Film156 finden sich in den 1980er Jahren noch weitere, eher ›flache‹ Komödien, die eigentlich Fortsetzungen der Komödienreihen wie Cilali Ibo und Turist Ömer darstellen. Zwei solcher Filme sind die beiden Ali Avaz Komödien Alman Avrat 40 Bin Mark (»Deutsches Weib 40 Tausend Mark«) (1988)157 und Alman Avratın Bacısı (»Die Schwester des deutschen Weibs«) (1990)158 , die von den situativ komischen Erlebnissen des Arbeitsmigranten Ali erzählen. Bekannt ist Ali Avaz einer migrantischen Zuschauer_innenschaft besonders durch seine kalauerhaften LP-Kassettenaufnahmen, in denen er das Leben in der gurbet thematisiert, womit die beiden genannten Filme als filmische Erweiterungen seiner musikalischen und kalauerhaften Tonträgerkarriere zu verstehen sind. An den hier im Kapitel vorgenommenen Vorstellungen der Filme sollte deutlich geworden sein, dass populäre Filme mit dem Aufkommen einer sich als Auteur verstehenden Generation keineswegs ausgeblieben sind. Im Sinne von Fortführungen der Yeşilçam-Hochära haben Actionfilme, Dorffilme, gesellschaftskritische Komödien und Liebesmelodramen und hier besonders Arabeskfilme die 1980er Jahre zugleich auch als Jahrzehnt eines an populären Formaten interessierten Feldes zurückgelassen. Die Evaluierung jener Phase als Late-Yeşilçam-Phase (Arslan) ist durchaus sinnvoll, inso153 154 155 156
Priessner und Kulaoğlu (2017, S. 39). Priessner und Kulaoğlu (2017, S. 39). Alkın (2015a, S. 207). Vgl. Pekman (2010). Die Produktionsfirma Arzu Film ist bekannt geworden für eine Vielzahl von klassischen Filmkomödien. Inhaber und Regisseur Ertem Eğilmez hat Dank seines Gespürs für schauspielerisches Talent zahlreiche Schauspieler_innen etabliert, die noch bis heute in ihren Rollen Kultstatus genießen. Auf einer filmkünstlerischen Ebene setzen sich die Arzu Film-Produktionen durch eine raffinierte Dramaturgie und Gesamtkonzeption aus, in denen die humoristische und parodistische Verhandlung gesellschaftlicher Dynamiken so durchdacht ausgearbeitet ist, dass sie gar in der Post-Putsch-Phase der 1980er politisch relevante Seitenhiebe trotz einer rigiden Zensur unterbringen konnten. 157 Avaz (1988). 158 Avaz (1990).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
fern sich Grundkonstellationen jener zentralen türkischen Filmära erhalten haben (vornehmlich Affektkino, schnelle Produktionskultur, Starsystem). Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Etablierung einer Videokultur für Migrant_innen sowohl in Deutschland als auch für die heimische Kultur in der Türkei maßgeblich noch zur Produktion unzähliger billiger Filmproduktionen geführt hat, die teilweise dezidiert nur für den Videomarkt erschienen sind (▶ Kap. 7.8.1). Dabei wurden nicht nur Yeşilçam-Klassiker, und hier insbesondere ›Kemal Sunal‹-Filme, häufig verliehen (Klitzke) oder Bollywood- und Martial Arts-Filme159 , sondern das Genre des Arabeskfilms gab Gelegenheit zur Entwicklung unzähliger melodramatischer Plots, die die Zuschauer_innen zu Tränen rühren sollten. Es ist eine oft verbreitete These, dass die aktuellen unzähligen Serienproduktionen im heutigen türkischen Fernsehen (2018) Produkt genau jener umfassenden Erfahrungen populären Erzählkinos der YeşilçamÄra sind.160
3.2.6.
Ensemble IV: Migrationskino in der Post-Yeşilçam-Phase (1990-2010er)
In den 1990er Jahren entstehen in der Türkei kaum Filme. So sind es in den zwölf Jahren zwischen 1990 bis 2002 insgesamt 388 Kinofilme, wobei auf den Zeitraum zwischen 1997 bis 2002 lediglich 93 Filme entfallen. Zum Vergleich: In den 1960er und 70er Jahren wurden allein in einem Jahr zwischen 200 und 300 Filme hergestellt. Was sind die Gründe für die zunehmende Abnahme hergestellter Kinofilme? Mit den entstehenden Privatsendern erobert das Fernsehen die Haushalte. Amerikanische Serien und Wiederholungen von Yeşilçam-Filmen füllen die Bildschirme der heimischen Geräte. Internationale Koproduktionsformen, die schon in den 1980er Jahren aufgenommen wurden, bringen kaum Kinofilme hervor, die dann zumeist an den Kinokassen auch nicht besonders erfolgreich ausfallen. So ist es kein Wunder, dass in diesen Jahren türkisch-deutsche Emigration im Kino filmisch kaum verhandelt wird. Waren es gegen Ende der 1980er Jahre noch etliche Filme, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzten161 , können in den 1990ern nur wenige türkische Filme dahingehend genannt werden. Zentraler Emigrationsfilm der 1990er ist sicherlich Sinan Çetins Berlin in Berlin, der sowohl in der Türkei als auch im Migrationskontext als finanziell erfolgreicher Kinofilm angelaufen ist (▶ Kap. 2.3).162 Das Ausbleiben von Kinofilmen aufgrund der Veränderung der Sichtungspraktiken der Zuschauer_innen (Fernsehen) bedeutet aber nicht, dass die Produktion von Filmen generell zum Erliegen kommt oder nur im Hinblick auf das Kino produktiv ist. Unzählige TV-Filme für die privaten Sender werden hergestellt, sodass man für eine Bestimmung der filmischen Umgangsweisen mit der türkisch-deutschen Emigration generell noch gattungssensible Überlegungen in die archivischen Praktiken zur Erarbeitung des Korpus heranziehen müsste. Aufgrund der schwierigen Zugangsmöglichkeiten zu diesen TV-Filmen sowohl in archivischer Sicht als auch wegen der Abwertung solcher Filme im Verhältnis zu Kino159 Der Erfolg dieser beiden Filmkulturen hatte sich in der migrantischen Kultur schon durchgesetzt, bevor er auf den deutschen Mainstream überging. Siehe dazu Toy Par (2009). 160 Arslan (2011), Behlil (2010). 161 Özgüç (2012, S. 817). 162 Fenner (2000, S. 108f.).
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Die visuelle Kultur der Migration
spielfilmen in untersuchungstechnischer Sicht lässt sich ausgehend von der aktuellen Materiallage kaum etwas zur filmischen Umgangsweise türkisch-deutscher Emigration in den 1990er Jahren sagen. Als besonders relevante und auch filmkünstlerisch ambitionierte Projekte lassen sich zum Beispiel zwei TRT-Produktionen nennen, von denen zumindest eine für die vorliegende Arbeit gesichtet werden konnte: Geyikler, Annem ve Almanya von Tuncer Baytok und der bislang ungesichtet und im Diskurs unbeachtet gebliebene Drei-Teiler Bağrıyanık Ömer ile Güzel Zeynep (TV-Serie) des millî sinema-Erfinders Yücel Çakmaklı. Was sich hier für die 1990er Jahre festhalten lässt, wird mit Blick auf die 2000er Jahre nicht minder unkompliziert. Differenziert sich das türkische Kino nochmal in zugespitzter Form in Arthouse-Kino und populärer Film aus, findet die türkisch-deutsche Emigration nur sporadisch eine filmische Verhandlung. Zwar zeigt sich das Motiv der Migration (Binnenmigration) auch in den international preisgekrönten türkischen Arthousefilmen in den 2000er Jahren, beispielsweise der Yusuf-Trilogie von Semih Kaplanoğlu, doch es wäre zu einfach davon zu sprechen, dass in dem nun divergenten Feld des türkischen Kinos Migration allenfalls nur eine spontane Aufgreifung findet. Die genremäßige Ausdifferenzierung der türkischen Kinofilmkultur zwischen Kriegsfilm, Historienfilm, Biopics, Romantic Comedys, islamischen Horrorfilmen, Melodramen und Romantic Comedys verweist darauf, dass das Yeşilçam-Kino ein komplexes Nachleben führt (Post-Yeşilçam). Mit auf internationaler Ebene bekannten Regiegrößen wie Nuri Bilge Ceylan oder Yeşim Ustaoğlu finden auch filmkünstlerisch ambitionierte Filme ihren Weg in die Kinos, die sich weniger als Anschluss an das erzählerische Kino jener frühen Jahren verstehen lassen. Vielmehr sind sie als eine Kultur intellektuell motivierter Filmkunst zu verstehen, die sich stark an kulturellen Zusammenhängen aus dem europäischen Raum orientiert. Während im deutsch-türkischen Kino Migration zunehmend auch die in den Filmen gezeigte Alltagskultur durchwebt, widmen sich türkische Filme dem Migrationsphänomen weniger dezidiert, als dass sie – so wie in den früheren Jahren auch – je unterschiedliche Aufgreifungen der Thematik produzieren. So entstehen zunehmend Filme, die zum Beispiel auch die Türkei als Einwanderungsland ins Zentrum rücken.163 Möchte man ein paar Beispiele für solche Filme nennen, die sich der deutsch-türkischen Migration in ihrer filmischen Erzählung dezidiert widmen, so ließen sich die Filme Berlin Kaplanı (»Berliner Tiger«) (2012)164 sowie die beiden Ehrenmorddramen Mevsim Çiçek Açtı sowie Handan İpekçis Saklı Yüzler (»Verborgene Gesichter«) (2007)165 anführen. Letztere Filme verweisen darauf, dass die Frage nach den repräsentationsdynamischen Entwicklungen des türkischen Emigrationsfilms keineswegs ad acta zu legen ist, sondern zuallererst noch Kriterien zur Bestimmung des Forschungsfeldes zu reflektieren sind, die ein besonders werkhistorisch umfassenderes Verständnis ermöglichen. Es bleibt offen, inwieweit aus türkischen filmkulturellen Zusammenhängen heraus noch Filme entstehen werden, die sich der ›türkisch-deutschen Migration‹ umfassend widmen. Letztendlich müssen die genretheoretischen Fragen danach erörtert 163 Ellinger (2017, S. 331). 164 Algül (2012). 165 İpekçi (2007).
3 Historische Rückvergewisserung II: Der ›türkische Emigrationsfilm‹
werden, wie mit Filmen zur türkisch-deutschen Migration umzugehen ist (▶ Kap. 5). Will man die bereits in Kapitel 2 vorgebrachten Argumente zu einer Eurozentrisierung von Forschungen oder epistemologischen Vereinseitigung auch mit Blick auf den ›türkischen Emigrationsfilm‹ ernst nehmen, so bedarf es weitergehender filmarchivischer sowie filmkulturhistorischer Arbeiten, die das Forschungsfeld noch werden konstituieren müssen.
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4. World, Transnational und Polycentric Cinema: Neuverortungen des ›deutsch-türkischen Kinos‹
In dem folgenden Kapitel werde ich anhand einer kritischen Erörterung der beiden filmwissenschaftlichen Konzepte Transnational und World Cinema eine Verortung des türkischen Migrationsfilms vornehmen. Diese Verortung hilft, die Problematik der filmwissenschaftlichen Behandlung des türkischen Migrationsfilms zu erhellen und liefert Argumente für die komplexe Stellung eines solchen Kinos an der Schnittstelle von nationaler Kinematographie im globalen Kontext (World Cinema). Transnationale Aspekte (Transnational Cinema) werden hervorgehoben. Das Ziel im vorliegenden Kapitel ist also, an einer kritischen Erörterung der beiden Modelle World und Transnational Cinema das Verhältnis von türkischem Emigrationsfilm und deutsch-türkischem Kino im Kontext globaler Filmbildkulturen zu differenzieren. Die filmwissenschaftliche Debatte zum Transnational und World Cinema werde ich zur film- und kulturwissenschaftlichen Re-Konfigurationen des Feldes des deutsch-türkischen Kinos heranführen und daran eine globalere Perspektivierung auf die Filme zur deutsch-türkischen Emigration erörtern, die mit dem Modell eines Polyzentrismus einen epistemischen Ausweg aus eurozentrischen und postkolonialen Gefahren der Diskurrierung weist. Während der türkische Film vornehmlich im World Cinema Ansatz verhandelt und als Teil eines solchen wahrgenommen wird, wird das deutsch-türkische Kino im Transnational Cinema-Ansatz verortet. Beide bleiben forschungstechnisch separiert. Dies geht besonders mit der filmwissenschaftlichen Kontextualisierung des türkischen Films als peripheres World Cinema einher. Die Unschärfe des Transnational Cinema-Begriffs befördert auf der anderen Seite die Unsichtbarkeit des Migrationsereignisses im kinematographischen Umfeld des Entsender- beziehungsweise Bezugslands der Migrant_innen. Die zentrale These des Kapitels ist daher, dass die Unsichtbarkeit der türkischen Migrationsfilme im internationalen wissenschaftlichen Diskurs, aber auch im türkischen filmwissenschaftlichen Forschungskontext der konzeptionellen Unschärfe und Fehlstellung der beiden Begriffe World und Transnational Cinema geschuldet ist. Meine Kritik an den Modellen legt die eurozentrischen Dynamiken filmwissenschaftlicher Beschäftigung mit Kinematographien offen. Außerdem biete ich Wege einer nicht-eurozentrischen Verhandlung an, indem ich die Einnahme einer »polyzentri-
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Die visuelle Kultur der Migration
schen Sichtweise«1 vorschlage. Eine solche Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Welt als »flexible Geographie«2 begreift und von der linearzeitlichen Gewordenheit, besonders der Trias von Vormoderne, Moderne und Postmoderne entkoppelt. Als Resultat der Auseinandersetzung mit den beiden filmwissenschaftlichen Konzepten diskutiere ich meinen diskurspolitischen Umgang mit dem deutsch-türkischen Kino, für den sich empfiehlt, das türkische Migrationskino dabei stets mitzudenken.
4.1. 4.1.1.
Der ›türkische Film‹: World Cinema Einleitung: Der schwierige geopolitische Ort der Türkei
Der türkische Film spielt im internationalen (und das heißt zumeist englischsprachigen) medien- sowie filmwissenschaftlichen Diskurs nur eine marginale Rolle. Dies hat, bei aller Schwierigkeit einer Verortung nicht-westlicher nationaler Kinematographien generell, mit einer komplexen geopolitischen Situation der Türkei zu tun. Für die türkischsprachige Soziologie ist die Einsicht nach der schwierigen geopolitischen und kulturellen Stellung der türkischen Republik sowie die Beschreibung dieser Position durch den ›Moderne-Tradition‹-Binarismus eine gängige Erkenntnis und zugleich besonders dieser Binarismus eine vereinfachende und komplexitätsreduzierende Rahmung. Dennoch lohnt es hier einige dieser ›stereotypen‹ Merkmale der geopolitischen und -kulturellen Situierung der Türkei in Erinnerung zu rufen, um die bei der Bestimmung des geopolitischen sowie anderweitigen Orts der Türkei entstehenden, funktionalisierten und funktionalisierenden Binarismen3 verstehen zu können. Die Soziologin Meltem Ahıska hat eine konzeptionelle Rahmung der türkischen Republik vorgeschlagen, die ihre schwierige Lage zum Westen und die Instrumentalisierung der Konstruktion der Beziehung zum Westen reflektierbar macht.4 Dafür bezieht sie sich auf den Begriff des ›Okzidentalismus‹, streift ihm jedoch den diskursanalytischen Ballast ab, der ihm im Hinblick auf eine potentielle Gegenkonzeption zu Edward Saids wirkmächtigem Orientalismus-Konzept anhaften könnte. Ahıskas Okzidentalismus-Konzeption und einige Wiederaufnahmen sowie argumentative Weiterführungen werde ich in Kapitel 8 eingehender erörtern, da sie im Kontext zweier nationaler Filmprogrammatiken der 1970er Jahre dabei hilfreich ist, das Problem der Identitätspolitik im türkischen Kino differenzierter zu beschreiben. Die Türkei steht – bedingt durch ihre geographische Lage zwischen zwei Kontinenten – im Fokus von verschiedensten Konstrukten von Ost und West. Sie ist durchdrungen vom Gegensatz zwischen Tradition und Moderne5 beziehungsweise von den Kon1 Vgl. Stam und Shohat (2002) und Shohat und Stam (1994). 2 Nagib (2006). 3 Eine Kritik der Dualismen durch die Reflexion der Instrumentalisierung dieser Dualismen findet sich bei Küçük (2008b). 4 Ahıska (2008). 5 Der Binarismus von Moderne und Tradition, mit dem die Türkei inzwischen schon im Alltagsdiskurs gerahmt wird, hat ihre Diskurse fast erschöpfend besetzt und zwar, dass dieser nach wissenschaftlicher Dekonstruktion verlangt. Dahingehend sind die Kunst, die Literatur, der Film der Wissenschaft
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struktionen eines solchen Gegensatzes, der sich noch mit der Belehnung für das Östliche durch die islamische Religion koppelt. Während das Traditionelle und der Islam also die eine Seite des Gegensatzes ausmachen, steht auf der innergesellschaftlichen und innenpolitischen Seite die Moderne mit ihrer Trennung von Staat und Religion (Laizismus). Die Türkei ist weder eindeutig als Naher oder als Mittlerer Osten einzuordnen. Auch nur zu Südosteuropa oder dem Balkan gehört sie nicht. Sie war imperiale Großmacht (osmanisches Reich), deren Erbe noch weit in das eigene republikanische Modell und die Kultur anderer Länder hineinstrahlt, aber hatte trotz dieser imperialen Stellung kaum klassisch-kolonialistische Züge. Im Zuge des nation-building, der Erfindung der türkischen Nation6 samt der damit einhergehenden nationalen Mythenbildung7 hat die Türkei eine gewaltsame ethnisierende Politik durchlaufen. Dies führt von der Republiksgründung vor mehr als 80 Jahren bis heute (2019) zu einer pro-sunnitisch-islamischen Politik der AKP-Regierung, die ihre Differenz zum Westen nach anfänglichen Beitrittsbestrebungen in die Europäische Union inzwischen selbstbewusst auch innenpolitisch rigide kundtut. Diese geopolitische Ordnung beeinflusst auch den Kontext der Arbeitsmigration nach Deutschland und führt auch auf deutscher Seite zu einer innenpolitischen Spannungssituation (2017).8 Es wird deutlich, dass es eine multiple Überkreuzstellung in geopolitischer, kultureller und gesellschaftshistorischer Hinsicht ist, die eine Auseinandersetzung der Türkei im Migrationskontext nicht gerade einfach macht. Diese Komplexität wird im filmwissenschaftlichen Kontext notgedrungen übergangen.
4.1.2.
Zur Rezeption der türkischen Filmgeschichte
Auch wenn das türkische Kino in englisch- und deutschsprachiger Wissenschaftsliteratur nur in geringem Maß verhandelt wurde, besteht die wissenschaftliche wie publizistische Beschäftigung mit der türkischen Filmkultur im eigennationalen Kontext in überaus umfangreicher Form.9 Es gibt unzählige Publikationen zum türkischen Film, die mit der relativ früh einsetzenden Tradition der Filmkritik und dezidierter Filmzeitschriften besonders in den 1960er und 70er Jahren entstanden sind (▶ Kap. 3). Sie legen Zeugnis vom Ausmaß und der Vielfalt der intellektuellen Beschäftigung mit der Filmkultur in der Türkei ab. Trotz einer demgegenüber eher marginalen Aufarbeitung im internationalen (und damit zumeist westlichen) Wissenschaftskontext hat der türkische Film in einer an sich schon sehr heterogenen sowie jungen internationalen Filmwissenschaft ihre publikationswirksamen Anschlüsse an filmwissenschaftliche Diskussionen
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voraus. Zur These von der Dissemination des Wissens in und durch die Literatur in ihrem jeweils eigenständigem Modus, lohnt es, das Forschungsfeld der Wissenspoetologie zu betrachten. Erläuternd dazu Skrandies (2014, S. 282), darin Fußnote 2. Vgl. Anderson (2005). Vgl. Robins (1996). Relativ viele Wähler_innen aus der Türkei (ca. 65 %) mit türkischer Staatsbürgerschaft in Deutschland haben ihre Zustimmung zum umstrittenen Präsidialsystem in der Türkei geäußert, was von Politiker_innen und Medien in Deutschland kritisch aufgenommen wurde. Vgl. Ellinger und Kayi (2008).
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inzwischen gefunden. Besonders mit den globalisierten wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen und den nun einsetzenden medienwissenschaftlichen Bündnissen auch auf europäischer Ebene (NECS)10 schreibt sich diese Entwicklung weiter fort. Dabei wird das türkische Kino ob der schwierigen geopolitischen Situation im filmwissenschaftlichen beziehungsweise -historischen Perspektiven ziemlich eindeutig verortet: weniger als europäisches, denn als Teil eines restlichen World Cinema. Ein wissenschaftspublizistisches Beispiel macht das deutlich.
4.1.3.
Türkei im World Cinema: Eurozentrismus und Orientalismus
Das Beispiel, an dem ich typische Darstellungsweisen der Türkei im World Cinema aufzeigen möchte, stammt von Gönül Dönmez-Colin. Sie arbeitet seit Jahren mit einer umfassenden Publikationstätigkeit daran, den türkischen Film für wissenschaftliche und anderweitige Auseinandersetzungen im englischsprachigen Raum und damit international verfügbar zu machen. Der Stellenwert ihres sehr gut recherchierten »Routledge Dictionary of Turkish Cinema«11 ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Dahingegen ist ihr eher orientalistisch geprägter Blick auf die Türkei in ihrer monographischen Arbeit »Identity, Distance and Belonging« mindestens diskussionswürdig.12 Einen Hinweis auf die orientalistische Perspektive liefert das Cover des Dictionary (Abb. 9.1). Es ist ein Ausschnitt eines Bildes, das Nuri Bilge Ceylans in Cannes mit dem großen Preis ausgezeichnete Drama Once Upon a Time in Anatolia (2011) bewirbt und einige DVD Covers des Films ziert (Abb. 9.2).13 Darauf ist eine Frau mit der aus dem Dorf stam10 Das Network for Cinema and Media Studies (NECS) wird 2006 gegründet und lässt sich als Netzwerkgruppe für in Europa forschende Wissenschaftler_innen verstehen. Es bildet damit das europäische Pendant zur Society for Media and Cinema Studies (SCMS), deren Gründung schon auf die späten 1950er Jahre zurückgeht. Dort haben Wissenschaftler_innen aus der Türkei wie Nezih Erdoğan relativ früh durch Konferenzteilnahmen und besonders Publikationen auch in anerkannten Filmzeitschriften wie der »Screen« zur Bekanntmachung des türkischen Films im internationalen wissenschaftlichen Kontext beigetragen. 11 Dönmez-Colin (2014). 12 Dönmez-Colin (2008). 13 Die Intentionalität, die dem Cover zugeschrieben werden kann soll nicht auf die Person von DönmezColin rückgeführt werden. Vielmehr dient es als eine Art Diskurs-Piktogramm, an dem sich eine westlich-orientalistische Perspektive herausstellen lässt. Dass diese Lesart die Ambiguitäten des Bildes tilgt, ist beabsichtigt. Es geht mir darum, die konnotativen Dimensionen des Bildes herauszustellen und sie an eine bestimmte Darstellungsabsicht rückzukoppeln, die die muslimisch-östliche Frau als Unterdrückte zurücklässt (Repräsentationskritik). Eigenartig ist dahingehend, dass eine ähnliche Rückenfigur meinen 2017 herausgegebenen Sammelband zum deutsch-türkischen Kino ziert. Es handelt sich dabei um ein Standbild aus İlker Çataks preisgekröntem Kurzfilm Sadakat (2015), in dem der Hinterkopf einer Frau zu sehen ist, die auf einer Fähre den Bosporus überquert, während Betrachter_innen, den blau-lila-rosa gefärbten, melancholisch anmutenden Horizont Istanbuls vor ihr sehen. Auch hier gibt eine scheinbar zwischen den beiden Kontinenten hin- und hertreibende traurige Frauenexistenz eine orientalistische Repräsentationsstrategie wieder. Der Film handelt davon, dass sich eine türkische verheiratete Frau entscheiden muss, ob sie einen Gezi-Protestler denunziert oder mit der Unterkunftgewährung sich strafbar macht und ihre familiäre Existenz gefährdet. Der Film handelt aber davon, dass sich eine türkische verheiratete Frau entscheiden muss, ob sie einen Gezi-Protestler denunziert oder mit der ihm eine Unterkunft gewährt und sich damit strafbar macht und ihre familiäre Existenz gefährdet. Damit handelt es sich entgegen des ersten Eindrucks um die
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menden basma14 und einem Kopftuch in Rückenansicht zu sehen, die von einer Anhöhe aus in einer spröden, anatolischen Landschaft auf vor ihr befindliche Steinhäuser und trockene Hügel blickt. Zeitgleich bedecken dunkle Wolken den Himmel. Die Haltung der Frau ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Hände vor sich hält. Ihre Hände können wir nicht sehen, sie scheinen vor ihr, aber mindestens zur Berührung gerichtet zu sein. Ihr rechter Fuß ist leicht zur Seite gestellt, ihr Gewicht ruht auf dem linken Bein. Ihre Haltung drückt so Unentschlossenheit aus, die sich als gegen den vor ihr befindlichen Wohnort gerichtet deuten lässt. Die Landschaftsdramaturgie lässt somit auf das Gefühlsleben der Frau anhand ihrer mimischen Entzogenheit schließen. Die dunklen Wolken lassen eine Hoffnungslosigkeit antizipieren, die sich mit der Dürre der Landschaft und der wohnlichen Einfachheit (Steinhäuser) gekoppelt als ›traurige Rückständigkeit‹ lesen lässt. Obgleich im Originalbild (Abb. 9.2) generell dunklere Wolken enthalten sind, unterschlägt der eng an der Frau orientierte Ausschnitt des Buchcovers den am Horizont sichtbaren helltürkisen See, über dem der Himmel aufklart. Zudem ist mit der schmalen Ansicht auf das Dorf dieses als relativ kleiner und geschlossen erscheinender Ort angelegt: Der Raumeindruck verbleibt einengend15 In der Gesamtheit steht das Cover so für einen orientalistischen Blick. Die Frau wird durch die Landschaftsdramaturgie als unglücklich antizipierte Existenz positioniert. Damit bestätigt der gewählte Bildausschnitt des Buchcovers europäische Phantasmen, in denen eine orientalische Weiblichkeit als traurige Existenz erscheint. Dies entspricht dem Bild, das der international gehypte Regisseur des Films, Ceylan, schon für das Coverbild seines düsteren Männerdramas produziert hat. Diese Perspektive geht mit der Identitätsfokussierung von Dönmez-Colins Buch einher, das dem reduktiven Narrativ von der vermeintlich inneren Zerrissenheit der Türkei zwischen Moderne und Tradition folgend, das Dörfliche mit Rückständigkeit und Trauer konnotiert. Wenn Dönmez-Colin festhält, dass der türkische Film in den 1990ern »is in search of new economic, aesthetic and thematic models in interpreting Turkish national and personal identity in the modern world«16 , so zeigt diese Einordnung eine identitätsfixierte Sicht auf die nationale Kinematographie der Türkei auf, die das Klischee vom Identitätsmangel einer noch vormodernen Gesellschaft im Wandel reproduziert. Für eine diskursive, prononciertere Verortung lohnt ein Blick auf eine weitere Publikation der Autorin: Bei ihrer Rahmung des türkischen Kinos in »Cinemas of the Other« Darstellung einer handlungsmächtigen Akteurin, die sich politischer wie gesellschaftlicher Verantwortung bewusst ist und damit in eine traditionell männlich konnotierte Sphäre eindringt. Gerade diese Drehung hat (neben ästhetischen Überlegungen) zur Entscheidung geführt. Gleichzeitig ist daran zu erinnern, dass der inhaltlich Brechung zum Trotz auch unbewusste Faktoren in die Wahl wie Rezeption von Bildern hineinspielen. 14 Typische Bekleidung von Frauen im Dorf. Bestehen zumeist als weite Stoffhosen aus Baumwolle. Der Begriff wird auch häufig als allgemeine Bezeichnung für Baumwollbekleidungen gebraucht. 15 Einige DVD Cover bleiben der Raumöffnung und den hellen Anteilen am See relativ treu, wodurch der enge und raumkappende Ausschnitt für das Buchcover umso schwerwiegender dem Effekt Beengung hinzuspielt. Siehe zum Beispiel das Blu-Ray Cover für die UK Veröffentlichung: Im gewöhnlichen DVD-Cover ist der Wolkenanteil sogar noch größer, die Frau noch kleiner und das Unheil, das sich in den Wolken zu verbergen scheint, wirkt noch bedrohlicher. 16 Dönmez-Colin (2008, S. 180).
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Abbildung 9.1 – Buchcover zu Dönmez-Colin, »Routledge Dictionary of Turkish Cinema« (2014); Abbildung 9.2 – Fotografie zum Film Once Upon A Time in Anatolia (2011) aus der offiziellen Homepage von Nuri Bilge Ceylan
Quelle: https://www.nuribilgeceylan.com/movies/anatolia/photos/poster-yatayhome.jpg
geht Dönmez-Colin selbst von einem westlich-orientalistischen Blick aus, der das Kino der Türkei als das Andere zum Westen einordnet. Genauer ist das türkische Kino hier im Kontext von Kinematographien aus Iran, Kazachstan sowie Türkmenistan und damit jenseits von Europa als World Cinema verortet. Für ihr Buch befragt sie namhafte Regisseur_innen, die in der Filmproduktion dieser genannten Länder arbeiten, wobei sie zugleich irritierenderweise mit Atıf Yılmaz, Erden Kıral, Ali Özgentürk, Tayfun Pirselimoğlu und Yeşim Ustaoğlu eher pro-westliche, europäisch orientierte Filmemacher_innen interviewt. Erden Kıral ist beispielsweise aufgrund der zensuriellen Widrigkeiten nach Deutschland emigriert, Ustaoğlu und Özgentürk werden dank ihrer gesellschafts- und unterschwellig regimekritischen Filmen auf europäischen Filmfestivals favorisiert und Atıf Yılmaz ist einer der wenigen Yeşilçam- und damit klassischen türkischen Filmregisseure, der noch in den 1980ern mit seinen feministischen Frauenfilmen gesellschaftsprogressive, also eher westlichen Emanzipationsvorstellungen folgende Werke drehte. Eine solche Verortung des türkischen Kinos wie diejenige in Dönmez-Colins Publikation, in der es als das andere und nicht-europäische Kino verhandelt wird, ignoriert also größtenteils die Schwierigkeiten der geopolitischen Verortung der Türkei insofern, wie die filmhistorischen, -kulturellen und -wissenschaftlichen Klassifikationsmuster selbst entweder eurozentrische oder der Kategorie des Nationalen folgende Einteilungen von Filmkulturen bilden. In solchen Einteilungen wird die Lokalisierung des türkischen Films als Teil des World Cinema als nationale, contra-westliche Kinematographie relativ problemlos jenseits der geopolitischen Unwägbarkeiten möglich. Dönmez-Colin ist damit nicht allein: Amin Farzanefar verortet die Türkei in seiner Herausgeberschaft in einem »Kino des Orients«17 . Zu bedenken ist aber, dass er durch die Inklusion eines Interviews mit Fatih Akın und einem Statement der türkischen Regisseurin Handan 17 Farzanefar (2005).
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İpekçi zur schwierigen Situation des türkischen Kinos transnationale und reflektierende Aspekte in die Gesamtkonzeption seines Bandes einbringt. Dass eine solche Verortung immer auch die jeweiligen Bedingungen dieser Verortung reflektieren muss, die zeitlich, filmproduktionstechnisch, historisch sehr komplex ausfallen, zeigt sich beispielsweise schon daran, dass das türkische Kino in den 1990er Jahren in transnationaler Produktionshinsicht und auf inhaltlicher Ebene eine »zunehmende Einordnung der Türkei in den Ost- bzw. Südosteuropazusammenhang« notwendig machte. Ellinger führt dazu weiter aus, dass »[dies] [a]uf formaler Ebene […] – meist im Rahmen von ›Euroimages‹ – anhand von Koproduktionen mit Produktionspartnern aus Bulgarien, Griechenland, Makedonien, Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn [geschah]; […]. Dabei richtete sich inhaltlich das Augenmerk auf südosteuropabezogene Ereignisse der türkischen und osmanischen Geschichte.«18 Verortungen müssen so gesehen den historischen und institutionellen Bedingungen von Filmkulturen Rechnung tragen.
4.1.4.
World Cinema: Geschichte und Kritik
Um die Funktionsweise der Etikettierung als World Cinema zu verstehen, lohnt es, dessen Entwicklung sowie Bezeichnungspraxen zu erörtern: Der Terminus World als ergänzende Bezeichnung für jenseits aus Europa oder den USA stammender Filme, Musik und Kunst entstand, so Michael Chanan, als »marketing label, devised by a bunch of music producers and their friends in a pub in North London in 1987: a catch-all to be used on shelf dividers in the record stores, devised to try and exploit the proliferation of ethnic and ›other‹ musics at the edges of the market«19 . In der von Chanan beschriebenen Geschichte des Begriffs ist die Kritik des Attributs world schon begründet. Das, was der Begriff bezeichnen soll, meint eigentlich die nicht-westliche Restwelt und steht damit im Widerspruch zur eigentlichen Bedeutung des Begriffs world, der »Erde, Universum, gesamte Realität«20 und damit die Gesamtheit der Welt meint. Dass das Beiwort world im Ethnomarketing als Bezeichnung für ›nicht-westliche‹ Welt fungiert, offenbart den in diesem Bezeichnungsmechanismus liegenden Eurozentrismus, der das Westliche damit jenseits des Referenzsystems world positioniert: Was als nicht zur Welt gehörend gedacht werden muss, liegt jenseits der Ordnung als Selbstverständlichkeit vor. US-Musik oder europäischer Film werden nämlich paradoxerweise in dem Begriff world nicht mitgemeint. Als Begriff zur Einteilung von Verkaufssparten für Videofilme und dann für DVDs wurde das Attribut world weniger in Deutschland dafür aber insbesondere in den USA und England benutzt, um Mainstreamfilme aus Hollywood und europäische Filme von Filmen aus beispielsweise afrikanischen, südamerikanischen oder asiatischen Ländern zu verorten. 18 Ellinger (2017, S. 305). 19 Chanan (2001, S. 1). Zur kritischen Reflexion des Konzepts der Weltmusik, das auch in Deutschland in unterschiedlichen Bereichen wirkmächtig wurde siehe Peres da Silva (2017). 20 Die etymologische Herkunft des Begriffs verweist mit Blick auf die vergeschlechtlichte Vereinseitigung das männlichkeitsdominierende, epistemologische Muster des Weltbilds auf, da es »sich um eine Zusammensetzung [handelt], deren erstes Glied aus ahd. (8. Jh.), mhd. wer ›Mann‹, asächs. aengl.wer ›Mann, Mensch‹, anord. verr ›Mann, Ehemann‹, got. waír ›Mann‹ (germ. *wera- m. ›Mensch, Mann‹, aus *wira-)besteht«, siehe Pfeifer (o.A.).
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Martin Roberts erkennt eine Differenz in der Übertragung des Attributs ›World‹ aus dem World Music-Ansatz auf den Film an. Für den Film habe sich mit der Bezeichnung World Cinema eine Begriffspraxis durchgesetzt, die mit dem Attribut world tatsächliche die gesamte »Welt« des Kinos meine. Dieser Argumentation von Roberts folgt auch das von Geoffrey Nowell-Smith herausgegebene Nachschlagewerk »The Oxford History of World Cinema«21 , in dem sowohl der europäische, als auch der amerikanische sowie der Film anderer Länder wie die Türkei unter der Rubrik »Cinemas of the World« gefasst ist. Der Titel des Buchs selbst bezieht sich auf das World Cinema-Konzept in eben jenem Sinne, den auch Martin Roberts untersucht hat. 1998 wurde es unter dem Titel »Geschichte des internationalen Films«22 für eine deutschsprachige Leserschaft von Hans-Michael Bock zur Übersetzung verantwortet und herausgegeben. Was an diesem Buch bemerkenswert ist, zeigt sich nun am Beispiel der deutschen Übersetzung jenes Unterkapitels im populären Nachschlagewerk. Daran wird die Notwendigkeit einer differenzierten Begriffspolitik deutlich, in der zu fragen ist, wie eine perspektivische Haltung zur globalen Filmkultur einzunehmen ist: Erstens zeigt sich, dass das world in der deutschen Übersetzung des Titels keinen Platz gefunden hat. Diese Entscheidung spiegelt die marginale Bedeutung der Attribuierung von world zur Kultur des Films im deutschsprachigen Raum wieder, wobei mit der Rede vom »internationalen Film«, die weltumspannende Dimension des Buchs bezeichnet sein soll. Wichtiger anzumerken ist, dass man am Ende des Buchs den Abschnitt »Cinemas of the World« mit »Filmregionen der Welt« übersetzt hat. Was in der englischen Übersetzung nach einer weltumfassenden, globalen Sicht auf die nationalen Kinematographien durch das Wort world klingt, wird im Deutschen in die Formulierung »Filmregionen der Welt« transformiert; aus dem »Cinemas« im Englischen wird im Deutschen ›Filmregionen‹ und somit aus einer Institution cinema eine Größe des Geographischen (›Regionen‹), die die räumliche Dimension anspricht. Die deutsche Übersetzung trägt damit, mehr oder weniger bewusst – denn cinema als Institution ist nur schwerlich mit dem deutschen ›Kino‹ zu übersetzen, das in seinem Bedeutungskontext reduzierter bleibt – einigen Vorschlägen aus der filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung zum World Cinema Rechnung. Dort werden seit den 1990er Jahren Vorschläge gemacht, die Bedeutungen des Begriffs world in eine geographische Vorstellung zu transformieren, die den Eurozentrismus hinter sich lässt. Wenn der World Cinema-Ansatz sich erst in den 1980ern und ausgehend von einem Handels- und Marketingbegriff etablierte, wie war es dann in den früheren Jahren des Kinos um die Einordnung nicht-europäischer und nicht-amerikanischer Filme bestellt? Ohne bei dieser historischen Frage allzu weit zurückzugehen, werde ich kurz auf den dekolonialen Ansatz des Third Cinemas zu sprechen kommen. Dabei werde ich aufzeigen, dass beiden Konzepten, die einander ablösten, die hier beschriebenen eurozentrisierenden Probleme eingeschrieben sind und die somit zur Reproduktion ihres eigentlich kritisierten Umstands führten. 21 Nowell-Smith (2004). 22 Nowell-Smith und Bock (1998).
4 World, Transnational und Polycentric Cinema
4.1.5.
Differenz zum Third Cinema
In der Filmwissenschaft setzte sich der Begriff World Cinema trotz gewisser Unwägbarkeiten (Eurozentrismus, s.o.) gegen die von Fernando Solanas und Octavio Getino eingebrachte Filmkategorie des Third Cinema durch. Die beiden argentinischen Filmemacher legten 1969 in ihrem Manifest »Hacia un Tercer Cine«23 eine anti-kapitalistisch motivierte Revolte gegen das als hegemonial betrachtete europäische und US-Kino vor, die das Projekt eines »antikolonialen Kampf[es]«24 unterstützen sollte. Gesellschaftlicher Umbruch war das erklärte Ziel des Manifests und sein größter Feind war nicht vornehmlich das als differenziert wahrgenommene europäische Kino, wie der italienische Neorealismus, sondern die »Ausbreitung des Yankee-Imperialismus und seiner Vorstellung von Film als Beherrscher von Industrie und Markt«25 . Dieser Vorschlag des Third Cinema implizierte und reproduzierte allerdings die eurozentrische Einteilung der (Film-)Welt. Unterschieden wurde ein erstes (US-Kino), zweites (europäisches Kino) von einem dritten Kino, nämlich ihre Skizze eines die ersten beiden Modelle zersetzenden Kinos der ›Dritten Welt‹. Dieses Kino der ›Dritten Welt‹ sollte sich von den ersten beiden Kinos emanzipieren. Das Manifest reproduzierte damit Vorstellungen von einem wirkmächtigen Zentrum (dem Westen) und seiner Peripherie (alles NichtWestliche). Dieses auf Dichotomien angelegte Konzept sollte dem neuen Konzept World Cinema nur umso mehr zu neuer Fokussierung verhelfen »to overcome the established model of centre and periphery in order to describe a multipolar and multicultural world of local and national cinemas, and to map their transnational articulations«26 . Dennoch gebrauchen Filmwissenschaftler_innen World Cinema immer noch oft in dem aus dem Ethnomarketing oder dem aus der Third Cinema-Perspektive resultierenden Sinne als Alteritätsbegriff für das US- oder das europäische Kino, wodurch die Entpolitisierung und damit die Proliferation von Machtfragen, Fragen zum Kulturimperialismus, zur kulturellen Ausbeutung und transkultureller Austauschprozesse (Hybridisierungen) aus dem Konnotationsfeld von Untersuchungen getilgt zu werden scheinen.27 Die Folge bleibt, dass weiterhin mit der Binarität zwischen World Cinema und dem vorherrschenden und auch die Filmgeschichte dominierenden westlichen Kino gearbeitet wird. Es ist also der in das Konzept des World Cinemas eingelagerte Mechanismus der Reproduktion des peripheren Status aller anderen Kinematographien und die soeben beschriebene Ausblendung zahlreicher postkolonialtheoretisch wirksamer Aspekte, der ihn als filmwissenschaftlichen Terminus eurozentrisch und im Hinblick auf Forschungsfragen einer globalen Filmkultur nur bedingt brauchbar macht. 23 24 25 26 27
Solanas und Getino (1976). Foerster et al. (2012, S. 12). Solanas und Getino (1976, S. 9). Chanan (2001, S. 1). Siehe zum Beispiel die Publikation Costanzo (2014), wobei Costanzo in seinem Buch eine eurozentrisch motivierte Lektüre nationaler Kinematographien aus einer Perspektive je unterschiedlicher Genres anbietet, da darin einem Set aus nationalen Filmen europäische oder Hollywoodfilme gegenübergestellt werden. Es ist dezidiert als Lehrbuch konzipiert, das helfen soll, nationale Kinematographien kennenzulernen und sich darin einzuarbeiten, operiert jedoch auf der hier kritisierte Dichotomie von Welt- und Hollywoodkino.
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Aus einer World Cinema-Perspektive kann also das türkische Kino so wie andere nationale Kinematographien schnell als ein nationales Kino unter vielen verortet werden. Diese Verortung simplifiziert jedoch die spezifischen, hybriden Charakteristika der Türkei (siehe Unterkapitel zur geopolitischen Bestimmung) und verbleibt aufgrund der Gefahr der Eurozentrisierung damit generell bedenklich. Doch die Inkompatibilitäten mit dem World Cinema-Ansatz sind nur eine Seite des Problems, Filme aus türkischen Produktionszusammenhängen im Kontext eines multigenerationellen deutsch-türkischen Migrationsgeschehens filmwissenschaftlich zu denken. Die andere Seite liegt im Konzept des Transnational Cinema-Ansatzes begründet. Bevor ich dazu übergehe, diese Problematik ausführlicher zu untersuchen, möchte ich auf Lúcia Nagibs Vorschlag einer »flexiblen Geographie« eingehen. Genauer möchte ich erörtern, inwieweit das Konzept hilft, eine andere Perspektive gegenüber Filmkulturen einzunehmen und so spezifische Forschungsfragen in einem globalen filmkulturellen Umfeld zu ermöglichen, die die Auseinandersetzung mit Migrationskinematographien präziser im Hinblick auf die Globalität von Filmkulturen zu gestalten hilft.28 Wie ich zeigen werde, kann das Konzept der »flexiblen Geographie« ermöglichen, auch Kinematographien der Migration angemessener zu berücksichtigen ohne gleichzeitig die Kategorien des Nationalen über Bord zu werfen oder dynamischen transnationalen Prozessen eine statische Perspektive gegenüberstellen zu müssen. Zuzugestehen ist, dass in dem Konzept selbst wiederum postkolonial- und machttheoretische Aspekte aus dem Untersuchungsfokus zu rücken drohen. Deswegen wird mit einer kurzen Reflexion von Donna Haraways Konzept des »situierten Wissens« eine komplexere Perspektivierung von Forschungshabitualisierungen vorgenommen. 28 Vgl. Ritzer (2017). Ritzer plädiert für ein Anknüpfen an Dipesh Chakrabartys Vorschlag der Provinzia lisierung Europas. Dieser Vorschlag kommt den im nächsten Unterkapitel vorgestellten Vorschlägen »flexiblen Geographie« und dem Polyzentrismus sehr nahe, wobei Chakrabarty noch das Mächtezur ungleichgewicht reflektiert und dadurch Antagonismen herausfordert, die in den hier bezeichneten Vorschlägen eher zurückhaltend bedacht sind, vgl. Chakrabarty (2008).
4 World, Transnational und Polycentric Cinema
4.2.
»Flexible Geographien«: Von der ›Welt‹ zu den ›Regionen‹ Since the end of World War One, the U.S. film industry has been the dominant cinema in the world and this has also meant that it has enjoyed a pre-eminent position within film studies. (John Hill, World Cinema29 ) Indisputable though it may sound, the argument [Hills Argument oben, Ö.A.] contains a few questionable generalisations. It does not specify, for example, whether ›dominant cinema‹ refers to boxoffice revenues or number of viewers. It also fails to spell out the exact time and place of this dominance. To counter it, one could point out the fact that in the late 1930s and again in the mid-1950s, Japan was the most prolific film producer in the world, reaching the mark of 500 feature films a year. (Lúcia Nagib, Towards a positive definition of World Cinema30 )
Lúcia Nagib argumentiert, dass der Binarismus zwischen dominantem US- und europäischem Kino und den anderen Kinos der Welt nicht haltbar sei. Erstens sei das Hollywoodkino beziehungsweise das europäisches Kino an sich ein heterogenes Feld, insbesondere im Hinblick auf ästhetische Kriterien.31 Zweitens werde das US-Kino nicht als eigenständiges nationales Kino betrachtet, das über je spezifische Besonderheiten im Hinblick auf Themen und seine Geschichte verfügt, sondern es werde unangemessen als Referenzpunkt für die Diskussionen zum fiktionalen Film universalisiert. Nagib sieht die Zentralisierung des US-Kinos in der Kennerschaft der Filmwissenschaftler_innen und weniger in dessen Bedeutung als ästhetischer, quantitativer und inhaltlicher Referenzrahmen für Filme aus der Welt begründet.32 Hollywoods Status als Zentrum der Filmindustrie könne allenfalls in der »optic of economic success […] reasonably incontestable« bleiben, was aber auch wieder durch das Verhältnis von »per cent return on their investment« bei internationalen Filmen relativiert werde. Konkret bedeute das, dass aufgrund geringer Produktionskosten Einspielergebnisse marginaler Filme aus anderen Produktionszusammenhängen um ein Vielfaches höher liegen könnten als bei 29 30 31 32
Hill (2000, xiv). Nagib (2006, S. 30f.). Nagib (2006, S. 31). Vgl. Nagib (2006, S. 32f.).
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sehr erfolgreichen Hollywoodproduktionen und dass die Zentralisierung des US-Kinos im Diskurs aufgrund des wirtschaftlichen Aspekts zu relativieren sei.33 Ein anderes Beispiel für die Unhaltbarkeit des euro-amerikanischen Zentralismus sieht Nagib in der Produktivität der jeweiligen nationalen Kinematographien. Auf der Grundlage der Anzahl hergestellter Filme wird, so ihre Überlegung, endgültig die Verzerrung offensichtlich, die sich in der Privilegierung Hollywoods in den Filmwissenschaften, wie sie beispielsweise Hill vornimmt, reproduziere.34 Nagib entgegnet in ihrem Aufsatz, dass in den 1950er Jahren Japan dasjenige Land war, das die meisten Filme hergestellt habe. Die Türkei, deren Filme der 1970er Jahre hier im Untersuchungsfokus stehen, hatte zwischen den 1960ern und 70ern gar eine derart umfassende Produktionskultur, dass sie zeitweise unter den ersten vier Ländern war, in denen die meisten Filme hergestellt wurden. Dabei geht es mit diesen Argumenten nicht darum, die Produktivitätskategorie für eine Untersuchungslegitimierung stark zu machen, sondern die Legitimationsargumente für eine Zentralisierung des Hollywood- und europäischen Kinos zu entkräften. Auch auf anderer Ebene stellt sich die Problematik eines World Cinema-Ansatzes dar. Nagib macht deutlich, dass filmische Produktionen schon auf historischer Ebene komplex miteinander verwoben sind: Films all over the world are thus not confined into tight compartments of their own nationalities, but interconnected with each other according to their relevance at a given historical moment, regardless of whether they originate in the first, second or third worlds.35 Sie macht den Begriff World weniger zur Bezeichnung peripherer nationaler Filmkulturen stark, sondern stärkt ihn als begriffliche Widerstandsstrategie gegen den Binarismus von Hollywood und Weltkino, indem sie sagt, dass Filme und Filmgeschichte im Kontext einer je eigenen »flexiblen Geographie« zu betrachten seien. Eine solche Perspektive, die das Feld kultureller Praxis auf der Welt als ein dezentralisiert und asynchron operierendes versteht, haben schon Robert Stam und Ella Shohat mit ihrem Konzept des »polycentric multiculturalism«36 vorgeschlagen. Mit ihrem umfassenden Projekt, das sie in einem späteren Aufsatz zur »polycentric aesthetics« als »a way of reenvisioning the global politics of visual culture«37 beschreiben, nehmen sie eine Kritik am Eurozentrismus vor. Sie sprechen sich für eine komplexe Zeitlichkeit der Betrachtungsweise nicht-europäischer Kulturen aus und gegen andere hegemoniale Beschreibungsmuster. Damit argumentieren sie für eine Ko-Existenz unterschiedlicher Historien, die immer von einer je spezifischen Positionierung abhänge. Diese Positionierung sei aber weder von einer Suche nach dem fixen Anfangspunkt einer Geschichte eines Gemäldes oder der historischen Verortung der Arbeit eines Künstlers abhängig, sondern vielmehr von der angemessenen Berücksichtigung der je spezifischen transkon33 34 35 36 37
Cooke (2007, S. 7f.). Vgl. Hill (2000, xiv). Nagib (2006, S. 35). Shohat und Stam (1994, S. 46-54). Stam und Shohat (2002, S. 57).
4 World, Transnational und Polycentric Cinema
tinentalen, transnationalen, sprich polyzentrischen Zeit-Ort-Richtungen38 , aus denen das, was als europäische Kunst oder die Arbeit der Künstler_innen verhandelt wird, resultiere. Weltgeschichte sei damit immer relational und komplex, aber sie dürfe deswegen niemals »Euro-diffusionist«39 werden, das heißt, sie darf nicht von einer einseitigen Beeinflussung europäischer Kunst oder Ästhetik(en) ausgehen, sondern von einer »multidirectional flow of ideas« auch anderer Teile der Welt, die zu unterschiedlichen Zeiten die »conventional secquencing of realism/modernism/postmodernism« überschreiten.40 Für das Kino gesprochen darf eine solche »polyzentrische Sichtweise«, die sich von linearen Zeitlichkeiten löst, die Eigenheiten von Filmen nicht im Sinne eines liberalen Pluralismus betrachten, sondern auch die je eigenen Perspektiven und historisch und kulturell komplexen Verortungen der Filmemacher_innen und Filmzuschauer_innen ernst nehmen. Einen solchen Ansatz macht Nagib an der historisch globalen Kontextualisierung der Nouvelle Vague deutlich und gibt damit ein produktives Beispiel für eine polyzentrische World Cinema-Perspektive: As regards the French New Wave, for example, one could see a previous crest of a wave a little earlier in the mid-1950s with the films made by the so-called Tribe of the Sun in Japan, which had a decisive influence on François Truffaut. One could also look at the New German Cinema of the 1960s and 1970s in relation to how it re-elaborated elements of the Brazilian cinema novo.41 Oder man könnte eine Geschichte des türkischen Sozialrealismus vergleichend zur Entwicklung des italienischen Neorealismus vornehmen und die Verwebungen von Ideen marxistischer Ästhetik (Lukacz) heranziehen, wie in einer Arbeit, die Aslı Daldal vorgelegt hat42 (▶ Kap. 8.2.1), die mit ihrer Hegemonialisierung des italienischen Kinos als vorausgehende Suprareferenz jedoch die von Stam und Shohat befürchtete Europa-Zentralität reproduzieren kann.43 Um die Euro-Zentralität zu umgehen, muss also zugleich nicht nur der Kontext der Forschungsgestaltung und die Reflexion des Forschungskontexts betrachtet werden. Es spielt auch das Wie des Forschens in die Fragestellungen zur Vermeidung einer Eurozentrisierung hinein. Ein anderes produktives Beispiel für eine polyzentrische Herangehensweise wäre der Fall Ulusal Sinema Kavgası (»Der Streit ums nationale Kino«)44 des türkischen Regisseurs Halit Refiğ in den 1960er und 70er Jahren. Es geht um den binnennationalen Streit zwischen aktiven Regisseur_innen die in ihren Filmen den Kontakt zur Bevölkerung aufrechtzuerhalten versuchen und keine Kopie des westlichen Kinos reproduzie38 Der Begriff Polyzentrismus stammt ursprünglich aus der interkulturellen Kommunikation und wurde als Gegenbegriff zum essentialisierenden Multikulturalismus-Modell geprägt. 39 Stam und Shohat (2002, S. 31). 40 Stam und Shohat (2002, S. 40f.). 41 Nagib (2006, S. 35). 42 Daldal (2005). Auf Englisch in veränderter inhaltlicher Gewichtung erschienen als Daldal (2003). 43 So wäre interessant zu untersuchen, wie beispielsweise der in Italien sehr gut rezipierte Film Haremde Dört Kadın (»Vier Frauen im Harem«) (1964) von Halit Refiğ mit welchen transkulturellen Austauschprozessen einherging und wie er in welche transkulturellen und transnationalen filmkulturhistorische Verwicklungen verstrickt ist. 44 Refiğ (2013).
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ren möchten, sich aber von türkischen Filmkritiker_innen bedrängt sehen, die darauf pochen, Filme mit hohem künstlerischen Anspruch im Sinne der Nouvelle Vague und damit in pro-westlicher Hinsicht zu drehen (▶ Kap. 8.2.1). Die in einem Buch versammelten Beiträge Halit Refiğs zur Debatte nehmen argumentative Kniffe vor, die sehr nah an die Diskussion zum Third Cinema anknüpfen, aber in wesentlichen Zügen zugleich für eine nationale Kinoform einstehen. Betrachtet man diesen zwischen unterschiedlichen Akteur_innen stattfindenden nationalen Streit um die Gestaltung der Filmkultur in der Türkei aus den hergestellten Filmen heraus, die in dem Land zu dieser Zeit entstehen, so ergibt sich ein filmkulturhistorisch überaus spannendes Feld, das filmästhetische, filmhistorische, kulturtheoretische Dimension streift und im Kontext einer globalen Filmbildkultur zur Reflexion und zum Aufsuchen vergleichbarer Tendenzen in anderen Regionen einlädt. Besonders interessant wäre es, die Kritik an kulturimperialisierenden Tendenzen zwischen der türkischen Filmbewegung um Halit Refiğ herum mit derjenigen von Solanas und Getino in Argentinien zu vergleichen.45 Da ein solcher transkultureller Ansatz zwischen türkischer und argentinischer Filmdiskussionskultur zugleich multisprachliche Kompetenzen erforderte (je nach englischsprachiger Textlage), wird hieran die Notwendigkeit nach transnationalen Zusammenarbeiten offensichtlich, die erst solche polyzentrischen Forschungsprojekte realisierbar machten. Eine polyzentrische Perspektive, die nicht gemäß linearzeitlichen Logik von Vor und Nach, der ausschließlichen Privilegierung des US- oder europäischen Kinos vorginge, würde also eine umfassendere global verfahrende Filmkenntnis und transkulturelle Kompetenzen voraussetzen, aber zugleich vielfältige Verwicklungen herausarbeiten können, die eine jede Filmkultur auszeichnen. Nagib zu Folge erfordert eine solche Perspektive selbst wieder »[c]ontextual knowledge about films«46 oder anders ausgedrückt: aufgrund der globalen Dimension erfordert sie globales Wissen. Nagib macht damit die Vorstellung von world »towards a positive definition«47 stark, mit der die dezentrierte und im stetigen Werden begriffene Globalität mitzudenken sei: World cinema is simply the cinema of the world. It has no centre. It is not the other, but it is us. It has no beginning and no end, but is a global process. World cinema, as the world itself, is circulation.48 Ersetzt man in dem Zitat den Begriff circulation mit processing, so wird eine Perspektive auf die ontologische Verfasstheit der Welt ersichtlich, die besonders auch für eine Bestimmung von Migration von besonderer Relevanz sein. Im Zuge der Science and Technology Studies oder auch posthumanistisch informierter, zumeist feministischer Kulturwissenschaften wird eine Dynamisierung globalperspektivischer Ansichten eingefordert. Doch statt sie lediglich auf national-global-strukturelle, polyfokale Ansichten festzulegen wird für die Einnahme einer solchen Perspektive ein »situiertes Wissen«49 eingefordert, das den Anthropozentrismus hinter sich lässt. Damit ist gemeint, dass 45 Erst 2017 wurden zwei englischsprachige Übersetzungen einzelner Textpassagen aus dem »Nationalen Filmstreit« vorgelegt in Cengiz und Behlil (2016) und Akser und Durak-Akser (2017). 46 Nagib (2006, S. 36). 47 Nagib (2006). 48 Nagib (2006, S. 35). 49 Haraway (2017).
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für wissenschaftsethische Haltungen, auch für den Film gesprochen, die Relationalität mit der Welt neu gedacht werden muss. Denn der Forschungsstandpunkt, der von sich behauptet objektiv zu sein, folgt einer solchen »Beharrlichkeit der Vision«, dass er der eines göttlichen (bei Haraway männlichen, weißen) Blicks ist, der »sich auf mythische Weise in alle markierten Körper ein[schreibt] und […] der unmarkierten Kategorie die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden, [verleiht], sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen.«50 Ihre Lösung dafür ist es, die Kategorien der Visualität in das eigene wissenschaftliche Tun wieder einzuschreiben, einer Visualität, die sie als partial und verkörpert versteht. Hierhin verbündet sie sich mit einer Forschungsperspektive, die auch den Bildwissenschaftler W. J. T. Mitchell antreibt und auf die ich mich als Untersuchungsprämisse für diese Arbeit fokussiert habe. Karen Barad, um eine andere prominente Stimme im Zuge der Versuche einer Dezentrierung des Subjekts im Forschungskontext zu nennen, spricht für derartige Forschungszusammenhänge von einer »Ethico-onto-epistemologie«51 , die die Berücksichtigung prozessualer Verwobenheit sich allenfalls »ontologisch stabilisierender«52 Entitäten und ihre Erkenntnisfähigkeit davon als bewusste Setzung (»agentielle Schnitte«53 ) meint (▶ Kap. 7.9). Eine solche »Optik«54 zur Beschreibung des Systems Welt würde die Fragen nach einer angemessenen kulturnationalen Perspektive verschieben hin zu Auseinandersetzungen um ein Ecocinema55 , in dem Film als ökologisches Gefüge zu denken wäre – ein Gefüge in dem Technisches, Menschliches, Tierisches, Semiotisches und anderes Materielles, nicht trennscharf voneinander zu differenzieren und die Agentialität all dieser Vermischungen (partiell-größendifferente Aufstauungen) in ihrem Werden (Assemblagen) ernst zu nehmen wäre. ›Ernst zu nehmen‹ hieße für Untersuchungen eines Third Cinema beispielsweise die relationale Verbundenheit solcher Systeme als Ensembles zu verstehen. Das Denken von Film als solches ökologische Gefüge oder System muss hier jedoch zurückgestellt werden, da das Bezugssystem für die Untersuchung nationaler und von Migrationskinematographien noch relativ stabile und bewusst reichweitenbegrenzte Felder (»Grenzen« im Sinne Haraways) sind.56 Die Bezeichnungspraxis für nationale Kinematographien habe ich bis hierhin aus der Diskussion ausgespart. Es wird zu erörtern sein, inwiefern überhaupt diese Kategorie des Nationalen eine angemessene Bezeichnungs- und Konzeptbasis zur Beschäf50 51 52 53 54
Barad (2012, S. 283f.). Barad (2012). Skrandies (2016). Barad (2012, S. 78-82) Siehe dazu Skrandies (2013, S. 42f.), darin die Ausführungen zu Borsòs Inverhältnissetzung von Ethik und Optik. 55 Rust und Monani (2013). 56 Mit dem Ansetzen an einem »System« Third Cinema/Drittes Kino ist schon ein grober »agentieller Schnitt« (Barad 2012, S. 78-82) vorgenommen und solche Schnitte sind unvermeidlich, aber auch gefährlich: »Grenzen werden durch Kartierungspraktiken gezogen, ›Objekte‹ sind nicht als solche präexistent. Objekte sind Grenzobjekte. Aber Grenzen verschieben sich von selbst, Grenzen sind äußerst durchtrieben. Was Grenzen provisorisch beinhalten, bleibt generativ und fruchtbar in Bezug auf Bedeutungen und Körper. Grenzen ziehen (sichten) ist eine riskante Praktik«, Haraway (2001, S. 295).
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tigung an Migrationskinematographien darstellt. Und es gilt zu berücksichtigen, dass diese Bezeichnungspraxis überhaupt erst den Grund für die Auseinandersetzung dafür liefert, inwiefern welche Gruppe von Filmen mit welchen Merkmalen wie und in welcher Hinsicht zu verorten und welche Forschungs- und epistemische Hervorbringungspraxis demgegenüber einzunehmen ist. Meine Rede vom türkischen Migrationsfilm wie die Rede vom deutsch-türkischen Kino zieht die bestehende kommunikative Praxis demgemäß zunächst als eine noch nicht-dekonstruierte Grundlage heran, die medientheoretisch genauer zu reflektieren sein wird. Wie vorher schon angedeutet, kann der World Cinema-Ansatz für sich genommen eine Unterminierung von transnationalen und ganz besonders von transkulturellen Austauschprozessen befördern, die die Kategorie des Nationalen eher herunterzuspielen droht, zum Beispiel wenn nationale Gesetzgebungen in filmkulturelle Prozesse verstrickt sind. Doch genau dann, wenn das World Cinema keine angemessene Rahmung für die Untersuchung zunehmend komplexer werdender transkultureller Prozesse zu leisten im Stande ist, bietet sich der Transnational Cinema-Ansatz an. In seiner Semantik betont er das Nationen überschreitende Moment des Kinos – etwas, was im World Cinema unsichtbar zu werden droht. Wäre da nicht die in dem Begriff transnational implizite, verunschärfende Heuristik.
4.3.
Zwischenresümee
Als Zwischenergebnis lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass das türkische Kino in filmwissenschaftlichen Ansätzen eines World Cinema verortet wird, das seine globalfilmkulturellen Verstrickungen und damit eine filmwissenschaftliche Beschäftigung mit ihm nur im Umfeld nationaler Kinematographien ermöglicht. Diese einseitige Verortung der Türkei als World Cinema wird dann brüchig, wenn man beispielsweise die Verortung der Türkei in filmwissenschaftlichen Auseinandersetzungen aus der Türkei selbst heranzieht: Oft wird hier für eine Hinwendung zu Europa hin argumentiert, die die komplexe geopolitische Situation der Türkei zugunsten einer prowestlichen Perspektive zuspitzt.57 Trotz der geopolitisch-komplexen Lage der Türkei wird das türkische Kino meist einseitig gerahmt und verortet, sodass es kaum als europäisches oder als anderes regionales Kino thematisiert wird.58 Seine Relevanz für eine globale Filmkultur bleibt wie viele andere nationale Kinematographien marginalisiert. Mit dem Konzept einer »polyzentrischen Perspektive«, die die Welt als »flexible Geographie« betrachtet, habe ich alternative epistemologische Orientierungsmuster vorgeschlagen und daran die Vorteile, aber auch Grenzen desselben herausarbeiten können. Ich werde nun den Ansatz des Transnational Cinema erörtern. Dies aus folgenden Gründen: Eine nationale Kinematographie wie das türkische Kino wird dann im Hinblick auf Einordnungsversuche komplex, wenn es inhaltlich Themen langfristiger 57 Siehe zum Beispiel die Publikationen Bayrakdar et al. (2009) sowie Akser et al. (2014). 58 Amin Farzanefar hat mit seinem Buch »Kino des Orients« sowie seinen filmkuratorischen Arbeiten im deutschen Kontext, das Kino der Türkei in einem Rahmen verhandelt, in dem er es dem Kino des Nahen Ostens zuordnet; siehe Farzanefar (2005).
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Migration verhandelt.59 Im filmwissenschaftlichen Kontext des Transnational CinemaAnsatzes wurde diese Problematik bereits erörtert. Sie werde ich nachfolgend kurz wiedergeben, um sie dann auf den Kontext eben solcher türkischen Filme rückzubinden. Diese Rückbindung wird mir Argumente liefern, mit denen ich begründen kann, weshalb die türkischen Filme, die die transnationale Migration verhandeln, in spezifischen Forschungsfragen oder auch Konzeptionalisierungen von Filmkulturen ausgeblendet werden. Dass diese Ausblendung eine Reduktion des Migrationsphänomens darstellt, die weitreichende Konsequenzen für die visuelle Kultur einer Gesellschaft hat, habe ich in Kapitel 2.3 bereits dargelegt. Mit den folgenden Ausführungen gilt es also noch einmal filmwissenschaftlich konzeptionelle Gründe anzuführen, die diese Ausblendung befördern.
4.4. 4.4.1.
Das ›deutsch-türkische Kino‹: Transnational Cinema Transnational Cinema: Transkulturalität oder Critical Transnationalism? There is much talk these days in film studies of cinematic transnationalism. […] At the same time, the term ›transnational‹ does little advance to our thinking about important issues if it can mean anything and everything that the occasion would appear to demand. (Mette Hjort, On the plurality of cinematic transnationalism60 )
Für die deutsche Filmwissenschaft erlangte das Konzept des Transnational Cinema vornehmlich mit der zahlreichen Produktion deutsch-türkischer Filme und in der Folge mit Deniz Göktürks wegweisendem »Mitleidskultur«-Aufsatz61 Relevanz. Der Begriff transnational geht laut Andreas Jahn-Sudmann dabei relativ weit zurück, nämlich auf Randolph Bournes Essay »Trans-National America« von 1916. Der Terminus transnational habe dem amerikanischen Sozialwissenschaftler dazu gedient, sein Gegenkonzept zum »American melting pot« zu beschreiben. Nicht die Assimilation in ein neues, großes amerikanisches Etwas im Sinne des »melting pot« war für Bournes förderlich für eine gelungene Sozialisation, sondern Immigration sollte die Entstehung einer kosmopolitischen Kultur fördern.62 Zuerst in der Sozialwissenschaft ab den 1960ern und dann ab den 1990ern in der Filmwissenschaft sei der Begriff transnational dann erneut aufgetaucht, wobei »[i]n anderen Fächern […] die Kategorie des Transnationalen ebenfalls Konjunktur [habe]«63 . 59 Die Vorstellung einer »filmischen Verhandlung« wird im Weiteren noch medientheoretisch zu erörtern sein, siehe Kapitel 3.2. 60 Hjort (2010, S. 12). 61 Göktürk (2000). 62 Jahn-Sudmann (2009, S. 15). 63 Jahn-Sudmann (2009, S. 15).
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In Deutschland sollte dieser internationalen Entwicklung der Filmwissenschaften 2009 der Band »Film transnational und transkulturell«64 Rechnung tragen, in dem JahnSudmann genau jene Untersuchung des Labels transnational herausstellen kann. Mitherausgeberin Ricarda Strobel argumentiert in der Einleitung, dass »[d]er zunächst als Arbeitsbegriff übernommene Terminus ›transnational‹ […] um den Begriff transkulturell erweitert [wird], um der Breite der in den diskutierten Filmen behandelten Thematiken gerecht zu werden«65 . Diese Erweiterung ergibt Sinn, insofern der Begriff transnational meist auf eine Bi-Kulturalität reduziert wird, die die Vorstellung zweier in sich geschlossener homogener Kulturen voraussetzt, die oftmals als mit dem Nationalen zusammenfallend gedacht werden.66 Die Semantik des Präfix trans zerstört diese Reduzierung auf das bi, meint es doch die Unabgeschlossenheit und Bi-Direktionalität kultureller Austauschprozesse. Wenn dann aber in einem differenzierteren Sinne der Begriff transnational auf die Labilität nationaler Rahmungen rekurrieren und die performativen Dynamiken den nationalen Rahmen wechselseitig überschreitender kultureller Austauschprozesse betont, stellt sich die Frage, ob das national im Terminus angemessen ist, denn national meint eben noch lange nicht kulturell. Hieraus ergibt sich die Prämisse, dass eine Perspektive auf bestimmte Kinoformen als transkulturelle Phänomene dann eine geeignetere darstellt – so wie sie sie Strobel und Jahn-Sudmann es auch für ihren Aufsatzband vorschlagen. Die Unangemessenheit nationaler Rahmungen im Begriff transnational aufgrund essentialisierender Tendenzen, dem Strobel mit jenem Erweiterungsbegriff »transkulturell« einen angemesseneren Begriff zur Seite zu stellen gedenkt, bedeutet allerdings noch nicht, dass die nationale Rahmung im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften der Filme und Kinos obsolet würden. Weil nationalstaatliche Kontextualisierungen insbesondere aus historischer Sicht sehr häufig Sinn ergeben, beispielsweise wenn Zensur staatlich verordnet ist, werden die vom Nationalen her zu denkenden Aspekte durch den Begriff »transkulturell« verunschärft. Damit birgt auch der angebotene Alternativbegriff die Gefahr seine Begriffsschärfe zu verlieren, wenn mit ihm die Fluidität kultureller Artikulations- und Herstellungsformen betont wird und dadurch berechtigte nationale Rahmungen und Historisierungen in den Hintergrund rücken. Eine Feststellung, die sich auch bei Deborah Shaw findet: Is the term ›national‹ now entirely bankrupt, and if so what does this mean for films that engage with specifically local issues? Once we begin to ask these sorts of questions it becomes clear that ›Transnational Cinema‹ as a catch-all is inadequate to deal with the complexities of categorising both actual films and industrial practices.67 Eine Erläuterung dessen, was in der Filmwissenschaft als Transnational Cinema verhandelt wird, muss sich neben Ersatzbegriffen wie accented cinema oder cinema du métissage auch den vielfältigen Interpretationsweisen stellen, aus denen heraus weitere Differenzierungen des Begriffs notwendig werden. Allein neun unterschiedliche Typen von 64 65 66 67
Strobel und Jahn-Sudmann (2009). Strobel (2009, S. 10f.). Shaw (2013, S. 50). Shaw (2013, S. 8).
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»cinematic transnationalism« nennt Mette Hjort, die sie wiederum an unterschiedlichen Ebenen der Institution Kino ansiedelt.68 Neben diesen neun Typen plädiert sie auch für eine graduelle Unterscheidung der Intensität des transnationalen Charakters eines Films. Ein Film, der allein auf der Ebene einer Rezeption transnational wird, ist Hjort zu Folge qualitativ weniger transnational als ein Film des cinema beur, wie der von ihr als Beispiel angeführte La Fille de Keltoum (»Die Tochter von Keltoum«) (2001), der nicht nur ein transnationales Publikum adressiere, sondern auch inhaltlich transnationale französisch-arabische ›Wirklichkeit‹ erzähle.69 Will Higbee und Song Hwee Lim sind weniger euphorisch und liefern eine umfassende Kritik an dem Begriff.70 Dafür unterscheiden sie zunächst drei Ansätze für die Erforschung des Kinos, in denen Transnational Cinema als Untersuchungsperspektive für Filme oder eine Filmkultur bereits Anwendung gefunden habe und formulieren unmittelbar ihre Kritik daran. Ihre Hauptkritik ist, dass der Terminus transnational in einer unreflektierten Verwendung höchstens als »a potentially empty, floating signifier«71 dienen könne, dem dann jedes Reflexionspotential geraubt sei. Interessiert sind beide Filmwissenschaftler aber nicht nur an der Funktionalität des Transnational Cinema Ansatzes, sondern sie argumentieren für eine kritische Reflexion in der Verwendungsweise des Begriffs. Als Lösung plädieren beide damit »for a critical form of transnationalism in film studies that might help us interpret more productively the interface between global and local, national and transnational«72 . Für dieses filmwissenschaftliche Modell empfehlen sie den Begriff »critical transnationalism« und geben Hinweise dafür, wie dieser konkret aussehen könnte. Ein produktives Verständnis von »critical transnationalism« müsse an das Paradox erinnern, ausgerechnet in einer kulturhegemonialisierenden Sprache wie dem Englischen über das Transnational Cinema zu sprechen: Can transnational film studies be truly transnational if it only speaks in English and engages with English-language scholarship? What does it take to create ›an environment of transnational scholarly exchange and discussion around an analytic project that we believe could and should be extended to include the cinemas of other nations, including Western nations‹ (Berry and Farquhar 2006: 15)?73 Auch das Transnational Cinema in seiner Verwendungsweise als Gegenkonzept zum Hollywoodkino oder europäischen Kino spielt also einem Eurozentrismus zu, wenn sich an die Verwendungsweise kein kulturspezifisches und so auch sprachspezifisches, jedoch zugleich global-sensibles Wissen und eine entsprechende Forschungshaltung knüpft.74 Um zu einer vergleichenden Perspektive zwischen World Cinema und Transnational Cinema zurückzukommen: Der Grund für die eurozentrische Dynamik beider Begriffe 68 69 70 71 72 73 74
Hjort (2010, S. 16-27). Hjort (2010, S. 13). Higbee und Song (2010). Higbee und Song (2010, S. 10). Higbee und Song (2010, S. 7). Higbee und Song (2010, S. 18). Vgl. Jahn-Sudmann (2009, S. 26), Shaw (2013, S. 48).
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ergibt sich insbesondere aus der semantischen Unklarheit. Die Verknüpfung des Adjektivs/Attributs transnational oder world mit dem Nomen cinema lässt die Referenz offen, in welcher Relation sich die jeweilige Attribuierung auf welche Ebene der Institution Kino bezieht. Der Begriff transnational oder world kann sich immer nur auf eine, mehrere oder alle Ebenen dessen beziehen, was Kino meint, so zum Beispiel auf die Ebene der Herstellenden, des Filminhalts, des Publikums, der Distribution.75 Diese Ebenen werden dann auch noch durch ihre Zeitlichkeit verkompliziert, sodass Filme nach Jahrzehnten in unterschiedlichen Kontexten von ursprünglich nicht angedachten Zuschauer_innen rezipiert werden können, zum Beispiel durch VideoOnDemand oder Filmfestival-Retrospektiven oder Sparten. Ein nationales Kino wie die Martial Arts Filme werden dann im Hinblick auf ihre Zirkulation auf dem deutschen oder internationalen Verleih- oder Kinomarkt auf der Ebene ihrer Rezeption transnational. Man würde aber vom frühen Martial Arts Kino nicht als transnationalem Kino sprechen, da es vornehmlich national produziert und für einen nationalen Markt hergestellt wurde.76 Diese komplexe zeitliche und lokale Dimension von Filmkulturen, in welcher die zeitlichen Relationalitäten zwischen Publika, Distribution und Produktion komplex konstelliert sein können, nennt Dudley Andrews décalage: »[…], for cinema in my view is constitutionally out-of-phase with itself. […] This French term connotes discrepancy in space and deferral or jump in time«77 . Aber genauso gut lässt sich das Phänomen der décalage auf Transnational Cinemas übertragen, denn Transnationalität ist nicht nur zeitlich relativ, sondern auch örtlich. In Spanien kann so chilenisches Kino, das als dem World Cinema zugehörig verhandelt würde, die Form nationalen Kinos annehmen, wenn es sich um eine chilenisch-spanische Koproduktion handelt.78 Zu fragen ist also auch danach, in welcher Beziehung sich das Verhältnis beider Konzepte beschreiben lässt. Zudem müssen die vielfältigen zeitlichen Dimensionen angemessen berücksichtigt werden, die in fast jede dieser Dimensionen hineinspielen. Es entstehen zwar World Cinema-Monographien, die bestenfalls der globalen Dimension filmischer Realisierungen gerecht zu werden versuchen, indem sie die Verwobenheit nationaler Filmkulturen betonen und punktuell herausarbeiten.79 Eine derart das Nationale überschreitende Perspektive auf das World Cinema lässt dann die Frage zu, ob das Transnational Cinema als eigener Zugang betrachtet werden darf, wenn im World Cinema transnationale Dynamiken schon entsprechend zu verhandeln sind. Die Frage ob das Transnational Cinema im World Cinema aufgehen sollte oder eine terminologische und konzeptuelle Differenzierung der Untersuchung einer globalen Filmbildkultur ist, lässt sich nicht einfach entscheiden, zumal es schon problematisch ist, die wirkmächtige Dimension des Nationalen als hilfreiche Analysekategorie und Kri75 Für diese Argumentation im transnational cinema siehe Shaw (2013, S. 52). Shaw führt fünfzehn Aspekte an, an denen Transnationalität erörtert werden könne, zum Beispiel »transnational modes of narration«, »transnational viewing practices«, »transnational stars« et cetera. 76 Zumindest in seiner frühen Form, beispielsweise der 1970er Jahre. Ich denke hier an die frühen Jackie Chan-Filme wie Die Schlange im Schatten des Adlers von Yuen Woo-Ping. 77 Andrew (2010, S. 59f.). 78 Chanan (2001, S. 1). 79 Vgl. Nagib (2011), White (2015).
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terium für eine analytische Eingrenzung zu verwerfen.80 Ob Herausgeberschaften wie »World Cinemas, Transnational Perspectives«81 von Nataša Ďurovičová und Kathleen Newman eine angemessene Konfiguration beider Perspektiven darstellen, bleibt daher als allgemeine Frage schwer zu beantworten. Für den Fall des deutsch-türkischen Kinos beschreibt eine solche begriffliche Konstellation eine angemessene Ausgangslage, mit der zumindest die Problematik der Unsichtbarkeit der türkischen Filme konkreter umschrieben werden kann. Um die bis hierher beschriebenen Problematiken an einem dezidierten wissenschaftlichen Untersuchungsbeispiel aufzuzeigen, werde ich mich nun einem Aufsatz von Göktürk widmen und daran veranschaulichen, wie die Kategorien von world und transnational cinema in Forschungsfragen und konkrete Ergebnisse besonders im Kontext transnationaler Migrationskinematographien hineinwirken.
4.4.2.
Fortwirken des Eurozentrismus?
An einem Beispiel eines wissenschaftlichen Aufsatzes zum deutsch-türkischen Kino, der die Welthaftigkeit von Fatih Akıns wirkmächtigem Film Auf der anderen Seite untersucht, möchte ich die Notwendigkeit nach der Reflexion der eurozentrischen Dynamiken in beiden erörterten filmwissenschaftlichen Konzepten und die kulturimperialisierenden Gefahren des Eurozentrismus aufzeigen. Schon in ihrem ›Mitleidskultur‹-Aufsatz bezieht sich Göktürk bei der Verortung der neuen Generation (ab dem Herbst 1998) deutsch-türkischer Migrationsfilme auf das Konzept des World Cinema (Weltkino). Für sie ist diese Generation deutsch-türkischer Filme ein solches Weltkino, das das viktimisierende und nur die deutsche Seite mit Souveränität aufladende cinema of the affected ablöst (siehe auch Kapitel 2.1.).82 »In Zeiten von Massenmigration und zunehmender globaler Mobilität von Menschen und Medien […]« betone der Terminus World Cinema im Vergleich zu anderen Begriffen »[…] die Universalität von Mobilität und Diversität«, denn er operiere nicht mit separatistischen Kategorien wie zum Beispiel dem Third Cinema.83 Göktürks Untersuchungssicht lässt sich so als eine hybride Stellung zwischen World und Transnational Cinema beschreiben. Während sie eine globalistische Sicht auf die Kinematographien der Welt wirft, bleiben »Mobilität und Diversität« unentwegte Charakteristika dieser Welt und damit permanente Austausch- und Bewegungsprozesse (Mobilität) sowie eine Differenzdurchdringung (Diversität) zentrale Attribute dieser Welt – Attribute, die ihre Vorstellung von Welt in die Nähe des transnational cinema rücken, weil Migration Transnationalität durchweg herausfordert. Knapp zehn Jahre später erwähnt Göktürk in ihrer Untersuchung »Mobilität und Weltkino digital«84 Martin Roberts Definition eines Weltkinos, für den nur solche Filme Weltkino seien »in denen ›planetarisches Bewußtsein‹ zum Tragen kommt«85 . Roberts entlehnt den Begriff wiederum aus Mary Louise Pratts Arbeit »Imperial Eyes: Travel and 80 81 82 83 84 85
Ritzer und Steinwender (2017, S. 3). Ďurovičová und Newman (2010). Göktürk (2000, S. 331). Göktürk (2000, S. 331). Göktürk (2010). Göktürk (2010, S. 16).
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Transculturation«, in der Pratt einen Wandel im Bewusstsein europäischer Expansionisten beschreibt. Roberts fasst Pratts These damit zusammen, dass er sagt, dass im 18. Jahrhundert durch die koloniale Expansion Europas und die gleichzeitige Entwicklung des Linnéschen Klassifikationssystems – ein System zur Einteilung von Pflanzen, Tieren und Mineralien – ein vereinheitlichendes Bedeutungssystem über die Welt entstanden sei.86 Bedingung für die Entwicklung eines solchen Bedeutungssystems sei eben ein europäisches »planetarisches Bewusstsein«87 gewesen. Dieses Bewusstsein bindet Roberts als erneuertes Phänomen an die aktuelle Situation des Kinos in Metropolen zurück, sieht es aber dabei von der Erzeugung eines eurozentrischen Exotismus entkoppelt: While the audience for these multicultural cinemas [in the metropoles, Ö.A.] is no doubt in large part white and middle class, it would be mistaken to assume that they cater solely to Euro-American exoticism. Indeed, in cities such as those I have mentioned, the audiences for multicultural films may be as transnational as the films themselves, and watching them may be as much a way of reconnecting with one’s own culture as of indulging a touristic curiosity about someone else’s.88 Die Erweiterung digitaler Möglichkeiten in der Alltagspraxis mit Filmen fügt dem Weltkino Göktürk zu Folge eine weitere wichtige Dimension hinzu. Nicht ein expansives und vereinheitlichendes Begehren als »planetarisches Bewusstsein«89 sei für das World Cinema kennzeichnend, sondern dass die unterschiedlichen imaginierten Topographien auf der Welt durch die Digitalität, in ihrem Beispiel durch das Medium der DVD, verfügbar(er) würden: Audiokommentar, Möglichkeiten in die Zeitlichkeit des Films einzugreifen durch Vor- und Zurückspulen und Anhalten, der Zugriff auf die Kapitel eines Films über das digitale Menü und Hintergrundinformationen, die durch Bonusmaterial verfügbar werden: Der Blick hinter die Kulissen im Extramaterial auf der DVD ermöglicht dem Zuschauer, den Prozess der Ortswahl, Ausstattung und Inszenierung mit zu vollziehen, und die Szene nicht als mimetisches Abbild zu lesen. Diese Tankstelle [am Schwarzen Meer der Türkei aus dem Film Auf der anderen Seite (2007)] gibt es in der Wirklichkeit so nicht. Die Szene ist daher ein gutes Beispiel für die mediale und affektive Produktion des Lokalen.90 In der Annahme eines vermeintlich nicht separierenden World Cinema-Ansatzes läuft Göktürk allerdings Gefahr, die eurozentrische Dynamik zu unterschätzen, die ein solcher Ansatz mit sich bringt. Nicht nur werden die Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit verzerrt, die das globale Kino überhaupt nur für privilegierte Zuschauer_innen verfügbar machen. Auch wird in einer so auf das Globale ausgerichteten Perspektive nur die euro-amerikanische Rezeptionsseite mitgedacht. Roberts gesteht sich ein, dass 86 87 88 89 90
Roberts (1998, S. 66). Pratt (1992). Roberts (1998, S. 66). Göktürk (2010, S. 16). Göktürk (2010, S. 26).
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das Weltkino Konsumkulturgut einer privilegierten weißen Mittelschicht sei und betont die transkulturelle Erfahrung, die das Weltkino mit sich bringe.91 Es stellt sich dann aber die Frage, wozu der World Cinema-Ansatz gut ist, wenn die Mobilität der Rezeptionsmöglichkeiten von der sozialen Mobilität seiner Rezipienten abhängt. Wenn es um die transkulturelle Seherfahrung privilegierter Zuschauer_innen geht, läuft der Ansatz quer zu den globalisierenden, dekolonialen Ansprüchen, die damit gestellt werden. Oder verschärft gefragt: Was nützt die erweiterte transkulturelle und ethnologische Bildung einer weißen Mittelschicht, wenn die Annahme der kulturellen und wirtschaftlichen Hegemonie des euroamerikanischen Kinos und damit der Eurozentrismus sowohl als Wahrnehmungsraster, als auch als Ideologie aktiv bleibt? Kann in einem solchen binären Verständnis eines globalen Kinos Exotisierung ausbleiben, wenn das Raster binärer Kultureinteilungen euro-amerikanischer Kultur auf der einen und der Rest der Welt auf der anderen Seite gedacht wird? Warum soll dann World Cinema kein separatistischer Begriff sein, wenn er die Separierung in materiell befähigte und unfähige Zuschauer_innen und die Hegemonie des euro-amerikanischen Kinos voraussetzt? Gerade aufgrund dieser Problematiken muss Göktürk in ihrem Aufsatz mit Relativierungen wie denen hier operieren: »Die Welt liegt uns zu den Fingerspitzen – vorausgesetzt, dass wir einen Computer mit Highspeed Internetzugang zur Verfügung haben«92 . Dabei ist Göktürk die ökonomische Relativität als Gegentendenz zu euphorischen Zirkulationstheorien der Globalisierung und Metaphern der simplifizierenden Zeit-Raum-Kompression bewusst, wenn sie auf Anna Tsings friction theory zurückgreift: Anna Tsing weist unterdessen darauf hin, dass Menschen, Waren und Daten nicht ungehindert und gleichmäßig ›fließen‹; globale Verbindungen entstehen vielmehr an spezifischen Orten, im Dickicht alltäglicher Begegnungen (sticky materiality of practical encounters). In ihren theoretischen Ausführungen zu Interaktionen zwischen lokalen und globalen Interessen ersetzt ›Reibung‹ (friction) als zentrale Metapher das ›Fließen‹ (flow). Ihre ethnographische Theorie beruht auf der Einsicht, dass es Widerstände in der Zirkulation gibt, die in dem Ungleichgewicht ökonomischer Ressourcen und machtpolitischer Interessen begründet liegen.93 Aber nicht nur die technischen Voraussetzungen und die Anerkennung einer Welt der Migration müssen gegeben sein, sondern die kulturellen Voraussetzungen müssen ebenso mitgedacht werden: Ein chinesischer Film kann als World Cinema nur in dem Maße seine transkulturelle Erfahrung in einer digitalen Welt entfalten, wie die Befähigung und Kenntnisse zur chinesischen Kultur und Sprache vorhanden sind. Deswegen sind Higbees und Songs Einwände berechtigt, wenn sie die Frage danach stellen, wie und ob ein Transnational Cinema-Ansatz – und dies lässt sich auf den World Cinema Ansatz übertragen – in der akademischen Kultur, die englischsprachig operiert, möglich ist.94 91 92 93 94
Göktürk (2010, S. 26). Göktürk (2010, S. 39). Göktürk (2010, S. 17). Higbee und Song (2010, S. 18).
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Indem Göktürk also Fragen von Postkolonialität und konkret des postkolonialen Wissenskörpers, die sie in einer ihrer Schriften für den deutschen Kontext doch eigentlich fruchtbar argumentiert95 , ausblendet, erarbeitet sie in der Analyse des DVD Bonusmaterials von Akıns Auf der anderen Seite vornehmlich europäisch-amerikanisch informierte intertextuelle Bezüge. So betont sie Akıns Querverweise zu Francis Ford Coppola96 , Bob Dylan97 , Christa Wolf98 und Michelangelo Antonioni99 , die sie wiederum aus Akıns paratextuellen Hinweisen (DVD-Kommentar) entlehnt. Auch wenn mit der Thematisierung des Sängers Kazım Koyuncu sowohl Göktürk als auch Akın selbst auf die lokale Kultur der Türkei fokussieren100 , verbleibt der Eindruck einer eurozentrischen Kontextualisierung des Films zurück. Obwohl Göktürk einen transnationalen Film im Kontext des World Cinema-Ansatzes untersucht hebt sie an ihm intertextuelle und nur für sozial mobile Zuschauer_innen verfügbare, europäische und amerikanische Aspekte hervor, bevor sie die audiovisuelle Generativität des Films in seiner transkulturellen Dimension zuallererst untersucht.101 Mit Blick auf Arbeiten von Wissenschaftler_innen aus der Türkei, die sich ebenfalls mit Fatih Akıns Filmen beschäftigen, wird der Eurozentrismus Göktürks umso deutlicher. Arslan kann beispielsweise Akıns Filme durchaus transkulturell sensibel und mit Bezug auch auf andere intertextuelle Verwicklungen hin untersuchen. So stellt er auch dezidierte Bezüge zum Yeşilçam-Kino her, auch mit Bezug auf genau jenen von Göktürk untersuchten Film Auf der anderen Seite.102 Dabei ist gar nicht das intertextuelle Netzwerk, das der Film entwirft, für eine Forschungsperspektive zu zentralisieren, sondern eine nicht-eurozentrisch informierte kulturhistorische Perspektive im Sinne einer vorausgehenden Kontextualisierung zu reflektieren. Die »flexible Geographie« ist eine Vorstellungshaltung von Welt, die über die Dekonstruktion des Globalen allererst zu erlernen ist, bevor sie im Abgleich zwischen Filmsubjekt und Untersuchender_m eurozentrisch zu manifestieren ist. Das wiederum bedeutet, die Frage nach der epistemischen Hervorbringung des Films nicht ausgehend von der introspektiven Sicht der Filmproduzent_innen oder Regisseur_innen zu untersuchen, sondern dadurch, dass die genealogische Frage nach dem großen ausgeschlossenen Anderen des Films zu stellen ist, aber ohne diesen zugleich epistemologisch zu bändigen.103 95 Göktürk (2010, S. 17). 96 Göktürk (2010, S. 17). 97 Göktürk (2010, S. 17). 98 Göktürk (2010, S. 17). 99 Göktürk (2010, S. 17). 100 Da der Film in der Türkei spielt, ist es nicht wirklich ein globaler intertextueller Kommentar. Stattdessen sollte die Frage erlaubt sein, welches jenseits von Europa, der USA und der Türkei Verhandeltes Einzug in den Film erhält, wenn man damit eine Verortung des Films in einer polyzentrischen Konzeption von Weltkino verhandelt wissen will. 101 Der dramaturgische Berater des Films war Guillermo Arriaga, der mexikanische Drehbuchautor, der auch das Drehbuch zu Innaritus Babel (2006) verantwortete. Insofern wäre interessant zu wissen, inwieweit diese transnationale Verstrickung den Film beeinflusst hat. 102 Arslan (2012). 103 Vgl. Alkın (2015a, S. 211).
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4.5.
Verloren zwischen World und Transnational Cinema? – Für ein inklusives Modell des ›deutsch-türkischen Kinos‹
Zusammengefasst lässt sich also sagen: Für eine Untersuchung des Kinos, das sich mit transnationalen Migrationen beschäftigt, sind die beiden Untersuchungsperspektiven Transnational Cinema und World Cinema mit der Gefahr der Unsichtbarmachung zahlreicher zu differenzierender Facetten verbunden. Eine Untersuchung der türkischen Filme jenseits des Transnational Cinema und im World Cinema stellt eine komplexitätsreduzierende Perspektive dar, die weder einer kulturhistorischen, noch bild- oder filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der türkisch-deutschen Emigration seit dem Anwerbeabkommen einen angemessenen Boden bereitet. Das in der Türkei oder von Akteur_innen aus der Türkei produzierte Kino wird in der aktuellen filmwissenschaftlichen Betrachtungsweise des World Cinemas als ein nationales Kino verhandelt. Im besten Fall wird es durch die aktuellen Erfolge Nuri Bilge Ceylans auf namhaften Filmfestivals als Sonderform eines europäischen Kinos wahrgenommen, was schon daran deutlich wird, dass eine DVD-Box mit Bilge Ceylans Filmen für den französischen Markt früher als für den türkischen Markt produziert wurde. Doch jenseits davon verbleibt der türkische Film ein besonderes Kino in der Welt. Zwar gibt es Forschungsansätze, die das türkische Kino im Hinblick auf transnationale Kontexte untersuchen: Beispielsweise steht das türkische Mainstreamkino aufgrund der transnationalen Rezeptionssituation (türkische Migranten rezipieren vermehrt Filme aus der Türkei in europäischen, besonders Multiplex-Kinos) im Fokus filmwissenschaftlicher Zuschauer_innenforschung. Darin wird mit kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen das Rezeptionsverhalten türkischer Migrant_innen untersucht.104 Doch hier konzentriert sich das Erkenntnisinteresse auf die transnationale Rezeptionssituation und weniger auf die Inhalte der türkischen Filme selbst. Das deutsch-türkische Kino hingegen genießt als transnationales Kino ein großes Interesse in der akademischen Diskussion, das sich nicht zuletzt auf eine einvernehmliche Zustimmung in den Kulturwissenschaften zurückführen lässt, den Begriff Kultur vom nationalstaatlichen oder ethnisierenden Konnex zu lösen. Deutsch-türkische und andere transnationale Konstellationen auf inhaltlicher Ebene der Filme werden dann zur (oft vereinfachten) Illustration transkultureller Hybridität genutzt (▶ Kap. 2.2.3). Die Kontextualisierung des türkischen Kinos als World Cinema in einem einfachen Sinn, figuriert eine Unsichtbarmachung des transnationalen Charakters des türkischen Emigrationsfilms. Eigentlich ist das Ereignis der Emigration in türkischen Filmen ein transnationales. Das Präfix des Terminus Emigration (lat. e, ex = aus, heraus) bezieht sich mindestens auf die Migrationsbewegung aus einer nationalen Umgebung in eine andere. Emigration ist also (mindestens) ein transnationales Ereignis. Dass es als solches im türkischen Film nicht wahrgenommen wird, weder von der türkischen noch von der deutsch- oder englischsprachigen akademischen Community, liegt unter anderem in der Einverleibung des türkischen Kinos durch den World Cinema-Ansatz begründet, der eurozentrisch geprägt ist. Englisch- oder deutschsprachige Veröffentlichungen 104 Siehe zum Beispiel Smets et al. (2013).
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verhandeln das türkische Kino aus World Cinema-Kontextualisierungen heraus. Die Thematisierung des World Cinema-Konzepts als eurozentrische Alterität vermeidet es dann, den türkischen Film in den Diskurs um ein Transnational Cinema zu überführen. Beide, türkischer Emigrationsfilm und deutsch-türkisches Kino, werden kaum zusammengedacht. Dieser blinde Fleck betrifft jedoch türkische Wissenschaftler_innen gleichermaßen, denn eine Feldöffnung, mit der türkische wie ›deutsch-türkische Filme‹ gleichermaßen berücksichtigt werden, findet sich bis heute nur in wenigen Publikationen (▶ Kap. 3). Hier ist als Ausnahme zum Beispiel die Monographie »Melez Imgeler. Sinema ve Ulusötesi Oluşumlar«105 (»Trugbilder der Vermischung. Kino und Transnationale Entstehungen«) von Nejat Ulusoy zu nennen, der darin die transnationalen Verstrickungen des türkischen Kinos durcharbeitet. Im Buch entwirft er konkret für den deutsch-türkischen Migrationskontext auf knapp vier Seiten eine Geschichte des türkischen Migrationskinos. Er setzt dafür bei den türkischen Migrationsfilmen an – was aber in Anbetracht des unaufhörlichen Aufgreifens der Thematik im türkischen Kino eine historische Vereinfachung darstellt, bleibt die Existenz solcher Filme keineswegs auf die 1970er und 80er Jahre beschränkt (▶ Kap. 3).106 Der unspezifische Fokus auf das Transnational Cinema auf der anderen Seite, eingesetzt mit der progressiven Zielsetzung, kulturelle Hybridität an den neueren deutschtürkischen Filmen sichtbar zu machen, rückt die türkischen Emigrationsfilme aus einer heuristisch motivierten Perspektive in einen Raum des Desinteresses. Die Filme werden so zu türkischen Filmen erklärt, also als Produktionen, die in und für die Türkei und damit für ein nationales Publikum hergestellt sind. Die semantische Problematik des Begriffs Transnational Cinema, erschwert es, das transnationale Ereignis der Migration im türkischen Emigrationsfilm als transnationales und damit als solche Filme eines Transnational Cinema zu verorten. Diese Probleme, die Einverleibung des türkischen Kinos im World Cinema und die Fokussierung des deutsch-türkischen Transnational Cinema zur Illustration kultureller Hybridität geben also Gründe für das Ausbleiben der Untersuchung der vielfältigen filmischen Thematisierungen des Emigrationsdiskurses im türkischen Emigrationsfilm ab. Mein Vorschlag, in der Beschäftigung mit dem deutsch-türkischen Kino auch den türkischen Emigrationsfilm mitzudenken setzt an der filmwissenschaftlichen Debatte zu den hier erörterten Konzepten World oder Transnational Cinema an. Das Mitdenken des türkischen Emigrationsfilms als ›deutsch-türkisches Kino‹ wirkt den hier beschriebenen eurozentrisierenden Dynamiken entgegen und macht die angesprochenen Differenzierungen der World Cinema- und Transnational Cinema-Debatten stark, die für eine Sensibilisierung im Hinblick auf die komplexe Verwobenheit von Filmkulturen, damit für eine Öffnung von Filmhistorisierungen im globalen Raum und so für epistemisch veränderte Perspektiven (flexible Geographie, Polyzentrismus) argumentieren. Und sie 105 Ulusay (2008). 106 Ulusay (2008, S. 161-164). Dass eine solche Perspektive um filmhistoriographische Arbeiten zu erweitern ist, die auch die Verhandlung der deutsch-türkischen Migration nach dem Yeşilçam-Kino berücksichtigt, wurde in Kapitel 2 bereits argumentiert.
4 World, Transnational und Polycentric Cinema
stützt Diskurse, die die transnationalen Eigenschaften von Filmen auf eine bestimmte Ebene zu spezifizieren suchen107 , denn die türkischen Migrationsfilme sind weniger in distributorischer oder Produktionshinsicht transnational, sondern zeigen ein transnationales Ereignis auf inhaltlicher Ebene. Durch die Einbeziehung türkischer Filme in den Diskurs um das deutsch-türkische Kino eröffnet und erweitert sich die kulturhistorische und ikonographische Dimension zur filmischen Thematisierung des ›deutsch-türkischen Kinos‹. Die Auseinandersetzung des türkischen Migrationsfilms wird aus dem exklusiven Bereich einer World Cinema Debatte in den Kontext der Filmforschung des Transnational Cinema verschoben, was der eurozentrischen Diskussion des Migrationskinos entgegenwirkt und einer Thematisierung als Transnational Cinema gerecht wird. Das bedeutet nicht, den türkischen Migrationsfilm im ›deutsch-türkischen Kino‹ zu assimilieren, sondern eine intellektuelle Wachsamkeit einzufordern, die den Eurozentrismus in der Transkulturalitätsforschung permanent irritiert; eine Wachsamkeit, die mit der Perspektive einer »flexiblen Geographie« oder des »Polyzentrismus« konditioniert werden kann. Migration interessiert sich nicht für das Nationale, Transnationale oder Kartierungen der Welt in Regionen. Wenn Migration permanentes Unterlaufen imaginärer Grenzen bedeutet, heißt das im Umkehrschluss, die imaginären Grenzen selbst wieder als verflüssigende prozessuale Grenzen zu verstehen (▶ Kap. 6.3). Die Konzepte »flexible Geographie« und »polyzentrische Ästhetik« bieten Möglichkeiten an, auf einer Makroebene wie der Forschungssubjektfindung die Verhältnisse imaginärer Setzungen wie dem Nationalen, dem Transnationalen oder dem Globalen/der Welt (Stichwort »Weltbild«) eine intelligible Haltung einzunehmen, die sich nicht auf den Eurozentrismus einlässt. Schließlich zeigt die gegenseitige Inklusion von deutsch-türkischem Kino und türkischem Migrationskino an, dass in transnationalen Konstellationen immer auch die imagologischen Bedingungen zu berücksichtigen sind, in denen diese Konstellationen auftreten: zwischen Türkei und Deutschland und vice versa. Das wiederum bedeutet postkolonialtheoretisch informierte Perspektiven nicht nur auf der Inhaltsebene stark zu machen, sondern in der Ebene der Generierung eines Forschungssubjekts. Die Hoffnung ist, dass in dieser Achtsamkeit nationalistischen und eurozentrischen blinden Flecken gegenüber ein historisch-genealogisch verfahrendes Bewusstsein möglich wird, das den Fallstricken vereinfachender, hegemonialisierender Klassifikationsmuster entgeht. Dass ein Ansatz, der von sich behauptet, enteurozentrisierend vorzugehen, sich dem postkolonialtheoretischen Einwand beugen muss, dass noch alles durch Europa affiziert ist, soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, die Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich als Frage von »Universalität und Partikularität« zentralisieren und folgendermaßen als Zustandsbeschreibung deutscher Kulturwissenschaften evaluieren: Bis zu Derrida, der den Eurozentrismus mit Nachdruck demontieren wollte, blieben die Denker in den universalisierenden Begriffen ihrer Geschichte befangen. Auch die (deutschen) Kulturwissenschaften operierten weiterhin mit universalistisch erschei107 Vgl. Shaw (2013).
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Die visuelle Kultur der Migration
nenden Kategorien wie »Bild, Text, Zahl, Fremder, Techniken, Körper…«, ohne diese in ihrer jeweiligen kulturellen Herkunft oder Relation zu reflektieren. […]108 Doch mit dieser Einnahme einer ethischen Haltung der Politik der Unentscheidbarkeit (Derrida) ist es nicht getan. Eine legitimierbare Rede vom Migrationsfilm muss medientheoretisch zuallererst reflektiert werden. Darum soll es nun gehen.
108 Bergermann und Heidenreich (2015, S. 21).
TEIL II: Filmische Konstruktionen der Migration im High-Yeşilçam-Kino der 1970er Jahre
5. Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
Die Historisierungskapitel operationalisierten die Untersuchung und machten einen ersten umfassenden Systematisierungsvorschlag zur historischen Fassung der Filmwerke vor. An der einen oder anderen Stelle der Kapitel wurde dabei deutlich, dass vor dem Hintergrund der Unzulänglichkeiten repräsentationsorientierter Ansätze die Relationen von Migration und Film neu gedacht werden müssen. Dazu wird das folgende Kapitel einen Forschungszugang zu den Untersuchungsobjekten aufzeigen (Filmen der High-Yeşilçam-Ära der 1970er Jahre zur türkisch-deutschen Emigration), der sich mit einer grundlegenden Prämisse von Untersuchungen zu visuellen Konstruktionen deckt, die im Moment besonders in der (Un-)Disziplin Visuelle Kultur1 einen Ort finden.
5.1.
Film und Soziales: Überlegungen zur Medialität des Films
Die kommunikative Praxis vom ›deutsch-türkischen Kino‹ zu sprechen basiert auf einer medientheoretisch unterkomplex verbleibenden Konzeptionalisierung von Film, die es als Inhalts- oder Repräsentationsmedium versteht. Besonders im Diskurs zum ›türkischen Emigrationsfilm‹, der die Filme lediglich als Repräsentationsmedien einer vorgängigen Wirklichkeit versteht, wird deutlich, dass in so einer Sicht Filme lediglich in ihrer Widerspiegelungsfähigkeit verstanden und untersucht werden können. Während in Kapitel 3 die definitorische Seite des türkischen Emigrationsfilms im Kontext filmwissenschaftlicher Interpretationsmodelle (World Cinema, Transnational Cinema) diskutiert wurde, gilt es hier an der Definition des türkischen Emigrationsfilms also zunächst einmal eine Distanzierung einzubringen, mit der die Sichtbarmachung2 der ›Emigration‹ an den türkischen Filmen als zu erarbeitendes Subjekt der Untersuchung allererst herauszustellen ist. Hierbei finden sich bereits zahlreiche Ansätze, die das Repräsentationsparadigma der Filme kritisieren und je unterschiedliche Zugangsweisen anbieten.3 Dass die Definition eines ›deutsch-türkischen Kinos‹ als Filme, die 1 Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 237-343). 2 Balke (2012). 3 Siehe zum Beispiel Naiboğlu (2017), Spöhrer (2017),
202
Die visuelle Kultur der Migration
die deutsch-türkische Migration thematisieren, aufgrund ihrer Komplexitätsreduktion medientheoretisch kaum haltbar ist, hat so zum Beispiel Hauke Lehmann herausgearbeitet.4 Das Problem der kommunikativen Praxis vom ›deutsch-türkischen Kino‹ zu sprechen bestünde in der Versimplifizierung, konkret aus der Unzulänglichkeit der Berücksichtigung medientheoretischer Bedingungen: Wenn man ›deutsch-türkisches Kino‹ als solches definiere, das ›deutsch-türkische Migration‹ thematisiere, stünde man vor dem Problem, dass das, was mit dem Verb »thematisieren« bezeichnet ist, eine medientheoretisch voraussetzungsvolle Simplifizierung darstelle, die sich am gegenwärtigen Diskurs offenbare.5 Unberücksichtigt bleibe, dass das, was als deutsch-türkische Migration anzunehmen sei, niemals unmedialisiert vorliege und somit vielmehr darüber reflektiert werden müsse, wie die Medialisierung sich vollziehe und wie davon ausgehend eine Genrebestimmung des ›deutsch-türkischen Films‹ möglich werde. Wie lassen sich Filme also verstehen, sodass ihre Eigenqualität derart in den Vordergrund rücken kann, dass sie nicht nur als Wiedergabemedium erscheinen? Inwieweit spielen Filme in das komplexe mediale Verhältnis der Konstitution von Wirklichkeit hinein? Diese Frage ließe sich auf vielerlei Wegen beantworten. Man könnte Filme verstehen als produktive Kräfte, die im Sinne von performativen Äußerungen in ihrer Iterabilität in die Konstitution von Wirklichkeit hineinspielen. Je mehr und öfter Filme bestimmte Sachverhalte abbilden (repräsentieren), umso etablierter und umso stärker sind entsprechende Vorstellungen und andere Bilder in die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Tradierungsprozesse6 eingebunden7 . Nanna Heidenreichs Ansatz spricht sich für eine solche Verhandlung von Filmen als produktive Kräfte aus: Filme sind nicht nur ›Produktionen‹, sie werden nicht nur produziert, sie produzieren auch, sie sind im wesentlichen Sinne produktiv: Sie partizipieren an der Herstellung eines kulturellen Bilderrepertoires und damit auch an dessen Überschreibung, Neubespielung, Umformatierung, und sie ermöglichen eine andere als die vorgeschriebene Verschränkung von Denken und Wahrnehmen.8 In dieser theoretischen Gemengelage interessiert für die vorliegende Arbeit eher noch folgende Überlegung: Filme als Medien verfügen über eine mediale Eigenlogik, die maßgeblich mit einem besonderen Umstand des Sozialen resoniert, nämlich damit, dass das, was wir als Soziales annehmen, besonders auch davon konstituiert ist, dass wir und wie wir sehen. Damit wird die Kategorie des Visuellen ein Bezugsfeld, auf dem das, was als Soziales angenommen wird, nicht nur auf Konventionen beruht, sondern entlang dessen produziert ist, wie sich das Visuelle formiert. Überträgt man diese Überlegung der Zentralität der Visualität in der Konstitution sozialer Verständigung auf den Zusammenhang von Film, bedeutet das für ein Verständnis dieser Filme aufmerksam dafür zu sein, wie sich die Kategorie des Visuellen an den Filmen wie figuriert. Von welchen Blickregimen sind die Filme bewohnt? Wie 4 5 6 7
Lehmann (2017b). Lehmann (2017b, S. 276ff.). Schade und Wenk (2011). Kritisch zu einer solchen strategischen Vorstellung von mehr Sichtbarkeit gleich mehr Handlungsmacht Schaffer (2008). 8 Heidenreich (2015, S. 15).
5 Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
spielt der Körper in diese Blickregime hinein? Welche Rolle kommt dem Affektiven in den Sehweisen des Films zu? Wie lässt sich aus der Materialität des Films auf Zusammenhänge einer sehenden Kultur schließen, die sich in den Filmen darin dessen versichert, was Migration genannt wird? Auch wenn in den Analysen zugleich auf die medientheoretische Überlegung nach dem Denken der Filme selbst zurückzukommen sein wird, sind die Untersuchungen von der Motivation getragen, dem Feld visueller Komplexität entlang der Filme zu folgen und nicht den Filmsichtungspraktiken, den materiellen und technischen Dispositiven, den rezeptionskontextuellen Zusammenhängen. Ein so verstandener Zugang auf Filme bleibt mindestens aufmerksam dafür, sich auf die ästhetischen Zusammenhänge zu konzentrieren und diese zu beschreiben. Welche Erkenntnisse erlangen wir über das ›epistemische Ding‹ Migration, wenn wir die hier kulturhistorisch prädeterminierten Filme als zu medialen Gefügen geronnene visuelle Verhältnisse verstehen?
5.2.
Die visuelle Konstruktion des Sozialen – Wider dem ›Inhaltismus‹
Mit der in wissenschaftlichen Diskursen häufig artikulierten Binarität von Bildwissenschaften und Visueller Kultur haben sich Positionierungen und wissenschaftshistorische Grabenkämpfe aufgetan, die sich entlang der Frage bewegen, ob und wie Visualität oder Bilder methodisch, analytisch, theoretisch angemessen zu erfassen und wie das Verhältnis zwischen Sprache und Bild über die jeweiligen Disziplinen hinweg zu bestimmen sind.9 Die Filmwissenschaft steht zu dieser Binarität insofern quer, als dass schon in den möglichen Geschichten der Filmtheorie Bildlichkeit und Sprachlichkeit selbst keine dezidiert strukturleitende Qualität besitzen. Vielmehr lassen sich verschiedene filmtheoretische Lager ausmachen, die sich entlang eines komplexen Klassifikationsnetzes von theoretischen Prämissen und Zugängen je unterschiedlich an vielfältigen zentralen Konzepten wie Körper, Wahrnehmung, Geschichte, Affektivität, Epistemologie und Ontologie und damit entlang all jener Kernbegriffe entlangbewegen, die Medien- und/oder Kulturwissenschaftler_innen beschäftigen. In diese Gemengelage, in die noch disziplinen- und gesellschaftspolitische Verfransungen der Disziplinen hineinreichen, lässt sich die Visuelle Kultur nun sehr spezifisch verstricken, nämlich durch den Bezug auf eine Formulierung einer zentralen bildwissenschaftlichen Prämisse von W. J. T. Mitchell. Mit der Formulierung der »visuellen Konstruktion« lässt sich ein Kerngedanke des Bildwissenschaftlers Mitchells aufrufen, mit dem er Untersuchungen zur visuellen Kultur dezidiert legitimiert sieht. Für Mitchell ist bei aller Zentralität von semiotischen Konzepten für ein Verständnis des Sozialen, diese Erschöpfung darin allein nicht hinreichend, will man der Komplexität dessen, was als Visualität anzunehmen ist, angemessener begegnen. Für diese Überlegung greift er auf eine chiastische Formulierung zurück, die deutlich macht, weshalb das, was als Visualität zu verstehen ist, sich nicht allein in Annahmen sozialer Konventionen (Sozialkonstruktivismus) erschöpfen kann, sondern die Frage nach der Rolle des Visuellen in seiner mannigfaltigen Rolle ernst zu 9 Vgl. Schade und Wenk (2011), Schaffer (2008), Mersmann (2014), Alkın (2017b).
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Die visuelle Kultur der Migration
nehmen hat und in interdisziplinären Ansätzen zu untersuchen ist, die von Fragen der Synästhetik über Verkörperungs- und neuro- und biowissenschaftliche Theorien bis hin zum Bereich auch des Linguistischen reicht. Denn »[n]icht nur sehen wir, wie wir sehen, weil wir soziale Tiere sind, sondern unsere sozialen Übereinkünfte nehmen die Form, die sie haben, auch an, weil wir sehende Tiere sind.«10 Wenn Mitchell schließlich in Anlehnung an Lacan betont, dass der optische Mechanismus selbst in kleinen Lebensformen wie Austern wirkt11 , und das Wirken jenes Mechanismus maßgeblich daran beteiligt ist, wie sich das Soziale anhand einer solchen sehenden Kultur konstituiert, dann gilt das in erheblicherem Maße für die menschliche Kultur (▶ Kap. 8.4) – und noch schwerwiegender für das, was als menschliche Kultur überhaupt aufzufassen ist. Zugleich ist in dieser Überlegung die Notwendigkeit mitgemeint, das Feld des Visuellen nicht zu anthropozentrisieren oder Fragen nach der Naturalität des Sehens beziehungsweise naturwissenschaftlicher Annahmesysteme nicht auszuschließen. Ein Fokus auf das Wirken eines optischen Mechanismus in Organismen als Legitimation für dessen konstitutive Rolle in der Vermittlung des Kulturellen bedeutet zugleich nicht, den optischen Mechanismus auf ein Forschungsfeld von Biologie oder Konzeptionen des Sehens auf eine normative Form des Funktionierens zu beschränken, sondern eine »dialektische Konzeption von Visueller Kultur« zu entwerfen, die die Frage nach der »Natürlichkeit« des Sehens nicht per se verschließt.12 Diese Annahmen ermöglichen nun zu verstehen, weshalb sich Arbeiten, die sich auf die Untersuchung von Filmen als komplexe »epistemische Dinge« in Wissensproduktionsnetzwerken fokussieren13 , bei ihrer Analyse von Filmen auf all jene Diskurse und theoretischen Modelle einzulassen haben, die die Medialität des Filmischen in seiner Mannigfaltigkeit je spezifisch zu bestimmen suchen. Wenn in den kommenden Untersuchungen die visuellen Konstruktionen von Migration an einer vorab bestimmten ›Kultur epistemischer Dinge‹ analysiert wird, so gilt es, den Fokus auf die filmästhetischen Besonderheiten der Filme nicht durch eine prädeterminierte filmtheoretische Überlegung einzugrenzen, sondern den materiell unversieglichen Überschuss des Filmischen gegenüber eines schriftlichen Beschreibungssystems, das auch die vorliegende wissenschaftliche Arbeit ist, anzuerkennen und an ihm zu arbeiten. Dann ist die ›deutsch-türkische Migration‹ in den Filmen nicht nur eine Repräsentation eines vorgängigen Ereignisses und darin involvierter Zusammenhänge. Sie wird auch nicht einfach im sozialkonstruktivistischen Sinne lediglich diskursiv entworfen, sondern sie stellt eine komplexe Medialisierung innerhalb eines Wissensproduktionsnetzwerks dar, in dem das soziale Konstruierte namens Migration zugleich visuell (!) konstitutiert und »ontologisch stabilisiert«14 ist, also über aisthetisch eigenwertige Prozeduren verfügt. Doch was meint »ontologische Stabilisierung«? Wenn hier von »ontologischer Stabilisierung« gesprochen wird, ließe sich mit Blick auf die Betonung der visuellen Dimension nicht nur von ›visueller Konstruktion‹, sondern eher auch von ›visueller Konstituti10 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325f.). 11 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). 12 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). 13 Vgl. Spöhrer (2016). 14 Skrandies (2016, S. 12-13, 35, 49).
5 Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
on‹ sprechen. Die Legitimität beides nicht einander ausschließend zu denken, kündigt sich dann an, wenn man den Akt der Konstruktion als Prozess versteht, mit dem sich eine Konstitution15 vollzieht. Für Sybille Krämer ist die Frage nach der Konstitutionsleistung von Medien eine »Gretchenfrage«16 , da sich das »Verständnis des Medialen […] [stets] auf der Skala zwischen ›Übertragung‹ (Sekundarität) und ›Erzeugung‹ (Primat) [bewegt]«17 . So »gibt [es] kein Außerhalb von Medien«18 . Konstruktion und Konstitution wären damit dem Primat der Erzeugung zuzuordnen, wobei beide zugleich in einem oft auch zeitlich irrelativen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen: keine Konstruktion ohne Konstituiertes und keine Konstitution ohne den Prozess oder Vorgang der Konstruktion, wobei beides auch einander völlig irrelativ, weil unterschiedlichen Medialitätsbestimmungen zugehörig gedacht sein kann. Dass an dieser allumfassenden Dimension des Medialen gerade erst eine Medientheorie einzusetzen hat, zeichnet Merschs Medientheorie in ihrer Konzeption als »negative Medientheorie« aus, die sich auf die ›Kenntlichmachung der Unkenntlichkeit‹ der Medien zu fixieren habe: Denn wenn ›alles‹, was ist, in Medien gegeben ist, wenn folglich kein Medien-›Anderes‹ oder Medien-›Außen‹ existiert, ergibt sich das Problem, wie die Medien selbst gegeben sind und sich als solche zu erkennen geben. Offenbar bekommen wir es mit einer Paradoxie zu tun, die der Paradoxie der Selbstreflexion ähnelt, welche sich noch reflexiv auf das beziehen muss, womit sie reflektiert und was ihre Reflexivität erst ermöglicht. Notwendig wäre dann ein innermediales Reflexionsprinzip, das auf die gleiche Weise auf das Medium und seine Medialität zu reflektieren vermag, wie es seine Reflexion vollzieht.19 Damit sind all jene Konzeptionen einer Untersuchung von Medialität aufgerufen, die sie als Riss, Spur, Zäsur oder Gespenstisches verstehen.20 Will man also für den Film verstehen, inwieweit dessen Medialität, das, was als Migration anzunehmen ist, »ontologischen stabilisiert«, dann ist in die Untersuchungen der Filme noch all das Negative seiner Medialität in die Überlegungen einzubeziehen. Das methodische Verfahren der vorliegenden Arbeit ist in dem Sinne als medienkulturwissenschaftlich zu verstehen, als dass es nicht nur aufgrund zentraler visualitätstheoretischer Überlegungen der visuellen Kultur filmästhetischen Spezifika folgt, also Parametern wie Blick, Positionalität, Farbe, Farbschemata, Kamerabewegungen, Blickbewegungen, Affektstrukturen (Untersuchung der Kopplung von ästhetischen und Af15 Zum Begriff der ›Konstitution‹ im medienphilosophischen Kontext siehe Krämer (2003). 16 Krämer (2003, S. 80). 17 Krämer (2003, S. 80). 18 Krämer (2003, S. 80). 19 Mersch (2006, S. 222). 20 Für ein Verständnis als Zäsur siehe Tholen (2002). Für einen allgemeinen medienphilosophischen Durchgang durch eine negative Theorie der Medien siehe Skrandies (2003). Dezidiert für eine Untersuchung als Gespenstisches siehe Skrandies (2003, S. 172). Skrandies arbeitet eine solche »negative« Untersuchung der Medialität anhand von Derridas »Marx’ Gespenster« heraus, der dort von einer »Hantologie« (aus dem Französischen hanter = heimsuchen, in etwas spuken) spricht, Skrandies (2003, S. 172) und so die »Homophonie« zur »Ontologie« vernehmbar hält; bei Skrandies dazu Fußnote 71. Maria Oikonomou hat den Zusammenhang zwischen der Medialität des Gespenstischen und Migration thematisiert, siehe Oikonomou (2018).
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Die visuelle Kultur der Migration
fektregimen), Deiktika, die oft noch film- und bildtheoretisch reflektiert sind. Die Untersuchungen widmen sich auch narrativen Strukturen und verbinden diese mit kulturtheoretischen Analysen, Diskursanalysen sowie kulturhistorischen Aufarbeitungen, die ein Panorama des türkischen Emigrationsfilms der 1970er Jahre zu entwerfen suchen.
5.3.
Grundüberlegungen zur Untersuchungsstruktur
Die Blickregime von Migrationen – Migration hier zunächst einmal verstanden als räumlich-geographische Wanderungsbewegungen menschlicher Subjekte über lokale und insbesondere imaginäre21 Begrenzungssetzungen hinweg22 – gehen mit vielfachen Imaginations-, Visualisierungs- und Sehensprozessen einher, die die grundlegende Ereignisstruktur23 der Migration treffen. Diese Struktur soll im Folgenden zuerst heuristisch beschrieben werden: als Orientierungsrahmen der Gliederung des Untersuchungsteils zur visuellen Konstruktion der Migration. Denn wie schon an anderer Stelle vermerkt, hat sich die vorliegende Arbeit weniger der argumentativ extensiven Ergänzung der unterschiedlichen Repräsentationsregime anhand einer polyzentrischen Filmgeschichtsschreibung verschrieben, die in Kapitel 4 umrissen wurde, als vielmehr der Beschreibung der visuellen Konstruktion von Migration in den Filmen. 21 Vgl. Mecheril (2010, S. 12). 22 Ähnliche Definitionen finden sich bei Treibel (1999, S. 21) und bei Oswald (2007). Beim zuletzt Genannten heißt es: »[…] ein Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts«, (2007, S. 13). Bei Petrus Han: »In den Sozialwissenschaften werden unter dem Begriff der Migration allgemein solche Bewegungen von Personen oder Personengruppen im Raum (spatial movement) verstanden, die einen dauerhaften Wohnortwechsel (permanence change of residence) bedingen«, (2005, S. 7). Ein vieldimensionalerer, eher vorsichtigerer Begriff findet sich bei Mecheril und Castro Varela: »Die biografisch relevante Überschreitung kulturell, juristisch, lingual und (geo-)politisch bedeutsamer Grenzen kann als Migration bezeichnet werden«, Castro Varela und Mecheril (2010, S. 35). 23 Dieser Annahme einer Ereignisstruktur der Migration ist eine Simplifizierung inhärent insofern, als dass es eine »gewisse unmögliche Möglichkeit« gibt »vom Ereignis zu sprechen«. Sie liegt darin, dass das Sprechen vom Ereignis insofern unmöglich ist, als dass ein Ereignis, um tatsächlich ein Ereignis sein zu können, jedweder Sagbarkeit, Vorhersagbarkeit zuwiderlaufen müsste. Es ist dieselbe Dynamik die Derrida auch an der Gabe untersucht. Eine ›wirkliche‹ Gabe dürfte, von niemanden als solche erfasst werden dürfen, da sie sonst in eine Ordnung übertritt, die es als Gabe zerstört (sie wird zu Geschenk, Sinn etc.): »Wenn ich sage ›ich gebe‹, wenn die Gabe phänomenal wird oder erscheint, wenn die Vergebung erscheint, gibt es keine Gabe und Vergebung mehr. Das Geheimnis gehört zur Struktur des Ereignisses. Nicht das Geheimnis im Sinne des Privaten, des Klandestinen oder des Verheimlichten, sondern das Geheimnis im Sinne dessen, was nicht erscheint«, Derrida (2003, S. 48f.). Und wenig später weiter: »Mir scheint tatsächlich, dass das Ereignis, wenn es das gibt, in der Interpretation, der Wiederaneignung und der Filterung durch die Medien dasjenige ist, was dieser Wiederaneignung, dieser Transformation oder Trans–Information Widerstand leistet«. Wie Derrida später ausführt heißt das keine medientheoretische Simulakrentheorie Baudrillards anzunehmen: »Ich vertrete da einen ganz anderen Standpunkt als Jean Baudrillard, der gesagt hat, der Golfkrieg habe nicht stattgefunden. Das Ereignis, das sich schlussendlich nicht auf die mediale Aneignung oder Verarbeitung reduzieren lässt, besteht darin, dass es tausende von Toten gab. Das sind jedes Mal singuläre Ereignisse, die keine Mitteilung von Wissen, keine Information reduzieren oder neutralisieren kann«, Derrida (2003, S. 58f.).
5 Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
Bereits seit Jahrzehnten versucht eine umfassende Kultur von Migrationsforscher_innen die unterschiedlichen Figurationen der Existenzmodi von ausgewanderten menschlichen Subjekten zu beschreiben, zu systematisieren und zu theoretisieren. Auffällig dabei ist, dass Arbeiten aus der »kritischen Migrationsforschung«24 besonders Untersuchungen aus einer Makroperspektive bemühen, in der der Begriff der ›Migrationsregime‹ zunehmend an Relevanz und Attraktivität gewinnt. Für Serhat Karakayalı und Vassilis Tsianos, die den Begriff kontraintuitiv besetzt sehen, geht es damit […] um das Problem der Verstetigung von Verhältnissen, die ihrer Natur nach als äußerst instabil angesehen werden müssen, von denen aber nicht angenommen werden kann, dass sie exogen, also etwa vom Staat gesichert oder gesteuert werden. […] Von einem Migrationsregime zu sprechen, legt daher nicht nur nahe, den systemischen Aspekt eines solchen Verhältnisses eher gering einzuschätzen, sondern auch eine Perspektive einzunehmen, in der Migrationen nicht als zu steuernde Naturabläufe erscheinen.25 Seit kurzem verlagert sich die Makroperspektive auch hin zu einer Binnenperspektive der Migration selbst: Die Geschichte der Migration aus der Perspektive der Migration zu narrativieren und auszustellen bricht nicht nur mit den hegemonialen Bildregimen, sondern eröffnet den Blick auf eine noch nicht erzählte Geschichte von kleinen und größeren Versuchen der ›Selbsteingliederung‹, von organisierten und unorganisierten, spektakulären und unspektakulären alltäglichen Kämpfen und Niederlagen; sie wirft einen Blick auf Leiden und Freuden, auf Schliche, Taktiken und Strategien, sich in Almanya ein Leben zu organisieren.26 Es ist daher hier eine Eingrenzung anzubringen. Sie besteht darin, anzunehmen, dass dieses Feld komplexer Differenzierungen von Figurationen von Migrationstypologien (›räumlich‹ [Binnenmigration, Emigration], ›zeitlich‹ [Saisonmigration, dauerhafte Migration], Motive [impelled, forced, labour], Phänomene [Kettenmigration]; die vier ›Wanderungstypen‹: ›Aus- und Übersiedlung, Arbeitsmigration, irreguläre Migration und Flucht‹) aus makro- wie mikroanalytische Außen- und Binnenperspektivierungen allenfalls aufschimmernd und funktional aufgegriffen werden können. Dazu zählen auch die daraus resultierenden soziologischen Beschreibungen und Theorien unterschiedlicher Existenzmodi von Migration. Die folgende Arbeit versteht sich insgesamt weniger als Beitrag einer (filmischen) Migrationssoziologie oder -forschung, die einen Beitrag zu einer generellen konstruktivistisch-poststrukturalistischen Einsicht leisten möchte, »dass es ohne die diversen Politiken und Versuche, sie zu steuern, zu verwalten, zu vermessen, zu bebildern und zu deuten, keine Migration gibt«27 – und Filme wären eine Akteur- und Medienachse dieser Politiken. Vielmehr ist sie eine Arbeit der Visuellen Kultur als Untersuchung 24 25 26 27
Vgl. Mecheril (2013). Karakayali und Tsianos (2007, S. 14). Hess (2013, S. 119). Hess (2013, S. 119f.).
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Die visuelle Kultur der Migration
»der visuellen Konstruktion des Sozialen«28 der Emigration. Hierin beschreibt sie die Filme und die Filmkultur eines spezifisch produktiven Filmzeitraums in der türkischen Filmgeschichte (Yeşilçam-Ära der 1970er Jahre) im Hinblick auf die filmischen Regime eines zuerst vorausgesetzten Motivs der Emigration unter Berücksichtigung von Film als »medialer Gouvernementalität«29 (▶ Kap. 9.3): mit Blick auch, Wissen über das Feld der deutsch-türkischen Migration zu generieren, das durch Dissemination in den Wissensräumen des Ausgeschlossenen der filmischen Artefakte und Künste des türkischen Kinos gelegen ist. Filmische Regime werden hier, um genau zu sein in Kapitel 0, im Unterschied zur oben genannten Perspektive eines Repräsentationsregimes30 oder ästhetischen Regimes31 eher (medien)theoretisch als von unterschiedlichen Akteur_innen und Aktanten aufgespanntes komplexes »medienkulturelles Ensemble«32 (unter anderem »technisches Ensemble«33 ) gefasst. Medien (wie Film) sind in so einer Sicht der »medialen Gouvernementalität« weniger als Apparatur oder Institution zu verstehen, sondern eher als von ihren gouvernementalen Verhältnissen her gedachtes Dispositiv34 . Das hat weitreichende Konsequenzen für einen Medienbegriff. Dann sind Medien »Effekte und Verdichtungen von zuvor offenen Möglichkeitsfeldern des Handelns«35 und damit »Regierungs-Praxis, im Führen des Führens von ›Kommunikationsbeziehungen‹ (Foucault)«. Diese Sicht auf Medien als Regierungs-Praxis hilft, »Positionen« und Interdependenzen der »Dreiecksbeziehungen aus Medien (Technik, Institutionen, Redakteure etc.), Nutzern (Rezipient, Zuschauer, Leser, Hörer, User) und Inhalten (Genres, Narrationen, Struktur des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags, Meldungen etc.)« als »fluide« zu denken (auch Produzenten der Filme sind Rezipienten ihrer eigenen Visionen und beteiligt an visuellen Ins-Bild-Setzungen, die im Vorgang des Filmdrehs sichtbar werden et cetera)36 . So kann Mediennutzung immer auch als Selbsttechnologie gedacht werden, was das Subjekt durch die »Zäsur der Medien«37 stets als »Selbst-Differenzen«38 versetzt; etwas das Skrandies in enger Anlehnung an Georg Christoph Tholen als »Medialität« versteht, als »Eröffnungsbewegung des Phänomenalen und Imaginären«39 . Dieses komplexe Verhältnis wird an kommender Stelle an einem der markantesten Beispiele des erwählten und erarbeiteten Filmkorpus und im Verhältnis zwischen dem Konzept von Subjektivität und Migration noch aufgegriffen werden (▶ Kap. 9). Obgleich mit dieser Sicht prozessphilosophisch und affekttheoretisch weitergedachte, neuere Ansätze unberücksichtigt bleiben, ist sie dahingehend sinnvoll, die Basis vorbereiten: 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). Skrandies (2014). Vgl. Hall (1997). Vgl. Rancière (2008), Sonderegger (2012). Skrandies (2014, S. 296). Vgl. Simondon (2012). Skrandies (2014, S. 296). Skrandies (2014, S. 296). Skrandies (2014, S. 297). Tholen (2002), Skrandies (2014, S. 299). Skrandies (2014, S. 299). Skrandies (2014, S. 300).
5 Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
dafür, dass in der Filmkultur zur türkisch-deutschen Migration, die Auseinandersetzungen zur Rolle des Politischen darin, noch weiterführender Auseinandersetzung bedarf (▶ Kap. 9.3.4). Doch zuvor gilt es von dieser medientheoretischen Zuspitzung, die zur visuellen Konstruktion des Sozialen im Film in einem engen Verhältnis steht (▶ Kap. 9.3), die Ereignisstruktur der Migration im Hinblick auf visuelle Verhältnisse zu beziehen, die die Struktur der weiteren Untersuchung bilden werden.
5.3.1.
Drei heuristisch gewonnene Relationsbestimmungen: Die minimale Ereignisstruktur von Emigration
Aus einem klassifikatorischen Blick heraus auf die unterschiedlichen Inhalte, die die untersuchten Filme anbieten, lassen sich einige grundlegende Relationen zwischen der Ereignisstruktur von Migration und Blickregimen feststellen. Nicht zuletzt auf die logistisch und ökonomisch schwierigen Bedingungen der Filmherstellung sind diese Figurationen in der Analyse selbst zu beziehen, birgt die Erwählung der Migrationsthematik für die Plots der Filme oftmals die Logistik und Organisation eines Auslandsdrehs, der die schwierigen Produktionsbedingungen der Produzent_innen und Regisseur_innen des spontanitätsgetriebenen Yeşilçams um ein Vielfaches ausreizt: Reiseund Unterkunftskosten, Visa-Formalia, Sprach- und Kommunikationsbarrieren, technisch-logistische Schwierigkeiten, rechtliche und andere organisatorische Hürden. Resultat ist dann, dass trotz der Erwählung der Emigration als ein Motiv in zahlreichen Yeşilçam-Filmen, die Repräsentation der Lebensweisen und -bedingungen der Emigrierten im Ausland selbst selten filmisch umgesetzt wird, gehörte die kosteneffiziente und -günstige Realisierung der Filme zu einer der zentralen Notwendigkeiten des Filmdrehs à la Yeşilçam. Ersel Kayaoğlu unterscheidet mit Blick auf diese Bedingungen der Filmproduktion zwei Kategorien von türkischen Emigrationsfilmen: Die erste Gruppe bilden jene Filme, in denen Deutschland nur implizit Schauplatz der Handlung ist […]. Bei den ermittelten 19 Filmen, in denen Deutschland auch Schauplatz der Handlung ist, lassen sich erwartungsgemäß differenziertere Darstellungsweise der Deutschland-Migration feststellen, weshalb diese in einer zweite [sic!] Gruppe zu untersuchen sind.40 Entgegen dieser Unterscheidung, die die Extensivität des Bezugs auf die türkisch-deutsche Emigration als Differenzierungs- und Analysekriterium nimmt, wird die folgende Arbeit vielmehr mit heuristischen, allerdings aus der Vorsichtung der Filme gespeisten Annahmen von Relationen zwischen einer minimalen Ereignisstruktur der Migration als Wanderung und Blickregimen41 eine drei-gliedrige Untersuchungsspur verfolgen, die noch im Zuge einer filmideologiehistorischen Auseinandersetzung um zwei weitere erweitert wird (Anwesenheit und Triplett). Sie bietet die Rahmung, innerhalb derer die Verfahren der visuellen Konstruktion der Emigration, also das Wie ihrer filmischen 40 Kayaoğlu (2012, S. 84, 91-92). 41 Vgl. Tholen (2011, S. 25f.).
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Sichtbarmachung an den Filmen untersucht wird. Diese Relationen sind nicht als starre und stabile Verhältnisse zu fassen, die die Untersuchung den Filmen aufzuzwingen versucht, sondern versteht sie als Orientierungs- und Operationsrahmen, dessen Grenzen durch die Untersuchungen immer wieder auch überschritten und moduliert wird. Sie sind keine starren induktiven Kategorien. Deswegen können viele Filme in diesen Rahmen unterschiedlich auftauchen. Als Konzept für die Gliederung der Arbeit fungiert hier konkret der Begriff der Figuration, da er die extrahierten Ereignissegmente des Gefüges der Migration angemessen zu bezeichnen scheint: Wenn Migration ein komplexes Gefüge ist (▶ Kap. 6.3), dann sind Figurationen darin ontologisch stabilisierte Zusammenhänge. Figuration meint hierbei zuallererst eine im Werden begriffene »Konstellation«42 . Wenn jemand aus den sozialen Zusammenhängen, wie der Familie oder der Gemeinde emigriert, ist er verschwunden und von den Zurückgelassenen ab dann nicht mehr in seiner leiblichen Präsenz erfahr- und wahrnehmbar: Mit dem Verlassen der sozialen Zusammenhänge, in denen er lebt(e), verbleibt allenfalls die Erinnerung an ihn. Wenn jemand emigriert, ist er weg, verschwunden aus dem vorausgehenden sozialen Gefüge der davor eingewohnten Gemeinschaft43 und allenfalls im Bereich des Imaginären erinner-, assoziier-, vorstellbar. Diese erhebliche temporäre Abwesenheit aus der Perspektive der Zurückgelassenen, verstanden als Leerstelle, ist alles andere als leer, sondern ein medialer Raum des Projektiven, in das das Imaginäre oder besser: die Imaginären einzelner Individuen oder diverser Gemeinschaften, und der Filmemacher selbst einbrechen können; die Abwesenheit einer Person aus Gemeinschaftsgefügen: eine Grundstruktur, die auch den Tod eines Subjekts in sozialen Ensembles kennzeichnet, aber doch anders gelagert ist. Der Migrant kehrt irgendwann wieder oder wird besucht; die Abwesenheit der Toten ist meist unwiderruflicher Art. Damit ist eine erste Relation zwischen Ereignisstruktur der Emigration und Visualität benannt: der Raum des Imaginären in der Abwesenheit der Migrierten. Wechselt man die Perspektive von denjenigen, die vom Emigrierten zurückgelassen wurden, bewegt man also das mobile, göttliche Auge des Blickregimes44 in der imaginären Topographie, zu der hier eingeladen wird, als eine Art Fixierung auf den Emigrierenden selbst, so ergibt sich mit diesem Perspektivwechsel gleichsam eine Mobilisierung des Blicks, die die Migration des Emigranten als Reise verfolgt, die in sich zunächst eine dreigliedrige Ereignisstruktur impliziert. 42 Zum Figurationsbegriff siehe die Ausführungen dazu in Doll und Kohns (2016, S. 9f.). 43 Als solche soziale Zusammenhänge unterscheidet der Soziologie Charles H. Cooley »primary groups […] characterized by intimate face-to-face association and cooperation. […] Perhaps the simplest way of describing this wholeness is by saying that it is a ›we‹«, Cooley (1910, S. 23). Alfred Schütz stellt heraus, dass in den »Gesichtsfeld-Beziehungen« (face-to-face relation), jener von Cooley zugeschriebene Intimitätscharakter, viele verschiedene Differenzierungen in eben jenen GesichtsfeldBeziehungen notwendig macht: »Die lebendige Gegenwart einer Frau, die wir lieben, zu teilen oder die eines Nachbarn in der U-Bahn sind gewiss sehr verschiedene Arten der Gesichtsfeld–Beziehung«, Schütz (2002b, S. 98f.). Wie noch zu sehen sein wird, konstitutieren jene Beziehungen das Soziale als visuelle Kultur, die auch Mitchell zur Einschätzung und damit als Legitimationskomponente für Studien zur visuellen Kultur motivieren wird, vgl. Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 335). 44 Vgl. Haraway (2017).
5 Methodisches: Visuelle Kultur und die Medialität des Films
Es gilt zu verstehen, dass in der Ereignisstruktur der Migration eine Potentialität eingeschrieben ist, die der begrifflichen Fassung von ›Aufbruch‹ implizit ist. In die topographische Kohärenz eines noch Verweilens oder Lebens im gewohnten Umfeld, also in die Fluidität des ›Am-Vorigen-Ort-Seins‹, in die allseits gegebene Potentialität des ›Jederzeit-Aufbrechen-Könnens‹, das dieser Normalität des Lebens (als Prozess) innewohnt45 , ›bricht‹ der Aufbruch der Migration ein. Daher gilt es diesen Bruch als Aufbruch von der Migration als Wanderung zu unterscheiden. Da diese Aufbrüche sich in den Filmen motivisch kaum zeigen, sollen sie also in den Hauptteilen auch nicht untersucht werden. Am anderen Ende der Wanderung stehen die Ankünfte, die sich mit dem Grenzübergang meist schnell verflüchtigen. Da sich die meisten Filme des türkischen Emigrationsfilms als Heimkehrfilme zeigen, gilt es dieses der Migration als Wanderung eingelassene Moment der Ankunft, das wie der Aufbruch als liminale Phase46 mit ritualisierten Handlungen begleitet wird, besonders in den Blick zu nehmen. Vergleichbar zur obigen Logik der Abwesenheit markiert die Ankunft eines Migranten ein Hinzutreten eines Menschen, der die sozialen (meist labileren, weil noch relativ frischen) Gemeinschaftsgefüge in der Ziellokalität irritiert, bereichert oder neutraler: verändert. Diese Potentialitäten verflüssigen den Aufbruchsort und den Zielort und sind, sobald aufgebrochen wurde, die Reise selbst. Dass das gesamte Genre und nahezu die ersten dreißig Jahre des deutsch-türkischen Films, dieses Hinzutreten migrierter Akteure in soziale Gemeinschaftsgefüge und weniger die anderen Ereignisformen (Abwesenheit, Aufbruch, Reise) fokussiert. Es gilt hier also zwischen den Momenten des Aufbruchs, der (An-)Reise, also der Migration selbst (der Wanderung an sich) und der Ankunft zu unterscheiden, wobei im Falle einer angekündigten Migration in vorgegebene Gemeinschaftsverhältnisse, es ein Imaginäres der Ankunft (und im Falle der Rückkehr oder Heimkehr: Wiederankunft) und der Anwesenheit geben kann. Während der Aufbruch Rituale der Verabschiedung provoziert, ist der Weg selbst in seiner entgrenzenden Wirkung und der Provokation normativer Ordnungen (nationale Grenzen, Einwanderungsgesetze), genauso wie das Verweilen am neuen Ort, eine je nach Transportmedium und Status der Migration prekäre, bedrohliche, sprich biomächtige47 Phase der Unbestimmtheit. Die Migration selbst ist zudem von Grenz- und Migrationsregimen bewohnt, aber kann durch das jeweilige Transportmittel auch relativ kurz sein. Dieses Schauspiel von der Migration als Wanderung an sich (Abwesenheit, (An-)Reise, Ankunft) bildet damit die drei Rahmungen, in denen die visuelle Kultur türkischer Emigrationsfilme in den Einzugsbereich der Untersuchung rücken wird.
45 Vgl. Meurer und Oikonomou (2009, S. 9ff.). 46 Vgl. Turner (2014). 47 Hardt und Negri (2002, S. 38f.).
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6. Figuration I: Abwesenheit und die Home Group Es gibt nicht mehr die totale Erfahrung der geliebten Person, ihrer Gesten, ihrer Art, zu gehen und zu sprechen, zu hören und die Dinge zu tun; was bleibt, sind Erinnerungen, eine Photographie, einige handschriftliche Zeilen. Diese Situation von getrennten Personen ist gewissermaßen auch die der Hinterbliebenen; ›partir, c’est mourir un peu‹. (Alfred Schütz, Der Heimkehrer1 )
Dieses Zitat stammt aus dem sozialpsychologischen Typisierungsversuch Alfred Schütz’ zum »Heimkehrer«. Darin ist für ihn der Typ des Heimkehrers »definiert als jemand, der freiwillig nach Hause kommt – nicht als einer, der nur vorübergehend zu Hause einkehrt«2 . So bezeichnet Schütz auch konkret den auf Dauer zurückkehrenden Emigranten als Beispiel eines solchen Heimkehrers, wobei er für seine Ausführungen auf das Beispiel des Veteranen zurückgreift.3 Bemerkenswert an obigem Zitat ist, dass er in seinen Überlegungen zum Heimkehrer zugleich die Situation der Daheimverbliebenen bedenkt. Neben der Berücksichtigung dieser, nennen wir es ›Doppelseitigkeit‹ der Trennungssituation, zeigt sich so an jener Textstelle dreierlei an: dass Schütz das dauerhafte Verlassen als eine »totalerfahrerische« Trennung zwischen Weggegangenem und den Verbliebenen auffasst, dass er die Zugänglichkeit zur gegangenen Person über verbliebene Dinge bedenkt und dass er mit der französischen Redewendung, Abschied nehmen sei ein stückweit sterben, das Ereignis in den Kontext von Vitalität, Zersetzung, Affektivität und Leiblichkeit setzt. Nimmt man Pascal de Duves Erweiterung dieser französischen Redewendung um »Mourir, c’est partir beaucoup«4 hinzu, wird die im Sterben schon angelegte Analogie zur Situation des Todes, die als die unwiderrufliche und extremste Form der 1 2 3 4
Schütz (2002b, S. 101). Schütz (2002b, S. 94). Schütz (2002b). Vgl. Urbain (2011, S. 17).
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Trennung erscheint, in der Formel expliziert: Der nicht nur stückweit, sondern gänzlich Verstorbene, nimmt Abschied für immer und kehrt nie mehr in das Vorhergehende heim. Doch Schütz’ Untersuchung geht weiter als die Bestimmung dieser Doppelseitigkeit der Heimkehr und ist als eine Ergänzung seiner vorangehenden Studie »Der Fremde«5 zu verstehen. Schütz’ Anliegen ist es, an Figuren wie dem Heimkehrer Bestimmungen aus sozialpsychologischer Sicht über »den Fremden«6 vorzunehmen. So ist es auch kein Zufall, dass für ihn die Figur des Immigranten »[d]as hervorragende Beispiel dieser sozialen Situation [der Fremdheit, Ö.A.]«7 ist. Generell lassen sich die beiden Studien, die sich mit dem Fremden und dem Heimkehrer befassen, als zwei Akte eines einzigen Dramas betrachten. Der Held des Dramas verläßt seine Heimwelt und lebt in der Fremde; er kehrt in seine Heimwelt zurück und erlebt diese als Fremde. Oder mit den Worten von Schütz: er verläßt seine home group und lebt in einer foreign group; er kehrt zu seiner home group zurück und erlebt diese als foreign group.8 Dieses »Drama« der »Heimkehr« findet sich in zahlreichen türkischen Emigrationsfilmen der High-Yeşilçam-Ära wieder. Genauer: Es ließe sich als Annahmen- und Vorstellungsgrund verstehen, auf dem die extensive Verhandlung der Emigration in den Filmen der High-Yeşilçam-Ära fundiert ist. Aber diese Beobachtung von der Engführung zwischen den Filmen und der sozialpsychologischen Verhandlung bedeutet nicht, die Filme lediglich als Illustrationen sozialpsychologischer Diskurse zu verstehen. Die Filme sind eigenständige Existenzmodi, die über sie konstituierende Diskursfelder insoweit hinausreichen, wie sie selbst welterzeugend9 , ontologisch10 und eher noch »ontologisch stabilisierend«11 sind. Die Heimkehr ist sicherlich eines der am häufigsten filmisch umgesetzten Ereignissegmente der Migration im türkischen Kino: sei es die späte Heimkehr eines Gastarbeiters mit deutscher Ehefrau in Refiğs Acı Zafer (»Bitterer Sieg«) (1972)12 (Abb. 10.1) oder fünfzehn Jahre später im Melodrama Alamancının Karısı (»Die Ehefrau des Deutschländers«) (1987)13 (Abb. 10.2); sei es die Persiflage eben jener immer wieder verhandelten Heimkehrszene in Davaro (1981)14 (Abb. 10.3), die Zerstörung des Heimkehrmythos in dem dekonstruktiv fungierenden Mercedes Mon Amour (1987)15 (Abb. 10.4), die unspektakuläre und stille Heimkehr des LKW-Fahrers Hasan in Ömer Kavurs Drama Amansız Yol (»Der gnadenlose Weg«) (1985)16 (Abb. 10.5), die unbestimmte Heim5 Schütz (2002a). 6 Schütz (2002a, S. 73). 7 Schütz (2002a, S. 73). 8 Waldenfels (2003, S. 182). 9 Vgl. Yacavone (2010). 10 Zu den Diskussionen von Film und Ontologie siehe Ritzer (2015) und Elsaesser (2015, S. 207ff.). 11 Vgl. Skrandies (2016). 12 Refiğ (1972). 13 Elmas (1987). 14 Tibet (1981). 15 Okan (1987). 16 Kavur (1985).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
kehr der ausgereisten Ehemänner in Dönüş (»Die Rückkehr«) (1972)17 (Abb. 10.6), Kiraz Çiçek Açıyor (»Die Kirsche blüht«) (1990)18 (Abb. 10.7), Almanya’da Bir Türk Kızı (»Ein türkisches Mädchen in Deutschland«) (1975)19 (Abb. 10.8), Güllü Kız (»Das Mädchen Güllü«) (1985)20 (Abb. 10.9) sowie Bir Umut Uğruna (»Für eine Hoffnung«) (1991)21 (Abb. 10.10) oder der ausgereisten Söhne wie in Ana Kurban Can Kurban (1976)22 (Abb. 10.11), Oğlum Osman (»Sohn Osman«) (1973)23 (Abb. 10.12). Die endgültige Heimkehr von einem mit Unwissen, Ängsten, Sehnsüchten, Hoffnungen durchsetzten Ort markiert dabei auch sehr oft den Beginn der Filme. Das Ereignis der Heimkehr ist dann inciting incident, wie es in der Drehbuchtheorie heißt: Initialereignis. Heimkehr bedeutet aber auch eine Refiguration des Heldenmythos, den der Volkskundler Joseph Campbell in seinem »Heros der tausend Gestalten«24 anhand der kulturvergleichenden Untersuchung von Volksmythen herausarbeitet. Wenn die Heimkehr des Emigranten, die im Heldenmythos eigentlich einen möglichen Endpunkt der Heldenreise markiert, stattdessen den Beginn einer Geschichte indiziert, dann lohnt es vielleicht, dieses Ende als Anfang zu betrachten: als Versuch der (Re-)Integration in die genannten heimischen Zusammenhänge, um die durch ihn selbst verursachte Destabilisierung (durch sein Wegbleiben oder sein Hinzutreten) in der Heim-/Dorfordnung wieder in Stabilität zu transformieren; so wie in Öfkenin Bedeli (»Der Preis des Zorns«) (1973)25 , in der ein Herdenbesitzer die Abwesenheit des Emigranten zu seiner Machtexpansion durch die gewaltvolle Unterdrückung der Dorfbewohner_innen und der Enteignung ihres Landes nutzt. In diese machthierarchisch instabile Ordnung ist wieder ein Regime der sozioökonomischen Gerechtigkeit einzuführen: Der Emigrant will seine Herde zurückerlangen. Ist dann zum Beispiel auch die Verheiratung, nachdem der Emigrant heimkehrt, eine Strategie der Gefahrenreduktion für einen vielleicht doch noch im ungläubigen Ausland verfremdeten Migranten. Müssen dessen ungezügelte, im Westen angestachelte Lust und sexuellen Triebe gebändigt werden? Wird deswegen aus Sicherungsgründen der Ordnung noch vor der Heimkehr des Emigranten dessen Verheiratung mit einer zukünftigen Braut organisiert: wie in Kara Toprak (»Schwarze Erde«) (1973)26 , Baldız (»Schwägerin«) (1975)27 sowie Vahşi Arzu (»Wildes Begehren«) (1972)28 ? Mit der Heimkehr bringen die Heimreisenden aber auch Unheil mit: sei es das verfluchte angesparte Geld wie in Yıkılış (»Zusammenbruch«) (1978)29 , 17 Kavur (1985). 18 Şoray (1972). 19 Seriner (1990). 20 Pekmezoğlu (1974a). 21 Alpaslan (1985). 22 Tuna (1975). Sinngemäß lässt sich der Titel nur schwer übersetzen. Kurban bedeutet wörtlich ›Opfer‹ und in Verwendungszusammenhängen, in denen es an Eigennamen angefügt wird, bedeutet es ungefähr »ich würde mich an deiner Stelle opfern; alles für dich tun«. Der Titel hieße also eigentlich, »Deine Mutter würde sich für dich opfern, Ich würde mein Leben für dich geben«. 23 Çakmaklı (1973). 24 Campbell (1999). 25 Gültekin (1975). 26 Dinler (1973). 27 Gürsu (1975). 28 Figenli (1972). 29 Baytan (1978).
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Abbildung 10.1-12 – Standbilder aus diversen türkischen Emigrationsfilmen von den 1970er bis 1990er Jahren
in dem die Familie durch eine Motorradgang ausgeraubt wird, oder wie in Yavrularım (»Meine Kinder«) (1984)30 , in dem die Mutter einer fünfköpfigen Familie nach der Heimkehr aus Deutschland an Krebs erkrankt. Manchmal ist es die deutsche Frau selbst, die das unheilvolle ›Mitbringsel‹ ist, wie in Almanya’da Bir Türk Kızı, Acı Zafer, Alamancının Karısı, die im für sie fremden Kontext kaum überlebensfähig scheint. Und manchmal ist diese deutsche Frau es, die im Anatolischen ihre Bestimmung findet, so wie in Bir Türke Gönül Verdim (»Ich gab mein Herz einem Türken«) (1969)31 und Almanyalı Yarim (»Mein_e deutsche_r Geliebte_r«) (1974)32 . Aber manchmal kommen diese ›Mitbringsel‹ auch in menschlicher Form in das Heim der Emigranten, nämlich 30 Olgaç (1984). 31 Refiğ (1969). 32 Aksoy (1974).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
als Scheinehen oder Affären um es so (unabsichtlich) in Aufruhr und durcheinander zu bringen, so wie in Alman Avratın Bacısı (»Die Schwester des deutschen Weibs«) (1990)33 oder Vahşi Arzu. Die Erzählung der Remigration stellt so in vielen Filmen überhaupt erst die Initiierung der Geschichte insofern her, als dass die Geschichten stets eine anders oder schlimmer gewordene Ordnung im Dorf/der Kleinstadt implizieren, die mit dem Emigranten eine Zuspitzung oder gar weitere Instabilität zur schlussendlichen Wiederherstellung dieser Ordnung erfährt: Die Struktur des Bewegungsbildes »Situation-Reaktion-Situation’«34 stellt das Medium der Migration und Narration an sich dar. Bewegung ist Medium von Narration und Migration. Generell dient in den narrativen, kommerziellen Filmen die Emigrationssituation als initial incident, von der ausgehend die Story überhaupt erst in Gang kommt. Insofern wie die Grundstruktur von Migration der Grundstruktur des Bewegungsbildes, SAS’35 , entspricht und insofern das narratologische Grundmuster in der Heldenreise besteht, fungiert Migration im Sinne Veränderung evozierender, grenzüberschreitender Wanderungsvorgänge als generelle Figuration für erzählerische Muster. Zurück zur Doppelseitigkeit der Emigration: Die visuelle Konstruktion der Heimkehr im türkischen Emigrationsfilm ist also eng geknüpft an die filmischen Verhandlungen der Hinterbliebenen. Dabei verhandeln High-Yeşilçam-Filme (wie der sogleich zu untersuchende Davaro) Emigration zu einer Zeit, in denen die Abwesenheit der Emigrant_innen in kommunikativer Hinsicht einer völligen Trennung aus den vorherigen Zusammenhängen zu gleichen scheint. In den 1960er und 70er Jahren lassen sich allenfalls Photographien, Briefe, Telegramme vorfinden und das Telefon ist ein selten genutztes Kommunikationsmittel. Emigrant_innen sind von ihren Familien und Freunden »daheim« getrennt und diese Trennungssituation ist aufgrund der noch gering verbreiteten beziehungsweise reduzierten Kommunikationstechnologien von stärkeren Ausmaßen beidseitiger Unwissenheit charakterisiert.36 Es verwundert allerdings nicht, dass die Souveränität der Erzählung in den filmischen Anfängen zumeist den Daheimverbliebenen aufgebürdet ist. Sie sind es, die sich in den zahlreichen Filmanfängen zeigen und die den Emigranten und dessen Rückkehr verhandeln. Die filmischen Strategien zeichnen sich aufgrund der sinnlich prekären 33 34 35 36
Avaz (1990). Deleuze (2005, S. 199). Vgl. Deleuze (2005). Zu bedenken ist hierbei, dass die Analogie von reduziert verfügbaren Kommunikationstechnologien und prekären Wissensfigurationen der von der Emigration betroffenen Figuren stetig neu bedacht werden muss (siehe auch Einleitung zum Kapitel 4), weil diese Relation von ihrer Raumzeitlichkeit her gedacht immer wieder spezifisch ist. Informations- und Kommunikationstechnologien sind dann als Veränderungen an der Medialität der Welt selbst zu verstehen, in denen der »zeitbasierte Kontakt« zwischen »Selbst und Anderen« mit jeder Veränderung im medientechnischen Gefüge eine neue Relationalität von »Selbst und Anderem« auch im Hinblick auf ihre gegenseitige Konstitution produziert: »Der epistemische, aisthetische und kulturelle Raum, in dem der Kontakt von Selbst und Anderem sich mediatisiert ereignet, muss demnach unablässig aktualisiert und neu entworfen werden, da die Virtualität seine ›Realität‹ ebenso zweifelhaft, wie die gewohnten sinnlichen Erfahrungen vom Anderen, der auch ein erinnertes Selbst sein kann, flüchtig werden lässt«, Skrandies (2003, S. 380-383, hier 380).
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Trennungssituation in vielen Szenen auch weniger durch die Erzeugung einer Vorhandenheit der Figur des Emigranten im Bildraum aus. In Verbindung mit den filmästhetischen Spezifika ist allerdings eine besondere Konfiguration gegeben: Die Doppelseitigkeit in der Emigrationssituation, welche die raumzeitliche Trennung zwischen Emigrant und Hinterbliebenen voraussetzt, trifft auf die Absenzdimension, welche die mediale Eigenlogik des Filmischen auszeichnet. Absenz bleibt als Konzept in der Filmwissenschaft ein umfassend erarbeitetes Feld37 , weil sie gar konstitutiv für die mediale Eigenlogik des Filmischen verbleibt, so wie die auf dem Absenzprinzip basierende Suture-Theorie oder andere Absenzaspekte38 . Multidimensionalen Absenzverhältnissen im Kontext von Migration ist filmwissenschaftlich allerdings relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden, beispielsweise eben solchen, die sich durch die topographische Abwesenheit von Figuren in der Diegese und dem Bildraum kennzeichnen, oder die die Gleichzeitigkeit von im Bildraum präsenten Figuren bedenken, die Absentes in ihren sozialen wie individuellen Interaktionen verhandeln.39 Nimmt man die konstitutive Evokationskraft des Absenten für Prozesse des Vorstellens hinzu, fällt das Forschungsdefizit umso schwerwiegender aus.40 Diese hier idealistische Aufteilung von Anwesenheit und Abwesenheit spezifiziert sich in den Filmen je individuell und lässt sich nur unter der Unterdrückung jener Ambiguitäten als solche aufrechterhalten, die die Filmwahrnehmung und -rezeption auszeichnet. Die Analyse wird daher an den zuerst vorausgesetzten filmerzählerischen Strategien entlang der filmmedialen wie -ästhetischen Spezifika folgen. So wird sich zeigen, wie die Filme nicht nur an der Reproduktion des Wissens über Emigration partizipieren, sondern sie »ontologisch stabilisierend« erzeugen. Weil das Filmmediale durch jene Kategorien von Präsenz und Absenz auf spezifische Art und Weise gekennzeichnet ist, korrespondiert mit dem Bewegungsmodus von Migration, die auf einer gleichen Dynamik von An- und Abwesenheit basiert, das Filmische mit dem Migrantischen. Nina Heiß hat diese Doppelseitigkeit des Filmmedialen, das sich nicht im Präsentismus erschöpft, so formuliert: Anstatt Film als präsentische Evokation des Dargestellten zu verstehen, verlagert sich die Aufmerksamkeit auf genau jene Momente, welche der klassische Film zu verschleiern sucht: die Absenz, die Auslassung, die Leerstelle. Bezeichnenderweise sind dies zugleich die Momente, welche Film zuallererst ermöglichen. Film ist nur als Dialektik von An- und Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Blicken und Angeblickt werden adäquat beschrieben. Damit wird auch die fundamentale Opposition zwischen dem realistischen und dem imaginären Modus filmischen Erzählens hinfällig, wie sie in der Frühgeschichte des Films von den Brüdern Lumière bzw. von Georges 37 Schon im Eingang ist hier festzuhalten, dass mit Absenz und Präsenz als zentrale Register auf philosophisch komplex und immens diskutierte Konzepte rekurriert wird, deren historische Rückvergewisserung hier nicht zu leisten sein kann. 38 Vgl. zum Beispiel Burch (1981) beziehungsweise die Onlinelexikoneinträge Kruse (2012), Amann (2012) oder auch Heiß (2017). 39 Eine differenzierte Auseinandersetzung findet sich zum Beispiel in Rabe-Adachi (2011). 40 Vgl. Hanich (2014, S. 155), Curtis (2008).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
Méliès verkörpert wurde. Beide Möglichkeiten bleiben konstitutiv auf das dem Film grundsätzlich eigene Kippspiel von Prä- und Absenz angewiesen.41 Im Forschungskontext zum ›deutsch-türkischen Kino‹ trifft man noch häufig auf die Abwesenheit solcher medientheoretischen Reflexionen zum Filmischen. Gerade deswegen können sich Identitätsdiskurse besonders intensiv aufdrängen (▶ Kap. 2). Dass aber selbst noch solche Identitätsdiskurse, die auf Filmen als Repräsentationsmedien aufbauen, fehlen, liegt in den Forschungsdefiziten im Feld begründet. Dass in den filmischen Erzählungen zum Beispiel die Daheimverbliebenen als Verwalter_innen einer islamischen oder turkisierten Identität angelegt werden, die dann einem verwestlichen Emigranten gegenüberstehen, legt dahingehend eigentlich die Anwendung imagologischer oder xenologischer Ansätze zur Herausarbeitung eben jener Repräsentationsstrategien nahe, die Verwestlichung als Bedrohung für das Eigene behaupten. Eine dezidiert filmwissenschaftliche Anwendung imagologischer Untersuchungsfragen bleibt bislang noch relativ ungedacht.42 Doch besonders in der türkischen Filmwissenschaft finden sich dahingehend zahlreiche Publikationen wie zum Beispiel Giovanni Scognamillos Arbeit zum Bild der Türken im europäischen Film, die Repräsentation von gayrimüslims (osmanisch für »Nicht-Muslime) im türkischen Film usw., die das darin entworfene Bild wieder auf die Bildprojizierenden im Sinne eines Alteritätsverständnisses auf sie zurückwerfen. Doch rein repräsentationslogisch und eher in ›Einzelmedien‹ untersuchende Arbeiten bleiben auch für Birgit Neumann besonders reduktiv. Für sie gehen solche [i]magologische[n] Ansätze […] davon aus, dass hinter jedem Fremdbild zumindest eine implizite Selbstcharakterisierung derjenigen Nation steckt, die diese Bilder generiert und in Umlauf bringt. Diese Dialektik hängt, so die gängige Erklärung, damit zusammen, dass ›Fremdheit‹ keine objektive Eigenschaft ist, sondern eine relationale Kategorie, die ein komplexes Beziehungsgefüge impliziert. Erst die kontrastive Abgrenzung von einem Anderen stellt demnach die Bedingung für die Möglichkeit des Eigenen her.43 Mit dem Westen als über die Nation hinausweisendes Fremdbild, auf das die Filme zurückgreifen, bedürfte es ausgehend von der hier vertretenen Imagologie einer Konzeptmodulation. Denn der Westen (Okzident) ist keine Nation, sondern wie der Orient ein Nationen übergreifendes Konzept. Doch weniger diese Reduktion auf die Nation ist verantwortlich für die Begrenztheit des imagologischen Ansatzes: Während sich in Literatur- und Kulturwissenschaften die Einsicht durchgesetzt hat, dass normatives und formatives Wissen stets im intermedialen Verbund generiert wird und auf fortlaufende, offene Prozesse der intermedialen Um-, Ein- und Überschreibungen angewiesen ist, konzipiert die Imagologie Stereotype vornehmlich als bloße Wiederholung bestehender Selbst- und Fremdbilder und konzentriert sich bei ihren Analysen häufig auf Einzeltextuntersuchungen. Nationale Stereotypisierung als 41 Heiß (2017). 42 Vgl. von Harpen (2013). 43 Neumann (2010, S. 2).
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monomedialen Vorgang kann es aber nicht geben, da die Prozesse der Ratifizierung und Dissemination des kulturellen Wissens über Eigenes und Fremdes auf fortlaufende intermediale ›Rekursivität‹, d.h. auf intermediale Übersetzungsprozesse angewiesen sind.44 Mit neueren medientheoretischen Ansätzen kann diese Argumentation mit Verweis auf viel mikroprozessualere Wissensproduktionsnetzwerke und damit auf Erweiterungen des Medienbegriffs und der Komplexität von Medialität im Allgemeinen differenziert werden.45 Neumanns Argument lässt sich damit mindestens auch auf Wissen um bestimmte soziokulturelle Zusammenhänge übertragen, in denen das kulturelle Wissen über die Anderen und Fremden zur Konstitution des Eigenen über alteritäre Dynamiken rassistisch fungiert – hier im konkreten Fall der Emigrationsfilme über die Konstruktion unter anderem des (Vorstellung-)Bildes von der ungläubigen, verführerischen, deutschen Blondine, die als Stereotype erzeugt wird46 . So ist auch das kulturelle Wissen über die aus der Türkei nach Deutschland ausreisenden Migrant_innen nicht allein durch die Untersuchung in den Filmen rekonstruierbar, sondern erst eine Untersuchung der vielfältigen Akteur-Netzwerke (als Erweiterung der Vorstellung einer intermedialen »Rekursivität« [Neumann]) liefert ein Bild vom Ausmaß der Konstruktion, durch das ein Stereotyp entsteht. Wenn mit Halls wirkmächtiger Untersuchung zum »Spektakel der Anderen«47 zur rassistischen Konstruktion von schwarzen Menschen über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren und zahlreicher medienübergreifender Rekursionen eine prototypische Herangehensweise als Exempel benannt ist, so bleibt Neumanns Herangehensweise jener von Hall so kongenial angelegten inter- und transmedialen Berücksichtigung der Konstitutionsprozesse kulturellen Wissens verpflichtet. Einem solchen Wissen kann die vorliegende Untersuchung aufgrund der bestehenden Forschungsdesiderate nur in äußerst begrenztem Maße nachgehen. Auch visualitätshistorische Bezüge beispielsweise zum visual othering der so genannten ›Deutschländer48 als »Migrationsanderen«49 können aufgrund bestehender Forschungsdefizite im vorliegenden Kapitel nicht geleistet werden. Doch selbst wenn Bezüge hergestellt würden, dann nicht deshalb um die filmische Realisierung jener visuellen Qualitäten in den Filmen nachzugehen, Filme also als rein repräsentative Medien zu verstehen, sondern um auf die medialen Verschränkungen, oder um auf das »weit verzweigte[] Netzwerk intermedialer Bezüge« verweisen zu können, in die die Stereotypen »eingebettet«50 sind. Bevor ich nun mit den Analysen der Abwesenheitssequenzen in den Filmen fortfahre, möchte ich hier den Aufbau des Kapitels wiedergeben: Zunächst werde ich an einem 44 Neumann (2010, S. 3). 45 Neumann selbst entwirft in jenem Aufsatz eine kulturhistorisch sensible Imagologie, die einem Verständnis von Medien als Repräsentationsmedien verpflichtet bleibt. 46 Vgl. Kayaoğlu (2011). 47 Hall (2004a). 48 Alamancı (aus dem Türkischen Almanya = »Deutschland«) ist der türkische Begriff für das Wort ›Deutschländer‹, mit dem zumeist abwertend Emigrant_innen bezeichnet werden, die nach Deutschland ausgereist sind. 49 Vgl. Castro Varela und Mecheril (2010). 50 Neumann (2010, S. 5).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
paradigmatischen Dorffilm, der den Heimkehr-Topos des Remigranten parodiert, herausstellen, wie überhaupt die so genannte home group filmisch produziert wird. Die Hauptthese ist, dass dies entlang der Quasi-Sozialität heterosexuell-soziohierarchischer und damit entlang sozionormativer Muster geschieht. Durch die Analyse auch entlang intermodal-ästhetischer Gestaltungsweisen der Szene wird zugleich auch die Verschränkung der visuellen Konstruktion und der Produktion (im Sinne von »ontologischer Stabilisierung«51 ) der home group aufgezeigt werden. Damit demonstriert die Untersuchung an jenem dezidierten Beispiel, wie eine Gruppe von Menschen innerhalb eines spezifischen sozialen Gefüges filmisch sichtbar gemacht wird. Der zweite Teil des Kapitels rekapituliert kurz die Genrehistorie des türkischen Dorffilms und untersucht eine besondere Abwesenheitssequenz im Dorffilm Kara Toprak – das ist mein terminus technicus in der Untersuchung von Migrationsfilmen. Unter dem Begriff ›Abwesenheitssequenzen‹ verstehe ich solche Sequenzen, die sich in ihrer Gestaltetheit als klassisch-erzählerische Bewegungsbilder52 durch die leibliche Abwesenheit der migrierten Figur innerhalb entheimatlichter Gefüge auszeichnen. Den Voraussetzungsreichtum dieser Konstruktion (leibliche Abwesenheit ist eine ungemein komplexe Ereignisform, so wie die Behauptung der Existenz eines entheimatlichten Gefüges) erörtere ich im Laufe des Kapitels. Die Abwesenheitssequenz im Film Kara Toprak etabliert nun die Eltern des Emigrierten in einer heimischen Szene – und zwar so, dass sie den Emigrierten umfassend im Dialog verhandeln. Durch die Diskursproduktion im Dialog der Eltern und ihrer Verknüpfung in der visuellen Konstruktion des Filmausschnitts zeigt die Analyse der Szene auf, wie Abwesenheitssequenzen zugleich die darin handelnden Akteur_innen, den Emigrierten (photographisch-visuell, sprachlich-diskursiv) und die Diskurse vielfältig herstellen. Im Kapitel nutze ich zugleich die Gelegenheit, kulturtheoretische Kontextualisierungen für die von den Eltern verhandelten Diskurse zu liefern. Die letzte Analyse im Kapitel erarbeitet an der visuellen Konstruktion der Abwesenheitssequenz eines ideologiehistorisch bedeutsamen Films, Oğlum Osman, die Rolle von Erinnerung, Tele- und Pseudopräsenz sowie Migration. Ziel ist es, diese Elemente zugleich an die ideologische Rolle der Filmprogrammatik rückzubinden, innerhalb der der Film entstanden ist und die er zugleich zu reproduzieren versucht. So greift das Kapitel zugleich das letzte Kapitel zu den beiden Nationalen Filmprogrammatiken der Türkei vor und stellt die Verknüpfung eines ideologischen Programms namens Konservatismus und Migration heraus. Bevor ich zu den konkreten Analysen komme, werde ich jedoch kurz einige Vorwegnahmen liefern, die die Kapitel einzuordnen helfen.
6.1.
Einige Vorwegnahmen
Mit Verhandlungen der Absenz der Emigrant_innen werden in einigen Emigrationsfilmen Fragen danach aufgeworfen, ob die Emigrant_innen in ihrer Anwesenheit in Deutschland den sündhaften Versuchungen einer lasziven, unislamischen Lebensweise 51 Skrandies (2016). 52 Deleuze (2005).
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und den Verführungen einer freizügigen, modernen, westlichen Umwelt widerstehen konnten. Interessant dabei sind besonders die Filme Kara Toprak (1973), Oğlum Osman (1973), Almanya’da Bir Türk Kızı (1974), Baldız (1975) sowie einige Late-YeşilçamFilme wie Bir Umut Uğruna (1991). In diesen Filmen spielen die Figuren, die den Emigranten diskursiv verhandeln – sehr häufig sind das die Eltern, die Zukünftige, die Ehefrau und/oder auch das gesamte Dorf – Optionen einer möglichen Anderswerdung durch. Manchmal lassen sie in ihren artikulierten Vorstellungen auch Möglichkeiten einer Widerstandsfähigkeit des Emigranten gegenüber den westlichen Versuchungen zu.53 Die Dispositionen dieser Heimatfiguren sind so häufig als okzidentalistische angelegt. Denn dadurch, dass die Figuren als solche dargestellt werden, die die Emigration als potenzielle Verwestlichungs- oder Entfremdungsgefahr evaluieren, stellen sich Rückbezuge auf Diskurse her, in denen der ›ungläubige‹ Westen zur Aufwertung des türkisch-islamischen Eigenen abgewertet wird. Mit Okzidentalismus beziehe ich mich hier nicht auf den Begriff, wie ihn Gabriele Dietze et al. verstehen als »Ethnozentrismus des Westens«54 . Hier benutze ich ihn im Sinne der Konzeptualisierung von Ian Buruma und Avishai Margalit55 und damit in einer parallelen alteritären Dynamik des Said’schen Orientalismuskonzepts, das den Westen zur Selbstaufwertung des Eigenen konstruiert und mit Projektionen versieht. Dass die Parallelität der Konstruktion durchaus schwierig ist und nur unter der Ausblendung des Mächteungleichgewichts zwischen Westen und Anderen zu behaupten ist, wird nochmal reflektiert werden, genauso wie sich mit Meltem Ahıskas Konzeption des Begriffs für den Fall der Türkei sich das Konzept des Okzidentalismus56 nochmal spezifizieren wird. In den Filmen sind also Konstellationen der Absenz der Emigrant_innen und ihre Rückkehr spezifisch angelegt. Häufig wird der Emigrant vor dessen Ankunft im Film verhandelt (sprachlich durch Dialoge, visuell zum Beispiel durch Photographien in den Szenen). Die filmischen Konstruktionen antizipieren dabei eine Kluft oder Übereinstimmung zwischen vorgängiger Erwartung auf Seiten der Wartenden und dem Status des zurückgekehrten Emigranten. Die Konstruktionen auf intradiegetischer Ebene des Emigranten in seiner Absenz und die Deckungs(un-)gleichheit zwischen der darin sich anzeigenden Erwartung und den sich nach der Ankunft zeigenden charakterlichen Disposition ergeben damit Wissensmodulationen auf Seiten der Zuschauer_innen, die mögliche Deutungsrichtungen eröffnen. Zwei Deutungsangebote werden in dem Verhältnis zwischen Vorkonstruktion des Emigranten und der Sichtbarmachung seiner charakterlichen Disposition nach Ankunft besonders offensichtlich: (a) Wird der Emigrant als verändert Zurückkehrender gezeigt, dann häufig so, dass die Filme erzählen, dass er eine vorherige »türkisch-islamische Identität« zugunsten einer anderen, fremden, konkret: westlich-modernen und damit zum Eigenen konträr betrachteten (okzidentalistisch) abgelegt habe. Diese Veränderung soll durch die Kleidung indiziert oder durch eine erst schrittweise Offenbarung der Handlungen der Figur, die islamisch53 Im Hinblick auf die Unterscheidung von »Fremdheit vs. Andersheit«, siehe das gleichnamige Unterkapitel in Waldenfels (2006, S. 112-115). 54 Dietze et al. (2009). 55 Buruma et al. (2005). 56 Vgl. Ahıska (2008).
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traditionellen Werten widersprechen (unehelicher Sex, Alkohol, Vernachlässigung religiöser oder traditioneller Pflichten; siehe besonders Untersuchung zu Oğlum Osman), im Sinne eines visual othering (siehe Kapitel 6.5) sichtbar gemacht werden.57 (b) Ist der Emigrant als Nicht-Verwestlichter wieder zurück, so legt die Erzählung die Vorstellung eines erstarkten nationalen, wertetreuen und/oder religiösen Bewusstseins bei ihm nahe; wer den verführerischen Versuchungen des Westens widersteht, hat es ›geschafft‹. Denn im Islam wird »nicht die Unterdrückung der Triebe gefordert, sondern ihre Meisterung«58 . Wenn die jeweiligen Sequenzen, oft durch ihre alternierend syntagmatische Anlage, Szenen der Anreise des Emigranten inhärieren, dann vereindeutigt oder verkompliziert sich dieses Wechselspiel zwischen vorausgehender Antizipation in den Erwartungen der Heimischen und der charakterlichen Disposition des zurückgekehrten Emigranten. In Kara Toprak (»Schwarze Erde«) (1973)59 beispielsweise sprechen die Eltern besorgt über eine mögliche Verwestlichung ihres emigrierten Sohnes, aber auch zuversichtlich über seinen sozialen Aufstieg. Da die Szenen durch eine Parallelmontage gekennzeichnet sind (»alternierend syntagmatisch«), Szenen inkludiert, die den Emigranten als Auto fahrenden, äußerlich anders gewordenen Deutschländer zeigen, bleibt unklar, inwieweit die Eltern mit ihren Ängsten um seine Verfremdung richtig liegen: denn die Szenen von den äußerlichen Veränderungen des Emigranten legen eine auch innere Fremdwerdung nahe, bleiben aber nicht eindeutig markiert. Der abwesende Emigrant hat seine Eltern in der Heimat zurückgelassen. Dabei ist er zumeist entweder verheiratet oder bereits jemandem versprochen. Diese noch heute gängige Praxis der Vernunftheirat, die schon im deutsch-türkischen Kino zur Herstellung einer abwertenden kulturellen Alterität herangezogen wurde, wird vom Emigranten entweder resignativ toleriert (Baldız, Kara Toprak) oder zurückgewiesen (Oğlum Osman). In Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) ist der Emigrant verheiratet und bringt gar seine deutsche Freundin mit in die Heimat. Die Befürchtungen der Erwartenden explizieren sich dabei häufig in den Äußerungen der Figuren, die als koproduktive Ensembles von Sag- und Sichtbarkeiten die Erwartungen und Imaginationen von Zuschauer_innen modulieren. Eine solche Modulation kann sich auch als Auseinanderklaffen von Erwartungen und Vorstellungen zeigen. Der nachfolgende zu untersuchende Film, der schon über das Ende der hier untersuchten Dekade hinaus entstanden ist (1981), aber gerade deswegen paradigmatische Qualitäten besitzt, parodiert nicht nur den Heimkehr-Topos, sondern figuriert die Wissenslage der Akteur_innen innerhalb des sozialen Gefüges der Migration auf eine solche Weise, dass immense Diskrepanzen zwischen Erwartenden und Heimkehrer entstehen. 57 Vgl. auch Alkın (2016d). 58 Vgl. Schiffauer (1983, S. 86). 59 Dinler (1973).
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6.2.
Abwesenheitssequenz I: Davaro (1981) – Die Produktion der home group
Nicht nur okzidentalistische Haltungen der Figuren finden sich in den Absenzsequenzen: Auf intradiegetischer Ebene wird die Rückkehr des Emigranten oft auch in freudiger Aufregung auf Seiten der Heimatfiguren erwartet oder es wird ein feierlicher Empfang vorbereitet, besonders dann, wenn die Annahme des sozioökonomischen Aufstiegs besteht. Die Rückkehr des Emigranten kündigt sich dann meist mit eigenem Auto an – für damalige Verhältnisse symbolisiert das einen sozioökonomischen Aufstieg und für die 1970er bis 80er Jahre enorme wirtschaftliche Kaufkraft. Dieser sozioökonomische Aufstieg wird dann eingebunden in Emanzipationsgeschichten der Dörfler_innen, in denen der Emigrant die Schulden der Dorfbewohner_innen gegenüber einem despotischen ağa (›Großgrundbesitzer‹, ›Feudalherr‹) tilgt und sie dadurch aus der Lehensherrschaft befreit. Diese dem Emigranten zugesprochene phantasmatische Überhöhung wird in Davaro aufgegriffen und ironisch gebrochen. Der Herausarbeitung dieser weniger alteritären Konstellation widmen sich die nachfolgenden Ausführungen. Mit seiner besonderen Weise des Aufgreifens der Heimkehr, die die vorhergehenden Emigrationsfilme parodiert, bereitet die Analyse der Sequenz in → Davaro aufgrund ihrer intertextuellen Vorsättigung der anderen Filme und Heimkehrdiskurse den Verstehenshintergrund für die weiteren Fallbeispiele.
6.2.1.
Filmanalytische Beschreibung – Davaro
Der hier zu untersuchende türkische Komödienklassiker Davaro (1981) ist ein relativ später High-Yeşilçam-Film, der die Rückkehr des Emigranten in seine home group erzählt, aber zugleich im Bewusstsein von Yeşilçam-erfahrenen Zuschauer_innen aufgrund der prominenten Besetzung mit Arzu Film-Schauspieler_innen nahezu ikonische Qualität besitzt. Eigentlich ist er Post-Yeşilçam-Kino insofern, als dass er nach dem coup d’etat 1980 entstand und so zu jener Riege von Filmen gehört, denen im Zuge der Apolitisierung der türkischen Gesellschaft durch das Militärregime des Putsches eine Beteiligungsleistung zugesprochen wird: Aufgrund ihrer humoristischen Machart und De-Thematisierung politischer Wirklichkeiten hätten sie eine diskursiv explizite Gesellschaftskritik unterminiert und in ihrer humoristischen Grundhaltungen der Umsetzung einer apolitischen Sphäre produktiv zugearbeitet60 : eine Einschätzung, die ich mitnichten teile, insofern sich gerade auf der mikropolitischen Ebene die Filme als immens politisch geben. Der Film, der in einer langen Reihe von bis heute erfolgreich im Fernsehen und dem Internet ausgestrahlten Komödien des türkischen Starkomödianten Kemal Sunal und der Parodie des Dorf- wie Arabeskfilms zu verorten wäre, widmet sich satirisch dem Thema der Blutfehde, um darüber eine Emanzipationsgeschichte eines dörfischen Außenseiters aus den sozialen Zwängen und den kulturellen Traditionen zu erzählen. Die Eingangssequenz zeigt genau jenes Ereignis der Heimkehr eines Emigranten, das 60 Vgl. Kara (2012).
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Abbildung 11.1-28 – Standbilder aus Einstiegssequenz von Davaro (1981)
Schütz – allerdings weniger krisenhaft – beschreibt. Es ist diese Sequenz, die im Folgenden zunächst filmanalytisch beschrieben und dann in den größeren Kontext des Kapitels eingeordnet wird: In halbnaher Einstellungsgröße sehen wir eine ältere Frau mit Kopfband und weißem Tuch, den Indikatoren für eine südostanatolische Bekleidungsweise (Abb. 11.1). Sie macht sich im kleinen Standspiegel auf der Kommode zurecht, richtet ihr Kopfband.
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Eine Flasche mit kolonya (»Eau de Cologne«) steht links vor dem Spiegel. Alles ist Teil eines Frisiertischs a la Anatolia (Abb. 11.2). Aus dem Off sind davul und zurna zu hören – Instrumente die gemeinsam von Trommlern und Trötern zu feierlichen Gelegenheiten wie Hochzeiten gespielt werden. Der hastige Zoom-Out lässt nun ein weißes, spärliches Zimmer erkennen. Eine Schwarzweißphotographie, die das Porträt eines älteren Herrn zeigt, hängt über dem Kommodenspiegel. Rechts an der Wand daneben, hängt ein Gewehr. Tücher mit arabesk anmutenden Mustern bedecken die Truhen und Möbel im Zimmer. Verträumt und mit einem Aufstöhnen, das Sehnsucht vermittelt, blickt die Frau auf die Photographie ihres verstorbenen Ehemannes (Abb. 11.2). Die Zuschauer_innen werden so in ein elterliches Heim eingeführt, das das Ableben des Vaters und die Erwartungshaltung der Mutter anzeigt. Der Emigrant ist abwesend, doch seine Ankunft wird erwartet. Kurz darauf klopft es an der Tür. Die ältere, rundliche Frau tritt wissend, dass ihr Sohn heimkehren wird, heraus und eine junge Frau küsst sofort die Hand ihrer künftigen Schwiegermutter. Dass sie das ist, wissen die Zuschauer_innen jetzt, denn beglückt wird die junge Frau als »Meine Braut« begrüßt (Abb. 11.3). Der Vater der jungen Frau, der ebenfalls vor der Tür steht, gibt Worte von sich, die erklären, warum alle so glücklich sind: »Oğlun geliyi«, »Dein Sohn kommt«. Kaum sind diese Worte gesprochen, zeigen sich im Vordergrund weitere Menschen. Aus dem Off hören wir weitere beglückwünschende Zusprachen. Die große Menschenmenge folgt nun der Mutter (Abb. 11.4). Ein Schwenk von den Füßen auf die Mutter eröffnet die nächste Einstellung (Abb. 11.5), in der sie sodann verlautbart: »Mein Sohn kehrt aus Deutschland zurück, die Feinde mögen blau werden vor Neid« (Abb. 11.6): Zoom mit Schwenk von der stolzierenden Mutter und der hinter ihr hergehenden Menge auf eine Frau, die erzürnt am Fenster die Vorhänge zuzieht (den Grund dafür erfahren wir erst später) (Abb. 11.7). Nun ist klar: Der Emigrantensohn kehrt ins Dorf heim und die Frau mit rundlicher Phsyiognomie ist die Mutter des ›Deutschländers‹, die samt Schwiegertochter, Vater der Braut und Dorf im Nacken voranschreitet. Schnitt auf: In einer Halbnahen zeigt die Kamera ein Fenster, in dessen Spiegelung zuerst die von der Mutter des Emigranten angeführte und dann eine auf Stühlen sitzende Menge zu sehen ist (Abb. 11.8). Mit dem Zoom-Out und Schwenk auf den Dorfplatz sehen wir nun, wie die große Menschenmenge, die vorhin noch in der Spiegelung zu sehen war, vor dem Teehaus aufsteht und sich der vorbeiziehenden Menge anschließt (Abb. 11.9). Fast das gesamte Dorf geht nun den Dorfweg hinauf und auch Trommler und Tröter schließen sich ihr an, während Emigrantenmutter und künftiger Schwiegervater abermals voller Stolz verkünden, dass ihr »Sohn«, ihr »Schwiegersohn« kommt (Abb. 11.10). Schnitt auf: Eine Nahe: Ein Schaf liegt auf dem Boden, hinter ihm im Schneidersitz ein Hirte, es festhaltend und jederzeit bereit es zu schächten (Abb. 11.11). Zoom-Out: Die Männer der Dorfmenge stehen nun im Halbkreis. Eine Halbtotale zeigt uns, dass auch Trommler und Tröter noch anwesend sind (Abb. 10.12). Ein Lehrer, links im Bild weist die Kinder zurecht, sie sollen in einer Reihe stehen. Der Schwiegervater setzt zum Sprechen an: »Nun hört mir genau zu. Kennt ihr den Mercedes gut?« Zustimmende Antworten. Sich dem Trommler widmend: »Sobald du den Mercedes siehst, musst du die Trommel rumpeln lassen.« »Und du«, sich an den Tröter wendend, »puste die zurna [Tröte] so,
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ohne dass sie klirrt. Und du [zum Schafschächter], sobald Memo seinen Fuß auf den Boden setzt, schneid’ das Lamm. Dass ihr wisst: der, der kommt ist ein Geschenk des Himmels. [Tanzend] Die deutschen Mark kommen, die Mark!« Schnitt auf: Eine Nahe zeigt eine Polaroidphotographie, auf der ein Mann im Anzug mit Hut mit Krempe vor einen Mercedes gelehnt steht (Abb. 11.13). Eine Gruppe von vier Frauen mit Kopftuch, die am Brückengeländer stehen, blickt das Photo an. »Sieh, wie schick der Mercedes«. »Und wenn der Memo erst da ist, sofort die Trauung nächste Woche, stimmt’s?«. »So einen wie Memo findet man schwer, du hast Glück gehabt« (Abb. 11.14). Schwenk auf die Mutter: »Mutter Salo, auch dir Glückwunsch. Dein Memo kommt«. »Es ist nicht leicht. Seit drei Jahren ist er in Deutschland. Die Sehnsucht nach ihm schwirrt vor meiner Nase. Er möge nun endlich kommen« (Abb. 11.15). Schnitt auf: Nahaufnahme vierer Gesichter hintereinander: zuerst der Schwiegervater (Abb. 11.16), dann der Dorfimam (Abb. 11.17), der Dorflehrer (Abb. 11.18) und zuletzt der Hirte (Abb. 11.19), und alle äußern sie ihre Hoffnungen über den Emigranten. Er soll mit seinen Mark die Aufwendungen des Dorfes übernehmen: die Kosten für die kaputten Dorfwege, die Aufwendungen der Moschee, das Dach der Schule und die Schulden der Dorfbewohner_innen an den ağa, den Großgrundbesitzer. Die nachfolgenden Einstellungen zeigen, dass der Emigrant Memo keine ihrer Hoffnungen wird erfüllen können: Statt eines Autos – und an der wartenden Dorfmenge fahren sogar binnen kurzer Zeit zwei vorbei (Abb. 11.21-23) – kommt Memo mit einer modrigen Holzkutsche an (Abb. 11.25). Seine Erklärung offenbart: Das auf der Photographie sichtbare Auto, vor dem er sich ablichten ließ, gehöre seinem Freund und in der drei Jahre andauernden illegalen Emigrationssituation habe er sich gerade einmal das başlık parası61 (wörtlich ›Kopfgeld‹, besser: ›Brautpreis‹’62 ) für seine Zukünftige, Cano, ansparen können. Als der potentielle Schwiegervater samt Tochter enttäuscht die in Halbtotale aufgenommene Szenerie verlässt, schließt sich ihm auch der Rest des Dorfs an (Abb. 11.27). Memo und Mutter Salo bleiben alleine zurück (Abb. 11.28). Die Sequenz aus Davaro erzählt, dass der Auswanderer Memo sich seit drei Jahren nicht mehr in den vormaligen sozialen Zusammenhängen befindet und zeigt die in der Heimat Verbliebenen als solche, die konkrete Erwartungen an den Emigranten entwickelt haben. Die Abwesenheit des Emigranten aus der Perspektive der Zurückgelassenen bietet damit Gelegenheit für die Entstehung von Vorstellungen, Annahmen und Hoffnungen. So legt der Film die Figuren so an, dass sie ihn vor dessen Ankunft auf vielfältige Weisen – hier insbesondere im sprachlichen Austausch – verhandeln. Besonders auffällig ist, dass der Emigrant in Davaro sich kaum den möglichen Vorannahmen der home group nach einer Veränderung durch die Migration fügt: Er ist weder wohlhabend, noch ein Fremder, Städter, Europäer und/oder Ungläubiger geworden. Seine Veränderung findet sich allenfalls im Äußeren und in der Aneignung der finanziellen Mittel, die er sich zur Heirat mit Cano erarbeitet hat, nicht aber auf der Status- (reich) oder Werteebene (›turkisiert‹, ›verwestlicht‹). Wie aber wird die home 61 Ließe sich auch als Mitgift bezeichnen. Die hier präferierte wörtliche Übersetzung für das Geld, das der Bräutigam oder dessen Familie an den Vater der Braut zu zahlen hat, will er sich mit dessen Tochter verheiraten, hat nichts mit dem deutschen ›Kopfgeld‹ zu tun. 62 Vgl. Yazgan (2014).
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group filmisch erzeugt? Und lässt sich der Emigrant als solcher überhaupt ohne die Berücksichtigung der Relationalität zu ihr angemessen verstehen?
6.2.2.
Die Entfaltung der home group in Davaro
Mit seiner humoristischen Tonalität, seiner raffiniert entwickelten Dramaturgie und seinem Timing lässt sich Davaro als parodistische Verhandlung jener Emigrationsfilme und Diskurse verstehen, die ihm vorausgehen; denn der Emigrant der Emigrationsfilme des High-Yeşilçam-Kinos wird häufig als Sohn einer dörflich situierten heteronormativen Familiarität repräsentiert. Das »Drama der Heimkehr«63 , das die frühen Emigrationsfilme auszeichnet, findet damit in Davaro mit dem Auseinanderklaffen des Angenommenen (home group) und des Vorhandenen (Emigrant) und der diffizil angelegten Erwartungsdramaturgie seine parodistische Wendung. Die Anfangssequenz von Davaro dekonstruiert mit der Etablierung der Dorfgemeinschaft als ex- und inklusionsmächtige Instanz die soziale Realität der Erwartungen, die damals an die Ausreise der so genannten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland geschürt wurden. Während der Film die Erwartungen der Dörfler_innen dem Emigranten gegenüber durch deren Überhöhung ad absurdum führt, überspitzt die naive Haltung des Protagonisten Memo, als er im Dorf auf diese Erwartungen trifft, genau jenen Aspekt der türkischen Emigration, der sich gleichsam eines Teufelskreises perpetuiert hat. Im Gegensatz zur fiktionalen Figur Memo wurde seitens der ›Deutschländer‹ nämlich damals noch oft versucht, die Erwartungen, die ihre Verwandten und Bekannten an sie knüpften, zu erfüllen und dadurch wiederum irreale Vorstellungsbilder bei der home group über den finanziellen Reichtum und Wohlstand des Westens, hier konkret Deutschland, evoziert. Während in Deutschland unter meist schwierigen Bedingungen gearbeitet und gelebt wurde, haben die in den Türkeiurlauben exzessiven Ausgaben und auch Land- und Häuserkäufe den Eindruck finanziellen Wohlstands neben anderen andersmachenden Verhaltensweisen verstärkt. In der Heimat wurde die Narration wirtschaftlichen Erfolgs seitens der Emigrant_innen um jeden Preis aufrechterhalten, während in Deutschland meist unter unterdurchschnittlichen Lebensverhältnissen gelebt wurde. In Memos Worten nach dem Rausschmiss aus seinen Anstellungen in Deutschland wird dies noch antizipiert. Wie vorher argumentiert, zeigen Absenzszenen nicht nur die Heimkehr selbst an, sondern auch die heimischen Zusammenhänge, in dem die Daheimverbliebenen den Emigranten verhandeln. Die filmische Konstruktion von Davaro weist im Hinblick auf die filmische Konstruktion des Settings, in denen der Emigrant erwartet wird, eine besondere Beschaffenheit auf. Hier werden die Zuschauer_innen nicht einfach in ein stabiles Setting eingeführt: Ausgehend vom heterosexuell-normativen familiären Zusammenhang im Zimmer eines anatolischen Hauses produziert die Anfangsszene in Davaro die größere soziale Ordnung des Dorfs als Dorfgemeinde über eine sich soziohierarchisch aufbauende Logik des Anwachsens der Dorfmitglieder zur Dorfgemeinschaft. Davaro ›rollt‹ quasi die soziale Ordnung des Dorfs auf. Die schnelle Rhythmik der Sequenz, gepaart mit der Bewegung der Figuren und der schnellen Zoom-Outs, die demgemäß der Logik von Innen-Außen folgen, dynami63 Waldenfels (2003).
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sieren (nicht ohne die imaginäre Dimension des Sozialen durch zwei Spiegeleintritte anzusprechen) die Entfaltung der sozialen Ordnung in zweifacher Hinsicht: zum einen auf der Ebene der Diegese und zum anderen durch die Affektbewegung bei den Zuschauer_innen. Im Übrigen folgt die Produktion der home group auch noch der binärgeschlechtlichen Raumaufteilung. In der Szene am Dorfeingang stehen die Frauen beispielsweise hinter den Männern am Brückengeländer. Die vielfältigen sozialen Dimensionen des Dorfs (Bildung, Verwaltung, Religion, Familie) werden zudem in statischen Nah- bis Halbnahaufnahmen der entsprechenden Figuren sichtbar, die die jeweiligen Dimensionen repräsentieren. Dorfvorsteher, Dorfimam, Dorflehrer, Dorfbote (hier Hirte) konstituieren gleichsam die institutionell-infrastrukturelle Wirklichkeit eines jeden Dorfs: Staat, Religion, Bildung, Kommunikation. Der Szene reicht es dabei nicht, die repräsentative Funktion der Dargestellten über ihre sprachlich artikulierten Wünsche oder über ihre Kleidung (der Dorfimam trägt eine takke, die islamische Kopfbedeckung64 ) identifizierbar zu machen: Während der Imam spricht, sind im Hintergrund außerhalb des scharfen Tiefenschärfebereichs die Minarette und beim Lehrer im Hintergrund zwei Schüler_innen zu sehen. In dieser den Kosmos des Dorfs binnen drei Minuten auffaltenden und erzeugenden Sequenz sind die heimischen Zusammenhänge als bestehendes System enthalten, in das der Emigrant heimkehren wird. Der szenische Beginn, der dieses System entfaltet, lässt sich besonders über die Betrachtung der Verwebung von affektiven und schließlich repräsentationslogischen (mindestens heterosexuell-patriarchalische Matrix von Familiarität und patriarchalische Geschlechterordnung im dörflichen Kontext) Dimensionen verfolgen: Wie in einer Verkettung und hierarchisch im Sinne einer sozialen Grundordnung baut sich die Menge in Davaro auf. Ihren Anfang nimmt sie in der Familie und setzt sich über die (künftigen) Verwandten und dann die Personen aus dem gelebten Gemeinschaftsgefüge fort. In der Reihenfolge, die die filmische Konstruktion erwählt, um die Dorfbewohner_innen als Menge anwachsen zu lassen, lässt sich eine Ordnung ablesen, die die quasi-natürliche Ordnung von heterosexuell-patriarchalischer Matrix reproduziert: die Mutter, der Vater (tot, aber über die Photographie präsent), Schwiegertochter, Schwiegervater, Frauengemeinschaft und vor ihr hergehend die Männergemeinschaft (an der Teestube). In der Bewegung der filmischen Einstellungen entfaltet sich diese sozial-normative Ordnung des Dorfs, die Bourdieu in seiner Untersuchung der räumlichen Logiken der Kabylen ähnlich nachwies65 , als räumlich-soziale Welt, die sich von den Innenräumen des Heimischen bis zu den Außengrenzen des Dorfs erstreckt. 64 Eine Kopfbedeckung zum Gebet aus dickem, meist weißen Garn. Sie ist ähnlich der jüdischen Kippa, deckt im Vergleich zur Kippa allerdings nicht nur die Kopfspitze sondern fast den gesamten Oberkopf ab. 65 Bourdieu (2009). Bourdieus Konzeption der Innen-Außen Logiken in seiner Untersuchung des kabylischen Hauses ist komplexer bestimmt, als ich hier argumentiere. Für ihn sind einfache, hierarchische Logiken fehlgehend, da sie die Inversion der Logiken nicht berücksichtigen, die selbst wieder hierarchisch bestimmt sind, wie zum Beispiel hier angezeigt: »›Der Mann ist die Lampe, die draußen leuchtet, die Frau ist die Lampe, die drinnen scheint.‹ Der Anschein der Symmetrie darf nicht irreführen: die Lampe des Tages wird nur scheinbar in bezug [sic!] auf die Lampe der Nacht definiert; in Wirklichkeit aber bleibt das nächtliche Licht als weibliches Männliches dem Tageslicht, d.h. der Lampe des Tages, dem Tag des Tages, zu- und untergeordnet«, Bourdieu (2009, S. 65).
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In fast jeder Einstellung sind zudem Zoom-Outs von Gesicht/Körpern auf die Umwelt enthalten, die eine Bewegung vom Nahen bei den Subjekten in die sie umgebende Umwelt vollziehen (Einstiegsszene Mutter, Dorfplatzszene). Damit sind beide Bewegungsformen, räumlich-sozial von den heimischen Innenräumen zu den Außenräumen des Dorfs und körperlich-weltlich von Gesichtern/Körpern auf die Umwelt durch die ZoomOuts, stets auf die Verdopplung der Logik der Hierarchisierung aus (siehe Fazit in dem Kapitel). Die Gehbewegungen der Dörfler_innen, die von links nach rechts verlaufen, erstrecken sich dabei stets in Richtung des Bildfeldrands. Mit jedem Einstellungswechsel eröffnet sich dann das Off (hors-champ) als eine Extension des Räumlichen, in dem sich das Gehen weiter fortsetzt. Daraus resultiert auch eine Vergrößerungslogik des Räumlichen, von klein zu groß, als Entgrenzungsbewegung des Bildrandes, das sich dem Gehen der Menge als stabile, gerade Linie entgegensetzt. Aber nicht nur in der sozial-hierarchischen Anordnung des Sich-Aufbauens der Menge ereignet sich die Zusammenkunft der Gemeinde. Die filmischen Verfahren entfalten die soziale Ordnung gar in einer Weise, in der sie die Zuschauer_innen in eine Geste des Hinforttragens einbinden und dabei den Spiegel und den Bild- wie Binnenraum (architektonischen Raum) als intermediären Ort konstruieren, in den die Zuschauer_innen gleichsam opto-topographisch eingebunden werden: optisch durch die mise-en-abyme Konstellation der Repräsentation des Spiegels (Spiegelrahmen im Bildschirm-/Leinwandrahmen, auf den wiederum Zuschauer_innen blicken) als intermediären Ort, an dem sich die Weltbezüge überhaupt erst entfalten können, und topographisch durch die konkrete Verortung im sozialen Raum, den der Spiegel zeitweise im Filmbild als Inhalt innerhalb der Kadrage oder des Bildraums repräsentiert. Der Eintritt in die Szene findet im Film genauer noch dort statt, wo sich die Welt als Begegnung von Angesicht zu Angesicht zumeist überhaupt erst realisiert: dem Gesicht der Mutter. Die Mutter ist da, aber wir sehen sie zu Beginn nicht unvermittelt, sondern über den Spiegel. Die Sequenz beginnt gar im Spiegel selbst, also in jenem Medium, in dem sich die Bildung des Ichs – und seit Lacan bekanntlich, als komplexer Eintrittsprozess in die symbolische Ordnung über das durch den Spiegel66 sich konstituierende Imaginäre – vollzieht. Der Spiegel ist es, in dem sich das Eintreten des Subjekts in die symbolische Ordnung ereignet. Das, was wir im Spiegel sehen, ist nicht weniger als das Bild, das im ersten intersubjektiven Kontakt entgegentritt: das Gesicht der Mutter. Als solcher sozialhistorisch gewachsener Mythos im Barth’schen Sinne ist ›Mutterschaft‹, die sich hier im Bild von der Mutter verbürgt, als erstes Bild der Szene erwählt, denn die fundamentale soziale Ordnung des patriarchalischen Dorfs gründet hier in der Szene im Matriarchat, dem weiblichen Patriarchat. Es lohnt, diesen Ansatz hier noch etwas weiterzuverfolgen: Festzuhalten ist zunächst, dass in der Nachträglichkeit und über all jene libidinös-imaginären Ver(w)irrungen, mit denen die Psychoanalyse seit jeher die Subjektivierungsprozesse zu entschlüsseln sucht, sich die Mutter für das Bewusstsein überhaupt als solche ergeben kann. Just mit dem Bild vom Gesicht der Mutter, das die Szene in Davaro bemüht, 66 Zu erinnern ist hier daran, dass nicht nur der Spiegel als Ding, sondern der symbolische Spiegel gemeint ist.
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beschreibt Serge Tisseron die grundlegend erste Stufe einer Bildunterscheidung des Menschen: Erst zu einem späteren Zeitpunkt erwirbt das Kleinkind die Möglichkeit zwischen einem inneren Bild – zum Beispiel dem Gesicht der Mutter, das es sich vorstellt, wenn sie aus seinem Sehfeld abwesend ist – und den Wahrnehmungen seiner Sinnesorgane – zum Beispiel dem Gesicht der Mutter, wenn sie sich bei ihm befindet – zu unterscheiden.67 Das bedeutet, dass Davaro nicht eine spezifisch soziale Ordnung heraufbeschwört, sondern die ›quasi-natürliche‹, ›quasi-universale‹ heterosexuell, normative soziale Ordnung ›menschlichen Geschlechts‹. Das innere Bild der Mutter findet seine Entsprechung im äußeren Bild der Mutter des Filmanfangs. Das Verfahren der Bildunterscheidung, das Tisseron beschreibt, findet in Davaro damit eine umkehrende Aktualisierung. Der Eintritt in die symbolische Welt des Films findet also mit der Mater-ialisierung des Mutterbildes auch einen Ritus des medialen Eintritts in den Film. Die Szene ist noch diffiziler geprägt: Mit ihrer sich hin und her bewegenden Armhälfte, weil sich die Mutter zurecht macht, wird ihr Gesicht zudem immer wieder bedeckt. Es stellt sich ein Fort/Da-Spiel mit den Zuschauer_innen ein, das aufgrund des Aufs und Abs zwischen V/Erkennung und damit zugleich zwischen den beiden – hier zumindest offensichtlich werdenden – Modi des Films oszilliert: dem Imaginären und dem Symbolischen68 . Im Folgenden ist die zweite der genannten Thesen von Relevanz: Nicht, dass der Spiegel mit dem Gesicht der Mutter konfrontiert, macht die Besonderheit dieses Filmbeginns aus, sondern dass er damit einsetzt. Man dürfte bei dieser Interpretation einlenken, dass die Zuschauer_innen im ersten Sehen noch nicht wissen, dass es die Mutter ist. Aber: Die Schauspielerin Adile Naşit genießt im Zuschauer_innenwissen von Yeşilçam-affinen Betrachter_innen die Möglichkeit der Zuweisung nur bestimmter Rollen, unter denen auch die der Mutter eine vornehmliche Priorität genießt. Der Vorspann, nimmt zudem die Einordnung der Figur Adile Naşits insofern vorweg, als sie unter den darin gezeigten Karikaturen als ebensolche abgebildet ist (Abb. 12), was die Annahme eines Vorwegwissens umso mehr bestätigt. Sie wird hier zudem sitzend gezeigt, in der Hand ein tesbih, die muslimische Gebetskette; eine Haltung, die sie eher als weise und unaufgeregte Person, fast schon meditierend zeigt, ganz im Gegensatz zu ihrer aufgeregten Haltung vor der Ankunft ihres Sohns. Ihre überkreuzten Beine vermitteln außerdem eine Gesetztheit und Autorität, der Blick der Figur ist auf ihren Namen selbst gerichtet: ein deiktischer Vorgang, der das Bewusst-Sein der Karikatur auf ihr Schauspielerin-Ego realisiert. Das Matriarchat, das ihre soziale Funktion bestimmt, wird hier etabliert. Aber auch ohne dieses Wissen baut sich eine Bezüglichkeit zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wissen können, auf. Vivian Sobchack hat mit ihrer Analyse von Jane Campions The Piano (1993) in ihrem Text »What My Fingers Knew The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh«69 eine neophäno67 Tisseron (2007, S. 307). 68 Heiß (2017). 69 Sobchack (2004).
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Abbildung 12 – Standbild aus Intro von Davaro (1981)
menologische Perspektive auf das Verhältnis von Körper, Film und Wissen eingenommen und herausgearbeitet, wie der Körper von Zuschauer_innen vor dem Akt einer kognitiven Erfassung auf Film eine Bezüglichkeit aufnimmt, die in sensorieller Resonanz zum Dargestellten besteht. Konkret zeigt die erste Einstellung in Campions Film dunkle, kleine Umrisse in einem fluid-wasserähnlichen Oberflächenumfeld an, die sich erst im reverse shot sich als zwei Finger im Meer einer im Boot sitzenden Frau (Holly Hunter) herausstellen. Die Wahrnehmung dieser gering-gegenständlichen Einstellung erfuhr sie mit einem Gespür ihres Körpers, nachdem ihre »Finger schon wussten«, was sie selbst nicht wissen konnte: […] my fingers comprehended that image, grasped it with a nearly imperceptible tingle of attention and anticipation and, offscreen, ›felt themselves‹ as a potentiality in the subjective and fleshy situation figured onscreen. And this before I refigured my carnal comprehension into the conscious thought, ›Ah, those are fingers I am looking at.‹70 In diesem Sinne wäre Filmerfahrung nie nur eine Erfahrung und Kognition eines schon im Vorfeld bestehenden Sinns eines Gesichteten. Vielmehr hilft die neophänomenologische Erkenntnis von der Relationalität von Leiblichkeit und Materialität die Filmerfahrung selbst als eine Auflösung der Kategorien von Subjekt und Objekt, von Darstellung auf der Leinwand und dem Leib der Zuschauer_innen zu verstehen: »That is, I had a carnal interest and investment in being both ›here‹ and ›there,‹ in being able both to sense and to be sensible, to be both the subject and the object of tactile desire.«71 Leib ist immer 70 Sobchack (2004, S. 63). 71 Sobchack (2004, S. 66).
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Berühren und Berührtwerden.72 Im Falle des Films heißt das für die Sicht, sie zugleich als leibliche Verbundenheit mit der ästhetischen Materialität des Films selbst zu verstehen. Dann ist die Filmsichterfahrung nicht nur eine Erfahrung eines Bewusstseins, sondern eine körperliche Erfahrung, die sich entlang der Register all der intermodalen Affektivitäten73 gestaltet. Filmwahrnehmung ist dann selbst nie nur Wahrnehmung einer visuellen Ausgestaltung auf Leinwand, sondern aufgrund der leiblichen Wahrnehmung der im Film enthaltenen Wahrnehmung, die sich im Film selbst gestaltet, eine Wahrnehmung zweiter Ordnung, für das Sobchak eine es als Subjekt charakterisierende Bezeichnung erwählt: In sum, the cinesthetic subject names the film viewer (and, for that matter, the filmmaker) who, through an embodied vision in-formed by the knowledge of the other senses, ›makes sense‹ of what it is to ›see‹ a movie both ›in the flesh‹ and as it ›matters‹.74 In diesem Sinne ist die Eingangseinstellung, in der wir die Mutter Memos sehen, für unser cinesthetic subject schon selbst ein sich auf bestimmte Art und Weise bewegendes körperliches Subjekt, das unser Leib als solches weiß. Die Relevanz der Intermodalität der Filmwahrnehmung wird um den ästhetischen Aufbau der Absenzsequenz noch einmal eine Rolle spielen. Blickt man genauer in die Einstellung, erkennt man, dass, bevor sich das V/Erkennungs-›Spiel‹ mit dem Arm ereignet, das Gesicht der Mutter zunächst noch deutlich zu sehen ist. Diese Reihenfolge, die vom Wissensstabileren (zuerst eine Eindeutigkeit im Erkennen, weil man ihr Gesicht sieht) und vom Ereignis eines V/Erkennungsspiels (Auf und Ab des Arms) in eine wissens-destabilisierende Position führt, weil die Zuschauer_innen in diesem mannigfaltig zwischen V/Erkennung eingelassenen Moment in einen familiären Zusammenhang eingebunden werden, ist kaum über eine aktuelle Präsenz ausgezeichnet. Das Gesicht der Mutter ist nur im Spiegel zu sehen und das Gesicht des Vaters nur in der Photographie. Beide Gesichter sind in Medien prekärer Präsenz enthalten: Die familiale Ordnung, die sich noch in den früheren Emigrationsfilmen als relativ stabiles Setting anzeigte, weicht hier einem Bild und einer Bildwerdung von Familie (Photographie und Spiegel), das selbst von Imaginärem und Absenz durchsetzt ist. Die Unverfügbarkeit des Lacan’schen Realen bleibt dank der medialen Konfiguration durch Spiegel, Photographie und der filmischen Konstruktion (V/Erkennungsspiel der Mutter) in der hier entworfenen Szenerie als Ausgeschlossenes verstehbar. Bewegt man die Analyse auf die Ebene der räumlichen Konstruktionen, so stellt man fest, dass der Eintritt der Zuschauer_innen in die soziosymbolische Ordnung des Dorfes im Zoom-Out des elterlichen Zimmers gründet, auch wenn die Ordnung selbst 72 Für monographische Aufarbeitungen phänomenologischer Filmtheorie siehe Zechner (2013) und Morsch (2011). 73 Sobchack nennt das die figurale Ebene; Entwicklungspsychologe Daniel Stern beschreibt sie in seinem Buch zur Bildung von Subjektivität bei Säuglingen als intermodales Modell und zwar mit seiner Konzeption von »amodaler Wahrnehmung« und »Vitalitätsaffekten«, Stern et al. (2010, S. 83-93). 74 Sobchack (2004, S. 71).
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zersplittert ist: Der Zoom führt als Bewegung vom Gesicht der Mutter in den familialen Zusammenhang des eigenen Hauses, in dem der verstorbene und damit abwesende Vater über die Photographie sichtbar und photographisch anwesend wird. Die Mise en Scène positioniert die Mutter hierbei in der Mitte des Raums. Der Vater als Absenz über die Photographie und das Gewehr an der Wand bilden schließlich eine propositionale Ordnung, in der das Gewehr die Zukünftigkeit der notwendigen Blutfehde und den Ort des Sohnes antizipiert, die Photographie des Vaters als Drittes gespenstische, unheimliche Anwesenheit der patriarchalischen Ordnung anzeigt und die Mutter als reproduktiver Vermittlungsraum zwischen der generationellen und sozialen Ordnung konzipiert erscheint. Sie steht gar zwischen beiden Instanzen und doch auch unter ihnen: Bild und Gewehr hängen über ihr. Als Verfahren der Positionierung, die sich im Deiktischen der Lokalität der einzelnen Elemente im Filmbild erzeugt, zeigt sich die Propositionalität der Einstellung. Diese Propositionalität fußt jedoch auf einem entschieden anderen Verständnis als das eines repräsentationalen Verständnisses des Filmbilds, weil es den Vorgang der Positionierung und der Positioniertheit der Elemente im Filmbild selbst als Operation herausstellt. Und gerade deswegen: Als solche im Raum mediär und untergeordnet positionierte Instanz konzipiert, verwundert es nicht, dass die Mutter später vehement in der Blutrache des Vaters insistieren wird, um die Wiederherstellung des Gleichgewichts der sozialen Ordnung zu bemühen: Die Mutter ist nicht nur der Ort heterosexueller Reproduktion, sondern auch der Ort der Reproduktion sozialer Ordnung. Das Verhältnis von Zuschauer_innensubjekt und dem medialen Raum des Films wird durch den Zoom-Out auch in ein Spiel von Wissen und Nicht-Wissen überführt, denn: Bis der Zoom-Out die räumliche Situation anzeigt, wissen die Zuschauer_innen nicht, wo und wen die Szene zeigt. Der Verortungsvorgang der Zuschauer_innen in Relation zum Filmbild beginnt deswegen aus einem zunächst instabilen Zusammenhang heraus (einem Spiegelbild), der sich im weiteren Verlauf der Szene, als finale soziale Ordnung, als die sich die Menge aufbaut, stabilisiert. Die Schwiegertochter, die sich selbst im Außen des Hauses befindet, holt die Mutter aus dem heimischen Innen ins Außen des Dorfs, wo die Mutter der Braut, der Vater der Braut, Dorfkinder und -frauen mit der Emigrantenmutter schließlich vorpreschen. Die Bewegung der sich ab hier bildenden Menge ist ein Schwenk, der dem schnellen Gehen der Menge folgt – eine Bewegung, die Zuschauer_innen mit der Menge ›hinfortträgt‹. Die Konstruktion einer Bewegungsdynamik der Menge resultiert dann aus dem Schwenk von den Füßen der Mutter auf ihren Oberkörper (Abb. 11.5-6). Indem die Einstellung in dem Folgen der Füße, die rasch gehen, auf den Oberkörper schwenkt, bleibt der Bewegungseindruck einer raschen Fortbewegung der Menge erhalten. Die Absenz der Füße (denn wir sehen nur noch den Oberkörper der Mutter) erhält den Eindruck der raschen Mengenbewegung über die affektive Dimension der Filmwahrnehmung. Dann ereignet sich eine zweite Spiegelungsszene vor dem Dorfplatz, die zunächst die weibliche Menge zeigt und sie so als Imaginäres anlegt: Das Weibliche wird erneut erst über eine medial-topologische Strategie sichtbar gemacht, die sich vielmehr aus der Zeigenotwendigkeit der Bewegungsdynamik zu ergeben scheint und damit vordergründig der filmischen Bewegungsökonomie geschuldet ist, welche die Sequenz avisiert. Würde die Szene ohne Spiegelung verfahren, wäre ein immenser Schwenk von
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der gehenden Menge auf die Teestube nötig. So reicht ein kleiner Schwenk vom Fenster auf den Dorfplatz, um das Anwachsen der gehenden Menge rasch zu zeigen. Aber auch hier ist eine zusätzliche Logik des Imaginären eingebaut: Die Menge läuft entgegen der Richtung ihres eigentlichen Gehens. Im Spiegel laufen sie aufgrund der spiegelverkehrten Richtung quasi auf sich selbst zu. Ein leichter Schwenk zeigt uns jedoch nicht die laufende Menge selbst, dessen Spiegelung zu sehen war, sondern die vor der Teestube sitzende Menge. Dieses Aufeinanderzulaufen von Menge in die Teestubenmenge produziert das Aufeinandertreffen von imaginärer und symbolischer Welt und verschmilzt sie beim gemeinsamen Gang in der Szene darauf in die gemeinsame Ordnung. Die irritierenden Blicke einiger Statist_innen in die Kamera (das Kind 1 in der Teestubeneinstellung [Abb. 11.9] und der Trommler in der gemeinsamen Durchquerungsszene des Dorfs [Abb. 11.10]) realisieren für den Bruchteil einer Sekunde das, was sich als eine wider-ordnende Blickirritation verstehen lassen könnte. Generell sind die einzelnen Einstellungen durch enorme Geschwindigkeit charakterisiert (ca. 2-5 Sekunden für fast alle einzelnen Einstellungen, die das Gehen der Menge zeigen). Das Hinzutreten der männlichen Dorfmitglieder realisiert sich dann erst im Schwenk auf den dann ohne Spiegelung gezeigten Dorfplatz, an dem die Männer sich von ihren Stühlen vor der Teestube erheben und die vorangehende Menge umzingeln und so nicht mehr sichtbar belassen. Allerdings: Erst nachdem sie bei dieser sitzenden Menge eintreffen, zeigt sich die laufende Menge selbst. Da wir aber aufgrund ihrer Laufrichtung nur ihre Rücken sehen können, ist ihre Laufdynamik erst über den Spiegel sichtbar gewesen. Die Anordnung von Spiegel als Zeigemedium und dem architektonischen Raum der Teestube lässt so das Aufeinandertreffen von agiler, laufender Menge und statischer, sitzender Menge erst wahrnehmbar werden. Ausgehend von den Arbeiten Hermann Kappelhoffs zur Relation von filmischer Ausdrucksbewegung und den Affizierungen auf Seiten von Zuschauer_innen75 , ließe sich sagen, dass gerade in der Immobilität von Zuschauer_innen eine Spur innerer Bewegung zurückbleibt, die aus dem Verhältnis von Filmbild und Wahrnehmung resultiert. Da Wahrnehmungsqualitäten aufgrund der Intermodalität filmischer Wahrnehmung stets mit affektiven Qualitäten auf Seiten der Zuschauer_innen resonieren, ist diese Inszenierung der Mengenbewegung – und nicht ausschließlich in dieser Einstellung, sondern der gesamten Bewegungsdramaturgie der filmischen Inszenierung in der Sequenz – nicht nur Repräsentation einer hierarchisch-parallel anwachsenden Zusammenkunft der Dorfgemeinde, sondern gleichsam eine Ausdrucksbewegung, die in den Zuschauer_innen den Eindruck des Hinforttragens affektiv erhält: Die repräsentierten Körper, die in ihrer Bewegung gezeigt werden, lassen durch die stabile Kadrage eines rechteckigen Bilds eine innere Spannung entstehen. Sie resultiert aus der spiegelneuronalen Aktivierung der Zuschauer_innen durch eben jenes Gehen der gezeigten menschlichen Akteur_innen und der Stabilität der wahrgenommenen Bildrahmung, die den Bewegungen der Figuren entgegentritt. Sie laufen stets 75 Zu einer Theorie der Relation von Bewegungsdynamiken im Film als Ausdrucksbewegung, die Zuschauer_innen entsprechend affizieren, siehe die Arbeiten von Hermann Kappelhoff, insbesondere Kappelhoff und Bakels (2011) und die bis hierhin angefallenen Ausführungen zu Sobchacks Filmtheorie.
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auf Bildgrenzen zu. Der Effekt dieser Spannung intensiviert die affektiven Energien und lässt so eine Dynamisierung entstehen, die die dann folgende Ruhe der Menge, als sie am Dorfeingang stehen bleibt, in einen dramatisierenden Rhythmus bringt. Mit dem Durchkreuzen der beiden Autos der Straße an der Menge, vom linken zum rechten Bildrand, bis zum Verschwinden im Fluchtpunkt, der selbst aufgrund der rechts und links als Reihe stehenden Menge nicht zu sehen ist (Abb. 11.22-23), zeigt sich außerdem eine Gegenbewegung zur vorherigen Bewegungsrichtung der Menge an, die das Spiel von inneren Bewegungsenergien auf Seiten der Zuschauer_innen durch ihren konträr Richtung kreuzt: nicht im Sinne einer Blockade, sondern im Sinne einer Erhöhung der Anspannung des Ankunftsmoments. Der Dorfeingang wird dabei durch die Montage in zwei räumliche Felder aufgeteilt: den Raum der Dorfrepräsentanten (Dorflehrer, Imam et cetera), die sich um den künftigen Schwiegervater versammelten und den Raum der weiblichen Gruppe, die Canos und Memos künftige Vermählung und Memos sozialen Aufstieg an dessen Photographie einsetzend thematisierte. Der Rückzug des Settings in die weibliche Gruppe, in der Memo als Photographie im Zentrum steht, rückt die Öffnung der Räume wieder in ein Innen, in einen Binnenraum des Weiblichen, in dem die Verhandlung des Emigranten unter den Frauen als räumlich geschlossene auftritt. Wegen der Rahmung der Szenerie, die die Frauen zeigt und die andere wartende Menge im Off unsichtbar belässt, entsteht der Eindruck, als seien die Frauen gar nicht am Dorfeingang, sondern an einem anderen Ort und würden sich untereinander nun über Memo austauschen (Abb. 11.14-15). Unterstützt wird dieser Eindruck der räumlichen Getrenntheit durch die Kadrage, die aus dem Brückengeländer als raumtrennende und das Bildfeld strukturierende Instanz resultiert. Das Fehlen einer Indikation der ebenfalls anwesenden Männer oder der Menge verstärkt diesen Eindruck der räumlichen Abgesetztheit der »Frauenszene«. Die Konstruktion dieser Szene als eine solche, die die soziale Ordnung entfaltet, dient zuvorderst der Etablierung des Dorfs als gesellschaftliche soziale Größe, die die symbolische Ordnung konstituiert, in der der ankommende Memo als soziales Wesen leben muss. Der türkische Komödienklassiker Davaro ist nicht als Emigrationsfilm bekannt. Sicherlich liegt dies daran, dass der Film das Ereignis der Emigration beziehungsweise die Rückkehr des Protagonisten nicht in den Handlungsmittelpunkt stellt, sondern vielmehr die um die Emigration kreisenden Fragen der Zugehörigkeit und der Heimkehr als narrative Strategie nutzt, um an das Kernproblem, um das sich der Film dreht heranzuführen: Fokussiert wird nämlich die archaische Praxis der Blutfehde und der gesellschaftliche Druck, der von ihr ausgeht. Die verweigerte Anerkennung der Dörfler_innen dem Emigranten gegenüber unterminiert seine Anerkennung innerhalb der Gemeinschaft, die ihm aufgrund der Nicht-Erfüllung der ihm aufgebürdeten Pflicht zur Fortführung einer Blutfehde verweigert wird. Die Einstiegssequenz nimmt so die Konstellation von Memos Ausschluss aus der Gemeinschaft vorweg, denn die Verweigerung zur Fortführung der Blutfehde, die Memo im Laufe des Films erwählen wird, wird zu eben jenem Ausschluss führen. Nach seiner Ankunft und kurz vor seiner Hochzeit mit seiner Verlobten kehrt der aus dem Gefängnis entlassene Mörder, der vor etlichen Jahren Memos Vater ermordet haben soll, in das Dorf zurück. Die Hochzeitsvorbereitungen werden sofort unterbrochen und sie darf erst dann vollzogen werden, wenn Memo
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den Mörder seines Vaters tötet. Die Nichtakzeptanz der Fortführung der Fehde seitens Memo führt letztlich zu seiner Exklusion aus der Gemeinde. Die Dorfgemeinschaft wird durch ihren selbst ernannten Anspruch Memo gegenüber als solche Instanz etabliert, die über dessen Ein- und Ausschluss in der Gemeinde entscheidet. Diesen Ausschluss erfährt Memo am schmerzlichsten in der Zurückweisung durch seine Verlobte. Selbst sie will ihn nicht heiraten, wenn er den Mörder nicht tötet und nähme für die Fortführung der Fehde gar in Kauf, dass Memo Jahrzehnte im Gefängnis verbringen müsste. Sie werde jungfräulich auf ihn warten. Die große Geschichte, die Davaro damit erzählt, ist die Geschichte der Aufklärung eines Individuums, das sich den sozialen Zwängen beugen muss, will es ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft führen: Das ist die perverse Bedingung. In einer Gesellschaft, in der die Anerkennung der Einzelnen ganz besonders von der Gemeinschaft abhängig ist, erst recht in der angenommenen Dorfgesellschaft, die durch die namus und das şeref, also durch die sexuelle, ideologische und sozialregulatorische Matrizes konstituiert ist, sind diese vom türkischen Starkomödianten Kemal Sunal in unzähligen türkischen Filmen verkörperten Narrative von der Befreiung des Individuums aus solchen sozialen Zwängen jene filmischen Verhandlungen, die die Utopie dieser Emanzipation immer wieder für seine Zuschauer_innen in den Komödien der 1980er Jahre iterieren (▶ Kap. 3).76 In Davaro werden mit jener Anfangsszene Zuschauer_innen in die filmische Welt mit ihrer soziosymbolischen Welt eingebunden. Die Emigrationssituation als Absenzsituation konstituiert zuallererst die gesamte Sphäre des gesellschaftlichen Imaginären der Dörfler_innen: Dass die Hoffnungen der Bewohner_innen in einen Raum des Imaginären gesetzt sind, versetzt sie gleichsam in einen Raum, in dem sie nicht mehr bei sich selbst sind. Das Messianische des Emigranten ergibt sich für alle aus der mit Phantasmen versehenen imaginativen Konstruktion der Emigration, in der der Emigrant als mit dem Besten und Heilbringenden ausgestattet vorgestellt ist, ein Konstrukt aus Versprechungen des modernen und zivilisierten, fremden, aber bereichernden Westens ist, in dem eine andere Währung herrscht, als im verarmten und verschuldeten Dorf, nämlich »die deutschen Mark«. Die filmästhetisch-affektive Qualität dieser Einstiegssequenz (ihr Rhythmus, ihre Geschwindigkeit, ihre räumlichen Positionalitäten der einzelnen Artefakte und Akteure, die filmischen Kadrierungen wie die Blickbewegungen), die das Dorf entfaltet und die Erwartungsdramaturgie orchestriert, beschwört die soziosymbolische Ordnung der Gemeinschaft und das Trümmerbild einer Emigrant_innenfamilie herauf und birgt zugleich die Sichtbarmachung versetzter Hoffnungen für beide Seiten: Emigrant und Daheimverbliebene, und damit die Unauflöslichkeit der beiden Welten, die insbesondere für die Daheimverblieben vom Imaginären durchsetzt ist. Die Analyse der visuellen Konstruktion der Sequenz, die hier unter verschiedenen Facetten von Repräsentationslogik, Affektdramaturgie, Phänomenologie und Psychoanalyse aufzuschlüsseln versucht wurde, zeigt, dass sie selbst eine Modalität birgt, die sich nicht in einer filmtheoretischen Zugangsweise alleine erfassen lässt: Die Einfaltung von Zuschauer_innen reproduziert gleichsam einen Prozess ihrer Eingemeinschaftung 76 Für eine Kontextualisierung von Davaro im Rahmen eher moderner satirischer Komödien der 1980er siehe Türker (2006, S. 67-106).
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in eine filmisch erzeugte dörfliche Gemeinschaft, aus dessen Ausschluss sowohl Filmfigur Memo als auch die Zuschauer_innen im Laufe des Films (durch suture und Identifizierungsstrategien) betroffen sein werden. Die räumliche Trennungslogik der Emigration selbst motiviert die Verortung des Dorfs als soziale Größe. Damit konstruiert Davaro als Film jene Sichtbarkeit der Emigration, die dem Blickregime (auch des Migranten) selbst verborgen bleibt: den (auch selbst der Prozessualität überantworteten und damit in stetiger Veränderung begriffenen) Daheimverbliebenen.
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Konstruktionen des Emigranten in Absenzszenen: Suggestive Verbalisierungen
Wie Schütz schon in seiner Studie »Der Heimkehrer« anmerkte, ist der Emigrant nicht einfach als eine Angelegenheit eines kleinen sozialen Zusammenhangs angelegt. Was Davaro zeigt und viele andere Emigrationsfilme der High-Yeşilçam-Phase damit auszeichnet ist, dass der Emigrant häufig schon in Szenen verhandelt wird, in denen er selbst nicht zugegen oder noch in der Emigration ist: »Er [der Heimkehrer] hat sozusagen in eine andere soziale Dimension hinübergewechselt, die nicht vom Koordinatensystem, das er als das Bezugsschema seines heimatlichen Lebens benützt hat, gedeckt wird«.77 Die Erwartungen der Dörfler_innen gründen so auch in Davaro auf Wissen, das sich aus einem Konnex von Vorwissen sowie den Rückschlüssen aus einer Photographie speist, die Memo seiner Verlobten zugeschickt hat. Zur Bestimmung von Absenzszenen liegt es daher nahe, auch den Dialog über den Absenten einzubeziehen sowie andere Formen von sichtbar Gemachtem. In Davaro lässt die Stimmung der Feierlichkeit der Dorfbewohner_innen auf die hohen Erwartungen an den Emigranten schließen. Über die Dialoge formulieren sich die konkreten Hoffnungen der Dörfler_innen und ihre Erwartungen an ihn. Die Komplimente über den Emigranten, die die Frauen um die künftige Braut Cano herum äußern, sind als verbale Äußerungen zu verstehen, die einerseits Dispositionen und Vorannahmen der weiblichen Figuren explizieren und andererseits gleichzeitig Möglichkeiten der Evokation des Vorstellens über den Emigranten auf Seiten der Zuschauer_innen implizieren. An Davaro lässt sich so eindrücklich vorführen, wie die Trennungssituation der Migration bei denjenigen Subjekten, deren Subjektivität maßgeblich vom Getrennten abhängig ist, im Hinblick auf ihr Bewusstsein also mehrfache Einflussnahmen produziert. Migration selbst figuriert dabei nicht nur die Relationen von Subjekten zueinander, sondern auch die Relationen zueinander in Potentialität: Die Ungewissheit über den Anderen selbst durchzieht die Vorstellungsräume sowie auch Begehren, weil gerade in den Raum des Ungewissens es als Imaginäres einfällt. Dieses Imaginäre sind die Bilder, die dem Emigranten vorausgehen, sodass er nur über Hilfstemplates, diesen Bildern als Medien wahrgenommen werden kann. Wie später noch zu zeigen sein wird, ist dieses Moment der Begegnung ein zentrales visuelles Ereignis im Verständnis dessen, was gemeinhin als visuelle Kultur bezeichnet wird – und ausgerechnet an der Figur 77 Schütz (2002b, S. 100).
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des Migranten lässt es sich besonders effektiv illustrieren (▶ Kap. 8). Dem Migranten eilen Bilder voraus, so wie Memos Bilder ihm im aktuellen (Photographien) wie mentalen vorauseilen. Klafft das Imaginäre und das Aktuelle auseinander, heißt das noch lange nicht, gar das Aktuelle als das eigentliche Bild anzunehmen, wie W. J. T. Mitchell selbst eindrücklich am Beispiel des Immigranten formuliert, dem ähnlich wie hier bei Davaro, das Bild in Form seines Passes vorauseilt: Images »go before« the immigrant in the sense that before the immigrant arrives, his or her image comes first in the form of stereotypes, search templates, tables of classification, and patterns of recognition. At the moment of first encounter, the immigrant arrives as an image-text whose documents go before him or her at the moment of crossing the border. This simple gesture of presenting a passport is repeated millions of times every day throughout the world and might be regarded as the »primal scene« of law and immigration in the face-to-face encounter.78 Bevor in den anderen Hauptkapiteln auf genau jene Vermittlungsweisen des Sozialen über das Visuelle in diesen paradigmatischen Begegnungsszenen zuzugehen ist (▶ Kap. 8), lohnt es einige rezeptionsästhetische Überlegungen anzustellen, die den Weg zwischen Film und Zuschauer_innen genauer zu fassen helfen. Julian Hanich hat die strategische Evokation imaginativer Prozesse auf Seiten der Zuschauer_innen durch die im Film enthaltenen verbal-sprachlichen Äußerungen als »suggestive Verbalisierung« untersucht. Dabei diskutiert er, wie im Film durch insbesondere suggestive sprachliche Ausführungen über audiovisuell absente Inhalte Filmzuschauer dazu an[geregt] werden, sich nicht gezeigte Ereignisse, Zustände und Dinge vorzustellen. Sie [suggestive Verbalisierungen] sind deshalb für die Frage nach der Imagination des Zuschauers von großer Bedeutung, wurden darin aber von der Forschung bislang unterschätzt oder ganz übersehen.79 Hanich geht es weniger um die Beschreibung von Evokationen imaginativer Prozesse durch allgemeine verbale Aussagen, wie zum Beispiel den Dialogen filmischer Charaktere wie hier im Fall Davaro, sondern durch anschauliche und lebhafte Sprache der suggestiven Verbalisierung wird der Zuschauer dazu eingeladen, herausgefordert, ja gelegentlich sogar dazu gezwungen, etwas audiovisuell Nicht-Präsentes visuell, auditiv, olfaktorisch, gustatorisch oder haptisch zu imaginieren – sich das Nicht-Präsente also sinnlich vorzustellen. […] Um sprachlich zu evozieren, was nicht präsentiert wird und mithin audiovisuell absent bleibt, kommen sämtliche Formen von Sprache im Film in Frage: Figurenreden, Voiceover-Erzählungen, Inserts, diegetische Schriftstücke wie Briefe, Zeitungen oder Bücher, Zwischentitel oder die Ausführungen eines Kinoerzählers.80 Hanichs Modell operiert dabei mit einer zugespitzten Konstellation im Hinblick auf die Evokationsfähigkeit von Verbalisierungen. In Davaro ist beispielsweise relativ we78 Mitchell (2012, S. 127f.). 79 Hanich (2014, S. 155). 80 Hanich (2014, S. 158).
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nig suggestive Kraft eingeschrieben, da die Dörfler_innen über eine eindeutige Vorstellung von der Rückkehr des Emigranten verfügen. Während Hanich also eine besonders intentional-suggestive Dimension für sein Modell voraussetzt, die sich auch auf der filmästhetischen Ebene realisiert wissen will, also dem Entzug visuellen oder anderen sinnlichen Materials, die durch eine Imaginationstätigkeit auf Seiten der Zuschauer_innen kompensiert/ergänzt werden soll, findet sich die Evokation imaginativer Prozesse in den Emigrationsfilmen, und auch hier bei Davaro, weniger auf einer explizit filmästhetisch durchdrungenen Ebene. Die »suggestive Verbalisierung« unterliegt im Falle dauerhaft abwesender Figuren damit einem Sonderfall, der darin besteht, dass das sinnlich Unverfügbare, hier die Präsenz des Emigranten, mit einer örtlichen Abwesenheit des Emigranten auf intradiegetischer Ebene zusammenfällt. Der in den Dialogen der Figuren und ihren Verhaltensweisen verhandelte Emigrant ist den Zuschauer_innen auf der Ebene des Filmbilds und der intradiegetischen Ebene damit auch in den anderen Filmen entzogen, wenn er nicht zuvor in anderen Szenen gezeigt wurde. Dabei ist einer Konzeptualisierung der »suggestiven Verbalisierung« die Berücksichtigung von »visuellen Medien« im Film nahezulegen. An einer zentralen Stelle schreibt Hanich nämlich: Wichtig scheint mir dabei: Um im vollen Maße suggestiv wirksam zu sein, darf das Erzählte oder Beschriebene nicht gleichzeitig als Filmbild oder im Filmbild zu sehen sein. Das zu Vergegenwärtigende sollte eine bildliche Unbestimmtheitsstelle bleiben, die erst durch die Ergänzungstätigkeit des Zuschauers konkretisiert wird. Denn stellt der Film dem Zuschauer illustrierende Bilder zur Verfügung, behindern diese den Akt des Imaginierens oder blockieren ihn gar. Das suggestive Potenzial der Verbalisierung verpufft. Ich kann nicht ein und dasselbe intentionale Objekt gleichzeitig wahrnehmen und dieses auch noch imaginieren – darauf haben schon Philosophen wie Wittgenstein oder Sartre hingewiesen.81 Eine »bildliche Unbestimmtheitsstelle« ist keine notwendige Bedingung für Aktivierungstendenzen auf Seiten der Zuschauer_innen im Hinblick auf imaginative Prozesse. Das Beispiel Davaro zeigt das an. Wenn der Emigrant auf der Photographie im Filmbild zu sehen ist, heißt das nicht, dass sich dahingehend keine imaginativen Prozesse bei Zuschauer_innen aktivieren, da Medien Absentes sinnlich präsent zu halten vermögen. Im Falle einer zweiten Sichtung von Davaro könnte man beispielsweise trotz der Sichtbarkeit des Emigranten in der Photographie annehmen, dass es das Auto des Freundes des Emigranten ist, das in der Photographie gezeigt wird. Da anzunehmen ist, dass der Freund, das Photo schoss, besteht die Möglichkeit, den Zeigeaspekt der Photographie über das im Bild Unverfügbare in der Imagination zu »komplettieren«. Je nachdem, was gesagt wird, kann visuelles Material, das absente Personen zeigt (Photos, Filme und andere Formen von »indexikalischen« Medien), weitere Imagination über etwas durchaus im Film sinnlich Verfügbares – auch suggestiv – evozieren. Auch wenn Hanich die Aktivierungstendenzen von Imagination und Wahrnehmung bewusst ist und 81 Hanich (2014, S. 159f.).
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formuliert82 ist der rezeptionsästhetischen Dimension eine Untersuchung ihrer intramedialen Fälle nahe zu legen. In den folgenden Analysen werden solche intra-medialen Fälle, besonders die, die durch Photographien entstehen, erörtert. Schließlich werden in Absenzszenen die in der Heimat Verbliebenen in ihren heimischen Zusammenhängen so gezeigt, dass sie den Emigranten vor seiner Ankunft unter anderem durch ihre verbalen Äußerungen und andere Mittel filmischer Konstruktion als Vorstellung auf Seiten der Zuschauer_innen erzeugen83 : Erinnern, Vorstellen, Phantasieren usw. als imaginative Vorgänge, die die Absenz des Emigranten auf intradiegetischer Seite der Figuren der Daheimverbliebenen verhandeln, entsprechen dann meist filmische Techniken des Flashbacks (Erinnern), der verbalsprachlich bis audiovisuellen Evokation (diskursive Verhandlungen durch Dialoge) und der Nutzung von kommunikativer, hauptsächlich optisch-medialer »Artefakte« (Film, Photographie, Video, Gemälde et cetera) auf intradiegetischer Ebene. Ohne Fokus auf die »Zukunftsverbalisierungen« lässt sich allerdings der Raum des Imaginären, der sich in den Erwartungen der Dörfler_innen aufspannt, nicht erschließen: Die Sprache erzeugt Diskurse, lenkt sich generierendes Wissen und Imaginationen. In Davaro ist der Umstand besonders, in dem eine intra-mediale Situation zeigt, als die Gruppe von Frauen auf die Photographie von Memo blickt. So können »visuelle Medien« im Film selbst die Absenz der Emigrant_innen als innerfilmische Präsenz erzeugen, die die Wissensebenen zwischen Film und Zuschauer_innen verkomplizieren. Für die Dörfler_innen in Davaro entwickelt das Photo Evidenz versprechende Charakteristika über den sozioökonomischen Aufstieg des Emigranten, da das framing des Bilds ihnen die Zusammenhänge der gezeigten Situation unsichtbar belässt: Photographien zeigen nicht denjenigen, der das Photo schießt. Auch ohne framing wären allerdings aus dem Bild kaum Besitzzuordnungen zum abgebildeten Auto möglich, sind Besitzverhältnisse zumeist unsichtbare ökonomische Regulatorien. Mit den Vorannahmen der Daheimverbliebenen über »Deutschländer«, die sich mit den Erzählungen vermischen, vereindeutigt sich eine Vorstellung von Memo als erfolgreichem Emigranten. Mit genau diesem Rückbezug auf die medialen Praktiken der Emigrant_innen dekonstruiert Davaro das Feld kulturellen Wissens über Selbst- und Fremdbilder von Emigrant_innen, die sich in ihrer Zeit der Emigration häufig auf eine Weise ins Bild setzten, die den Vorstellungen auf Seiten der sie Erwartenden entsprechen oder es gar übertreffen sollte. Hanich differenziert sein Modell der »suggestiven Verbalisierung« schließlich nach der zeitlichen Dimension des in der Sprache verhandelten. Für Davaro und auch für die meisten Emigrationsfilme ist hierbei der Typ der »Zukunftsverbalisierung« der vornehmliche Modus, der die Absenzszenen in den Emigrationsfilmen kennzeichnet, 82 »Die audiovisuelle Wahrnehmungstätigkeit verliert ihre dominante Stellung und schafft Raum für die visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische oder haptische Imaginationstätigkeit. (Ich sage ›dominante Stellung‹, denn natürlich ist der Zuschauer in Momenten der Perzeption ebenso imaginativ beteiligt, wie er in Momenten der Imagination perzeptiv tätig ist. Was sich verlagert, ist lediglich der Schwerpunkt)«, Hanich (2014, S. 158). 83 Für einen Überblick der zum Beispiel sinnlichen Ergänzungstätigkeiten von Zuschauer_innen im Film siehe Hanich (2012, S. 20-23).
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manchmal auch die komplexe »Gegenwartsverbalisierung«. »Zukunftsverbalisierierungen« bringen »den Zuschauer zum Imaginieren von etwas Künftigem, egal ob dieses im Film später dann tatsächlich eintritt oder nicht«84 . Im Falle von Emigrationsfilmen besteht das in den »Zukunftsverbalisierungen« Verhandelte in der Rückkehr des Emigranten. Sie mischt sich aber auch oft mit einer imaginären »Vergangenheitsverbalisierung« darüber, wie sein Leben in der Emigration wohl verlaufen sein oder ihn verändert haben mag. In so einer Perspektive verweisen die Dialoge der Figuren in Relation zu den im Filmbild enthaltenen oder ausgesparten, ja manchmal gar entzogenen Inhalten auf je spezifische imaginative Aktivierungsweisen bei den Zuschauer_innen. Mit dem Verfahren der Erzeugung spezifischer Vorstellungsbilder über die Suggestivität des Dialogs erzeugt sich Wissen, aber auch ästhetisches Potential im Hinblick auf die Sichtbarmachung der ›Deutschländer‹. Die sprachlich geäußerten Hoffnungen, sowie Sichtbargemachtes (Photographien) über den Emigranten ermöglichen Vorstellungsweisen, die von den Zuschauer_innen aufgegriffen und als Vorstellungsbilder eingelöst werden. Dieses komplexe Feld von Erwartungs-, Selbst- und Fremdbildern sowie die medialen Figurationen von Vor-, Nach- und Ko-Gängigkeit werden im Weiteren genauer in den Blick der Untersuchung kommen. Die folgenden Ausführungen des vorliegenden Kapitels werden diese Konstellationen und filmischen Verhandlungsweisen zuerst noch von der Absenz des Emigranten in den heimischen Zusammenhängen ausgehend erläutern und analysieren.
6.3.
Die filmische Konstruktion der Heimzusammenhänge: Migration und Film
An dem Erzählgestus der frühen türkischen Emigrationsfilme zeigt sich, dass sie Migration besonders über jenes Ereignismoment verhandeln, das als Rück- beziehungsweise Heimkehr verstehbar ist. Die Erzählperspektive in Davaro beispielsweise richtete sich auf die home group und legte den Emigranten dadurch im Vorfeld als Mitglied einer gesamten dörflichen Gemeinschaft und einer dörfischen Familie (zumindest, was davon noch übrig ist) an, in die er aus der Emigration zurückkehren konnte. In den bisherigen Ausführungen des vorliegenden Unterkapitels ging es schließlich darum, in den Emigrationsfilmen die Erzählung der Heimkehr als ein zentrales Moment zu identifizieren. Damit einhergehend ging es darum, die Szenen, in denen die home group vor dem Eintreffen des Emigranten gezeigt wird, als Absenzszenen/-sequenzen85 und damit als spezifischen Szenentypus filmwissenschaftlich zu kontextualisieren. Die Filme implizieren allerdings mit der Konstellation einer permanenten, kommunikativ getrennten, telepräsentischen86 sozialen Situation zwischen Emigrant und home group allerdings eine solche Raumvorstellung, wie sie Elisabeth Scheibelhofer aus einer raumtheoretisch komplexer motivierten Migrationsforschungsperspektive heraus als »essentialistisch« bemängelt: 84 Hanich (2012, S. 170). 85 Manchmal sind es ganze Sequenzen. 86 Vgl. Waldenfels (2009, S. 108-111), Flusser und Bollmann (1997), Tholen (2002, S. 111-146).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
Die momentane Migrationsforschung baut beträchtlich und wenig überraschend auf den klassischen Theorien zu Migration auf. […] Implizit wird nach wie vor meist von einem essentialistischen Raumkonzept ausgegangen, in dem sich Menschen von einem Ort zum anderen bewegen […].87 Die vielfältigen Bewegungsformen und Relationalitäten, die neuere Raumtheorien bei der Entstehung von Räumlichkeit und Raum berücksichtigen, finden damit weder in den Modellen fixer sozialer und räumlicher Migrationsmodelle eine Entsprechung noch in den frühen türkischen Emigrationsfilmen, die ein Modell von kurzzeitiger Emigration und permanenter Rückkehr verhandeln. Oder neutraler formuliert: Gerade »klassische« Vorstellungen einer absoluten Getrenntheit, die den Vollzug der Migration an die Beendigung von Wanderungsbewegungen des migrierenden Subjekts innerhalb einer nationalen Geographie setzt, finden sich in den Rückkehrerzählungen vieler Emigrationsfilme wieder. Aber: Ein essentielles Raumverständnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Bewegung, die die Migration auszeichnet, an sich »eine qualitiative Veränderung eines Ganzen« schon immer enthalten ist, denn »Bewegung verweist immer auf Veränderung, Migration, saisonbedingten Wechsel«88 . In der Untersuchung der Einführungssequenz von Davaro lässt sich erahnen, was in der Einleitung des Kapitels selbst noch Vorüberlegung gewesen ist: dass nämlich Migration als das komplexe Gefüge im Falle einer sie zu fassenden und fixierenden Geste (sprachliche oder visuelle Konstruktionen) vielfältige Setzungen, Spaltungen, Ausblendungen, Positionalitäten und, ganz besonders, Bild- und Blickhaftigkeiten erzeugt. Wenn für menschliche Migration notwendig eine relationale raum-zeitliche Verschiebung zwischen Subjekt und Umwelt89 stattfinden muss, kann sich ein über diese Ausblendungen hinausgehendes Erfassen der Komplexität von Migration realisieren, indem man das relationale Gefüge (Raum-Zeit-Ort) berücksichtigt, von dem das ›Wie‹ der Migration bestimmt ist. Wer in welcher Relationalität migriert wann, von wo, wohin, bleibt wie lange dort, lässt welche Zuschreibungen zum Lebensmittelpunkt wie erfolgen, auf Grundlage welcher imaginären Setzungen? Über welche Prozesse (Werden) ist die Migration im Verhältnis von Virtualität und Aktualität wie bestimmt? Anders formuliert: Wenn Migration als sie definierende eigentümliche Instanzen Raum, Zeit, Dauer, Bewegung, Grenzübertritt, Umwelt et cetera birgt, so ist mit dem relationalen Gefüge zwischen ihnen ein Forschungssubjekt gegeben, das Setzungen gegenüber selbst wieder Imaginäres und Unverfügbarwerdendes abwirft. Mit dem Begriff Gefüge ist – weniger konkret als bei Deleuze und Guattari selbst –, aber in folgender Auslegung davon gemeint, 87 Scheibelhofer (2011, S. 112). 88 Deleuze (2005, S. 22), allgemeiner dazu Nail (2015, S. 11-20). 89 Diese Gegenüberstellung ist, wie die Soziologie und Philosophie im Allgemeinen anzeigen und der »new materialism« (Sullivan 2015) oder die Medienökologie (Sprenger und Löffler 2016) es nochmal anders wenden, eigentlich kaum haltbar. Für eine phänomenologische Diskussion der Kategorie des »Ringsum« siehe Waldenfels (2009, S. 58ff.). Auch Schütz erkennt das Feld der Problematik von Migration und sein Verhältnis von Raum- und Zeitlichkeit in seiner Studie zum »Heimkehrer« an (siehe Kapitel 7).
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Die visuelle Kultur der Migration
eine kontingente Anordnung von radikal heterogenen Praktiken und Dingen [sowie Techniken – und teils anti-deleuzianisch ergänzt – und Subjekten (Ö.A.)] (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 698-700). Im Gegensatz zur statischen Figur des Dispositivs oder zur genealogischen Methode Foucaults liegt der Fokus des Konzepts dann auch besonders im Erfassen des Emergenten, Vorübergehenden, des noch nicht in abgeschlossener Form Bestehenden.90 Mit der tautologisch anmutenden Zuspitzung ›relationales Gefüge‹ betone ich die Mannigfaltigkeit der Raum-Zeit-Bewegungskontexte, die die Migration als solche Anordnung eines sich stets im Werden befindenden im Besonderen herausfordert: prozessuale Relationalität ist konstitutiv für Migration.91 Es geht hier also nicht darum, Migration im Vorfeld auf ein Modell von uni- oder bidirektionaler Wanderungsbewegung zu reduzieren, das dann in den Filmen ausfindig gemacht wird, sondern Wachsamkeit oder Intelligibilität im Hinblick auf jenes relationale Gefüge zu wahren, das Migration bestimmt/ist. Diese Wachsamkeit ergibt sich aus der in den Analysen noch deutlicher zu entfaltenden Einsicht, dass Medialität und Migration in einem sehr konstitutiven Verhältnis zueinanderstehen (▶ Kap. 8). Die türkischen Emigrationsfilme stellen zum Beispiel in ihrer syntagmatischen Anlage zwischen ins Dorf reisendem Emigranten und den Daheimverblieben noch bis in die 1980er Jahre schlichte(re) Raum-Zeit-Bezüge her. So sind die filmischen Relationen und Konfigurationen selbst noch einem zeitlichen Modell verpflichtet, das die Migration beispielsweise auf die erzählte Zeit von der Heimkehr reduziert oder gemäß einer Logik des Bewegungs-Bildes fungiert. Weil Migration ein »Reisen im Bleiben« und ein »Bleiben im Reisen«92 ist, ist sie eigentlich in Dauer und Örtlichkeit perspektiven-abhängig und damit insoweit im Kontext des Films zu begreifen, wie seine Mittel verfügen (inklusive dem subjektiven Erfassen, Empfinden, Wahrnehmen, die das mit diesen Mitteln zur Verfügung gestellte entfalten), die raum-zeitliche Dimension dieses relationalen Gefüges zu bestimmen. Konkreter für die vorliegende Arbeit gesprochen: Wenn in den Untersuchungen zur filmischen Konstruktion der Emigration in den Filmen angesetzt wird, so kann diese Untersuchung nicht von Setzungen des Zeit-, Ortund Räumlichen absehen, die die Migration selbst über ihre Zeit-, Ort- und Raumbezüge, sprich auch über performative93 Deixes, die im Film nicht nur zwischen Einstellungen, den syntagmatischen Kombinationen, den innerfilmischen Wahrnehmungszeiten (Zeitlupe, Raffer), Settings, Flashbacks et cetera, sondern in Zeit-Bildern94 selbst enthalten sein können, zu beschreiben sucht. Das Sprechen über/Erkennen oder Zeigen von Migration produziert Hiers, Dorts, Räume, Zeit- und Örtlichkeiten.95 Darum ist das Produkt von Migration im Plural (zum Beispiel Diaspora) noch schwieriger »stillzustellen«: 90 Hess et al. (2010, S. 254). Zum komplexen Verhältnis von Repräsentation und den verschiedenen Formhaftigkeiten/Formlosigkeiten im Kontext auch der Migrationskultur siehe Schaffer (2013). 91 Vgl. Görling und Trinkaus (30.06.2008). 92 Hess et al. (2010, S. 244). 93 Waldenfels (2009, S. 43-47). 94 Deleuze (2005). 95 Waldenfels (2009, S. 31-64).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
Eine Diaspora kann, dies liegt in ihrem Wesen, niemals vollständig verstanden, erfasst oder quantifiziert werden, selbst – oder besonders – von ihren eigenen Mitgliedern nicht. Im Zusammenhang von Diaspora und visueller Kultur findet dieses Paradox eine Verkörperung. Eine Diaspora kann nicht im traditionellen Sinn ›gesehen‹ werden, und sie kann sicherlich nicht von einem einzelnen Standpunkt aus gesehen dargestellt werden.96 Mit den technischen Möglichkeiten des Films knüpfen sich dann Verfahren, die die Positionalitäten (wenn auch immer noch spezifisch begrenzt) multiplizieren und die Raum-Zeitlichkeiten ästhetisch aufgreifen. Die Montage kann zum Beispiel unterschiedliche Perspektiven (Migrant und Daheimverbliebene), die selbst wiederum unterschiedlichen Zeitbezügen obliegen, in kurzer Zeit abrufen. Das vielfältige Zeit-Relationen in sich bergende Zeit-Bild kann wiederum vielfältige Aspekte jenes relationalen Gefüges der Migration, manchmal gar in einem einzigen Bild, zwischen Virtualität, Aktualität, Vergangenheit in der Gegenwart, der Gegenwart in der Vergangenheit, der Zukunft in der Gegenwart wie Vergangenheit usw. sichtbar machen, bei all ihrer komplexen Phänomenalität (Erscheinen, Durchscheinen et cetera). Dabei sind diese Felder des Bildes als je spezifische Sichtbarmachung und Sichtbarkeit97 nicht von ihrem Umfeld der Wissenskonstruktion zu trennen, das das Gesagte genauso kokonstituiert wie die Vervielfältigung der intra-medialen (Photo im Film) Bezüge. Sofern an den Analysen also ein Verhältnis zwischen Migration und Film untersucht wird, werden sich die Analysen bei aller Unvermeidlichkeit der Bezugnahme auf ein Modell von Repräsentation und Erzählung, besonders auf die Dimension der visuellen Konstruktion in den Filmen einlassen. Denn das, was als Migration angenommen wird, ist nicht nur so, weil wir uns als soziale Lebewesen darauf einigen, dass Migration so oder so aussieht oder auszusehen hat, sondern weil Migration selbst wieder über eine visuelle Konstitution verfügt, die zuallererst über eine Analyse der Blickregime und anderer Facetten des Visuellen herauszustellen ist. Diesen Herausstellungsversuchen folgen die kommenden Analysen und leisten so einen Beitrag zur Bestimmung der Relationalität von Migration, Visualität und Film und geben damit auch Einsichten zur medientheoretischen Bestimmbarkeit von Migration.
6.4.
Abwesenheitssequenz II: Kara Toprak (1973) – Die paradigmatische Heimkonstellation
Eingeleitet wurde in das Kapitel generell mit der Analyse der Einstiegssequenz in Davaro – einem Film, der das Motiv der Heimkehr, welches ihm vorausgehende Remigrationsfilme häufig aufgriffen, parodistisch verhandelt. Die Analyse an der Sequenz stellte sie als ein besonderes Beispiel einer Absenzszene heraus, die im Vergleich zu den Filmen davor durch eine spezifische Entfaltung der heimischen Zusammenhänge und 96 Mirzoeff (2012, S. 29). 97 Jedem Bild ist eine eigene Ordnung der Sichtbarkeit inhärent, insofern »[v]erschiedene Sichtbarkeiten verschiedenen Bildästhetiken [entsprechen]« (Borsò 2008, S. 282).
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der Einfaltung der Zuschauer_innen in die visuellen Logiken (imaginäre und symbolische Bilddimensionen) auszeichnete. Die nachfolgenden Untersuchungen bezwecken die Erarbeitung von paradigmatischen Absenzszenen in den Remigrationsfilmen, die Davaro also vorausgingen. Dabei greift die Wahl der untersuchten Filme die filmkulturhistorische Entwicklungserzählung von den Repräsentationen des Emigranten auf und verortet sie in zwei Genres: dem Dorffilm (Kara Toprak) und dem identitäts-ideologisch aufgeladenen Islam-Propaganda-Melodram (Oğlum Osman). Es werden zwei Einzelsequenzanalysen im Vordergrund stehen. Der erste Film stellt die heimischen familialen und anatolisch-kulturellen Zusammenhänge eines Arbeitsmigranten her. Das geschieht so, dass sowohl die benannte Diskursproduktion zum abwesenden Emigranten anatolische kulturelle Matrizes aufruft. Zugleich lässt sich an der Analyse der visuellen Konstruktion der Heimszene genau jener anatolisch-kulturelle Zusammenhang in einen größeren medien- und sozialtheoretischen Zusammenhang stellen. Konkret wird die Analyse aufzeigen, dass Migration mediale Konstellationen hervorruft, die von Anwesenheit, Abwesenheit, Imaginärem, Symbolischem, technischen Dispositiven (Photographie) und auch Raum-Zeitspaltungen durchsetzt ist. Die Analyse der filmästhetischen Verfahren wird diese Durchsetztheit sichtbar zu machen suchen. Der zweite Film der Untersuchung ist stärker ideologiehistorisch durchsetzt. Seine Anfangssequenz ist so gestaltet ist, dass die Migrationskonstellation dem ideologischen Programm des Films, nämlich dem Konservatismus zuarbeitet. Konservatismus ist selbst ein mediales Gefüge, in dem Migration es zu stabilisieren hilft: Weil Migration raum-zeitliche Veränderungen (Bewegungen) sozialer und materieller Gefüge im Besonderen bedeutet, widerstrebt sie statischen Stabilisierungen. Weil der Konservatismus auf der Erhaltung vorausgesetzter, invariabler Konstanten beruht, kann Migration eine besondere Herausforderung konservativer Programme bedeuten. Der Film macht sich diese Zusammenhänge für ein angelegtes ideologisches Programm zu nutze. Zugleich wird sich die Analyse auf die visuelle Konstruktion dieser Verhältnisse konzentrieren und die Konstitutivität der Parameter Blick, Materialität, Erinnerung, Sensualität und technischer Dispositive herausarbeiten, die ein medientheoretisch sensibles Verständnis von Migration möglich machen. Für alle Untersuchungen in den vergangenen und folgenden Hauptkapiteln ist zu berücksichtigen, dass die Untersuchungsoperation der Isolierung von Absenzszenen nur scheinbar ein künstlich-konstruktives Moment inhärent ist insofern, als dass die entkontextualisierende Extraktion aus dem komplexeren syntagmatischen Zusammenhang des Films durch rekontextualisierende Einordnungen aufzufangen versucht wird.98 Eine solche Rekontextualisierung impliziert auch die kultur- und genrehistorischen Bestimmungen zu erörtern, die nahezu alle Emigrationsfilme insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre trifft. Für die Remigrationsfilme und die vorliegende Untersuschung heißt das, zunächst dem Genre des Dorffilms zu folgen. 98 Zur »extrahierenden Analyse« siehe Cavell (1979, S. xiv).
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
6.4.1.
Eine kleine Geschichte des Dorffilms
In einer dreiteiligen Untersuchungsserie (»inceleme«), die 1973 in der Filmzeitschrift Yedinci Sanat (»Die siebte Kunst«) erscheint, setzt sich Scognamillo 1973 mit dem türkischen Genre schlechthin auseinander: dem Dorffilm. Für das Genre hat Scognamillo viel Kritisches, aber auch einiges Gutes übrig. So schreibt er, dass »der Dorffilm für die Türkei das Potential besitzt, Kontakt zu einer Gruppe von 20 Millionen Menschen jenseits der Städte aufzubauen«99 und damit auch zwischen und mit ihnen zu vermitteln.100 Insbesondere im zweiten Teil seiner Untersuchung spricht Scognamillo dann über die Repräsentation der Dorffiguren und die Hauptkonflikte in den Plots, untersucht die Themen, die Klischees, die Stereotypen des Genres. Er stellt fest, dass die Oberflächlichkeit, die sich in den Filmen im Hinblick auf die Verhandlung der dörflichen ›Wirklichkeit‹ zu häufig für ihn anzeigt101 , Resultat der türkischen Filmzensur ist, die die »wirklichen« Probleme fast nie filmisch zu zeigen ermögliche.102 Da dürfen auch schon mal die Halme der Weizenpflanzen auf den Feldern, die Metin Erksan in seinem Biopic über die türkische Bardenikone Âşık Veysel ins Bild setzt, – übrigens sein Debüt – keine zu kurze Länge für die türkische Zensur aufweisen103 : Die verantwortlichen Zensurbeamten wollten wohl das Bild einer fruchtbaren, produktiven Türkei keineswegs schmälern, die anscheinend ausschließlich über genau jene fruchtbaren Felder und fortschrittlichen Traktoren verfüge.104 Und doch kann sich Scognamillo bei der Aufbürdung der Verantwortung für die Misere des Dorffilms auf die Zensur auch den kulturkritischen Seitenhieb auf das türkische Massenpublikum nicht verkneifen. Ihm wünscht er eher die Verhandlung »wirklicher Probleme« statt die »Lametta-Melodramen«, nach denen es stets dürstete.105 In dieser kritischen Analyse (keine Verhandlung der Dorfwirklichkeit aufgrund filmzensurieller Bestimmungen und Interesse der Masse an Selbstbetörung durch Körpergenres106 , Starsystem, Glamour, also dem Yeşilçam-System allgemein) findet 99 Scognamillo (1973b, S. 8). 100 Dabei fragt sich eigentlich, wer mit wem Kontakt aufnehmen könnte. So produziert Scognamillo in dieser das Dorf als Teil türkischer Gemeinschaft exkludierenden Annahme eine klassistische Zweiteilung von Dörfler_innen und den Anderen. 101 Scognamillo (1973b). Scognamillo stellt so zum Beispiel fest, dass die Dorffrauen alle schön geschminkt (siehe die Abbildungen von Frauen aus Dorffilmen im Buch hier) sind, dass die fremden Städter, die dorthin kommen alle nur Verführer der naiven Dorffrauen sind und generell hätten die Dorffrauen das schwierigere Los als die Männer, die hauptsächlich vor den Teestuben weilen und sich bei den Barbieren glattrasieren lassen. 102 Scognamillo (1973a, S. 13f.). 103 Erksan (1952). 104 Metin Erksan in Milli Türk Talebe Birliği Sinema Kulübü (2014, S. 27) und Scognamillo (1973b, S. 41). 105 Ausnahmen sind sicherlich fast alle Filme Yılmaz Güneys wie zum Beispiel Umut (»Hoffnung«) (1971) und Hudutların Kanunu (»Das Gesetz der Grenzen«) (1966); hier als Hauptdarsteller. Der zuletzt genannte Film wurde übrigens von Martin Scorseses World Cinema Foundation zu restaurieren versucht, die erhaltene Kopie war dennoch in so schlechtem Zustand, dass ein mehrminutiger Teil nicht mehr restauriert/gerettet werden konnte; die restlichen Filmkopien wurden von der Zensur und/oder aus politischen Gründen zuvor vernichtet oder sind unauffindbar. 106 Williams (2009).
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sich fast die gesamte filmwissenschaftliche Debatte gespiegelt, die bis heute den Diskurs um das Genre des türkischen Dorffilms bestimmt.107 Wenn in den nachfolgenden Ausführungen also ein Rekurs auf solche Debatten nur sporadisch Bezug genommen wird, dann um den kulturkritischen Diskussionen um den populären Dorffilm mit den Untersuchungen der Absenzszenen ›den Wind aus den Segeln zu nehmen‹: um also die visuelle Konstruktion der Filme als zu entdeckendes Feld zu betrachten und damit einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive und Lektüre zu überantworten, die das filmästhetische Eigenpotential im medienkulturellen Kontext abklopft. Als Film, dessen Setting im dörflich-anatolischen Kontext angelegt ist, gehört der hier zu analysierende Kara Toprak (wie Davaro auch) zum Genre des Dorffilms. Dessen Entwicklung vom sozialrealistischen Genre zum Mainstream-Genre von seinen Anfängen in den 1950ern bis zu seiner Transformation im Yeşilçam-Kino der 1960er und 70er soll hier kurz skizziert werden. Ein Einblick in das Genre zeigt nämlich, dass die Figur des ›Deutschländers‹ auch eine Erweiterung seines Stereotypenrepertoires bedeutet. Erwachsen ist das Genre zeitgleich zur so genannten toplumcu gerçekçi köy edebiyatı (»sozialrealistische Dorfliteratur«). Sie wurde maßgeblich durch Maßnahmen der damaligen CHP-Regierung in der Ein-Parteien-Phase nach der Republiksgründung möglich. Die Dorfinstitute, die damit in den 1930ern und 40ern in anatolischen Gebieten aufgrund von unzureichender Ausstattung von Schulen gegründet wurden, waren mit der Ausbildung von geeigneten Dorfjugendlichen zu Lehrer_innen beauftragt, die wiederum in den Dörfern und Gemeinden eingesetzt werden sollten. Mit der Bildung, die sie an den Dorfinstituten erwarben, konnten so spätere Schriftsteller_innen wie Yaşar Kemal und Mahmut Makal in den 1950ern ihre gelebten Erfahrungen aus dem dörflichen Milieu in literarischen Werken wie beispielsweise dem als Gründungsroman verhandelten »Bizim Köy« (»Unser Dorf«) verarbeiten. Filmemacher_innen waren hingegen nicht unter den Absolvent_innen der Dorfinstitute. Die Regisseur_innen der so genannten »Filmemacher-Periode« (▶ Kap. 3), unter anderem Metin Erksan und Lütfi Ömer Akad, waren vornehmlich in bildungsbürgerlichen Familien und/oder städtisch sozialisiert. Dabei widmeten sie sich der filmischen Umsetzung möglichst ›realistischer‹ Dorffilme schon in den 1950ern und wurden so dem Sozialrealismus der 1960er zugeschrieben und schrieben ihr Filmeschaffen selbst einer solchen Richtung zu. Für den Film nimmt das Genre damit seinen Anfang in den 1950er Jahren, auch wenn der republiksnahe und den westlichen Künsten positiv gewogene Muhsin Ertuğrul bereits 1934 mit Bataklı Damın Kızı Aysel (»Aysel, das Mädchen aus dem Moor«) einen Dorffilm realisiert108 und besonders kommerzielle Produzent_innen und Regisseur_innen wie Muharrem Gürses das Genre mit zahlreichen Filmen erfolgreich für das Kino umsetzen. Auch die schon in den 1940ern gedrehten, künstlerisch ambitionierten Filme der städtisch-bourgeoisen Filmemacher_innen bleiben in ihrer Nutzung des Dorfs als Sujet einer das Gewissen entlastenden (Verantwortung gegenüber dem rückständigen 107 Vgl. Velioğlu (2004), Depeli (2003), Ünlü (2009). 108 Velioğlu (2004, S. 77f.). Der Plot des Films ist dabei, typisch für das humanistische, europhile Bestreben der Republiksanhänger_innen erster Stunde, einem europäischen, nämlich schwedischen Bühnenstück entlehnt.
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Dörflichen) und Oberflächlichkeit produzierenden Logik des Exotismus verhaftet, wie Scognamillo beschreibt: [Die Filmemacher des frühen Dorffilms] blicken auf das Dorf aus der Ferne, als Städter, mit einem oberflächlichen Blick, ohne zu nahe zu treten. […] Nicht das Dorf selbst, nicht dessen Probleme, sondern einen sich in das Gewand des dörfischen Milieus wickelnden ›Exotismus‹ bringen sie, vielleicht um nicht der ›Demütigung türkischer Dorfbewohner wegen verurteilt‹ zu werden. So wie es dem ›Wilden‹ zugestoßen war. Köye dıştan, uzaktan, kentli gibi bakıyorlar, yüzeyde bir bakışla, fazla yanaşmadan. […] Köyün kendisini, sorunlarını değil, kuşkusuz, köy havasına bürünen bir çeşit ›ekzotism‹ getiriyorlar, belki Türk köylüsünü ›tahkir etmek suçuyla yargılanmamak‹ için. ›Yaban‹ ın başına geldiği gibi.109 In seiner Untersuchungsserie skizziert Scognamillo auch eine Genealogie des Dorffilms und evaluiert das von Metin Erksan inszenierte Biopic Karanlık Dünya (»Dunkle Welt«) (1952) über den blinden türkischen Sänger und Ikone Âşık Veysel als einen der ersten Dorffilme, der versuche, die Thematik des Dorfs als Problemstellung ernst zu nehmen.110 Aufgrund von Zensurbestimmungen habe Erksan dem Dorf trotz ambitionierter Filmsprache lediglich eine »Rolle als Staffage und Dekor«111 einräumen können. Mit dem Versuch einer möglichst authentischen Skizzierung avisierte Lütfi Ömer Akads im Jahre 1955 inszenierte Literaturverfilmung Beyaz Mendil112 (»Weißes Tuch«) des gleichnamigen Romans113 des wohl prominentesten Autors der Dorfbewegung, Yaşar Kemal, erste ästhetische wie inhaltliche Ansätze, denen man Nähe zum »Sozialrealismus« zusprechen könnte. Mit seiner erzählerisch unverbundenen Dorffilmtrilogie blieb Erksan dem Genre noch bis in die 1970er Jahre treu.114 Diese Tendenzen zur sozialrealistischen Darstellung verflüchtigen sich schließlich in der inflationären Produktionsfrequenz des Pre-/Yeşilçam-Kinos der 1950er bis 70er Jahre zu Gunsten von stets wiederkehrenden Stereotypen der Attraktionsgenres Melodrama und aktionsreicher Handlung (besonders produktiv im Melodrama-Genre ist Muharrem Gürses). Durch die Verquickung von Elementen aus Attraktionsgenres, die die Produktionsökonomie des staatlich unsubventionierten Yeşilçam-Kinos zur Finanzierung des Budgets von den Filmen einzufordern zwingt, transformieren sich also die anfänglichen Bestrebungen nach sozialrealistischen Tendenzen. Der Dorffilm wird zu einem Affektkino, das auf die ›breite Masse‹ ausgelegt ist und das zwischen städtischem und dörflichen Kontext sozialisierte türkische Publikum in zweierlei Hinsicht anzusprechen versucht: Das Dorf als sujet sollte das Publikum auf der Ebene nostalgischer Bedürfnisse ansprechen, waren 109 Scognamillo (1973b, S. 36). 110 Scognamillo (1973a, S. 10). 111 Scognamillo (1973a, S. 10). 112 Akad (1955). 113 Vgl. Kırel (2005), Arslan (2005, S. 7-59). 114 Yılanların Öcü (»Die Rache der Schlangen«) (1961), Susuz Yaz (»Trockener Sommer«) (1963) und Kuyu (»Brunnen«) (1968) bilden die Trilogie (vgl. Tunç 2012, S. 120), sind allerdings keineswegs Erksans einzigen Dorffilme. Dabei wurde Susuz Yaz auf der Berlinale 1964, unter anderem unter der Jury von Samuel Fuller, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Auf Anraten von Fatih Akın wurde der Film von Martin Scorseses World Cinema Project (www.film-foundation.org/world-cinema) restauriert und untertitelt.
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die meisten Zuschauer_innen in ihrer Sozialisation von der Trennung ihres Heimatdorfs betroffen imaginiert (Wehrdienst in einer anderen Stadt, höherer Schulbesuch in der Stadt, Binnenmigrations- und Emigrationserfahrungen et cetera). Die filmische Realisierung von Dorffilmen war also darauf ausgelegt, solche Sehnsüchte nach dem Dorfmilieu (Ikonographien, Atmosphären) zu adressieren. Mit dem Ziel nach einer zunehmenden Transformation in ein Attraktionsgenre sollte der Dorffilm außerdem wiederkehrende melodramatische Erzählmuster mit affektiven Modulationen koppeln und sich so als kulturelle Unterhaltungspraxis manifestieren. Dafür boten die symbolischen Facetten des Dorfs allerlei ›Material‹ – angefangen bei der kulturellen Matrix des Ehrenkodex, dem bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus aktiven Feudalsystem, das den Klassenkonflikt und Erzählungen des sozialen Aufstiegs oder der Emanzipation thematisieren hilft. Genretypische Elemente resultieren aus der Soziostruktur des Dorfs, wie die Figuren (Dorfvorsteher, der Großgrundbesitzer, die Figur der Mutter, der Dorfsänger, der Teestubeninhaber, der Dorfbarbier, der Händler, der Metzger, der Dorfimam, der Dorfclown und/oder -bote, -barde), die folkloristische Musik oder Naturlandschaften als filmische Architekturräume (Berge, Höhlen, Flüsse, Felder). Trotz der auch von Scognamillo monierten Zensur ist es bis in die 1970er um das Genre des Dorffilms gut bestellt, vor allen Dingen auch nach dem kommerziellen Erfolg von Dönüş115 (▶ Kap. 8.2). Neben den cineastisch bedeutsamen Filmen des Genres, wie beispielsweise den beiden Dorffilmen Süreyya Durus116 , die das im türkischen Kino unerschöpflich aufgegriffene Thema des Ehrenmords (Bedrana, 1974) und des Feudalsystems (Kara Çarşaflı Gelin [»Die Braut mit dem schwarzen Gewand«], 1975) erzählerisch wie bildästhetisch komplex und paradigmatisch verhandeln, ist das Dorf sujet unzähliger weitere Filme, die in ihrem melodramatischen Modus zudem auch als Körper-Genre117 fungieren. Der Ehrenkodex funktioniert deswegen besonders affektevozierend, weil er in sexualpolitische Zusammenhänge von Schuld und Unschuld eingebunden werden kann. Der sexuelle Akt mit der ehrbaren Frau ist in den Plots der Dorffilme oftmals Begehrensobjekt von Großgrundbesitzern, über das sie nicht verfügen können. Die ›Ehre‹ der Frauen, die mit ihrer Keuschheit zusammenfällt, ist das einzige, das sich der Erwerbsmöglichkeit des Großgrundbesitzers entzieht, aber gerade deswegen auch dasjenige, das den Bewohner_innen trotz ihrer Mittellosigkeit ihre Würde belässt. Solche Plots helfen eine konservative Sexualpolitik zu verhandeln. So ist zum Beispiel der Plot in Dönüş über die Gefahr für die Ehre wie in den meisten Dorffilmen durch das sexuelle Verlangen des antagonistischen Großgrundbesitzers nach der verheirateten und schönen Protagonistin bestimmt. Hier ist der Großgrundbesitzer ein autoritärer Mann, der wirtschaftlich über die Dorfbewohner_innen verfügt: ein Dorfsouverän, dessen wirtschaftliche Macht mit Herrschaftsmacht zusammenfällt, weil das Lehenssystem wirtschaftliche Abhängigkeiten der Dorfbewohner_innen generiert, die sich auf der sozialen Ebene reproduzieren. Konkret solidarisiert sich die Dorfmenge in Dönüş zu einem Lynchen der armen Dörflerin, nachdem das Gerücht aufkeimt, dass 115 Vgl. Dorsay et al. (o.J., S. 27). 116 Vgl. Dorsay (2014). 117 Vgl. Williams (2009).
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sie in der Abwesenheit ihres emigrierten Ehemanns İbrahim sich auf den Dorflehrer eingelassen habe (▶ Kap. 8.2). Oft zeigt sich in den Filmen daher auch das Vergewaltigungsmotiv und seine explizite Darstellung zieht sich durch die gesamte türkische Filmgeschichte bis heute: zum Beispiel in der sich über 80 Episoden erstreckenden Serie Fatmagülün Suçu Ne (»Was ist Fatmagüls Schuld?«) (2010-2012). In der Romanadaption von Türkalis gleichnamigem Roman wird die schwierige (Liebes-)Beziehung zwischen einer vergewaltigten jungen Frau und einem Mann erzählt, der bei ihrer Vergewaltigung zusieht und dem aber eine Mittäterschaft unterstellt wird. Die Nicht-Zensierung gar der expliziten Darstellung der Vergewaltigungsszene im öffentlichen Fernsehen arbeitet ambivalenten patriarchalisch-moralischen Vorstellungen zu, in denen der weibliche Schuldzusammenhang immer mehr in den Vordergrund gerät. Die Szene ist nicht pornographisch, allerdings wird die Vergewaltigung in extremer filmischer Choreographie (Nahaufnahmen Tränen der Frau, Schuss-Gegenschuss-Verfahren, Zeitlupen) gezeigt. Charakterdarsteller wie Coşkun Göğen (Tecavüzcü Coşkun, »Vergewaltiger Coşkun«) oder der per K.O. Tropfen vergewaltigende Nuri Alço, die in den 1970ern und 80ern oft in eben jenen Rollen besetzt wurden, genießen in der Türkei aufgrund der körpergenre-tauglichen Einbindung von Vergewaltigungen in Plots bis heute Kultstatus. Wenn Scognamillo in seiner Untersuchung unter den Dorfstereotypen den aus der Fremde Kommenden ausmacht, scheint er zugleich die im Dorf ansässigen Vergewaltiger, die genauso häufig in Dorffilmen zu sehen sind, zu vergessen, denkt wohl aber vornehmlich an die Vergewaltiger, die fast immer aus der Stadt kommen: Und es gibt die, die ins Dorf von außen kommen, insbesondere die aus der Großstadt. Generell sind sie auf der Seite der Bösen, oder sie sind wahre Bösewichte. Sie schleifen die gesamten Sünden der Stadt mit ins Dorf und drücken sich dem Dorf auf […]. Ins Dorf kommen manchmal die Fremden, aus dem Westen und sie gewöhnen sich ans Dorf und bleiben dann (Bir Türk’e Gönül Verdim/H. Refiğ 1969); und es kommen die, die ›fremd wurden‹, versuchen aber einen sinnvollen Beitrag zu leisten, aber schaffen es nicht, weil sie sich von der wahren Gemeinschaft zu sehr getrennt haben. […] Es gibt die, die ins Dorf kommen, bleiben und das Dorf führt sein Leben fort. Bir de köye dışardan gelenler var, özellikle büyük kent’ten. Genellikle kötülerden yanadır bunlar, ya da katıksız kötüdür. Kent’in tüm günahlarını peşlerinden sürükleyip gelip köye çökerler. […]. Köye ›yabancılar‹ gelir bazen, Batı’dan ve köye alışıp kalırlar (Bir Türk’e Gönül Verdim/H. Refiğ 1969); bir de ›yabancılaşan‹ lar gelir, olumlu bir katkıda bulunmak isterler çoğunlukla başaramazlar bu işi, gerçek toplumlarından koptukları için. […] Köye gelenler var, gidenler var, kalanlar var ve köy yaşamını sürdürüyor.118
6.4.2.
Kara Toprak als Dorffilm
In Mehmet Dinlers Kara Toprak ist – und mit dem Produktionsjahr von 1973 neben Dönüş als einer der ersten Filme überhaupt – ein aus Deutschland heimkehrender 118 Scognamillo (1973b, S. 39).
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Emigrant eine weitere Figurenvariante derjenigen Fremdlinge, die Scognamillo in seiner Untersuchung aufzählt. Kara Toprak gehört dabei zu jener Riege unzähliger klassischer Yeşilçam-Filme, die aktionsreiche mit melodramatischen Elementen verbinden und ihr Dramatisierungspotential aus der Verhandlung affektiv hoch aufgeladener vermeintlicher Konstituenten wie der namus (Ehre) und der sozialen Hierarchie (Feudalsystem) beziehen. Ganz besonders bestimmt hier die antagonistische Figur des ağa den Plot sowie die dörfliche Verheiratungspraxis, nach welcher die Heirat, so wie in Davaro auch, erst nach einer Zahlung der başlık parası (Mitgift) möglich ist. Der Plot besteht dabei aus vielerlei Verwicklungen, die sein Dramatisierungspotential steigern: Nachdem der Emigrant Murat in Anzug, Krawatte, Sonnenbrille, Hut mit Krempe und Auto ins Dorf heimkehrt und damit als klassisches ›Deutschländer‹-Stereotyp (▶ Kap. 8.2), wird er von den Dörfler_innen und Eltern voller Glück und Stolz empfangen. Im Anschluss an die erste heimische Mahlzeit nach fünf Jahren Emigration, einer mit »Mutterliebe« zubereiteten tarhana-Suppe119 , konfrontiert ihn die Mutter bei der Handwäsche am Brunnen mit dem Wunsch nach einer Ehefrau für ihn. Sie könne bei den Tätigkeiten auf dem Feld und der Hauswirtschaft für den Vater Unterstützung leisten und wäre dahingehend eine dringliche Stütze. Der Vater fügt hinzu, dass sie auch gerne noch einen Enkel in den Armen halten wollten, da sie mit »einem Fuß schon im Grab stünden«. Arrangiert sei schon alles für eine Hochzeit mit Fadime, die im Haushalt des ağas Hüseyin als Hausdienerin arbeitet. Der Emigrant gibt sich skeptisch über die Pläne seiner Eltern, doch stimmt ihnen erst einmal zu. Kara Toprak spitzt aus dieser Ausgangskonstellation das Verheiratungsnarrativ doppelt zu: Nicht nur muss Murat den Brauch der Zahlung der başlık parası einhalten, sondern der ağa muss seitens des Brautvaters um Erlaubnis gebeten werden. In Murats Fall ist das schon deswegen notwendig, weil die zukünftige Braut im Hause des ağas mit dessen leiblicher Tochter Elif großgezogen wird. Die Zuspitzung ergibt sich auch daraus, dass es der ağa selbst ist, dem das başlık parası übergeben werden muss – etwas, das im Vergleich zu anderen Filmen des Genres der üblichen Praxis des başlık parası widerspricht: Eigentlich steht sie dem Vater der Braut zu. Deswegen ist der Vater der künftigen Braut erstaunt über die Entscheidung des ağas (Hüseyin), das başlık parası einzufordern. Der Effekt dieser Erzählvariante ist die Verschärfung des Konflikts zwischen ağa und Emigrant Murat, weil sie den souveränen ağa in den Gabentausch einer Verheiratung als antagonistische Kraft involviert. Doch das Drehbuch Bülent Orans, der im Übrigen neben Safa Önal als der zweitproduktivste Drehbuchautor der YeşilçamÄra gilt, begnügt sich auch mit dieser dramaturgischen Zuspitzung des Konflikts nicht. Als der ağa das finanzielle Potential des heimgekehrten Emigranten erkennt, fordert er eine Erhöhung des başlık parası (Kopfgelds) von 15.000 auf 50.000 Lira ein und untersagt zuletzt dem Bräutigam gar die Heirat – ohne ihm das ursprünglich gezahlte Geld zurückzugeben. Als Gegenreaktion auf diese gewaltvolle Willkür beschließt Emigrant Murat kurzerhand seine Künftige in die Berge zu entführen, wo, im Falle eines Vollzugs des vorehelichen Sex, selbst der ağa gegen die Vermählung der beiden nichts mehr auszurichten im Stande wäre. Nach verlorener Unschuld wäre der Zwang der Verheiratung 119 Tarhana ist ein landesweit bekanntes, anatolisch-klassisches Konzentrat (Kernzutaten: Joghurt, Mehl, Gewürze, Paprika, Zwiebeln, Tomaten) zur Herstellung einer gleichnamigen Suppe.
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gegeben, führte eine Nichtverheiratung zum völligen Ehr- und damit gesellschaftlichen Statusverlust der Frau und ihrer Familie. Allerdings entführt Murat versehentlich die schon einem Anderen versprochene Tochter des ağa, Elif, statt seiner Künftigen. Als der gutaussehende Emigrant und die ihm eigentlich versprochene Fadime sich das erste Mal im Dorf im Aneinandervorbeigehen begegnen, blickt ihm nicht seine Verlobte ins Gesicht, sondern die Tochter des ağas, Elif. Fortan denkt Murat nun, dass Elif seine Verlobte sei und will sie in der Höhle entjungfern. Durch die Entführung spitzen sich die Umstände enorm zu. Nur noch der Tod des Emigranten kann den Konflikt auflösen, denn die Ehre des ağas ist besudelt. Obwohl Murat von der Höhle aus, in die er Elif entführte, beteuert, die ağa-Tochter nur versehentlich mitgenommen zu haben, ist der Akt der Entführung schon völlig ausreichend für den unwiederbringlichen Ehrverlust des ağas. Nachdem der und seine Gefolgsleute Murat in der Höhle finden, beschießen sie den Emigranten vom Höhlenhang. Doch auch diese Zuspitzung reicht dem Plot nicht aus. Da die fälschlicherweise entführte Tochter des ağas selbst einem wohlhabenden Grundbesitzer (Rüstem) versprochen ist und Hüseyin auch die başlık parası für seine eigene Tochter nicht rausrücken will, empfiehlt er seinem potentiellen Schwiegersohn Rüstem, den Entführer seiner Künftigen zu töten und sich seine Verlobte wiederzuholen. Rüstem lässt sich darauf ein. Die gewaltvolle Auseinandersetzung zwischen dem Emigranten Murat, dem habgierigen ağa Hüseyin und dem gewaltbereiten Verlobten Rüstem steht im Fokus der weiteren Handlung, denn »gesellschaftliche Probleme werden im Yeşilçam-Männerfilmen immer mit patriarchaler Gewalt gelöst«120 .
6.4.3.
Plot von Kara Toprak
Um wieder zurück zur Anfangssequenz zu kommen, die mit der Heimkehr des Emigranten beginnt: Tatsächlich wird Murat als ›ordentlicher‹ junger Mann in das dörflichanatolische Heim wiederkehren. Als solches lässt es sich in der elterlichen Dialogszene durch die häusliche Einrichtung und den elterlichen Kleidungsstil sowie ihren anatolisch geprägten Dialekt feststellen. Und trotzdem wird der Ausgereiste sich verändert haben – nicht nur, aber mindestens auch äußerlich. Die im Vorfeld der elterlichen Dialogszene angelegten Einstellungen, die den Emigranten im Auto auf der Landstraße Richtung Dorf zeigen, demonstrieren diese Veränderung. Plakativ blickt Murat beim Fahren in seinem Auto auf seine Armbanduhr, richtet seinen Hut mit Krempe, Sonnenbrille tragend und mit schickem, hellen Anzug mit Krawatte: ein stereotypes äußeres Erscheinungsbild eines so genannten ›Deutschländers‹, das sich damals im kollektiven Wissen als solches festgesetzt hat. Es soll sozioökonomischen Aufstieg markieren und wie sich zeigen wird, behauptet der Film mit dem visuellen (high) othering an dieser Stelle keine Fremdwerdung. In der Anfangssequenz in Davaro stand eine Strategie der Entfaltung einer Dorfgemeinde im Vordergrund, die den Emigranten als messianischen Retter erwartete und damit positiv-phantasmatisch überhöhte. Die Folge war ein Auseinanderklaffen von Erwartungsbildern zwischen home group und Emigrant. In Kara Toprak wird die Abwesenheitssequenz zu einer teilweise statisch wirkenden theatralischen Performance 120 Arslan (2005, S. 60).
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zweier Eltern, die als Repräsentant_innen eines konservativ-anatolischen Milieus konstruiert werden, für die der Sohn sozialer Aufstieg, Sicherung, aber auch potentielle Bedrohung familialer und sozialer Ordnung darstellt.
6.4.4.
Filmanalytische Beschreibung – Kara Toprak
Die → Sequenz beginnt mit einem Szenenwechsel. Dieser realisiert sich durch einen Schnitt von den Landstraßenaufnahmen, bei denen die äußere Anderswerdung des Emigranten anhand von Profilaufnahmen gezeigt wird, auf eine Szene, in der die Eltern des Heimkehrers ihre Sorgen über dessen Verfremdung kundtun. Allerdings bleibt bei diesem Szenenwechsel eine Ambiguität im Hinblick auf die Deutung einer möglichen Fremdwerdung des ›Deutschländers‹ zurück. Die Frage, die in dieser Anfangssequenz bis zur eigentlichen Rückkehr des Emigranten ungeklärt bleibt, ist diejenige nach dessen charakterlicher Veränderung: Ist der Emigrant im Verhältnis zu seiner als ursprünglich angenommenen anatolisch-islamischen Identität während der Emigration im Ausland fremd geworden oder nicht? Doch wie genau ist die Szene visuell konstruiert, in der die Eltern diese Frage nach der Veränderung des Emigrantensohns in ihrem Dialog verhandeln? Wie hängt diese diskursive Ebene mit der Ebene der visuellen Konstruktion zusammen? Zwei Hände greifen die an der Wand angebrachte Photographie eines jungen Mannes (Abb. 13.1). Dann zoomt die Kamera heraus und wir sehen eine anatolisch gekleidete Frau, die Sehnsuchtsworte über den emigrierten Sohn Murat spricht (Abb. 13.2), nachdem sie sich im spärlich eingerichteten Zimmer auf das Sofa setzt. Sie küsst die Photographie, woraufhin von links der Vater ins Bild tritt und sich neben die Mutter setzt (Abb. 13.3). Nun legt die Mutter beide Hände auf dessen Knie (Abb. 13.4).
Abbildung 13.1-12 – Standbilder aus Kara Toprak (1973)
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Wie bei Davaro hat auch bei Kara Toprak der Zoom, der die Szene einführt, den Charakter des ›In-die-Welt-Holens‹: Durch Herauszoomen von Photographie auf Elternwohnung erzeugt sich das räumliche Umfeld als ein spärlich eingerichtetes Zimmer. Diese reduzierte Ausstattung des elterlichen Heims neigt damit zur Vermittlung eines Eindrucks von Ärmlichkeit. Bei den vielen Varianten von Kopftüchern zeigt der Unterschied von eşarp und tülbent die Milieuzugehörigkeit der Mutter über das Kostüm an121 : Tülbent, aus Baumwolle hergestellte, dünne, fast durchsichtige Kopftücher, die außerdem zumeist bedeutungsvolle Stickereien an deren Rändern enthalten, forcieren mit den anderen Dörflichkeit konnotierenden Elementen (der establishing shot in der Anfangssequenz auf das Dorf, die Sazmusik) die Zuweisung zum Dörflichen. Ihr die Photographie aus der Hand nehmend spricht der Vater nun davon, dass die fünf Jahre seit Murats Emigration nach Deutschland schneller vergangen sind, als die letzten fünf Tage seit Erhalt der Nachricht von der Rückkehr des Sohns, die nun kaum zu vergehen scheinen (Abb. 13.4). Auf diese Worte hin richtet sich die Mutter auf (Abb. 13.5) und tritt langsam an die Kommode mit dem Spiegel, während die Kamera ihr in dieser Bewegung als Schwenk folgt (Abb. 13.6). Nachdem sie die obere Schublade öffnet, zoomt die Kamera in den Spiegel, in welchem der Vater mit dem Bilderrahmen in der Hand zu erkennen ist (Abb. 13.7). Auf dessen Frage, ob sie »schon die börek in den Ofen geschoben hat«, wird auf eine Nahaufnahme der Mutter geschnitten, in der sie weinend und doch freudig die Frage des Vaters bejaht (Abb. 13.8): gleichwohl eine von zwei Nahaufnahmen in der gesamten Szene, in der der Standpunkt der Kamera frontal zum Handlungsgeschehen gerichtet ist und in der die Kamera nicht mehr bewegt wird; die Kamera bleibt stets auf Seiten der Handlungsachse und überschreitet sie nie. Die dritte Einstellung wechselt zum Sofa, auf welchem der Vater noch immer mit Photographie sitzt und davon spricht, dass Murat das einzige Gesprächsthema in der Teestube sei (Abb. 13.9), woraufhin sich die häkelnde Emigrantenmutter diesmal von links zu ihm setzt (Abb. 13.10). Als der Vater sich vom Sofa aufrichtet, verkündet er seine Besorgnis über eine mögliche Verführung seines Sohns durch blonde deutsche Frauen (Abb. 13.11), woraufhin ihm die Mutter mit Verweis auf die widerstandsfähigen Qualitäten ihres Sohnes im Hinblick auf die Gefahr solcher Verführungen widerspricht. Sie richtet sich auf und bringt ihrem Ehemann seine Schiebermütze (Abb. 13.12). Mit einer Zuneigung vermittelnden Geste des ›Über-den Rücken-Streichelns‹ verabschiedet sie ihn und der Vater tritt durch die Tür hinaus.
6.4.5.
Die (Ur-)Szene der Emigrantenrückkehr: (Er-)Wartende Eltern
Widmet man sich der visuellen Konstruktion der Szene von ihrem Anfang her, so fällt auch mit Blick auf Davaro sofort auf, dass eine Photographie enthalten ist. Bei Davaro zeigen sich Photographien in der Einstiegssequenz zum einen im Bild des Vaters an der Wand (Abb. 11.2) und dann in der Polaroidphotographie von Memo vor dem Mercedes (Abb. 11.13). Bei Kara Toprak setzt die Absenzszene gar mit der Nahaufnahme einer schwarz-weißen Porträtphotographie Murats ein (Abb. 13.1), die an der Wand hängt und die die Mutter nach Abhängen mit Sehnsucht artikulierenden Worten bespricht 121 Vgl. Voßwinckel-Filiz (2017).
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(Abb. 13.2). Dabei beginnt der Film selbst nicht mit der hier beschriebenen Absenzszene und der Nahaufnahme der Photographie. Ihr geht eine Einstiegsszene voraus, die die Heimkehr des Emigranten im Auto zeigt und mit der der Film zugleich die Filmtitel einblendet. Konkret beginnt die Erstsequenz des Films mit einem aus drei Bildern bestehenden establishing shot auf Dörfer (Abb. 14.1-3)122 . Gleichzeitig setzt ein Sazsolo einer türkischen Volksmusik ein, das mit seiner Konnotation von Dörflichkeit den Bildern auf auditiver Ebene hinzutritt. Schnitt auf eine Landstraße: Aus leichter Untersicht, fast schon auf Bodenhöhe und mit Blick auf die Landstraße, die in die Bildmitte flüchtet, zeigt die Kamera ein Auto, das vom rechten Bildrand aus immer weiter in Richtung Fluchtpunkt über der Landstraße wegfährt. Die an ihrer Position fixierte Kamera folgt dem Wagen, der sich zunehmender entfernt, mit einer sehr langsamen und ruhigen Schwenkbewegung bis er an einem Traktor vorbeifährt und dann wieder an einer Biegung in der Ferne nahezu zu verschwinden scheint (Abb. 14.4). Die lange Einstellung, die dem fahrenden Auto bis in sein Verschwinden am Horizont folgt, scheint der Vermittlung der Extensivität der Anreise gewidmet zu sein, die der Emigrant als Rückkehrer aus Deutschland zurückgelegt hat. Daran schließt eine vierfache Wechselmontage aus Einstellungen an, zwischen solchen, die den Emigranten in seinem fahrenden Auto zeigen und Einstellungen, die über das Cockpit hinweg aus dem Wageninneren durch die Windschutzscheibe auf die Landstraße blicken (Abb. 14.6-11). Mit jedem der vier Schnittwechsel, zwischen Seitenporträtaufnahme und Blick aus dem Auto auf die Straße, scheint der Seitenporträtaufnahme eine andere Funktion hinsichtlich des Anzeigens des visuellen othering des Emigranten zugewiesen zu sein: Mal wird das Rauchen der Zigarette, mal das Richten des Huts und mal der Blick auf die Armbanduhr gezeigt – allesant Marker eines visual othering (mehr dazu ▶ Kap. 8.2). Die Eingangssequenz endet, als von der halbnahen Seitenporträtaufnahme Murats im Auto, der dabei rauchend gezeigt wird, auf seine Porträtphotographie an der Wand des elterlichen Heims geschnitten wird (Abb. 13.1-12). Weil Murat plakativ, hier durch entsprechende Gestikulation, im Auto mit Zigarette (Abb. 14.10), Anzug, Hut mit Krempe (Abb. 14.8) und Armbanduhr (Abb. 14.6) gezeigt wird, also jenen Dingen, die mit der ›Deutschländer‹-Werdung assoziiert sind, gibt der Schnitt vom ›eingekleideten‹ Murat 122 Die unterschiedliche Färbung der Filmeinstellungen resultiert daraus, dass aus kostenrelevanten Gründen Zelluloid unterschiedlicher Hersteller mit unterschiedlichen Farbtemperaturen benutzt werden musste, denn: aufgrund stark begrenzter Einfuhrbestimmungen für Filmmaterial aus staatlicher Seite war das Filmmaterial kaum verfügbar und zudem noch sehr teuer. Vgl. dazu auch die Dokumentation Remake, Remix, Rip-Off (2014). Interessant ist diese filmhistorische Besonderheit der Filmmaterialverknappung durch staatlich auferlegte Importbegrenzungen auch im Hinblick auf die unglaublich engen Drehverhältnisse (teilweise gar 1:2 oder sogar 1:1). Solche Drehverhältnisse wirken sich auf die Filme und ihre Konstitution/Produktion aus, denn es dürfen deswegen keine Drehfehler gemacht oder können entsprechende Fehler nicht mehr getilgt werden. Noch interessanter würde eine Filmgeschichte zur Türkei mit Blick auf Vinzenz Hedigers Vorschlag nach einer new film history geschrieben werden können, die sich an dem Ausschussmaterial der Filme orientierte – sprich der »Entropie des Films«. Aufgrund des besonderen Mangels von solchem Ausschussmaterial ließen sich türkische Yeşilçam-Filme gerade wegen der engen Drehverhältnisse als besondere Fälle einer solchen Filmgeschichte lesen Hediger (2006).
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Abbildung 14.1-12 – Standbilder aus Kara Toprak (1973)
auf die Photographie, die Murat noch ohne Accessoires zeigt, die Deutung einer äußerlichen Anderswerdung des Emigranten frei (Abb. 14.11-12). Doch die Photographie erfüllt in dieser Geste durch den Schnitt, die den Emigranten vor und nach seiner Emigration zeigt (Abb. 14.11-12), nicht nur wissensmodulierende Aufgaben. Es geht mit dem Bilderrahmen und darin enthaltener Photographie nicht nur darum, in ein Spiel der Vermutung einzuladen über die Frage, ob der Zustand einer äußeren Anderswerdung einem Fremdgewordensein des Emigranten gleichkommt oder nicht. Bis wir die Eltern darüber sinnieren hören, stellt sich je nach Wissensfiguration der Zuschauer_innen diese Frage nicht oder anders. Sie werden den gezeigten Deutschländer schon identifiziert, verurteilt, verarbeitet haben oder nicht. Der Akt des Abhängens der Photographie, das ›mit ihm Umgehen‹, rückt den Dingcharakter der Photographie in den Fokus, ohne dass Zuschauer_innen selbst die konkrete Relation zu den Figuren wissen könnten. Sie können kaum wissen, über welches Sehen/Wissen die Figuren [sehen-als] gegenüber der Photographie verfügen (siehe die gleiche Fokalisierungsproblematik auch bei Dönüş, ▶ Kap. 8.2). Die Photographie wird im Schauspiel, in den Handlungen der Figuren zugleich zu einem »Handhabungsding«, das für die Eltern als Photographie jene photographisch spezifische Ikonizität und Indexikalität verkörpert, die Murat abwesend-anwesend belässt.123 Der theoretisch komplexe Status 123 Zur Kritik der Relation von Ikonizität, Indexikalität und Bedeutung im Photographischen führt Kerstin Brandes aus: »Vielmehr führt Tagg damit Kriterien an, die Barthes dem studium [Klein geschrieben im Original, Anm. Ö.A.] zugeordnet hätte, und er teilt mit diesem gar die Ansicht, dass die Indexikalität der Photographie nichts über die Bedeutung des fotografischen Zeichens aussage. Oder, wie Dubois (1988) ganz im Sinn der ›Hellen Kammer‹ betonte, der fotografische Abdruck meine weder ›Ähnlichkeit‹ noch ›Bedeutung‹, werde aber beständig damit gleichgesetzt oder verwechselt«, (2014, S. 58). Damit ist gemeint, dass Ähnlichkeitsbeziehungen (Ikonizität) und Verweisungszusammenhänge (Indexikalität) nicht zwangsweise zur Bestimmung von Bedeutungsherstellungen im
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der Photographie, der Präsenz- wie Verkörperungseffekte birgt, lässt die Ansprache der Eltern gegen die Photographie möglich werden; etwas, das nach Mitchell uns als vormodern ausweist124 , denn wir küssen die Photos unserer Lieben, beweinen, ja streicheln gar diejenigen unserer Verstorbenen oder besprechen die Abgebildeten in Sehnsucht wie hier. Genau jene Sehnsucht artikuliert sich auch in den körperlichen Ausdrücken der Mutter gegenüber der Photographie, die sie gar küsst. Ganz nah hält sie die Photographie an ihr Gesicht, den Blick unaufhörlich gegen Murats Portrait in der Photographie gerichtet. Ihre Hände, die den Bilderrahmen fest im Griff halten, greifen, als sie den Rahmen ihrem Ehemann übergibt, dessen Knie – als Punkt, an dem sich die Anspannung ihres gesamten Körpers auflasten kann. Und selbst nach dem Aufrichten legt sie voller Aufregung die Hände ineinander, verteilt sich die Anspannung der Gesten ihrer Hände, die ineinandergreifen. In der Szene konkret spricht zwar zuerst die Mutter zur Photographie, doch auch der Vater hat den Blick stets gegen Photographie gerichtet. Die doppelte Rahmung zwischen Filmbildraum (Kadrage) und des Bildrahmens der Photographie, die die Szene einführt, figuriert in ihrer Montage eine spezifische Zeitbezüglichkeit. Die Gegenwart des fahrenden äußerlich veränderten ›Deutschländers‹ in der Einstiegsszene wird in der nächsten Einstellung mit der doppelten Kadrage von Photographierahmen und Filmkadrage konfrontiert. Diese doppelte Rahmung antizipiert eine vergangene Zeit, die aus dem Kontrast vom Schwarzweiß der Photographie, als assoziative Konvention oder auch im Sinne eines Barth’schen Mythos125 von Schwarz-Weißheit als »vergangen«, und der sie umgebenden Farbwand resultiert. Das im Film Gezeigte genießt immer den Vorschub einer jetzt-aktualen Zeit. Sie mag sich an der Sichtkonvention eines narrativen Filmerzählens ergeben. Zumindest eröffnet die Farbdifferenz eine potentielle Zeitdifferenz, zumal das Photographische in sich die Zeitlichkeit des Gewesenen inhäriert (das Ereignis der Photographie muss bereits stattPhotographischen herangezogen werden können. Ansonsten besteht die Gefahr der Annahme eines »photographischen Realismus […], der die Indexikalität des fotografischen Bildes mit der mimetischen Abbildung einer prä-fotografischen Realität gleichsetzt« (Brandes 2014, S. 58). 124 Mitchell, W. J. T. (2008b, S. 23f.). 125 Vgl. Barthes (2003).
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gefunden haben)126 . Diese komplexe Zeitstruktur in der Photographie127 ist im Kontext einer intra-medialen Situation wie der des Films prekär und damit nur insofern zu vernehmen, wie die Zeitökonomie selbst den ästhetischen Möglichkeiten einen Raum zur Wahrnehmung, Rezeption und Reflexion gibt. Die Zeitentfaltung fungiert maßgeblich im Hinblick auf jene Montage durch den Schnitt vom Autoinneren auf das Setting des elterlichen Heims mit der hängenden Photographie. Diese Zeitbezüglichkeiten können nämlich nur dann eine eindeutige Figuration der beiden Einstellungen zueinander einnehmen, wenn die Zeitrelation beider Einstellungen zueinander bestimmt ist: Geht man davon aus, dass die Photographie in der Zukunft aufgenommen wurde, und Zukunft meint hier eine Zukunft ausgehend von der Gegenwart des fahrenden Emigranten, dann könnte die Relation der beiden in Gleichzeitigkeit bestehen. Die sich vordergründig aufschiebende Unentscheidbarkeit der Zeitrelationen ist also einem vorgängigen Zuschauerwissen überantwortet, das die Leseweise des Filmschnitts (im Sinne des »Bewegungs-Bilds«128 ) von ›Deutschländer‹ und Prä-Emigrant ermöglichen vermag. Ansonsten bleibt das Verhältnis von Vor und Nach, Photographie, Filmeinstellung des fahrenden Emigranten, Handlungszeit des Diegetischen, in dem die Photographie gezeigt wird, also die Zeit, in der die Photographie hängend gezeigt wird, unbestimmt. Diese schwierige Entscheidbarkeit der Verhältnisse zueinander dauert nur einen kurzen Moment an, bis sich durch den Griff der Mutter nach der Photographie und ihren Monolog die Verhältnisse zunehmend vereindeutigen. Das Wesen des Films über Dauer bestimmt zu sein und seine modalzeitlich gedachte Sukzession, zeigt so jenes Defizit jeder filmnarratologischen Bestimmtheit von Zeitordnungen an. So sind Vorunbestimmtheiten mit einer Ambiguität versehen, was im Falle der hier vorliegenden Photographie-Szene noch deutlicher wird. Um die Diskussion des Zeitlichen hier abzukürzen: An dieser kurzen Erörterung der Zeitrelation zweier Einstellungen über die fehlende Zeitreferentialität der Photographie scheint auf, dass mehrere Zeitrelationen zueinander bestehen können, die sich 126 Zu diesem Problem der Zeitlichkeit im Photographischen erneut Brandes in Anlehnung an Tagg: »Tagg insistierte darauf, dass es sich bei Barthes’ Verschiebung einer fotografischen Zeugenschaft vom Gegenstand auf die Zeit – seinem Diktum, dass ›[p]hänomenologisch gesehen‹ (Barthes 1989: 99) in der Fotografie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe habe, – um den Rückfall in einen fotografischen Realismus handele, der die Indexikalität des fotografischen Bildes mit der mimetischen Abbildung einer prä-fotografischen Realität gleichsetzt«, Brandes (2014, S. 57). In eigenen Worten und anderer Schwerpunktnuance ausgedrückt: Wenn Barthes Photographien als Vermittler/Medium einer Zeugenschaft evaluiert, verschiebt er den Indexikalitätscharakter in den Zusammenhang von Bedeutungsherstellung bei Photographien. Diese Wechselbeziehung ist aber, wie in Fußnote 123 und damit auch bei Barthes selbst erläutert, von einer sozialen Konvention abhängig, die höchst variabel ist. Erst eine Vorstellung davon, wie Photographie selbst in den Zusammenhang von Indexikalität tritt, also ein Wissen von der Photographieproduktion), ermöglicht Indexikalität und Bedeutung im Photographischen als relativ zueinander zu denken. Siehe auch Doll (2015, S. 333f.), zuerst gefunden in Görling (2014, S. 66). 127 »Sie konstituiert paradoxale Raum-Zeit-Beziehungen und gibt Zeit zu sehen durch die Verstellung von Zeit«, Brandes (2014, S. 55). Für ein Argument des Zusammen- und Neudenkens des Photographischen in seiner Eigenlogik sowie Spezifizität und den Photographien in ihren Gebrauchsweisen, siehe das Kapitel 2 in Brandes Arbeit. 128 Vgl. Deleuze (2005).
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erst mit zunehmender Entfaltung des Wissens im Sprechen der Emigranteneltern vereindeutigen. Und hier ist die Deleuze’sche Verkomplizierung durch das Verhältnis von Virtualität und Aktualität und die Dichotomie von »Bewegungs- und Zeit-Bild« noch unbedacht. Der rasche Einsatz der Mutter, ihr Ergreifen der Photographie, stellt das rahmende Wissen zügig her und die Ausführungen der Eltern relativ schnell in den Vordergrund: Die Kürze der Einstellung wahrt die Durchhaltung des Kontinuitätsprinzips, das besonders ein jeder Reflexion das Material (Zeit)129 sowie den Raum für ein Bewusstsein entzieht, das sich der möglichen Zeitlichkeiten gewahr werden könnte: Füge ich auch dem Bild des Films etwas zu? Ich glaube nicht; dafür bleibt mir keine Zeit: vor der Leinwand kann ich mir nicht die Freiheit nehmen, die Augen zu schließen, weil ich sonst, wenn ich sie wieder öffnete, nicht mehr dasselbe Bild vorfände; ich bin zu ständiger Gefräßigkeit gezwungen; eine Menge anderer Eigenschaften sind im Spiel, doch nicht Nachdenklichkeit, daher mein Interesse für das Photogramm.130 Bislang lassen sich also zwei Funktionsweisen von Photographien in den untersuchten Absenzszenen ausmachen: In Davaro war die Photographie des Emigranten auf der Ebene des Diegetischen ein Kommunikat, durch das der home group auf der Basis von ›Deutschländer‹-Vorannahmen131 versehentlich falsche Informationen (Mercedesbesitzer) vermittelt wurden. Auf der Ebene des Zuschauer_innenwissens machte es gleichsam Angebote im Hinblick auf die Erzeugung von Wissen. Der gemeinsame Blick von Zuschauer_innen und Figuren als interne Okularisierung ermöglichte zugleich mit dem Wissen, das die Figuren über den Dialog vermittelten den Emigranten und Zusammenhängendes zu imaginieren und anzunehmen. In Kara Toprak birgt das Photo Annahmen nach einer Fremdwerdung des Emigranten und wird in das Schauspiel der Figuren einbezogen, wohingegen es für die Eltern als Pseudo-Präsenz des Sohnes Ansprachen ermöglichend, gar ihn verkörperndes132 Zeichen und damit als Ding einer einseitigen kommunikativen Handhabung fungiert. Dabei wurde offensichtlich, dass die Ins-Bildsetzung von Photographien im Kontext der verhandelten Migrationsverhältnisse ihre Komplexität schon allein in ihrer funktionellen Dimension aufzeigt: Memos Photographie spielt in der Erzeugung von Wissensstabilisierung und Evidenz für die Dörfler_innen eine maßgebliche Rolle und kann aufgrund ihrer medialen Eigenspezifik (framing) doch nicht so viel anzeigen, wie nötig gewesen wäre, um Memos Situation in Deutschland und das Verhältnis zum Mercedes zu konkretisieren. In Davaro nimmt die photographische Aufnahme des Migranten in der Migration damit selbst eine Ungewissheitssteuerung insofern vor, als dass, eingebunden in die durch die Figuren produzierten Diskurse und Gebrauchskontexte, eine Lektüre der Photographie schon vorweggenommen ist. Was es zeigt und als was es das zeigt, ist so schon aus der Diegese heraus als Deutungsangebot verwirklicht: nämlich 129 Für eine aisthetische Theorie des Films, deren maßgebliche Möglichkeitsbedingung die Zeit der/für die Wahrnehmung ist, siehe Zechner (2013). 130 Barthes (2009, S. 65f.). Mit ihrer Theorie der Filmwahrnehmung ließe sich mit Zechner an dieser Einschätzung Barthes’ eine mögliche Kritik formulieren. 131 Eigentlich ist es ja mehr: ein Bündel aus Phantasmen, Vorurteilen, Vorwissen, gegenseitiger Wissensstabilisierungen, Hoffnungen, Sehnsüchten, V/Erkennungen. 132 Schulz (2009, S. 123f.).
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als zugesandtes Kommunikationsphoto eines Emigranten aus seiner gelebten Emigrationssituation heraus für die Daheimverblieben, das zugleich über einen Zeigecharakter für einen sozioökonomischen Aufstieg durch die vermeintlich evident werdende Besitzzuordnung von Mercedes und Memo verfügen möge. Dass diese Evidenz der Photographie stets prekär ist, ist semiotisch-phototheoretischer Allgemeinort (siehe Kapitel 6, Fußnote 123). In Kara Toprak ist die Funktion allerdings nicht nur einseitig über die Diegese zu bestimmen, sondern sie bewegt sich mit ihrer visuellen Verfügbarkeit. Zunächst noch ist mit dem Blick von Murat aus seiner Photographie, die aus ihrer frontalen Aufnahme resultiert, ein kommunikatives Potential gegeben, die Veränderung zwischen beiden Murats (Prä-Emigrant und Deutschländer) sichtbar zu machen. Die Zeitversetzung, die den direkten Blick Murats aus der Photographie in Richtung des »fünften Off-Screen spaces«, den ich noch oft als Raum der Zuschauer_innen empirisch stabilisierte133 , erst ermöglicht, lässt sich als ein Vor- und Nachverhältnis zwischen Photographie und dem ›Deutschländer‹-Murat im Auto erst in der sprachlichen Vermittlung von Wissen durch den Dialog der Eltern über die Emigration Murats verstehen. Mit dem Abhängen der Photographie wechselt die Photographie als über den Zeigegestus des Films fungierendes ikonisch-indexikalisches Zeichen schließlich ihre Funktion, da sie von nun an, als Ding der pseudo-präsentischen Ansprache der Figuren dient. Ihr Zeigegehalt bleibt aufgrund der Handhabungsfunktion und Gerichteteheit zu den Figuren für die Zuschauer_innen der visuellen Entzogenheit überantwortet. Bewegt man sich von der Photographie zu den Figuren und ihren szenenbezogenen Spezifika, so lassen sich ebenfalls einige Gemeinsamkeiten zu Davaro finden. Dabei wird in der Absenzszene in Kara Toprak das Verhältnis von Sensualität und Migration besonders diskursiv verhandelt und Spiegel und damit soziokulturell-mediale, soziovisuelle sowie soziale Ordnungsverhältnisse aufgerufen. Der Umstand, dass auch in Kara Toprak – zwar nicht so unvermittelt, aber sehr früh – mit dem elterlichen Heim des Emigranten in den Film eingeführt wird, lässt die Annahme nach der Entfaltung und Einfaltung in eine heterosexuell-normative familiale Ordnung, die sich schon in Davaro zeigte, auch hier wiederfinden. Dabei ist die familiale Sehnsucht in Kara Toprak, folgt man den Dialogen der Mutterfigur, sensuell verknüpft: »Seitdem uns deine Nachricht erreicht hat, sind unsere Augen und unser Herz auf den Straßen, Unsere Ohren sind an der Tür, am Eingang. Komm schnell, komm schnell.« Die metaphorisch gemeinte Entkoppelung der Sinnesorgane und des Herzens im ›Quasi‹-Dialog (weil sie zu einer Photographie spricht) spielt auf die Stärke der Sehnsucht an, die aufgrund der Trennungssituation zwischen Mutter und Sohn bestünde. Die Mutter wartet der Aussage nach also so sehnsüchtig auf die Wiederkehr des Sohns, dass sich die entkoppelten Sinne an diejenigen Schnittstellen haften (zum Dorf hinführende Straßen, Tür, Eingang), mit denen die Heimkehr des Emigranten 133 »A fifth segment cannot be defined with the same seeming geometric precision, yet no one will deny that there is an off-screen space ›behind the camera‹ that is quite distinct from the four segments of space bordering the frame lines, although the characters in the film generally reach this space by passing just to the right or left of the camera«, Burch (1981, S. 17).
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schneller zu erfassen wäre. Eine andere Lesart ihrer Aussage wäre es, die Entkoppelung weniger als Ausdruck eines Früherkennungswunschs der Emigrantenrückkehr zu verstehen, sondern als Resultat eines Außer-sich-seins, die die Sinnesorgane (Augen, Ohren) und das Herz damit unweigerlich an jene Schnittstellen gehaftet betrachtet, die den Dorf- und Heimeingang markieren. Die Metapher bedeutet in beiden Fällen also auszudrücken, dass Mutter und Vater in permanenter Erwartungshaltung nach der Rückkehr des Sohns und damit nicht nur bei sich »selbst« sind, weil Straße, Tür, Eingang Örtlichkeiten sind, an denen sich seine Rückkehr für sie anzeigen werde. Migration figuriert innerhalb des sozialen Gefüges, in dem es gestaltend wirkt, das leibbasierte, sensuelle Verhältnis von Selbst und Anderem. Der Vater bringt in den Aspekt des sinnlichen Außer-sich-seins aufgrund der Sehnsucht auch den Aspekt der Zeitlichkeit ein, denn zwar seien die fünf Jahre seit Murats Abwesenheit vergangen, aber die fünf Tage nach der Ankündigung seiner Rückkehr würden kaum noch vergehen. So spricht er von einer empfundenen Zeitdehnung im Hinblick auf die Ankunft des Sohns, die er an der gefühlsmäßigen Bestimmung der Dauer der beiden Zeitdaten von Abwesenheit des Sohns (fünf Jahre) und den verbliebenen Tagen (fünf Tage) seiner Ankunft vornimmt. Erneut: Migration figuriert die Zeitlichkeit im Kontakt mit Selbst und Anderem. Auch in Davaro war die Sehnsucht nach dem Sohn bei Mutter Salo über Zeitlichkeit und Sinnlichkeit bestimmt. Sie verkündete, dass die Sehnsucht nach ihrem Sohn seit drei Jahren vor ihrer Nase schwebte; die sinnliche, hier olfaktorische Dimension klingt in einer wörtlichen Übersetzung stärker an, denn eigentlich sagt sie tütmek, deutsch ›qualmen‹, ›rauchen‹, ›dampfen‹. An der angespannten Körperhaltung von Murats Mutter kehrt sich die Sehnsucht auch nach außen, in eine Wahrnehmbarkeit, denn im Körper als Ausdrucksmedium, als im Film präsente Schnittfläche der Figuren, die ihr Innen nach Außen kehrt, findet sich in ihren Posen und Gesten jenes ›Außer-Sich-Sein‹, jene Sehnsucht als theatralische Aufführungspraxis wieder. Nach dem Quasi-›Dialog‹ der Mutter (sie spricht ja zu einer sprachlich nicht erwidernden Photographie) tritt der Vater aus dem Off hinzu und die Kamera folgt nicht dem Vater, sondern der Mutter als sie sich zur Kommode mit dem Spiegel begibt. In der Spiegeleinstellung, die aus dem Zoom in den Spiegel entsteht, sind die skeptischen Blicke des Vaters gegenüber der Photographie zu sehen, doch der Vater bleibt weniger szenenbestimmend. Als er aus der Spiegeleinstellung nach den börek fragt, unterbricht er damit gleichsam die affektive Selbstverlorenheit der Mutter, die uns dann ihr weinendes Gesicht beweist. Das Männliche scheint hier mit der Vernunft und sozialen Ordnung assoziiert und verknüpft zu werden, während die Mutter die emotionale Irrationalität verkörpert, aus der die männliche Ratio sie errettet: nicht in der sprachlichen Form des Befehls, sondern subtil als fragender Hinweis des Vaters nach der Erledigung des börek-Backens. Dabei ist vor allen Dingen genau diese Nahaufnahme der weinenden Mutter (Abb. 14.8) bemerkenswert, weil eine Abweichung zu den restlichen Einstellungsgrößen der Bilder besteht. Ihre Tränen im Gesicht, die schon in der Einstellung zu sehen sind und nicht erst in ihrem Entstehen gezeigt werden, haben sich in der Zeit gebildet, in der der Vater im Spiegel zu sehen war und nach den börek fragt – d.h. im Feld des Nicht-Sichtbaren. Die Anwesenheit des Vaters als ordnungsherstellende Instanz operiert folglich nur aus dem Reich des Imaginären her und zugleich
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ist dem Werden der geistigen Verlorenheit und emotionalen Überwältigung der Mutter, ihr Zu-Weinen-Beginnen, eine Sichtbarkeit verwehrt. Dieser Umstand des NichtZeigens der Tränenentwicklung und stattdessen der Fokussierung auf die Skepsis des Vaters über den Spiegel, entfaltet eine Ordnung, in der sich die Bestimmung des Vaters als vernunft- und die der Mutter als emotionsorientiert reproduziert. Die emotionale Verlorenheit der Mutter, ihre Sehnsucht, können nicht in den Bereich des Sichtbaren treten, sie verbleibt im Off, zugleich ist aber auch der Vater nur im intermediären Ort des Spiegels enthalten: eine Einstellung reiner Absenz, die die Mutter unsichtbar, den Vater im Reich des Imaginären belässt, aber zugleich stereotypisierte Zuweisung von Emotionsbestimmtheit an das Weibliche produziert und Vernunftbestimmtheit an das Männliche gekoppelt repräsentiert. Damit wiegt für die Untersuchung als Absenzszene besonders der Effekt der Erzeugung einer Modalität schwer. Sie soll hier als Theatralitätseffekt134 beschrieben werden. Dieser Effekt ergibt sich vor allen Dingen aus der filmräumlichen Figuration, konkreter aus dem frontalen Gerichtetsein der Kamera auf die Eltern, die die räumliche Konstellation von frontal blickender Kamera und auf die Leinwand blickender_m Zuschauer_in, der Unbeweglichkeit des Kamerastandpunkts und dem statischen, weil kaum vorhandenen Charakter der Montage ergibt: Sie folgt der Logik der ›Guckkastenbühne‹, der binären Aufteilung von Betrachter_innenraum und Handlungsraum. Es gibt keine Standpunktwechsel der Kamera, sehr wohl Zooms, Schwenks und damit Einstellungsgrößenwechsel, aber die durchgehend frontale Aufnahmerichtung, in der die Wohnwand den stabilen unbeweglichen Hintergrund, die ›Bühnen‹-begrenzung gibt, bleibt erhalten. Der Modus des Imaginären, der sich just aus diesem, zu einem Blicksubjekt bezuglosen frontalen Blicken der Kamera ergibt135 , verstärkt diesen theatralen Charakter, der zum großen Teil auch auf die theatralisch wirkende Gestikulation der Schauspieler_innen, besonders das overacting der Mutter, rückführbar ist. Der Aufführungscharakter sozialer Interaktionen, der auch einen Theatralitätseffekt inhäriert136 , tritt durch den Effekt des Kamerablicks als ein subjektloses Blicken hervor, was Slavoj Žižek als pures »Kino-Auge« und so als »Organ ohne Körper«137 beschreibt. Der Effekt des Theatralischen durch die durchgehende Frontalaufnahme und die daraus resultierende Figuration von bühnenmäßiger Mise en Scène und auf ein subjektloses Blicken blickendem_r Zuschauer_in besteht in der Produktion einer Rezeption dieser Szene als eines selbstbezüglichen Blickens auf ein Geschehen der Vorfreudenund Besorgnisbekundung. Die verfehlte suture der vermeintlich subjekt-bezuglosen Kameraeinstellung und ihrer Statik aufgrund ihrer fixierten Position bewirkt nämlich, 134 Für einen diskurshistorischen Durchgang im Hinblick auf den Begriff der Theatralität, der seine hier gemeinte Nuance als »performative[s] Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung[, Visualität, Ö.A.] und Sprache« bezieht, siehe Schramm (2005, hier S. 73). 135 Suture ist genau das Gegenteil dieses Kameraeinstellungsverfahrens, nämlich die Zuordnung von Subjekten zu Einstellungen der Kamera als Blicke: »[…] (the abolition of the Absent One and its resurrection in someone) […]«, Oudart (1978, S. 37). Dabei ist es wichtig zu beachten, dass sich suture niemals darin erschöpft, sondern als Vorgang des Verschlusses von Unvollständigkeiten und Brüchen zu denken ist, Vgl. Eleftheriotis (2012, S. 45-50, hier 47). 136 Vgl. Gebauer und Wulf (1998). 137 Žižek (2005, S. 67).
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dass die in der Sprache der Eltern enthaltenen Aussagen in den Vordergrund treten. Der Fokus auf die Sprache der Figuren vermag auch die Nahaufnahme vom weinenden Gesicht der Mutter mit ihrer funktionalen Nähe zur Affektgenerierung und als »AffektBild«138 nicht zu enthebeln. Anschließend wird nämlich wieder in die Frontaleinstellung der Kamera gewechselt, in der im Übrigen das Sofa und das Nebeneinandersitzen der beiden Figuren eine räumliche Verortung der im Filmbild enthaltenen Elemente produziert, die ganz besonders wieder in die Figuration von »Frontalblicken auf horizontale Filmbühne« überführt ist. Deleuze beschreibt in seiner »Taxinomie« des filmischen Bilds, als er filmhistorisch argumentierend die Anfänge des Films als »Zeit der feststehenden Kamera«139 evaluiert, eine ähnliche filmische Strategie so: Erstens ist das Bildfeld durch einen einzigen, frontalen Blickpunkt definiert, den des Zuschauers gegenüber einer unveränderlichen Totalen (ensemble): es gibt also keine Kommunikation zwischen veränderlichen, aufeinander verweisenden Ensembles. Zweitens ist die Einstellung lediglich räumliche Bestimmung, die zum jeweiligen Kameraabstand einen ›Raumabschnitt‹ angibt, von der Großaufnahme bis zur Totalen (unbewegliche Schnitte): die Bewegung ist also nicht für sich freigesetzt und bleibt an die Elemente – Personen und Sachen – gebunden, die ihr Vehikel dienen. Schließlich vermischt sich das Ganze mit dem Ensemble in seiner Tiefe, wie sie vom Bewegungsträger im Wechsel von einer Ebene zur anderen, von einem Parallelausschnitt zum anderen durchlaufen wird, wobei jede ihre Unabhängigkeit oder Ausrichtung hat: es gibt also keine Veränderung oder Dauer im eigentlichen Sinne, um so weniger, als die Dauer eine ganz andere Dimension der Bildtiefe voraussetzt, die die Parallelzonen vermischt und versetzt, anstatt sie übereinanderzulegen.140 Deleuzes historisch-klassifizierende idealtypische Beschreibung der Strategie der feststehenden Kamera in den Frühzeiten des Films (vor Griffith141 ), wie sie sich zum Beispiel in Méliès Filmen finden lässt, erwähnt die Bildelemente, Raumtiefe und Bildelementpositionen als Ensemble der statischen Aufnahmeform. Die filmrhythmische Trägheit bleibt in der hier beschriebenen Absenzszene aus einer Sicht der Gesamtbetrachtung auch weiterhin enthalten. Zoom, Schwenk und die zusätzliche Einstellung von der Großaufnahme des Gesichts der Mutter bleiben nämlich nach wie vor von der statischen Großaufnahme gerahmt. Zwar nähern sich Schwenk, Zoom und der Schnitt einer Öffnung der räumlichen Figuration von Kamera und Aufgenommenem an und können den Status der gefilmten Objekte »verflüssigen«142 oder die spezifische »äuße138 Bei Deleuze ist das Affekt-Bild kein solches, das kategoriale Affekte wie Wut, Freude schlichtweg evoziert. Affekt-Bilder sind stets Großaufnahmen und Großaufnahmen sind aufgrund der Produktion einer unentrinnbaren Nähe stets »Gesicht«, also ein Gebilde, das zugleich eine mannigfaltige mimische Qualität besitzt. Insofern wirken Großaufnahmen, Deleuze führt das Beispiel einer Großaufnahme einer Standuhr an, stets als solche Intensitäten, die unmittelbar als »Bewegungsimpulse« auf »Empfindungsnerven« einwirken, Deleuze (2005, S. 123-148, hier 123-128). 139 Deleuze (2005, S. 43). 140 Deleuze (2005, S. 43). 141 Filmhistorische Arbeiten haben die Unhaltbarkeit der These von der ausschließlichen kinematographischen Innovationskraft von Griffith’ Birth of a Nation (1915), die auch Deleuze in seiner Fußnote 23, Kapitel 2 reproduziert, herausgearbeitet. Siehe zum Beispiel Stokes (2007, S. 77). 142 Epstein (2012, S. 394-398).
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re Wirklichkeit« des Gefilmten »erretten«143 , doch die Rahmung belässt dem Schwenk und der Großaufnahme eine subordinäre Position innerhalb des Gesamtgefüges der Montage. Festgehalten werden soll hier also, dass mit dem Theatralitätseffekt der Szene, die den Sprachfokus erzeugt, sich die im Film angelegte Diskursivität des Gesprochenen aufdrängt: die Sichtbarkeit gewährleistet, dass das Gesagte und das Sagen in den Vordergrund treten. Die Verbalisierungen der Eltern über die mögliche Fremdwerdung ihres Sohnes erhalten durch die Absenz des in der Sprache verhandelten eine suggestive Dimension, die die Imaginationstendenzen auf Seiten der Zuschauer_innen zu modulieren vermag. Die Verbalisierungs- und Aktivierungsweisen der Sprache ereignen sich dabei nicht getrennt von der visuellen Konstruktion der Verbalisierungen: Die bildräumliche Trennung von Vater und Mutter, reproduzierte die Ebene des Verbalisierten im Sinne einer binärgeschlechtlichen Zuweisung, in dem die Skepsis zur Ordnungswahrung dem Vater und die Zuversichtlichkeitsvermittlung der Mutter zugeschrieben wurde. Das Wechselspiel von zuerst sichtbarem Vater, der seine Sorgen vor sich hin artikulierte, dabei aber Mutter indirekt ansprach, und dann hinzutretender Mutter wurde als Montage zweier Einstellungen angelegt, die den jeweils seine Haltung artikulierenden im sichtbaren Bildbereich beließ: Beide Einstellungen richteten sich auf den jeweils Sprechenden, die in ihrer Sprache die Entscheidungsfrage nach einer Verführung ihres Sohnes durch blonde Frauen je spezifisch verhandelten. Hierin zeigt sich das Zusammenspiel der vielfältigen Dimensionen des Filmischen sehr deutlich: Zuerst verbleibt der Eindruck der Einstiegssequenz, die den Emigranten als äußerlich Deutschländerbestimmten zeigte. Dann werden in jenen sprachlichen Thematisierungen der Eltern über ihn, Vorstellungsweisen über den Emigranten evoziert. Der in der Sequenz ausgemachte und analysierte Sprachfokus und Theatralitätseffekt, der aus den filmästhetischen Verfahren resultiert, brachte die Dialoge in den Vordergrund, die in ihrem Gehalt eben jene Vorstellungsmodulationen und diskursiven Bezüge umso stärker herzustellen vermochten. Das Gesprochene, das der hier beschriebene Theatralitätseffekt fokussierte, soll nun kontextualisiert werden. Wie sehen also die diskursiven Verhandlungen im Film aus? Wo lokalisiert der Film soziokulturell, wenn mit der Emigration im Film die Alteritätsproblematik im Fokus steht? Worin bestehen die Verbalisierungen samt ihrer vermittelnden, vielleicht gar suggestiven (▶ Kap. 6.2.3) Qualität? Was ist damit gewonnen?
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Räume der Verfremdung – Emigration als Alteritätsdiskurs
Wie in Davaro wird der Emigrant hier als Produkt einer heterosexuell bestimmten Familiarität im dörfischen Kontext und zudem als Junggeselle angelegt, etwas, das die meisten Emigrationsfilme der High-Yeşilçam-Ära auszeichnet. Über Murats Motivation ins Ausland zu emigrieren erfahren wir kaum etwas, doch das Motiv des sozioökonomischen Aufstiegs wird im Elterngespräch thematisiert und die Mutter steigt in diese, ihn aufwertenden Aussagen des Vaters unmittelbar ein. In Kara Toprak sind die Erwartungen der Emigranteneltern tatsächlich differenter und mit Potential nach »suggestiver 143 Kracauer (1990).
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Verbalisierung« angelegt: »Wovor ich Angst habe ist, dass er sich in der Fremde in eine blonde Ungläubige [gavur] verwickelt hat«, worauf die Mutter dem Emigrantenvater antwortet: »Mein Murat ist ein vernünftiger Junge. Er ist ein Junge, der seiner Heimat und Religion verbunden ist. Die deutschen Flittchen haben sich sicher an ihn geklebt, aber er hat sich nicht auf sie eingelassen.«144 Der Dialog der Eltern als »Zukunfts- und Vergangenheitsverbalisierung«145 innerhalb der filmischen Konstruktion der Absenzszene in Kara Toprak, als Gedankenspiel einer möglichen Vergangenheit der Verfremdung und einer Zukunft der Rückkehr eines nicht-/verfremdeten Sohns, ist eingebettet in einen komplexen soziokulturhistorischen Kontext. Es lohnt daher den Dialog in Rückbindung an ethnologische Diskurse weiterzuverfolgen, weil die mit der Emigration nach Deutschland verbundene dichotomische Fremdheitskonstellation xenologisch-imagologische Komplexitäten auf den Plan ruft, ohne die die filmische Konstruktion nur bedingt zu verstehen ist. Die nachfolgenden kultursoziologischen Informationen, die sich an der Absenzszene in Kara Toprak entlangbewegen, müssen dabei mit einer besonderen Vorsicht gelesen werden. Es geht hier nicht um die Validierung der ethnologisch-soziologischen Schlussfolgerungen und der darin enthaltenen Annahmen. Sofern sie hier eine Erwähnung finden, dann deswegen, weil sich im Rekurs auf sie das in den Filmen Verhandelte kontextualisieren lässt. Kontextualisierung meint hier nicht die gegenseitige Erschöpfung von Wissensgehalten zwischen im Film präsentierten Diskursen und den Diskursen einer unmedialisierten ›Wirklichkeit‹, sondern um ein immer auch vorläufiges Wissensangebot, das einen Zugang zu den Filminhalten ermöglicht. Wie das Kapitel 6.1 anzeigte, ist die Konstruktion von Dorffilmen oder das Aufgreifen eines vermeintlich vorgängigen Wissens zur Konstruktion solcher Figuren, wie zum Beispiel die Eltern des Emigranten, Produkt vielfältiger Produktionsprozesse durch »medienkulturelle Ensembles«146 , in dem gerade die Instabilität dieses Wissens deutlich wird. Jedwede Setzungen wie »anatolischislamisch« oder die islamisch-anatolische Kontextualisierung des Ehrkonzepts selbst obliegen einem Wissen, das selbst nie als unmedialisiert vorzustellen ist. Wenn Yazgan im Rekurs auf Pitt Rivers festhält, dass der Ehrbegriff »so komplex [ist], dass eine eindeutige Definition praktisch unmöglich ist«147 , so gilt, die benannte Vorläufigkeit der hier vorgenommenen soziokulturhistorischen Verortungen des Ehrkonzepts, mit umso größerer Vorsicht zu behandeln. Dass die »männliche Herrschaft« keineswegs auf ältere/andere Kulturen zu reduzieren ist, sondern gar »doxische Erfahrung«, also einen unhintergehbaren Konnex von subjektiven und objektiven Strukturen fungiert, hat Bourdieu besonders in seiner essayistischen Monographie zu eben jener »männlichen Herrschaft«148 herausgearbeitet, die noch jene hier sogleich folgenden Überlegungen in seine komplexe Denkmatrix überführen. Zunächst ist da die in den Ausführungen der Eltern benannte Vorstellung von der westlichen Frau. In Form einer blonden, freizügigen Schönheit besteht es als rassisti144 145 146 147 148
Kara Toprak, 0:02:40. Hanich (2014, S. 170), siehe auch narratologisch Kuhn (2011, S. 198). Skrandies (2014, S. 296). Yazgan (2014, S. 25). Bourdieu (1997).
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sches Inbild der Versuchungen des »ungläubigen« Westens, das in zahlreichen anderen Emigrationsfilmen realisiert wird. Das Andere in der Fremde, das nicht dem Eigenen und damit nicht den Werten des Eigenen entspricht, ist gefährlich. Es ist bedrohlich für Glauben und Heimat und muss gemieden werden: Umso mehr, wenn es verführerisch (anders) ist, hier insbesondere auch auf der Ebene des sexuellen Begehrens, dessen Kontrollierbarkeit in den Schönredungen der Mutter angenommen wird und dessen verführerische Macht in den sorgenvolleren Worten des Vaters artikuliert bleibt. Auf islamisch-türkischer Seite wird also die Annahme einer Gefahr durch die blonde, freizügige und verführerische europäische Frau konstruiert, deren Ehrlosigkeit und sexueller Hingebungswille Versuchungen einer jederzeit möglichen Versündigung durch den Sex mit ihr inhäriere. Die Konstruktion der Annahme einer Gefahr durch die blonde, verführerische christlich-europäische Frau greift auf der einen Seite auf die Annahme der dialektischen Konstellation von kulturkonstitutivem Ehrenkodex und Ehrlosigkeit westlicher Frauen aufgrund ihrer sexuellen Freizügigkeit und der anderen Seite auf die Annahme ungebändigter sexueller Lust zurück, die in geschlechterdifferent strukturierten Trieb-Vorstellungen fundiert ist. Die Rassialisierung bedient sich dabei auch noch einer biologistisch-ethnisch-rassistischen Vorstellung, indem die Frauen als Blonde und damit in Abgrenzung zum dunkelhaarigen Eigenen phantasmiert werden. Wegen der Labilität des Eigenen (der Heimat, der Religion) durch die Emigration des Sohnes und des ödipalen Komplexes auf Seiten der Mutter, die einen Verlust des Sohns an die »Flittchen« nicht aushält, wird die Wirklichkeit in der Vorstellung der Mutter in Kara Toprak angepasst: Sie wird verklärt. Laut den Worten Murats Mutter »klebt« nicht er an den Blondinen, sondern, wenn, dann »kleben« sie an ihm. Die Mutter konstruiert eine Erklärung, die den Sohn selbst im Falle des Sündenfalls noch im Hinblick auf seine Standfestigkeit absichert: Es müssen die Frauen gewesen sein, die sich an ihn »kleben«. Mit der Zuschreibung des »Klebens« als aktiver Part der blonden, ungläubigen Frau besteht das westliche Andere nicht nur als passives Fremde. »Kleben« ist aktive, widerständige Anheftung, ist aktive, mobile Gefahr: Dieses Thema der verführerischen und unwiderstehlichen Frau taucht in verschiedenen Variationen immer wieder auf. So erklärte mir ein junger Bauer, weshalb in den Schulen die Geschlechter getrennt unterrichtet werden sollten: ›Auch wenn ein Mann nicht will und hart arbeiten will, wird er – gegen seinen Willen – von den Frauen abgelenkt.‹149 Eine solche sexistische Perspektive mag sich auch im Büroalltag auf der ganzen Welt realisiert finden, sie zeigt allerdings den Regulierungswunsch des Sexuellen an. Die rassistische Vorstellung von der deutschen Blondine, die sich in den Angst artikulierenden Worten des Emigrantenvaters aufkündet, verweist zumindest auf eine aus dem kulturellen Imaginären gespeiste Stereotype, die sich vor allen Dingen im Yeşilçam-Kino, als »Bild der blonden, attraktiven, freizügigen Helga […]« manifestiert und genauso wie 149 Schiffauer (1983).
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die pictures des ›Deutschländers‹ als image durch die unzähligen Kinoleinwände im gesamten Land zirkuliert.150 Kayaoğlu erinnert das so: [Es] […] wurde ab Mitte der 1960er Jahre so oft repetiert, dass dieses stereotype Bild von der deutschen Frau zu einem nachhaltig prägenden Phänomen, ja fast sogar zu einem Wunschtraum unter männlichen Zuschauern wurde. So wurde ich als Kind in den 1970er Jahren in einem Kino persönlich mit der naiven und wohl von Filmfiguren geprägten Frage konfrontiert, ob ich denn nicht eine solche Helga überreden und aus Deutschland mitbringen könne.151 Die Angst vor den »blonden ehrlosen und sexsüchtigen Frauen« reproduziert Vorstellungen davon, wie die Triebhaftigkeit in die Welt eingebunden ist. Es »gelten alle Triebe [türk.: ›nefis‹, Ö.A.] als gleichermaßen natürlich und gefährlich«152 . Der natürliche Sexualtrieb ist als besonders stark angenommen: »›Der Islam erkennt an und betont, daß sowohl bei der Frau als auch beim Mann ein starkes Gefühl füreinander existiert. Dieses Sich-Begehren ist ein starkes Gefühl, das der Natur entspringt. (S. 740)‹«153 . Deswegen: »Die Sexualität zu meiden, zölibatär zu leben ist deshalb keine verdienstvolle Handlung«154 . Wobei »Ehe […] als die Institution [erscheint], die vor dem Chaos schützt, in das das ungezügelte, unregulierte Spiel der Triebe die Gesellschaft stürzen würde«155 . Die Qualität eines Schutzes vor den sexuellen Verführungen und der Versündigung wird also der Ehe eingeräumt. In den filmischen Konstruktionen der anatolisch-islamischen sozialen Zusammenhänge wird das Ziel genau jener vernunftmäßigen Eheschließung durch die Anlage des Emigranten als Junggeselle zu realisieren versucht. In Kara Toprak wird die vernunftmäßige Ehe auch noch in die Wahrung der sozioökonomischen Notwendigkeiten eingebettet (die Zukünftige soll auf dem Feld aushelfen) und in die Wahrung der Reproduktion der Familie durch einen Enkel, der die Sehnsucht der Eltern nach einem Enkel zur Seite gestellt wird (zu Erinnerung: Murats Vater will 150 Zum hier platonistisch erscheinendem, aber eigentlich komplexer bestimmten Konzept von image und picture siehe Mitchell, W. J. T. (2008c). 151 Kayaoğlu (2011). 152 Schiffauer (1983, S. 86). 153 Abdullah Aydın in Schiffauer (1983, S. 83). 154 Schiffauer (1983, S. 83). 155 Schiffauer (1983, S. 85). Zu beachten ist, dass ich hier jenen Argumenten in Schiffauers Arbeit »Die Gewalt der Ehre« nicht beipflichte, derzufolge kulturelle Spezifika türkisch anatolisch sozialisierter Migrant_innen kulturelle Spezifika von Migrant_innen aus nicht-heimatlichen Kontexten erklären mögen. Konkret versucht Schiffauer in seinem Buch die Massenvergewaltigung einer deutschen Frau durch vierzehn in Deutschland lebende Türken im Jahre 1978 zu erklären. Die Repräsentativität herausfordernde Beschreibung kultureller Umstände hält zwar Wissensfigurationen bereit, die ob ihrer repräsentativen und manchmal rassistischen Zuspitzung und Idealisierung, kontextualisieren helfen. Repräsentative Zuweisungen des Ehrkonzepts zu »Dorfkultur« et cetera pflichtet die vorliegende Untersuchung nicht bei (siehe auch weiteren Verlauf des Kapitels), da eine solche die spezifische kulturübergreifende Dimension beispielsweise patriarchalischer, symbolischer Gewalt (siehe Arbeiten von Bourdieu zur »männlichen Herrschaft«) relativiert und das Dörfliche rassialisiert. Der Ehrenkodex lässt sich nicht auf den Dorfkontext oder das »Anatolische« einschränken, genauso wenig wie die Abschreibung eines auf Ehrvorstellungen basierenden Patriarchalismus für modernere Gesellschaften eine Komplexitätsreduktion und Verkennung jener gewaltsamen Potentiale und Mechanismen darin wäre. Siehe dazu besonders Bourdieu (1997).
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nicht sterben, ohne den/die Enkel_in erlebt zu haben). Sowohl in Davaro als auch in Kara Toprak, und wie wir sehen werden noch in den anderen Filmen, wird der Emigrant als unverheirateter junger Mann konzipiert, der nach seiner Emigrantenrückkehr aus der gefahrvollen Situation in der Fremde in die ordnungssichernde Institution der Ehe zu überführen ist: etwas, das zugleich immer auch als Gefährdung, weil Herausforderung mit dem ağa (Kara Toprak, Dönüş) oder andere Widrigkeiten konstruiert wird (Baldız, Oğlum Osman). Wie noch aufzuzeigen sein wird, sind die Versuche der Bändigung des Emigranten zugleich als filmische Narrative der Erzeugung einer Kontrollierbarkeit des Modernen geschuldet. In Davaro ist dahingehend eine besondere Option eingeschrieben: wie in den meisten Kemal Sunal-Filmen ist die Ehe keine vernunftmäßige, sondern eine Liebesehe, der das Dorf gar im Wege steht. Mit ihrer gesellschaftskritischen Anlage überführen die Sunal-Komödien damit das Vernunftprimat der Ehe in ein Liebeskonzept, das zudem besonders sexualisiert ist. In Kibar Feyzo (1978)156 und Davaro müssen sich die Kemal Sunal-Figuren redlich für den sexuellen Vollzug der Ehe bemühen. Mal steht die eifersüchtige Mutter im Weg, mal der Brauch des başlık parası (Mitgift), mal andere Traditionen. Liebe und Sex werden in seinen Filmen als sich bedingend gezeigt, wobei dem Sex die triebbefreiende und damit von der Liebe entkoppelte Dimension auch zugleich wieder zugeschrieben wird. Die sexuelle Ordnung im Dorf wird oft auch als solche konstruiert, die im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Subjekte stets die männliche Seite privilegiert. Diese Privilegierung hat mit der gesellschaftlichen Konstruktion zu tun, in der der Schutz der namus (›Ehre‹), die eine traditionell muslimisch-türkische Identität konstitutiert, einer geschlechterhierarchischen Logik folgt. Beide, Mann und Frau, sind dabei gefordert, die sexuelle Unschuld (Sex nur innerhalb der Ehe) auf Seiten der Frau zu wahren: Der Begriff namus betrifft Mann und Frau unterschiedlich: Ein ›ehrenhafter Mann‹, das ist einer, der seine Frauen zu verteidigen vermag, der Stärke und Selbstbewußtsein zeigt, politische, die äußere Sicherheit seiner Familie garantierende Fähigkeiten. Frauen dagegen sind im wesentlichen [sic!] ›ehrenhaft‹, wenn sie keusch sind. Die Frau, die Ehebruch begeht, ›befleckt‹ damit nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die ihres Gatten, der nicht Manns genug war, sie abzuhalten. […] So wird unbefriedigte Sexualität zwar als generelles Problem beider Geschlechter anerkannt, als eigentliche Gefahr jedoch fungiert dann die weibliche Sexualität, sie ist es, die im wesentlichen [sic!] gesellschaftlich kontrolliert werden muss.157 [Deswegen kennt, Ö.A.] [d]ie Klassifikation der Frauen [im Hinblick auf ihre Relation zur sexuellen Betätigungsmöglichkeiten] […] nur drei Kategorien: die Jungfrau, das Mädchen (kız); die geschlechtlich erfahrene Ehefrau (hanım); und, beiden gegenübergestellt, die Hure (orospu oder fahişe), 156 Yılmaz (1978). 157 Schiffauer (1983, S. 74). Zur Erinnerung: In Başers Film 40m² Deutschland überträgt der Film diese Kontrolllogik der Ehre der Frau für den Migrationskontext in eine räumliche Figuration: Der Arbeitsemigrant Dursun sperrt seine Ehefrau Turna in das Appartement zum Schutz vor dem sexuellverführerisch-freizügigen deutschen Außen.
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die ehrlose und schmutzige Frau, die außerhalb der Ehe Beziehungen zu Männern pflegt.158 In vom Ehrenkodex geprägten kulturellen Zusammenhängen dürfte der irreguläre, also jenseits der Ehe stattfindende Sex damit nur zwischen Männern und ehrlosen Frauen (Prostituierte, ihre Ehre schon verloren Habende oder Frauen, die den Ehrenkodex nicht leben müssen/brauchen/wollen [unter anderem auch Städterinnen, ›moderne‹ Frauen]) stattfinden oder wie bei Kara Toprak als gezielte Aktivität der Erzeugung von Irreversibilitäten im Kontext von Verheiratungen oder bewussten, strategischen Ehrverletzungen (eine verlorene Unschuld kann nicht mehr hergestellt werden). Das Leben im Ausland wird so als eine Herausforderung für die männlichen Mitglieder verhandelt (für Frauen noch prekärer und gefährlicher). Das Bewahren der namus im Ausland über Enthaltsamkeit wird in Kara Toprak durch die Eltern als besonders verdienstvoll angesehen. Der Ausnahmezustand wird phantasmiert, weil im Ausland durch die Annahme von der Möglichkeit der permanenten Verfügbarkeit sexueller Betätigung über eine Mehrheitskultur ›ehrloser Frauen‹ eben jene ungewöhnliche oder von Ehrenkodex-Kultur differente Situation gegeben zu sein scheint. Der Zustand der Emigranten in Deutschland wird deswegen als einer der permanenten Verführung und über die Absenz der Ehefrau oder dem Vorhandensein des Junggesellenstatus als eine Konstellation besonders großer Verführung und Gefährdung (!) phantasmiert. Es entsteht so der Raum für die Phantasie doppelter triebgesteuerter, Begehrensintensität und -dynamik aufgrund der Annahme ›ehrloser‹, sexuell verführerischer Frauen im Westen. Triebunterdrückten Emigranten, die einer Kultur des Nur-Ehe-Sex oder Sex mit ehrlosen Frauen (Prostituierte et cetera) zugeschrieben werden, treffen in so einer Phantasie auf eine Kultur permanent verfügbarer Frauen; darin werden beide Parteien (türkisch-islamisch-enthaltsamer Mann und westlich-sexuell-willige Frau) auch noch im Kontext einer sich multiplizierenden Begehrensfiguration vorgestellt. Ein unehelicher Sex, zumal mit einer Ungläubigen, stellt für die Eltern in Kara Toprak Indikation einer erheblichen Verfremdung dar, nämlich als herbe Sünde, die in ihrer Annahme auf eine Geringschätzung des eigenen Glaubens, des Islams und damit der ›Werte‹ der Heimat verweist. Weil sie auf die Annahme von der Sündhaftigkeit des unehelichen Geschlechtsaktes zurückgreifen, lässt er sich für die Eltern als Markierung einer Anderswerdung in der Fremde deuten. Die Gleichschließung der Wertschätzung von Heimat und Religion über das Widersetzen gegenüber den Versuchungen der Fremde beruft sich nämlich auf eine Logik der Ausschließlichkeit: Wem Heimat (»der Ort, der am Anfang aller Migration steht«159 ) und Glaube wichtig sind, der müsste sich den dem Islam zuwiderlaufenden, sündhaften Praktiken widersetzen. Religion und Heimat werden also als konstitutiv zueinander gedacht und die logische Verkettung dieser Argumentation lässt sich in reverser Reihenfolge (Sünde-Glaube-Heimat) rekonstruieren: Die Vermeidung der Versuchung und damit der Sünde vom Sex mit 158 Schiffauer (1983, S. 75). Selbstverständlich kennt die Klassifikation von Frauen im Dorf weitaus Diffizileres beziehungsweise ist die Anerkennung einer Frau nicht lediglich über ihre Klassifikation von namus geprägt. Diese Dreifach-Klassifikation ist vielmehr ein Urteilsraster, das sich je spezifisch und umstandsbezogen aktiviert oder auch als einfache Analyseschablone dient. 159 Oikonomou und Meurer (2009, S. 16).
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gavur (›Ungläubige‹) sichert den Glauben, der die Identität der Heimat ausmacht, ohne die sie zerstört wäre. Eine andere Lesart wäre es die Phase später Pubertät und des Heranwachsens, innerhalb der die jungen Emigranten ins Ausland aufbrechen, als eine besonders prekäre anzusehen, in der die Gefahr eines moralisch-religiösen Verfalls ausgemacht wird. Eine solche Lesart generationeller Schwierigkeiten liegt mit der Repräsentation der Hippiekultur im Yeşilçam-Kino als das absolut Andere besonders nahe (▶ Kap. 9.1). Sie wird in den kommenden Analysen erneut aufgegriffen werden. Yazgan arbeitet heraus, dass das Ehrkonzept sowie dessen historischen Hintergründe bis in die Zeit vor die »Entstehung der Weltreligionen«160 zurückreichen: Das Ehrprinzip, bei dem die Ehre eines Menschen als zentraler Wert betrachtet und das menschliche Handeln davon bestimmt wird, geht bis in die Antike zurück (Schneider, J. und Schneider, p. 1976, S. 95f.). Schon damals gab es in ausgeprägten Agrargesellschaften, die sich gegen Eroberer und feindliche Feldzuge verteidigen mussten. Mithilfe ihrer Ehre konnten die Familien ihre Integrität vor den Machthabern bewahren. Da verschiedene Landsherren immer Anspruch auf die weiblichen Familienmitglieder erhoben, hatten die Familien das Ehrprinzip im Lauf der Zeit entwickelt, um sich bei solchen Angriffen auf ihre Ehre zu berufen.161 Die vorgenommene Konzeption der Elternannahmen ist eine nicht nur türkisch-islamische gesellschaftliche Konstruktion. Die Verknüpfung von Ehre und Selbstwert findet in Yazgans Formulierung eine bis in antike Agrargesellschaften zurückreichende Herkunft, die sich im Dorffilm noch enthalten findet. Eine Zuweisung patriarchalischer Herrschaft auf andere Kulturen, sollte nicht über die androgyne Herrschaftsdynamik auch im Westen hinwegtäuschen: Das hat Bourdieu in seinem Werk »Die männliche Herrschaft« deutlich aufgezeigt, indem er die der anatolischen Kultur nahe stehende Ehrkultur der Kabylei als Modell eines auf homologen Gegensätzen basierenden Klassifikationsprinzips untersuchte und damit das Fungieren von männlicher Herrschaftslogik auf moderne Gesellschaften übertrug, mit dem Ziel »unbewusste Tiefenstrukturen und Kontinuitäten von Herrschaftsmechanismen«162 aufzuzeigen. Deswegen sind Verurteilungen von ›Kulturen‹ im Hinblick auf zivilisatorische Fortschrittlichkeit zu relativieren wie sie beispielsweise auch das (Des-)Integrationskino auszeichnet (▶ Kap. 2.2). Mit Blick auf die filmische Konstruktion der Szene, in der der Vater die Angst vor der Verfremdung des Sohnes artikuliert und die Mutter ihm die Zuversicht über die Widerstandsfähigkeit des Sohnes gegenüber den Versuchungen entgegenhält, lässt sich feststellen: Die Konstellation von Un-/Sichtbarkeit reproduziert die repräsentationale Funktion von Vater und Mutter. Beide werden in getrennten Einstellungen und jeweils alleine gezeigt, sodass die zugewiesenen Dispositionen von Skepsis auf Seiten des Vaters und Zuversicht auf Seiten der Mutter filmräumlich reproduziert sind. Die Artikulation von der Gefährdung der familialen und damit sozialen Ordnung auf Seiten des Vaters ist damit in einem anderen Bildraum enthalten, als der der Mutter, die ihm aber zur Tilgung seiner mangelnden Zuversicht entgegentritt. Mit Blick auf die Sequenz, in 160 Yazgan in Busche (2014). 161 Yazgan (2014, S. 24). 162 Rademacher (2002, S. 128).
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der der anders gewordene Emigranten im Auto gezeigt wurde, ergänzt sich in den verbal geäußerten und auf visueller Ebene reproduzierten Sorgen und Zuversichten der Eltern das Erwartungsspiel, das die Sequenz eines äußerlich anders gewordenen Emigranten zu erzeugen vermag. Die epistemologische Dimension der Szene und ihre ästhetische Konstruktion können also kaum getrennt werden: Theatralitätseffekt produzierende Sichtbarkeit und diskursives (Vor-)Wissen reproduzierendes Gesagtes wirken koproduktiv. Mit dem Konzept von der »visuellen Konstruktion des Sozialen«163 lässt sich die bild- und damit blickräumliche Trennung der Eltern gar noch zuspitzen: Erst auf der Grundlage ihrer gegenseitigen und zugleich in der Zuschauer_innenwahrnehmung als solche produzierten visuellen Entzogenheit generiert sich ein Soziales, in dem die Familie als Soziales der Trennung der entsteht. Väter und Mütter entziehen sich dem Sichtfeld ihrer Kinder, spielen ihr Fort-Da-Spiel (Migration), reißen die Projektionsund Präsenzflächen auf, in dem ihre Stimmen und die damit diskursiv produzierte symbolische Dimension mal in Konkurrenz und mal in Genossenschaft tritt. Die in der Absenzszene verhandelten Diskurse agieren damit allgemeine Ängste aus, die sich nicht auf konkrete biographische Spezifika beziehen. Indem die Eltern und die Filme diese Ängste nach Verfremdung und Ordnungssicherung aushandeln, ermöglichen sie den Zuschauer_innen, die diese Angst teilen, zugleich auch eine Handhabbarkeit der Zukunft. Die Ordnungswahrung und Reproduktionssicherung wird im gemeinsamen Gespräch der Eltern gesichert. Die Modernisierungsprozesse, die in der Türkei nach den großen Binnenwanderungen in den 1950er und 60er Jahren begonnen hatten, finden ihre Artikulation in der Verhandlung der Emigration. Diese Diskursverschiebung von der Binnenmigrationssituation in die Emigrationssituation ermöglicht es, von den kulturellen Hybridisierungsprozessen im Dorf selbst abzulenken: Das Ideal eines Dorfs, in dem die Bewohner_innen ein stabiles soziales Gefüge bilden, hält sich in den Filmen durch, doch mit den Zuständen der innergemeinschaftlichen Zersplitterung durch die Migration zahlreicher ihrer Mitglieder generiert sich eine Veränderung der Gesamtstruktur vor Ort. Die Angst der Eltern ist vielleicht weniger die Angst nach der Veränderung des Sohnes als vielmehr der Angst vor dem Verlust einer Vergangenheit, die nicht mehr ist. Insofern bestehen die Eltern mit ihrem Bewusstsein nach ihrem Lebensende (sie drängen Murat ja zur Heirat und heterosexuellen Reproduktion) auf einer Phantasie transgenerationeller Nicht-Migration, dem Erhalt der Nachfahren am Ort ihrer Heimat. Diese Angst nach dem Verlust eines Vorgängigen steht auch im Zentrum des nächsten zu untersuchenden Films. Die kulturgesellschaftliche Dimension eines islamischen Traditionalismus und eines okzidentalen Rassismus, die ich hier an der Absenzszene den Dorfeltern erörtert habe, findet sich nicht damit nicht nur im Sensationsfilm oder Dorffilm, sondern besonders auch in nationalistischen Filmprogrammatiken, hier dem millî sinema164 , dessen repräsentativster Ableger Yücel Çakmaklıs sechster Film schlecht163 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 335). 164 Wörtlich: nationales Kino; milli teilt denselben Wortstamm wie millet (›Bevölkerung‹; ›Volk‹). Etymologisch stammt der Wortstamm vom arabischen Wort mllā (›Sprache‹). Urtümlich als milla: Be-
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hin ist.165 An der Absenzsequenz dort wird nicht nur die Involvierung von Migration in ideologische Gefüge aufzuzeigen sein, sondern die grundlegenden Parameter medialer Prekarität der Migration.
6.5.
Abwesenheitssequenz III: Oğlum Osman (1973) – Erinnerungen und Preservation
Der Vorgang der Reversion der Fremdwerdung eines frommen und islamisch erzogenen türkischen Emigranten, genauer der Veränderungsprozess eines Emigranten hin zu demjenigen, der er vor der Ausreise war, steht in Yücel Çakmaklıs Klassiker Oğlum Osman (1973), der auf Raif Cilasuns gleichnamigem Roman166 basiert, im Mittelpunkt der Erzählung. Der Rückkehrer ist hier kein Arbeitsemigrant, sondern ein Bildungsmigrant, der Sohn einer wohlhabenden muslimischen Unternehmerfamilie, die ihn zu Zwecken eines Ingenieursstudiums ins Ausland geschickt hat. Erneut werden vor der Rückkehr des Emigranten dessen Eltern in den heimischen Zusammenhängen gezeigt, wie sie – hier allerdings angstfrei, wohlgesonnen und mit Stolz – die Rückkehr des Sohns verhandeln. Besonders die Erinnerungssequenz seiner Versprochenen Fatma bildet einen ausgiebigen Teil der Absenzsequenz: Seit fünf Jahren (wie bei Kara Toprak auch) wartet sie auf den Absolventen. Die Absenzszene verdient hier ihre Aufmerksamkeit aufgrund der Entfaltungsform des familialen und Handlungssettings und einer hier im Vordergrund stehenden Liebesbeziehung, die mit filmisch umgesetzten Erinnerungsprozessen und einer extensiven Verhandlung visueller (besonders photographischer) Objekte einhergeht, die die komplexe Realtionalität der Migration insbesondere im Hinblick auf Zeitlichkeiten anzeigt. Der Film konstruiert mit der Erzählung einer Verfremdung kein visuelles othering über die visuellen Marker am Emigranten, beruft sich stattdessen auf andere Verfahren der visuellen Konstruktion der Emigration und der Sichtbarmachung ihrer Folgen. Das hat damit zu tun, dass Oğlum Osmans soziales Milieu nicht als Dorf und der Emigrant nicht als Arbeitsemigrant konzipiert sind. Die visuellen Stereotype von der äußeren Andershaftigkeit (Kleidung, Radio et cetera) greifen nicht. Deswegen ist die Absenzszene in Oğlum Osman so konzipiert, dass sich der Film auf eine schrittweise Sichtbarmachung der Fremdgewordenheit des Emigranten Osman konzentriert.167 Er erzählt mit der Rückkehr des Emigranten, dass dieser sich in seiner Studienzeit in Deutschland gänzlich von islamischen und türkischen Werten entfernt habe. Nach seiner Rückkehr verweigert Osman nicht nur die Heirat mit seiner Kindheitsliebe Fatma, die er vor fünf Jahren verließ, sondern widmet sich gar einem lasterhaften Leben mit Alkohol, Frauen und Glücksspiel. Die frommen Eltern sind entsetzt über die Verwandlung ihres Sohnes, ganz besonders Osmans Vater. Die erfolgreiche Absolvierung des Maschinenbaustudiums durch seinen Sohn in Deutschland macht ihn mit Blick auf die Übernahme der zeichnung für eine Gruppe von Religiongszugehörigen, Religionsgemeinschaft, Etimoloji Türkiye (o.A.). 165 Hazar (2014b, S. 158). 166 Cilasun (2014). 167 Vgl. Alkın (2016d).
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Tätigkeiten im Unternehmen zwar stolz und glücklich, über die charakterliche Veränderung seines Sohns bleiben er und Ehefrau allerdings völlig aufgelöst. Die Veränderung Osmans macht sich jedoch nicht nur in seinen Verhaltensweisen und Dispositionen deutlich: Er hat gar seinen eigenen Namen abgelegt und den Namen ›Kaya‹ angenommen, »weil [er] es satt [habe], den Namen der Barbaren und der Rückständigen zu benutzen«. Der Vater ist in Anbetracht dieser Haltung des Rückkehrers erschüttert, denn er hatte den Sohn nicht grundlos ›Osman‹ genannt: Gegeben habe er ihm den Namen, damit sein Sohn gläubig wie Hz. Osman168 und tapfer und mutig wie der Begründer des osmanischen Reichs, Osman Gazi, werde. Flashbacks, die den Selbsttrauer und Enttäuschung ausdrückenden Monolog des Vaters als Voice over nutzen (er spricht in die Leere blickend monologisierend, wobei Osman ihm im Rücken steht, Abb. 15), zeigen die religiöse Erziehung Osmans durch den Vater: Szenen beim abdest (religiöse Waschung vor dem Gebet), dem Gebet selbst und dem Feiertag der Gründung der Republik (Cumhuriyet Bayramı).
Abbildung 15 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
Der Film lässt sich von der filmischen Erzählung her als Darstellung einer Re-»Turkisierung«169 verstehen, die auf Seiten von Zuschauer_innen identitätsstiftende Angebote für eine Verbindung von nationaler und religiöser Identitätsanteile generieren möge170 . Als Teil einer Sichtbarmachung einer Schritt für Schritt stattfindenden Selbstfindung, in der Osman sein früheres, muslimisch-nationales Ich wiedererlangt, findet sich so im Film früh eine Szene wieder, die das ideologische Umfeld anzeigt, in dem der Film verortet ist: Heroisierung des islamischen osmanischen Reichs und seine Reaktualisierung für die Türkei. 168 Hz., Abkürzung von hazreti, bedeutet als Namenszusatz »Der/die Heilige«. Hz. Osman ist neben Hz. Ömer und Hz. Ebubekir der dritte Kalif der Muslime. Alle drei gelten insbesondere im sunnitischen Islam als Gründerfiguren des islamischen Regimes in der Nachfolge des Propheten Muhammed. 169 Arslan (2011, S. 158-162). 170 Vgl. Yenen (2012, S. 246).
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Die beiden historischen Vorbilder, die der Vater als Inspirationsquelle der Namensgebung seines Sohns benennt, erscheinen dem jungen Osman in einer Traumsequenz. Ihn an seine unausweisliche türkische Identität mahnend erretten ihn die beiden historischen Osmans aus seiner Situation am Felsen, der den jungen Mann bei seiner Flucht vor den anderen herabstürzenden Steinen einquetscht (Abb. 16)171 . Dass es ein Felsen ist, der auf den jungen Osman herabstürzt, ist kein Zufall, denn Felsen heißt auf Türkisch so, wie sich Osman als verwestlichter Mann eben nennen möchte: kaya (»Fels«)172 .
Abbildung 16 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
Den Traum durchlebt Osman, nachdem er mit seiner Auseinandersetzung mit seinem Vater sich zur Rückkehr nach Deutschland entschließt. Dort kommt er bei seiner wohlhabenden Liebhaberin Helga unter. Nach einem Abend mit Helgas Eltern, an dem sie gemeinsam eine Dokumentation im deutschen Fernsehen über die Entstehung der islamischen Religion sichten173 , befragt Helgas Vater den ihm gegenübersitzenden Osman nach Sinn und Zweck der Kâbe-Umkreisung174 : eine Frage, auf die Osman keine Antwort weiß. Im Anschluss an den Abend erklärt Helga auf dem Heimweg, dass sie am Sonntag in die Kirche gehen werde. Beeinflusst von eben jenem Befreiungstraum tagträumt Osman von der christlichen Glaubenspraxis von Helga, in der er sie sich im schwarzen Raum vor einem Kruzifix mit choralem Gesang betend vorstellt. Nach dem 171 Ein Fernsehmitschnitt, der mir vorgelegen hat, zeigt die Traumsequenz in Farbe. Die Entsättigung/Schwarz-Weiß-Färbung ist in der digitalen Restaurierung nachträglich hinzugefügt worden. Außerdem wurde das Format des Films von 4:3 auf 16:9 geändert, wobei im Vergleich der mir vorliegenden Fassungen jeweils beide Fassungen entsprechende (vertikale, horizontale) Beschneidungen der Bildinformationen aufzeigen. 172 Vgl. zu einer Analyse von Oğlum Osman siehe auch Arslan (2011, S. 158-162, hier 161). 173 Çakmaklı integriert in den Film an dieser Stelle unter anderem Aufnahmen aus Cecil B. DeMilles Die zehn Gebote (1956) und aus seiner als Anweisungsfilm konzipierten Doku über die Pilgerfahrt nach Mekka, Kâbe Yolları (»Die Wege zur Kaaba«) (1969). 174 Die Kaaba (arab. für »Kubus«) am Pilgerort Mekka ist ein kubisches Steinhaus, das von muslimischen Pilgern bereist und im Zuge der Pilgerfahrt (hadsch) siebenmal umkreist wird. Es wird als Haus Gottes gepriesen.
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Erlebnis dieser befremdlichen Szenerie in Verbindung mit dem Errettungstraum seiner beiden Namensvetter macht Osman sich auf den Weg zu einer Selbstfindung zurück in die Türkei. So besucht er unter anderem die Pilgerstätte Mekka, um mehr über den Islam zu erfahren: eine Selbstfindungsreise quer auch durch die Türkei, die damit endet, dass er als re-islamisierter und -turkisierter Sohn wieder zu seinen Eltern zurückkehrt und sich mit seiner Verlobten Fatma vertröstet. Diese zunächst noch naiv wirkende filmische Repräsentation einer Selbstfindung verweist auf einen komplexen ideologiewie filmhistorischen Kontext: den des millî sinema.
6.5.1.
Oğlum Osman als Millî Sinema
Als islamisch sozialisierter, in ärmlicheren Verhältnissen im zentralanatolischen Afyonkarahisar aufgewachsener Filmemacher, der sein Filmhandwerk über Hilfstätigkeiten erwirbt, versucht der Regisseur des hier zu diskutierenden Films, Yücel Çakmaklı, inmitten einer als »bourgeois« zu bezeichnenden bildungsbürgerlichen Filmemacher_innenkultur »andere« Filme zu erzählen. So schickt er 1964 seinem erst sieben Jahre später entstehenden, erfolgreichen Debüt Birleşen Yollar (»Wege, die sich vereinen«) (1971), der Literaturverfilmung des islamischen Romanklassikers »Huzur Sokağı« (»Straße der Harmonie«)175 von Şule Yüksel Şenler, ein Manifest voraus, in dem er seine als islamisch-turkisiert zu bezeichnende Perspektive auf das türkische Kino formuliert. Im filmhistorischen Diskurs gilt das millî sinema176 neben dem ulusal sinema dabei als zweite nationale Filmrichtung (siehe Kapitel 3). Die ideellen Unterschiede beider Manifeste lassen sich in der historischen Rückschau und besonders im Zusammendenken der Filme und ihrer Regisseur_innen und Begründer_innen untersuchen. Unmittelbar Bezug auf ihre gegenseitigen Konzepte nehmen Çakmaklı und Refiğ in einer bekannten Sitzung des Milli Türk Talebe Birliği (MTTB) Sinema Kulübü (»Der Kinoclub der Nationalen Türkischen Auszubildendengemeinschaft«) am 10. März 1973177 . Die Gründung des Clubs muss man sich so vorstellen: Eine Gruppe von tendenziell konservativen, also eher rechten und frommen jungen Filminteressierten findet sich zu einer Zeit zusammen, in der die meisten Filmzeitschriften und Filmkritiker_innen in der Türkei größtenteils von europhilen und türkisch-kinokritischen Dispositionen geleitet sind. Dann gründen sie mit einigem Elan einen eigenen, eher konservativ-nationalen Ideen folgenden Filmclub, um mit ihren Ideen den Grundboden für eine Auseinandersetzung um das türkische Kino zu führen, Filme zu sichten, Filminteressierte auszubilden, aber auch selbst Filme herzustellen (eine staatliche Förderung des Films bestand ja nicht). Unter der Moderation des Schriftstellers Üstün İnanç sprechen auf jener Sitzung des MTTB Kinoclub beide 175 Şenler (1996). 176 Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich bis heute eine relativ ausgiebige Auseinandersetzung darüber hinzieht, wie türkische Filme zum Islam mit welchen Begriffen und Konzepten zu bezeichnen oder zu klassifizieren sind. So wird im filmpublizistischen und -wissenschaftlichen Diskurs sowohl von einem beyaz sinema (»weißes Kino«) – ein Begriff von Abdurrahman Şen – als auch von yeşil sinema (»grünes Kino«) gesprochen, vgl. Yenen (2012, S. 244, 251-253) und Evren (2014, S. 69). Die Farben werden mit den Farben des Islams konnotiert. 177 Die komplette Diskussion findet sich in Milli Türk Talebe Birliği Sinema Kulübü (2014), vgl. auch Hazar (2014a).
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Filmemacher, Çakmaklı und Refiğ, in Anwesenheit auch einiger anderer Filmaktiver178 generell über die vorzunehmende Konzeption eines nationalen Kinos. Im Gespräch, das im Übrigen noch vor der Realisierung des hier zu untersuchenden Oğlum Osman stattfindet, konkretisiert der junge Çakmaklı, wohlwissend um die bereits bestehende Konzeption von Halit Refiğs ulusal sinema, seine eigene Idee eines nationalen Kinos, das maßgeblich auf der Konzeption der »millî-Kultur« fußt: Die milli-Kultur ist die Werteherrschaft einer Bevölkerung, also eines millets [Volks, Ö.A.], die aus der historischen Aufsammlung ihrer Empfindungs-, Denk- und Lebensweise besteht. Milli Kültür bir toplumun, yani milletin, tarihi birikiminden aldığı duyuş, düşünce ve yaşama biçimiyle oluşturduğu değer hükümleridir.179 Dieses Kulturkonzept, das die kognitive wie empfindungsbezogene historische Gewordenheit von Werten als gemeinschaftsbestimmende Instanzen bemüht, vereindeutigt sich mit Blick auf Çakmaklıs Filme als islamisch-anatolische Wertehierarchie, in der insbesondere dem Islam und dem Bezug auf das osmanische Reich erheblich Raum gegeben wird. Aufbauend auf der Analyse von Çakmaklıs Konzeption versucht Halit Refiğ die Unterschiede beider nationalen Kinokonzepte zu identifizieren: In der Benutzung des Wortes ›ulusal‹ liegt der Umstand, etwas fortschrittlicher zu sein, weiter in die Zukunft zu blicken. In der Benutzung des Wortes ›milli‹ befindet man sich in der Lage, etwas konservativer zu sein. Ulusal kelimesini kullanmakta biraz daha ilerici olmak, daha ileriye bakmak meselesi var. Milli kelimesini kullanmakta biraz daha muhafazakâr olmak durumu var.180 Dass diese Sicht auf das millî sinema als Konservatismus zumindest aus filmkonzeptioneller und ästhetischer Ebene heraus argumentierbar ist, wird die Analyse der Absenzsequenz noch aufzeigen. Wie Refiğ Jahre später ausführt, evaluiert er in der Retrospektive sowohl den Club als auch die Sitzung als Pseudositzung einer rechten, tendenziell pro-islamischen Gruppierung, die ihn und Erksan für ihre tendenziell konservativen Ziele vermeintlich ausnutzten – etwas, das Refiğ hieran festmacht: Als nämlich Verantwortliche dieses rechten Lagers beim staatlichen TV-Sender TRT an gehobenen Positionen tätig sind, geben sie Refiğ und Erksan kaum Arbeitsmöglichkeiten, sondern verpflichten ihren »einzigen Star« Yücel Çakmaklı.181 Doch eine alleinige Charakterisierung des millî sinema als konservativ ist nicht hinreichend. Das zeigt eine etwas genauere, fast zehn Jahre früher artikulierte Definition Çakmaklıs an, die er in seiner 1964 als Gründungsmanifest veröffentlichten Schrift »Milli Sinema Ihtiyacı« (»Die Notwendigkeit nach einem Milli Kino«) formuliert: Es ist offensichtlich, dass das türkische Kino nur dann die Identität eines ›milli sinema‹ wird annehmen können, wenn es Filme hervorbringen wird, die den Glauben 178 Explizit sind das Duygu Sağıroğlu, Metin Erksan, der Vorstand des MTTB, Salih Diriklik, sowie der damalige Vorstand des »Türkischen Filmarchivs«, Sami Şekeroğlu. 179 Yücel Çakmaklı in Milli Türk Talebe Birliği Sinema Kulübü (2014, S. 35). 180 Halit Refiğ in Milli Türk Talebe Birliği Sinema Kulübü (2014, S. 39). 181 Refiğ in Refiğ und Türk (2001, S. 291f.).
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des türkischen Volkes (mit ihren Dörfler_innen und Städter_innen), der die geistigen Werte vor das Materielle stellt, die nationalen Charaktere [und] die mit Traditionen hervorgebrachte [wörtlich: geknetete] anatolische Realität wiederspiegeln. Türk sinemasının ancak, köylüsü ve şehirlisiyle manevi kıymetleri maddeden üstün tutan Müslüman Türk halkının inançları, milli karakterleri, gelenekleriyle yoğrulmuş, Anadolu gerçeğini yansıtan filmler vererek ›milli sinema‹ hüviyetine kavuşacağı aşikârdır.182 Mit ihrer Kritik am Materialismus und der Hervorhebung eines Traditionalismus lässt die Passage unmissverständlich ihren Rückbezug auf die Thesen des Schriftstellers und Intellektuellen Necip Fazıl Kısakürek deutlich werden. Kısakürek formulierte in seinen Schriften der 1940er und späteren Jahre die Kritik am Westen darüber, dass er ihm Hinwendung an den Materialismus und die Verkümmerung und Unterordnung des Seelisch-Geistigen unter das Materielle und das daran orientierte Vernunftprimat vorhielt: Anstatt eine klare Verbindung zwischen Wissen und Seele herzustellen, um somit auch das Materielle mit dem Geistigen zu vereinen, klammere der Westen die Seele und damit zusammenhängend die geistigen Bedürfnisse aus und stütze sich auf den Materialismus, der argumentativ mit dem Verstand unterfüttert und legitimiert werde.183 Ihre erste konkrete Zusammenarbeit realisieren Çakmaklı und Kısakürek erst mit dem Film Bir Adam Yaratmak (»Einen Mann erschaffen«) (1977), in dem es um die Erzählung einer Sinnkrise eines nach und nach den Verstand verlierenden Autors geht. In der Artikulation einer »anatolischen Realität« in seinem Manifest offenbart Çakmaklı allerdings die Orientierung weniger an einem regional überaus umfassenden islamischen Programm, wie Kısakürek es mit seinem Projekt einer »Büyük Doğu«184 (»Großer Osten«) im Sinn hatte, sondern rekurriert auf die Idee einer türkisch-anatolischen Wesensessenz, die sich durch die urtümliche Zugehörigkeit zum Islam auszeichne. Besonders deutlich wird das an seinem Film Zehra (1972), in der die Figur des mevlevi-Kultur genießenden Altherrenvaters seine Tochter Zehra und seine Frau, die in der modernen Stadt eine laszive Lebensweise führen, aus erzieherischen Gründen für geraume Zeit ins anatolische Dorf mitnimmt. Dort wird im Sitzen, von einem Tablett gegessen und bescheiden und in enger Anbindung an anatolisch-dörfliche Traditionen gelebt: Lebensweisen, die beiden Frauen (vorerst) nicht zusagen. Hier ist es das Dorf und seine urtümliche anatolische Wesensessenz, die mit Vorstellungen von Natürlichkeit, Unverdorbenheit, Reinheit, Traditionalität idealisiert wird. Die implizite Alterität zum Westen, die in Çakmaklıs Definition mit der Distanz zum Materialismus angedeutet ist, erklärt auch seine konträre Positionierung zu den eher modernistisch orientierten Filmemacher_innen des Yeşilçam-Kinos (darin sind nicht nur Halit Refiğ, sondern auch unter anderem Duygu Sağıroğlu, Metin Erksan, 182 Çakmaklı (2014, S. 16). 183 Stutz (2013, S. 225). 184 Für eine deutschsprachige Kontextualisierung von Necip Fazıl Kısaküreks Arbeiten siehe Stutz (2013, S. 214-235).
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Ömer Lütfi Akad gemeint), deren Schaffen er seine Definition eines millî sinema entgegenstellt. Çakmaklı inszeniert sich dabei in einer Art Randstellung gar zu zwei Gruppen von Filmemacher_innen, von denen er annimmt, dass sie die oben genannte Form eines millî sinema nicht zu realisieren im Stande seien: den kommerziellen Filmemacherinnen, die lediglich Remakes und Mock- oder Knockbuster amerikanischer, populärkultureller Filme produzierten (das Stereotyp kommerzieller Yeşilçam-Filmemacher_innen also) und denjenigen, die mit sozialrealistischer Losung185 und mit Hilfe von »materialistischer Philosophie und marxistischer Literatur«186 , aber weit entfernt von den »immateriellen Werten« der sunnitisch-türkischen Bevölkerung Filme herstellten (insbesondere die Filme der 1960er; siehe auch Kapitel 3). Dass er dabei selbst den kommerziellen Yeşilçam-Produktionsrahmen nicht verlassen konnte, davon zeugen fast alle seine Kinofilme der 1970er Jahre (Bir Adam Yaratmak ausgenommen).187 Seine Inszenierungspolitik der Yeşilçam-Phase lässt sich dabei generell als Identitätspolitik umschreiben. Stets geht es in seinen Filmen der 1970er um eine Form der Rückbesinnung der Protagonist_innen auf islamische und konservative Werte. Birleşen Yollar, Çile (»Das Leid«) (1972), Kızım Ayşe (»Meine Tochter Ayşe«) (1974), Memleketim (»Meine Heimat«) (1974) erzählen alle vom charakterlichen Wandel vormals ideologisch (moralisch, religiös) fehlgeleiteter Protagonist_innen, die einen Wandel hin zu einer frommen, muslimischen Lebensweise einnehmen. In dem Film Diriliş (»Die Auferstehung«) (1974), der in der Zeit zwischen Oğlum Osman und Memleketim und auf der Grundlage einer Necip Fazıl-Kısakürek Vorlage entsteht, wird die Geschichte der »Auferstehung« – so die deutsche Übersetzung des Originaltitels – eines Ehemannes erzählt, dem seine Frau aus dem Teufelskreis aus Spiel- und Drogensucht wieder zur Normalität eines islamisch und fromm bestimmten Lebens verhilft. Dabei ist der Identitätswandel keineswegs nur im Kino Çakmaklıs eine vornehmliche dramaturgische Konstellation, sondern gehört zum klassisch-”mythologischen Grundmuster« an sich, die das handlungsbestimmte Yeşilçam-Kino an sich auszeichnet. Es folgt in den meisten seiner Geschichten also jenem »Grundmuster«, in der der Held durch die Absolvierung einer »entscheidenden Prüfung« seine »Auferstehung« durchlebt und »mit dem Elixier« in sein Heim zurückkehrt.188 Migration als räumliche Wanderung in Form einer als imaginär angenommenen oder physisch gegebenen Grenze gehört damit auch zu jenem fundamentalen Grundmuster mythologischer Erzählungen, deren Herausarbeitung besonders des ethnologischen Werks Joseph Campbells geschuldet ist.189 Während die Konzeption des ulusal sinema auf der Diskursebene einer Expertenkultur (Filmkritiker_innen und Filmemacher_innen) sich also gegen eine sich ausschließlich an westlicher Filmkultur orientierende Form des Kinos und sich damit gegen einen 185 Zum Sozialrealismus des türkischen Films der 1960er Jahre siehe weiterführend auch Daldal (2003) und Daldal (2005). 186 Çakmaklı (2014, S. 16). In den späten 1960ern keimt der später in den 1970ern sich erheblich zuspitzende Rechts-Links-Konflikt, der zum großen zweiten Militärputsch 1980 führen wird. 187 Auch für Arslan steht fest: Çakmaklı kann in der Realisierung seiner frühen Filme die YesilçamModalität nicht verlassen, Arslan (2011, S. 162). 188 Vogler (2004). 189 Campbell (1999).
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Eurozentrismus in der türkischen Filmkultur richtete, betrachteten Vertreter_innen im Umfeld des millî sinema das Kino als Medium filmischer Erziehung der Bevölkerung zu einer islamisch-türkischen Identität beziehungsweise der Stärkung eben jener Möglichkeiten der Identifikation mit einer solchen (Regisseure sind unter anderem Mesut Uçakan, Abdurrahman Şen) – also als Medium eines binnennationalen Problems mit der eigenen Bevölkerung und Identität. Millî sinema-Anhänger_innen, von denen fast nur Çakmaklı als Regisseur aktiv bleiben konnte, gingen schließlich davon aus, dass eine solche Identität oder Identifikationsmöglichkeit auf der kinematographischen Ebene im Verfall begriffen oder in filmproduktiver Hinsicht minorisiert wurde. Dabei ist für sie Film Werkzeug (alet) für höhere (religiöse) Zwecke und deswegen auch im Umfeld eines als bildkulturkritisch verstandenen Islams zu nutzen. Mit seinem Film Oğlum Osman zielt Regisseur Çakmaklı darauf ab, die als wirkmächtiger Diskurs angelegte Inkommensurabilität von nationaler und religiöser Identität und die für eine Modernisierung notwendige Hinwendung zum Westen in einer filmisch vermittelten Identitätskonzeption aufzulösen: durch die filmische Repräsentation einer Selbstfindung eines verwestlichten Emigranten zu seiner, seinem Wesen angehörenden muslimisch-türkischen Identität. Dabei versucht der Film seine Zuschauer_innen über das Emigrationsnarrativ der Rückkehr, den Islam als wesensinhärenten Teil der türkischen Identität zu konstitutieren. Die Zurückfindung des Emigranten zu seiner ›wahren‹ Identität folgt einer propagandistischen Logik, in der die Selbstfindung gleichzeitig einer Selbstbefragung auf Seiten der Zuschauer_innen resultieren möge. Dabei reproduziert der Film die kulturelle Alterität, in der die dem Westen zugeschriebenen Werte (Selbstbestimmung, freizügigere Sexualität, religionskritische Rationalität) als inkommensurabel vorgestellt werden. Das wohlhabende Milieu, in dem die Erzählung die Handlung situiert, verweigert hierbei repräsentationslogisch eine Verknüpfung von Islam und ärmlicher Dörflichkeit. Generell lässt sich eine soziokulturelle Kontextualisierung des Films vor dem Hintergrund eines vorausgesetzten Genres des Dorffilms nicht mehr fassen. Der Film befindet sich gar in komplexen polit-ideologischen Feldern. Modernisierung, die für die kemalistischen Reformer nur über eine Hinwendung auch an den technisch fortgeschrittenen Westen zu realisieren war, konzipiert Çakmaklı als ein ideologisches Konstrukt, das er nur in Rückbindung an ein Modell türkischislamischer Wesensessenz (»öz«190 ) als Konformität zulässt. Um die Funktionalisierung des technischen Fortschritts, nicht aber deren Werte als legitim zu argumentieren, lässt Çakmaklı Osmans Vater abermals betonen, dass die westliche Technik nutzbar und dem Menschen unterwürfig zu machen sei. Das sei insbesondere ohne eine Übernahme der Werte des Westens oder einer europäischen Lebensweise vorzunehmen. Diese Strategie, Osmans Vater als eine nahezu propagandistische Thesen verlautbarende Figur im Film anzulegen, lässt Oğlum Osman auch an anderen Stellen zum Thesenfilm werden. Der Vater ist hier allerdings nicht als starke, autoritäre oder gar patriarchalischmächtige Figur angelegt, denn in der Folge von Osmans Wandlung erkrankt der Vater, wird bettlägerig und sehnt sich melancholisch an die Zeit vor Osmans Verwestlichung zurück. Die Vitalität des Vaters wird an das Bestehen der islamisch-türkischen 190 Arslan (2011, S. 160).
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Identität auf Seiten des Sohns rückgekoppelt und eine Form religiös-nationalstaatlichfortschrittlicher Wesenhaftigkeit und Kulturalität behauptet: Er gesundet, nachdem Osman mit wiedererstarktem nationalen und religiösen Bewusstsein auftritt. Diese Kopplung der Vitalität der organischen Körper der Figuren mit ihren geistigen Körpern verweist auf die auch schon in Kısaküreks Dispositionen enthaltene cartesianische Dualität von Geist und Körper in Çakmaklıs Filmen. Auf sie wird in Kapitel 6.5.5 noch einmal zurückzukommen sein. Zu beachten ist, dass die Verknüpfung von islamisch-nationaler Identität keine Verwerfung des Kemalismus repräsentiert wissen will: Die Herausarbeitung der Unentbehrlichkeit des Islams für eine türkische Wesensessenz bedeutet keine strikte Desidentifikation mit dem Kemalismus, wie die Szene im Büro des Vaters zeigt: Ein übergroßes Atatürk-Bild hängt dort, um sich auf der Ebene der Repräsentation im Film in Distanz zu einer gänzlichen Verwerfung des Kemalismus zu positionieren (Abb. 17)191 : eine Repräsentationsstrategie, für die Çakmaklı im Übrigen auf Seiten von islamischen Konservativen besonders kritisiert wurde.192
Abbildung 17 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
Vielmehr knüpft Çakmaklıs Vision einer türkischen Identität schon an kemalistische Verhandlungsweisen im Hinblick auf eine besonders technizistische Orientierung am Westen an (ohne dass Çakmaklı das selbst so oder als Ziel artikuliert hätte; der Kemalismus avisierte dabei ganz besonders auch eine Orientierung am Humanismus und damit auch an kulturellen Werten eines modernen Europas). In seiner Untersuchung zum Verhältnis zwischen Europa und der Türkei verweist Bülent Küçük mit Bezug auf Meltem Ahıskas Konzeption des Okzidentalismus auf genau diesen komplexen Zwischenraum des Orients (Türkei) und Okzidents (Deutsch191 Ein weiterer Hinweis auf keine dezidiert antikemalistische Haltung findet sich in der Szene von Osmans Museumsbesuch, in dem die Büsten (vor-)türkischer Herrscher aneinandergereiht sind; Atatürks Büste findet sich als letzte und Çakmaklı hält sich nicht zurück, ihre Größe in der Bildkadrage hervorzuheben. 192 Vgl. Yenen (2012, S. 251ff.).
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land, Europa), der als »dialogischer Prozess«193 sich nicht immer nur auf eine Seite zurechnen lässt und der im osmanischen Regime eine spezifische, trotz aller Differenzen durchgehende Verhandlungsform impliziere (in der modernistischen Reformperiode Tanzimat [1839-1876] war eine Hinwendung an Europa ebenfalls schon angelegt): Okzidentalismus formiert sich in einem dialogischen Prozess, er beantwortet die europäischen Diskurse, indem er sich den Blick des Anderen zu Eigen macht. Er charakterisiert die Subjektivität des türkischen Anderen, die sich in der ambivalenten Zone zwischen Orient und Okzident formiert. […] Die Nationalismen nicht-westlicher Gesellschaften unterscheiden zwischen westlichen Institutionen und Technologien auf dem materiellen Feld, auf dem diese Nationalismen die koloniale westliche Überlegenheit akzeptieren, und nationalen Werten/Normen auf dem immateriellen Feld, auf dem eine Überlegenheit zurückgewiesen wird. Auf Basis genau dieser Spaltung operiert der türkische Okzidentalismus seit der osmanischen und türkischen Modernisierungsgeschichte, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei er das immaterielle Feld als sein souveränes Gebiet deklariert, in das das Andere sich nicht einmischen darf. Die türkische Identitätspolitik bewegt sich an der Grenze von Anerkennung und Ablehnung, die zur [sic!] einer Reihe von Brüchen und Lücken in der nationalen Identität geführt hat (vgl. Ahıska 2000: 94).194 Die von Halit Refiğ vorgebrachte Tendenzialisierung eines eher konservativen millî sinema gegenüber einem fortschrittsorientierten ulusal sinema wird so brüchig beziehungsweise bedarf eingehenderer Differenzierung, um sie vor dem Hintergrund der ideologischen Durchsetztheiten und Prozesse zu verstehen. Wie auch an anderen filmischen Beispielen, soll nun die filmische Konstruktion ergründet werden, die in Oğlum Osman über die Sphäre sich sozial konstituierenden Wissens, wie sie hier Küçük beispielsweise formuliert, hinausweisen. Dazu wird sich das Augenmerk auf die ästhetische Gestaltung der → Absenzsequenz richten (Abb. 18.132, hier 18.1-24).
6.5.2.
Die Sichtbarmachung der Westernisiertheit eines Bildungsmigranten
Wie schon an der Untersuchung der Absenzszenen in Kara Toprak deutlich wurde, ist dem Vorgang der Extraktion dieser Szenen als Untersuchungsoperation eine Entkontextualisierung inhärent, die den Gesamtzusammenhang des Films auszublenden droht. Das wird ganz besonders an Oğlum Osman deutlich, der sehr viel seiner filmischen Konstruktion aus der Unsichtbarkeit, also dem Fehlen eindeutiger visueller Marker des Emigranten schöpft. So werden das Ankunftsereignis und eine mögliche Fremdwerdung und ihre Reversion des Emigranten über den gesamten Film hinweg verhandelt. Diese einseitige Erzählökonomie resultiert aus dem Versuch einer Sichtbarmachung der Fremdwerdung, die sich nicht an visuell eindeutigen Dingen allein anzeigt. Wenn, wie in Kara Toprak und anderen Filmen, die Fremdwerdung durch 193 Küçük (2008a, S. 91). 194 Küçük (2008a, S. 91).
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Abbildung 18.1-32 – Standbilder von der Einstiegssequenz aus Oğlum Osman (1973)
Emigration allenfalls sporadisch thematisiert wurde, dann ist Oğlum Osman also different insofern, als dass er die Fremdwerdung durch die Emigration über die gesamte Erzählzeit hinweg verhandelt. Diese Konstellation hat einige Ursachen: Zum einen ist hier kein Arbeitsemigrant Protagonist, dem die abgrenzende visuelle Markierung zu den Menschen des vormaligen Lebenszusammenhangs wichtig oder notwendig erschiene. Zum anderen ist er ein Bildungsmigrant, der eine »westliche Ausbildung« durchläuft, da Europa in technischer Hinsicht überlegen sei. Auch will der Film hier keinen sozioökonomischen Aufstieg mit den Markern des high othering anzeigen. Das soziale Milieu, aus dem er entstammt, ist als wohlhabend zu bezeichnen, der Vater ist Unternehmer. Wir haben es hier also auch nicht mit einem Dorffilm oder dem Milieu des Dorfs zu
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tun. Die Religiösität der familiären Zusammenhänge ist zudem viel expliziter angelegt, insofern als dass wir tatsächlich Anspielungen auf die muslimischen Alltagspraktiken vorgeführt bekommen (tägliche Gebete, Tischgebete usw.).
6.5.3.
Beschreibung: Absenzsequenz
Die filmische Dramaturgie avisiert die sukzessive Sichtbarmachung der Fremdwerdung des Emigranten. Das gelingt, so wie bei Davaro auch, durch die Etablierung von Erwartungen hinsichtlich des abwesenden Emigranten. Es werden nach dessen Rückkehr dann solche Situationen im Film angelegt, die die Fremdgewordenheit des heimgekehrten Emigranten indizieren. Es wird sich zeigen, dass dies noch komplizierter konfiguriert ist. Gerade weil die eindeutige Identifikation von Osmans Fremdsein weniger an konkreten visuellen Markern festzumachen ist, ist die Absenzsequenz in Oğlum Osman differenter bestimmt als in den Remigrationsfilmen, die die Ankunft des Emigranten als Begegnungs-Spektakel (▶ Kap. 8) oder sich unmittelbar entblößende Entscheidungsfrage der Anderswerdung inszenieren. Auf schwarzem Hintergrund sehen wir den in weißer Schrift angelegten Vorspann. Zu diesem ertönt das türkischer Kunstlied (türk sanat müziği195 ) »Ey büt-i nev eda olmuşum müptelâ« (»Oh, du Mädchen, dessen Miene so schön wie die einer neuen Skulptur, bin dir verfallen«) des berühmten Liedtexters aus dem 19. Jahrhundert, Hammâmîzâde İsmâil Dede Efendi, das hier von einem gemischten Chor gesungen wird. Schnitt. Es setzt der von einem Männerchor gesungene ilahi196 »Yıllarca Mevlaya Yalvardı« (»Jahrelang hat er zum Herrgott gefleht«) von Amir Ateş197 ein, woraufhin ein establishing shot folgt. Dieser besteht aus einem Schwenk zunächst senkrecht von den grünen Blättern eines Baumes auf den Stamm und verfolgt dann mit einem Rechtsschwenk und einem Zoom-In den Briefträger, der ein kleines, aber feines Anwesen betritt. Das Anwesen ist weiß umzaunt und die Architektur des Gebäudes wirkt modern. Auch die Fassade ist modern gearbeitet, rot mit weißen Streifen, darin türkise Einzelsteine und aus weißen Steinen zusammengesetzte, einer Fischdarstellung ähnelnde Muster; daneben eine Glasverandafront (Abb. 18.1). In der nächsten Einstellung übergibt der Briefträger einer Frau mit weißem Kopftuch einen Brief (Abb. 18.2). Im Bildvordergrund der neuen Einstellung sehen wir eine uns mit Rücken zugewandte Frau mit rosa Kopftuch, die einem älteren Herrn, der einen Morgenmantel trägt, gegenübersitzt und mit ihm gemeinsam am Tisch frühstückt. Auffällig ist hier die dezente Form der Teekanne, die edel und kein üblicher demlik aus Blech ist. Hinter ihnen ist die Treppe mit Aufgang zu sehen. Aus einer Tür im Inneren des Hauses tritt nun jene Frau mit dem weißen Kopftuch herein, die den Brief entgegennahm (Abb. 18.3). Sie übergibt den Brief dem Herrn mit dem Hinweis, dass es ein Telegramm aus Deutschland sei. Beide Frühstückenden stehen auf. Dabei sehen wir 195 Eine türkische klassische Musik, auch ›türkische Kunstmusik‹ genannt, die über gesangliche und musikalische Komplexität bestimmt ist und sich durch Künstlichkeit beziehungsweise Volksferne und als elitär auszeichnet. 196 Gesänge (meist choral vorgetragen), die Allah (Gott) preisen. 197 Der Text findet sich in Ateş (o.A).
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nun alle drei, Haushälterin, Vater, Mutter nebeneinanderstehend in einer Amerikanischen. Die Kamera fährt ganz langsam auf die beiden Eltern zu, bis die Haushälterin nicht mehr in der Kadrage zu sehen ist. Der ältere Herr faltet das Telegramm auf und zückt aus der Brusttasche die Lesebrille, das Telegramm sofort durchlesend. Sein Morgenmantel hat einen seiden-blauen Glanz und er trägt ein rotes, weißgepunktetes Halstuch: eine edle Garderobe. Auf die Frage seiner Ehefrau, die die rosa Kopftuchträgerin ist, was denn im Telegramm stehe, antwortet er freudig, dass ihr Sohn Osman morgen Abend mit der 19.30 Uhr Maschine in Istanbul lande. Ihr Sohn kommt aus Deutschland als Absolvent eines Auslandsstudiums für Maschinenbau. Die Mutter greift daraufhin freudig den Arm ihres Ehemanns. Beide sind überglücklich (Abb. 18.4). Schnitt auf: Die Haushälterin und die Emigrantenmutter treten in ein Zimmer, das in Halbtotale aufgenommen ist. Ein Bett steht darin, rechts daneben ein Sessel, dahinter ein Regal und ein Kamin (Abb. 18.5). Die Szene, die mit dem Lob der Mutter über die Säuberungsund Einrichtungsleistung der dadı (›Kindermädchen‹) einsetzt, dreht sich um zweierlei Handlungen: Zum einen betreten Sie das Zimmer, um den in einem gelben Beutel enthaltenen Koran über Osmans Bett zu hängen, denn Osman sei früher nie zur Schule aufgebrochen, ohne ihn drei Mal zu küssen und auf die Stirn zu legen (eine Praktik, die das Koranlesen einleitet und beendet)198 . Die Mutter legt dann eine takke (Kopfbedeckung für das Gebet) auf den Stuhl. Die dadı legt außerdem eine, ihren Angaben nach aus Mekka stammende und damit besondere tesbih, die aus 99 Steinen bestehende islamische Gebetskette ähnlich dem Rosenkranz, über die seccade, also den islamischen Gebetsteppich, der hier über den Stuhl gelegt ist: eine Geste, die die Mutter mit Dank kommentiert. Schnitt auf: ein Zimmer mit elegant moderner Kommode, die zwischen zwei Frauen steht. Die rechts im Bild zu sehende Frau ist die Emigrantenmutter, die andere ihre Freundin und künftige Schwiegermutter ihres Sohns. Große Pfauenfedern(-imitate) befinden sich auf den Vasen der Kommode, des Couchtischs und hinter dem Sofa (Abb. 18.6). Glückwünsche werden von der Frau links ausgesprochen darüber, dass Sohn Osman zurückkehrt, worauf die Mutter antwortet, dass Osman sich sicherlich freuen wird, Fatma zu sehen und dass er deswegen sicher als erstes zu ihnen zu Besuch kommen werde. Während noch die hier zusammengefassten Dialoge gesprochen werden, wird auf Abb. 18.7 geschnitten: Fatma lauscht dem im Off verbleibenden Gespräch der beiden Frauen und lehnt sich mit in die »Leere« starrendem, glücklichem, Verlorenheit vermittelndem Blick an den Türrahmen. Hinter ihr sehen wir eine Frau mit tülbent, also der eher anatolisch-dörflichen Kopfbedeckung: eine Haushälterin. Sie kocht Kaffee für die Gäste und bringt Fatma sodann auch das Tablett mit den türkischen Mokkas, damit sie sie den beiden Gästen, ihrer Mutter und potentiellen Schwiegermutter, serviere. Hier erfolgt ein Zoom-Out, der von Fatmas Gesicht wegzoomend einen eingehenderen Blick in die Küche ermöglicht. Schnitt zurück zu den beiden Frauen: »Fünf Jahre habt ihr auf ihn gewartet, aber er hat euch nicht enttäuscht« – »Allah sei Dank.« Fatma serviert ihnen den Kaffee und das Gespräch der beiden Frauen endet damit, dass Osmans Mutter be198 Eine Umgangspraxis mit dem Koran besteht in eben jenem dreimaligen Küssen und auf die Stirn Legen. Es ähnelt der Respektsbekundung und Huldigung durch den Handkuss.
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teuert, dass ihr Sohn sehr großes Glück mit einer solchen Gelegenheit wie Fatma habe. Schnitt auf: Das Lied türkischer Kunstmusik aus der Einstiegseinstellung (»Ey büt-i nev eda olmuşum müptelâ«), setzt erneut ein, während wir eine Amerikanische sehen, in der Fatma mit einer Pirouette gleichzeitig ihr weiß-spitzenähnliches Kopftuch auf das Bett wirft (Abb. 18.8) und einen kurzen Blick im Spiegel erhaschend und ihre Haare leicht aufwirbelnd zur Spiegelkommode tritt (Abb. 18.9). Aus der Schublade holt sie ihr Tagebuch und ein Photoalbum heraus, die Kamera schwenkt mit. Dann legt sich Fatma mit beidem in ihr Bett, die Kamera schwenkt zurück. Schließlich sehen wir in einer leichten Untersicht aus halbnaher Einstellungsgröße, wie sie das goldene Schloss ihres Tagebuchs öffnet, das vorne eine rote Blume zeigt. Sie blickt mit einem freudigen Lächeln hinein (Abb. 18.10). Die nächste Einstellung springt von der Halbnahen auf die Nahe und zeigt uns, wie Fatma ihr Gesicht noch freudiger auf das geöffnete Tagebuch legt (Abb. 18.11). Der halbnahe Gegenschuss auf Aufsicht fokussiert nun ihr Seitenprofil, das auf dem geöffneten Tagebuch liegt. Wir sehen nun, worauf Fatma ihre Wange legt: es ist eine schwarz-weiß Porträtphotographie Osmans mit einer handschriftlichen Widmung von ihm: »Fatmaya sevgilerimle Osman« (»für Fatma mit herzlichen Wünschen Osman«) (Abb. 18.12). Schnitt auf die Einstellung aus Abb. 18.11 (halbnah). Fatma verschließt das Tagebuch, öffnet nun das Photoalbum, nun ein erneuter Schnitt auf die liegende Fatma auf Normalhöhe. Da sie ihre Waden anwinkelt und überkreuzt, signifiziert dies ihre Freude. Schnitt auf die Detailaufnahme einer Photographie aus ihrem Band. Es zeigt sie als Kind (Abb. 18.14). Es folgt Schuss und Gegenschuss zwischen Nahaufnahmen zweier Photographien (Abb. 18.15-16) aus dem Album und halbnahen Einstellungen der im Bett liegenden Fatma, die freudig ins Album blickt. Dann Schnitt auf die Einstellung, in der wir sie wieder mit überkreuzten Waden auf dem Bauch liegend im Bett sehen. Fatma dreht sich um und legt sich auf den Rücken mit angewinkeltem rechtem Arm. Ihre Hand liegt bei ausgestrecktem Mittelfinger auf ihrer Brust (Abb. 18.17-18). Ihr Blick ist zugleich in Richtung der Kamera, aber dabei durch uns durchblickend angelegt. Dabei schwenkt die Kamera zugleich leicht auf ihr Gesicht und zoomt darauf. Dabei wird die Schärfe nicht nachjustiert, sodass mit zunehmender Nähe des Zooms auf das Gesicht das Bild immer unschärfer wird (Abb. 18.17). Das choral angestimmte Lied wird zu einem dramatischeren Clavichord-Violinen-Duo, das wiederum zu einer melancholischen Melodie samt Streichern angestimmt wird, welche nun im Hintergrund weiterspielt. Schnitt auf: In halbtotaler Einstellung sehen wir ein Mädchen und einen Jungen, die in Schuluniform Händchen haltend die Straße entlanglaufen: Es sind, das wird der Voice over verraten, Fatma und Osman (Abb. 18.19). Ein Schnitt auf dieselbe Einstellungsgröße und Kameraeinstellung: Diesmal tragen beide Alltagsbekleidung, das Mädchen trägt die Haare offen. Sie rennen im Freien. Schnitt auf einen Baum. Um diesen herum spielen sie Fangen, die Kamera schwenkt leicht mit. Schnitt auf eine Schaukel in Normaleinstellung. Fatma schaukelt uns frontal entgegen, während der junge Osman sie lachend anschubst. Beide sind glücklich. Zu diesen Flashbackeinstellungen hören wir einen voice over der erwachsenen Fatma, der erklärt, dass sie »schon damals Gefühle für Osman hegte, die voller Liebe waren«, »dass sie ihre Kindheit« gemeinsam verbracht haben und später »erwachsen wurden«. Der voice over, der Fatmas inneren Monolog wieder-
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gibt, ist mit einem Hall-Effekt versehen, um seine Eigenschaft als Gedankengang über dessen Auditivität zu vereindeutigen: Der Hall-Effekt verortet die Stimme in potentieller abseitiger Räumlichkeit, einem Anderswo, das nicht aus der diegetischen Ebene des Films stammt. Er signifiziert so die Ausführungen als verbale Gedankengänge. Schnitt auf: Eine Halbnahe zeigt, wie Fatma in ihrem Tagebuch die Seite geöffnet hat, in der eine getrocknete Rose zu sehen ist. Zoom Out mit Aufsicht auf die im Bett liegende Fatma, die sagt, dass »seine Worte immer noch in ihren Ohren klingen« (Abb. 18.20). Der Status des voice overs als innerer Monolog wird aber auch schon in Abb. 18.17-18 deutlich, weil trotz des aktiven voice overs Fatmas Lippen sich in den Bildern zuvor nicht bewegen. Die darauffolgende Flashbackeinstellung zeigt aus einer halbnahen, wie der erwachsene Osman eine Rose von einem Rosenstrauch abrupft, um sie der erwachsenen Fatma, die in dessen Anwesenheit Kopftuch trägt, zu übergeben. Die Kamera zoomt heraus und wir sehen nun beide in einer Normalen (Abb. 18.22). Fatma riecht an der Rosenblüte, während Osman ebenfalls in einer mit Hall-Effekt versehen Stimme anmerkt, dass »fünf Jahre keine so lange Dauer sind«. Der Hall-Effekt hier verortet den Ton in der Vergangenheit, um den Flashbackcharakter der Einstellung aufrecht zu erhalten. Fatma antwortet: »Ich würde ein Leben lang auf dich warten.« »Ich werde dir regelmäßig Briefe schreiben.« »Ich werde dir noch regelmäßiger Briefe schreiben.« Eine Halbnahe zeigt uns nun Osmans freudige Blicke auf Fatma, die die Rose gegen ihre Wange hält. Schnitt auf: Auf Fatmas Bett zeigt uns eine Halbnahe einen kleinen Haufen voller Postkarten und Briefe (Abb. 18.23). Fatma legt die getrocknete Rose ins Tagebuch und greift nun einige der Briefe, denn mit ihnen hätte sie sich ihren Anfangsschmerz der Trennung erträglich gemacht. Dieselbe Einstellung wiederholt sich – nur dass Fatma diesmal aus dem Haufen einen handgeschriebenen Brief hervorholt und in ihm liest. Die Kamera schwenkt mit, wir sehen in einer Normalen wie Fatma durch den Brief liest. Ein kurzer over-the-shoulder shot, der den Brief aus leichter Aufsicht zeigt, ist zwischengeschnitten. Fatmas freudiger Gesichtsausdruck weicht nun einer mit leichter Traurigkeit oder Ernst versehenen Mimik, die von folgendem Voice-Over begleitet wird: »Die mich anfänglich glücklich machenden Briefe waren nun seltener geworden. Ich wusste nicht, ob zwischen mir und Osman Probleme aufgekommen waren. Das einzige, was ich wusste war, dass mit jeder Minute die Angst in mir größer wurde.« Sie greift dann noch in derselben Einstellung das Tagebuch und blickt sorgenvoll auf eine Seite darin: »Die Angst, dass mein Osman mich vergessen würde. Die Angst meinen Osman in der Heimat der blonden Mädchen zu verlieren. Das Einzige, worin ich Zuflucht vor den Ängsten suchte, war die Hilfe meines Allahs; die Geduld und Kraft, die er mir geben kann. Aber diese Trauer und Sorgen werden enden. Mein Osman kehrt morgen nämlich zurück.« Die für die Analyse bedeutsame Sequenz endet mit einer normalen Einstellung, in der Fatma sich mit beiden Händen an ihr Tagebuch klammert (Abb. 18.25).
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6.5.4.
Das Prinzip der Konservierung – Emigration und Preservation(-sbild) Osman: »Du hast dich sehr geändert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben [auf ihre Schönheit anspielend, Ö.A.]« Fatma: »Sie täuschen sich. Hier gibt es nichts, das sich geändert hat. Das einzige, das sich geändert hat, sind Sie.« (Dialog zwischen Fatma und Osman, Oğlum Osman)
In Oğlum Osman geht es zu Beginn um die Ankunft der Nachricht von Osmans Rückkehr und in der Folge um die Durchschreitung der künftigen Handlungsräume, die mit einer Erinnerungssequenz in Fatmas Zimmer enden. In Kara Toprak war die Nachricht der Rückkehr bereits verkündet worden und der elterliche Innenraum bot sich als Bühne für die sprachliche Verhandlung und Aktionen der Eltern an. Im Wohnzimmer ereignete es sich als Bühne für das Gesprochene und als Ort für die Verteilung der symbolischen wie affektiven Lasten auf Vater- wie Mutterfigur. Zugleich war die Wohnzimmerszene durch die vorausgehende Szene der Anfahrt des Emigranten mit möglichen Annahmen der Zuschauer_innen besetzbar geworden. Auch lud sie damit zur imaginativen Gestaltung des Emigranten im Verhältnis zu den durch die Eltern verhandelten Diskursen ein. Die filmische Konstruktion der Absenzsequenz in Oğlum Osman entfaltet die Handlungsräume199 grundsätzlich in einer Logik von Außen nach Innen: Die einzelnen Bilder wechseln mit dem Schwenk der Baumkrone zur Hausfassade, zur Außentür, zum Esszimmer und schließlich zum Zimmer Osmans. Von dort wechselt die Szene in Fatmas Heim, das Wohnzimmer der Frauen, zur Küche, zu Fatmas Zimmer, in dem Osman innerhalb der Tagebücher, Briefe und Photoalben enthalten ist, bis in Fatmas Kopf (Zoom), in ihre Erinnerungen hinein, in denen Osman zunächst noch als Junge, dann als Erwachsener kurz vor seiner Emigration imaginiert ist. Diese Richtungslogik verläuft damit diametral zu derjenigen von Davaro, in der die filmische Konstruktion vom Inneren der Wohnung von Memo gar bis zu den Außengrenzen des Dorfs führte. In Davaro ging es um die Entfaltung der Dorfgemeinde als soziale Größe, die sich für den Moment der Ankunft für eine face-to-face-Begegnung als feierlicher Empfang mit dem Emigranten vor dem Dorf positionierte. Die Szene war ein Ent-falten, ein Öffnen des sozialen Kosmos’ des Dorfs, das gleichsam der sozialhierarchischen Logik (Familie, Nachbarn, Frauen, Männer, Dorfinstitutionen qua ihrer Repräsentanten) folgend anwuchs. Die Raumlogik bewegte sich dabei vom Privaten ins Öffentliche: 199 Zum Begriff »Handlungsraum« im Film vgl. Kappelhoff (2007a, S. 299ff.).
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Richtungslogik des Raums in Davaro: Spiegel (Ort des Eintritts)
Muttergesicht
Hausinneres
Familie
Hauseingang
Nachbarn/Schwiegerfamilie
Dorfstraße
Frauen (+ Kinder)
Dorfplatz/Teestube
Männer (+ Kinder)
Dorfaußengrenze mit Brücke
Gesamtdorf & Musikanten
In Oğlum Osman folgt die Raumlogik eher einer Hierarchie von Lebensräumen, vom Öffentlichen, zum Familiären, zum Privaten, zum individuell Subjektiven (Erinnerung): Richtungslogik des Raums in Oğlum Osman: Baumkrone/Hauseingang
Öffentlich
Esszimmer
Familie
Privatzimmer Osman
Privatraum Osman (leer)
Wohnzimmer Nachbarn
Schwiegerfamilie
Privatzimmer Fatma
Privatraum Fatma
Erinnerungen/Photographien
Gedankenraum Fatma
Die Etablierung der Handlungsräume in Oğlum Osman ist hierbei auf eine AußenInnen-Logik und so auf eine spezifische Chronologie angewiesen, in der diese nach der Ankunft Osmans synchron durchlaufen wird. Diese Logik ergibt sich daraus, dass die Fremdwerdung des Emigranten in eben jenen Räumen zu ersehen sein wird, in denen er lebt. Erst nach der enttäuschenden Schmäherfahrung Fatmas (siehe später), verlässt der Film die in den Heimen liegenden Innenräume und zeigt schließlich weitere Unternehmungsräume Osmans an (Discos, Poker-Absteigen, Strand, Fabrikhallen des Vaters). In diesem eher als geschlossen zu betrachtenden ersten Teil nimmt Osmans Zimmer eine zentrale Rolle im Hinblick auf ein Prinzip der Konservierung ein. Mit diesem Prinzip ist ein sowohl ideologisches wie ästhetisches Programm gemeint, das sich durch den gesamten Film durchhält und ein raumzeit-logisches Moment der Migration und seine Instrumentalisierung für jenes ideologische Programm deutlich macht. Nicht nur, dass die Haushälterin in Osmans Zimmer nach wie vor als Kindermädchen (dadı) bezeichnet ist und damit von der Emigrantenmutter in ihrer vormaligen Funktion betrachtet wird: Osmans Zimmer wird auch noch unter einer solchen Annahme ausgestattet, als werde er nach seiner Ankunft sein Leben vor der Emigration unverändert fortsetzen. Deswegen bittet die Mutter die dadı: »Lege seinen Koran bitte über das Kopfteil. Ohne ihn dreimal küssend auf die Stirn zu legen ist mein Osman nie zur Schule gegangen«. Die tesbih, die Osmans Mutter auf seinen Stuhl legt, ist nicht irgendeine, sondern, wie die Mutter verrät, gar die seines verstorbenen Großvaters. Alles
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drei, die funktionale Bestimmung der Haushälterin über ihre vormalige Rolle als Kindermädchen (I), die Annahme eines Fortbestehens einer Gewohnheitspraxis des Emigranten aus seiner Schulzeit und gar die Ermöglichung ihrer Fortführung über die Platzierung des Korans über seinem Bett (II), das Ablegen der tesbih des verstorbenen Großvaters, also derjenigen Person, die Osman generationell doppelt vorhergeht (III), indizieren das Prinzip einer Konservierung: Die tesbih ist als religiöses Gebrauchsding des Großvaters zweifach generationell konserviert, die Ausstattung des Zimmers mit Dingen der Gebetspraxis unternehmen die Emigrantenmutter und dadı unter der Annahme einer Persistenz der Dispositionen des Emigranten (Auffrischung des Zimmers als Herstellung einer Konservierung) und die Bezeichnung der Haushälterin als Kindermädchen konserviert ihre vormalig funktionale Bestimmung trotz eines veränderten Aufgabenspektrums (sie ist mit Osmans Auszug seit fünf Jahren keine Kinderbetreuerin mehr). Damit nicht genug: Das Prinzip der Konservierung setzt sich insbesondere auch in der Szene fort, in der wir Fatma bei ihrem Schwelgen mit dem Tagebuch und dem Photoalbum zusehen. Hier ist besonders die Rose hervorzuheben. Nach der Einstellung, in der Fatma die Rose an ihre Wange schmiegt, wird wieder in die ›Gegenwart‹ geschnitten und eine Detailaufnahme von Fatmas Hand gezeigt, in der sie die getrocknete Rose in ihr Tagebuch legt (Abb. 18.21). Die Trocknung der Rose signifiziert hier die Konservierung des Moments. Sie wird nicht nur zum Symbol der Liebe, sondern zu einem Index für diesen Vergangenheitsmoment – nicht nur als Zeichen, sondern als aktuales, materielles Zeichending. Denn es ist die Rose aus dem Ereignis selbst, das das Gabenereignis auszeichnete: eine Art Realzeichen, in dem Erinnerung, Aktualität, Präsenz, Konservierung, Symbol, Index und mit der Hoffnung und Erwartung auf Rückkehr auch eine Versprechensdimension/Virtualität zusammenfällt. Die symbolische Funktion der Rose hat im Kontext des millî sinemas noch viel weitreichendere Dimensionen, deren offensichtlichste ihr symbolischer Bezug zum Islam ist.200 Den bisher drei genannten Auffälligkeiten im Hinblick auf das Prinzip der Konservierung treten also Photographie (IV), die sich durch das Prinzip der Konservierung selbst auszeichnet (von den Kindheitsphotographien ganz zu schweigen), und die Rose als Zeichending der Konservierung von Osmans Versprechen, Fatma in den fünf Jahren nicht zu vergessen (V), hinzu. Zudem sind Fatmas Tagebuch als Sammelarchiv individueller biographischer Erlebnisse, die Briefe Osmans und seine Postkarte weitere Dinge einer Konservierung, insofern sie in Erinnerungen zu Osman (Tagebuch), seine eigenen Gedanken (Briefe) und Handlungen der Sich-Selbstaufkündigung und -verortung (Postkarte) involviert sind. Generell ist die Komposition der Absenzszene, in der Fatma erinnert, schwelgt, tagträumt und monologisiert, besonders mit jener Szene aus Kara Toprak vergleichbar. Anstelle der Eltern ist es in Oğlum Osman jedoch Fatma, die die rassistisch-okzidentalistische Angst nach einer sexuellen Verführung ihres Versprochenen in ihrem inneren 200 »The Rose and islam: Among Turks and Arabs there is a tradition, as we have noted, that the rose owes its origin to the perspiration of the Prophet. […] It would be no exaggeration to state that the spread of rose-cultivation across the world is one of the legacies of Islam«, Zwemer und Zwemer (1941, S. 364, 367).
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Monolog artikuliert. Was in Davaro und Kara Toprak dann auch ausgespart war, findet in Oğlum Osman eine konkrete Realisierung: Flashbacks als Erinnerungen, die die Zeit des Emigranten vor dessen Auswanderung konkret zeigen. Die Kindheitsphotographien indizieren dabei genau jene Zeit, die Fatma erinnert (die Schaukelszene aus ihrer Schulzeit). Die Komplexität der im Film angelegten Zeitverhältnisse zeigt sich besonders an den Photographien an. Die dazugehörigen Filmeinstellungen bergen nämlich film-photorelationale Zeitindizes. Eine Untersuchung dieser Einstellungen konkretisiert zum einen die bislang in Davaro und Kara Toprak thematisierte zentrale Funktionalisierung der Photographie mit Blick auf die Figuration des Migrationsgefüges in den Absenzsequenzen selbst. Zum anderen zeigt die Analyse der Photographie-Einstellungen die komplexe Gemengelage an, die eben jene schon vorher angesprochene zeit-raumrelevante Relationalität der Migration im konkreten Kontext der frühen deutsch-türkischen Arbeitsmigration auszeichnet. In den Bildern, in denen Fatma zum ersten Mal in der Szene ihr Tagebuch aufschlägt, sehen wir, wie Fatma ihre linke Wange gegen Osmans signierte Photographie in ihrem Tagebuch drückt. Das Verweilen in dieser Pose zwischen stillstehender Fatma und in der Photographie mortifiziertem201 Osman lässt diesen Moment selbst in eine Figuration unterschiedlicher Zeiten münden: Die Gegenwart Fatmas ist mit der in der Photographie enthaltenen ›konservierten‹ Vergangenheit konfrontiert. In diesem Sinne wirkt die Einstellung (Abb. 18.12) als Einschub, die das zeitliche wie soziale Verhältnis von Fatma und Osman anzeigt und hier die Photographie zum Zeichenträger einer vergangenen und als Photographiematerial, das veraltet ist und aus einer vergangenen Zeit stammt, auch konservierten Vergangenheit202 konzipiert. Innerhalb der Bilder, in denen Fatma mit mehreren Schnitten samt Einstellungsgrößenwechsel (Gegenschnitt, Rückschnitt) dabei gezeigt wird, wie sie ihre Wange an das Foto schmiegt (Abb. 18.1012), indiziert das Bild mit eben jener Pose der Berührung der Photographie (Abb. 18.12) einen Bruch in der Emotionalität auf Seiten Fatmas. Der Bruch erzeugt sich aus der Ablösung ihres Lächelns durch eine ernste Mimik. Ein »falscher Anschluss« ergibt sich auch aus dem Achsensprung durch die Aufsichtseinstellung (Abb. 19.1-2). Mit dem bieder wirkenden Gesichtsausdruck Osmans in der Photographie zeigt sich zudem der Anblick auf eine emotionale Reduziertheit der beiden an. Die Blicke von leibhaftiger Fatma und photographischem Osman sind dabei in je verschiedene Richtungen gerichtet. Fatma blickt geradeaus, während Osman in der Photographie leicht schräg nach oben links, also keineswegs sowohl in die Zuschauer_innenrichtung noch in die Richtung der Photokamera zum Zeitpunkt der Photoaufnahme selbst blickt. Fatmas Spiel des In-die-Leereblickens – der Blick ist ja in einen Raum der Vorstellungswelt gerichtet und wäre dann allenfalls in seiner Eigenschaft als konkret objektbezoge201 »Und was photographiert wird, ist […] das spectrum der Photographie […]: die Wiederkehr des Toten«, Barthes (2009, S. 17). Weiter zur Idee des Todes des »spectrums« in der Porträtphotographie Barthes (2009, S. 22f.). Zur Denkfigur der Mortifikation generell siehe darin Seite 88f. und Silverman (1997, S. 43f.). 202 Es birgt das Potential der Erinnerungserzeugung, insofern kann es das »Mich-Gedächtnis« dann aktivieren, wenn es keinen bewussten Anlass für eine Erinnerung gibt. Zur Konzeption des »MichGedächtnisses« siehe Assmann (2006, S. 119-124).
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Abbildung 19.1-2 – Standbilder aus Oğlum Osman (1973)
ner Blick als ›leer‹ zu verstehen – signifiziert mehrmals eine geistige Abwesenheit, ein Verträumtsein (Abb. 18, hier die Bilder 7, 12, 17, 18, 22, 24). Ihr Weggetretensein versetzt ihr Bewusstsein gleichsam in eine andere Ordnung, in der die Sehnsucht nach Osman ihre Vorstellungen besetzt hat. Fatma ist in dieser Hinsicht selbst an einem Ort, in dem das Regime des Gewesenen herrscht, das den Zuschauer_innen als Konkretion jedoch solange verwehrt bleibt, wie die Erinnerungen in den Flashbacks noch nicht filmisch umgesetzt sind. Wichtig erscheint hier besonders, dass Osmans Blick in der Photographie nicht in Richtung der Zuschauer_innen gerichtet ist. Erinnern wir uns an die Porträtphotographie Murats aus Kara Toprak (Abb. 16) zurück, wird deutlich, dass die Zuschauer_innen in seiner Photographie mit seinem frontalen Blicken konfrontiert sind. Der direkte Blick birgt im filmbildlichen Zeigegestus dabei eine potentielle Aufforderung danach, die mögliche Fremdwerdung Murats zu denken – quasi eine aus dem Bildraum heraus strahlende Denkaufforderung zur Reflexion einer möglichen oder auch realisierten Fremdwerdung des Emigranten, die aus der Blickaktivität der Figur zu resultieren vermag, die in der der Photographie enthalten ist. Dabei ist der direkte Blick aus dem Bild in das Zuschauer_innenfeld (die vierte imaginäre Wand beziehungsweise in Burch’scher Terminologie der fünfte offscreen-space203 ) hinein seiner Eigenschaft verfremdender Fiktionsunterbrechung beraubt, denn der Blick Murats erfolgt aus einer Photographie heraus, die damit selbst einer anderen Raumzeitlichkeit, nämlich derjenigen der Photographie, zugehörig ist. Fatma schwelgt in ihren Vorstellungen, die einer anderen Ordnung angehören und der indirekte Blick Osmans in der Photographie gehört selbst noch einer Vergangenheit an, in der Zuschauer_innen unangesprochen von dieser Zeit oder Osman verbleiben. Die Blicke beider Figuren gehören differenten Zeitlichkeiten an. Der je spezifisch wahrzunehmende Bruch der découpage aufgrund des Achsensprungs und der Mimikwechsel in der Einstellung (Abb. 19.1-2) kann dabei kurzzeitig das Blickregime aufschimmern lassen: die Schirmhaftigkeit des filmischen Bildes, in das der Blick eingeschlossen ist204 . In diesem entsetzten Blickmodus auf die Einstellung erzeugt die Einstellung zugleich ein Moment der Pose, des Gestelltseins und darüber ein mögliches 203 Burch (1981, S. 17). 204 Vgl. Elsaesser und Hagener (2011, S. 132f.), Silverman (1997).
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Sehen, das die Produziertheit der Einstellung, die Posierung vor der Kamera als Zurichtung vernehmbar zu machen vermag.205 Die an einer direkten Ansprache vorbeizielende Blickhaftigkeit in Einstellung 22.3 hingegen erzeugt einen imaginären aufsichtigen Kamerablick auf beide, der gerade ihre Zurichtung beider zueinander enthebt. Die Enthebung ergibt sich aus dem falschen Anschluss in Verbindung mit der Abgewandtheit der beiden Blicke: Dies produziert die Vernehmung der Separation der beiden Ordnungen, die radikale, aber zugleich von visueller Spezifität geprägte Trennung im Gefüge der Migration, in dem Medien, Blicke, Imaginäres und Körper figuriert werden. Darauf wird in der Einstellung der Liegepose zurückzukommen sein. Dort wiederholt sich jenes Achsensprung- und Blickprinzip (in die ›Leere‹ blickend). Schließlich lässt Çakmaklı die Photographie, so wie es bei Kara Toprak der Fall war, zu einem Operateur werden, zu dem sich Fatma haptisch-emotional beziehen kann. Generell erscheint die Wange Fatmas nicht nur ein Mal als Ort der Berührung, es zeigt sich gar ein Fetisch der Wangenberührung. In der Erinnerungseinstellung, in der Fatma und Osman kurz vor seiner Abreise miteinander sprechen, schmiegt sie zum Beispiel auch die Rose, die Osman ihr vom Rosenstrauch zupft, an ihre Wange (Abb. 18.22). Wange und Stirn bilden denjenigen Teil im Gesicht, der einen flächigen Hautanteil ausmacht und von den Sinnesorganen im Gesicht (Mund, Nase und Augen) relativ abgegrenzt ist. Als solcher Hautteil fungieren Wange und Stirn als Hautpartien, die in Symbolisierungsprozessen als Orte der Entsexualisierung eingebunden werden können und darüber im interpersonalen haptischen Kontakt (vermeintlich) entsexualisierte Zuneigung kommunizieren erlauben. Beim aus Respektsgründen vorgenommenen Handkuss, den man Älteren gegenüber vornimmt, führt die Hand beispielsweise auf die Stirn. Wangenküsse zwischen Bekannten bestehen im Gruß auch zwischen Männern und Frauen. Der Stirnkuss signifiziert Wertschätzung oder Stolz gegenüber der_m Geküssten (alnından öpmek) und zwischen Partner_innen findet der Stirnkuss im öffentlichen Raum der Türkei einen Ersatz für den Lippenkuss. Die Wange als vermeintlich entsexualisierte Gesichtspartie inhäriert eine Verschiebung der als sexualisiert oder auch sinnlich betrachteten Partie des Mundes, der im Sinne einer Kussfunktion nur jeweils für eine Seite Aktivität zugemessen wird. Es darf nur eine_r küssen. Nur beim überkreuzenden doppelten Wangenkuss, sind beide küssend, doch die Münder treffen sich nicht. Das Prinzip des entsexualisierten Kusses kann so erhalten bleiben. Der Höhepunkt der Berührung im Film zeigt sich in Abbildung 18.17 bis 18.18, als Fatma sich im Bett auf den Rücken legt. Hier berührt ihre linke Hand ihre Brust: Eine Szene, die unter der Annahme der Brust als sexualisierter Bereich, explizit auf Sexualität anspielt. Dieser Liegepose gehen zwei Inserts voraus: Die Kindheitsphotographien, von denen besonders diejenige Fatmas überbelichtet gefilmt wurde, zeigen Osman und Fatma jeweils zunächst getrennt und dann gemeinsam. Das photographische Anzeigen der gemeinsamen Kindheit wird mit Fatmas Geste, sich auf den Rücken zu lehnen, dann allerdings mit einer konkreten Erinnerungssequenz ergänzt. Die Einstellung, in der auf die auf dem Rücken liegende Fatma gezoomt und dann mit der zunehmenden Unschärfe in die Erinnerungsszene überführt wird (Abb. 18.17-18), offenbart auch hier einen Anschlussfehler. Es ist Fatmas linke Hand, statt ihrer rechten, die ihre Brust 205 Silverman (1997).
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berührt. Zudem resultiert, so wie in der Photoeinstellung mit Fatmas Wange an Osmans Photographie auch, ein Anschlussfehler aus Fatmas Mimik: Aus ihrer Freude vom Blick in das Photoalbum hat sich ihr Ausdruck der Freude in Apathie verkehrt. Der Anschlussfehler produziert wie in der Anschlussfehlereinstellung zuvor auch eine Künstlichkeit in der Pose Fatmas, die die Einstellung aus ihrem Zusammenhang entkoppelt. Ihr regungsloses Liegen wie ihr regungsloses Anschmiegen an die Photographie zuvor werden zu einer extrahierten, stillgestellten Pose. Außerdem ist auch hier ihr Blick in die ›Leere‹ gerichtet und während des Zooms ist Fatma zudem regungslos. Der Zoom selbst realisiert mit seinem Herannahen an ihr Gesicht eine Bewegung, die gleichsam eine Kopplung aufgreift: diejenige, nach welcher Erinnerungen und Geistiges im Kopf enthalten seien. Die Unschärfe, die mit ihrer Weichzeichnung der Konturen der Bildobjekte gleichsam die Grenzen der Objekte auflöst und damit die Objekte in ein Ineinanderlaufen überführt, konstruiert mit dieser ästhetischen Strategie auch die Vorstellung vom Verlust der Konkretheit der sinnhaften Objektwelt als eine Transformationsgeste: vom konkreten Hier der Anwesenheit ins Dort der Vorstellungs- und Erinnerungswelt – Migration ist ein permanenter Wechsel von Innen- und Außenräumen, scheinbarer Wechsel cartesianischer Dimensionen zwischen Seele und Leib. Der Zeichengehalt dieser Transformation bleibt mit dem harten Schnitt im Vordergrund, da der Übergang vom verschwimmenden Bildgehalt zur konkreten Erinnerung, die sich (nicht)206 durch ein visuelles Verfahren der ästhetischen Abgesetztheit als Szene gezeigt wird, unvermittelt einsetzt. Das hier zum Einsatz kommende Verfahren der Unschärfenerzeugung findet seine filmische Steigerung eigentlich noch in der Zuspitzung dahingehend, dass das Bildfeld sich schließlich in jeglichen Konturen hin zu farblich-unscharfen Feldern auflöst. Während die Photo-Pose statisch war, zeigt sich in der Liegepose eine Bewegung. Die Kamera scheint ihr Nichts-Tun, ihre Stillgestelltheit zu nutzen, um in ihren Kopf per Zoom einzudringen. Diese Geste des Eindringens in den Kopf hat zugleich etwas Gewaltsames: Die Operation der Hervorholung der Erinnerungen, die Fatmas Existenzmodus steuern (ihre geistige Abwesenheit, ihr Begehren nach der Sichtung der vergangenen Photographien), nimmt durch den Zoom zugleich einen nahezu penetrierenden Zug an. Das Prinzip der Konservierung gewinnt mit dieser Geste der Kamera einen gewalthaften Charakter, da die Geste die Erinnerung aus dem Kopf der Figur hervorzuholen scheint. Ihr stillgestelltes Liegen als Pose gerade aufgrund des Achsensprungs lässt sie zum regungslosen Objekt eines mobilen Blicks werden (Zoom), der in ihre Erinnerungen penetriert. Die Migrationsgeste zwischen den Sphären von Außenund Innenwelt wird zu einem gewaltsamen Eindringungsakt. Die Enthebung der Einstellung – dadurch wird auch an die Analyse der Einstellung mit der Wangenpose wieder angeschlossen – legt Gewichtungen innerhalb der gesamten Szene an. Sie produziert eine Modalität der Sequenz, in der das Regieren des ›Jetzt‹ durch ein ›Zuvor‹ (Vergangenheit) in den Vordergrund rückt. Diese Modalität lässt die Abhängigkeit der Welt der Hinterlassenen durch den Migrierenden, die Konstelliertheit 206 Meine VHS-Kopie zeigt die Erinnerungen in Farbe, während in der restaurierten Youtube-Fassung die Erinnerungen entsättigt sind. Dies wiederum ruft die je spezifischen Bedingungen der Untersuchung filmischen Materials auf, die sich durch die Künstlichkeit und die schier instabile Spezifität des Untersuchungssettings und -gefüges (»Experimentalsystem«) auszeichnet (siehe Kapitel 1).
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des sozialen Gefüges vernehmen, nämlich bezüglich der gewichtigen Rolle der Welt vor der Migration und ihres unablässigen Bezugs ob der Abwesenheit des Migrierten. Auch wenn der faux accord hier noch nicht über jene Qualitäten verfügt, die Deleuze zu seiner teleologischen Zweiteilung von Bewegungs-Bild und Zeit-Bild verführt: Entweder das folgende Bild denunziert das vergangene Bild als falsches, oder das vergangene Bild erklärt das folgende zu etwas Unmöglichem. Tatsächlich aber existieren ja beide Bilder genau in dieser Reihenfolge mit ihrem jeweiligen Bildinhalt. Sie sind offensichtlich beide möglich und nicht etwa unmöglich. Über ihre ›Wahrheit‹ oder ›Falschheit‹ kann keine Entscheidung gefällt werden, ohne daß eine Hierarchie etabliert und eine willkürliche Entscheidung zwischen beiden Bildern über ihren Wahrheitsgehalt getroffen werden müßte. […] Die Falschheit der Bewegung als einzige richtige Ableitung einer nicht aus der Bewegung abgeleiteten Zeit gewinnt damit auch formal und stilistisch kinematographisch Gestalt durch eine Neubestimmung der Montage, die aus einem Schnitt nicht mehr den ›logischen‹ Anschluß, sondern mögliche Bewegungen folgen läßt. Gemeint sind hiermit die sogenannten falschen Anschlüsse (faux accords), dergestalt, daß der Schnitt nicht die logische Fortführung einer Bewegung oder einer Situation zeigt, zum Beispiel durch die Auswahl eines prägnanten Bewegungsmusters, sondern nun Bewegungen oder Situationen zu sehen sind, die zeitlich vorgängig oder nachträglich sein können, also der Bewegung zu einem früheren oder weit späteren Moment entsprungen sind und sich nicht aus der Logik, der Richtung und dem Sinn des vorangegangenen Bildes ableiten. […] Der falsche Anschluß leistet die technische Realisierung des beschriebenen Paradoxes auf der Ebene des Narrativs. (Es reicht bereits, Delphine Seyrig ein anderes Kleid in derselben Szene anzuziehen, um einen falschen Anschluß zu produzieren.)207 In beiden Einstellungen ist ein zweifacher falscher Anschluss enthalten (auf technischer [Achsensprung] und narrativer [Mimikfehler] Ebene). Während Deleuze die falschen Anschlüsse als »in die Ensembles und ihre Teile getriebener Keil«208 betrachtet209 , scheint mit dem Begriff der ›Enthebung‹ ein auch zunächst vom Zeitlichen noch ungedachter Prozess nahe der Entkapselung zu bezeichnen zu sein. Der Begriff der Enthebung beschreibt die Relation der »falschen« Einstellung im »Fluss« der découpage als einen Vorgang der Hervorhebung, der die Eigensinnigkeit und die Gehalthaftigkeit des 207 Schaub (2003, S. 175f.). 208 Deleuze (2005, S. 48). 209 Radikaler formuliert Ingo Zechner das Falsche als Deleuzes Kinotheorie: »Die Kinematographie ist als solche ein Effekt der Macht des Falschen. Und es ist nicht zuletzt das, was Deleuze am Kino so anzieht: Die Bilder des Kinos zwingen dazu, ein anderes Bild des Denkens zu entwickeln«, Zechner (2003, S. 44). Zechner geht so weit, die Differenz von Aktions- und Zeit-Bild als unablässig chronologisches Verhältnis zu beschreiben, in dem er das Erstgenannte als Suspendierung durch das Letztgenannte beschreibt: »Die Zeitfolgen sind nicht länger Zeitfolgen eines kontinuierlichen Bewegungsverlaufs: Deshalb spricht Deleuze von einem Bewegungs-Bild, das durch ein Zeit-Bild sukzessive ersetzt wird. Diese Krise des Aktions-Bildes ist zugleich eine Krise der Wahrnehmung, und das heißt: Wie stets in der Geschichte des Denkens stürzt das Problem der Zeit den Begriff der Wahrheit in eine Krise; die Unterscheidung von wahr und falsch verliert die Bedingungen, unter denen sie getroffen werden kann«, Zechner (2003, S. 45)
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Bildinhalts (die Pose, Blicke, Anordnung der Bildelemente) verstärkt. Die falsche Einstellung fällt als Einstellung auf, ohne ausschließlich in »Keile« oder »Dimensionen des Offenen«210 zu führen. In der Einstellung wirkt der Sinn der vorgängigen Bilder als Entlehnungsressource fort: Es ist ja nicht so, dass keine Relationen mehr vorhanden sind (es ist immer noch Fatma im Bild; sie hält die Photographie in der Hand et cetera). Der falsche Anschluss wahrt eine Bezüglichkeit zu den anderen Einstellungen, die zwar immer noch das »folgende und vorhergehende Bild denunziert«, ohne aber zugleich vollständig zu suspendieren (die sensomotorischen Bezüge des »Bewegungs-Bilds« bleiben erhalten). Das ist das, was mit der Produktion einer solchen Modalität der Sequenz gemeint ist, in der das Regieren des ›Jetzt‹ durch ein ›Zuvor‹ in den Vordergrund rückt. Die Modalität der Szene selbst ist ein komplexes Miteinander der Zeitbezüge, in dem Fatmas Existenz gesteuert ist durch die unablässige Hinwendung zum Vergangenen. Ihre durchgängige mentale ›Abwesenheit‹, die sie in gänzlich anderen Räume der Imagination versetzt, ist in den beiden ›falschen‹ Anschlusseinstellungen auf der Ebene des Filmischen reproduziert. Ihre sowohl taktilen (Wangenpose) wie erinnernden (Liegepose) Kontakte mit der Vergangenheit finden in den beiden enthobenen Einstellungen ein verdichtetes Bild: Nicht nur ist Fatmas Körper in ihrem Verhältnis zu dieser Vergangenheit zugerichtet (zur Pose geworden), sondern auch stillgestellt (sie bewegt sich als Pose nicht). Dieser Stillstand tritt umso deutlicher hervor, als die Einstellungen, die ihnen vorhergehen, sie selbst noch in körperlicher Bewegung zeigen (Herandrücken des Photoalbums und Umdrehen zum Hinlegen). Dadurch entsteht auch ein falscher Anschluss auf der Ebene bereits erwähnter Gestikulation. Die Stillstellung der Figur der Fatma im Bewegtbild des Films und in der Bewegung des Zooms in jener Einstellung der Liegepose wird mit der enthebenden Rahmung durch den falschen Anschluss also in eine komplexe Konfiguration überführt. Diese Konfiguration, in der der Körper der Figur und der Körper des zoomenden Blicks der Filmkamera (Verkörperung) aufeinandertreffen und in der sich die Blickverhältnisse von Kamera, Figur und Zuschauer_innen überkreuzen, verkünden vom schwierigen visuellen Verhältnis, das aus dem komplexen medialen Gefüge resultiert, das Migration produziert.
6.5.5.
Von der Abwesenheit zur Anwesenheit – Überleitung
Während die Erinnerungssequenz aus medienkulturtheoretischer Hinsicht für eine Diskussion von Migration analytisch besonders spannend ist, zeigt sich in der Einstiegssequenz besonders die ideologische Dimension des Films an, die nicht von Migration getrennt zu betrachten ist. Die Einstiegssequenz in Oğlum Osman legt nämlich eine Chronologie der Szenen und möglicher zukünftiger Praktiken der in Zukunft wieder bewohnenden Figur an, nämlich in den darin gezeigten Handlungsräumen, um sie fast in selber Chronologie durch den Emigranten durchlaufen zu lassen – mit dem Zweck darüber die Fremdwerdung des Emigranten sichtbar machen zu können. Der filmische Durchgang, der aus den jeweiligen Einstellungen und Szenen besteht, 210 Deleuze (2005, S. 48).
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ist damit einem über die Zeitlichkeit bestimmten Modus zuzuschreiben, der die ideologische Durchsetztheit des Films fast wörtlich realisiert: in Anlehnung an Deleuzes Bildtaxinomie könnte man von einem Preservationsbild sprechen. Denn die inhaltlichfilmische Konstruktion entfaltet die Szenen, Handlungsräume, die Erinnerungen und Erwartungen an den absenten Emigranten so, dass die Konservierung oder eher noch eben jene Erhaltung (Preservation) als durchgehende Prämisse sichtbar wird, worin auch die Analogisierung der Chronologie von Absenzszenen und Anwesenheitsszenen des Emigranten, wie zu zeigen sein wird, beteiligt ist. Die Handlungsräume werden auf die Aktualität/Zukunft der Heimkehr des Emigranten durchschritten, und zwar so, dass sie als Vergangenes konserviert und ein Begehren nach einer Preservation offensichtlich wird. Rekapituliert man die Reihenfolge der in der Eingangssequenz gezeigten Settings, so lässt sie sich folgendermaßen festhalten: Baumkrone, Hausfassade, Haustür, Esstisch, Osmans Zimmer, Fatmas Heim, Fatmas Küche, Fatmas Zimmer. Nach der Ankunft Osmans realisiert sich dessen Ankunft in nahezu selbiger Reihenfolge. Seine Ankunft erfolgt anhand eines Schnitts von der Einstellung Abb. 18.25, in der Fatma auf dem Bett sitzt, auf die darauffolgende Szene. Während also zuvor noch Fatma innermonologisierend in ihrem Zimmer gezeigt wurde, setzt aus dem Off ein schriller Ton ein, der nicht zu jenen Bildern von Fatmas Zimmer zu gehören oder sonst irgendwie diegetisch verbürgt zu sein scheint. Erst der Schnitt auf den Flughafen lässt die hohen Off-Töne diegetisch zu den Flugzeugturbinen rückführen, die im Hintergrund der Szenerie zu sehen sind. Mit dem gespenstischen Geräusch der Flugmaschinen vom Flughafen in Verbindung mit dem Blaustich der Aufnahmen211 , in dem die Flughafeneinstellungen gefilmt sind212 , wirkt dieser Übergang der Szene zwischen Fatmas Zimmer und Osmans Ankunft eigenartig unheimlich. Mit dem Eintritt Osmans wird der Settingwechsel (Migration) von Fatmas Schlafzimmer zur Flughafenszenerie auf tonaler Ebene durch den kaum einzuordnen Turbinensound gespenstisch belehnt, der aus dissonanten unglaublich hohen Streicherklänge besteht. Der Übergang der Szenen erfolgt also auf eine solche Weise, dass das binäre Modell einer Medialität von An- und Abwesenheit, die ja Migration zu kennzeichnen scheint und die Wesensverwandtschaft zur Medialität des Filmischen ausmacht, nicht einfach nur durch einen harten Schnitt hinfällig wird. Die akusmatische Tonalität der Flugzeugturbinenklänge, die sich als Off über die Einstellung zuvor legte, verleiht dem Einstellungswechsel etwas Gespenstisches. Das Gespenstische ist eine Medialitätsform, die sich nicht durch manifeste materielle Qualitäten von Sein und Nicht-Sein fassen lässt. Dieser gespenstische Eindruck stellt sich ein durch die Entkoppelung von Sinnesqualitäten, wie jenem ambiguen Sound, und gibt sich durch das Vordrängen der somatischen Erfahrung in der Filmwahrnehmung, die der kreischende Sound der Turbinen mit sich bringt.213 Da Zuschauer_innen noch nicht wissen können, dass auf die Einstellung von Fatmas Zimmer die Ankunft Osmans folgt, drängt sich in jenen Momenten, in denen der schrille Ton einsetzt, die sinnliche und affektive 211 Zur Andersfarbigkeit bestimmter Einstellungen in Yeşilçam-Filmen siehe Kapitel 6, Fußnote 122. 212 So ist es zumindest in der VHS-Version des Films. 213 Vgl. Morsch (2011).
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Qualität der Filmwahrnehmung vor, die sich umso intensiver in eine somatische Erfahrung übersetzt. Denn der Ton bleibt kognitiv kaum integrierbar (nicht sofort) und so stellen sich die intensiven affizierenden Qualitäten in den Vordergrund: Der Möglichkeit zur affektiv-intensiven Filmwahrnehmung jenes Einstellungswechsels kommt nicht nur die Schrillheit des Sounds zugute und nicht nur die Lautstärke des Tons. Gerade die Diskrepanz, die aus der harmonisch-sanften türkischen Kunstmusik entsteht, die vor den Turbinengeräuschen noch in einer niedrigen Lautstärke zu hören war, hebt die Schrillheit des Flugzeuglärms hervor. Der biomorphe Charakter, der durch die Nähe des Tons an stimmliches Geschrei entsteht, evoziert eine kaum identifizierbare, aber an einen organischen Stimmkörper referierende Assoziation. Das »kinästhetische Subjekt« erfasst das Stimmliche der schrillen Streicherklänge, bevor die Erfahrung jener Sounds selbst kognitiv integriert wird. In dieser Spaltung von Bild und Ton, zwischen dem heimischen Ort des Erinnerns von Fatma und dem dissonanten Geschrei aus dem Irgendwo, eröffnet sich die Einsicht nach der losen Verteilung von Sinnes- und Affektqualitäten über raumzeitliche Gefüge214 hinweg, die man als Sinnbild für das mediale Gefüge jeglicher Migration, der Verteilung von allem und nichts im Raum, nehmen kann. Doch das, was für das Konzept eines Preservationsbild wichtig ist, liegt weniger in den affektiven Qualitäten als in den filmischen Konstruktionen der Architekturräume begründet, die hier am weiteren Verlauf der Absenzsequenz (Abb. 18.25-32) deutlich werden (→): Die Rückkehrsequenz beginnt mit einer Einstellung, in der Osman winkend das Flughafengelände durch einen Ausgang im Freien verlässt und auf die Kamera zuläuft (Abb. 18.25). Die nächste Einstellung ist ein leichter Schwenk mit Zoom-Out vom Vater auf eine Normale, in der Osman seinem Vater die Hand küsst und sie sich schließlich umarmen (Abb. 18.26). Von dort aus wird auf Fatmas Zimmer geschnitten, in der sie auf dem Bett liegend mit über dem Kopf überkreuzten Armen zu sehen ist (Abb. 18.27). Aus dem Off hören wir ein doppeltes Hupen. Mit dem Hupen ereignet sich filmisch zweierlei: Mit einem sehr schnellen Zoom auf die sich aufrichtende Fatma, setzt zugleich das türkische Kunstlied ein (Abb. 18.28). Fatma geht zum Balkon, auf dem ein Rosenstrauch auf dem Geländer enthalten ist. Fatma wird von diesem und der Hausfassadenwand gerahmt, die Kamera zeigt sie uns aus Untersicht in normaler Einstellungsgröße (Abb. 18.29). Aus einer extremen Aufsicht, die die Blickposition Fatmas einzunehmen scheint, zeigt uns das Filmbild die Ankunft Osmans im Auto. Osman küsst seiner Mutter die Hand, das Kindermädchen tritt ebenfalls hinzu (Abb. 18.30): Gegenschnitt erneut auf den Balkon, mit Zoom-In auf Fatma, dann erneuter Schnitt auf die Ankunftsszenerie, in der Osman nun seinem Kindermädchen die Hand küsst, mit erneutem Gegenschnitt auf Fatma und dann wieder auf die Ankunftsszenerie. Schnitt und Gegenschnitt ereignen sich so drei Mal, wobei beim letzten Gegenschnitt auf Fatma gerichtet, diese glücklich und weiterhin auf die Ankunftsszenerie blickend gezeigt wird – mit einer letzten Geste, mit der sie die Rose am Rosenstrauch berührt (Abb. 18.31). Im Anschluss sitzen Eltern und Osman gemeinsam zusammen auf dem Sofa. 214 Kompression, Transgression und Extension sind dabei einige der phänomenalen Änderungsvorgänge von Raumzeitlichkeit.
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
Schon die erste Einstellung verifiziert die bereits eingangs des Kapitels geäußerte These, dass mit der Ankunft des Emigranten, die Chronologie der am Filmanfang gezeigten Räume beibehalten wird: Der Film setzte zu Beginn mit einem Schwenk aus der Baumkrone auf die Hausfassade ein (Abb. 20). Die erste Szene bei Osmans Ankunft am Haus setzt mit einer Aufsicht aus eben jener Baumkrone ein, konkret vom Balkon Fatmas aus und ist daher als inverse Blickrichtung zu verstehen, die die Eingangseinstellung des Baums quasi verkehrt. Der point of view Fatmas indiziert gar die Blätter des Baums (Abb. 18.30). Diese Dopplung von Baumkrone und Blick aus dem Balkon, der noch den Baum antizipiert, weil noch in leichter Unschärfe Äste eines Baums ins Bild ragen, bleibt nicht nur auf jene Parallelität der Blickrichtungen beschränkt. Die weitere Verfolgung der Chronologie filmisch erwählter Räume und ihre Umbesetzung nach Osmans Ankunft offenbart eine filmkonstruktive Strategie, innerhalb der genau jene Analogisierung der filmisch durchlaufenen Räume vom Ankunftsort zwischen der Zeit von Osmans Abwesenheit und seiner Ankunft sich noch fortsetzt.
Abbildung 20 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
Die nächste Einstellung zeigt uns noch das gemeinsame Zusammensitzen von Eltern mit Osman (→). Die türkische Kunstmusik, die die Liebessehnsucht im Text artikuliert, klingt aus. Osman sitzt in der Mitte zwischen beiden Eltern, mit der Antizipation einer Bravheit, die sich aus dem Ineinanderlegen der Hände zwischen die Knie erzeugt: Osman wirkt kindisch-verschüchtert (Abb. 18.32). Das Gespräch der Dreien dreht sich um die Erfreulichkeit des Ereignisses von Osmans Rückkehr. Auch geht es darum, dass Osman mit den Gebeten seiner Eltern die Universität hat beenden können. Der Vater betont dabei, dass zu den Gebeten auch die Arbeit dazugehört, denn die Arbeit sei der größte ibadet (›Dienst an Gott‹) an Allah (c.c). Nach zwei Halbnahen, die zuerst den Vater, im Anschnitt Mutter und in Gänze Osman und danach den dazugehörigen Gegenschuss auf Seiten der Mutter zeigen, setzt sich die Szene fort: Osmans Vater verkündet, dass er schon seit seinem zehnten Lebensjahr arbeite und Osman nun die Geschäfte übernehmen solle, damit der Vater sich zur Ruhe setzen könne. Mit dem in Europa erworbenen Wissen und der Technik, könne endlich auch die Produktion gesteigert und sogar end-
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lich mit dem Export begonnen werden. Im Gegenschuss entgegnet die Mutter dem Vater, dass er Osman nicht sofort in Arbeit verstricken sollte und sie sich erstmal an seinen Erfolgen erfreuen sollten. Mit der Antwort Osmans wird klar, dass er die Worte seiner Mutter als eine Anspielung auf eine Verheiratung versteht: Gemäß einer europäischen Lebensweise bestünde seiner Ansicht nach keine Eile für die Ehe. Diese Antwort wird uns erneut in einer Halbtotalen gezeigt, die alle drei auf dem Sofa sitzend zeigt, die Kamera ist jedoch im Vergleich zur Einstellung leicht versetzt, was sich an der Position der Rosen anzeigt. Es ist also nicht dieselbe Einstellung. Der Vater reagiert auf Osmans Worte mit einem Einspruch, indem er sagt, dass Europäität in der Wissenschaft und Technik wünschenswert sei, er aber nicht verstünde, warum das unbedingt auch mit der Verpflichtung einer solchen Lebensweise einhergehen müsse. Die eigenen Bräuche und Traditionen (örf ve adetler) dürfe man nicht vergessen. Das Gespräch wird durch die Verkündung des Kindermädchens unterbrochen, dass das Essen bereit sei. Die Kamera zoomt heraus bis der gedeckte Esstisch und das Kindermädchen mit dem Rücken zu uns stehend sichtbar werden. Osman und seine Eltern nehmen am Tisch Platz (Mutter links, Vater rechts und Osman in der Mitte des Tisches). Damit ist die Szene an jenem Ort wieder angekommen, an dem die Eltern die Nachricht über Osmans Ankunft als Telegramm durch das Kindermädchen erreicht hatte. Baumkrone, Hauseingang, Esszimmer sind also bislang durchlaufen worden, diejenigen Orte also, die auch in der Einstiegssequenz für die Erzählung erwählt waren. Eine Halbnahe zeigt den Vater nun beim Essen. Er spricht die Worte bismillahirrahmanirrahim (kurz auch: bismillah; ›Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen‹), eine Anrufungsformel, die jede Koransure (bis auf die erste Sure Fatiha) einleitet und das Gedenken an Allah in Alltagshandlungen, wie hier beim Essen, performiert. Auch aus dem Off hören wir, wie die Mutter die besmele spricht. Osman jedoch fängt an die Suppe zu löffeln, ohne die besmele zu sprechen. Musikalisch untermalt ein Basssolo, der in ein kurzes Trompetensolo mündet, den verwunderten und enttäuschten Gesichtsausdruck der Eltern. Die Szene wechselt zwischen halbnahen Einstellungen von Osman und seinen Eltern her. Die mit einem Hall-Effekt versehene innere Stimme Osmans Vater spricht als voice over: »Er hat ohne die besmele zu essen begonnen. Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist (hayırdır inşallah).« Die fehlende Performierung der besmele führt zur Verwunderung, die in der Sitzordnung durch eine Rahmung geschlechterspezifisch reproduziert wird: Während an der linken Esstischseite die Mutter, auf der rechten der Vater sitzt, ist Osman in der Mitte von den beiden besorgten Blicken der Eltern gerahmt. Die Halbprofilaufnahmen der Eltern und die Frontalaufnahme von Osman beim Essen zentralisieren das Blickgeschehen so, dass Osman den verwunderten Blicken seiner Eltern ausgesetzt ist. Das Esszimmer, das in der Einstiegssequenz noch Ort der fröhlichen Nachricht über Osmans Rückkehr war, hat sich in einen Ort transformiert, der die Fremdwerdung des Emigranten indiziert: Wer ohne die besmele zu essen beginnt, kommt der muslimischen Handlung nach dem Andenken an Allah aus Dankbarkeit für die Speisen und die Gaben im Sinne eines Tischgebets nicht nach. Die Umbesetzung der zu Beginn des Films gezeigten Räume führt sich fort: Schnitt auf Osmans Zimmer. In einer Halbnahen sehen wir Osman und Mutter sitzend auf Osmans Bett. Die Mutter spricht davon, dass Fatma sehr schön geworden sei und dass sie gemeinsam am nächsten Tag dort hingehen würden. Osman ist der Meinung, dass
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
dafür keine Eile geboten sei. Die Mutter widerspricht ihm und betont, dass Fatma fünf Jahre auf seine Rückkehr sehnsüchtig gewartet habe und dass es schon allein aus Höflichkeit geboten sei, den Besuch am nächsten Tag anzutreten, zumal Fatma und er ja schon fast als verlobt zählten. Nach Osmans Zustimmung setzt ein Zoom-Out ein, die Mutter richtet sich auf, um das Zimmer zu verlassen. An dem Stuhl, an dem das Kindermädchen auf die seccade noch den tesbih gelegt hatte, greift die Mutter die takke und betont, dass jene für sein Gebet notwendigen Dinge eben dort seien. Dann zeigt sie ihm die kıble (die Gebetsrichtung; die Kaaba in Mekka) und verlässt das Zimmer. Osman schüttelt verständnislos den Kopf, legt sich ins Bett und liest in einem Taschenbuch. Ebenso wie in der analysierten Absenzsequenz wird auch nach Osmans Ankunft das Jugendzimmer zum dritten Setting der Szenerie (nach Hauseingang, Esszimmer), an dem sich die Fremdwerdung Osmans in der Präsenzszene ankündigt: Die Parallelität der filmräumlichen Erwählung setzt sich fort. Als vierter durchlaufener Ort finden wir das Heim von Fatmas Familie wieder. Da Männer und Frauen getrennt sitzen, zeigt die Szene noch das Wohnzimmer, in dem Osman, sein Vater und sein potentieller Schwiegervater zusammensitzen. In der Abwesenheitssequenz war es das Wohnzimmer der Frauen. Fatma, die den Männern (Osman, seinem und dem ihrigen Vater) schließlich den Kaffee serviert, blickt mit erfreutem Gesicht Osman an. Wir sehen sie aus einer leichten Untersicht, die Osmans Blick einnimmt. Doch dieser, ob der Aussprache eines Danks für den Kaffee, würdigt sie keines direkten Blicks. Weinend rennt Fatma in ihr Zimmer. Den Kaffee für die Frauen muss die Hausdame selbst servieren. Auf die indirekte Frage von Osmans Mutter, ob Fatma nicht anwesend sei, antwortet die Haushälterin, dass es »der kleinen Dame nicht gut« ginge. Fatmas und Osmans Mutter begeben sich zu ihr, um nach ihr zu schauen. Fatma berichtet weinend von dem für sie grausamen Erlebnis, dass Osman sie nicht einmal eines Blicks gewürdigt habe. Die vier Räume, Hauseingang, Esszimmer, Osmans Zimmer, Fatmas Heim (Wohnzimmer und Fatmas Zimmer), wurden in derselben Chronologie, nur diesmal mit Osman durchlaufen. Die Okkupation dieser Räume durch Osman entspricht einem Versuch der Sichtbarmachung seiner Fremdgewordenheit, indem er nämlich in den Räumen bei spezifischen Handlungsweisen gezeigt wird, die eine Andersheit im Hinblick auf das Gewohnte, Vorhergewesene oder muslimische Alltagspraktiken indizieren. Noch deutlicher wird das in der darauffolgenden Szene, als Osman am Abend nach dem Besuch bei Fatmas Eltern in seinem Zimmer Krawatte und Armbanduhr in Anwesenheit seiner Mutter auszieht. Die Mutter, die sich enttäuscht darüber äußert, dass Osman Fatma nicht einmal ins Gesicht geblickt habe, entgegnet Osman mit Argumenten, die seine Beziehung zu Fatma als belanglose Jugendliebe bewerten. Da Ehe eine ernste Gelegenheit sei, wolle er seine Zukünftige in einem freien Umfeld kennenlernen. Die Mutter befragt ihn dann rhetorisch, ob er vorhabe, ihr eine von diesen Frauen ins Heim zu bringen, die in der Öffentlichkeit halbnackt frei herumliefen. Ein (vermutlich ungewollter) Jump-Cut, der wie ein Anschlussfehler wirkt, da das Gespräch eigentlich noch nicht beendet war, zeigt in einer Halbnahen den Stuhl in Osmans Zimmer, auf dem seine Gebetsutensilien abgelegt waren. Mit aufgerissener, Schockiertheit vermittelnder Miene hebt die Mutter die Zeitung vom Stuhl, die Osman auf seccade und tesbih gelegt haben muss, und stellt fest, dass Osman seine seccade gar nicht benutzt habe. Daraufhin erklärt Osman ihr mit um die Schulter gelegten Arm,
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dass der Glaube im Menschen selbst zu liegen habe, dass die Reinheit des Herzens wichtig und dass die Form des Glaubens nebensächlich sei. Mit enttäuschtem Ausdruck sagt Osmans Mutter, ihren Blick von ihm wegrichtend, dass das »immer die Ausrede ›derjenigen‹ sei«. Im weiteren Fortgang zeigt Osmans Vater ihm seine Fabrik, stellt dem Rückkehrer die Sekretärin vor, der dieser heimlich ein flirtendes Zwinkern zuwirft. In den folgenden zehn Minuten zeigt der Film weitere Szenen und Einblicke in den Lebensstil Osmans, der von Lastern geprägt ist: Wir sehen ihn beim Baden am Meer mit der Sekretärin, ihn auf einer Party tanzend, rauchend, Alkohol trinkend, Poker spielend und betrunken heimkehrend. Der Vater erkrankt und es folgen die bereits geschilderten Szenen, in denen Osman seine Wandlung zum muslimischen frommen jungen Mann durchlebt, samt der liebevollen Versöhnung mit Fatma. Die in der Abwesenheitssequenz angelegten Räume werden umbesetzt. Das Esszimmer, das noch Raum der Hoffnung und guter Nachricht war, wird zum Raum der Skepsis, als Osman die besmele nicht spricht. Osmans Zimmer als Raum der Religiosität wird zum Raum ablenkender Populärkultur (Roman), indem er kopfschüttelnd im Bett liest. Das Heim der künftigen Schwiegerfamilie, in der Fatmas Sehnsucht sich anzeigte, wird zum Raum einer Enttäuschung, als er sie nicht einmal eines Blickes würdigt. Die Handlungsräume behalten ihre Beschaffenheit, ihre auch ästhetische Vorkonstruktion in der Absenzsequenz erst eröffnet jedoch die Einsichtnahme in die Veränderung des Emigranten. Die synchrone Reihenfolge der erwählten Räume vor und nach der Ankunft Osmans affirmieren diesen Charakter der Umbesetzung, indem sie die vorherigen Assoziationen, Wahrnehmungen und Eindrücke der Räume mit eben jenen Handlungen, die den Erwartungen derjenigen, die die Vorbesetzung des Raums artikulieren oder vornehmen, widersprechen. Die Raumbesetzung in der Anwesenheit des Emigranten entsteht so im Kontext einer Logik der Preservation: also der Erhaltung charakterlicher Dispositionen, die in den Lebenszusammenhängen sich als solche erzeugen. Aus dem Film und seinen Orchestrierungen (Raum, Figur, Dinge, Wahrnehmungen, Blicke) resultierte selbst eine Wirklichkeit als Modalität, die in ihrer Bestimmtheit zu fassen versucht wurde: Blickordnung von Kamera (Filmblicktheorie, Psychoanalyse), Blickordnungen der Zuschauer_innen (Dispositiv), Diskurse (Sprache, Bilder, Zeichen), Affekte, intermediäre-mediale Eigenlogik (Spiegelrepräsentanzen), symbolische Ordnung (Eltern, Dörfisch-anatolische Kultur) emergieren zu einer spezifischen Modalität, die als solche selbst als Produkt einer theoretischen Auseinandersetzung entsteht. Das bedeutet keine reziproke Erschöpfung zwischen Material des Films und dem Erkennen anzunehmen, sondern an dem Material selbst Abschürfungen vorzunehmen, die die eine oder andere Seite seines Materials deutlicher hervortreten lässt. Die Modalität von Oğlum Osmans Einstiegssequenz ist weniger bestimmt durch Instanzenproduktion (die Sozialität des Dorfs in Davaro) oder durch Fokussierung auf Diskurse und einer spezifischen Modalität (Theatralität in der Abwesenheitssequenz in Kara Toprak), sondern ist vielmehr ein Bündel aus ideologisch-ästhetischem Durchgang, dem die Logik von Preservation unterliegt, jenen Vorgängen der Erhaltung, die für einen Konservatismus, im Sinne einer Ideologie des millî sinema, konstitutiv sind.
6 Figuration I: Abwesenheit und die Home Group
Wir werden nun für einige Zeit diese ideologischen Programme beiseitelegen, um am Ende der Arbeit noch einmal zentral zu ihnen zurückzukehren, nämlich dann, wenn Migration in den Anwesenheitsfigurationen umso zentraler eine Rolle spielen wird.
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7. Figuration II: Anreise
Die Heimkehr des Emigranten ermöglicht zugleich dessen Anwesenheit in den vormaligen Lebenszusammenhängen im Dorf und stellt sich dabei oft als Eintritt in die dörflich-räumlichen Zusammenhänge dar. Dabei ist die Ankunft innerhalb der Bewegungsform des Heimkehrens ein Ereignissegment, das in den Filmen mal mehr, mal weniger explizit sichtbar gemacht wird. Schon in Davaro und Kara Toprak hatte sich die Ankunft als Ausnahmezustand für die Heimischen dargestellt, sodass die Ankunft eines wohlhabenden oder fremd gewordenen Typs erwartet und als ein, die Normalität des Dorfes aussetzendes, feierliches Ereignis verhandelt wurde. Das Bild von einer dem Emigrantenauto hinterherrennenden Kindermenge zeigt sich dabei als eine besonders häufig auftauchende Inszenierungsweise jener Ankunft an, die die Faszination nach dem technischen Gefährt, die Besonderheit der Ankunft indiziert und markiert, insofern die Autos Gefährte der Phantasie, der Hoffnung und der Träume sind. Die Blickkonstellation zeigt sich dabei als eine, die das Autoinnere in genau jenem Moment unsichtbar belässt, sodass es weniger um die Erfahrung der Anreise selbst, als vielmehr um die Produktion der Ereignishaftigkeit der Anreise geht. Von der Erzählung her betrachtet decken sich viele der Gestaltungen der Heimkehrsequenzen mit dem Schatzsuchen »Drama des Heimkehrers« und hier besonders jene Sequenz aus Davaro. Erwartungen auf beiden Seiten, des Emigranten und der home group, decken sich nicht mit der ›realen‹ Situation, die beide Parteien vorfinden. Während die Dorfbewohner_innen Memo danach befragen, ob er in drei Jahren nicht einmal ein Auto habe kaufen können, antwortet Memo mit dem Hinweis auf die Illegalität seines Status während seiner Zeit in Deutschland und berichtet, dass er deswegen kaum eine Arbeitsstelle habe finden können, gar rausgejagt wurde, und froh ist, dass er gerade noch das başlık parası habe ansammeln können. Schütz bezeichnet dieses Auseinanderklaffen der Erfahrungsdimensionen als »Deformation der zugrunde liegenden Relevanzstrukturen«1 : »Er [der Heimkehrer] hat sozusagen in eine andere soziale Dimension hinübergewechselt, die nicht vom Koordinatensystem, das er als das Bezugsschema seines heimatlichen Lebens benützt hat, 1 Schütz (2002b, S. 101).
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gedeckt wird.«2 Diese Kluft in den sozialen Dimensionen, die die Trennungssituation hervorruft, führt für Schütz geradewegs in die »Diskrepanz zwischen der Einzigartigkeit und entscheidenden Wichtigkeit, welche der Abwesende seinen Erfahrungen zuschreibt, einerseits und deren Pseudotypisierung durch die Leute zu Hause andererseits, die sie mit einer Pseudorelevanz versehen«3 . Während bei Davaro mit der Ankunft das Begegnungsverhältnis als Krisis angelegt ist, die aus Missverständnissen resultiert, ist bei Schütz die Problematik eher durch eine subtilere Konzeptualisierung von Differenzen in der Erfahrung geprägt und schielt damit auf die lange Einlebungsphase des Heimkehrers. Damit verweist Schütz auf die Dimension der Prozessualität von Erfahrung und durchdenkt die Anderswerdung über die Erfahrungen als Fremdwerdung. Das Missverhältnis zwischen dem Heimkehrer und der früheren home group führt Schütz auf die »Irreversibilität der inneren Zeit« zurück und deutet mit den Hinweisen, dass »Bergson […] es in seiner Philosophie der Duree [analysierte]; Kierkegaard […] es als das Problem der ›Wiederholung‹ [beschrieb]«, auf die zeitphilosophischen Implikationen hin, die sich aus der kontinuierlichen Differenzierung im »Bewusstseinsstrom« als Fremd- und Anderswerdung des Selbst und der Anderen festmacht. Bei Schütz erkennt man also die unhaltbare Phantasmatik der Struktur der Migration. Sie ist nicht als ein einfaches räumliches Verhältnis eines Individuums zu seiner Umwelt ohne Berücksichtigung der sozialen Rahmenbedingungen wie der verlassenen Gruppe oder generell als Typus von Einzelwanderung vorzustellen. Innerhalb dieser Figuration sucht Waldenfels in seiner phänomenologischen Lektüre der beiden Studien von Schütz (»Der Fremde«, »Der Heimkehrer«) nach der Konzeptualisierung des Fremden und stellt fest, dass »[d]ie Studie über den Heimkehrer […] eine komplexere Struktur als die über den Fremden [zeigt]«, da hier die Zeitlichkeit in die Überlegungen von der Situation örtlich umfassend getrennter Subjekte Einzug findet, die Verhältnisse von Selbst und Anderen schon jeher als imaginär anlegen: Natürlich ist die Sache komplizierter, da jeweils noch Andere mitbeteiligt sind, als persönliche Vertreter der Gegenseite und als Teil eines anonymen Milieus. Außerdem wird die klassische Einheit von Raum und Zeit gesprengt durch eine Raum- und Zeitverschiebung, die keineswegs nur episodisch auftritt wie auf einer Reise, sondern vielmehr eine Art Weltverschiebung bewirkt. […] Es geht nicht bloß darum, daß ich meinen Ort in der Welt und mich selbst nicht mehr kenne, sondern darum, daß er und ich und auch die mich erwartenden Anderen nicht mehr dieselben sind. Erkennen ist selbst ein Wiedererkennen. Das Vertraute gibt keine sichere Tragfläche ab, es ist mit Unvertrautem durchsetzt, weil eine zeitliche Barriere mich von mir selbst und dem mir Eigenen trennt. Schütz rührt damit an eine Fremdheit, die nicht mehr als ein Defizit zu bestimmen ist, […]. Ich bin der, der ich war, und bin es nicht, und so geht es mit allem, was mit mir zu tun hat.4 Waldenfels argumentiert dann, dass Schütz auch hier schon die »Fronten der Fremdheit« hätte »vervielfältigen« können, »indem man die enttäuschten Erwartungen der 2 Schütz (2002b, S. 100). 3 Schütz (2002b, S. 104). 4 Waldenfels (2003, S. 182, 186).
7 Figuration II: Anreise
Zurückgebliebenen berücksichtigt, deren Erwartungshorizonte nur teilweise mit denen der Heimkehrenden verschmelzen«5 . Zwar nicht bei Schütz, aber bei Davaro findet sich diese »Vervielfältigung der Fronten der Fremdheit«6 sehr wohl wieder, da der Film genau jene Erwartungskluft auf beiden Seiten sichtbar macht, von der Waldenfels spricht. Dass dieses Auseinanderklaffen zwischen home group und den Emigrant_innen also schon die Spaltung der Lager und die Fremdwerdung in Richtung des vormaligen Heimatorts anzeigt, zeugt von der komplexen Figuration, die die Emigration produziert. Es gehört zu den Allgemeinorten der transnationalen Migrationsforschung, dass Migrant_innen von einer doppelten Befremdung heimgesucht sind. Sie sind Fremde geworden in der vormaligen Heimat und sind Fremdmachungsprozessen im Ausland ausgesetzt. Und wie Schiffbauer deutlich macht, kann diese Existenz als Migrant_in zugleich solche »transitorischen« Formen7 annehmen, dass sie im Falle der Unterbrechungen der Bewegungen immense Spannungen produziert: Die unvorhergesehenen Schwierigkeiten der Rückkehr führten zu einer ungeplanten Verlängerung des Aufenthaltes. Dies war von entscheidender Bedeutung für die meisten Migranten. Für sie verwandelte sich nämlich damit die Migrationssituation in ein »Feld innerer Widersprüche« (champs contradictoire) – ein Begriff, den der französische Soziologe Sayad eingeführt hat (Sayad 1983). Wenn sich nämlich die Zeit in der Fremde, die als Ausnahmesituation ausgegrenzt wurde, allzusehr ausdehnt, wenn aus der Migration ein »dauerhaftes Provisorium« (provisoire qui dure, Sayad 1983: 1749) wird, dann treten Mittel und Ziel der Migration immer mehr in Widerspruch zueinander. Die Lebensphase in Deutschland wird sich dann zunehmend als eine Abfolge von Dilemmata darstellen.8 Von der Sichtbarmachung dieser Dilemmata sind die meisten Filme aus der Türkei in den 1970ern zur türkisch-deutschen Emigration weit entfernt. Vielmehr involvieren sie allenfalls Sichtbarmachungen der Heimkehr, der Anderswerdung und der folgenreichen Ereignisse für die Ordnung im Dorf. Die folgenden beiden Kapitel widmen sich zwei Ereignissegmenten, die sich am ehesten noch als relativ kurze Momente beschreiben lassen: den (Blick-)Begegnungen und Eintritten. Diejenigen, die heimkehren, tun dies in Bewegung ihres Körpers. Zugleich sind diese Körper oftmals mit den Zeichen der Andersgemachtheit ausgestattet. Wenn Film Bewegung ist und das Zeigen von Körpern in der Kadrage zu seiner urtümlichen Qualität gehört, dann doppelt sich das Filmmediale mit den Ereignisformen der Heimkehr aus der Emigration.
7.1.
Einleitung: Der Emigrationsfilm Acı Zafer
Es gibt einen Regisseur, der zu Çakmaklı quasi einen Ergänzungsregisseur darstellt – zumindest was die Filmprogrammatik betrifft. Mit seinem Konzept des ulusal sine5 6 7 8
Waldenfels (2003, S. 187). Waldenfels (2003, S. 187). Vgl. Lehmann (2011, S. 157). Schiffauer (1991, S. 169).
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ma, schreibt sich Halit Refiğ in den 1960er und 70er Jahren, ein zuerst kemalistischer Filmemacher, der ebenfalls der Filmemacher-Phase zugerechnet wird, in die türkische Filmgeschichte wirkmächtig ein. Auch als Filmpublizist, der er viele Jahre war, ging es ihm generell um die Behauptung einer kulturdiffizilen Situation der Türkei, deren Filmkultur sich deswegen nicht nach Europa wenden dürfe. Eine Sammlung seiner Europhilie-kritischen Schriften zur türkischen Filmkultur ist dabei das erstmals 1971 erschienene Buch »Ulusal Sinema Kavgası«9 . Es verwundert daher nicht, dass für Refiğs identitätspolitische Überlegungen aufgrund der Zuarbeitung zu identitätspolitischen Fragen Migration in seinem Œuvre bestimmend bleibt: in Gurbet Kuşları (»Die Vögel der Fremde«) (1964) und Şehirdeki Yabancı (»Der Fremde in der Stadt«) (1962). Drei Jahre nach Bir Türke Gönül Verdim, der noch einen paradigmatischen Status in dessen filmprogrammatischen Œuvre einnehmen wird und der im letzten Kapitel noch eine zentrale Rolle für die Geschichte des türkischen Emigrationsfilms spielen wird (▶ Kap. 9.2), dreht Refiğ erneut einen Film mit Migrationsbezug: 1972 entsteht das Rachedrama Acı Zafer (»Schmerzlicher Sieg«), ein typischer kommerzieller YeşilçamActionfilm mit einem anatolischen Dorf als vornehmlichem Handlungsort. Seine Zuschauer_innen werden affektiv in den Gerechtigkeitsplot rund um einen Emigranten involviert, der den Mord an Mutter und Frau zu rächen dürstet. Als Actionfilm basiert er »auf der Sensation des handelnden Körpers, der sich gegen die Widerstände seiner Umwelt hinwegsetzt.«10 Die Umwelt besteht hier aus dem sozialen Gefüge des Dorfs sowie der Natur, die das Dorf umgibt, außerdem noch drei antagonistischen Viehhändlern und der Gendarmerie, die Gesetz und Ordnung wahren muss. Dabei erinnert der Plot des Films nicht nur visuell an Sam Peckinpahs kurz zuvor erschienene filmische Gewaltstudie Straw Dogs (1971).11
7.1.1.
Der Plot von Acı Zafer
Der Emigrant Hasan kehrt mit seiner Ehefrau Lena, die er in Deutschland heiratete, in sein anatolisches Heimatdorf zurück. Als sie am Haus der Emigrantenmutter ankommen, werden sie von ihr herzlich begrüßt und aufgenommen. Zwischenzeitlich hat sich Hasans Mutter im Dorf mit einer Viehhändlerfamilie bestehend aus drei Brüdern angelegt. Sie will ihre Tiere den drei Männern trotz Gewaltandrohung nicht verkaufen. Da die drei Brüder und ein Dorfraufbold sich von der deutschen Ehefrau Hasans im dörflichen Kontext sexuell besonders angezogen fühlen, entschließen sie sich ›zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen‹: Sie wollen die alte Frau umbringen, um sich ihrer Tiere anzunehmen, und die deutsche Ehefrau des Emigranten vergewaltigen. Sie nutzen die Gelegenheit, dass Hasan das Dorf für die Arbeit verlässt, und töten Mutter und Lena, nachdem sie sie vergewaltigen. Wenig später findet Hasan Mutter und 9 Refiğ (2013). 10 Kulle (2012, S. 99). 11 Peckinpah (1971). Straw Dogs ist im weitesten Sinne auch noch ein dem Migrationskino nahestehender Film. Er erzählt davon, dass das junge reisemigrierte Paar Sumner ihre Ferien im elterlichen Ferienhaus im englischen Dorf verbringt. Dabei wird der Konflikt zwischen Dörfler_innen und Städter_innen, Fremden und Heimischen gewaltvoll zugespitzt, nachdem die Ehefrau von Dörflern vergewaltigt wird.
7 Figuration II: Anreise
Ehefrau ermordet vor. Er entschließt sich zur Rache an den Tätern. Nachdem er den Raufbold aufgrund eines Feuerzeugs, das dieser am Tatort fallen ließ, ausfindig machen und erhängen kann, entlockt er diesem auch die Namen der anderen Mörder. Noch vor Erreichen der drei Viehhändlerbrüder wird Hasan jedoch vom örtlichen Hauptmann Esat, einem jahrelangen Freund, der ihn vor weiteren Straftaten zu bewahren versucht, aufgegriffen und verhaftet. Doch Hasan kann entfliehen. Nach weiterer Rache an den anderen Mördern dürstend vergewaltigt er die Schwester der drei Brüder. Weil die junge Frau den Emigranten seit einer früheren Bekanntschaft begehrt, genügt ihm die so vollzogene Vergewaltigung als Rache nicht. Er entführt sie in eine entlegene Hütte und nutzt sie als Köder für die Brüder. Nach einigem Hin und Her zwischen Hasan und Esat, der seinen Kindheitsfreund ein zweites Mal festnimmt und dann aber wieder fliehen lässt, verschanzt Hasan sich mit seiner Geisel in eine Höhle. Dort können die drei Viehhändlerbrüder den Rachsüchtigen und ihre Schwester ausfindig machen. Im entscheidenden Showdown gewinnt Hasan alle Duelle mit den drei Männern für sich. Die Schwester rächt sich für die Ermordung ihrer Geschwister, indem sie Hasan mit einer am Boden liegenden Waffe niederschießt. Hauptmann Esat kommt zu spät. Er kann seinen schwer verwundeten Freund nicht mehr vor dem Tod bewahren.
7.1.2.
Andersmachung des Emigranten: kurzer Exkurs
Ein Blick auf die Einstellungssequenz (Abb. 24) zeigt: Der Emigrant wird mit typischem Hut mit Krempe, Anzug, Armbanduhr und Krawatte gezeigt – jenen Indikatoren also, die von einer eventuellen Veränderung auch der charakterlichen Disposition kundtun und damit also per visual othering präsentiert, obwohl er sich der Verfremdung im Ausland entziehen und einen menschenfreundlichen Habitus bewahren konnte. Wenn die äußere Anderswerdung des Emigranten wie in Kara Toprak eher eine Veränderung eines Lebensstils im Sinne von Kleidungsstil anzeigt (▶ Kap. 6.4.4), worin begründet sich dieser Lebensstilwechsel: in Geschmack, Gewöhnung und Gewöhnlichkeit im Emigrationsland? Oder vielleicht äußert sich im Kleidungshabitus auch der Wunsch nach Anerkennung durch die Heimischen? Geht es also um die Bestätigung des Ichideals, das Generationen von Emigrant_innen zur Produktion eben jener Photographien bewegte, in denen sie sich mit Hut und vor teuren deutschen Autos für die Bestätigung der Erwartungen der home group ablichten ließen – Photographien, die in Davaro gar ein ganzes Dorf in Aufruhr versetzen, letztendlich jedoch zu einem irrwitzigen Auseinanderklaffen von Erwartungen, Hoffnungen und Vorstellungen zwischen Emigrant und home group führen? Unabhängig von dieser Einordnung der Verkleidungsgeste des Films gedacht: Ist nicht jedem Film eine stereotypisierende Sichtbarmachung der Figuren zu eigen, die, wie Jörg Schweinitz argumentiert, sich auch noch in der genremäßigen Vermittlungsfunktion des Films durch ihren Variantenreichtum »lustvoll« erschöpft? Die Erwartungshaltung in Bezug auf die jeweilige Spielwelt eines Genres hat ihre Ursache nun darin, dass die Figurenstereotype als narrative Formen an rezeptiven Dispositionen – das heißt auch: an Bedürfnissen – orientiert sind. Sie funktionieren nicht als realistisch aufgefasste Repräsentationen, nicht als Vehikel der Erkenntnis,
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sondern als personale Instanzen eines wiederholbaren Lustgewinns in einem ritualisierten, sich selbst ähnlichen Spiel, das von den einzelnen Filmen des Genres stets neu angeboten wird.12 Damit wäre die Figur des Emigranten ein mit dem Effekt einer Luststeigerung auf Seiten der Zuschauer_innen versehenes Etwas. Das scheint eine Einschätzung zu sein, die für den vorliegenden Fall nur bedingt funktioniert, da die Stereotype des ›Deutschländers‹ einen so großen Interpretationsraum eröffnet und so unregelmäßig genremäßig verknüpft werden, dass von einem »ritualisierten Spiel« zu sprechen übertrieben wäre: Monomedialer quantitativer Exzess ist keine Grundbedingung von Stereotypen. Stereotypen können so vielfältig und different auftauchen, dass sich ihre Stereotypie gewährende Stabilität in Unscheinbarkeiten wie einem Hut und einem Radio unter dem Arm gibt.13 Um die Herstellung eines Stereotyps weniger vom Aspekt ihrer Genrefunktion oder des Filmrituellen, sondern eher von ihrer Produktion her zu betrachten, ließe sich sagen, dass Figuren oder Figurenstereotypen emergierte beziehungsweise »ontologisch stabilisierte« Entitäten sind, die aus einer Vielzahl von Operationen und Prozessen entstehen. Damit ließen sie sich in Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) mit Latours umfassender Konzeption davon als »Fiktion« fassen. »Fiktion [FIK]« bezeichnet in Latours soziologischem Projekt, das als Produkt der Arbeit eines digitalen transnationalen Wissenschaftsnetzwerks entsteht, eine der fünfzehn Existenzweisen, mit deren Hilfe er eine neue Vermessung der Institutionen und ihrer Relation zueinander zum Zwecke einer grundlegend anderen Soziologie vornimmt. Ziel ist es, einen »ontologischen Pluralismus«14 zu versuchen, der mit Hilfe einer »Metasprache«15 die Komplexität der Modernen umfassender bestimmbar macht. Das sich in der »Existenzweise« der Fiktion Befindende, und Figuren sind darunter verortet, wären in ihrem ontologischen Status ernst zu nehmende Entitäten, die nicht »stiefmütterlich« oder als Subalternes und unwichtig zu behandeln sind: Es gibt zweifellos eine Exteriorität bei diesen Wesen, die sich uns aufzwingen, nachdem sie sich denen aufgezwungen haben, die sie instauriert haben und die im übrigen [sic!] ihnen gegenüber eher die Rolle von Mandanten als von Schöpfern spielen. Sie kommen in unsere Phantasie, nein, sie bieten eine Phantasie, die wir ohne sie niemals gehabt hätten. Don Juan existiert genauso sicher wie die Charaktere von Friends; […].16 ›Ernst zu nehmen‹ meint hier, Fiktionalität nicht als eine Seinsform zu verstehen, die in Abgrenzung zu einem ›wirklicheren‹ Modus von Wirklichkeit stünde. Ontologischer Pluralismus meint also, die Bedingungsstiftung von je spezifischen Wirklichkeiten reflektierbar zu machen. Es geht damit nicht darum, eine Unentscheidbarkeit von Fiktionalem und Faktualem zu behaupten, sondern darum zu verstehen, dass noch alles selbst 12 13 14 15 16
Schweinitz (2006, S. 51f.). Das sind allerdings Unscheinbarkeiten, die komplexe Akteur-Netzwerke sind. Latour (2014, S. 57). Latour (2014, S. 58). Latour (2014, S. 335-363, hier 340).
7 Figuration II: Anreise
als Produkt einer unabdingbar fiktionalen Leistung entsteht und von ihr durchzogen ist. Was hier in Latours eigenen und meinen Formulierungen noch nach einer Einforderung einer Fiktionalität ernst zu nehmenden Haltung klingt, lässt sich in seiner politischen Relevanz konkreter erschließen, wenn man an Rancières Ansicht danach denkt, dass Fiktionen keineswegs Entitäten sind, die einer davon abtrünnigen Wirklichkeit oder einem anderen Modus der Fiktion gegenüberstehen (Repräsentation). Fiktionen wirken an der Gestaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten, der »Aufteilung des Sinnlichen«17 mit, weil sie überhaupt erst den ästhetischen Raum öffnen, von dem aus die Möglichkeiten von Wirklichkeiten gegeben sind. Fiktionen, Phantasien, Imaginäres sind Handlungsvollzüge, insofern in ihnen Eigenschaften und Qualitäten enthalten sind, die sich nie eindeutig einer bestimmten Modalität zuschreiben lassen. Sie sind Vermengungen aus Wahrnehmungs- und Einbildungsqualitäten und deswegen sind weder eine fiktionale Figur noch der Nachbar von nebenan, nach Wahrheitsqualitäten zu bewerten. So wäre auch die Kleidung an Figuren im Film letztlich ein einzelnes Element an ihnen, nämlich ein solches, dass die in den Filmen auftauchenden Deutschländer als »visuelle Konstruktionen des Sozialen«18 , als mediales Dispositiv vielfältiger Schirme, Blicke und Sichtungen19 und damit als Entitäten zwischen Fiktion und Wirklichkeit vermittelt. Deswegen ko-konstituiert Kunst, oder hier der Film, die Weisen der Wirklichkeit als permanente Möglichkeit des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Verstehens, Erfahrens und Empfindens: Die Geschichte des Kinos bezeichnet in dieser Perspektive ein Feld medialer Möglichkeiten der Erfahrung sozialer Realität, das genau soweit definiert und erschlossen ist, wie es Filme gibt, die diese Möglichkeiten entdeckt und verwirklicht haben.20 Für die Figur des ›Deutschländers‹ im Film gesprochen hieße das, sie als Vermittlungsmedium des Sozialen zu verstehen., als zu audiovisuellen Regimen geronnenes, ontologisch stabilisiertes Etwas, in dem nicht die Frage nach der Repräsentation, sondern die ko-konstitutiven Weisen der Sichtbarmachung auf Denkmöglichkeiten verweisen, die zum Kern dessen führen, was die visuelle Kultur der Migration zwischen Türkei und Deutschland genannt werden könnte.21 Doch wie leistet die visuelle Konstruktion der Kleidung genau jenes high othering? Schon der Fokus auf die Armbanduhr in der Einstellung aus Acı Zafer (Abb. 24.1), die beim Umarmen des Hauptmanns sichtbar wird, bringt hier Erhellung: Sie markiert den Arm des Remigranten. Als technisches, weil im Dorfkontext kaum verfügbares Prestigeobjekt und Produkt einer Mikrotechnik, das die Zeit vermisst und das Leben strukturieren, organisieren und verorten hilft, birgt es damit Konnotationen und Funktionen von Kontrolle und Beherrschung, nämlich der Zeit an sich. Als Körperaccessoires wird 17 Rancière (2008), genauer dazu im Hinblick auf das Migrationskino Heidenreich (2015, S. 78f.). 18 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 334f.). 19 In Joseph Vogls Analyse von Hitchcocks The Birds klingt die argumentative Synchronität jener Parameter an. So gehört zum »Bild, Blick und Sehen« die »Ordnung des Fensters, des Schirms und der Rahmung«, siehe Vogl (2005, S. 53). 20 Kappelhoff (2008b, S. 29). 21 Zu aktuellen Fortschreibungen derartiger, tendenziell prozessphilosophisch-medientheoretischer Überlegungen siehe Wieser (2012, S. 213-240)
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Abbildung 21 – Standbild aus Acı Zafer (1972); Abbildung 22 – Standbild aus Baldiz (1975); Abbildung 23 – Standbild aus Kara Toprak (1973)
es zugleich als permanent verfügbares Erinnerungsobjekt einer andauernden Sichtbarkeit überantwortet. Die_der Städter_in zeigt für Dörfler_innen an, dass messbare Zeit überhaupt eine Rolle im Leben spielen kann. Der Zeiger einer Uhr folgt dabei nicht nur der Zeit, sondern verwaltet und organisiert sie, bringt sie zugleich als empirisch vermessbare Größe hervor. Zeit ist ein ›Gut‹, dessen Wert in der von Müßiggang gekennzeichneten Sozialität des Dorfs dann als Luxus und wert-voll erscheint, wenn seine Vermessbarkeit bewusst gemacht wird. Auch wenn diese Bewusstmachung sich hier nicht unbedingt vollziehen muss, so macht die Sichtbarkeit der Armbanduhr, die am Körper und damit der Fläche, die in den ›äußeren Raum‹ strahlt, die Relevanz der Zeit überhaupt sichtbar. Die Angebrachtheit der Uhr am Arm (Lokalität) suggeriert dabei zugleich zweierlei: Zum einen die permanente Verfügbarkeit der Uhrzeitüberprüfung. Zum anderen strukturieren Armbanduhren auch den Körper (nicht nur die Zeit), an dem sie getragen werden. Sie trennen die Hand vom Arm und versehen diejenige Extremität am menschlichen Körper, die dessen äußerste Geschicklichkeit verbürgt (Hand), als ein Kraftzentrum. Hier im Standbild ist das besonders augenfällig, weil die grelle Armbanduhr durch die relativ dunkle Hautfarbe und den sehr dunklen Mantel gerahmt wird. Damit ist die konkrete Uhr in der Szene keine solche, die wenig sichtbar bliebe. Sie erscheint im filmischen Bild in Relation zum Umfeld grell, ist womöglich aus Edelstahl, Silber oder Weißgold. Es sind also Farbe und die Helligkeit, die ihre Differenz am Körper und im Film hier spezifisch anzeigt. Das Standbild verdeutlicht zudem, wie Hasans freundschaftlicher Griff an den Arm seines Freundes eine Verkürzung des Mantels verursacht und die Uhr überhaupt erst sichtbar macht. Zur visuellen Konstruktion gehört auch die Geste, die sie hervorbringt – und die Form, über die sie verfügt: Jede Armbanduhr hat zugleich eine abnorme Form. Wenn die Norm das Armband der Uhr ist, dann ist das runde Gehäuse die Abweichung, die in das stringente Band eine zumeist rundliche Entität (Gehäuse) einbringt. Diese runde Form, die den geraden Verlauf des Bandes unterbricht, oder das runde Gehäuse, das vom geraden Verlauf des Armbands umgeben ist – dieser zweiteilige Aufbau der Uhr legt das Uhrengehäuse als Schwerpunkt des Uhrengebildes an. Die runde Form der Uhr, die von den Armbändern absteht, lässt diesen Teil der Uhr zugleich als Fokussierungspunkt zurück. Das Armband ist zumeist schmaler und im Hinblick auf die Höhe auch niedriger. Das Uhrengehäuse steht ab. Die Technik, die sie birgt, ist eine Mikrotechnik, die aufgrund ihrer visuellen Entzogenheit kaum im Bereich des Vorstellbaren zu verorten ist, wie darin eine Finesse integriert ist, die einen Zeiger quasi automatisch zum Laufen bringt. Sie
7 Figuration II: Anreise
übersteigt Verstand und Vernunft und ist doch das fetischisierte Produkt einer Arbeit der Vernunft.
7.2.
Zur Struktur des Kapitels
Acı Zafer reiht sich insofern in die Liste von türkischen Emigrationsfilmen der HighYeşilçam-Ära ein, als er die Heimkehr des Emigranten inszeniert und den Emigranten als Protagonisten auch der weiteren Story erwählt. Betrachtet man Acı Zafer im Kontext der Emigrationsfilme der Zeit, stellt man fest, dass er in vielerlei Hinsicht zahlreiche Elemente birgt, die besonders die Remigrationsfilme der 1970er kennzeichnen – und zugleich gibt der Film mit seiner brutalen Rachestory ein eigenwilliges Werk ab, das nicht nur aufgrund visueller sowie erzählerischer Raffinesse und Verspieltheit eines intensiveren Blicks würdig ist. Den einenden Spezifika der Emigrationsfilme entlang dieses Films zu folgen – und genau so sind die nachfolgenden Kapitel angelegt – bedeutet nicht, das Spezifische an ihm und den anderen Filmen zu vernachlässigen. Am Spezifischen von Acı Zafer soll zugleich auf die anderen Filme im Hinblick auf einende und zu differenzierende Eigenschaften zurückgekommen werden. Diese einenden Spezifika sind dabei als verschiedene Parameter des Remigrationsereignisses untersuchbar geworden: Reiseprozesse der Remigration in den Ort der Ausgangsmigration und Blickereignisse und -prozesse verschiedener Akteurslager in der Ankunft. Das heißt, dass die Remigrationsereignisse im Film dahingehend untersucht werden, wie die Rückreise in den Ort der Ausgangsmigration und dann schließlich die Blickereignisse der menschlichen Subjekte zueinander im Moment der Ankunft konstituiert werden. Damit bilden hier also »Bewegung« und »Blick« zwei Untersuchungsparameter, mit denen die filmische Konstruktion der Remigration in denjenigen türkischen Filmen der 1970er Jahre herausgestellt werden soll, die durch die Anwesenheit des Migranten im Bildraum und seiner topographischen Anwesenheit in den Heimzusammenhängen (Heimkehr) gekennzeichnet sind. So wie mit dem Konzept der Abwesenheitsszenen ein Szenentypus herausgearbeitet wurde, mit dem sich Migration im Film spezifisch untersuchen lässt, so sind die Parameter zunächst einmal als Kategorien zu verstehen, die letztlich wiederum induktive filmmediale Spezifika dedizieren helfen, mit denen Migration und Film spezifischer zu bestimmen sind. Damit leisten die Analysen nicht nur eine filmkulturhistorisch, filmästhetisch und kulturtheoretisch motivierte Untersuchung einer spezifischen Filmkultur, sondern einen Beitrag zur Erforschung von Migration im/und Film im Allgemeinen – und damit einen Beitrag zur Erforschung der visuellen Kultur der Migration. So wird sich schließlich zeigen: Erst im Rückgriff auf verschiedene Elemente (Repräsentation der Transportmittel, deiktische Vorgänge der Figuren, den Bewegungen folgende und Indizes hervorrufende Bilddramaturgie, Gestalt-getragene Visualisierungen [Dorf als eine durch vereinzelte Gebäude durchsetzte Landschaft] et cetera) erzeugt sich die Anreise im Film als vernehmbare. Dabei sind Anreisen nur ein Teil dessen, was als Migration angenommen wird. Sie sind darin ein filmisch sichtbar gemachter Aus-Schnitt, eine »ontologische Stabilisierung«, die Migration erst erfassbar macht. Und: Die Sichtbarmachung des Dorfs und die Anreise
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im mobilen Gefährt dient dabei auch zur Herstellung der topographischen Verhältnisse. Die Anreiseszenen produzieren die räumliche Figuration der Abgelegenheit des Dorfs. Zur infrastrukturellen Spezifität des Dorfs gehört dabei besonders die Anbindung an Landstraßen. Türkische Dörfer, und türkische Dörfer im High-Yeşilçam-Film im Besonderen, verfügen über keine Bahnhöfe. Die Inszenierung der Anreisen stellt nicht nur den Eintritt eines vormals abwesenden Protagonisten in den Raum der home group her – ein Motiv, das sicherlich auch zur anthropologischen (Grund-)Konstante von Erzählungen im türkischen Film gehört –, sondern etabliert eine Topographie, in der das Dorf stets als ein abgelegener Ort hergestellt ist. Wenn eine Anreise ins Dorf schon erforderlich ist, so ist das Dorf immer in Distanz zu einem anderen Ort angelegt, zu dem die Figuren reisen müssen. Die eigentlich prozessuale Trennung von Dorf und Stadt, die die modernen und urbanen Gesellschaften auszeichnet, ist in diesen Filmen als radikale Trennung angelegt. Die Distanzbewältigung stellt den Raum als überaus distanziert her, versieht ihn also mit einer quantitativen Größe, die ihn als einen Ort im abseitigen Irgendwo und getrennt erzeugt. Generell wurde zur filmischen Konstruktion der Migration im Hinblick auf die Reiseformen, die der Film sichtbar machen kann, nur wenig gesagt (▶ Kap. 5.1.2 und 5.2.3). Das müsste insofern verwundern, da das Verhältnis von Migration und Kino von gegenseitiger Konstitutivität geprägt ist22 – vor allem mit Blick darauf, »dass beide demselben Impuls folgen, dass sie in ihrem Drang nach veräußerter Fortbewegung verwandt sind«23 . Das soll hier in einer konkreten Analyse der Anreisesequenz in Refiğs Film und weiteren Filmen aufgezeigt werden. So wird deutlich werden, wie der Film in die Sichtbarmachungen der Migration in der Yeşilçam-Phase eingebunden ist. Das geschieht aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel der Herstellenden auf eine Weise, die durch Verweisakte und von besonderer Herausforderung bildlicher Handlungen charakterisiert ist. Im Folgenden werde ich damit die Anreiseszenen in fünf Filmen (Acı Zafer, Kara Toprak, Baldız und Öfkenin Bedeli, Vahşi Arzu) beschreiben und die filmische Konstruktion im Hinblick auf die Sichtbarmachung der Anreise, auf ihre »ontologische Stabilisierung«24 hin transparent machen. Dies werde ich auf der einen Seite durch die erzählerische Einordnung der Szenen vornehmen und damit die diegetischraum-zeitliche Relevanz und Funktionalität bestimmen, die zugleich an einigen Stellen einer kulturtheoretisch-/historischen Kontextualisierung bedarf (zum Beispiel Rolle und Funktion der Teestuben). Auf der anderen Seite werde ich motivische Gemeinsamkeiten sowie binnenbildliche Aktivitäten und ihre Funktionsmechanismen im Prozess der Sichtbarmachung der Reise (Blickdeiktika von Figuren, Kameraaktionen), aber auch der Andersmachung des Remigranten beschreiben. Dadurch wird für Untersuchungen zur visuellen Konstruktion der Migration eine methodologisch-theoretische Herangehensweise aufgezeigt werden, die die Reisedimension im Gesamtgefüge der Migration in filmischer Hinsicht ernst nimmt. 22 Vgl. Oikonomou und Meurer (2009). 23 Gutberlet (2007, S. 165). 24 Vgl. Skrandies (2016).
7 Figuration II: Anreise
7.3.
Anreisesequenz I: Acı Zafer (1972) – Zug, Dorf, Teestube, Andersmachung
In Acı Zafer lassen sich – anders als in vielen anderen Filmen – keine Abwesenheitsszenen finden. Der Film zeigt vielmehr die Heimreise samt Ankunft des Emigranten selbst und zwar in drei Etappen: in der Anreise mit dem Zug in die Provinz, der Busreise von der Provinz aus ins Dorf und dem Erscheinen am Haus der Mutter (die Segmentierung in diese drei Etappen ist selbst eine epistemische Operation, die mir sie zu beschreiben und zu untersuchen hilft). Der Film beginnt konkret mit einer halbnahen Einstellung, die Hasan, sein Ehefrau Lena und den schon vor der Emigration mit Hasan befreundeten Hauptmann Esat in einem Gespräch zeigt (Abb. 24.1).25 Der Hauptmann heißt beide willkommen und hilft ihnen beim Einladen ihrer Sachen in den Reisebus, der Hasan und Lena ins Dorf bringen wird. In der nächsten Einstellung sehen wir einen Zug hinter Hasan und Lena abfahren, der die Annahme der unmittelbaren Ankunft mit eben jenem Transportmittel indiziert.
Abbildung 24.1-3 – Standbilder aus Acı Zafer (1972)
Nach dem Aufladen des Gepäcks auf den Reisebus und der Verabschiedung vom Hauptmann sehen wir die Anreise zum Dorf in Form einer Halbtotalen, die eine Landstraße zeigt, auf der vom Fluchtpunkt aus der Reisebus in Richtung des Bildfelds zufährt (Abb. 24.3). Hier setzt, wie in Kara Topraks Anreise-szene des Emigranten auch, ein türkisches Volkslied ein, das Dörflichkeit und Ländlichkeit konnotiert. Was hierauf folgt sind Einstellungen vom Bus auf der Landstraße, nahe Einstellungen der freudigen Gesichter von Hasan und Lena und eine Einstellung, in der Hasan Lena das Dorf mit dem Finger aus dem Busfenster heraus zeigt. Darauf folgt ein Gegenschnitt auf eine Autofahrteinstellung, in der in extremer Totale das Dorf in weiter Entfernung zu sehen ist (einzelne sporadisch dicht beieinanderliegende Häuser). Schließlich endet die Reiseszene mit einer Einstellung, in der der Bus ins Dorf einfährt. Hier folgt die Kamera mit leichtem Linksschwenk der Fahrtbewegung des Busses, der nun vor der Teestube zum Halt kommt. So enden auch schon die wenigen Einstellungen dieser relativ unspektakulär erscheinenden Anreiseszene. Dass sich darin zahlreiche, nicht nur aus der filmanalytischen Beschreibung ergebende Operationen (visuelle Konstruktionsweisen) 25 Zuvor werden noch Filmtitel in weiß vor schwarzem Hintergrund gezeigt. Die digital saubere Schrift meiner digitalen Filmkopie lässt vermuten, dass es sich dabei um neu integrierte Titel handelt.
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verbergen, die die Anreise »ontologisch stabilisieren«, werde ich nun genauer aufzeigen.
7.3.1.
Sichtbarmachung transnationaler Migration: Der Zug
Aufgrund der plottechnischen Relevanz liegt der Startpunkt der gezeigten Remigration in der Kleinstadt, die in der Nähe von Hasans Heimatdorf situiert ist. Nach ihrer Ankunft mit dem Zug werden Hasan und Lena dort vom Hauptmann Esat empfangen: Mit dem Einsetzen schon in der Kleinstadt selbst werden die räumlichen Figurationen des Dorfs produziert, das damit in einiger Entfernung zur Kleinstadt erscheint. Der Emigrant Hasan wäre und wird dann schließlich auch im Falle einer Anwesenheit in der Stadt von den Geschehnissen im Dorf informationstechnisch abgeschnitten sein und diese Information wird durch den Beginn der Ankunftsszene so besonders auch für raumsensible Zuschauer_innen, die sich von der Kartierung affizieren lassen, vorbereitet. Doch die Szene der Ankunft in der Kleinstadt gibt auch Gelegenheit zur Präsentation eines freundlichen Empfangs der deutschen Frau durch den Hauptmann, ist also auch als Vermittlungsszene einer sozialen Beziehung der Figuren zueinander zu verstehen. Lena wird (noch) nicht als Fremd- oder ethnisiertes Sexualobjekt verhandelt. Hasan zeigt auch (noch) kein Verhalten, mit dem er sie im Hinblick auf ein mögliches Fehlverhalten im türkisch-islamischen öffentlichen Raum auf bestimmte zu berücksichtigende Dinge hinweisen muss (allerdings später im Film im Dorf, als sie alleine in der Natur spaziert) und thematisiert so auch keine problematische Fremdheitssituation. Die erste Szene stellt eine Begrüßungsbegegnung dar, die ein freundschaftliches Miteinander zeigt. Relevant für die Reisebewegung wird die Einstellung, die nach dem Gespräch zwischen den beiden Migrant_innen und Esat einsetzt: Die Sichtbarkeit der internationalen Ankunft der beiden Migrant_innen wird in der Sichtbarmachung der Abfahrt des Zugs indiziert.26 Genauer: Es ist dessen Abreise, die gezeigt wird, während Hasan und Lena im Vordergrund des Zugs als ausgestiegene Gäste sichtbar bleiben. Die Bewegung des Zugs in der statischen Aufnahme, sein Abfahren aus dem Bildfeld heraus, das sich allenfalls in der Bewegung des Abteils anzeigt, braucht nicht in seiner Gänze, als Gestalt eines abfahrenden Zuges gezeigt sein. Für die Indikation der Zugabfahrt (Index) reicht das Vorbeifahren der Abteile im Hintergrund, ihr Verschwinden aus dem Bildraum. Die Annahme der Ankunft mit jenem Zug wird damit der potentiellen Kurzschließung zweier Einstellungen überlassen. Das Sich-Davor-Befinden der beiden Migrant_innen und der Zeigegestus des Zugsabfahrens ermöglichen einen Kausalschluss. Die Umarmung Lenas durch Hasan, als das Gefährt hinter ihnen abfährt, stellt beide Personen dabei als zusammengehörig dar. Die nur vier Sekunden dauernde Einstellung von der Zugabfahrt wird auch mit einem Blickdeiktikon versehen. Es lässt sich als Geste der Verknüpfung verstehen, die die Figuren und das abfahrende Reisemittel als zugehörig herstellt: Lena und Hasan blicken 26 Züge gehören dabei zu jener Zeit und jenem Ort zu einem der vornehmlichen Reisemittel internationaler Migration, so zum Beispiel in Memleketim, Öfkenin Bedeli, Almanya Acı Vatan, Bir Türke Gönül Verdim, Gurbetçi Şaban et cetera.
7 Figuration II: Anreise
nach dem abfahrenden Zug, von dem sie dadurch als soeben ausgestiegen erscheinen, wobei Lena zuerst nach dem Zug blickt (Abb. 24.2). Das Blickdeiktikon der Figur, das sich auf den Zug bezieht, in Verbindung mit der Kamera als Enunziator, die die beiden Figuren vor dem abfahrenden Zug zeigt, ist in der Wissenslogik des Filmischen allerdings nur bedingt als eine eindeutige kommunikative Instanz zu behaupten, die hier eine solche Kurzschließung als ›soeben davon ausgestiegen‹ erlaubte. Ambiguität ist ein filmmedial konstitutives Spezifikum.27
7.3.2.
Deiktika als Sichtbarmachungsinstanzen von Dorf, Reise und Lokalitäten
Die Einstellung, in der hinter dem Paar der abreisende Zug gezeigt wird, lässt die beiden – so lassen es die Gesten wie Mimiken entnehmen – als ein glückliches, sich räumliches umsehendes und darin womöglich über ihre Ankunft sich freuendes Pärchen entstehen. Die darauffolgende Anreise im Bus, in dessen Innerem auf die glücklichen Gesichter des Paares geschnitten wird, setzt damit die Präsentationsdramaturgie der Freude des Paares fort. Schließlich resultiert aus Hasans Fingerzeig, der für Lena aus dem Busfenster heraus auf das Dorf gerichtet ist, auch ein blickdeiktischer Vorgang: Zu sehen ist dann die extrem totale Landschaftseinstellung mit den kleinen Häusern an den Hügeln. Das Dorf wird also als eine abgrenzbare visuelle Größe in der Ferne sichtbar. Durch die beieinanderliegenden Gebäude ergibt sich eine distanzmäßig angelegte Kohärenz. Ihre Dichte garantiert, dass das Bild als Zeichen für das Dorf fungieren kann: Sozial dicht bewohnter Raum bedeutet vernetzte menschliche Organisationsstrukturen, bedeutet Dorf. Die extradiegetisch ertönende Hintergrundmusik, ein bekanntes türkisches, oft auch an Schulen gesungenes Volkslied namens Merhaba (›Hallo‹), das vom Grüßen und Verabschieden handelt, wird hier in der Instrumentalversion gespielt. Es fungiert expressiv und konnotativ, insbesondere aufgrund des eigenwilligen Musizierens. Das Pfeifen kündigt fröhlich auf (expressiv), während die saz, als das typische Saiteninstrument türkischer Volkslieder, eben jene Konnotationen des Dörflichen erzeugt. 27 Siehe dazu auch generell Ingo Zechners Beschreibung von Deleuzes Kinotheorie (2003, S. 44-48). Die Zeigeaspekte der Figur und des Kamerablicks können nur bedingt als kommunikativ auch für Zuschauer_innen angenommen werden, da Kommunikationsebenen im Film stets verkompliziert sind (siehe auch Kapitel 5.2.1). Kuhn operationalisiert die Kommunikationssituation im Film, indem er die Kategorien von »impliziter Autor« und »impliziter Leser« entwirft. Die vertrackte Situation mit Blick auf das Konzept der »Fokalisierung« (Fokus der jeweiligen Wahrnehmungs- beziehungsweise Artikulationsinstanz) gibt Kuhn an folgender Stelle so wieder: »Angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten kann man sich Bonheims (1990: 307) pessimistischer Behauptung anschließen, dass ›the philosopher’s stone of an overall point-of-view model has not been, probably cannot be, discovered‹, mit Jahn (2005: 176) auf den ›unschönen Seiteneffekt‹ verweisen, ›that the non-specialisert reader is often confronted with intractable ambiguities‹«, Kuhn (2011, S. 122). Die Frage zur Einholung eines kommunikativen Gefüges für den Film gehört zur Problematik rezeptionsästhetischer, semiologischer, kognitiver Filmansätze, die hier rückgestellt wird. Das betrifft also auch die Problematik der »Enunziation« oder dessen, was Kuhn erzähltheoretisch-neutraler die »visuelle« (VEI) beziehungsweise »filmische Erzählinstanz« nennt, siehe Kuhn (2011, S. 81-118), darin Kapitel 3. Zur Auseinandersetzung mit der filmischen Enunziation im Kontext semiologischer und psychoanalytischer Ansätze siehe Teil I in Lie (2012, S. 9-136).
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Diese Strategie der Konnotationserzeugung über die Musik lässt sich auch in anderen Anreiseszenen in Emigrationsfilmen finden.28 Die Landstraßen zum Dorf sind von Länge und Ferne gekennzeichnet und produzieren Eindrücke der Abgelegenheit. Die letzte Einstellung vor Einfahrt ins Dorf mit der Brückenüberquerung zeigt dabei schon die nahende Ankunft des Busses im Dorf an, weil im Hintergrund erste Gebäude zu sehen sind. Dass der Reisebus dann vor der Teestube hält, sollte nicht verwundern, da er als der männliche Treffpunkt und öffentliche, nur für Männer reservierte Ort, den äußersten Rand des Dorfs markiert. Schon in Davaro wurden die Menschen an der Teestube als letztes von der gehenden Menge ›hinfort getragen‹.29 Weil die Teestube als öffentlicher Bereich stets am äußersten Rand situiert ist und dort die Ankunft einsetzen muss, stellt sich die Ankunft auch als gesamtsoziale Außerordentlichkeit für das Dorf her: Die Anreise ist stets Ereignis, denn die Teestube markiert den Eintritt ins Dorf (Schwellenvorgang), den liminalen Zustand, und die Dörfler_innen an der Teestube führen das Willkommenheißen dort auf (Zeremonie).
7.3.3.
Teehaus als Eintrittsmarker und Herstellung des ersten heteronormativen, ordnungsindizierenden Orts
Der Heimatort ist mit dem Teehaus als Eintrittsort dabei heterosexuell und homolog30 strukturiert. Teestuben oder eigentlich Cafés31 , markieren oft jene Schnittstelle innerhalb des Dorfes, an welchen sie als informationsdistribuierende Stätten bestehen. Sie sind der Ort, an dem der männliche Tratsch stattfindet. Während die Teestuben in der migrantischen Kultur in Deutschland versteckte Orte sind – und das sind sie oft auch in den türkischen Dörfern selbst –, taucht die Teestube im türkischen Film stets als zentrale, öffentliche Kommunikationsschnittstelle auf. Ihre männlichen Besucher sind 28 Wie viele andere Elemente des Emigrationsfilms wird auch dieser Aspekt der Dorfkonnotierung durch die Musik in Davaro aufgegriffen und gewendet. Statt des Autos, das den Fahrer im Innenraum anonymisieren würde, sodass die Volksmusik entweder als Hintergrundmusik oder als Radiomusik in der Diegese ertönte, ist die Musik in Davaro dem Singen des Emigrationssubjekts überantwortet. Im satirischen Film ertönt die Musik damit nicht einmal durch das Radio, jenem modernen Massenmedium, sondern allenfalls als menschlich-körperlich mediatisiertes, aber bis zur Ankunft im Off hörbares Produkt seiner Stimme, das zu entziffern den Personen seines intimen Nahfelds überlassen ist: Nur Verlobte Cano und Mutter Salo erkennen innerhalb der Menge Memos aus der Ferne ertönende Stimme. Das Lied ist in der einfachen Mediatisiertheit durch die Stimme keinem technischen, elektronischen oder extra-diegetisch-filmischen Abspielen überlassen. Die einfache Produziertheit des Lieds destabilisiert die Vorstellung von der Autorückkehr oder einer solchen, die den Statusaufstieg assoziieren hülfe. 29 Hier ist es mit der Teestube als männlich besetzter Ort, der zum männlichen Draußen gehört und die Dorfgrenzen markiert, zugleich sinnvoll an die Homologiebeziehung zu erinnern, die Bourdieu bei den Kabylen (komplexer als hier dargelegt) untersucht. Vgl. Bourdieu (2009, S. 48-65). 30 Bourdieu (2009, S. 48-65). 31 Der Ursprung der Teehäuser geht auf die Kaffeehauskultur in Europa zurück. Die Kaffeehäuser finden ihren Eingang ins osmanische Reich im 16. Jahrhundert. Im Türkischen werden die Teestuben daher noch immer als kahve (Café) bezeichnet. Dabei ist dort weniger der Kaffee als der in kleinen Tulpengläsern getrunkene Schwarztee fast ausschließlich konsumiertes Getränk. Vgl. Ceylan (2006, S. 182ff.).
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in türkischen Filmen darüber hinaus auch eine diegetische Interpretationsinstanz, die die Geschehnisse im Dorf vorwegnimmt und/oder evaluiert, weil sie miteinander darüber tratschen. Wegen dieser Eigenschaft als zentrale Informations- und Evaluierungsschnittstelle ereignet sich die Ankunft des Remigranten oft auch zunächst dort: An der Teestube führt kein Weg vorbei.32
7.3.4.
Und doch: Eine ›stille‹ Differenzmarkierung der Andersheit
Weder das Äußere Hasans noch Lenas erwecken auf Seiten Esats oder durch anderweitige filmische Inszenierungsformen Eindrücke von Exklusivität: Hasan, als Hut, hellen Anzug mit Krawatte und Armbanduhr tragender Mann, wird zwar als einem visuellen othering überantworteter Protagonist gezeigt, doch er wird in keine kamerablicktechnische Sondierung überführt wie zum Beispiel bei anderen Ankünften. Bemerkenswert an der Figur Lena ist, dass sie über keine allzu grellen blonden Haare verfügt wie viele andere deutschen Frauenfiguren türkischer Emigrationsfilme.33 Was sie in einen Raum einer möglichen Wahrnehmung als Fremde rücken könnte, ist also allenfalls ihre Kleidung, ihr kurzes Kleid und ihr Nichttragen eines Kopftuchs, ihre Sprache, ihr Habitus. Erst im dörflichen Kontext, in dem ›moderne‹ Kleidung abnorm erscheint, wird ein solches Aussehen damit zur Indikation einer Nicht-Zugehörigkeit zum Dorf beziehungsweise einer sozialen Verortung des entsprechenden Subjekts als Städter_in. So überführt die Ankunft im Dorf Lena zugleich in einen sexuellen Begehrensraum, der sich an den Blicken des Raufbolds als allererstes zeigt. Als sie an der Teestube ankommen tritt aus einer Tür jener Raufbold, der sie dann beobachtet und später ihre Vergewaltigung und Ermordung verantworten wird. War in Bir Türke Gönül Verdim die Stadt noch der Ort, in dem die fremde Frau als begehrenswertes Sexualobjekt für die türkischen Männer entstehen konnte, hat sich die Situation in Acı Zafer damit verkehrt – das Anatolische ist hier für die fremde Frau nicht minder gefährlich. 32 Was in Davaro schon in jener Spiegeleinstellung deutlich wurde, innerhalb der die Leute vor der Teestube durch die Menge hinfortgetragen wurden, findet ihre parodistische Verhandlung im Film Kibar Feyzo (Yılmaz (1978)), die ebenfalls eine klassische ›Kemal Sunal‹-Filmkomödie ist: Nachdem Feyzo und Sülo, zwei junge Männer (einer davon erneut Kemal Sunal, der Protagonist aus Davaro) vom Wehrdienst ins Dorf heimkehren und am Dorfeingang aufeinandertreffen, entsteht zwischen den beiden ein Wettlauf. Beide wollen um die Hand derselben Frau anhalten und wer beim ağa als Erster antanzt, der kann sich der Gunst des Hierarchen schon sicher sein. Als beide nun also durch das Dorf rennen, rennt Feyzos Mutter hinter ihrem Sohn her, denn sie will nicht, dass er ihren gemeinsamen Ochsen als Mitgift für die von den beiden Wehrdienstheimkehrern begehrte hübsche Zeyno ausgibt. In mehreren Einstellungen sehen wir, wie Feyzo, Sülo und Feyzos Mutter an der Teestube eine/r nach der/dem anderen vorbeirennen. Die dort sitzenden Männer blicken den ein ums andere Vorbeirennenden staunend hinterher und geben nun Mutmaßungen darüber ab, woher diese Eile der Rennenden herrührt und ob Feyzo von seiner Mutter wohl »getötet« würde, wenn sie ihn erreichte. Hier wird die Teestube als ein Ort des Müßiggangs, an dem sich die Informationen und Gerüchte des Dorfs akkumulieren, parodistisch durch die Desinformierung der Dörfler_innen und die Hektik und Geschwindigkeit der Laufenden persifliert. Denn eigentlich huscht an der Teestube kein noch so harmloses Gerücht vorbei. 33 Bei der Darstellerin der Lena handelt es sich um die türkische Schauspielerin Deniz Erkanat, die in Filmen eigentlich häufiger mit roten und braunen als mit blonden Haaren erscheint und so kontraintuitiv besetzt wurde – vielleicht in Abgrenzung zur hyperblonden Eva in Bir Türke Gönül Verdim.
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Wie in den meisten anderen Rückkehrer_innenfilmen ist auch hier der Sohn als Mann mit Überpotenz gezeigt, der aufgrund eben jener Widerständigkeiten der Fremde, einem irgendwie guten Wesenskern treu geblieben und damit seine physischen wie psychischen Stärken (Willenspotenz) multipliziert zu haben. Der Gewinn des Emigranten, der die Fallhöhe durch den Angriff der Antagonisten und damit das Dramatisierungspotential erhöht, fungiert hier auf dreierlei Ebenen: dem ökonomischen Gewinn durch das Angesparte, dem Statusgewinn durch den soziohierarchischen Aufstieg als Emigrant, der sich durch das Anerkennungsplus der Dörfler ergibt und den sexuellen Gewinn in Form einer blonden und damit sexuell potenten, begehrenswerten Frau. Letzteres ist neben der westlichen Kleidung das »Hauptmitbringsel« des Emigranten aus Deutschland. Schon für die Antagonisten ist es unverständlich, weshalb der Emigrant eine »fremde Frau« in einen »solchen Kontext« wie den des Dorfs mitnimmt, weil er damit zahlreiche Gefahren lockt. Die blonde Frau ist in dem Kontext zum einen Begehrensobjekt und zum anderen nicht mit der üblichen namus (Ehre) versehen. Der Grund dafür ist, dass eine als vorehelich befleckt angenommene Frau keine namus mehr hat und deswegen als problemfreies Sexualobjekt besonders in Frage kommt. Sie ist als verheiratete Frau in subjektiver Sicht ihres Ehemanns zwar höchstes Wertobjekt/-subjekt. Aber weil sie als sexuell verfügbares, namus-loses Objekt auftaucht, ist sie in der anatolisch-ehrenkodex-beschaffenen Gemeinschaft des Dorfs umso gefährlicher und prekärer situiert, weil sie so auch als minder verfügbares Gut (außer ihr gibt es keine namus-losen Frauen) besonders begehrt dasteht. Dass dem Emigranten die Gefahr von Lena im Dorfkontext bewusst ist, zeigt sich ganz besonders an einer Szene: Lena ist draußen gewandert, wird aber von Hasan mit Verweis auf die Gefahr im Dorfmilieu schnell wieder ins Haus geführt: »Bei uns wird das einsame Spazieren von Frauen nicht gern gesehen«. Hinter dieser kulturerklärenden Aussage steckt auch der Gedanke, dass sie als ehrenlose (namus) Frau auch Begehrensobjekt anatolischer Dörfler fungiert, die in ihr ein tendenziell sexuell verfügbares und sexuell auch aktives (weil vorehelich aktiv gewesenes) Objekt sehen. Die Zuweisung moralischer Werte an die sozialen Milieus, die das ulusal sinema auszeichnete (Stadt = verrucht, Dorf = moralisch integer) ist hier verkehrt. Refiğs Filmprogrammatik des ulusal sinema wird hier, wie wir noch sehen werden, dahingehend pervertiert. Um wieder zu den Anreisesequenzen selbst zurückzukommen: In Baldız, Kara Toprak und Öfkenin Bedeli wiederholt sich das Muster der Anreise als filmeinsetzende Sequenz, die die Migriertheit der Protagonist_innen sichtbar macht. Nachdem ich die Anreisesequenzen in diesen drei Filmen beschrieben und die Plots der auf Deutsch unverfügbaren Filme wiedergegeben habe, werde ich die Anreiseszenen im Hinblick auf zwei Funktionalitäten näher bestimmen: dahingehend, wie sie die sozioräumlichen Instanzen erzeugen (Dorf), und dahingehend, wie die Anreisesequenzen zu einer Andersmachung der zurückkehrenden Migrant_innen beitragen, die sich nicht in körperpräsenten Differenzen (Kleidung, Auto) erschöpft.
7 Figuration II: Anreise
7.4. 7.4.1.
Anreisesequenz II: Kara Toprak (1973) – Räume der Soziohierarchie Anreiseszene in Kara Toprak
In Kara Toprak wurde die Anreise ins Dorf, so wie in Acı Zafer auch, als Orchestrierung von Innen- und Außenaufnahmen des Gefährts gezeigt. Mit der langen Einstellung, in der der Emigrant auf der Landstraßenfahrt in Richtung des Horizonts eine lange Zeit fährt, stellte sie zugleich die Anreise als Empfindung einer Dauer her und ermöglichte Annahmen zur räumlich-geographischen Struktur der filmischen Welt: Das Dorf ist in einiger Entfernung und abgelegen. In der Aufnahme verfolgte die Kamera samt Zoom das Auto bis es im Horizont verschwindet – eine Aufnahme, die im Hinblick auf die Dauer der anderen Einstellungen, die Murat im Auto zeigen, sehr lang ist (zwölf Sekunden). Zeitökonomisch betrachtet stellt die Erzählgeste von der Anfahrt zugleich eine Empfindung der Dauer her. Ihr gingen zugleich auch drei panorama shots des Dorfes voraus, sodass die Fahrtrichtung des Autos, das daran anschließend gezeigt wurde, vorbestimmt wird. Es gibt jedoch keinen konkreteren deiktischen Vorgang außer den der Montage selbst, der die Fahrtrichtung in Richtung des Dorfs eindeutig bestimmen würde. Aufgrund der Ambiguität des Enunziativen bleibt ein Verständnis dieser Kurzschließung der Bilder vom Dorf und der Autofahrt damit allenfalls prekär und ein Produkt einer Konstruktionsleistung. Der Ankunft des Emigranten Mehmet selbst geht nicht nur die schon in Kapitel 6.4.5 besprochene Abwesenheitsszene zwischen Vater und Mutter voraus, sondern auch eine Szene, in der der Vater in der Teestube mit künftigem Schwager über die Vermählung der beiden Kinder spricht (Abb. 25.1). In der hierauf folgenden Szene sehen wir Murats Verlobte Fatma gemeinsam mit der ağa-Tochter Elif im heimischen Kontext beim Bügeln. Sie sprechen dabei unter anderem über die unterschiedlichen sozioökonomischen Status ihrer Väter. Alle drei Abwesenheitsszenen, die von Mehmets Eltern, derjenigen in der Teestube und die von den beiden bügelnden Frauen, erzeugen eine Geschlechts-Raum-Matrix des Dorfs: Der in einem Außerhalb gelegene Ort der Teestube ist ein männlicher Raum des Müßiggangs, der Innenraum eines Hauses ist weiblicher Ort häuslicher Tätigkeiten, die den Frauen zugedacht sind (Bügeln). Das Zimmer im Haus des ağa ist als innenliegende Räumlichkeit jenseits des Bereichs der Öffentlichkeit situiert. Dadurch fungiert es als stereotypisierter Arbeits- und Reproduktionsraum für das Weibliche (Abb. 25.2). Denn den beiden Frauen ist darin auch noch die Praxis des Bügelns zugedacht – eine Praxis, die das Stereotyp von der Hausfrau gewährleistet. Die nächste Szene zeigt schließlich den Handlungsraum des ağas: ein hoher, mit großen grauen Steinziegeln hergestellter Raum, in dem Kisten rund um einen Schreibtisch getürmt sind (Abb. 25.3). Die Szene setzt konkreter damit ein, dass der ağa die Mitgift für seine Tochter vom künftigen Bräutigam entgegennimmt und in den Tresor legt. Sein Status als ağa markiert sich äußerlich bereits an seinem Hut mit Krempe, der
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als Index des entsprechenden Sozialstatus in den Filmen meistens nur ihm, dem ağa, reserviert ist.34 Die sozialen Räume durchlaufen von der Chronologie der Settingwechsel in den Abwesenheitsszenen her betrachtet also eine Richtung, die vom Dorf als sozio-geographische Größe hin zum Elternhaus (Familie), zur Teestube (patriarchalischer Ort der Öffentlichkeit), zu den Innenräumen des ağa-Hauses (weiblicher Arbeitsraum) und zum Verhandlungsraum des ağa (Katakomben mäßig, jenseits des öffentlichen Bereichs) führt. Die sozialen Räume treten separier bar und eindeutig differenzierbar voneinander auf. So wird das Dorf in seiner patriarchalischen (Teehaus und verheimlichte Frauen) und soziohierarchisch-feudalen (ağa) Soziostruktur erzeugt, die noch in ihrer Richtungslogik vom Äußeren zum Inneren hin verläuft: Vom öffentlichen Außen der Teestube, zum heimischen Innen des häuslichen Arbeitsraums der Frauen, zum versteckten Katakomben-ähnlichen Verhandlungsraum des ağa, der das Geld auch noch in seinem Tresor, also einem Raum der Unverfügbarkeit versteckt. Visuell ist dies auch noch durch einen Zoom-Out vom Tresorinneren auf das räumliche Umfeld vollzogen. Die Unverfügbarkeit des ağas und dessen Raum wird vorher noch von der ağa-Tochter und Murats Verlobten im Dialog antizipiert, als die Letztgenannte davon spricht, dass der ağa den eigenen Bruder nicht an sich und seine Tätigkeiten heranlasse, so als ob sie »keine Geschwister« wären.35 In der nächsten Einstellung kommt Mehmet schließlich im Dorf an: Es erzeugt sich eine Ikonographie von der Emigrantenankunft. Sie zeichnet sich durch Bilder aus, in denen eine Kindermenge dem ankommenden Auto des Migranten bis zu dessen Stillstand an der Teestube oder einem zentralen Dorfplatz hinterherläuft und der angekommene Migrant von der Dorfmenge mit vollster Aufmerksamkeit umzingelt wird (Abb. 25.4-6). Auch hier ist die Emigrantenankunft wie in Davaro ein soziales Ereignis, das das gesamte Dorf betrifft: Eine Halbtotale Einstellung zeigt die große Menschenmenge, die sich um den Ankommenden gebildet hat. Die Emigrantenankunft wird ein öffentliches, das Dorf als Gesamtheit betreffendes Ereignis inszeniert, das mit dem Einsetzen an der Teestube, die patriarchalische, bestehende homologe Ordnung offenbart, in dem die Frauen aus dem öffentlichen Ereignis zunächst einmal ausgespart bleiben. Kinder markieren die Ankunft als ein solches öffentliches Ereignis. Als affektiv motivierte diffuse Größe versehen sie die Bilder von der Emigrantenankunft mit einer 34 Im Klassiker Kibar Feyzo (»Der höfliche Feyzo«) (1978), einer satirischen Komödie mit dem Davaro-Darsteller Kemal Sunal, die das Feudalsystem kritisiert, wird der Hut als ein Status anzeigendes Kleidungsstück mehrfach im Hinblick auf genau jene Statusfunktion hin parodiert: Als der Protagonist heiratet und ebenfalls einen Hut mit Krempe trägt, zertritt der ağa den Hut des Bräutigams, denn der fötr, so der türkische Begriff für den Hut mit Krempe, ist für den ağa reserviert und Feyzo habe sich gar angemaßt, einen schöneren als den vom ağa zu tragen. Als im Laufe des Films Feyzo Bediensteter im Hause des ağas wird, setzt sich Feyzo auf den Hut, um von ağa in die Stadt verbannt zu werden. Auch hier wird das symbolisch-indikative Kleidungsstück zum Gegenstand einer Geste, die das soziohierarchische Gefälle anzugreifen versucht. Oft ist der Hut jedoch auch für einige ›gewöhnliche‹ Dörfler genutzt, ohne im Film dahingehend erzählerisch verhandelt zu werden (zum Beispiel durch einige der Figuren in Baldız, beispielsweise einer der Teehausbesucher, siehe Abb. 26.7). 35 Elif und Fatma sind also Cousinen.
7 Figuration II: Anreise
Abbildung 25.1-6 – Standbilder aus Kara Toprak (1973)
spezifischen Unübersichtlichkeit, die aus der relativ offenen Dichtheit der einzelnen Kinder resultiert, die sich im Verfolgen des Autos als dessen Schweif darstellen. Das Motiv der hinterherrennenden Kinder verdichtet allerdings auch das Migrationsereignis in eine visuelle Metapher: Wenn das Auto für den Westen und die Kinder als hoffnungsvolle, davon verführte Subjekte steht, dann ist das Hinterherrennen zugleich eine Dopplung der Migrationsfiguration der Gastarbeiter_innen. Sie ›rannten‹ dem Westen in der Hoffnung auf die Erfüllung eines besseren Lebens ›hinterher‹. Wenn das Auto dann schneller fährt, als die Kinder rennen, heißt das nicht, dass der Westen als Sehnsucht den Kindern davoneilt oder unerreichbar ist. Hier in Kara Toprak ist das Auto nur vermeintlich schneller, denn als die hinterherrennenden Kinder abgehängt sind (Abb. 25.4), rennen Kinder diesmal aus dem unteren Off des Bildkaders heraus frontal auf das Auto zu (Abb. 25.5): Kindheit ist überall. In Baldız ist das Hinterherrennen der Kinder relativ kurzgehalten, die Anreisesequenz dagegen zeigt paradigmatische Qualitäten einer Emigrantenheimkehr.
7.5.
Anreisesequenz III: Baldız (1975) – Präsentationsraum des Visual Othering
In Baldız (»Schwägerin«) (1975) wird die Anreise eines Emigranten, der zum Frauenhelden geworden ist, von einem Moment an gezeigt, in dem er auf einer Landstraße in der Türkei Richtung Heimatdorf fährt. Der Film, der mitten in der Phase der Sexklamotten der 1970er entsteht, setzt mit einem tracking shot ein: Die Kamera filmt an der Fahrertür des BMW entlang die Landstraße ab. Autos der Gegenfahrbahn rasen vorbei. Die Fahrbahnstreifen fließen in die linke untere Ecke der Kadrage und lassen so die Schnelligkeit des Autos vernehmen. Der Horizont samt Fluchtpunkt wird sichtbar und die linke Straßenseite zeigt die dürre, gelbe Landschaft an, in deren Hintergrund der
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leicht bewölkte blaue Himmel zu sehen ist (→): Die Landstraße wird als befahrene Straße eines schnellen Fahrzeugs sichtbar und die Motorengeräusche, die eine hohe Drehzahl vermuten lassen und intensiv hörbar sind, ergänzen den Eindruck der Schnelligkeit um den Eindruck eines arbeitenden, rasenden Motors. Was in Kara Toprak auf die Fixierung einer Dorfanreise und Anderswerdung des Emigranten zielt, wird in Baldız zu einer dynamischen, zunächst nicht als Emigrantenanreise vernehmbaren Autofahrt, in der die Fahrtrichtung irrelevant bleibt. Die Einstellungen zeigen Nahaufnahmen einzelner Elemente, die ihn als visuell Andersgewordenen herstellen (goldener Ring [Abb. 26.1], Sommerhut mit Krempe, weißer Anzug). Die Anreise kurz vor Ankunft im Dorf ist dabei als von der Musik orchestrierte Montage von Außen- und Innenaufnahmen der Fahrt konzipiert. Hier wird ein damaliger Musikhit von Tülay Özer gespielt (İkimiz Bir Fidanın Güller Açan Dalıyız, »Wir beide sind der eine Ast eines Rosensprosses«), der mit seinem fröhlichen Tonus und seinem durch Tamburin und claps erzeugten Rhythmus vor allen Dingen für die Zuschauer_innen der Zeit oder Musikversierte Wiedererkennungs- und Unterhaltungswert besitzt. Profilaufnahmen des Emigranten wechseln sich mit einzelnen Aufnahmen von Motiven ab, die Konnotationen von Europäität und sozioökonomischen Aufstieg bergen: Dreispitze von Flaggen europäischer Länder (Abb. 26.2), der goldene Ring (Abb. 26.1), die Kleidung, der gelbe BMW als deutsches Auto (Abb. 26.3), deutsche HB-Zigaretten. Das Gesicht des Emigranten wird dabei erst nach den Einstellungen der einzelnen Elemente sichtbar. Das Gesicht entsteht als Gesicht eines Deutschländers in der Wahrnehmung also schon durch die Einstellungen zuvor: the frames of »Deutschländer«.36 Die Anreiseszenen sind jedoch nicht nur als Sichtbarmachungen der Reisebewegungen zu verstehen, sondern sie bieten den Rahmen für die Filmung des Autoinnenraums, in dem dieser gleichzeitig in eine Präsentationsbühne transformiert ist: Sowohl in Kara Toprak als auch in Baldız werden die Elemente, die die Fahrer als Emigranten markieren, durch entsprechende Einstellungen aus je verschiedenen Blickwinkeln fokussiert (mindestens Seitenprofilaufnahme), die den Innenraum als Präsentationsraum für die Anzeige der visuellen Andersgewordenheit des Emigranten nutzen.37 In Kara Toprak äußert sich das beispielsweise in einem vielfachen Schuss-Gegenschuss zwischen Profilaufnahme Emigrant und PoV aus dem Auto heraus auf die Straße, wobei mit jedem Wechsel auf die Profilaufnahme ein anderes Element des Emigranten fokussiert wird: mal seine Zigaretten, mal seine Armbanduhr (Abb. 14). Schwerer als das erzählerische Moment einer Andersgewordenheit wiegt der expressive Aspekt der Anreiseszene in Baldız, denn sie vermittelt in dieser dynamischen 36 Gemimt wird der Emigrant von Kadir İnanır, einem der bis heute bekanntesten Schauspieler der Türkei. Mit markantem Schnurrbart, den er für seine Rollen wie Tom Selleck fast nie abrasiert, macht er sich besonders in Melodramen und Actionkrimis einen Namen. Neben seinem Schnurrbart ist besonders seine Sprechweise in seinen actionlastigeren Filmen sein Markenzeichen, in denen er häufig einen Gangsterboss oder Raufbolden spielt. Sein synchronisiertes Sprechen zeichnet sich dadurch aus, dass es so klingt als befinde sich vor jedem Wort, das er spricht, ein ›n‹. So wird aus dem Ausspruch ulan, was so viel bedeutet wie ›Mann!‹, das Wort ›nülen‹. Doch in den Filmen der 1970er ist er zugleich auch Frauenheld und -schwarm und es ist diese Seite seiner schauspielerischen Fähigkeiten, die sich der Sexklamauk nutzbar macht. Zu İnanır im Allgemeinen siehe Scognamillo (2010, S. 332). 37 Alkın (2016a, S. 110f.).
7 Figuration II: Anreise
Abbildung 26.1-9 – Standbilder aus Baldız (1975)
Szene zuvorderst ein Lebensgefühl – ein Lebensgefühl von Leichtigkeit und des Genusses, das sich im genussvollen Rauchen und der Fröhlichkeit vermittelnden Mimik des Emigranten, dem Abspielen eines populären von Fröhlichkeit getragenen Liebessongs und dem genießenden Zuhören des Fahrers (sichtbar an dem rhythmischen Klopfen auf das Lenkrad) zeigt. So erzeugt die Szene zugleich eine genre-entsprechende Atmosphäre: Sexklamotten sind humoristisch und von einer Lebensfröhlichkeit und -leichtigkeit getragen. Sie soll in dieser Szene vermittelt werden. Im Hinblick auf die räumlichen Besonderheiten des Heimatorts finden sich keine spezifischen Verfahren, die es als Dorf schon vorab durch beispielsweise panorama shots explizit markierten. Es gibt in der Szene also keine das Dorf als abgeschlossene Ortsentität erzeugende, dezidierte Sichtbarmachung. Erst das Abbiegen von der Landstraße in eine Wohngasse lässt auf die Einfahrt in eine Kleinstadt/das Dorf schließen. Die Emigrationssituation wird also nicht an der Reise selbst, sondern in den Fremdobjekten wie der Kleidung, den Zigaretten, den Dreispitzen als solche vernehmbar. Mit der Einfahrt ins Dorf ruft sich allerdings das Motiv der hinterherrennenden Kinder wieder auf (Abb. 26.4-6): Die Ankunft des Wagens ist von einer laufenden Kindermenge begleitet. Sie ist frontal gefilmt, das Auto und die Kinder laufen auf die Kamera zu. Hier reproduziert sich die Charakterisierung der Lokalisierungsaspekte aus Kara Toprak. Es ist kein paralleles Mitlaufen der Kinder, sondern das Auto ist ihnen etwas voraus. Hier reproduziert diese räumliche Verortung die soziale. Das Dahinter-Sein der Kinder und das Voraus-Sein des Emigranten gibt das Verhältnis von sozioökonomischer Stel-
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lung wieder. Die extreme Vogelperspektive auf die Ankunft erlaubt das Ankunftsereignis als gesamtdörfliches Ereignis zu verstehen. Wir sehen die Kinder und die Teestube sowie den gelben BMW zwischen ihnen stehen. Dieser ›göttliche‹ Blick aus einem Irgendwo verortet zugleich die Sozialität der Kamera als eine solche, die über dem Dorf steht. Zuschauer_innen haben den Akteur_innen in dieser Szene aufgrund der Überblicksmöglichkeit und damit der sozialen Größendimension des Ereignisses informationspolitisch etwas voraus. Die Frauen sind von der konkreten Lokalität dort ›unten‹ jedoch ausgeschlossen. Sie können allenfalls aus ihren Fenstern, also den Öffnungen, aus denen heraus in den öffentlichen Raum geblickt werden kann, das Ereignis der Ankunft des Emigranten beobachten (Abb. 26.6). Die Einstellung auf die Frauen selbst ist ein Blick von unten auf sie: Die Politik der Positionalität der Kamera auf die Frauen in diesem frame ist eine patriarchalische, denn sie selbst verbleiben so als Objekt einer männlich situierten Blickakt-Instanz.38 Der Innenraum, in dem sie sich befinden, wird nicht blickmäßig bewohnt oder begangen (die Kamera bleibt ihm fern). So reproduziert sich in der Verortung der Kamera noch die Politik des patriarchalischen Raums des Dorfs. Doch diese Analogie, die noch in feministisch-filmtheoretischer Hinsicht und mit Blick auf die Durchsetztheit der männlichen Herrschaft auch in modernen Gesellschaften hinfällig bleiben könnte, wird in den Anreisesequenzen eines anderen Films noch interessanter zu untersuchen sein. Bevor sich die kommenden Ausführungen diesem Film widmen, lohnt es einen genaueren Blick auf seine Abwesenheitssequenz und den Plot von Baldız zu werfen, der einen differenzierten Einblick in die Filmkultur jener 1970er Jahre und der Involvierung von Emigration darin ermöglicht.
7.5.1.
Die Abwesenheitssequenz in Baldız: Ein Mini-Re-Exkurs
Es lohnt sich hier die Abwesenheitssequenz genauer anzuschauen, weil sich an ihr die soziohierarchische, feudalistische und so klassistische Dimension der Emigration im Dorfkontext besonders deutlich erörtern lässt, wurde sie in den bisherigen Analysen noch weitgehend ausgeklammert. Die Abwesenheitssequenz des Films besteht hier in einer Rasurszene, die jedoch erst auf die Ankunftsszene Hasans folgt: Sein Vater ist Barbier und rasiert den wohlhabenden Şükrü Bey (Abb. 26.7-9). Die Ansprache als bey durch Hasans Vater indiziert einen gehobenen Status des Rasierten. Das soziohierarchische Verhältnis reproduziert sich in der gezeigten Dienstleistungssituation, denn der eine übt eine Dienstleistung für den anderen aus. Das Sich-Rasieren-Lassen wird als eine soziohierarchische Konstellation angenommen und hier auch als solche etabliert, in der der Barbier als Dienstleistungserbringer für den Kunden erscheint. Die Rasur vollzieht sich jedoch mit einem Barbiermesser, jenem Rasurinstrument also, das schon bei geringer falscher Handhabung Verletzungen am Rasierten hervorrufen kann. Mit der unmittelbaren Nähe des scharfen Messers während der Rasur am verletzlichen Organ des Halses scheint die in der Dienstleistungssituation enthaltene Soziohierarchie aber zugleich einem potentiellen Kippzustand überantwortet. Der Barbier verfügt mit dem Barbiermesser, dessen Qualität darin liegt, dass es so scharf ist, 38 Es ist noch ausgeschlossen, dass die extreme Vogelperspektive mit ihrem Blick als PoV gleichgeschlossen würde, die Vogelperspektive ist zu aufsichtig.
7 Figuration II: Anreise
dass es nahezu keines menschlichen Hinzutuns nötig ist, über das Leben des Kunden. Doch diese machtlogische Inversionsqualität in der Rasursituation durch ein Barbiermesser bleibt filmisch unartikuliert und allenfalls der Vorstellung der Zuschauer_innen überlassen, die die Konnotation der Rasursituation mit dem Barbiermesser einzuordnen wissen. Das Gespräch der beiden Väter beginnt mit einer Zusicherung: Hasans Vater versichert, dass sein Sohn trotz des sozioökonomischen Aufstiegs als Emigrant nicht von Şükrü Beys Tochter absehen werde. In den folgenden Dialogen betont Şükrü Bey mehrmals seine wirtschaftlich gehobene Stellung im Dorf. Er holt sich bei Hasans Vater mehrmals die Zusicherung darüber, dass der emigrierte Sohnemann nach seiner Rückkehr für ihn und unter seinen Anweisungen tätig sein müsse, denn ein »einziger Aufgeweckter [uyanık im Original] ist genug für dieses Dorf«. Dabei wird das Gespräch durch over-the-shoulder shots zwischen Rasierendem und Rasierten gezeigt und auch im weiteren Verlauf ihrer Konversation holt sich Şükrü Bey unentwegt bei Hasans Vater die Zustimmung über seine gehobene soziale Stellung im Dorf ein. Eine dritte Person, die in deren Nähe rauchend sitzt und Tee trinkt, gibt ebenfalls zustimmende Antworten dazu ab. So werden die in der Gesprächssituation von Şükrü Bey artikulierten Aussagen, die seinen sozialen Status betreffen, durch die dritte Person versichert. Die Überbetonung der sozialen Stellung Şükrü Beys durch seine absichernde Artikulation von Fragen erzeugt einen umso größeren Eindruck von seiner Angst, seinen Status im Dorf zu verlieren. Diese Angst offenbart sich besonders deutlich, nachdem Hasan samt Dorfmenge genau mit Beendigung der Rasur bei seinem Vater ankommt. Da bleibt Şükrü Bey kurz die Fassung verlierend im Stuhl sitzen und richtet folgende Worte an sich selbst, während alle anderen um ihn herum neugierig an den remigrierten Hasan herantreten: »Schau dir den Jungen an! Er kommt prunkvoller an als der Landrat. Bravo! Doch Şükrü, bleib sitzen, wo du bist! Er soll zu deinen Füßen kommen. Mach dich rar!« Damit bereitet die Abwesenheitsszene in Baldız zweierlei vor: Zum einen wird die soziohierarchische Differenz zwischen Emigrantenvater und dem wohlhabenden Şükrü Bey in jener Dienstleistungsrelation etabliert. Zum anderen werden die Annahmen über den sozialen Aufstieg des Emigranten intersubjektiv versichert. Der Konflikt auf der Ebene der Soziohierarchie zwischen Şükrü Bey und dem Emigranten wird angerissen und die Ängste des Ersteren bleiben artikuliert. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Hasans Vater und Şükrü Bey wird sichtbar, sodass die Angst des Statusverlusts auf Seiten Şükrü Beys in der Barbierszene deutlich wird. So zeigt sich auch hier, wie der Emigrant als solche Instanz etabliert wird, die eine bestehende soziale Ordnung destabilisiert und gefährdet. Wie noch in Öfkenin Bedeli deutlich werden wird, kann sich auch dieses Verhältnis Destabilisierung auf Seiten des Emigranten und Ordnung auf Seiten des Dorfs als soziales Gefüge verkehren. Doch zuvor noch ein Blick auf den Plot der Sexklamotte, die vermittelt, wie jene Filmkultur zur Zeit der türkischen Sexfilmwelle hinsichtlich ihrer Filmwerke funktioniert.
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7.5.2.
Der Plot von Baldız
Hasans Vater verkündet seinem Sohn, dass er Şükrü Beys Tochter heiraten müsse, da sie bei diesem hoch verschuldet seien. Davon ist Hasan, der mit Nachnamen Terbasan heißt (»Schweißdrücker«, sexuelle Anspielung), zunächst nicht sehr angetan. Doch da erinnert er sich an die schöne, Kaugummi kauende Frau, die er bei seiner Ankunft an der Teestube sah, die allen Männern im Dorf den Kopf verdrehte. Als Hasan bei Nennung von Şükrü Beys Nachnamen erfährt (Arnamus, »Scham-Ehre«, als dialektischer Begriff wohl zum sexuell anzüglichen Terbasan erwählt), dass die hübsche Frau die Tochter des Patriarchen ist, willigt er in die Heirat ein. Die Hochzeit ist auch dringend nötig, denn zum Leide des verschuldeten Vaters kommt Hasan aus Deutschland pleite zurück und so bleibt ihnen nur, dass Şükrü Bey ihnen die Schulden erlässt. Hasans gelber BMW ist da ein schwacher Trost für den besonders enttäuschten Vater. Beim ersten Familientreffen im Hause der künftigen Schwiegereltern muss Hasan feststellen, dass er nicht die schöne Tochter, sondern deren hässliche Schwester heiraten muss. Hasan gibt sich empört. Allerdings machen seine Eltern ihm Druck und wollen seine Weigerung nicht wahrhaben. Als beide Familien gemeinsam picknicken und alle nach der ausgiebigen Mahlzeit ein Mittagsschläfchen halten, macht sich Hasan die Situation zu Nutze und schläft in den Sträuchern mit der schönen Schwester seiner Verlobten, die sich dem gut aussehenden Mann aus Liebe hergibt. Die Ausführungen eines Fußballkommentators über ein spannendes Spiel samt Torabschluss werden mit Aufnahmen der in den Sträuchern Schlafenden samt ihrer Oberkörper gegengeschnitten. Die Ausführungen zum Spiel werden so zu Metaphern über den stattfindenden Sex. Dass sich ausgerechnet ein Hahn auf die Schulter Şükrü Beys setzt, symbolisiert den Sieg des potenten Hasan über den »scham-ehren«-haften Status des wohlhabenden künftigen Schwiegervaters, der durch den Unschuldsverlust seiner Tochter vom Ehrverlust bedroht ist (nur die Heirat der beiden könnte diesen Verlust kompensieren. Es vergehen Tage, in denen immer noch keiner von dem vollzogenen Geschlechtsakt zwischen Hasan und Nacmiye weiß. Doch der Streit zwischen Hasan und seinen Eltern wird immer heftiger. Hasan will die hässliche Verlobte nicht heiraten, doch die Eltern pochen darauf, da sie schuldenfrei leben wollen. Nacmiye ist aufgrund ihres Unschuldsverlusts in schwieriger moralischer Lage und macht sich über die Untätigkeit Hasans Sorgen, der zögert die Situation ihrer Liebe zueinander aufzuklären und ihre Heirat zu initiieren. Als ein Brief von Nacmiye, den sie an ihren Liebhaber richtet, ihrem Vater in die Hände fällt und dieser die ganze Situation überblickt, verschwindet Hasan von der Bildfläche (Lebensgefahr aufgrund der Verletzung des Ehrenkodex) – zu allem Übel ist Nacmiye von ihm auch noch schwanger. Nacmiyes Bruder Azmi macht sich schließlich auf die Suche nach dem Playboy, der sich zwischenzeitlich in Istanbul mit anderen Touristinnen vergnügt. Azmis Ziel: Hasan wegen der Ehrverletzung zu töten. Schon relativ bald kann Azmi Hasan in der Großstadt ausfindig machen. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, verspricht Hasan dem Naivling Azmi, der einen Hahn als Haustier hält39 , ihm bei seinen ersten sexuellen Erfahrungen mit Frauen zu helfen. 39 In der türkischen Sexfilmwelle wird der Hahn zum Symbol sexueller Potenz, zumal er als alleiniges männliches Tier sich einen ganzen ›Harem‹ an Hühnern hält. Auf dieser Vorstellung fußt auch die-
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Doch damit nicht genug, dass Hasan den einfältigen Mann mit seiner sexuellen Gier ansteckt: Hasan und Azmi verfassen Şükrü Bey sogar Briefe, in denen Azmi seinen Vater um Geld bittet, das er angeblich dafür benötige, um Hasan ausfindig zu machen. So reiht sich eine sexuelle Episode mit den europäischen Frauen (eine Helga ist auch wieder dabei) an die andere, und Şükrü Bey erhält währenddessen einen Brief mit der Bitte um Geldüberweisung nach dem anderen. Bei einer Fernsehshow über das »Nachtleben in Istanbul«, die er in der dörflichen Teestube gemeinsam mit anderen schaut, entdeckt Şükrü Bey schließlich seinen Sohn Azmi bei einem gemeinsamen Tanz mit einer Bauchtänzerin – neben Azmi darin zu sehen: Hasan. Die beiden Frauenhelden werden schließlich von ihren Vätern in Istanbul aufgesucht und gefunden. Hasan landet vor Gericht und bekommt Gelegenheit sich zu den Vorwürfen zu äußern und zu verteidigen. Statt seine Schuld des außerehelichen Sex und der Verführung Nacmiyes zuzugestehen, wirft Hasan ihr Täuschung vor und inszeniert sich als Opfer einer verführerischen Frau, die ihn zum Sex gezwungen hätte. Nach einem Wutausbruch der dort anwesenden Nacmiye, schätzt der Richter die Sache entgegen Hasans Aussage ein und verurteilt den Angeklagten auf der Grundlage des 440. Artikels des türkischen Strafgesetzbuches wegen »Beschmutzung der weiblichen Ehre«.40 Weil Şükrü Bey allerdings daran interessiert ist, seine Ehre und die seiner Tochter wiederherzustellen, bezahlt er die Kaution und befreit den Emigranten, damit dieser Nacmiye heirate. Nach anfänglichem Zieren willigt die von Hasan betrogene Nacmiye doch noch ein. Doch kaum hält Nacmiye ihren geliebten Hasan in den Armen, hat es der gut aussehende Casanova schon auf die nächste Dorfschönheit abgesehen. Noch in ihren Armen zwinkert er einer anderen Frau aus dem Dorf zu. Mit einem solchen Plot ist Komödie Baldız einer der wenigen41 Filme, in denen der Remigrant als Casanova und Nichtsnutz heimkehrt. Als relativ früher Film der Sexfilmwelle in der Türkei präsentiert er die charakterliche Veränderung/Zuspitzung des jenige Sexfilmklamotte, mit der die Sexfilmwelle, die sich an die italienischen Vorbilder hielt, erst einsetzte: 5 Tavuk Bir Horoz (»5 Hühner, Ein Hahn«) (1974). Vgl. Ellinger (2017, S. 111-116, hier 113). 40 Dem Wortlaut des ehemaligen Artikels 440 des türkischen Strafgesetzbuchs zu Folge kann nur eine Frau für Ehebruch bestraft werden. Insofern folgt das Urteil im Film nicht der konkreten gesetzlichen Ausformung, denn es besteht zwischen beiden Figuren zum Beispiel keine Ehe und so kann die im Artikel artikulierte Straftat ja nur von einer verheirateten Frau begangen werden: »Artikel 440 türk. StGB: ›Die Ehefrau, die Ehebruch begeht, wird mit sechs Monaten bis drei Jahren Gefängnis bestraft. Wer sich in Kenntnis des Umstandes, dass die Frau verheiratet ist, an dieser Tat beteiligt, wird mit der gleichen Strafe bestraft.‹ Artikel 441 türk. StGB: ›Der Ehemann, der an dem Wohnsitz, den er mit seiner Ehefrau teilt oder in allgemein bekannter Weise an einem anderen Ort mit einer Frau, die nicht mit einem anderen verheiratet ist, wie ein Ehepaar zusammenlebt, wird mit sechs Monaten bis drei Jahren Gefängnis bestraft. Die Frau, die in Kenntnis dessen, dass der Mann verheiratet ist, sich an dieser Tat beteiligt, wird mit der gleichen Strafe bestraft‹«, Rumpf (1999/2003). Die Artikel wurden inzwischen getilgt beziehungsweise radikal geändert. Gründe sind Behebung der Diskriminierung der Frau aus Gründen der Gleichberechtigung. Siehe Onlineportal der Großen Nationalversammlung der Türkei, der einen Aufruf von 13 Personen zur Abschaffung der Artikel enthält, siehe das Protokoll bei der Großen Nationalversammlung der Türkei am 24. Februar 1988, Türkiye Büyük Millet Meclisi (1988). 41 Ausgehend von meiner Filmarchivrecherche: Er ist der einzige.
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emigrierten Mannes als Casanova-Werdung in der Emigration und offenbart sich genremäßig als Sexklamauk.42 Dass sich Emigration zugleich genretheoretisch besonders relevant untersuchen lässt, wurde in Kapitel 3 und mit Rückbezug auf Baldız genauer erörtert. Denn die Abwesenheit des Emigranten im deutschen Ausland ermöglicht im Falle seiner Rückkehr die Gestaltung solcher charakterlicher Eigenschaften wie sie der genremäßig entsprechend zu gestaltende Plot als Anspruch benötigt: Casanova = Sexklamotte; charakterlich ehr- und wertegestärkter Mann = Actionfilm; im Ausland der gurbet (›Fremde‹) ausgesetzer Leiderfahrener = Drama. Das Konzept gurbet ist in den Untersuchungen bislang noch kaum erörtert worden, wobei eine Vielzahl türkischer Emigrationsfilme davon motiviert sind. Gurbet gehört zur kulturellen Matrix der Türkei und ist insbesondere im Migrationskontext konstitutiv: als etwas, das im Kontext des frühesten deutsch-türkischen Kinos der 1960er bis 80er Jahre gar die gesamte Diskurskultur jener Zeit erheblich ausmachte und zur Entstehung eben jenes Begriffs der Betroffenheitskultur führt. Diese umfassende Matrix wird in Kapitel 8.3 im Kontext des Arabeskfilms verhandelt werden, doch bleibt eher den Filmen der Late-Yeşilçam-Ära vorbehalten, da in diesen Filmen das Leben im Dort vornehmliches Handlungssubjekt43 ist. Das ist auch der Grund, warum bislang kaum behandelt werden konnte. Der Umstand der gurbet wird immer dann als vorliegend betrachtet, wenn das Verhältnis von Subjekt und der dazugehörig gedachte Raum der Zugehörigkeit von Trennung bestimmt ist: Den Begriff zeichnet es also aus, dass von ihm immer dann die Rede ist, wenn das Subjekt jenseits der Räume des Eigenen, also displaced ist.
7.6.
Anreisesequenz IV: Öfkenin Bedeli (1973) – Akusmatik und Ambiguitäten der Migration
Öfkenin Bedeli44 ist ein, filmhistorisch betrachtet, relativ unbedeutsamer, klassischkommerzieller Dorffilm Sırrı Gültekins, der mit Hakan Balamir und Meral Zeren in den Hauptrollen eher durchschnittlich prominent besetzt ist. Er erzählt den Konflikt zwischen einem Remigranten und dem ağa und zeigt die Remigration in der etwas mehr als zweiminütigen Sequenz auf eine Weise, die im Vergleich zu den beiden genannten Filmen besonders ambigue bleibt. Die Anreisesequenz (→) setzt mit einem einfahrenden Zug ein, der in Normalhöhe, aus einem Winkel von ca. 45° heraus aufgenommen wird (Abb. 27.1). Der Zug fährt quasi an der Kamera vorbei. Mit Tom Gunning formuliert, 42 Explizit wird die sexuell umfassende Aktivität durch die Figur in einer Szene in der Teestube behauptet, in der er dortigen Kollegen von seinen internationalen sexuellen Beziehungen in Deutschland erzählt. 43 Eine Ausnahme sind Binnenmigrationsfilme. 44 Die untersuchte Filmkopie, die digitale Version eines Fernsehmitschnitts, setzt unmittelbar ein. Nur durch das Anhalten des Films kann vernommen werden, dass der Film überhaupt mit dem Filmen des vordersten Zugwagens einsetzt. Eine später zur Drucklegung der vorliegenden Arbeit erlangte Filmkopie zeigt gar eine gesamte Orchestrierung mehrerer Einstellungen des Zuges.
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der in solchen Szenen eines aus dem Filmbildrahmen rasenden Zuges45 die Situation des Zuschauens bedenkt: »Das Kino behält gleichzeitig den Rahmen (das Rechteck der Leinwand, das vor dem Publikum befestigt und sichtbar ist) und sprengt ihn«46 . Parallel zur Zugeinstellung ist Ayten Alpmans Lied »Memleketim« zu hören, jenes patriotische Lied, das schon den gleichnamigen und in Kapitel 9.1 zu untersuchenden millî sinema-Film begleiten wird. Mit seiner eher harmonischen Tonalität und dem trällernden Gesang wird der Schockeffekt durch das plötzliche Einfahren und Rattern des Zugs entlang der rechten Bildkante kompensiert. Schnitt. Die Kamera wechselt die Aufnahmerichtung um ca. 90°, sodass der nun abfahrende Zug aus derselben Perspektive gezeigt wird (Abb. 27.2) – und zwar so lange, dass das letzte Abteil beim Abfahren in Richtung des Fluchtpunkts verschwindet (Abb. 27.3). Was sich in der Aufnahme in diesem Richtungswechsel zeigt, ist die Perspektivenabhängigkeit von Reisebewegungen: Jede Bewegung, die durch das Zufahren auf die Betrachtungsposition gekennzeichnet ist, endet mit dem Austritt aus dem Bildfeld. Dem Moment vom Austritt des Bewegungsobjekts aus dem Bildkader muss ein Schwenk beziehungsweise Wechsel des Betrachtungswinkels folgen. Vom statischen Punkt aus gesehen endet das Entgegenkommen mit dem sukzessiven Entfernen des betrachteten Reiseobjekts. Schnitt auf eine Totale, die die Blaue Moschee47 in Istanbul zeigt (Abb. 27.4), und von dort aus ein erneuter Schnitt auf die belebte Galata (Abb. 27.5): Dort zeigt sich eine Szenerie eines hohen Verkehrsaufkommens samt Bussen und Autos. Durch einen leichten Schwenk gerät die Galatabrücke in den Blick, an der sich Schiffe auf dem Bosporus befinden. Schnitt: ein Blick auf den Bosporus, auf dem zwei Schiffe zu sehen sind (Abb. 27.6). Das Meer wird nur durch die drei unteren Seiten des Bildkaders gerahmt, dadurch erscheint es grenzenlos. Schnitt. Eine extreme Totale auf die Bosporusbrücke aus Vogelperspektive (Abb. 27.7). Schließlich setzt eine relativ lange Einstellung ein, die aus einem fahrenden Auto geschossen wird. Sie zeigt die Fahrt über die Bosporusbrücke bis fast zum Erreichen des ersten Brückenpfeilers (Abb. 27.8). Schnitt. Sehr wahrscheinlich aus demselben fahrenden Auto heraus zeigt die Kamera nun den Bosporus und Teile der Stadt, die an die Meerenge grenzt (Abb. 27.9). Dieses Prozedere des Schnitts vom fahrenden Auto (erst frontal, dann Aufnahme des Bosporus aus dem rechten Seitenfenster) wiederholt sich. In einiger Entfernung in frontaler Sicht aus dem Auto heraus zeigt sich die Zahlstelle für die Brückenüberquerung (Abb. 27.10): Die Bosporusbrücke gilt damit als überquert. Schnitt auf eine Großaufnahme, in der ein schnauzbärtiger Mann mittleren Alters (Hakan Balamir) im Seitenprofil im fahrenden Auto erscheint (Abb. 27.11). Schnitt auf eine Innenaufnahme aus einem fahrenden dolmuş48 ; die Rücken 45 Zum Verhältnis von Zug und Kino ließe sich an dieser Stelle an Tom Gunnings Einschätzung anschließen, die lautet: »Die Verwandtschaft von Eisenbahn und Kino als Sinnbildern der Modernität wurde weitreichend ergründet«, Gunning (2007, S. 18). Siehe dazu auch Kaes (1998, S. 181-184). 46 Gunning (2007, S. 19). 47 Bei der »Blauen Moschee« handelt es sich um die Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul, die ihren Spitznamen ihrer blau gehaltenen Innenarchitektur verdankt und sicher auch den blaugrau gehaltenen Minaretten verdankt. 48 Ein dolmuş (deutsch: »Er/sie/es ist voll/gefüllt«) ist ein Kleinbus, der Personen transportiert. Sie sind überall in der Türkei üblich. Ihren Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie meist sehr voll sind, da der Reisepreis sehr günstig ist und die Mitnahme spontan auch vom Wegrand heraus erfolgen
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Abbildung 27.1-15 – Standbilder aus Öfkenin Bedeli (1973)
des Fahrers und Alis sind zu sehen, doch der Blick auf die Frontscheibe ist frei (Abb. 27.12). Dort ist eine Straße mit Häusern an den Straßenseiten zu erkennen; in einiger Entfernung Männer, die die Straße überqueren. Das Auto biegt rechts ab und es folgt kann. Dadurch erfüllen sie eine zentrale Aufgabe in dem von permanenter Bewegung gekennzeichneten türkischen Lebensalltag und den unzähligen kleinen Dörfern, von denen aus die Klein- und Großstädte ansonsten kaum wirtschaftlich machbar zu erreichen wären.
7 Figuration II: Anreise
ein Schnitt auf den gelben dolmuş. Dieser ist aus einer Halbtotalen heraus bei der Anfahrt auf eine Landstraße zu sehen (Abb. 27.13). Ein Schwenk folgt ihm und gleichsam erscheinen Bäume im Vordergrund, die kurzzeitig die Sicht auf den dolmuş versperren. Als der dolmuş anhält und Ali aussteigt, rahmt noch ein Teil eines Baums, der sich links im Vordergrund befindet, das Bild. Der Baum ist so nah, dass er in Unschärfe verbleibt. Im Hintergrund sind das Meer zu sehen und der daran angrenzende Wegrand, an dem der Kleinbus hält. Der Ort, den der Emigrant aufsucht, ist in unmittelbarer Nähe zum Meer.49 Weitere Bäume erscheinen auf der Wiese vor der Landstraße. Nachdem der dolmuş abfährt, ist Ali zu sehen. Mit Ledermantel, Koffer, Stiefeln und Mütze steht er auf der Straße und geht erfreut seinen Gang die Wiese hoch, die in der Front zu sehen ist (Abb. 27.14). Dass es sich bei der reisenden Person um einen Emigranten handelt, ist nicht an seinem Äußeren zu ersehen. Weder die Profilaufnahme noch andere, sein Äußeres anzeigende Elemente lassen ihn als »Deutschländer« wahrnehmen. Nachdem Ali über die Wiese gegangen ist, zeigt ein panorama shot mehrere Häuser dicht auf einem Hügel: Das Dorf wird etabliert, im Hintergrund erneut das Meer (Abb. 27.15).
7.6.1.
Der Plot von Öfkenin Bedeli
Im weiteren Verlaufe des typischen Dorffilms ist die Verlobte des heimkehrenden Ali, Kezban, zu sehen. Sie wird vom Tierhändler Yusuf, der inzwischen reich und zum ağa geworden ist, belästigt. Dieser sagt ihr, dass er in sie verliebt sei und sie für sich möchte und greift ihren Arm, damit drohend, dass sie keine andere Wahl habe, als ihn zu heiraten. Ihn von sich abwimmelnd geht Kezban nach Hause zu ihren Eltern. Dort erfährt sie, dass sich gar ihr Vater bei dem gewitzten Yusuf verschuldet hat. Ihre Eltern sagen ihr deswegen, dass sie guttun würde, ihn zu heiraten, damit die Schulden ihrer Familie getilgt würden. Kezban gibt sich empört und spricht Worte der Weigerung und des Unverständnisses für das Verhalten ihrer Eltern sich bei dem Unhold zu verschulden. Nachdem Ali im Dorf angekommen ist und zuallererst seine Schwester begrüßt hat, trifft er wenig später auf den humpelnden und mit Gehstock voranschreitenden Emin, der sein Freund schon aus alten Zeiten ist. Dieser erzählt ihm von den Machenschaften Yusufs: Der hinterhältige Mann habe das Dorf übernommen, nachdem der Vorgängerağa gestorben sei. Doch statt es zu verwalten, habe er es in den Ruin geführt und sei dabei selbst reich geworden. Noch am selben Tag konfrontiert Ali in der Teestube die Männer des Dorfs mit ihrer Nachlässigkeit Yusuf gegenüber. Er macht ihnen Vorwürfe, dass sie sich von einem kleinen Gauner haben hinters Licht führen lassen, der nichts weiter als ein Handlanger des früheren ağas gewesen sei. Noch in der Teestube erfährt Ali, dass sein ehemaliger Partner nun auch seine Herde an sich gerissen habe, die sie beide vor Alis Emigration besaßen. Ali schwört, dass er Yusuf seine Herde niemals überlassen werde, doch, auf Yusufs Gut angekommen, verweigert dieser dem zunächst noch nüchtern auftretenden Emigranten den Anteil seiner Herde mit der Lüge, dass ausgerechnet dessen Tiere verendet seien. Deswegen werde der nun reiche Gutsbesitzer Ali keine Tiere aushändigen können. Wenn er aber wolle, könne Ali bei ihm arbeiten. Der 49 Gemäß der Yeşilçam-Historiographie sind die gefilmten Dörfer fast immer in Şile, also Dörfer, die in ca. 70 bis 100 km Entfernung zu Istanbul am Schwarzen Meer gelegen sind.
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Emigrant rastet hierauf aus, schlägt sich mit den Lakaien Yusufs und schwört Rache. Nach diesem Konflikt gibt es zwischen Ali und seiner Verlobten Kezban ein erstes Wiedersehen, das Ali ein wenig Trost in seiner Rage ist. Yusuf enthält Ali jedoch nicht nur seine Tiere vor, sondern er will ihm gar Kezban wegnehmen. Mit Hilfe falscher Zeugenaussagen seiner Lakaien und seiner Freundin Durdu erstattet Yusuf bei der örtlichen Gendarmerie Anzeige gegen Ali mit dem Vorwurf, dass dieser den Schmuck und das Geld seiner Freundin gestohlen habe. Ali kommt in Untersuchungshaft. Kezban weiß Hilfe, denn zum Zeitpunkt des vorgeworfenen Diebstahls war dieser mit ihr zusammen. Ihre Zeugenaussage dürfte genügen, um seine Entlassung aus der Haft zu veranlassen. Am Tag der Gerichtsverhandlung sagen Yusuf, seine Geliebte und die Lakaien gegen Ali aus. Als Kezban in den Zeugenstand tritt, widerruft sie ihre frühere Aussage, dass Ali mit ihr gewesen sei. Ali ist am Boden zerstört und muss in Haft. Wenig später werden Kezbans Gründe klar: Yusuf hat auf Kezbans Familie wegen ihrer Schulden so viel Druck ausgeübt, dass sie zum Schutze ihres schon kranken Vaters gegen Ali aussagen musste. Im Gefängnis wieder angekommen offenbart seine Verzweiflung, dass Ali ihr trotz des Dilemmas nicht verzeihen kann. Um Kezban zu beruhigen, teilt Alis Schwester Ayşe der besorgten Kezban mit, dass dieser ihr verziehen habe, nur um wenig später durch den machtsüchtigen Yusuf psychisch und körperlich zersetzt zu werden: Die Abwesenheit Alis ausnutzend vergewaltigt und entjungfert der ağa Yusuf die am Fluss waschende Ayşe50 . Alis gehbehinderter Freund Emin beobachtet das Verbrechen an der Schwester des Inhaftierten und geht zum Gefängnis, um ihm die Nachricht vom Schicksal seiner Schwester zu überbringen. Ali ist am Boden zerstört. Nach der rituellen Waschung und einem Gebet am Ort des Verbrechens begeht Ayşe durch den erlittenen Ehrverlust Selbstmord: Sie rammt sich ein Messer in den Bauch und stürzt in den See. Als Ali davon erfährt, ist er am Boden zerstört und die Hilflosigkeit bringt ihn in große Verzweiflung. Bei einem Haftausgang kann Ali vor den zwei Gendarmen, die ihn begleiten, fliehen. Sein Ziel ist das Dorf und die Rache an Yusuf. Im See, an dem Ali vorbeikommt, trifft er auf den leblosen Körper seiner Schwester. Nachdem er sie begräbt und sich die Nachricht davon im Dorf verbreitet, gibt Yusuf seinen Lakaien den Befehl, Ali zu finden, auf das Anwesen zu bringen und seinen Tod als Notwehr zu inszenieren. Doch Kezban kann ihn warnen und überzeugt ihn, mit ihr aus dem Dorf zu fliehen. In einer Höhle geben sich die beiden fliehenden Liebenden einander hin und Kezban verlangt vor einer Kulisse der untergehenden Sonne von Ali das Versprechen, dass er Yusuf nicht umbringen dürfe, sondern dass sie für ein besseres Leben in die Großstadt fliehen würden. Ihrem Versprechenswunsch nachgebend entsendet Ali Kezban wieder zurück ins 50 Die waschende oder Hausarbeit erledigende Frau wird im Yeşilçam-Film oft Opfer einer Vergewaltigung beziehungsweise besonders sexuell begehrt. Zumeist sind die Beine der Frauen zum Zwecke der Tätigkeitserledigung nackt beziehungsweise sind die Frauen in der Hocke, sodass ihr Gesäß für die Figuren in einer zum sexuellen Verkehr einladenden Geste des Bückens positioniert ist – so zum Beispiel auch im Emigrationsfilm Baba (»Vater«) (1971), unzähligen anderen Filmen und auch in dem soeben besprochenen Baldız begehrt der Emigrant Hasan die waschende Nacmiye aufgrund ihrer nackten Unterschenkel und des Blicks auf ihr vom Rock verdecktes Geschlecht.
7 Figuration II: Anreise
Dorf. Dort können Emin und Kezban die Freundin des brutalen Yusuf, Durdu, davon überzeugen, dass ihr Geliebter sie nur für ihren Reichtum ausnutze und später für Kezban fallen lassen werde. Kezban mobilisiert daraufhin die Dorfmenge und Durdu verjagt den heimkehrenden Yusuf mit ihrer Schrotflinte von ihrem Anwesen, an dem wenig später die Dorfmänner samt Kezban ankommen. In die Ecke gedrängt flieht Yusuf aus dem Dorf in die Berge, wo Ali ihn bereits erwartet. Der Gepeinigte kann schließlich den Mörder und Vergewaltiger seiner Schwester töten und sich rächen. Der melodramatische Dorffilm endet in Einstellungen, die Ali in einander abwechselnden Zoomaufnahmen aus jeweils unterschiedlichen Aufnahmerichtungen gar mit Achsensprung und von einem Klagegesang begleitet zeigen: »Der Preis des Zorns« (so der übersetzte Titel des Films) besteht in der nun verlorengegangenen Zukunft mit Kezban, denn aufgrund der Rache wird er erneut in Haft gehen müssen.
7.6.2.
Anreisesequenz: Akusmatik der Blicke und Ambiguitäten der Migration
Die filmische Anreisesequenz, bestehend aus Zuganreise, Kapıkule- und Bosporusüberquerung, Stadtüberquerung, Landstraßenankunft und Ayten Alpmans »Memleketim«Lied, lässt sich nur schwerlich in das narrative Gefüge der Gerechtigkeits- und Rachestory einfügen. Sie bleibt ambigue. Der Emigrant ist weder wohlhabend, noch verfügt er über ein eigenes Auto, noch sind an ihm andersmachende Marker des Deutschländers enthalten, noch bringt er auch verstärkte oder geschwächte oder sonst wie anders erscheinende charakterliche Dispositionen aus der Emigration mit, obgleich er im Verhältnis zu den anderen Dörfler_innen über ein ausgeprägteres Gerechtigkeitsempfinden und ein erhöhtes Selbstbewusstsein verfügt: Die Remigration bleibt ein eigenartiges, allenfalls behauptetes, leeres Gefüge, das aufgrund des Lieds und symbolträchtiger Orte (Kapıkule, Bosporusbrücke, Karaköy-Station) als internationale Anreise erzählt wird. Dabei ist Öfkenin Bedeli mit Blick auf die Konstruktion der Figur des Emigranten aufgrund folgender Aspekte interessant: Erstens verfügt der Emigrant hier über keine ausgeprägten finanziellen Mittel. Nicht einmal ein Auto hat dieser sich anschaffen können und das Geld, das er mitbringt, reicht gerade Mal dafür, sich ein Stück eigenes Land kaufen zu können. Äußerlich finden sich keine der andersmachenden Marker (Kleidung) an ihm. An seiner Remigration auffällig ist auch, dass hier weder die Ikonographie von den hinterherrennenden Kindern bemüht, noch dass die Rückkehr als feierliches öffentliches Ereignis an der Teestube verhandelt wird. Um zumindest ansatzweise eine hermeneutische Einholung der Szene vornehmen zu können, ließe sich sagen, dass »der Preis des Zorns«, so der übersetzte Titel, wohl auch in der mangelnden sozialen Anerkennung des Emigranten liegt. Nicht nur schenken die Dörfler_innen dem Rückkehrer keine Achtung, sondern haben sie mit ihrer falschen Huldigung an einen ausbeuterischen ağa-Nachfolger gar noch demjenigen zum sozialen Aufstieg geholfen, der dem Rückkehrer das Bisschen an Besitz abnimmt, das ihm zu einer würdigen Existenz und einer Zukunft mit seiner Verlobten hätte verhelfen können: Zum »Preis des Zorns« gehört nicht nur die Ausbeutung im Ausland, sondern auch daheim.
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Die visuelle Kultur der Migration
Doch zurück zur Anreiseszene: Auffällig in der anfänglichen Sequenz des Films ist eine Logik der Abnahme im Hinblick auf die Größe und/oder auch Technizität der genutzten Transportmittel, die von Zug, zu Fähre, zu Bus, zu Fuß wechseln. Dieser Abnahmelogik entspricht zugleich eine Abnahmelogik der räumlichen Instanzen, die durch die Fortbewegungsmittel durchschritten werden. Von dem raumoffenen Nirvana, durch das der Zug fährt, zur interkontinentalen Schnittstelle am Bosporus, in dem die Fähren enthalten sind, zum Auto, das den Bosporus und damit interkontinental überquert, zum dolmuş, in dem aus dem städtischen in den dörflichen Kontext übergewechselt wird. Dieses teleskopartige Ineinanderfalten der durchlaufenen geographischen Raumgrößen in Verbindung mit den genutzten Transportmitteln vollzieht so einen filmischen Akt interkontinental-internationaler Migration, die im konkreten soziogeographischen Umfeld des Dorfs sein Ende findet. Die Sequenz entfaltet Migration als geo-hierarchisches System.51 Dabei kommt dem Zug noch am deutlichsten eine indikative und symbolische Last zu: Er enthält in sich die Konnotation einer transnationalen Überquerung, er ist ein Länder verbindendes Gefährt. Doch wir sehen nicht, dass der Emigrant jenes Transportmittel genutzt hätte. Es verbleibt ein gefilmtes Objekt der Mobilität, das bezuglos zu den erzählten menschlichen Akteur_innen oder dem Hauptplot bleibt. Insofern verfügt die Zugeinstellung selbst über einen abstrakten indikativ-symbolischen Charakter. Da wir überhaupt das erste Mal eine menschliche Figur in einem der genutzten Transportmittel bei Anfahrt des dolmuş in der Stadt, also relativ spät sehen, kann sich eine Einordnung der vorhergehenden Szenen als Einstellungen, die Migration darstellen sollen, erst nachträglich ergeben. Die Erinnerungen an die Einstellungen als solche einer Migration können sich erst in der Nachträglichkeit nach Alis Sichtbarkeit als Erinnerungsspuren ergeben. Die Bezugslosigkeit der ersten Einstellungen zu einer konkreten Subjektivität erhalten so aber auch jenen explorierenden Charakter des technischen Dispositivs von der Kamera. Dieser Charakter ist durch den »akusmatischen Blick« verbürgt, der daraus entsteht, dass die Einstellung ohne die Sichtbarwerdung eines menschlichen Akteurs sichtbar wird, dem die Blickposition zugeschrieben werden könnte. Diese Einstellungen erscheinen wegen der fehlenden Figur und ihrem kommentarlosen Charakter dokumentarisch und sind so vorher also noch einer anderen Modalität verpflichtet. Der mit ihnen einhergehende enunziative Akt, der vermittelt52 , dass die Einstellungen als 51 Als solches steht sie zur Abwesenheitssequenz in Davaro, in der die soziale Instanz des Dorfs zunehmend auseinandergefaltet wurde und zwar in einer Weise, in der von den Innenräumen zu den Außenräumen des Dorfs vorangeschritten wurde, diametral entgegen. Die Technizität der Fortbewegungsmittel vs. die Sozialität der Empfangsgemeinschaft, von der Makroebene (Kontinent) zur Mikroebene (Dorf) verlaufende Migrationsbewegung vs. von der Mikroebene (Heimräume) über die Mesoebene (Teestube, Dorfplatz) zur Makroebene (Dorfeingang) verlaufende Empfangsbewegung der Dorfgemeinde. 52 Zur Funktionsweise und Erweiterung dieses Modells der deiktischen Enunziation siehe Curtis’ Ausführungen zu Casettis Modell siehe Curtis (2008, S. 249-252). Curtis möchte für eine genauere Bestimmbarkeit und Nutzbarmachung von Deixis, die beiden Prozesse der Imagination und Wahrnehmung und deren Wechselverhältnis stark machen, wobei sie zum Beispiel die Tiefenverhältnisse im Filmbild und das Verhältnis zur »Alltagswahrnehmung« von räumlicher Tiefe heranzieht, die sie mit J.J. Gibsons Konzept des »kinetic occlusion« als »Bewegung von diversen Elementen, die Einfluss
7 Figuration II: Anreise
Einstellungen einer Migration gelesen werden können, kann allenfalls entsprechend einer paratextuellen oder rahmenden Einordnung als Migrationserzählung gelingen, die hier eher im Liedtext von »Memleketim« (»Meine Heimat«) verantwortet wird. Diese erzählerische Neutralität im Vergleich zu den sozial-sinnstiftenden Einebnungen der Migration als Reise in anderen Emigrationsfilmen resultiert also unter anderem aus der Akusmatik des Blicks und weiteren Bezugslosigkeiten der Einstellungen zur konkreten Diegese. Das Konzept des »akusmatischen Blicks« ist bei Sulgi Lie zugleich eine Begriffserweiterung der Suture-Theorie, die er bei Michel Chion übernimmt und mit Rückgriff auf Lacans »Dissoziation« von Auge, Blick und Bild konkreter als Revitalisierung der suture argumentiert.53 Für Lie ist besonders die im Film angelegte uneinlösbare »Blickzähmung« zentral. Lacan weise zum Beispiel dem Schädel (»Phallusphantom«) in Hans Holbeins »Die Gesandten« und damit der Malerei die Möglichkeit der Zähmung des Blicks des Blickregimes zu, weil in der anamorphotischen Verzerrung des Schädels, verkürzend gesprochen, noch die Exteriorität des Blicks sichtbar würde. Für Lie »verflüchtigt sich im Film [allerdings, Ö.A.] noch der letzte Rest der Verkörperung: Die Kamera ist das nichtspiegelbare Loch im Sichtbaren«54 . Für Lie ist der Blick zumindest keineswegs ahuman, da er ihn in der Argumentation mit der Psychoanalyse an eine Theorie der Partialobjekte und so an Imagination und Subjektivität rückgebunden denkt: Die Kamera sei nämlich ein entäußertes Partialobjekt, das genauso wie die Brust der Mutter (Melanie Klein) für die Totalität, auf die es verweist, begehrt würde. Mit seinen weiteren Ausführungen, zu Silverman, Copjec und Žižek resümiert er den akusmatischen Blick in Differenz zur Instanz der Enunziation, die in ihrer Zuspitzung bei Cassettis Konzeption als potentielle personalpronominale Instanz (ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie) ihre argumentativ umfassend gesicherte Form bewahrt und sich dann empirisch zu realisieren vermag: »Das Unheimliche des Akusmatischen liegt in seiner Schwellenfunktion, die ein Intervall zwischen Diegese und Nondiegese öffnet, aber weder dem einen noch dem anderen zugeschrieben werden kann.«55 Damit ist also das Moment der Unentscheidbarkeit für den akusmatischen Blick zentral, die Etablierung einer »Ununterscheidbarkeitszone«56 . Von einer Akusmatik des Blicks in der genannten Einstellung vom Zug lässt sich aufgrund des Vorhandenseins jener Ununterscheidbarkeitszone sprechen. Die Zugehörigkeit des Blicks, der etwas zeigt, ist in einem Filmanfang jedoch besonders destabilisiert, da er gerade wegen der Unentscheid-
53 54 55 56
auf das Sichtfeld nehmen« bestimmt (2008, S. 253f.). Damit ist eine Bewegung in Richtung neuerer kognitionswissenschaftlicher Perspektiven in der Filmwissenschaft getan: Ansätze zur embodied cognition weisen auf die Beschränktheit jener Ansätze hin, die Filmwahrnehmung von Fragen der Verkörperung, also der Notwendigkeit der mannigfaltigen Involvierung des Körpers und die Entfaltung auch technischer Wahrnehmungsvollzüge (Film) in einem Körper sowie die Verschränkung von beidem, entkoppeln, vgl. Johnson (2015), Gallese und Guerra (2012), Zechner (2013). Für das Konzept der deiktischen Enunziation bezogen hieße das, dass Fragen nach dem Zeigen und Aussagen die Separierung von zeigender (Film) und bezeigter Instanz (Zuschauer_in) schon voraussetzen, wohingegen überhaupt noch nicht geklärt ist, ob und wie jene Separierung der Instanzen für eine Erfassung von Filmwahrnehmung sinnvoll nutzbar zu machen ist. Lie (2012, S. 106-136). Lie (2012, S. 112). Lie (2012, S. 124). Lie (2012, S. 126).
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barkeit einer Zugehörigkeit zur Meta-/Diegese akusmatisch bleibt. Die Dimension des Unheimlichen, die aus dem Akusmatischen (der Unverortbarkeit und damit Herstellung einer Un-Heim-lichkeit) resultiert, hält sich im Filmanfang besonders insofern durch, wie mit zunehmenden Einstellungen die Gewichtungen zwischen Meta-/Diegese im Erzählfilm stabilisiert werden können. Die gezeigten Szenerien können mit auftauchenden Figuren eine Rückbindung der Kamera stärker machen. Die Rückbindungsmöglichkeiten einer Figur oder Subjektivität nehmen mit zunehmendem Verlauf eines Erzählfilms zu. Um zur Szene zurückzukommen: Zuschauer_innen werden auch in den anderen, beschriebenen Einstellungen der Anreisesequenz, so zum Beispiel durch die PoVs aus dem Auto und die Kamerapositionen zugleich selbst als Migrierende etabliert, beispielsweise wenn der rahmen- und damit haltlose Blick aus dem fahrenden Auto heraus auf die Bosporusbrücke einsetzt. Das ›gefahrene‹ Auge auf der Straße (die Kamera) wird zu einem »organlosen Körper«57 , der durch die imaginäre Tätigkeit diegetisch rückgebunden werden kann und dennoch aufgrund der Unbestimmtheit deswegen als reisender, »präsubjektiver«58 Blick zurückbleibt. Die Kamera wird aber auch konkreter und persönlicher positioniert, zum Beispiel im dolmuş, sodass die Blickpositionen eines Reisenden unter anderen Reisenden etabliert wird. Zuletzt verbleibt ein ungereister Blick im Filmanfang zurück, nämlich in der Einstellung des vorbeifahrenden Zuges, bei dem die Blickposition als diejenige eines_r statischen Beobachters_in entsteht, der_die auf das Transportmittel, in dem gereist wird, von außen blickt. Der Reihenfolge der Einstellungen entsprechen Innen-Außen-Verortungen der Sichtpositionen, die parallel von außen nach innen führen: als Beobachter_in des Reisemittels von außen (am Zug), als Reisesubjekt selbst (die PoV im Auto) und als Mitreisende_r im Reisemittel (im dolmuş). Die dazwischengeschalteten statischen Panorama-Einstellungen (Abb. 27.5 und 27.7) oder zum Beispiel die Einstellung vom Meer mit den beiden Schiffen (Abb. 27.6) verbleiben darin statische Ansichtseinstellungen, die die zuvor benannten Bewegungseinstellungen örtlich rahmen: Sie geben den Ort vor, an dem die Bewegungen stattfinden, wobei die Einstellung vom Meer, den Boden unter den Füßen wegzieht (es gibt keinen Halt), so wie die leichte Untersicht auf die Blaue Moschee, bei der ebenfalls kein Boden zu sehen ist, einen haltlosen Blick erzeugt. Der Mensch, der stets mit dem Gefühl des Bodens unter den Füßen gekoppelt durchs Leben schreitet und auch beim Sehen also weiß, wo und dass er auf dem Boden steht, steht ihm Film einem Blick gegenüber, dessen Fußgespür keine visuelle Entsprechung hat. Das Schweben gehört zum skopischen Regime des Films, selbst dann noch, wenn der Blick einen Körper zu haben enunziert oder die »haptic visuality«59 so fungiert, dass sich auf Seiten der Zuschauer_innen mi57 Vgl. Žižek (2005). 58 Vgl. Žižek (2005). 59 »In haptic visuality, the eyes themselves function like organs of touch. […] Touch is a sense located on the surface of the body: thinking of cinema as haptic is only a step towards considering the ways in which cinema appeals to the body as a whole. The difference between haptic and optical visuality is a matter of degree, however. In most processes of seeing both are involved in a dialectical movement from far to near«, Marks (1998, S. 162f.).
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kro-affektive, »amodale«60 Erregungsmuster gemäß der figurativen Qualität61 des Gesichteten aktivieren. Diese These von der notwendigen Verkörperung in der Filmwahrnehmung zeigt, dass die Frage nach dem Innen und Außen in der Filmwahrnehmung eine unhaltbare ist, insofern Filmwahrnehmung nur als unveräußerlicher Akt verstanden werden kann. Ist die Erfahrung der Haltlosigkeit dann jene kurze Empfindung, die wir in Momenten des Schwebezustands erreichen und mit denen der körperlose Blick der Kamera ausgestattet wird? Ereignet sich damit zugleich jene Empfindungsqualität oder bleibt der Blick nach wie vor auf solche Art und Weise verkörpert, dass die Empfindung der Bodenhaftung durch die verkörperte Wahrnehmung selbst bei einer Fixierung des Kamerablicks in menschlich kaum einnehmbaren Positionen erhalten bleibt? Bezogen auf die Erzählung, verstanden als ein sinnstiftendes und sinngestiftetes Gefüge62 , lässt sich die Migrationssequenz schließlich nur schwerlich einordnen. Man kann eine Einordnung versuchen, indem man narratologisch bedenkt, dass die radikale Abwesenheit des Emigranten erst die Veränderung einer sozialen Ordnung im Dorf ermöglicht, die der Emigrant wiederherzustellen versuchen wird und so den Plot also vorantreibt. Dabei lohnt es hier nochmal die dramaturgisch-mythologische Grundstruktur des Heldenepos zu rekapitulieren: Während der Held auf Reise geht und von dieser verändert zurückkehrt und damit die Reise und die Erzählung also beendet, bedeutet in den Emigrationsfilmen die Rückkehr erst die Entstehung einer Erzählung, die also in der Wieder-Herstellung der früheren als besser angenommenen Ordnung besteht. Die lange Anreise stellt außerdem, ähnlich ihrer Funktion in Acı Zafer, die Örtlichkeit des Dorfs als radikal und erheblich getrennt von der Stadt her und ruft so die Matrix von Ehrenkodex und Feudalsystem auf. Doch in ihrer diskursiv relativ unkonkret umsponnenen Bedeutung verbleibt die Emigration in Öfkenin Bedeli ambigue (weder Deutschland noch sonstige in anderen Filmen bekannte Diskurse werden verhandelt) und so kaum narrativ einholbar. Es gibt keinen feierlichen Empfang, die die Leistungen des Emigranten zu würdigen wüsste und keine Öffentlichkeit, die seine Rückkehr gar zur Kenntnis nimmt. Diese Ambiguität von Migration, verstanden als Gefügeherstellungen durch Bewegungen (▶ Kap. 6.3), die sich beispielsweise hier im Film zeigt, ist nicht als eine ihr zuschreibbare Eigenschaft zu verstehen. Ambiguität gehört zur Migration insofern konstitutiv, wie Grenzüberschreitungen durch Bewegungsvollzüge sich entlang von Ordnungsschwellen mal mehr mal weniger intensiv geben: Wenn wie in Öfkenin Bedeli die Abwesenheit des Emigranten sich allein durch seine zeitliche Intensität als Spezifikum zu jeder anderen Form der Abwesenheit gibt, dann bleibt Migration als solches Gefüge kaum differenzierbar. Oder anders formuliert: Egal ob ein Kindsvater zur Arbeit fährt und wieder heimkehrt oder ob ein Emigrant nach Jahren wieder in sein Dorf geht, die Intensität der Gefügeaffizierung gibt sich nicht allein durch die Bewegungsvollzüge der Migrierenden und die Veränderungsvollzüge der Nicht-Migrierten. Im ersten Fall mag die Heimkehr des Vaters zum eigenen Kind dann ein sinnhaft integrierbareres 60 Vgl. Stern (2010) beziehungsweise siehe auch Kapitel 6.2.2. 61 Vgl. Sobchack (2004, S. 62-67). Mit John M. Krois könnte man statt von »figurativer« Ebene auch von »Körperschemata« sprechen, siehe Krois (2012). 62 Vgl. Brooks (2003).
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Ereignis sein und zudem dramatischer als im zweiten Fall, in dem es wie in Öfkenin Bedeli allenfalls als uneindeutiges dauerhaftes Abwesenheitsereignis wie jedes andere fungiert.
7.7.
Zwischenresümee: Das Zeigen der Reise als spurhafte Sichtbarmachung der Migriertheit
Ich möchte hier einen Fokuswechsel vornehmen, der die Anreiseszenen an das Konzept der Figur des Remigranten koppelt: Die Szenen, die Emigranten bei ihrer Heimreise ins Dorf vor deren Ankunft zeigen, bedeuten zugleich die Sichtbarmachung der Existenzform der Remigranten. Die Darstellung des Körpers des Migranten, der in Bewegung ist, stellt ihn selbst in dieser ›Kurz‹- oder Anreise als noch Migrierenden her. Auch die genutzten Transportmittel, die den Körper des Remigranten bewegen, signifizieren diesen Körper als in Reise befindlich. So entstehen jene Figuren als Reisesubjekte und mit dem Zeigen der Anreise wird ihre Existenz als Migranten nicht nur der Sichtbarmachung durch die visuellen Marker am Körper (Kleidung, Accessoires) überantwortet. Als remigriertes Subjekt in der Ankunft, das im Hinblick auf das nationalstaatliche Raum-Identitäts-Modell ›richtig‹ konfiguriert gedacht ist (türkischer Migrant ist in der türkischen Heimat), bleiben andersmachende Markierungen (Kleidung, Auto) zwar trotzdem erhalten, aber zugleich auch prekär. Die Reise erzeugt keine permanente Sichtbarkeit am Körper des Gereisten, ist kein permanenter Marker: Was unterscheidet ihn als Zurückgereister da noch von den anderen? Das Gereistsein kann zwar nach der Beendigung der Anreise immer noch durch die Autos, die Kleidungen als Index oder durch konkrete, verbale Zuschreibungen durch Figuren als explizite Markierung erhalten bleiben. Doch Kleidungen müssen auch abgelegt, Autos nicht immer mitgeschleppt und Zuschreibungen nicht permanent dialogisch artikuliert werden: einsetzende Normalisierung und das Verschwinden des kulturellen Schirms des Emigranten. Mit der vollzogenen Ankunft kann sich die visuelle und anderweitige Differenz des Migranten zu den Einheimischen auflösen. Was dessen Andersheit dann evoziert ist die Ordnungsdestabilisierung, die er mitbringt/die mit ihm einhergeht (siehe die Plots der Filme). Durch die Anreiseszenen bleibt die Migration also nicht nur behauptet, sondern wird im Zeigen der Szenen evident, anschaulich. Anreiseszenen legen Zeugnis von der migrantischen Existenz ab, stabilisieren die vermeintliche Differenz zu den NichtMigrant_innen/›Normalos‹. Wegen der Fokalisierung der Migrant_innen bei ihrer Anreise sind die Szenen eine von Dauer (Filmdauer) begleitete Erfahrung für Zuschauer_innen. Die Kamera bewegt sich mit den Migrant_innen, ist bei ihnen und somit auch Zuschauer_innen. In ihrer Dauer wirken die Anreiseszenen zugleich auch als Belehnungsressource für die migrantische Existenz der Remigranten. Weil die Anreise gezeigt wird, ist sie aber nicht nur einmal gezeigt und dann vorbei, sondern verbleibt ein spurhafter Marker für jene Existenz: Die Bilder können in der Erinnerung der Zuschauer_innen das Gereistseins in der Wahrnehmung der Emigrantenfiguren wachhalten. Das hat damit zu tun, dass der Film »Gegenstände der empirischen Welt in Fiktionen
7 Figuration II: Anreise
überführen«63 kann, weil er sie ästhetisch transformiert. Die entsprechenden Figuren werden im Film also als Migrant_innen mediatisiert, überlagern sich je verschiedene Bildformen, innere und äußere, und können den Emigranten so als den immer gereisten Anderen oder Andersgewordenen wahrnehmbar halten. Anreiseszenen stabilisieren damit die behauptete migrantische Existenz; mit ihrer Hilfe lässt sich, wie in der Analyse geschehen, auf die Konstitution einer auf Imaginärem basierenden Differenzexistenz, nämlich der des Migranten zuschauen. Doch diese funktionale Rückbindung des Zeigens und der Gestaltung der Anreisesequenzen reicht nicht hin, das komplexe Verhältnis von Migration und Filmmedialität zu verstehen, die sich schon an der einen oder anderen Stelle der Untersuchungen andeutete.
7.8. 7.8.1.
Anreisesequenz V: Vahşi Arzu (1972) – Migration als Eintritt in den Bildraum Yavuz Figenlis Emigrationsfilme und der migrantische Videomarkt
Die Macher_innen schöpfen dabei aus hybriden Lebenserfahrungen. Aber nicht nur: es sind medientechnische Aspekte einer Zeit, die die Hybridität ihrer Medienerfahrungen ausmachen. Ihre Familien nutzen Camcorder für die ›Heimurlaube‹ und die VHS-Kassetten dienen dazu, vor allen Dingen türkische Arabesk-Filme64 und Filme aus anderen nationalen Kinematographien in die heimischen Bildschirme zu bringen. Sie versprechen ihnen mehr Unterhaltung oder sagen ihnen mehr zu als das mehrheitsdeutsche Fernsehen. Es sind Martial Arts-Filme von Bruce Lee oder Jackie Chan, Actionoder andere Genrefilme und vor allen Dingen die Bollywoodfilme der 1980er, noch vor dem internationalen Boom der Bollywoodfilme Teil eines umfassenden migrantischen Medienkonsums sind. Das Satellitenfernsehen in den 1990ern stoppt diesen VHS-Boom zunehmend, aber die medientechnischen Erfahrungen bieten ein hybrides Erfahrungsspektrum, das sich je individuell entfaltet. Ein weiterer Film, dessen Inszenierung der Reiseform einer eingehenderen Untersuchung würdig ist, ist Yavuz Figenlis Dorffilm Vahşi Arzu (»Wildes Begehren«). Erzählenswert am Werdegang des Regisseurs ist im Kontext des Emigrationsfilms, dass er schon in den 1980ern bis 90ern eine Vielzahl von Videofilmen besonders auch in Deutschland inszeniert – zu einer Zeit also, in der der Videomarkt für Migrant_innen in Deutschland boomt.65 Der Markt barg damals ein enormes Potential. Die schwer verfügbaren Satellitenschüsseln, die die Häuserfassaden in Deutschland in den 1990er Jahren ganz besonders zu zieren beginnen66 , konnten in den 1980ern die Haushalte deutsch-türkischer Familien noch nicht mit dem türkischen Fernsehen versorgen, sodass Videokassetten von Yeşilçam-Filmen oder eigens dafür gedrehte Filme als filmisches Unterhaltungsgut dienen mussten. Die öffentlich63 Koch (2010, S. 237). 64 Türkische Gesangsmelodramen mit Arabesk-Sänger_innen als Protagonist_innen, siehe Kapitel 8.3.2. 65 Kaya (2014). Dietrich Klitzke spricht vom Jahr 1981 als Entstehungszeitraum für den türkischen Videomarkt in Deutschland, Klitzke (1982, S. 56). 66 Bacik (2014, S. 84f.), Klitzke (1982), Klitzke (1983), Haupts (2014, S. 77f.), Unbekannt (17.10.1983).
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rechtlichen Rundfunkanstalten gingen (und gehen auch heute noch67 ) nur gering auf die Belange der Migrant_innen ein, das Programm war entsprechend kaum ausgeprägt und die Hinwendung zu heimatlichen Angeboten damit vorprogrammiert.68 Dabei sind schon in den 1960er und 70er Jahren Kulturangebote im Bereich des Kinos gegeben: Während in den 1980ern Videos durch die migrantischen Heime zirkulieren, sind es in den Jahren zuvor selbstorganisierte Kinovorstellungen in den deutschen Städten69 , die einigen die Sichtung türkischer Kinofilme ermöglichen. Den Kinos seit den 1950er Jahren samt ihrer Yeşilçam-Filme entspricht in Deutschland damit der Videoboom der 1980er Jahre, der zeitgleich in die Türkei hinüberschwappte.70 Mehrstündige, fast tägliche Video-Sessions gehören zum medialen Konsumalltag der Migrant_innen71 . Im Vergleich zum Kino, das ein örtlich festes Dispositiv ist, bieten die Videokassetten jedem einzelnen Migrant_innenhaushalt die Möglichkeit zum ›heimatlichen‹ Kulturkonsum innerhalb der eigenen vier Wände. Es ist also seine Ubiquität, die dem Video in Deutschland unter den Migrant_innen seinen Erfolg beschert. Trotz des Zusammenbruchs des Yeşilçam-Kinos verlagert sich ein Teil der Filmproduktion also auf den heimischen (deutschen) Videomarkt, auf dem die alten Filme der 1960er und 70er sich zudem teilweise über mehrere Auflagen auf Video erhalten und dieser Boom ist fast zeitgleich in der Türkei gespiegelt (▶ Kap. 3): hauptsächlich populäre Filme wie Arabesk-, Historien- und Actionfilme, doch auch Hollywood, indische Bollywood- und asiatische »Martial Arts«-Filme gelangen in die migrantischen und türkischen Wohnungen. Bevor Figenli nun in den 1980ern auf Video umschwenkt und besonders kostengünstige Videofilme in Deutschland dreht, kann er schon in der High-Yeşilçam-Phase die Regie für zahlreiche Filme übernehmen und ist auch als Regisseur der Sexfilmwelle aktiv. Er ist also auch in Deutschland keineswegs ein Regieneuling, allerdings ein kommerzieller Filmemacher, der auch vor der Erzählung abstruser Storys und einfacher filmischer Erzählweisen gar bei den späten in Deutschland hergestellten Videoproduktionen keinen Halt macht: So besteht der 1988 in Deutschland gedrehte ArabeskEmigrationsfilm Almanya Acı Gurbet mit Ceylan72 und ihrem blinden Onkel Murat als Hauptfiguren fast ausschließlich aus einfachen Einstellungen (unkomplizierte Planaufnahmen mit Schwenks, die allenfalls mit Zooms variiert werden).73 Einer von Figenlis relativ frühen High-Yeşilçam-Filmen ist der hier zu analysierende Vahşi Arzu (1971), 67 Vgl. Bacik (2014). 68 Vgl. Klitzke (1983, S. 42f.). 69 Vgl. Klitzke (1983, S. 42). Jörg Becker spricht Mitte der 1970er Jahre von 200 Kinos in Deutschland, die dezidiert Migrant_innenprogramme angeboten haben (2000, S. 108). 70 Ellinger (2017, S. 148ff.). 71 Zum Beispiel in Berlin 1983, siehe Klitzke (1983, S. 43). 72 Eine türkische Kinderstarsängerin, ähnlich dem niederländischen Heintje. Sie spielte in zahlreichen melodramatischen Arabeskfilmen der 1980er die Hauptrolle. Ihr männliches, aber schon früher in Filmen erscheinendes Pendant ist der Kindersänger Emrah, der noch bis heute erfolgreich als erwachsener Popstar aktiv ist. 73 Die Kamera zeigt uns nur eine Einstellung, in die und aus der jeweils gezoomt wird. Nahezu keinerlei Schwenks oder Fahrten. Die Devise ganz im Sinne einer Guckkastenbühne lautet: Kamera drauf, Handlung ab und Szene fertig! Für eine repräsentationskritische Lesart des Films siehe auch Alkın (2015a, S. 204ff.).
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der den über den gesamten Film andauernden Konflikt zwischen einem heimgekehrten, sozial aufgestiegenen74 Emigranten und dem Dorf-kabadayı75 verhandelt, der um seine soziale Stellung aufgrund eben jenes Aufsteigers bangt. Der Film, der im Hinblick auf die Emigrationsthematik interessant ist und mit einigen überraschenden filmischen Raffinessen aufwartet, wird die Inszenierung der Heimkehr des Emigranten aussparen. Der ersten Einstellung des Films geht dabei zunächst ein Yeşilçam-typischer Vorspann mit den Namen der Crewmitglieder voraus. Begleitet wird der Vorspann, der im Hintergrund nur die nebligen Umrisse einer Rosenblüte zeigt, von derselben dramatischen Einspielmelodie wie in Kara Toprak. Zur Erinnerung: Aufgrund der fehlenden Urheberrechtsregelungen werden Musik und Filmmaterial im Yeşilçam-Kino von anderen Filmen häufig kopiert, auch untereinander. Es muss schnell und günstig gehen.
7.8.2.
Plot Vahşi Arzu
Nachdem Hasan ankommt und von den Dorfmännern samt dem Dorfalten Salim zu einem gemeinsamen Mahl eingeladen wird, fragen ihn die Einheimischen über Deutschland aus. Hasan erzählt dann von seinen Plänen von einer Werkstatt im Dorf, nur um wenig später vom Raufbold des Dorfs und seinen Lakaien gestört und beleidigt zu werden. Hasan prügelt sich mit ihnen und als die Dörfler die beiden Streithähne trennen, schwört der Raufbold Kerim Rache. Diese setzt er auch sofort um: Seinen Lakaien befiehlt Kerim den Diebstahl von Hasans Erspartem, während er selbst Hasans Verlobte Nazlı belästigt. Als Hasan nach weiteren Aktionen Kerims, die ihm und seiner Verlobten das Leben schwer machen, diesen vor dem Dorfplatz verprügelt und bedroht, lässt sich Kerim etwas Neues einfallen. Er heuert eine Prostituierte aus der Stadt an, sich als blonde deutsche Freundin Hasans auszugeben. Den Auftrag annehmend reist die Frau samt Perücke und manipulierter Photographie, die sie und Hasan glücklich zeigt, ins Dorf. Dort fragt sie an der Teestube nach ihrem ›Ehemann‹ und ruft so die Verblüffung und Enttäuschung bei den Dörfler_innen über Hasan hervor: Die Ehe mit der deutschen kommt einem gesellschaftlichen Statusverlust gleich, da er als bereits Verheirateter Nazlıs Ehre ramponiert. Nazlı und Hasans Freund Salim verlieren sämtliches Vertrauen in den jungen Emigranten. Hasan schwört, den Umstand aufzuklären. Er sucht die Frau in Kerims Wohnung auf und stellt sie zur Rede. Dann schleppt er sie gewaltsam zum Dorfplatz und zwingt sie dort dazu, ohne den künstlich aufgesetzten deutschen Akzent zu sprechen. Der Beweis von Hasans Unschuld wird mit ihrem akzentfreien Türkisch erbracht. Doch Kerim nutzt die Gelegenheit und entführt Nazlı, um sie zu vergewaltigen. Nazlı kann sich aus der Gewalt Kerims befreien. Als Hasan ihren Zufluchtsort ausfindig macht, findet er lediglich Kerim vor. Nachdem Hasan den Bösewicht außer Gefecht setzt, versucht 74 Wobei zu berücksichtigen ist, dass sich dieser soziohierarchische Aufstieg erst vornehmlich durch die Zuschreibung durch die Dörfler_innen vollzieht. 75 Kabadayı bedeutet wörtlich grober (kaba) Onkel (dayı) und ist im Türkischen die Bezeichnung für einen sozial gefürchteten Raufbolden, der aber oft auch als sozialgerechte Person auftritt, der sich für die Rechte von Unterdrückten einsetzt und einem Ethos von Ehre folgt.
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er Nazlı zu finden: Als er sie in einem Boot auf dem Fluss entdeckt, rennt ihr er am Ufer entlang hinterher. Noch bevor das Boot samt Nazlı in die felsenreichen Wasserfälle strudelt, kann Hasan sie befreien. Vor einer romantischen Szenerie eines Sonnenuntergangs küssen sich die beiden Verliebten, womit der aktionsreiche Dorffilm, der das Motiv des Doppelgängers auch filmmedial raffiniert einbindet, sein Ende findet. Für eine Untersuchung der Anreiseszenen wird Vahşi Arzu aufgrund seiner ersten Einstellung relevant, in der sich die Remigration filmisch in einem einzigen Bild festhält.
7.8.3.
Filmanalytische Beschreibung – Anreisesequenz
Die erste Einstellung (→), die die filmische Erzählung der Heimkehr in Form einer Anreise ins Dorf ausspart, setzt mit einer Amerikanischen ein, in der ein langer, mit Speisen und Getränken gedeckter Tisch im Freien von vorne gezeigt wird (Abb. 28.1-4). Rechts und links vom länglichen Holztisch befinden sich Stühle, vor denen wiederum Männer stehen und in Richtung der Kamera zu blicken scheinen. Nur am Anfang des Tisches befindet sich keine Person an den Stuhl gelehnt. Der Blick der Kamera von einem Ende des Tisches auf das andere Ende ist also unverdeckt und frei. Nun tritt aus der linken Seite des Bildrahmens eine Figur ins Bild und geht zusammen mit einem älteren, voluminöseren Herrn rechts an den Männern am Tisch vorbei bis zum Tischanfang, an dem der mit Schlips und Aktenkoffer gezeigte Mann schließlich zum Sitzen überredet wird. Bei dem Mann mit Schlips und Koffer handelt es sich um den Emigranten Hasan, der nach zwei Jahren Emigration nach Deutschland wieder in sein Dorf zu seiner Versprochenen Nazlı heimgekehrt ist: So zumindest lassen es die Dialoge zwischen »Arap Celal«76 und dem Dorfvorsteher verstehen, die über den Heimkehrer sprechen. Die filmische Konstruktion der Heimkehr wird lediglich durch das Eintreten des Emigranten in den Bild- und dann Architekturraum erzeugt. Sein Erscheinen im Bildraum fällt mit der Erkenntnis der Heimkehr, die sich in den Dialogen vermittelt, zusammen. Der lange Tisch, dessen Gedecktheit indiziert, dass die Männer die Heimkehr des Emigranten erwarteten, markiert so zugleich die Feierlichkeit und die Außerordentlichkeit des Ereignisses. Während des Gesprächs mit dem Gemeindevorsteher bleiben die Männer stehen und lassen zudem die Offizialität des Heimkehrereignisses und damit den sozialen Status, den sie dem Emigranten zuschreiben, als gehoben vernehmbar werden. Die Teestube als Ort der männlichen Zusammenkunft im Dorf ist hier dem Dorfvorplatz gewichen, der als notwendiger Ort des Draußen zur Teestube gehört. Das Beisammensein an der Teestube ist dem gemeinsamen feierlichen Rakı-Mahl gewichen, wie die Flaschen auf dem Tisch anzeigen. Ästhetisch betrachtet, markiert der Fluchtpunkt (das Ende des Tisches) hier den Ort, der dem Betrachtungsstandpunkt gegenübersteht, sie sind parallel zueinander angelegt. Nachdem der Emigrant dort angekommen ist, wechselt er von der Position der 76 Der Schauspieler »Arap Celal«, eigentlich Celal Yonat, verdankt seinen Spitznamen »Araber Celal« rassistischen Gründen, wie der dunkleren Hautfarbe und den phänotypischen Merkmalen. Dunkelhäutige Menschen werden im Türkischen häufig als ›Araber‹ bezeichnet, wobei die Bezeichnung zenci (farbig) zur eher neutraleren Bezeichnung dunkelhäutiger Menschen herangezogen wird.
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Front vor der Kamera zum Fluchtpunkt hin: von einem Hier zu einem Dort, von einem Nahen zu einem Fernen, Binnenbildmigration im Kleinen.
Abbildung 28.1-4 – Standbilder aus Vahşi Arzu (1972)
Aufgrund der Unvermitteltheit des Eintritts ins Bild, bleibt unklar, aus welchem konkreten topographischem Zusammenhang die Figur in die Szene tritt. Das ist insofern so, als das Off des Bildrahmens (hors-champ), aus dem die Figur ins Bildfeld tritt, keinen vorher etablierten Raum imaginieren lässt beziehungsweise darauf hinweist. Weil der Raum des hors-champ aber diegetisch als Fortsetzungsraum des champ zu denken wäre, lässt sich annehmen, dass er im Dorf angekommen ist und nun aus unmittelbarer Nähe des gedeckten Tischs am Dorfvorplatz darauf zuläuft. Das Eintreten des Emigranten ins Bildfeld wird also mit dessen Eintritt ins Dorf in eins gesetzt. Da der Emigrant zu Fuß in den Bildraum tritt, verweigern sich Annahmen nach einer Ankunft per eigenem Fahrzeug. Zugleich indiziert der Koffer in der Hand eine Aktualität der Ankunft: Wenn Koffer noch nicht abgelegt sind, kann er noch nicht lange angekommen sein. Weil das Ankunftsmoment kein unmittelbares Aufeinandertreffen von Emigrant und Dörfler_innen mehr ist – insofern er in einen Ort eintritt, der schon vorbereitet ist und dieser sich auch an einem eher zentralen Platz des Dorfs befindet – scheint die Szene eine zeitlich verschobene Heimkehr zu sein, in der die Ankunft am Dorf sich selbst noch vorher ereignet haben muss. Heimkehr, so wie Migration auch, ist ein Prozess, weniger Moment, sondern immer auch mit Dauer behaftet. Die zeitliche Charakteristik ihres Endes ist aufgrund ihrer Eigenschaft als Bewegung komplex, prozessual und als labil zu denken77 . Wann hört Heimkehr auf? Wann ist sie vollzogen? Wann ist sie als Reiseakt vollzogen? Besonders ein solcher Moment des Bildeintritts wie hier, der in seiner absoluten Verkürzung das Migriert-Sein indizieren soll, macht deutlich, dass Migration stets nur als Aus-Schnitt sichtbar werden kann und weniger in seiner Komplexität als Gefüge. Maria Oikonomou und Ulrich Meurer haben diesen Vorgang der Notwendigkeit der Fokussierung auf einen Ausschnitt der Migration als »Form«-wandlung beschrieben: Beide [Migration und Film] sind mehr als lediglich zwei Phänomene raumzeitlicher Veränderung unter vielen; sie sind diese raumzeitliche Veränderung. […] Ein Leben mag ganz wie das gesamte (Bergsonsche) Sein keinerlei Schnitte kennen und bildet 77 Wann ist die Heimkehr vollendet? An der Architektur (Gebäude), dem Sozialen (Menschen) oder dem Territorialen (territoriale Dorfgrenzen)?
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einen stets veränderlichen, unteilbaren Strom, wandelt sich aber erst durch den Eingriff der Form vom reinen Ereignis zur erzählbaren Begebenheit.78 Dieser letzte Teil des Zitats weist darauf hin, dass in der unfixierbaren Bewegung79 Heimkehr oder Migration selbst nur durch einen Eingriff des Schnitts (Filmschnitt, Einschnitt) in Sichtbarkeit überführt werden kann. Dasselbe gilt für die Reise und die bis hierhin untersuchten Reiseformen der Remigration. Bewegung und damit auch Migration wird nur im Aus-Schnitt sichtbar, Bewegung kann also immer nur als Teil einer größeren Bewegung wahrnehmbar sowie sichtbar gemacht werden. Das heißt: Zur »ontologischen Stabilisierung« gehört stets ein Schnitt in die Bewegung80 , die hier im erörterten Film eben in seiner äußersten Verkürzung als Eintritt in den Bildraum entsteht. Eine kompaktere Sichtbarmachung von Migration scheint es dabei kaum noch zu geben. Dass es sich beim Bildeintretenden, um einen Migrierten handelt, wird gar durch mehrere diegetische Deiktika, verbale Ausführungen und visuelle Indizes weiter stabilisiert (Tisch, Koffer, Ausführungen zur Müdigkeit et cetera). Wenn am Ende dieses Kapitels als Ergebnis feststehen wird, dass der Remigrationsfilm, Emigranten und Emigration als Medium gebraucht wurden, um Verhältnisse der heimischen Zusammenhänge zu verhandeln, so ist damit ein Aspekt angesprochen, der die Arbeit schon immer begleitet hat: dass die umfassenden imaginären Dimensionen der Migration sie als destabilisierendes Konzept bedingt, das sich einer sie bändigenden Operationalität ständig entziehen muss. Denn die Destabilisierung ist der Migration konstitutiv: Sie ist eine in sich gespaltete (die unaufhörliche Direktionalität der Wanderungsrichtungen) und spaltende Konzeption (ihr Gebrauch besteht in ihrem Scheitern), weil jedwede Fixierung einer raumzeitlichen Koordinate, mit dem sie kontextualisiert wird, aufgrund der Relativität, Vorläufigkeit und Willkür des Raumzeitlichen als gewaltsame Fixierung zurückbleiben muss. Migration, Film, Bewegung – Materialität? Ich werde mich nun von den bisherigen analytischen Ergebnissen heraus eingehender mit den theoretischen Konsequenzen für das Verhältnis von Migration und Film beschäftigen. Dafür gilt es zunächst noch einmal an die Deleuze’sche Einsicht aus seinem ersten Bergson-Kommentar81 zu erinnern. Oliver Fahle fasst Deleuzes Einsichten so zusammen: Er [Bergson] hatte behauptet, dass Bewegung stets eine kontinuierliche und damit unteilbare Verlaufsform bilde und deshalb nicht auf einzelne Punkte des durchmessenen Raumes zurückgeführt werden könne. Deleuze hat diesen philosophischen Gedanken als Grundlage des Films interpretiert, denn Film ist vor allem aus diesem Grund das Medium der Dauer (wie Bergson diese kontinuierliche Form der Bewegung nennt) bzw. der unteilbaren Bewegung. Die Zusammensetzung aus Einzelbildern oder 78 79 80 81
Oikonomou und Meurer (2009, S. 11). Deleuze (2005, S. 13-26). Vgl. Deleuze (2005, S. 13). Deleuze (2005, S. 13-26).
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die Schnitte sind für Deleuze kein Argument dagegen, weil die Bilder bereits in Hinblick auf Bewegung aufgenommen worden sind und für das Auge des Betrachters auch nur als solche vorhanden sind. Montage ist im Film daher kein starrer, sondern ein beweglicher Schnitt (1989, 16).82 Was für Bergson also keine Bewegung mehr im Bild ist, weil die Schnitte die Bewegung zerstören, stellt für Deleuze gerade den Film als Bewegung her. Deleuzes Lektüre des Films bringt also in Bergsons These von der Irreduzibilität der Bewegung auf einzelne »Punkte in Raum oder Zeit«83 einen Twist ein, um sie so für den Film fruchtbar zu machen. Der Filmschnitt beziehungsweise die Aneinanderreihung von Bildern zerstört nicht die Bewegung, sondern der Film ist das Medium der Bewegung par excellence, gerade da er als »Durchschnittsbild, das in Bewegung ist«84 entsteht. Ein Film, sei er auch per unterschiedlichen Einstellungen montiert, lässt Filmdauer als Durchschnittsbild und damit als Bewegung fassen.85 Für die Migration rückgebunden: Zwar wird Migration also immer nur aus-schnitthaft in seinem komplexen Gefüge sichtbar, dieser Ausschnitt bedeutet aber nicht die Bewegtheit der Migration darin getilgt zu haben, denn der Aus-Schnitt steht zu den anderen Teilen in einem Verhältnis der Bewegung, mit denen er ein Durchschnittsbild der Migration bildet. Die Szenen der Anwesenheit des Migranten und die Abwesenheitsszenen (oder auch Aus-Schnitte) gehören nicht minder zur Migration. Sie bringen die Bewegung der Migration als solche im Sinne eines Durchschnittsbilds hervor, weil sie in sich die Bewegung der Migration tragen: Die Abwesenheit des Emigranten bewegt die soziale Gemeinde mindestens so sehr, wie seine Anwesenheit, ist der Migrant in seinen transitorischen Zuständen nicht minder in Bewegung. Jede aus-schnitthafte Fixierung der Migration, und sei sie noch so sehr der Vorstellung von der Wanderung eines einzelnen Subjekts in raumzeitlicher Hinsicht als nationale grenzüberschreitende Handlung gemeint, lässt sich so als ein Konzept von Migration verstehen, das seinen Bezug zur Bewegung erhält. Brigitta Kuster spricht in diesem Zusammenhang von »Formatierung«.86 Indem wir Migration so vorstellen, schneiden wir sie aus einem globalen und sozialen Zusammenhang aus, erhalten so aber auch die Bewegtheit darin, da der Vorgang des Schnitts selbst eben ein »beweglicher Schnitt« verbleibt (siehe Zitat Fahle). Zugleich bergen diese Aus-Schnitte auch in anderen Facetten die Bewegtheit der Migration: als Spur in den Figuren, in der Erinnerung der Zuschauer_innen, in der Materialität des Bildes, als Index auf das größere Gefüge. Die Phänomenologie Bernhard Waldenfels’ bietet mit ihrer Reflexion von Raum, Zeit, Erfahrung und den figurativen Zurichtungen, unter denen sie erörtert werden kann (Riss, Widerfahrnis, Affektion), einen dahingehend ersten Denk- und Begriffsraum, die in der Migration enthaltenen Komplexitäten fortzudenken. Eine dezidierte Erörterung von Migration aus phänomenologischer Sicht steht noch aus. Ansätze fin82 83 84 85 86
Fahle (2002, S. 100f.). Deleuze (2005, S. 13). Zechner (2003, S. 45). Deleuze (2005, S. 13ff.). Vgl. Kuster (2018).
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den sich in The Figure of the Migrant 87 , bleiben aber reduktiv, da in der politischen Philosophie verortet. Überlegungen zum Deleuze’schen Begriff des »Materiestroms« oder anti-repräsentationale Modelle und Konzepte wie die der in Anlehnung an Nietzsche formulierten Kräfte-/Immanenzphilosophie Deleuzes (Stichwort »Intensitäten«), mit Hilfe derer Migration zu beschreiben versucht wird, finden sich bei wissenschaftlichen Akteur_innen der kritischen Migrationsforschung, die zunehmend auf einer prozessund ereignisphilosophischen Basis zu operieren versuchen: Eine »neue Ontologie« (DeLanda 2006: 10), die aber keineswegs ein absolutes Novum darstellt (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 346ff.), jedoch in der Lage ist, genau jene Komplexität der Verbindung heterogener Elemente sowie die Beweglichkeit, Fluidität und Transformativität zu adressieren, die auch dem transnationalen Migrationsgeschehen eigen ist, bildet die epistemologische Basis innovativer Perspektiven der Analyse transnationaler Mobilität.88 Mit anthropozentrischen und allein sozialkonstruktivistischen Ansichten wäre eine Definition von Migration als Bewegungsgefüge von menschlichen, intentionalen Akteur_innen kaum haltbar. So wären dann ›Relationalität‹, ›Intensität‹, ›Assemblage‹ (Ontologie der Verknüpfung und Un_formierung89 , Auflösung des Form-Materie Dualismus90 ), ›Dauer‹, ›Diffraktion‹ Stichpunkte, die eine andere Ontologie der Migration entwerfen könnten. Mit Hinweis auf Karen Barads Entwurf eines »agentiellen Realismus« werden einige der darin enthaltenen Grundgedanken nun fortgesponnen, um die Reichweite zwischen filmischer Sichtbarmachung und aktuellen tendenziell poststrukturalistischen Untersuchungstendenzen zur Migration aufzuzeigen. Für einen Begriffsumgang mit Migration verbleibt die Einsicht nach der gezwungenen ›Aus-Schnitthaftigkeit‹, mit der Migration gedacht werden kann, jedoch erst einmal ohne Folgen: Klassische (internationale) Migration ereignet sich nur im Hinblick auf die Annahme von Grenzen (Nationalgrenzen et cetera), ansonsten verbleibt sie Wanderung. In Öfkenin Bedeli ist das in kleiner Form sichtbar geworden: Die Migration zeigt sich dort als ein teleskopartiges Ineinanderschieben verschiedener geographisch begrenzt angenommener, vor allen Dingen imaginär gesetzter räumlicher Grenzen (Kontinent [Asien, Europa], Land, Stadt, Dorf). Dieser Fokus auf die Wanderung des Migrationssubjekts vernachlässigt jedoch, dass zur Migration stets mehrere Akteur_innen (Technizitäten, zum Beispiel Fortbewegungs- sowie Kommunikationsmittel, Materialitäten et cetera) beziehungsweise vielmehr Akteur-Netzwerke91 gehören, deren Verhältnisse zueinander prozessual, performativ und – wie später zu zeigen sein wird – intraaktiv, also im Hinblick auf ihre intrarelationalen Agentialitäts- und Mobilisierungsformen zu denken sind. Das ist die erste Öffnung eines Migrationsbegriffs.92 87 Nail (2015). 88 Kuster et al. (2014). 89 Vgl. Schaffer (2013). 90 Vgl. Delitz (2012). 91 Vgl. Bauer et al. (2017b). 92 Sie wird auch von Brigitta Kuster theoretisch ambitioniert verfolgt, siehe Kuster (2018).
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Die zweite gibt sich also aus dem Verhältnis von Bewegung und Material: Wenn Bewegung zur Migration konstitutiv gehört, heißt das auch, dass es notwendig wird, das Verhältnis von Migration zu Materialität zu bedenken, denn »Bewegung ist Werdensmodus von Material«93 . Der von Karen Barad vorgeschlagene Begriff der »Intraaktivität«94 brächte beispielsweise eine Unzertrennlichkeit der Kategorien von Operation (wandern, bewegen) und Welt (materielle Grundlage) ein, wodurch Migration als ökologisches Gefüge95 zu denken wäre, an dem dann »agentielle Schnitte« Anderes zu Tage fördert. Es ist ihr Ansatz eines »agentiellen Realismus«, den ich für eine Nutzbarmachung im Verhältnis von Film und Migration nun erörtern möchte.96 Karen Barad hat in ihrer wirkmächtigen Arbeit eine Perspektivierung der Relationalität von Materialität und Diskurs vorgenommen, die sie mit Hilfe des Konzepts der »Intraaktivität«97 vollführt. Damit ist gemeint, dass Dinge und Entitäten (sie selbst nennt es »Phänomene«) nicht als abgeschlossen zu betrachten sind und über eine eigenständige Agentialität verfügen, mit der sie sich in ihrer Prozesshaftigkeit mit anderen Prozessen intrarelational und intraaktiv verknüpfen.98 Eine solche Verknüpfung besteht im Forschungskontext auch zwischen Beobachter_innen, Apparaten99 und Phänomenen. Sie sind demnach nicht als abgeschlossene Instanzen in einem Subjekt-ObjektDualismus zu denken, sondern in ihren intraaktiven, intrarelationalen Bezügen und 93 Skrandies (2016, S. 9). Zum Verhältnis von Bewegung und Material, das Skrandies hier entlang des tanzpraktischen Begriffs des Bewegungsmaterials reflektiert, genauer die Seiten 18 bis 19. Dort heißt es: »Mit den Annahmen einer Zuhandenheit des Materials als Ausgangsstoff und der Subjektbezüglichkeit wird doch übersehen, dass im Material eine Agentialität liegt, die zwei korrelative Vektoren kennt: Bewegung und Material – hier heuristisch auseinander genommen – sind nicht nur erstens aufeinander intrarelational verwiesen, sondern eine solche Konstituierungsbewegung manifestiert sich zweitens auch für die Relation des – jetzt zusammen gedacht – Bewegungsmaterials zu den anderen für den sogenannten ›Tanz‹ relevanten, menschlichen und nicht-menschlichen, Elementen beziehungsweise Akteuren (Tänzer, Choreographen, Institutionen, Gegenstände/Dinge, Förderprogramme, technische Ensembles, Zuschauer, wissenschaftliche Diskurse und so weiter)«, Skrandies (2016, S. 18). 94 Vgl. Barad (2012). 95 In einigen Diskursen hat sich in Anlehnung an Deleuzes und Guattaris »Tausend Plateaus« der Begriff der Assemblage dafür entwickelt. Der Begriff des Gefüges, betont die Stetigkeit, während die Assemblage eher das Moment der Unterschiedlichkeit der Elemente hervorhebt, vgl. Kuster et al. (2014, S. 232). 96 Eine Arbeit, die das Verhältnis von Diaspora und Medialität auch im Filmischen reflektiert hat ist Strohmaier (2018). 97 Intraaktionen bezeichnen im Gegensatz zum Begriff Interaktionen ein korrelatives Aufeinanderwirken und Ineinandergreifen ohne dabei die beteiligten Akteur_innen als solche in sich abgeschlossene Entitäten zu denken. 98 Für die Relevanz von Intraaktivität im Kontext des Konzepts des Bewegungsmaterials siehe Skrandies (2016, S. 53f.). 99 Damit sind nicht nur technische Apparate gemeint. Barad definiert sie als »materiell-diskursive Praktiken – kausale Intraaktionen, durch die sich die Materie schrittweise und differentiell artikuliert, wobei das materiell-diskursive Feld von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der fortlaufenden Dynamik der Intraaktivität, die das Tätigsein ist, rekonfiguriert wird« (Barad 2012, S. 73). Apparate sind also keine ausschließlich technischen Werkzeuge, sondern gleichermaßen materiell und diskursiv durchsetzte Handlungsvollzüge.
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ihrem Wirken aufeinander ernst zu nehmen und prozessual zu verstehen. Zentral hierbei ist es also, die intraaktive Verknüpfung mit der Welt in Prozessen des Erkennens zu bedenken: Insofern bestimmte Handgriffe im Labor, Beobachtungshandlungen, Begriffe und andere menschliche Praktiken eine Rolle zu spielen haben, besteht diese Rolle darin, daß sie Teil der materiellen Konfiguration der Welt in ihrem intraaktiven Werden sind.100 Aus einer solchen Perspektive eines »agentiellen Realismus«, wie Barad ihre Erkenntniskonzeption nennt, wird die grundsätzliche Korrelation zwischen Migration und der (wissenschaftlichen) Erkenntnistätigkeit offensichtlich: Wenn Migration immer schon als Verhältnis von Subjekten zur Welt gedacht wurde, so verliert diese Gegenüberstellung beziehungsweise Relation von Subjekt und Welt aus einer Perspektive des »agentiellen Realismus« ihre Trennungsmomente, weil beide intraaktiv und intrarelational vielmehr als aufeinanderbezogene Prozesse zu denken sind. Aus diesen Trennungsmomenten ergibt sich die Notwendigkeit des Denkens neuer onto-epistemologischer Bündnisse, in denen Äußerlichkeit nichts Gegebenes, sondern immer Hergestelltes ist. Migration als Gefüge wäre demnach nichts rein Materielles. Migration wäre aber auch nichts rein Konstruiertes oder etwas, das in einem Außenblick als solches gesetzt werden könnte. Nimmt man Barads Konzeption ernst, bedeutet das, nicht nur die wissenschaftliche oder epistemologische Praxis zu verändern, sondern sie hat Konsequenzen dafür, was zum Beispiel auch als Migration anzunehmen wäre. Ein Subjekt, das auf der Reise ist (wann ist es das nicht?), ist mit der Welt dann derart verknüpft, dass es vollkommen neuartiger Konzepte wie derjenigen von Jane Bennett nach den assemblagen101 bedarf, um die prozessuale Verhältnismäßigkeit zwischen Welt und Subjekt zu denken, die eben nicht mehr in einer solchen Dichotomie zwischen beiden besteht: Wir sind keine äußeren Beobachter der Welt. Wir befinden uns aber auch nicht einfach nur an bestimmten Orten in der Welt; vielmehr sind wir ein Teil der Welt in ihrer fortlaufenden Intraaktivität.102 […] Menschen sind Teil des Welt-Körper-Raums in seiner dynamischen Strukturierung.103 Hier im Zitat tritt dann nicht nur die Qualität der Migration als mögliches Forschungsobjekt/-subjekt auf, sondern in Barads Worten artikuliert sich eine Konzeption von Migration als fundamentales Konstituens wissenschaftlicher Praktiken: Wenn wir »uns […] nicht einfach nur an bestimmen Orten, in der Welt [befinden …, sondern] ein Teil der Welt in ihrer fortlaufenden Intraaktivität« sind, dann bedeutet das, Migration nicht als Ausnahmefall von Prozessualität zu verstehen, sondern als fundamentale Modalität. Bevor ich die Reichweite dieser Einsichten (eher Ansichten) für eine Filmtheorie 100 Barad (2012). 101 Bennett (2010). 102 Diese Formulierung antizipiert selbst Vorstellungen im Verhältnis von Werden und Welt, die meinem Verständnis von Migration als Gefüge sehr nahe sind. 103 Barad (2012, S. 99f.). Das muss auch im Hinblick auf die visuell-epistemischen Bedingungen hin reflektiert werden und wirft dann neue Fragen auf. Bildtheoretisch zu den Grenzgängen von Bild und Welt siehe Skrandies (2012, S. 35-42).
7 Figuration II: Anreise
rekapituliere, möchte ich hier nochmal zur filmischen Konstruktion der Reiseform im Hinblick auf ihre filmmediale Relation zurückkehren, um das Verhältnis zur filmischen Konstruktion zu erhellen: Das Erscheinen des Emigranten im Filmbild fällt mit seinem Erscheinen im Raum der Heimat, konkret des Dorfvorplatzes, fallen also filmmediale wie topographische Anwesenheit zusammen. Was im menschlichen visuellen Wahrnehmungsfeld an den Rändern des Sichtfelds jene unscharfen Grenzen des Gesichtsfelds sind, sind im filmischen Bild die scharfen Bildkanten der Kadrage. Sie verantworten jene Spannkraft eines potentiellen Erscheinens, die das Hinzutreten auch von Migrant_innen aus vorher absenten Feldern auszeichnet. Das Off fungiert als Reservoir, aus dem noch jeder Abwesende in die Anwesenheit der filmischen Welt übergehen kann: Absenz und Präsenz. So realisiert sich die Ankunft des Emigranten auch in Oğlum Osman in einer einzigen Einstellung. Was in Vahşi Arzu der Eintritt in die Kadrage ist, ist in Oğlum Osman ein harter Schnitt auf eine Einstellung auf das Außengelände des Flughafens, von dem aus Osman schon winkend und zugleich baba (deutsch: »Vater«) rufend in die Kamera läuft (Abb. 18.25-26). In Vahşi Arzu setzt der Film mit einem Bildfeld ohne den Emigranten ein, in das dieser eintritt. In Oğlum Osman ist der Emigrant im Ankunftsbild schon enthalten. Das Winken, die körperlich-phatische Geste der Aufkündigung des Selbst an den Anderen, fällt im letzteren Film mit dem Einsetzen der Einstellung zusammen. Durch den schreiartigen Ton der Flugzeugturbinen, die in der Einstellung zuvor im Off hörbar waren (die Szene zuvor zeigte Fatma mit Photoband auf dem Bett sitzend) kündigte sich eine, unheimliche, weil schreiartige Ankunft bereits an und aktualisierte sich als eben jene Einstellung, in der Osman in die Kamera läuft. Das Einsetzen der Einstellung von Osmans Ankunft bedeutet ja, dass in Relation zur Einstellung zuvor eine gänzlich andere raumzeitliche Koordinate, die jede Szene ist, aufgerufen wird.104 Dieses Einsetzen der Szene fällt mit zwei innerdiegetischen Gesten der Selbstanzeige zusammen: Osman winkt, macht sich also visuell bemerkbar, und er ruft zugleich baba, adressiert also schon die ihn erwartende Person. In diesem Zusammenfallen von unmittelbarer, plötzlicher Ankunftsszene, kündigt sich nicht nur die Figur selbst an, sondern das Bild von der Ankunft setzt auch zugleich als unvermittelter Akt des Eindringens ein, der mit dem Laufen des Emigranten in Blickrichtung der Kamera auch noch im Hinblick auf den Sichtraum der Zuschauer_innen erhalten bleibt. Im einen Fall läuft der Emigrant in das Bild unvermittelt hinein in Richtung der ihn Erwartenden (Vahşi Arzu), im anderen Fall läuft der Emigrant im Bild auf die Kamera zu (Oğlum Osman). Beide Richtungen sind diametral entgegengerichtet und lassen sich doch als Bezeugung von stattgefundener/stattfindender Migration im AusSchnitt deuten. Beide Varianten zeigen so die Perspektivenabhängigkeit auf Migration auf. Aber diese analytische Beobachtung lässt sich auch anders wenden, nämlich im Hinblick auf die Perspektivenunabhängigkeit der Migration, auf die Eintauchbarkeit des ›göttlichen Auges‹ in den »Materiestrom«105 , aus dem heraus Migration in der filmischen Konstruktion in seinem intraaktiven Werden je spezifisch ›skalpiert‹ wird. 104 Nochmal: So gesehen ist Montage immer Migration, ein Stück Welt, das dann auf ein anderes Stück Welt wechselt. Nur ist damit auch nichts über Migration oder Montage ausgesagt. 105 Deleuze (2005, S. 62f.).
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Versteht man das als die ästhetische Eigenleistung des Films, solche Ansichten (Material) von Migration zu liefern/zu produzieren/ereignen zu lassen/zu verkörpern/zu mediatisieren/zu materialisieren, so ist damit der Status der Fähigkeit des Films zur ontologischen Stabilisierung beschrieben. Denkt man den »Materiestrom« nun als intraaktives Werden der Welt, in der das forschende Subjekt (ich) selbst darin intraaktiv geronnenes »Tätigsein« ist, dann ist mit der hier vorgenommenen Bestimmung von Migration als relationales Verhältnis eines wandernden Subjekts im Raum im Gefüge ein solcher »agentieller Schnitt«106 vorgenommen, der Migration bereits als solche in einer relativ groben Äußerlichkeit im Phänomen fest-gestellt hat, das Werden ist getilgt (die Bewegung aber nicht, siehe Argumente zu Deleuzes erstem Bergson-Kommentar). Es wird ein anderer Zugang zum Film und dem Verhältnis zur Migration darin nötig. Doch das fortzudenken ist eine andere Geschichte.107
106 Barad (2012, S. 81f.). 107 Das wäre eine Geschichte, die man vielleicht die materialistisch-filmische Perspektive nennen könnte. Grundlegende Überlegungen im Verhältnis von Film und Materialität sind entnommen aus Skrandies (o.A.). Im Hinblick auf die Art und Weise, wie ein materialitätstheoretischer Ansatz ein anderes Erkennen, Sprechen und Schreiben in Anschlag bringt: In einem Interviewgespräch mit Petra Löffler und Florian Sprenger versucht Tim Ingold ausgehend von seinen Arbeiten eine Beschreibung der Materialität in der Welt in seinem Werden, siehe Ingold et al. (2016). Konkret spricht er von einem materiellen Gefüge des Cellospielens. Dieses Sprechen darüber klingt dann so: »Der andere Teil besteht darin, dass sich das Instrument in dem Moment, in dem ich zu spielen beginne, ganz und gar nicht mehr als Instrument anfühlt. Vielmehr spüre ich es als ein Bündel von Materialien – das Holz, die Saiten auf dem Bogen, das Metall, das Harz, die Luft –, die gleichsam explodieren, wenn ich zu spielen beginne, und in die Unermesslichkeit des auditiven Raumes schießen«, Ingold et al. (2016, S. 88). Weitere Gedanken insbesondere zum Verhältnis Film und Migration finden sich in Strohmaier (2018), Kuster (2018) und Heidenreich (2015).
8. Figuration III: Ankunft Unveränderlich wie das Dorf ist, wird er es doch nie wieder sehen, wie er es sah, bevor er wegging. Er wird anders gesehen und er sieht anders. (John Berger & Jean Mohr, Arbeitsemigranten1 )
Das vorherige Kapitel behandelte die Konstitutionsverhältnisse der menschlichen Akteure und den Konstruktionsweisen des Emigranten durch sie (in ihren sprachlichen Verhandlungen, visuellen »Handlungen« (Erinnern, Phantasmieren), durch Medien [Photographie, Brief] et cetera). In diesem Teil wird es nun um die filmische Konstruktion der Ankunft selbst gehen und um die ersten Szenen nach ihrer Ankunft. Der Untersuchung der Abwesenheitsszenen kam dabei zu Gute, dass sie mit der Rückkehr des Emigranten als solche abgrenzbar wurden. Filme, deren Plotmuster nonlinear, multipel sowie per komplexeren Zeit- wie Wanderungsfigurationen fungieren und die aufgrund eben der Verkomplizierung durch Erinnerungs- und Virtualitätsbilder schon selbst physische Bewegungsmuster mit der Dimension des Imaginären und Virtuellen unterlaufen, mögen die Abgrenzung des Konzepts der Abwesenheitsszenen schwieriger gestalten. Denn solche können dann nicht in den Filmanfängen selbst enthalten2 oder wären dann länger und deswegen komplexer zu untersuchen. Mit der Fokussierung auf die Reisefiguration der Heimkehr, die sich in zahlreichen Emigrationsfilmen zeigt, fokussierte die Untersuchung allenfalls, die in den Anfängen enthaltenen Abwesenheitssequenzen. Eine Erzählweise, die im Falle von Abwesenheitssequenzen über die Erzählung von der Heimkehr hinausgeht, findet sich nur selten in den untersuchten Filmen des High-Yeşilçam-Kinos, sehr wohl aber in den Post-Yeşilçam-Filmen, 1 Berger und Mohr (1975, S. 220). 2 Und nochmal: ›enthalten‹ heißt hier, dass das Produkt dieses Sinngehalts aus der Poiesis selbst resultiert, also niemals als unmedialisiert vorzustellen ist. Siehe dazu Certeau (1988) und für den ›deutschtürkischen Film‹ Lehmann (2017b). Es ist zudem das Produkt audiovisueller Regime, das sich selbst aus den medialen Konfigurationen ergibt, daraus »gerinnt«, vgl. Engell (2010). Konkreter für den Untersuchungsfokus der vorliegenden Arbeit: Sie ist als »visuelle Konstruktion des Sozialen« untersuchbar (Kapitel 5).
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so zum Beispiel in dem TV-Spielfilm Geyikler, Annem ve Almanya (siehe weiteren Verlauf des Kapitels). Was sich im vorhergehenden Kapitel noch relativ abgrenzbar darstellte, wird mit Blick auf das Konzept der Anwesenheitsszene also umso schwieriger: zum einen, weil der Emigrant über die gesamte Restlaufzeit des Films ›enthalten‹ ist – wobei dieses ›Enthalten‹ ein komplexes medientheoretisches Phänomen ist; zum anderen hieße ein Ausgangspunkt der Anwesenheitsszene auch, dass Filme, die die Emigrantenrückkehr überhaupt nicht verhandelten, pure Anwesenheitsfilme des Emigranten wären. Zum Beispiel ist der emigrierte Ehemann zwar nicht im Film zu sehen, aber dafür wird das Leben eben jener Betroffenen unentwegt verhandelt. Davon ausgehend wird eine Spezifizierung notwendig, nämlich die Fokussierung auf das Ereignis der Heimkehr. Bedenkt man, dass mit der Heimkehr des Emigranten dieser in bestehende Gefüge eintritt, ist es umso verständlicher, weshalb dieser Eintritt zugleich auch auf Seiten der home group Ängste freisetzt: Ängste nach einer unbestimmten Zukunft, die der Migrant mit sich bringt. In dieses Moment der Ver-un-heimlichung der Heimat begeben sich auch die vielen hier untersuchten Filme. Man kann diese Angst nach der Verunheimlichung auch in eine Dimension der Potentialität erweitern: wo jemand herkam, können noch andere kommen, was die Remigration eines Einzelnen dann als Potentialität ankündigt. So ließe sich der Migrant dann in seiner visuellen Präsenz nicht nur als Spur des Eintritts des Fremden wahrnehmen, das dieser mitbrächte, sondern auch als unaufhörliche Möglichkeit des Eintritts auch unzähliger anderer Fremder – in das eigene Lebensfeld, das das Heimische verunheimlicht. Vielleicht ist es diese Potentialität des Eintretens, Erscheinens, Auftauchens das sich mit der Andersgemachtheit der Migrant_innen zu ihrer Fremdheit verbündet: Ihr kommen aus der unbestimmbaren Tiefe des visuellen Wahrnehmungsfeldes heraus, also jenem Feld, aus dem heraus der Lacan’schen Blick unentwegt zustrahlt und das Subjekt erst zu dem macht, was es ist. Das Zusammenfallen von der Erscheinung einer Figur, eines ästhetisch gesehen korporalen Etwas im Wahrnehmungsraum mit der Heimkehr aus der Migration zeigt auf, dass das Einsetzen des Bilds und Migration mediale Wesensverwandtschaften haben. Für den filmischen Schnitt wird das ebenfalls folgenreich beschreibbar: Wenn jeder Schnitt ein Mikroereignis des Wechsels raumzeitlicher Koordinaten ist, so ist in dieser Mikrostruktur des Films selbst die Grundstruktur der Migration erhalten. Sie gilt als vollzogen dann, wenn ein immenser Wechsel der Bezugssysteme (Schütz) in Verbindung mit grenzüberschreitenden Wechsel raumzeitlicher Koordinaten stattgefunden hat. Was ist ein Schnitt anderes als ein Wechsel raum-zeitlicher Koordinaten? Hier soll nun ebenfalls ein Wechsel stattfinden: Ging es in dem Kapitel zuvor, um den Vorgang des Anreisens in heimische Zusammenhänge und damit um das Moment des ›da Seins‹ der Migrant_innen im Dorf, wird es in diesem Kapitel um das Moment der Intersubjektivität jenes ›da Seins‹ gehen: Die Blicke in den ersten Momenten der Ankunft. Erinnern wir uns: Migration fordert Blickregime heraus und erzeugt damit zugleich solche performativen Ereignisse, die die fundamentale Sozialität des Visuellen im Herzen treffen. Diese Sozialität gründet in erheblichem Maße in dem, was von zahlreichen Theoretiker_innen (Levinas, Lacan, Schütz) das Moment des »Von Angesicht-zu-Angesicht« genannt wurde. In der Heimkehr spitzt sich dieses Moment stärker zu: einander längere Zeit abwesende Subjekte begegnen sich. Nennen wir dieses Moment Blickbegegnung.
8 Figuration III: Ankunft
Um diese Blickbegegnungen in der Remigration wird es in dem vorliegenden Kapitel gehen. Diese Blickbegegnung kann dabei von Mal mehr Mal minderer Relevanz für die Akteur_innen sein. Im Remigrationsfilm Oğlum Osman war besonders der Blickaustausch zwischen Fatma und Osman von Tragweite. In der Blickweigerung des jungen Mannes gegenüber der Kindheitsliebe hat dieser die gemeinsame Vergangenheit und Liebesbeziehung aufgekündigt. So diente der erste direkte Blickaustausch zwischen Zurückgelassener und Emigriertem als Bruch von Osman, der damit die Nichtfortführung ihrer vor-emigrantischen Liebesbeziehung unmissverständlich kommuniziert (Abb. 29.1-2). Dabei war es Fatma, die bei Osmans Ankunft vom Balkon aus den Geliebten sehnsuchtsvoll beobachtete und so mit einem einseitigen (unilateralen) Blickvorgang das Moment der Ankunft als Blickmoment noch vorwegnahm – in der Hoffnung, dass der Heimgekehrte an die früheren Bindungen anknüpft (sich dahingehend preserviert hat) (Abb. 18.31).
Abbildung 29.1-2 – Standbilder aus Oğlum Osman (1973)
Zu betonen ist also, dass Ankunft ein soziales Ereignis ist, denn sie vollzieht sich in der Begegnung von Menschen, die einander leibhaft nicht mehr sahen. Wenn Osman am Flughafen ankommt, sind seine Blicke schon gegen den Vater gerichtet und die Blicke des Vaters richten sich auf Osman. Damit sind die komplexen Prozesse des Blickens im zwischenmenschlichem Kontext aufgerufen, die konstitutiv für ein Verständnis der binnenblickhaften Dimension von Migration sind. Dadurch ist die Ebene der filmischen Konstruktion in blicktechnischer Hinsicht verkompliziert. Auch ohne die Medialisierung durch den Film reichen blickinvolvierte intersubjektive Momente in besonderer Reichweite in unzählige Migrationen hinein. Die Skalierung3 in der Vorstellung von Migration auf das Moment intersubjektiver Begegnung ist für die Re-Migration von essentieller Bedeutung, weil es ein bestimmendes Krisenmoment des sozialen Gefüges sein kann, das in der chiastischen Verschränkung zwischen der »sozialen Konstruktion des Visuellen und der visuellen Konstruktion des Sozialen«4 aus betrachtet die anthropologische Ur-Szene aufruft. Diese Blickbegegnung ist konsequenzenreich, denn sie definiert in erheblichem Maße, wie der Heimkehrende eingeordnet 3 Zu Skalierung als Schnittstellenproblem von Filmästhetik und Wissenschaftstheorie siehe Wendler (2013, S. 174-181). 4 Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 335) und erläuternd dazu W. J. T. Mitchell in Dikovitskaya (2005, S. 242247).
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wird oder sich fügt oder fügig gemacht wird, wie sich also die Templates von gegenseitigen Erinnerungsbildern in die aktualisierten Bilder des Emigranten hineinreichen. In den Fokus des Kapitels rücken damit besonders intersubjektive Blickregime zwischen home group und Remigrant_innen. Wenn in den Kapiteln zuvor offensichtlich geworden ist, dass der Vorgang der Rückreise in den untersuchten Filmen mit der Ankunft im Dorf und den vormaligen heimischen Lebenszusammenhängen zu einem Ende kommt5 , dann ist das nachfolgende Unterkapitel einem besonderen Aspekt dieser Ankunft gewidmet. Und dieser Aspekt besteht nun in der Annahme, dass die zwischenmenschlichen Blickprozesse, die Migration in unzähligen Figurationen herausfordern6 , besonders im Moment der Ankunft Tragweite für die visuelle Konstruktion der Emigrant_innen besitzen. Dem Aspekt gehen also folgende Annahmen voraus: Migration bedeutet aufgrund der Entkopplung aus statischeren sozialen Gefügen, die stärker ortsfixiert sind, die permanente Begegnung mit anderen Subjekten. Es lassen sich damit im Gefüge Migration Ereignismomente hervorheben, die in der Begegnung einander dauerhaft abwesender oder fremder Subjekte bestehen. Begegnungen können aufgrund der (Re-)Aktualisierung sozialer Gefüge diese besonders markieren und oft mit reichweitenerhöhten Veränderungen für die Beteiligten einhergehen. Die ersten Begegnungsmomente sind also ereignishaft, weil sie eine mögliche Konstellation von Fremdbegegnung inhärieren, die als solche oft hervorgehoben sind. Weil Migration eine besondere soziale Angelegenheit raum-zeitlicher Trennung ist, involviert sie immer auch Anders-Werden und ihre Konstruktion. Zugleich ist Anders-Werden in die komplexe Dimension der Differenzbildung eingelassen, die ein Urthema kultur- und medientheoretischer Reflexion bis heute ist, aber auch die kritische Migrationsforschung aktuell herumtreibt: Dieses Anders-Werden von Migrant_innen haben Vassilis Tsianos und Dimitris Papadopoulos in Anlehnung an Deleuzes und Guattaris prozessphilosophische Gedanken aus »Tausend Plateaus« auch als »Tier-Werden« und »Unwahrnehmbar-Werden« beschrieben und sich damit an Überlegungen neuerer queer-politischer, tendenziell anti-repräsentationalistischer Positionen angeschlossen. Mit diesen prozessphilosophischen Überlegungen versuchen sie, den subalternen und ephemeren Status illegaler oder auch anderer Migrant_innen jenseits von statischen Repräsentationsüberlegungen umfassender beschreiben und in eine politisch-wirksame De-Repräsentationspraxis überführen zu können: Deleuze und Guattari bieten Konzepte an, die die heilige Dualität der gegenwärtigen Migrationstheorie erschüttern und somit herausfordern: das ökonomistische Denken der neuen Mobilitätsstudien, das den Humanitarismen des kommunitären Denkens wie auch der Flüchtlingsstudien gegenübersteht. Das Konzept des Werdens kann uns dabei unterstützen, den liberalen Diskurs der neuen MigrantIn als nützliche und anpassungsfähige Arbeitskraft ebenso zu überwinden wie die Opferlogik, die im paternalistischen Interventionismus der NGOs vorherrscht.7 5 Dabei ist dieses Ende prozessual zu denken, denn es ist nicht markiert durch harte ›Grenzen‹. Ankommen heißt ja zum Beispiel auch, Gefühle und Empfindungen des Heimisch-Seins (wieder-)zuentwickeln und das ist kein einfach zu bestimmender Vorgang. 6 Für die Bedeutung intersubjektiver Begegnungen auf der Reise siehe auch Eleftheriotis (2012, S. 122f.). 7 Papadopoulos und Tsianos (2008).
8 Figuration III: Ankunft
Begründete Argumente gegen anti-repräsentationalistische Politiken äußert Schaffer, indem sie auf Repräsentationspraktiken und -kritiken als eminent politischen Untersuchungspraktiken insistiert: Und diese Prozesse des Unsichtbar-Gemacht-Werdens, als Gewaltprozesse, die gleichzeitig Spuren hinterlassen, und diese Spuren sind lesbar – all das wird verunmöglicht, wenn Repräsentationsprozesse als Untersuchungsgegenstand verabschiedet werden. ›Becoming imperceptible‹ ist also ein ambivalentes konzeptuelles Werkzeug, um gegen Formen normativer, epistemologischer und legistischer, d.h. rechtsförmiger Gewalt vorzugehen.8 Eine solche Argumentation, wie sie Schaffer erwählt, halte ich in gewisser Hinsicht auch für den Kontext des ›deutsch-türkischen Kinos‹ als individuelle Wissenschaftspraxis für wichtig. Repräsentationen oder Konzepte wie Nationalität sind begrifflich-konzeptuelle Hilfskonstrukte und damit epistemische Operationen, die als Techniken überhaupt eine Operationalität gewährleisten. Auf die politischen Praktiken der Migration bezogen heißt das beispielsweise, prozessphilosophische oder anti-repräsentationalistische Annahmen nicht gegen repräsentationalistische Konzepte und Beschreibungsverfahren auszuspielen. Beide haben wirkmächtigen Anteil zur Sicherung der Handlungsfähigkeit in wissenschaftlichen Kontexten. Durch filmästhetische Untersuchungen wird damit in das bereits schwierige Blickverhältnis noch das schier unerschöpfliche Feld film- und bild-blicktheoretischer Aufsammlungen für die Untersuchungsprämisse aufgenommen werden, um unter anderem auch dem »spurhaften« Charakter von Prozessen nachgehen zu können. Denken wir kurz zurück an Vahşi Arzu, den Emigrationsfilm, der die Anreise des Emigranten als Bildeintritt inszenierte und die Anreiseszene damit konkret aussparte: Was die Register des kollektiven Unbewussten in dem Film herausfordert ist weniger die Szene vom Bildeintritt als die Erzählung von der Rollenübernahme einer deutschen Ehefrau durch die Prostituierte. Sie realisiert eine vielleicht gar als anatolisch oder östlich konstituierte Angst, dass sich Emigranten von blonden Frauen verführen lassen. In 28:15 bestätigt Nazlı, Hasans Verlobte, den Diskurs von der Verführung der Emigranten in Deutschland: dass die Emigranten in Deutschland ihre Geliebten im Dorf vergessen und eine blonde Frau von dort bevorzugen. Nazlı kauft also die Intrige des Raufbolds ab. In 29:46 versucht der Raufbold Nazlıs Ängste zu bekräftigen, indem er ihr sagt, dass »es keine Männer gibt, die sich drüben keine Frau gesucht hätten«. Weil Hasan ganz im Sinne von Öfkenin Bedeli und Kara Toprak jedoch keine solche Emigrantenfigur darstellt, die in Deutschland die daheim verbliebene Verlobte betrogen hat, ist er damit als Verführungen widerstehender, wesensgestärkter Emigrant konstruiert. Diese Angst vor der blonden Frau zeigte sich bislang auch dezidiert ausformuliert in Kara Toprak in den Elterngesprächen des Emigranten Murat sowie vielen anderen Filmen zu der Zeit und später. In Oğlum Osman artikulierte sich die Angst auch, als Fatma davon sprach, dass sie Angst hätte, ihren geliebten Osman an die Heimat der blonden Frauen zu verlieren. Andere Filme, die das Stereotyp der deutschen blonden Frau 8 Lorenz et al. (2012, S. 291f.).
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als Verführerin des Emigranten verhandeln, sind beispielsweise die beiden Ali Avaz9 Komödien und nahezu sämtliche Arabeskfilme zur Emigration (▶ Kap. 3). Diese rassistische, weil Deutschsein an das Blonde koppelnde Angst spiegelt vielleicht auch eine kollektive Verlustangst wieder. Dass das Anwerbeabkommen und die damit verbundenen gesundheitlichen Untersuchungen der angeworbenen Arbeitsmigranten eine inverse, biopolitische Kolonisierung vorantrieben.10 Die deutsche Verbindungsstelle in Istanbul ließ zum Beispiel so nur diejenigen jungen Männer einreisen, die besonders kräftig und gesund waren. Das hatte zur Folge, dass in den Dörfern all diejenigen fort waren, die zugleich zur lokalen wirtschaftlichen Reproduktion besonders gut hätten beitragen, besonders gut die heimischen Frauen hätten heiraten und die sexuelle Reproduktion damit fortsichern können. Nicht nur werden die Emigranten als verlorene (potentielle) Ehemänner imaginiert, sondern zugleich als nationales, ökonomisches oder familiäres Potential. In Kapitel 9.1 wird nochmal darauf eingegangen werden. Doch zurück zu den intersubjektiven Blickkonstellationen: Mit dem Fokus auf die Begegnungsmomente von der Rückkehr wird sich zugleich auch mit Blick besonders auf die Dorf- und Arabeskfilme zeigen, dass die Verwestlichungsdarstellung des Emigranten an ein visuelles othering geknüpft wird.11 In den folgenden Analysen wird es aber nicht nur generell um die visuelle Andersmachung gehen, sondern darum, dass in den Emigrationsfilmen die äußere Anderswerdung des Emigranten bei der Ankunft als Krisenmoment inszeniert ist. Hauptmerk wird auf einem ganz besonderen Film liegen: dem Dorffilm Dönüş. Im untersuchten Filmkorpus und im film- sowie kulturhistorischen Kontext nimmt Dönüş12 (»Die Rückkehr«) von 1972, das Regiedebüt der türkischen Schauspielikone Türkan Şoray, eine zentrale Stellung ein. Der Film macht die Figur jenes im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland Migrierten auf eine Weise und so früh sichtbar, dass er als wichtiges Moment in der Herkunft der visuellen Konstruktion der Figur der Emigrant_innen beschrieben werden kann. Der Film macht in seiner Konstruktion nicht nur transparent, wie sich die Stereotype des ›Deutschländers‹ erzeugt, sodass sich gar mikroanalytisch, fast wie in Zeitlupe, an ihm untersuchen lässt, wie sich eine andersmachende Stereotype im soziokulturellen Feld etabliert. Das geschieht im Film sogar auf eine Weise, die die Zentralität der Blickbegegnung in der Ankunft für die Migration besonders offensichtlich werden lässt. Im Film schauen wir nämlich der (nicht nur filmisch emergierten) Konstitution einer Stereotype zu, die in ihrer Spezifität noch Jahre die visuelle Konstruktion des ›Deutschländers‹ prägen wird. Der Film besticht dabei dadurch, dass er das Begegnungsmoment als Moment einer blickorchestrierten Begegnung zwischen Emigrant und ahnungsloser und darum umso geschockterer home group konstruiert. Paradigmatisch wird in Dönüş damit die Figur des ›Deutschländers‹ als 9 Ali Avaz war ein türkischer Comedian, der ganze LP-Kassettenaufnahmen seiner zumeist kalauerhaften Songs und Anekdoten besonders auch über das Leben in der gurbet vertrieb. 10 Zu der These der »kolonialen Muster« im deutschen Arbeitsmigrationskontext siehe Ha (2003). 11 Zu bedenken ist: Die Angst vor der Anderswerdung der Emigrant_innen, die auch in den Filmen Yücel Çakmaklıs besonders perfide auch in die Repräsentationspolitiken und mediale Gouvernementalität verwoben ist (Kapitel 6.5 und 9.1), koppelt sich in seinen Filmen kaum mit einer Sichtbarmachung dieser Andersheit anhand äußerlicher Marker. 12 Şoray (1972).
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blick-theatralischer Vollzug über eine filmische Orchestrierung von V/Erkennungsmomenten zwischen Zurückgelassener (Ehefrau) und Emigriertem (Emigrant/Ehemann) inszeniert. Der zweite untersuchte Film ist Almanya’da Bir Türk Kızı. Auch dieser Film stellt das Ankunftsmoment des Emigranten als über V/Erkennungsmomente gekennzeichnetes Ereignis her, das sich eher als Krisenerfahrung der home group äußert. Die filmische Konstruktion dieser Szenen in dem Dorffilm auf der einen Seite und dem Arabeskfilm, der auch als Videoveröffentlichung in Deutschland für die Migrant_innen erschien, auf der anderen Seite wird im folgenden Kapitel im Hinblick auf die visuelle Konstruktion jenes Blickmoments untersucht werden. Während Dönüş aufgrund seines paradigmatischen Status in der Geschichte des türkischen Emigrationsfilms eine filmkulturhistorisch besonders umfassende Aufmerksamkeit (Vorproduktion, medientheoretische Kontextualisierung der konkreten vorproduktiven Erfahrungen der Regisseurin zur Szene) und eine Herausarbeitung seiner Relevanz für die Migrationsforschung gewidmet wird, wird im letzteren Film der Fokus auf die Analyse der Ankunftsszene gelegt. Da das Genre des Arabesk-Films, das für das Phänomen der Migration im türkischen Film zentral ist, bislang ausgespart wurde, wird die Gelegenheit genutzt, ähnlich wie in Kapitel 6.4.1 zum Dorffilm geschehen, einen kurzen genrehistorischen Einblick zu geben. Dabei werden im Zuge der Analyse dieses Films also auch genrehistorische Kontextualisierungen zum Arabeskfilm geliefert, das als Migrationsgenre der Türkei schlechthin zu betrachten ist. Vor der Fokussierung auf zwei so dramatische Inszenierungen des Blickmoments gilt es noch, die scheinbar unscheinbaren Blickvorgänge im Hauptuntersuchungsfilm Acı Zafer zu fokussieren, um so zunächst eine erste Bestimmung des Orts des Blicks im Kontext von Remigration vornehmen zu können.
8.1.
Blicksequenz I: Acı Zafer (1972) – Blickpolitiken als sexuelle Politiken
In dem Dorffilm Acı Zafer zeigt sich die Ankunft in mehreren Blickbegegnungen (→). Als Hasan und Ehefrau mit Lena mit dem Bus ankommen, richten sich drei Männer an der Teestube auf und begrüßen den Emigranten mit Händedruck (Abb. 30.1). Die Emigrantenankunft wird auch durch die Begrüßung der Männer zum öffentlichen Ereignis. Hasan kündigt mit der Hutabnahme ihnen gegenüber seinen Respekt an. Wichtig erscheint hier, dass Lena den Männern keinen Händedruck gibt. Andernfalls könnte das schon als unsittliche Geste und für eine Frau als unpassend betrachtet werden. Es bleibt beim höflichen Kopfnicken. In dieser Begrüßungseinstellung findet sich eine separierte Einstellung, die einen der späteren Vergewaltiger beim Heraustreten aus einer Tür zeigt (Abb. 30.2). Er ist es, der die Vergewaltigung am meisten unter seinen Mitstreitern forcieren wird. Er lehnt sich nun an einen Balken. Unmittelbar in der Einstellung auf den schnauzbärtigen Mann selbst naht die Kamera mit Zoom-In von einer Amerikanischen auf eine Normale auf ihn. Im anschließendem Gegenschnitt auf eine Nahe von Lenas Gesicht, das ihren Blick als dem Gespräch zwischen Hasan und den Dörflern folgend zeigt (Abb. 30.3), kommuniziert sich also das (sexuelle) Interesse des Raufbolds
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an Lena, da die Einstellung sich als PoV des Schufts lesen lässt: Die Einstellung auf Lena vollzieht sich als ein aufmerkender Begehrensblick des Schufts.
Abbildung 30.1-12 – Standbilder aus Acı Zafer (1973)
Nachdem die nächste Halbtotale an der Teestube Hasan dabei zeigt, wie er den Koffer an einige Dorfkinder überreicht, damit diese ihn an die Emigrantenmutter übergeben, wird erneut auf eine Halbtotale geschnitten. Sie eröffnet den Blick auf ein weißes, bungalowähnliches Haus in einiger Entfernung zwischen Sträuchern und Ästen (Abb. 30.4). Durch die differenten Abstände der Sträucher zum Haus erzeugt sich nicht nur eine distanzräumliche Verortungsmöglichkeit des Hauses, sondern kündigt sich zugleich auch das »Blickregime«13 an, das selbst Bedrohlichkeit und Beobachtetheit vermittelt. Die Unheimlichkeit, den der subjektlose Blick erzeugt, ergibt sich aus der »Akusmatik des Blicks«14 , der so zwischen Verortbarkeit und Unverortetheit changiert. 13 Elsaesser und Hagener (2011, S. 130f.). 14 Vgl. Lie (2012).
8 Figuration III: Ankunft
Die Anwesenheit der Emigranten, sein Hinzutreten ruft also eine Destabilisierung der Dorfordnung hervor, eine Ordnung, die durch ihn immer destabilisiert wird, weil er Neues ist, und zwischen den Status von Bekanntem und Fremden oszilliert, weil er ein Hybrid aus Zugehörigem und Andersgewordenem (geworden) ist beziehungsweise die Differenz dessen herausfordert und damit abjektiv, also zur Erzeugungsinstanz einer Indifferenz zwischen Eigenem und Anderem15 zu werden droht. Diese Momente spielen also in das Blickregime und dessen Unheimlichkeitsvermittlung noch hinein. Für die meisten Migrationsfilme gesprochen: Damit nicht genug. Stets bringt der Migrant etwas mit. Sei es seine Freundin, Frau oder seien es moderne Dinge als Geschenke wie ein Mixer (Davaro), die nicht weniger in die abjektiven Dynamiken in jenen Migrationsgefügen hineinspielen.16 Kinder, die »Bruder Hasan ist gekommen« schreien, laufen vom rechten Bildrahmen auf das Haus zu. Eine melancholisch anmutende Flötenmelodie setzt ein. Die Mutter Ayşe, eine in schwarzes Gewand gehüllte Frau, deren Gesicht vom Gewand ausgespart ist, läuft vor den Hauseingang. In der immer noch gleichen Einstellung vom Haus wird mit einem Zoom-In die Sträucher hindurch auf sie und den sie umarmenden Sohn Hasan gezoomt. Weiterhin rahmen zwei Äste den Blick auf die Umarmenden, das Interesse der verborgen bleibenden Blickinstanz ist geweckt (Abb. 30.5). Die nächste Einstellung präsentiert eine Nahe auf die Gesichter von Sohn und Mutter, während Mutter Dankensworte an Allah für die Zusammenkunft spricht (Abb. 30.6). Die Einstellungsgröße wechselt im nächsten Bild auf Normale: Schließlich umarmen sich auch Emigrantenmutter und Lena. Schon bei dieser ersten Begegnung, auf den aus Respektsgründen vorgenommenen Handkuss (Abb. 30.7) hin, wird Lena herzlich mit Wangenküssen durch die Mutter versehen und willkommen geheißen. Beim späteren gemeinsamen Essen im Haus, spricht die Mutter davon, dass sich ihre erste Angst vor einer fremden Frau letztlich völlig aufgelöst hätten und dass sich ihr »Blut zu Lena sofort erwärmt« hätte. Die Metapher von der Bluterwärmung greift nicht nur das Konzept der Erwärmung als Metapher der sozialen Annäherung auf, sondern auch die der Blutsmetapher, die zugleich eine natürliche, über die soziale Konstruktion hinausgehende nahezu abstammungsmäßig gewordene soziale Bindung artikuliert: Die »Natürlichkeit des Bluts« kann sich der Menschenkenntnis nicht irren. Doch vor der Essenszene im Haus setzt sich die Ankunftsszene noch weiter fort: In der Normalen, in der Lena noch Ayşe den Handkuss gab, umarmen sich Emigrant, Mutter und Ehefrau glücklich und geben eine Familienpose ab. Dann werden die Kinder, allesamt Jungs, die vorher noch Hasans Gepäck zum Haus der Mutter trugen, in einer Normalen in einer Reihe stehend mit lachendem Blick gezeigt. Ihre Blicke sind so gerichtet, dass verstehbar ist, dass sie die Umarmungsszene der zuvor Gezeigten betrachten. Gegenschuss in einer Normalen auf die Jungs von hinten (Abb. 30.8-9): Die im Dunkeln, weil unbelichtet gezeigten drei Rücken der soeben gesichteten Jungs verdecken zum Teil die Ansicht auf die Umarmenden. Als Hasan die Jungs bemerkt, löst 15 Vgl. Kristeva (1998). 16 Diese abjektiven Dynamiken in den Gabenzirkulationen durch die Migration eröffnen ein Untersuchungsfeld, das künftigen Forschungsarbeiten zu überantworten ist.
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er sich von der Umarmung, geht auf sie zu und drückt ihnen Geld in die Hand, dabei mitteilend, dass sie damit ins Kino gehen können. Die Jungs rennen dankend davon. Schnitt auf eine Amerikanische in leichter Untersicht, die diesmal drei Rücken von Männern zeigt: Aus der rechten mittleren Bildhöhe, die einen Teil des Hauses sichtbar belässt, kommt die wiedervereinte Familie um die Ecke. Es setzt ein Schnitt auf eine Normale ein, die die drei Viehhändlerbrüder zeigt. Zugleich folgt ein Gegenschnitt auf die Emigrantenfamilie. Die Mutter bittet Sohn Hasan und Lena schon mal ins Haus zu gehen. Ein Schwenk folgt Hasan und Lena die Eingangstreppen hinauf, während die beiden ihre Koffer greifen und hineingehen. Lena muss sich beim Kofferheben leicht bücken und steht mit dem Rücken zur Kamera, ihr Rock hebt sich leicht (Abb. 30.10). Unmittelbar ein Gegenschnitt auf die drei Viehhändler, deren Blicke gegen die Tür gerichtet erscheinen (Abb. 30.11): etwas, das sich mit dem unmittelbaren Gegenschnitt auf Lena, die durch die Tür tritt, vereindeutigt und mit zeitgleich einsetzenden, kurz aus dem Off zu hörenden Sample aus Pauken- und Trommelschlägen sowie Streichern (militärischer Charakter) mit Bedeutsamkeit nach eben jener Aktivierung des sexuellen Begehrens auflädt. Das sexuelle Begehren der Männer an der Frau bedarf keiner visuellen Eindeutigkeit oder Markierung. Innerhalb der statischen Einstellung selbst markiert die Musik das Moment jener Aktivierung des Begehrens und der induzierten Verführung durch den Umstand der Rockanhebung. Das Bildfeld wird zu einem Blickfeld, indem sich der Blick oder der Blickfokus selbst an die Stelle des sexuellen Blickbegehrens bewegen muss, will es das Geschlecht sehen. Die visuelle Undurchdringlichkeit, die die Rockanhebung kurz vor Sichtbarwerden des Höschens belässt, verstärkt das Moment der Verführung und Aktivierung sexuellen Begehrens eben aufgrund der Blickversperrung, der Leerstelle, in die die sexuelle Phantasie eindringen kann. Das Bildfeld, das die Rockanhebung von Lena zeigt, verdeckt den konkreten Blick auf ihr eventuell noch durch Unterwäsche verborgenes Geschlecht, das durch den Schatten, den ihr Rock wirft, in einen Bereich der abgedunktelten Fast-Sichtbarkeit überantwortet bleibt. Dieser Bereich verwandelt sich durch das allmähliche Anheben des Rockes kurz vor Sichtbarwerden des Geschlechts in Unsichtbarkeit. Der Gegenschuss auf die Gesichter der Unholde fixiert hierbei deren Blick, dessen Fokus keiner Vereindeutigung durch eine zusätzliche Einstellung mehr bedarf. Die potentielle Blickaktivität der Zuschauer_innen kann als die Zusammenhänge sexueller Begehrensentwicklung verstehend entstehen. Hasans Mutter spricht den Viehhändlern aufgrund ihres finanziell dürftigen Angebots Worte der Ablehnung, sodass die drei Männer sie ein letztes Mal bedrohend von ihr wegtreten. Die alte Frau geht daraufhin zum Hauseingang und tritt in ihr Heim ein. Lässt man die Begegnung mit dem Hauptmann Esat in der Kleinstadt außer Acht, lassen sich bis hierhin drei Begegnungsmomente und zwei ›gefährliche‹ weil das Vergewaltigungsbegehren unterstützende Beobachtungsmomente festhalten: die Begegnung am Teehaus mit den drei Dorfmännern sowie dem unilateralen Beobachten durch den Vergewaltiger 1; zweitens die Begegnung am familiären Heim mit der Mutter und den beobachtenden Kindern; drittens die Begegnung mit den drei Viehhändlern (Vergewaltiger 2, 3, 4), die Lenas Hintern beim Taschenheben beobachten. Heben die Blickpolitiken in diesen Begegnungsmomenten auf die sozial-extensive Dimension und Offizialität des Remigrationsereignisses an (schauende Kinder, Tee-
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stubenmänner), bleiben besonders die sexuellen Politiken der Szenen durch die Blickbegegnungen auffällig, in denen die PoVs der Identifizierung der lustvollen Blicke der Viehhändler und des Schufts dienen. Diese Erstbegegnungen, die im Hinblick auf andersmachende Eigenschaften wenig auffällig bleiben, verkehren sich in den kommenden beiden Filmen in krisenhafte Momente. Den beiden kommenden Filmen zu folgen, bedeutet nicht, andere Auffälligkeiten an jener hier kurz untersuchten Szene nun für den Rest der Analysen auszublenden, sondern analytischen Raum für solche Inszenierungen von Blickbegegnungen zu geben, die sich selbst als Krisen- und andersmachende Momente des Emigranten geben.
8.2.
Blicksequenz II: Dönüş (1972) – Andersmachung des Emigranten
Allerlei schwere Rückschläge musste die Dörflerin Gülcan hinnehmen, nachdem ihr Ehemann İbrahim nach Deutschland als Gastarbeiter ausreiste, um ihre Schulden für das gepachtete Land abbezahlen zu können. Ihr Feldgut verbrannte, wahrscheinlich auf heimliche Anordnung des Großgrundbesitzers Reşit im Dorf, der nichts ungetan lässt, nicht einmal das Abschlachtenlassen ihrer Hühner, um Gülcan für sich zu gewinnen. Sie soll verzweifeln, verhungern, ohne Geld dastehen und sich ihm für ihre Rettung hingeben, nur einmal. So kann der Großgrundbesitzer auch seine »Autorität wiedererlangen«17 , die er durch die Abweisung durch Gülcan in der Dorfgemeinschaft verloren glaubt. Selbst die Briefe, die Gülcans Ehemann İbrahim aus Deutschland zuschickt, lässt Reşit durch Bestechungen vorab entgegennehmen, sodass sie nie bei ihr ankommen. Doch nach einigen Monaten, deutet sich etwas an, womit Gülcan nicht mehr gerechnet hatte. Tiefschwarze Augen, ihre unnachahmliche, verführerische Schönheit, ihr Temperament, ihre Erhabenheit: Es sind diese Eigenschaften, mit denen eine der prominentesten Schauspielerinnen der Türkei mehr als ein halbes Jahrhundert die Projektionsflächen des türkischen Films bereichert. Türkan Şoray erhält nicht zuletzt aufgrund dieser Eigenschaften einen Beinamen, den sie dem Titel einer ihrer populärsten Filme18 verdankt: Sultan19 . Dieser Beiname ist weniger als Betonung ihrer autoritären und doch zugleich majestätischen Aura gemeint, sondern vielmehr auch als Verweis auf die Beherrschung der vielfältigen im türkischen Kino möglich gewordenen Frauenfiguren, die sie in all den Jahren verkörpert; beispielsweise als femme fatale der Städte, als sexy und naives Mädchen von nebenan, als selbstbewusste, starke und manchmal auch dem eigenen Mann gegenüber devote Frau in den Dorffilmen und später auch als reflektierte, nachdenkliche ›neue‹ Frau in der türkischen Frauenfilm-Ära, die einige Zeit nach dem militärischen coup d’état in der Türkei 198020 möglich geworden war.21 Von dieser Emanzipationsgeschichte der verkörperten Frauenbilder ausgehend verwundert es daher nicht, dass die ›Sultanin‹ ca. ein Jahrzehnt nach ihrem großen Durchbruch in 17 Aras (2009, S. 71). 18 Tibet (1978). 19 Vgl. Altınkaynak (2009, S. 200), Aras (2009, S. 73). 20 Vgl. Atakav (2013). 21 Vgl. Aras (2009, S. 73).
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einem der wichtigsten Ableger des so genannten »türkischen Sozialrealismus«22 , dem Film Otobüs Yolcuları23 (»Die Buspassagiere«) (1961), irgendwann selbst auf den Regiestuhl wollte. Der Auslöser für ihre erste Regiearbeit geht auf einen Krankenhausaufenthalt zurück. Als sie bei einer Reitszene für den Film Cemo (1972) kurz vor Drehende der Einstellung vom Pferd stürzt, verbleibt sie aufgrund der Gefahr einer Querschnittslähmung 40 Tage unbewegt im Krankenhausbett. Ein mit zwölf Kilogramm Beschwerung versehenes Gerät zur Wirbelstreckung ist in dieser Zeit über Ledergurte um ihren Kopf gespannt. Zahlreiche Fans und Freund_innen besuchen sie unentwegt, sogar Emigrant_innen aus Deutschland reisen ans Krankenhaus an. In dieser Zeit trifft sie in einer Zeitung auf einen Bericht, der den Plot für ihr Regiedebüt Dönüş abgeben wird: In den 70ern hatte die Anzahl der Menschen, die nach Deutschland zum Arbeiten ausreisten, zugenommen, das Phänomen der Arbeitsmigration hatte begonnen. Zu der Zeit hatte mich ein Zeitungsbericht sehr betroffen gemacht. Ein Arbeiter aus Deutschland erfährt von den im Dorf kursierenden Gerüchten [vermeintlich Ehebruch, Ö.A.] über seine Ehefrau und bei der Rückreise mit dem Auto dorthin, in der Absicht seine Frau umzubringen24 , kommt er bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Nachricht war traurig. Nach einer Zeit, als ich über dieses schmerzhafte Ereignis nachdachte, fingen an, dieses Drama, dieses Auseinanderreißen, diese Erlebnisse derjenigen, die von denen zurückgelassen werden, die ihr Heim aufgeben und in die Fremde ziehen, in meinem Kopf die Gestalt einer Geschichte anzunehmen. 70'li yıllarda Almanya’ya işçi olarak çalışmaya giden insanların sayısı artmış, işgücü göçü olayı başlamıştı. O sırada gazetede çıkan bir haber beni çok etkilemişti. Almanya’da çalışan bir işçi, köydeki karısı hakkında yapılan dedikoduları duyuyor ve karısını öldürmek üzere arabayla köye dönerken yolda trafik kazasında ölüyor. Haber üzücüydü. Bir süre sonra bu acı olayı 22 Vgl. Daldal (2005). 23 Göreç (1961). 24 Im Film selbst wird den Zuschauer_innen diese aus den Ehebruchsgerüchten resultierende Tötungsabsicht des Ehemanns nicht unmittelbar nachvollziehbar gemacht. Wir sehen lediglich wie er auf einer Landstraße im Auto mit einer ein Baby im Arm haltenden Frau an seiner Seite auf einer Landstraße ins Dorf zurückreist (Zuschauer_innen können allenfalls, annehmen, dass es seine neue deutsche Ehefrau oder Freundin und ihr Kind sind). Eine kurze Szene, in der der Ehemann das Handschuhfach öffnet, in dem eine Pistole zu sehen ist, findet sich eine dezente Anspielung. Wichtig zu betonen ist auch dies noch: Das Zitat kann aus einer, die Kultur des Ehrenkodex als unverständlich einstufenden Leserichtung unfreiwillig komisch wirken, denn die Geschichte könnte auch humorvoll in der Hinsicht sein, dass das Glück anzunehmen ist, dass der Ehemann noch vor der Tötung der Frau verstarb. Der Eindruck einer unfreiwilligen Komik, den man der Trauer der Regisseurin gegenüber einem missglückten Ehrenmord aufbringen könnte, ist mit Blick auf ein in der Türkei anzunehmendes gesellschaftlich extensives Wissen um die oftmals Unheil bringende Praxis des »Gerüchts« zu relativieren. Die wörtliche Bedeutung von »dedi kodu«, nämlich »er/sie hat gesagt und gesetzt«, antizipiert die performative Wirkung von Gerüchten: durch das »Sagen« werden wirklichkeitsgenerierende »Setzungen« vorgenommen. Nicht zuletzt diese Performativität von Gerüchten im Kontext einer kulturellen Matrix des Ehrenkodex bringt derartige tragische Geschehnisse hervor: und die Tragik des Tod des Mannes wie der Ehr- und Selbstwertverlust der Frau, die aus diesem System von kultureller Matrix und der Performativität des Gerüchts resultieren, sind für Şoray verständlicherweise mit Trauer belegt.
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düşününce, bu dram, bu parçalanma, geçim derdi için evini barkını terkedip gurbete gidenlerin geride bıraktıklarının yaşadıklarını beynimde bir hîkaye olarak şekillenmeye başladı.25 Auffällig ist hier zuerst der für die Initiation von Filmen relativ häufig vorzutreffende transmediale Vorgang der Übertragung der erzählten Ereignisse aus dem Medium des Zeitungsberichts in ein Drehbuch. Für Şoray soll der Schriftsteller Safa Önal die Drehvorlage verfassen, zu der Zeit einer der gefragtesten Drehbuchautor_innen der Yeşilçam-Ära. Damals wusste er noch nicht, dass er 2006 mit 395 verfilmten Drehbüchern einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde erhalten würde. Önals Produktivität darf schon in den 1970ern, während der Herstellungsphase von Dönüş, nicht durchgängig mit einer schnellen Arbeitsweise verwechselt werden: Für einige seiner Drehbücher recherchiert er gründlich und extensiv, liest viel, reist viel, führt Interviews und ist ein genauer Beobachter seiner Umwelt; ein relativ großer graziler Mann, gebürtiger Istanbuler und sehr strikt und stringent erscheinend in der Organisation seines Lebens und Tuns. Nach Abschluss eines jeden Drehbuchs liest er es in Anwesenheit der Regisseur_in von Anfang bis Ende vor, hasst dabei sämtliche Unterbrechungen, »[s]tört sich sogar dann an Ihnen, wenn Sie sich bewegen«26 . Şoray bleibt von diesem, von ihr bewunderten, fast ritualartig angeleiteten Prozess nicht ausgenommen. Önal benötigt schließlich drei Neufassungen und damit »sehr lange«27 bis das Buch in einer Drehfassung vorliegt – auch wenn Şoray von der Yeşilçam-typischen Dialoglastigkeit nichts hält. Beinahe ein Jahr vergeht bis die Dreharbeiten beginnen können: in der auf schnelle und kostengünstige Herstellung angelegten Produktionskultur des Yeşilçam-Kinos, in der zwischen Anfertigung des Drehbuchs (sofern es überhaupt eins gibt) und Drehende auch mal nur wenige Wochen liegen können, eine schiere Ewigkeit. Dabei stand Schauspielerin Türkan Şoray als Regisseurin noch gar nicht fest. Erst nachdem der erfahrene Filmemacher Atıf Yılmaz Batıbeki und ein weiterer Regisseur ausschlagen, weist der Produzent Irfan Ünal der selbstbewussten Schauspielerin den Regieposten für ihr Herzensprojekt zu. Zahlreiche Akteur_innen aus der türkischen Filmbranche äußern sich skeptisch, als der weibliche Schauspielstar sich auch die Regie zutraut. Rückengestärkt durch Äußerungen von einigen Regiegrößen der Zeit28 bleibt Şoray ihrem Wunsch treu: Sie will den Film selbst drehen und die Hauptrolle übernehmen. Am 28. November 1972 ist schließlich erster Drehtag unter für sie schwierigen Bedingungen. Neben dem Druck, der aus der Skepsis ihrer Branchenkolleg_innen allgemein resultiert, muss sich Şoray als Regisseurin gegenüber einer von fast nur aus Männern bestehenden Filmcrew am Set behaupten: an einem entlegenen Dorf namens Paşaköy in Ümraniye29 , das auf dem Weg zum Badeort Şile am Schwarzen Meer weit draußen auf der asiatischen Seite Istanbuls liegt. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser schwierigen Drehumstände macht sie an diesem Tag eine Erfahrung, die ihre angespannte Situation für einen Moment vergessen lässt: 25 26 27 28 29
Şoray (2012, S. 133). Şoray (2012, S. 160). Andaç und Şoray (2000, S. 94). Şoray nennt Osman Fahir Seden, Metin Erksan, Halit Refiğ, vgl. Şoray (2012, S. 135). Dorsay et al. (o.J., S. 27).
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Mit Spannung erwartet jeder, wie ich die erste Einstellung drehen werde und ich spiele ihnen etwas vor, um ihnen das Gefühl zu geben, dass ich von mir selbst überzeugt bin. Ich gebe süßsaure Posen ab, das Set ist bereit, mit innerem Zittern umarme ich die Kamera und küsse sie. »Hier, also mein Lebensgefährte«, sage ich berührt und platziere mein Auge an die Kamera und sehe die Welt von dort. Ein wundersamer Moment. Die Welt, die ich von der Kamera aus sehe, ist eine Welt, die das Auge noch nicht gesehen hat. Nach dem Einrichten der Kamera sieht eine Blume, ein Baum, der Himmel, ein Mensch ganz anders aus. Und mit der Kraft, die dir das gibt, kannst du deine vorgestellte Welt erschaffen. İlk planı nasıl çekeceğimi herkes merakla bekliyor, ben de onlara kendinden gayet emin duygusu vermek için rol yapıyorum. Tatlı sert pozlarındayım, set hazır, içim titreyerek kameraya sarılıyor, öpüyorum. »İşte benim canyoldaşım« diyorum duygulanarak, kameraya gözümü yerleştiriyorum ve dünyayı oradan görüyorum. Mucizevi bir an. Kameradan gördüğüm dünya gözün görmediği bir dünya adeta. Kamerayı sabitlediğimde bir çiçek, bir ağaç, gökyüzü, bir insan bambaşka görünüyor. Ve bunun verdiği güçle hayal dünyanı yaratabiliyorsun.30 Es ist der Moment des Anlegens des Auges an den Sucher der Kamera, in dem eine Differenz im Sehen und damit zwei unterschiedliche Sehmodi für Şoray erfahrbar werden: das Sehen ohne und das Sehen mit der Kamera. Letzteres ist für sie ein Sehen, das eine visuelle Differenz der Welt impliziert: zwischen der mit dem menschlichen Auge allein betrachteten und der durch die Kamera gesichteten. Diese Differenz lässt die Welt für sie zu einer noch zu entdeckenden werden, die Kamera ermöglicht ihr ein »sehendes Sehen«31 , wie Waldenfels in Anlehnung an Max Imdahl formuliert. Dieser aus der Sensibilität resultierende veränderte Weltbezug wird sie zur Inszenierung einer vielschichtigen Blickpolitik in einer Filmszene verleiten, die für den türkischen Emigrationsfilm und damit filmwerkhistorisch zentral sein wird. Das ist die These, aus der heraus dieses Wahrnehmungsereignis beschrieben wird. Die nachfolgenden Ausführungen werden medientheoretische Reflexionen vornehmen, die sich entlang dieser autobiographischen und lapidaren Formulierung Şorays gestalten: nicht um eine teleologisch verfahrende Kontinuität zwischen der Erfahrung der Regisseurin und der Gestaltung der Szene zu behaupten, sondern – und hierin besteht eine Differenz zu den anderen Analysen der Arbeit, weshalb sie als Exkurs zu werten ist – um den Konstruktionsprozess dieser filmhistorisch für den Emigrationsfilm so bedeutsamen Szene transparent zu machen; und damit die Kontingenz, in der sich das Auftauchen der Figur des Emigranten im türkischen Kino ereignet. Insoweit, wie hier die Beschäftigung mit dem Regisseurin-Werden Şorays reflektiert wird, wird die Analyse den gängigen Pfad der Untersuchung visueller Konstruktion also verlassen, und sich den Produktionsbedingungen jener Stereotype widmen.
8.2.1.
Aisthetische Transformation: Regisseurin-Werden – Ein Exkurs
Auffällig an Şorays Zitat zur Wahrnehmungsveränderung im Blick durch die Kamera ist, dass sie die beschriebene andere Wahrnehmung mit der Einsicht nach einem »wun30 Şoray (2012, S. 135). 31 Waldenfels (2001b, S. 235).
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Abbildung 31 – Türkan Şoray am Set von Dönüş (1972), Quelle: Şoray, »Sinemam ve Ben« (2012)
dersamen Moment« verknüpft, also einem Augenblick, der ihre gelebte Wirklichkeit in Richtung einer unerklärlichen und positiv empfundenen Gestimmtheit erweitert. Für sie ist die Erfahrung eines veränderten Sehens mit der Kamera keine gewöhnliche, sondern ein hervorhebenswertes Datum, an das sie sich in der autobiographischen Erzählung explizit erinnert. Außerdem verknüpft sich für sie mit der Wahrnehmungsveränderung auch das Gefühl nach einer enormen Stimulation, nach einer »Kraft, die dir das gibt«32 zur Realisierung ihrer filmischen Vision, die auch noch während der gesamten Phase des Drehs anhält, sogar so, dass sie unentwegt »bis in die Morgenstunden im Kopf diesen Film«33 dreht. In der Erfahrung durch die Verstellung der optischen Wahrnehmungsbedingungen, also der Begegnung des optischen Systems ihres menschlichen Auges mit dem System der Filmkamera (den technischen Spezifika des Objektivs mit den opto-mobilen Eigenschaften des Heran- und Herausnahens [Zoom] und der Blickbeweglichkeit [Schwenk], dem kamerakorporalen Gefüge aus Stativ, Sucher et cetera), erschließt sich für Şoray das visuell-explorative Potential der Kamera, das sich für sie in der veränderten Wahrnehmung der äußeren Welt und damit in der Verfügbarkeit einer neuen Sichtbarkeit ergibt. Die Unsichtbarkeit der differentiellen Sehensmodi gehört zur konstitutiven Medialität des Filmischen34 und in der Überlegung danach, wie sich Şoray mit der Kamera verknüpft, lässt an die Überlegungen Simondons zur komplexen ontogenetisch sich 32 Şoray (2012, S. 135). 33 Im Original: »Beynim sabaha kadar o filmi çekiyordu«, Şoray in Andaç und Şoray (2000, S. 56). Im Türkischen benutzt man zur Beschreibung der Lokalisierung des Ablaufs mentaler Prozesse statt des Worts ›Kopf‹ (kafa) das Wort ›(Ge)Hirn‹ (beyin), das hier auch im Original von Şoray benutzt wird. Da es im Deutschen unangemessen wirkt, habe ich das Wort durch das üblichere ›Kopf‹ ersetzt. 34 Heiß (2017, S. 263).
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Abbildung 32 – Setfoto
Quelle: Şoray, »Sinemam ve Ben« (2012)
entfaltenden Wirklichkeit technischer Ensembles denken, die sich mit dem Menschen zu medientechnischen Ensembles verbinden.35 Aufgrund des Mangels der Beschreibung dessen, was Şoray in ihrem Blick durch die Kamera konkret sah, ist nicht ganz auszumachen, woran sie diesen Eindruck einer Andersheit des Gesichteten genau festmacht. Ihrer Beschreibung sind zudem kameratechnische Beschreibungen zur Erläuterung der Differenz im Gesehenen fern. Sie sagt außerdem nur, was sie sieht (Blume, Baum, Mensch, Himmel), das Gesichtete aber ist mit einem indefiniten Artikel benannt (türkisch: bir = »[irgend]ein«), sodass man aus der Textstelle nicht eindeutig ableiten kann, ob sie konkret einen spezifischen Baum et cetera sah oder aus der Präsenz ihrer autobiographischen Erzählung heraus (zwischen Autobiographie und dem konkreten Filmdreh liegen 40 Jahre) die Objekte zu Illustrationszwecken als allgemeine Beispiele eines möglichen äußeren Blickfelds (Blume, Baum, Mensch, Himmel) nennt. 35 Simondon (2012).
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Das technisch-epistemische Mehr der Sicht mit der Kameraoptik und die »drei Leben« des Filmdispositivs Schon Walter Benjamin hat die epistemologischen Leistungen der Filmkamera für das Feld der menschlich-optischen Erschließbarkeit herausgestellt: Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs36 , ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.37 Diese andere Sehweise mit der Kamera lässt sich neben der genannten Benjamin’schen Konzeption des »Optisch-Unbewussten« auch mit Dziga Vertovs Theoretisierung des Kinematographischen als Exploration einer dem menschlichen Auge unverfügbaren Welt denken. Vertovs überspitzte Konzeption einer Augenmaschine hilft hier zu verstehen, wie die filmischen Fähigkeiten an epistemologische Leistungen geknüpft sind, die auch Şorays Erfahrung ausmachen, wenn sie aus ihrem Kamerablick heraus von einer Welt spricht, die das Auge noch nicht gesehen hat. Sechs Jahre vor der wirkmächtigen Dokumentation Der Mann mit der Kamera38 (1929) verfasst »The Council of Three«, bestehend aus Vertov, seinem Kameramann und Bruder Mikhail Kaufman und seiner Cutterin und Frau Elizaveta Svilova39 , ein euphorisch-impulsives Manifest über den Kinematographen. Der Text ist als Ich-Monolog einer lebendigen Kamera als Maschine, eines Kino-Auges (im Original: »Kinoglaz«), eines vom menschlichen Sehen unabhängigen, maschinischen Augen-Subjekts angelegt. An einer prominenten Stelle des russisch-avantgardistischen Manifests heißt es in der deutschen Übersetzung: …Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern. Ich, die Kamera, habe mich auf die Resultante geworfen, manövrierend im Chaos der Bewegungen, eine Bewegung nach der anderen in den kompliziertesten Kombinationen aufzeichnend. Befreit von der Verpflichtung 16-17 Bilder in der Sekunde aufzunehmen, befreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen, stelle ich beliebige Punkte des Universums gegenüber unabhängig davon, wo ich sie aufgenommen habe. 36 »Dehnen und Raffen« gehören der Montage, der Aufnahme (Erhöhung/Senkung Bildaufnahmefrequenz), der Postproduktion und der Präsentation des filmischen Materials an. 37 Benjamin (2003, S. 39) 38 Vertov (1929). 39 Vgl. Vertov et al. (1984, S. 12).
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Dies ist mein Weg zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So dechiffriere ich aufs Neue die euch unbekannte Welt.40 Vertovs »Kinoglaz« (Augenmaschine) kann kriechen, sich am Mund eines rennenden Pferdes entlangbewegen, an Objekte heran- und von ihnen wieder wegnahen und damit die Welt optisch auf Zelluloid bannen, wie es die Filmkamera als (damals noch) photochemisch-optomechanische Apparatur, die vom menschlichen Auge als optisches System differiert, zu leisten vermag. Vertovs metaphorische Überspitzung verfügt aber auch über zahlreiche Differenzen zu Şorays beschriebenem Wahrnehmungsereignis. So ist Şorays Erfahrung eher eine vornehmlich filmkamera-optische, denn filmische Erfahrung, zu welcher auch Aufnahme und mindestens auch die Entwicklung des Films sowie dessen Montage angehören müssten. Anders als Vertov evaluiert sie das ›andere Sehen‹ durch die Kamera als den Blick eines menschlichen, sehenden Subjekts durch die, oder besser, mit der Kamera, also als Veränderung der menschlichen Wahrnehmungsbedingungen durch die Linse, den Kamerakorpus, der die Linse trägt, das Stativ zur Bewegung des Kamerakorpus und damit der Richtposition der Linse, sowie der optomechanischen Linsenfunktionen wie dem Zoom und dem Fokus. Während Şoray besagte Wahrnehmungsveränderung feststellt, filmt sie nicht und spricht auch nicht vom (auch innerlich) montierten Film, der Montage selbst oder seiner Projektion/Konsumtion. Die Mobilität ihres Blicks verbleibt ein Standpunktblicken, denn es ist an jene (Im)Mobilität des Körpers gebunden, die Vertov am menschlichen Sehen beklagt: »Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit.«41 Vertovs zeit- und ortlose Mobilitätsvorstellung der Kamera (»[…] befreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen […]«42 ) resultiert daraus, dass für ihn auch die Präsentation beziehungsweise die Projektion des durch die Kamera Gefilmten, und damit auch die Montage, als »eine Bewegung nach der anderen in den kompliziertesten Kombinationen aufzeichnend«43 bedacht wird. Die Enthumanisierung des kinematographischen Blicks als Augenmaschine und das Phantasma der Zeit- und Ortlosigkeit des »Kino-Auges«, die diese monologisch angelegte Ansprache eines imaginären Adressaten vornehmlich motiviert, ergeben sich nicht aus der Beschreibung eines einzelnen Moments des Blickens durch die Kamera, sondern resultieren bei Vertov auch aus dem impliziten Verständnis von Film als Aufzeichnungs-, Zeige- und dem System der Vorsichtung des zu Filmenden, das sich bei Şoray (noch) nicht realisiert. Deleuze drückt das in seinem Kino-1 Buch für Vertov als drei Relationen von »Leben« aus: Bei Vertov ist das Bewegungsintervall die Wahrnehmung, ein Blick, das Auge. Nur daß es nicht das allzu unbewegliche Menschenauge, sondern das Auge der Kamera ist, das heißt ein Auge in der Materie, eine Perzeption, wie sie in der Materie vorkommt, wie sie sich von dem Punkt, an dem eine Aktion beginnt, bis zu dem Punkt erstreckt, zu dem die Reaktion führt, wie sie das Intervall zwischen beiden ausfüllt, das Universum 40 Vertov (1973, S. 20). 41 Vertov (1973, S. 20). 42 Vertov (1973, S. 20). 43 Vertov (1973, S. 20).
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durchläuft und gemäß ihren Intervallen ausschlägt. […] Und die Montage selbst wird unaufhörlich die Bewegungsveränderungen im materiellen Universum und das Bewegungsintervall im Auge der Kamera aufeinander abstimmen: den Rhythmus. Zwar ist die Montage überall, auch schon in den beiden genannten Momenten enthalten. Sie findet vor dem Drehen [Hervorhebungen fett, Ö.A.] statt, bei der Wahl des Materials, das heißt an den Teilstücken der Materie, die, zuweilen über einen großen Abstand oder aus großer Entfernung, in Interaktion treten sollen (das Leben, wie es ist). Sie findet während des Drehens statt, in den Intervallen, die das Kameraauge einnimmt (der Kameramann, der verfolgt, rennt, hereinkommt, hinausgeht, kurz, das Leben im Film). Sie findet nach dem Drehen statt, im Schneideraum, in dem sich Material und Aufnahme (das Leben des Films) aneinander messen, bei den Zuschauern, die das Leben im Film mit dem Leben, wie es ist, konfrontieren. Es sind diese drei Ebenen, die im Čelovek s kinoapparatom ausdrücklich als koexistent gezeigt werden, die aber bereits das ganze voraufgehende Œuvre inspirieren.44 Diese Stationen sind als die dem Filmdispositiv zugehörigen vier Seiten zu bezeichnen, die jedem zumindest gesichteten Film als Endprodukt inhärent sind. Das »recording one movement after another in the most complex combinations« kann durch die Montage erreicht werden, wenn mindestens zwei zuvor aufgenommene Einstellungen aneinandergeschnitten werden (Ausnahme zum Beispiel Jump Cuts), denn die Kamera kann nicht in Raum und Zeit selbst springen, sondern zwei separate Einstellungen werden allenfalls aneinandergeschnitten und bedürfen der Begehung und Sichtung zweier Motive oder was Deleuze im Zitat »Teilstücke[] der Materie« nennt: etwas, das sowohl der Aufnahme zweier Motive, der Entwicklung des Filmnegativs als auch seiner Montage bedarf. Şorays Zitat hingegen ist weniger von der sich realisierenden konkreten Aufnahme oder dem Drehen des Films in ihrer Imagination, dem Film als Träger der Bilder, ihrer Montage oder als ihre Projektionen/Konsumtionen beeinflusst, sondern vielmehr Ausdruck einer Erfahrung allenfalls in der Veränderung ihrer visuellen Wahrnehmung durch die Kameraoptik: durch Veränderungen der Brennweite, des Lichteinfalls, der Farbwiedergabe, der Helligkeits- und Kontrastverhältnisse, der Krümmungsund Distanzverhältnisse, dem Zoom, der Schwenks, den (Un)Schärfen. Ihre Einsichten resultieren also aus einem konkreten filmkamera-optischen Wahrnehmungsdatum und weniger aus dem umfassenderen Dispositiv des Films zwischen Aufzeichnung, Projektion und Konsumtion, wie es bei Vertov der Fall ist. Şorays Verhältnis zur Kamera unterscheidet sich von demjenigen Vertovs auch im Hinblick auf die der Kamera zugeschriebenen Subjektivierungsrelationen. Vertovs Konzeption der Monologisierung einer fiktiven Augen-Maschine mit Adressierung eines extradiegetischen Adressaten (die Maschine spricht mit »euch« an) richtet sich weniger auf die spezifischen optomechanischen und photochemischen Besonderheiten der Kamera als Aufnahmeapparatur und Film als zentrales Element des Kinodispositivs, sondern die Maschine bleibt einer Ideologie der Erkundung raumzeitlicher Koordinaten verpflichtet. Die Veränderung in der Materialität des Gesichteten durch die Optik 44 Deleuze (2005, S. 63).
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wie sie bei Şoray deutlich wird, ist bei Vertov (zumindest in diesem wirkmächtigen Zitat) einem visuellen Explorationsethos gewichen. Şoray belässt der Kamera hingegen – zumindest noch am Anfang ihrer Formulierungen – noch eine reduzierte Antropomorphität, wenn sie sie als »Lebensgefährtin« bezeichnet und mit einer Zuneigung vermittelnden Praxis versieht: dem Kuss. Die Kamera kennt sie aus ihrer Zeit schauspielerischer Tätigkeiten. In dieser Zeit war die Kamera noch vor und mit ihr: als nebenher anwesende Gefährtin. Ihre Bezeichnung der Kamera als »Lebensgefährte« verweist damit auf diejenige Relation zwischen Schauspieler_in und Kamera, die für Schauspieler_innen vornehmlich über ihre Anwesenheit als (beobachtende) Aufnahmeapparatur und weniger wie bei Vertov als nahezu imperiales Erschließungs- und Erneuerungssubjekt einer optisch unentdeckten oder »fresh perception« der Welt besteht. Insofern gibt es eine Verschiebung der Relation zwischen Şoray und der Kamera.45 Es soll hier im weiteren Verlauf der These nachgegangen werden, dass ihr Sehen durch die Kamera vornehmlich dem hybriden System von Photographie und Filmkameraoptik angehört, in dem das Sehen durch die Linse des Objektivs und die Beweglichkeit des Objektivs durch die Verbindung von Kamera-Korpus und Stativ eine vordergründige Rolle spielt. Gegen Ende des Exkurses werden grundlegende Überlegungen zu Simondons Konzept »technischer Ensembles« angestellt, die nochmal eine Perspektivenverschiebung ermöglichen sollen. Setzt man die Benennungsreihenfolge der ersehenen Dinge, die Şoray im Zitat nennt, nämlich Blume, Baum, Himmel, Mensch, mit der Blickreihenfolge ihres Schauens durch die Kamera gleich, so ergibt sich die Deutung, dass Şoray durchaus Zoom, Schwenk und Fokus gleichermaßen genutzt hat. Sofern nicht eher eine Totale als Einstellung erwählt wurde, die all die Objekte gleichermaßen in einem einzigen Bild scharf festhält – ein Bild, das durch die Bildrahmen des Objektivs und des Suchers eingerahmt und deswegen ein (nahezu) rechteckiges Bildfeld ist, um eine weitere Differenz zwischen dem optischen Sichtfeld des Auges und des Objektivs zu, so muss sie von einer auf dem Boden befindlichen Blume, auf einen Baum, den Himmel hoch- und auf einen Menschen wieder heruntergeschwenkt und jeweils gezoomt, sowie fokussiert haben. Der Schwenk gehört zur Technik der Filmkamera samt Stativ an (nicht immer, es gibt auch Hybridstative aus Photo- und Videostativkopf), Zoom und Fokus der zuerst im photographischen System enthaltenen Technik des Objektivs. Wenn Şoray im Zitat vom »Einrichten der Kamera« spricht, kann neben der Einrichtung des Stativs und Platzierung der Kamera damit auch der Fokus gemeint sein, sowie die Einrichtung der Blende, die zwar die in die Kamera einfallende Lichtmenge reguliert, im Schauen durch den Sucher selbst allerdings keine Veränderung des gesichteten Bildfelds bewirkt. Das Fokussieren ist dann der Moment, in dem das Gesichtete aus seiner partiellen Verschwommenheit in eine Konkretheit der sichtbaren Dinge überführt wird. 45 Hierbei ist die Beziehung der Schauspieler_in gegenüber der Kamera nicht als Subjekt-Objekt Beziehung zu denken, wenn Şoray schon zur Zeit vor ihrer Regiekarriere von dem konditionierenden Effekt des Starts der Kameraapparatur spricht.
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Sicht durch die Filmkameraoptik als dispositive Situation und das »Medien-Werden« der Filmkamera Mit ihrer Anerkennung, dass die Welt in dem Moment des Blicks durch die Kamera zu einer wird, »die das Auge noch nicht gesehen hat«, verweist sie zumindest auf die Prozessualität einer sich noch zu vollziehenden Konstitution der Sichtbarkeit der Welt durch ihre visuelle Wahrnehmung, die nicht nur eine ästhetische Andersheit der ersehenen Objekte, sondern generell ein Feld von unsichtbaren Dingen enthalten kann: Elemente, die erst im apparativen Blick sichtbar(er) werden. Eine ähnliche wie bei Şoray beschriebene Konstellation einer erstmaligen apparativen visuellen Wahrnehmung bietet den Ausgangspunkt für Joseph Vogls medienphilosophische Untersuchung des »medienhistorischen Datums« von »Galileis Fernrohr«. Er erarbeitet daran eine Theorie des »Medien-Werden«. Jene Medienwerdung an Galileis Fernrohr, die er beschreibt, soll an den Thesen Vogls auch für Şorays Sichtung durch die Filmkameraoptik diskutiert werden, um die Unkonkretheit ihre Sichterfahrung in der autobiographischen Beschreibung zu differenzieren und medientheoretisch zu fassen. Zu bedenken ist hierbei, dass es Vogl mit seiner Untersuchung nicht nur um die Beschreibung des Prozesses geht es, durch den etwas zu einem Medium wird, sondern auch um den Versuch einer konzeptuellen Verhältnisbestimmung zwischen Medien und Dispositiv, die relevant sein wird. Das »Datum«, in dem Galilei durch das Fernrohr in den Sternenhimmel blickt und das Erblickte notiert, lässt für Vogl »eine veränderte Bestimmung dessen erkennen, was Sehen, Sichtbarkeit, das Verhältnis von Auge, Blick und gesehenem Ding bedeuten. […] es [das Fernrohr] entlässt nun Daten ganz eigener Art und ist – so lautet die These – von einem Instrument zu einem Medium geworden«46 . Dieses »Medien-Werden« lässt sich für Vogl anhand dreier Eigenschaften des »Datums« des durch die Linse-Blickens und der aus ihr resultierenden Ausführungen in Galileis Schrift Siderius Nuncius beschreiben, von denen sich alle drei auch in dem Zitat von Şoray wiedererkennen lassen. Erstens: die Erkenntnis nach der »Denaturierung der Sinne«. Şoray wird mit den erweiterten technischen Operationen der Kameraoptik auch die jeweilige Spezifizität und Reichweite des menschlichen Sehens bewusst. Das heißt mit der Kameraoptik »wird die Koordinate des natürlichen Sehens, des natürlichen Blicks und des Natur-Auges gelöscht«47 . Das Sehen mit dem menschlichen Auge wird für sie ein Sehen unter vielen Sehweisen. Zweitens weist Şorays Beobachtung nach dem Sehen auf die »Herstellung einer grundlegenden Selbstreferenz«48 hin. Der mit der Kamera gesichtete Baum sieht erst in Bezug zu einem vorher ersehenen Baum anders aus, die Welt aus der Kamera betrachtet ist eine andere als die Welt, die sie mit ihren Augen sieht. Mehr noch: sie spricht anschließend gar von einer Welt in ihrer Imagination, eine »vorgestellte Welt«, die man mit der Kamera »erschaffen« kann. Indem sie über das Gesehene und das Sehen als Moment selbst reflektiert, überdenkt sie ihr Verhältnis zur Welt, weil die Welt als Welt ihr darin auffällt, sie ihren Ort in der Welt als neuen Bezug 46 Vogl (2001, S. 115). 47 Vogl (2001, S. 116). 48 Vogl (2001, S. 116).
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zwischen der vorgestellten Welt, der mit dem »Natur-Auge« gesehenen Welt, und der Welt im Kamerablick denken muss. Es ist also kein Zufall, dass das Wort »Welt« in ihrem Zitat genau in dieser Konstellation dreifach vorkommt. Vogl zur Selbstreferenz: »Sehen ist Sich-Selbst-Sehen, Beobachtung ist Selbstbeobachtung, Verorten ist Sich-Selbst-Verorten«.49 Drittens: Das Partikel »noch« in Şorays Zitat kündigt die Vorläufigkeit der Sichtbarkeit an. Unsichtbarkeit wird dadurch als »Noch-Nicht-Sichtbarkeit« verstehbar, die sich in dem Blick durch die Kamera in Sichtbarkeit transformieren lässt, die allerdings weitere »Noch-Nicht-Sichtbarkeiten« mit sich bringen muss. Vogl für Galilei: »Das Auge und der bloße Augenschein werden ins Unrecht gesetzt, und dem scheinbaren optischen Zugewinn steht das uneinholbare Noch-Nicht eines dem Blick Entrückten gegenüber«50 . Es ist damit drittens »die Erzeugung eines anästhetischen Felds«51 , die auch das »medienhistorische Datum« von Şorays Blick durch die Kamera auszeichnet52 . Dieses »anästhetische Feld« wäre eher als eine »variable Sichtbarkeit«53 zu verstehen, die solange unsichtbar ist, wie sie noch nicht gesichtet wurde. Der Blick wird nun auf ein dem Blick Entzogenes bezogen, er wird in einen Prozess eingebunden, der mit jedem sichtbaren Datum nur eine Unermesslichkeit an Unsichtbarem und Verstecktem aufruft. […] Was also das Fernrohr zu sehen gibt, ist die Differenz von Sichtbarem und Unsichtbarem; was es hervorbringt, ist vor allem Unsichtbarkeit, sichtbare Unsichtbarkeit.54 Dabei sind Un-/Sichtbarkeit nicht nur als Ausschließlichkeit zu denken, sondern auch als Gleichzeitigkeit, auch wenn die gegenseitige Bedingtheit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu weiten Teilen aufrechterhalten bleibt. Diese Bedingtheit meint hier, dass mit jedem Mehr an Sichtbarkeit, ein Feld konstitutiver »Nicht-Sichtbarkeit«55 einhergehen muss, ist das Feld des Sichtbaren blickökonomisch stets begrenzt. Konkret: Vogl führt aus, dass das Fernrohr dadurch, dass es etwas ins Sichtbare bringt, von einer Zone des Unsichtbaren umgeben ist. Das trifft aber auf jedes Bildmedium zu, denn jede Sichtbarmachung beinhaltet konstitutiv eine vom Sichtbaren ausgeschlossene Unsichtbarkeit. Jedes Wissen ruht auf einem Feld des Nicht-Wissens auf. Für den spezifischen Fall der Beobachtungsmedien ist jedoch entscheidend, dass sie auch ein Verhältnis zum Nicht-Sichtbaren ausbilden, da ja, wie oben argumentiert, die durch das Fernrohr, das Mikroskop oder die Brille ins Bild gesetzten Dinge nicht prinzipiell unsichtbar sind, sondern nur mangels entsprechender Sinnesorgane nicht gesehen 49 50 51 52
Vogl (2001, S. 118). Vogl (2001, S. 118). Vogl (2001, S. 118). Ich blende hier noch die technischen Differenzen zwischen einem mit der Hand gehaltenen Fernrohr und einer auf dem Stativ befindlichen Filmkamera aus, das mittels eines Stativgriffs bewegt wird, sowie zahlreiche andere der Situation angehörende Differenzen. Die Grundkonstellation weist dennoch zahlreiche Ähnlichkeiten auf, wie die Analyse anzeigt, die in dem bestehen, was man das Dispositiv einer Linsenoptik samt Sucher nennen könnte. 53 Vogl (2001, S. 119). 54 Vogl (2001, S. 118). 55 Fahle (2014).
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werden können. Sie werden nicht durch ein bestimmtes Display überhaupt als Sichtbares produziert, wie das die Fotografie und der Film tun, sondern sie sind schon da, nur für das Auge eben nicht zugänglich. […] Anhand der Lupe [in »Blow Up« (1966)] wird also deutlich, was zunächst schon an der Fotografie auffiel – die Medien machen sichtbar, indem sie ein jeweils neues Feld des Nicht-Sichtbaren eröffnen.56 Wenn Şoray also einen »anderen« Baum vor sich sieht, so ist damit noch nicht die epistemologische Leistung gemeint, die derjenigen gleicht, die Vogl hier beschreibt. Şoray spricht nicht von »neuen Objekten«, die auftauchen, es besteht hier also ein qualitativer Unterschied. Was Galileo Galilei für das neu ersehene Sternenbild noch mit einer Zeichnung generierte, nämlich die »sichtbare Unsichtbarkeit« der Sterne, die durch die Medientechnik des Zeichnens als Gleichzeitigkeit manifest(iert) wird (die vorher sichtbaren Sterne und die neu sichtbar gewordenen Sterne zeichnet er auf einer einzigen Karte ein57 ), erzeugt Şoray über das Medium des Erinnerungsbilds. Sie benennt keine neuen Dinge, die sie sieht, aber kann sich an die Differenz der ersehenen Objekte erinnern: der Baum im Sichtfeld des Suchers erscheint »anders« als durch den vormaligen Blick des Auges ohne Kamera. Die Gleichzeitigkeit der »Augen-Welt« und der »KameraWelt« stellt sich bei Şoray über die Erinnerung an das Sichtfeld ohne Kamera ein, durch das Imaginäre. Dieser qualitative Unterschied in der epistemologischen Leistung beider Sehereignisse (Şoray und Galilei) hat damit zu tun, dass die Sichtsituation unterschiedlich konfiguriert ist. Das dunkle, überhellte oder von Wolken über uns bezogene All wie im Falle Galileis ist kein umfassender Teil einer detaillierten Alltagssichtung im Leben und bei Galilei bis dato überhaupt nicht nah-sichtbar gewesen. Die Landschaft mit Baum, Blume und Himmel wie im Falle Şorays hingegen ist Teil eines umfassenden Wissens in der Sichtsituation eines jeden Menschen, der sich ins Draußen begibt, das eine solche Landschaft enthält. Şorays Gesichtetes ist umfassenderer Teil dessen, was Kaja Silverman mit Jacques Lacan als das Vorgesehene bezeichnet, als dasjenige, das sich dominant sehen lässt, das donné-a-voir.58 Außerdem kann durch den vervielfachten Zoom des Fernrohrs eine Durchdringung vorher ungesehener Räume des Himmels realisiert werden, die sich qualitativ von der des Filmkamerazooms und den Objekten im menschlichen Sichtfeld unterscheidet59 . Auch wenn die epistemologische Leistung des Fernrohrs in Galileis Fall qualitativ ein anderer war, so wird Şoray durchaus die »Variabilität der Sichtbarkeit« beispielsweise im Detailsehen durch die Kameraoptik bewusst, die ja das Auftauchen bisher unsichtbarer Objekte birgt (Details im Gesicht): Ich habe festgestellt, wie wichtig die Großaufnahme des Gesichts ist; man kann bis in die Pupille herannahen, sieht die kleinsten Details im Gesicht, das Objektiv sieht also all das, was das menschliche Auge nicht sieht. 56 57 58 59
Fahle (2014, S. 79-84, hier: 79, 81). Vogl (2001, S. 119). Lacan und Miller (1996, S. 80). Siehe dazu auch Schaffer (2008, S. 114). Hier ist die Paradoxie des Zooms zu berücksichtigen: jedes Herannahen bedeutet auch ein Mehr an Wegdrängen und Verformen, vgl. Fahle (2014).
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Yakın yüz çekiminin ne kadar önemli olduğunu gördüm; gözbebeğine kadar yaklaşabiliyorsun, yüzündeki en küçük detayı görüyorsun, yani gözün göremediğini görüyor objektif.60 Was aus meiner Sicht der Beschreibung der »Erzeugung eines anästhetischen Feldes« an die Seite zu stellen wäre, wäre die Überlegung, dass die Optikveränderung auch vielmehr eine Veränderung in der ästhetischen Qualität des Gesichteten mit sich bringt, die zwar auch Vogl bei Galilei identifiziert, etwa, wenn dieser beschreibt: Galilei untersucht etwa die Mondoberfläche, stellt fest, dass sie nicht die kristalline Glätte und Rundung der quinta essentia des Aristoteles besitzt, vielmehr rau und zerklüftet ist, eine ganz und gar irdische Landschaft. Galilei schreibt: Die Mondoberfläche ist »uneben, rauh und ganz mit Höhlungen und Schwellungen bedeckt […], nicht anders als das Antlitz der Erde selbst, das durch Bergrücken und Talsenken allenthalben unterschiedlich gestaltet ist.«61 Nicht nur erscheinen also Objekte, die zuvor nicht sichtbar waren, sondern das Sichtbare stellt sich als Sichtbares anders dar. Oder anders gewendet: nicht nur verschiebt sich mit der Optik des Fernrohrs oder der Kamera die konstitutive Relation von Un/Sichtbarkeit, sondern es entsteht ein verändertes aisthetisches Verhältnis. Müsste man also den von Vogl angedachten Schritt der »Denaturierung der Sinne« nicht als »Veränderung der Sinne« oder gar als Veränderung des gesamten Gefüges von Leiblichkeit, den Sinnen, der Wahrnehmung und Empfindung weiterdenken? Bevor dieses aisthetische Verhältnis als vierter Punkt ergänzt werden wird, der an den Punkt der »Herstellung einer grundlegenden Selbstreferenz« anknüpft und für filmische Konstruktionen generell essenziell ist, sei hier Vogls Konstatierung des Verhältnisses der Begriffe ›Medien‹ und ›Dispositiv‹ wiedergegeben, auf das immer wieder zurückzukommen sein wird: Alle diese Momente spielen in den Medienbegriff hinein, reichen aber nicht hin, jeweils Funktion und Begriff von Medien selbst zu definieren. Man könnte in diesem Zusammenhang den Begriff des Dispositivs diskutieren (wie er auf unterschiedliche Weise etwa bei Lyotard, Foucault oder Baudry auftaucht) und die Frage folgendermaßen wenden: Die Medien-Funktion lässt sich nur als Zusammentreten heterogener Momente begreifen, zu denen technische Apparaturen oder Maschinen genauso gehören wie Symboliken, institutionelle Sachverhalte, Praktiken oder bestimmte Wissensformen. Das Zusammentreten oder Zusammentreffen dieser Faktoren entscheidet über das Auftauchen, über die Emergenz einer Medienfunktion, die sich eher in historischen Einzelanalysen als unter der Voraussetzung eines beständigen Medienbegriffs festhalten und beschreiben lässt.62 Den Begriff des Dispositivs habe ich in der Beschreibung von Şorays Sehen an der einen oder anderen Stelle schon benutzt, als ich vom Photographiedispositiv oder dem Filmdispositiv sprach, beim Film ohne konkret auf Baudry63 und Comollis Konzept des 60 Şoray (2012, S. 135). 61 Vogl (2001, S. 119). 62 Vogl (2001, S. 121f.). 63 Vgl. Baudry und Williams (1974).
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Kinodispositivs in der Apparatustheorie zu referieren. In dem von Vogl genutzten Sinn stellen sich dahingehend noch einige Differenzen zu jener Nutzung dar. Was mit dem Begriff des Dispositivs hier für Şorays Seherfahrung zu betonen ist, dass die Erfahrung ein Bestandteil aus einem Gefüge von Vielem (ihr Wissens- und Erfahrungskontext, der institutionelle sowie materielle Kontext des Yeşilçam-Kinos, die Filmkamera, ihr eigenes je spezifisches optisches System (Auge), ihre Technik des Blickens durch den Sucher (mit einem Auge) et cetera), eben dem Dispositiv ist, das diese Seherfahrung überhaupt hervorbringt.
8.2.2.
Ästhetische Materialität und die Differenz von Auge und Blick in der Welterzeugung
Neben den drei von Vogl genannten Eigenschaften eines »Medien-Werdens« und der Analyse des Sichtereignisses als Dispositiv soll nun ein vierter Punkt ergänzt werden, der nicht nur das historische Datum des Sehens durch die Kamera betont, sondern eine Kontinuität in der Veränderung des Weltbezugs und der Welterzeugung qualitativ umwertet: Der epistemologische Zugriff des Subjekts zu seiner nun verändert vor ihm erscheinenden Welt wird mit der veränderten Wahrnehmung zu einer apparativ-medial vermittelten, die die vorgängige »Sichtbarkeit in der Ordnung der Dinge«64 destabilisiert und das Verhältnis des Subjekts zu seiner Welt hin öffnet. Für die Untersuchung des Verhältnisses von Weltbezug und Welterzeugung hin zur Wahrnehmung ist es allerdings nötig, den Fokus von Fragestellungen der Epistemologie auf solche der Ästhetik und der Phänomenologie zu verschieben. Wie ist also die Spannung zu verhandeln, die in Şorays Zitat anklingt, als sie von dem Baum auf der einen Seite spricht, also einem Vorgesehenen, das die Sichtbarkeit vorstrukturiert, und dem durch die Wahrnehmung anders Gewordenen? Mit den optischen Wahrnehmungsveränderungen des Objektivs hatte ich das schon angedeutet. Was anders sein kann, sind Größenverhältnisse, Farb-, Krümmungs-, Kontrast-, Helligkeits-, sowie Tiefenverhältnisse und damit wären wir bei dem, was man als ästhetische Materialität beschreiben könnte (ich benutze die Begriffskombination hier nicht in Bezug auf spezifische Theorien philosophischer Ästhetik). Den Beginn des Nachdenkens über die Andersheit der von Şoray durch die Kamera gesichteten Objekte ließe sich mit der materialitätsethischen Debatten von Kracauer konkretisieren. Nicht zuletzt das in seiner Materialität Noch-Nicht-Erschlossene der äußeren Welt (nicht epistemologisch im Sinne von Objekterschließung gedacht, obgleich es für Kracauer zusammenhängt) ist für ihn konstitutiv in seiner kinematographischen Ethik. Seine Position ist wichtig, um die Materialität der »Sichtbarkeit in der Ordnung der Dinge«65 von ihrer epistemologischen Dimension zu trennen. So ist es insbesondere genau diese materielle Dimension der ästhetischen Erfahrung mit dem photographischen und dann filmischen Dispositiv, die für ihn die »Errettung der äußeren Wirklichkeit« ermöglicht. Denn 64 Borsò (2008, S. 273). 65 Borsò (2008, S. 273).
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[d]er Film macht sichtbar, was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht nicht einmal sehen konnten. Er hilft uns in wirklicher Weise, die materielle Welt mit ihren psycho-physischen Entsprechungen zu entdecken. Wir erwecken diese Welt buchstäblich aus ihrem Schlummer, ihrer potentiellen Nichtexistenz, indem wir sie mittels der Kamera zu erfahren suchen.66 Damit der Mensch die Materialität der Welt wieder und neu erfahren kann, muss er sich, so Kracauer, dem abstrakten Denken der Wissenschaft entledigen, die auf der einen Seite Sichtbarmachung avisiere und erreiche, aber auch verstelle, denn »[d]er wirklich entscheidende Grund für die Fremdheit physischer Realität liegt in unserer Gewöhnung an abstraktes Denken unter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik«67 . Was bei Vogl noch »anästhetisches Feld« und bei Benjamin »Optisch-Unbewusstes« war, wird bei Kracauer »eine potentielle Nicht-Existenz« der materiellen Dimension einer noch nicht ins Feld der Wahrnehmbarkeit gehievten Welt und damit ethisch aufgeladen. Bei Kracauer geht es nicht nur um die Feststellung der gegenseitigen Bedingtheit des von den Sinnen erfassten und des (vorläufig) Unwahrnehmbaren, sondern darum, dass der Versuch der Erfassung wünschenswert ist, weil es in eine veränderte Relationalität mit der Welt führt, die den Menschen vor dem »ideologischen Schleier« der in der Moderne zunehmend in den Vordergrund getretenen Abstraktheit errettet. Anders als bei Benjamin und bei Vogl transformiert sich bei Kracauer die photographische und filmische Wahrnehmung in eine »Erfahrung« und nicht nur Sichtbarwerdung der äußeren Welt.68 Dass auch schon das System der apparativen Optik für einen materialitätsdifferenten Zugang zur Welt reicht, zeigt Şorays Beschreibung. Schon im Schauen durch die Kamera, stellt sich für sie eine Veränderung in ihrem aisthetischen Verhältnis zur Welt ein. Diese apparative Optik bildet aufgrund der durch die Optik stattfindende Medialisierung der Wahrnehmung eine Öffnung mit der Welt. Diese Öffnung ist nicht zu verstehen als intentionale Gerichtetheit eines ermächtigten Subjekts gegenüber seiner Umwelt als Objekt, sondern als Veränderung des Gefüges zwischen Welt und Leib. Maurice Merleau-Pontys phänomenologische Arbeiten haben die konstitutive und chiastische Öffnung von Welt und Leib argumentiert und gezeigt, dass »der Körper ein Medium [ist], das mit der Differenz zwischen Innen und Außen konfrontiert und diese zugleich als Schwelle überwindet.«69 An einem Bild aus Ernst Machs »Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen« (Abb. 33) überführt Borsò Merleau-Pontys Inverhältnissetzung von Welt und Leib für das Feld der Sichtbarkeit in ein illustratives Beispiel und zeigt so auf, dass »die Sichtbarkeit das chiastische Ereignis zwischen dem sehenden Auge und dem Objekt des Blickes ist«70 : Tatsächlich illustriert das Bild von Mach die Unmöglichkeit, die gesamte Konstellation des Blickes, d.h. die zwei heterogenen Räume des Sehenden und des Gesehenen, zur gleichen Zeit zu fokussieren. […] Der Betrachter zweiten Grades, der Zuschauer des Bildes, sieht also nur das, was das abgebildete Subjekt sieht, nicht jedoch seinen Blick. 66 67 68 69 70
Kracauer (1990, S. 239). Kracauer (1990, S. 236). Kracauer (1990, S. 238). Borsò (2008, S. 262). Borsò (2008, S. 279).
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Der Betrachter wird gewahr, dass er beides nicht auf einmal fokussieren kann: das Gesehene und den Blick des Sehenden. Die jenseits des Fensters sichtbare realistische Landschaft ist eine Projektion des kulturellen Auges, das selbst blind ist (der Blick befindet sich nicht im Gesichtsfeld des Gemäldes).71 Der Bildbetrachter kann den Blick des dargestellten Mannes nicht übernehmen, der die Landschaft anzeigte, und gleichzeitig sein Sehen mit dem Anschneiden seines Gesichts fokussieren. Diese unaufhebbare Ungleichzeitigkeit verweist auf die »chiastische Verkreuzung von Auge und Blick, von imaginären und symbolischen Formen«72 . Mit dem Verlassen des lediglich kamera-optischen Systems hin zum Dispositiv des Films wird sich dieses Verhältnis nochmal verkomplizieren. Wenn Şoray also ihr Sehen sieht, so kann sie nicht gleichermaßen auf ihr Sehen fokussieren und auf das, was sie sieht. In die Sicht mit der Kamera ist die Ungleichzeitigkeit von Sehen und Blick eingeschrieben, die ihr Sehen wieder auf ihren Standpunkt zurückweist und die schon in den Untersuchungen an einigen Filmen mit dem Konzept der Blickregime erörtert werden konnte (▶ Kap. 7.6.2). Şorays Beschreibung ihrer Veränderung ihrer Wahrnehmung lässt – so ließe sich formulieren, um an dieser Stelle zu einem vorläufigen Schluss zu kommen – auf die Veränderung ihres Bezugs zur »äußeren« Welt schließen. Vogls These der »Herstellung einer Selbstreferenz« werde ich qualitativ als mögliche Öffnung umdeuten. Die Seherfahrung Şorays indiziert nämlich nicht nur die »Herstellung einer grundlegenden Selbstreferenz«73 , sondern deutet auf einen daraus resultierenden Ex-istenzmodus hin, der in einem veränderten Verhältnis zur Welt besteht. Was bei Vogl zunächst noch als Moment der »Welterzeugung« beschrieben wird74 , lässt sich als Öffnung beschreiben, als eine über den apparatgerichteten Blick resultierende aisthetische Empfänglichkeit. Und mit diesem Verweis auf die Öffnung soll nicht nur der Exkurs zur genaueren Bestimmung des untersuchten Wahrnehmungsereignisses beendet, sondern zugleich ein Wink vollzogen werden: zu einer ›neuen‹ Verhältnisbestimmung zwischen Technischem und Sozialen, die das, was Şoray da passiert ist, nochmal anders zu verstehen hilft. Ansätze zu solchen Bestimmungen finden sich in neueren soziologischen, prozess-sensiblen Modellen.75 Wurde mit den Reflexionen soeben das Moment fokussiert, in dem Şoray durch den Sucher blickte, heißt das nicht, dass diese Erfahrung nicht mehr weiterwirkte. Aus der Wahrnehmungsveränderung entsteht eine Sensibilität, die sich auch noch im Weitergang ihrer autobiographischen Beschreibung anzeigt. So finden sich in ihren Beschreibungen zum Filmdreh immer wieder Momente, in der sie die ununterbrochene Persistenz der mentalen visuellen Konstruktion des Films beschreibt: Im Anschluss an die Rückkehr von der Arbeit, wenn ich nach Hause fahre und mich ins Bett lege, fängt mein Verstand an mit Schnelligkeit zu arbeiten, aus der Inspiration, 71 72 73 74
Borsò (2008, S. 279, Fußnote 51). Tholen (2011, S. 19). Vogl (2001, S. 115f.). »Dieses Fernrohr – und das wäre ein weiterer Aspekt seines Medien-Werdens – vollzieht eine Welterzeugung durch die Einrichtung einer konstitutiven Selbstreferenz«, Vogl (2001, S. 118). 75 Beispielhaft und grundsätzlich dazu Delitz (2012).
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Abbildung 33 – Illustration aus Ernst Mach »Antimetaphysische Vorbemerkungen«
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Mach#/media/Datei:Ernst_ Mach_Innenperspektive.png
die ich mir aus meiner Vorstellungskraft nehme, drehe ich die Szenen im Vorfeld, ich sehe regelrecht die Szenen vor mir, die ich am nächsten Tag drehen werde. […] Eine der Szenen in diesem Film [Dönüş], die ich in der Nacht plante und deren Mise en Scène gestaltete ist die, in der İbrahim ohne Ankündigung zurückkehrt… İş dönüşü, eve gidip yatağa yattığm zaman zihnim hızla çalışmaya başlıyor, hayal gücümden aldığım ilhamla sahneleri önceden çekiyor, ertesi gün çekeceğim sahneleri adeta görüyordum. Böylece, sete gittiğimde ne çekeceğimi gayet iyi biliyordum. […] Bu filmde geceden kafamda planladığım, mizansenini kurduğum sahnelerden biri, İbrahim Almanya’dan habersiz dönmüştür…76 76 Şoray (2012, S. 137).
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»Arbeitender Verstand«, »Inspiration als Vorstellungskraft«, »Sehen vor ihr« sind nicht zu trennen von einem veränderten Weltbezug, der zu einem filmischen Darstellungsereignis eines Wiedersehens zwischen emigrierten Ehemann und der von diesem Wiedersehen überraschten, im Dorf verbliebenen Ehefrau führt: nämlich als blick-theatralischer Vollzug über eine filmische Orchestrierung von V/Erkennungsmomenten zwischen Zurückgelassener (Gülcan) und Emigriertem (İbrahim), in der sich die bis hierher beschriebene Sichterfahrung Şorays in die filmische Konstruktion des Emigranten (→) überführt.
Abbildung 34.1-20 – Standbilder aus Dönüş (1972)
8.2.3.
Filmanalytische Beschreibung – Dönüş
Gülcan ist beim Tragen ihrer Körbe in einiger Entfernung zu sehen (Abb. 34.1). Bäume an den Bildrändern strukturieren die Distanz zur Protagonistin. Schließlich kommt Gülcan an einem solchen Wegpunkt an, dass sie ein Ereignis am Dorfeingang erkennen kann. Im darauf anschließenden PoV ist der Strauch am linken Bildrand Sichtbarkeitshindernis und erst der Zoom holt das Geschehen heran (Abb. 34.2-5): ihr Ehemann
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İbrahim ist zurückgekehrt. Als Gülcan nach ihm ruft (Abb. 34.6), wendet İbrahim seinen Blick nach ihr, die Arme öffnend (Abb. 34.7). Leicht angeschnitten ist Gülcans Kopf, sodass die Einstellung als over-the-shoulder shot konzipiert erscheint. Der Gegenschuss zeigt nun über İbrahims Schulter hinweg Gülcan, die die Körbe fallen lässt und auf ihn zuläuft (Abb. 34.8). In den darauffolgenden zentralen Einstellungen des Films offenbart sich ein zunehmend verstärktes Verhältnis in dem, was ich filmische Blickpolitik77 nennen möchte. Damit sind hier die im Film angelegten unterschiedlichen Zuweisungen und ihre Verhältnisse zueinander gemeint, die aus der Perspektivierung der Kamera (1), der Positionierung der im Film gezeigten Figuren, ihrer Blicke (2) und den Blicken der Zuschauer_innen (3) entstehen. Schon Laura Mulvey hatte in ihrem feministischen wegweisenden Aufsatz »Visuelle Lust und narratives Kino« auf diese drei Blickinstanzen verwiesen, als sie den Blick der Kamera im narrativen Film (1) als voyeuristisch-männlichen ausmachte sowie die »Skopophilie« als vornehmlichen Sehmodus der Zuschauer_innen (3) argumentierte, der im narrativen Film hollywood’scher Provenienz kaum erwehrbar sei.78 Zahlreiche Wiederaufnahmen, Verwerfungen und Reaktivierungsmodelle ihres Aufsatzes haben seitdem ihren Weg in filmwissenschaftliche Diskurse gefunden.79 Dabei hat die Filmnarratologie das Verhältnis der Wissensbestände mit dem Modell der Fokalisierung von Gerard Genette80 und Mieke Bal81 in eine Differenzierung im Hinblick auf Blickoperationen durch François Josts Konzept der Okularisierung aufgenommen.82 Während Fokalisierung die Frage nach dem Wissensverhältnis zwischen Erzählinstanz und Figur bezieht, greift die Okularisierung die Relation zwischen dem Zeigeaspekt der Kamera und der Sehoperation der Figur auf. Jenseits solcher narratologischer oder feministisch-filmtheoretischer Rahmungen sollen hier die Blickoperationen nach Fragestellungen der Zuschauer_innenwahrnehmung verbunden und im Hinblick auf ihre wissensmodulierende Funktion hin erörtert werden, um aufzuzeigen, wie sich in dieser Blickpolitik die Sichtbarmachung des Emigranten vollzieht. Zurück zur Szene: Nachdem Gülcan auf İbrahim zuläuft, um ihn zu umarmen, hält sie, als sie näher an ihm ist, doch noch inne (Abb. 34.10). Denn mit den äußeren Veränderungen an ihm, kann sie ihn nicht mehr eindeutig identifizieren (so lässt sich der Inhalt der Einstellung am Schauspiel Şorays zumindest deuten). Sie geht verwundert im Kreis um ihn herum, während Ibrahim seinen Blick ihr zugewandt belässt (Abb. 34.11-12). Die Kamera macht einen 180°-Schwenk mit. Nachdem die Dorfbewohner_innen, die sich um Ibrahim versammelt hatten, durch Gülcans Gang nun hinter ihr zu sehen sind, stöhnt sie leicht auf und bedeckt sich mit beiden Händen das Gesicht, ihren Kopf nach unten senkend (Abb. 34.13). In ihrem Gang um İbrahim herum legt Şo77 Es geht mir an dieser Stille noch nicht um eine lacaianisch und foucaultianisch orienterte Blickpolitik, wie sie beispielsweise Henry Krips pointiert differenziert, vgl. Krips (2010) – obgleich Bezüge zu ihr bislang schon in den vorhergehenden Kapiteln angestellt wurden. 78 Mulvey (1975, S. 64). 79 Vgl. Smelik (2007, S. 491-495). 80 Vgl. Genette (1980, S. 185-194). 81 Vgl. Bal und van Boheemen (2009, S. 145-163). 82 Zur Qualität des PoVs als Indeterminierbarkeit im Hinblick auf die Zuweisung von Figürlichkeit siehe Kuhn (2011, S. 122-133).
8 Figuration III: Ankunft
ray ein Minenspiel an, das mit der Öffnung ihres Mundes ihr Erstaunen kodiert. Das kurze Verziehen ihrer Mundwinkel, das ein Erfreuen vermuten und damit ihr Erkennen von İbrahim deuten lässt, weicht dem Senken ihres Mundwinkels und damit einer Deutung als erneute Verunsicherung über die Identität ihres Mannes. Diese Verunsicherung mündet in das kurze Aufstöhnen und Bedecken ihres Gesichts. Ihre Scham als Frau einem fremden Mann gegenüber erlaubt keinen direkten und konfrontativen Blickkontakt, sodass sie ihr Gesicht verdeckt. Dieses Verdecken des Gesichts in Verbindung mit ihrem Aufschrei kann auch als Geste des Trauers gedeutet werden, wenn ihre Beobachtung sie zu dem Schluss hat verleiten lassen, dass es sich bei der Person nicht um İbrahim handelt. Die chiastische Verkreuzung der vielfältigen Blicke, die noch später auf die Figur des Zeugen und des Dritten rückzuführen sein werden, sind hier mit der visuellen Konstruktion des Sozialen aufs Engste verwoben. Die Komplexität dieser Faktoren von Blick-, Bild- und Sichtbarkeitsprozessen zurückstellend lässt sich die Differenz der Sehweisen aus den Mimiken und Haltungen der beiden zentralen Figuren herauslesen: Für Gülcan ist das V/Erkennungsspektakel als Schockmoment angelegt, als eine Wissensdestabilisierung und Herstellung einer Fremdheits- und Verfremdungssituation. Damit einhergehen Irrealisierungs- und Entfremdungsmomente, während sie für İbrahim als Blickzentrierungsmomente bestehen, in denen er die Blicke der anderen auf sich versammelt. Beide Figuren sind voneinander erheblich getrennt. Die Verkreuzung der Blicke gibt sich nur bedingt als solches, filmisch konstruiertes Hin und Her der Blicke, das sich auch mit den Blicken des Emigranten selbst solidarisiert: Die Szene besteht vornehmlich aus PoVs, die den Blick Gülcans darstellen83 , sowie nicht an ein eindeutiges Blicksubjekt zugeschriebene Einstellungen: denn selbst wenn die Kamera vermeintlich den Blick einer Figur darstellt (PoV), so ist die Annahme stets prekär, da Kamera- und Figurblick nicht immer eindeutig als deckungsgleich zusammenfallen müssen, sofern den Figurenblick indizierende Bildelemente fehlen.84 Jene Indikation führt Şoray intelligent zur Vereindeutigung des PoVs durch folgenden Kniff ein: Nach dem Umhergehen um İbrahim herum sehen wir eine Nahaufnahme von Gülcans verdecktem Gesicht, die zeigt, wie sie Zeige- und Mittelfinger spreizt (Abb. 34.14), um mit dem Auge durch ihre Finger hindurchsehen zu können. Die nachfolgende Einstellung ist eine subjektive Kamera (PoV)85 , in der Gülcans Zeigefinger die linke Bildhälfte bedeckt (Abb. 34.15). Der sichtbare Rest dieser Einstellung, der mit dem Bildrand ein rechtwinkliges Trapez formt und den Blick auf İbrahim freigibt, zeigt, wie Gülcans Blick die Gegenstände an İbrahims Körper identifiziert. Dieser verkörperte Blick, und er ist hier verkörpert nicht nur im Sinne des embodiment, sondern weil durch die Anwesenheit von Gülcans Fingern die Anwesenheit des Körpers des sehenden Subjekts indiziert ist (Abb. 34.15-19). Das ruft eben jene Vereindeutigung des PoVs hervor. Zudem 83 Kuhn zeigt auf, dass jegliche filmnarratologische sowohl anthropomorphe als auch nicht-personale Zuschreibung einer Erzählinstanz zur Kamera, die ohne Zuweisung zu einem eindeutigen Blicksubjekt geschieht, kaum argumentierbar ist. 84 Vgl. Kuhn (2011). 85 Subjektive Kamera wird hier gleichbedeutend mit PoV verwendet, vgl. dazu Kuhn (2011, S. 140f.).
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ist sie als einzelne Einstellung angelegt, die sich als von unten, nach oben und wieder nach unten richtender Schwenk zeigt. Dieser Schwenk richtet sich zuerst auf den um den Arm gehängten Kamerahalfter, dann den Hut mit Feder, İbrahims lila Krawatte und schließlich seine Armbanduhr. Daraufhin sehen wir wieder eine Nahaufnahme von Gülcans Gesicht, in der sie ihre Hände vom Gesicht legt und fragt: »İbrahim! Bist du gekommen?« Als dieser lächelnd seine Augen senkt und zustimmend nickt, geht Gülcan an ihn heran und legt weinend ihren Kopf gegen seine Brust (Abb. 34.20). Die Musik spielt in das Sehnsuchtsmoment hinein, das der Film in dieser Vereinigungsszene etabliert. Die entkontextualisierte Tanzmusik namens Misket, aus dem Gebiet rund um die zentralanatolische Hauptstadt Ankara stammend, tritt in entschleunigter Form vor. Das von Männern und Frauen gemischt Choralische des Gesangs konnotiert dabei zugleich das Feierliche und die Vereinigung von Mann und Frau und der Liedtext spricht, nicht ohne sexuelle Anspielungen vorzunehmen, von der Sehnsucht einer Frau zu einem Mann: Die Taube ist geflogen. Sie hat ihre Flügel geöffnet, ich vergehe vor Sehnsucht. Ach er ist doch nur der Sohn eines Fremden. Er hat mich geliebt und ist doch gegangen. Ach mein stolzer Geliebter, lehne dich an die Wand, mein Geliebter. Die Wand vertreibt nicht die Sorgen, lehne dich an mein Herz.86 Die Ankunft des Emigranten in Dönüş ist allgemein als ein Überraschungsmoment angelegt, ein Ereignis im wahrsten Sinne des Wortes, es »bricht über«87 Gülcan herein. Das Theater der doppelten V/Erkennung in der Szene, in der die Anderswerdung des Emigranten als virtuell-tödliches Spiel der Anerkennung inszeniert ist, lädt den Ort, von dem aus die Anderswerdung sichtbar gemacht wird, auf die Seite der Daheimgebliebenen. Egal, wie mit der Polysemie dieser Einstellungen umzugehen ist, sie lassen sich in den vielen uneindeutigen Deutungsrichtungen als eine fluktuierende Orchestrierung von Erkennungsereignissen und ihren Irritationen lesen, die das Wiedersehen zwischen Gülcan und İbrahim auch über die Verbindung von Einstellungs-, Minen-, Montage- und Gestendramaturgie in ein Spiel der mindestens doppelten Wiedererkennung auf Seiten von Gülcan einbindet (sie erkennt ihn, dann wieder nicht und dann erkennt sie ihn wieder). Diese Dopplung ist Teil eines theatralischen V/Erkennungsspektakels in dem die Andersmachung nicht nur über die sichtbaren Gegenstände an İbrahims Körper fungiert, sondern in der das Spektakel der V/Erkennung den Prozess des V/Erkennens über die beschriebene evidenzgenerierende Blickpolitik zu vereindeutigen versucht – nämlich über die Identifikation mit Gülcan auf Seiten der Zuschauer_innen aus Gründen der Demonstration der Anderswerdung des Emigranten. Der lange Gang Gülcans bereitet das Moment des V/Erkennungsspektakels vor. Ihr ohne Hintergrundmusik gestalteter Gang mit dem Korb produziert Eindrücke, die die Mühsamkeit ihrer Arbeit betont. Sie trägt ihr Kind auf dem Rücken und zudem noch zwei Körbe. Ihr Körper wird dadurch angestrengt und in dem durchlaufenen Ort gibt die für Yeşilçam-Verhältnisse durchaus lange Einstellung die Möglichkeit eines Rück86 Übersetzung Ö.A. 87 Vgl. Derrida (2003, S. 34).
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zugs für die Sichtung, die die Rückkehr İbrahims damit umso mehr als Überraschungsereignis herstellt. Zugleich ist die Blickpolitik des Films schon früh angelegt, nämlich in der Anfangssequenz: Raffiniert etabliert der Film Gülcans Blicke durch ein mit Holzpaneele aufgestocktes Gebilde, von dem aus sie die Enteignung eines Schuldners beim ağa beobachtet – während alle anderen Arbeiter_innen, die zuvor noch mit der Sense das Feld mähten, zwar einhalten, aber der Enteignung schweigsam zuschauen. Nur Gülcan tritt hervor und bringt dem ağa Vorwürfe entgegen. Das soziale Ereignis der Enteignung wird so in ein Blickspiel eingebunden, an dem Zuschauer_innen durch die Verdeckung des Gesichts Gülcans und in Gleichsamkeit mit der Beobachtungsperspektive, die sie an den Holzpaneelen einnimmt, distanziert, aber aus Sicht einer Involvierten verfolgen können. Diese Distanz verliert sich in der Aufnahme, in der der Notar das vom Landwirt mit dem Finger unterschriebene Pfändungsschreiben (er ist Analphabet) wieder einpackt (Abb. 35.1-3). So früh in den Film eingebunden etabliert die Szene die Blickpolitik des Films, in der die Protagonistin als blicktreibende Kraft des Films fungieren kann.
Abbildung 35.1-3 – Standbilder aus Dönüş (1972)
Für die hier im Fokus stehende Begegnungsszene, um zugleich zu ihr zurückzukehren, lässt sich sagen, dass sie die konkrete Sichtungsszene Momente des Einhaltens beim Versuch des Erkennens zeigt. Sie vermittelt, dass Gülcan ihren Ehemann zunächst aus der Ferne erkennt, dann vor ihm stehend nicht mehr erkennt (ersichtlich allenfalls an ihrem Erstaunen vermittelnden Gesichtsausdruck und der Deutung der Szene), geduckt beobachtend um ihn herumgeht, traurig aufstöhnt, ihr Gesicht verdeckt, durch ihre Finger hindurch die (fremden) Gegenstände an ihm ausmacht, ihn hiernach erkennt, ihn sich absichernd danach befragt, ob er es sei und nach Ibrahims zustimmender Rückmeldung letztlich umarmt. Es wird deutlich: In jeden Versuch des Erkennens bricht das Moment einer möglichen Verkennung ein, stagniert das Erkennen und in der Gesamtheit der Betrachtung bleibt die Szene so als Dokumentation fluktuierender Erkennungsprozesse zurück. Besonders deutlich wird das Ereignis der Sichtbarmachung des Emigranten als Fremder an der Einstellung als subjektiver Kamera aus Gülcans Blick auf İbrahims Körper. Der PoV, der in diesem Falle die im Sehen Gülcans stattfindende Identifikation der fremden Gegenstände an İbrahim darstellt, resultiert, so nehmen wir es hier zunächst an, aus einer Gleichschaltung der drei Blickinstanzen zwischen Figur, Kamera und Zuschauer_innen. Filmnarratologisch gesprochen erzeugt der PoV eine »interne Fokalisierung
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bei interner Okularisierung«88 , also eine solche Relation von Wissen und Wahrnehmen, in der das, was die Kamera zeigt, dem Wissenserwerb über die visuelle Wahrnehmung auf Seiten der Figur entspricht. Gülcan sieht die Dinge an İbrahim, die neu an ihm sind, welche wiederum Zuschauer_innen als verkörperter Blick Gülcans nachvollziehen und die Gegenstände mit-identifizieren. Dieses Sehen der Zuschauer_innen wird in dem Fokaliserungskonzept ausgeblendet und ist mithin der Reflexionsgrund, auf dem sich die weiteren Ausführungen orientieren werden und auf dem sich über die narratologische Dimension hinausweisen lässt. Auffällig ist die Einstellung, in der Gülcan, um İbrahim herumgeht, weil er vielfältige Beobachtungsinstanzen einbringt. Der over-the-shoulder shot über İbrahims Schulter auf die erstaunt blickende Gülcan ist aus einer mittleren high-angle Perspektive heraus angelegt, der Gülcan kleiner wirken lässt und vor allen Dingen den Blick auf die hinter ihr stehende Dorfmenge und ihre Gesichter wie Reaktionen ermöglicht (Abb. 34.12-13). Diese Integration der Dorfmenge und die Nahaufnahmen der Gesichter der Dorfbewohner_innen haben nicht nur in Dönüş vielfältige Leistungen an den visuellen Erzeugungsweisen der Emigration im Film, daher gilt es diesen Umgang mit der Dorfmenge später aufzugreifen (▶ Kap. 8.4.3).
8.2.4.
Die visuelle Konstruktion als Produktionsmoment einer Stereotype
Der Fokus des Plots von Dönüş liegt weniger auf der Erzählung des konkreten Ereignisses der Emigration selbst, sondern greift also einen Folgeumstand aus der Konsequenz der alleinigen Emigration der Männer auf. Da in den Anfangsjahren nach dem Anwerbeabkommen die Annahme vorherrschend war, wenige Jahre nach der Arbeitsemigration zurückzukehren, mussten die vorwiegend männlichen Auswanderer allein emigrieren. Die Folge war, dass die heimischen Frauen und Kinder in der Zeit der Abwesenheit des Familienvaters in den zumeist dörflichen Zusammenhängen in der Türkei häufig auf sich alleine gestellt waren. Diese Konstellation der familiären Trennung, die als größeres überindividuelles Gefüge schon in Davaro aufgezeigt wurde, nimmt der melodramatische Dorffilm Dönüş als Anlass und erzählt weniger vom Leben der Emigrant_innen in der Fremde als vielmehr eine Leidgeschichte aus der Perspektive derjenigen, die zurückgelassen werden. In Dönüş ist es konkret die Perspektive der im Dorf zurückgelassenen Gülcan, die während der Abwesenheit des emigrierten Ehemannes İbrahim neben der Sehnsucht nach dem Ehemann und der alleinigen Großziehung des eigenen Babys auch noch von den Intrigen des Großgrundbesitzers Reşit heimgesucht wird. Denn der hat sich in die impulsive, selbstbewusste und widerständige Frau verliebt und lässt keine Schikane ungetan, um Gülcans Willen zu brechen und sie für sich zu gewinnen. Zentral hier für die Untersuchung der Figur des ›Deutschländers‹ – ein Begriff, mit dem bis heute in der Türkei zumeist abwertend Migrant_innen bezeichnet werden, die in Deutschland leben – ist weniger der gesamte Plot als vielmehr die hier untersuchte Szene, die die unerwartete Rückkehr des Ehemannes zeigt. In ihr realisiert der 88 Kuhn (2011, S. 127-128, 140f.).
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Film nicht nur die Figur der nach Deutschland ausreisenden und heimkehrenden Emigrant_innen, sondern etabliert überhaupt zum ersten Mal in der Geschichte des türkischen Films den als ›Deutschländer‹ bezeichneten Emigrant_innen-Typus, der über visuelle Differenzierungspraktiken einen sozialen Aufstieg zu markieren und damit seine Differenz zu den in der Heimat Verbliebenen zu erzeugen versucht. Dieser andersgemachte Emigrant hat – ersichtlich an den bislang untersuchten Filmen Baldız, Acı Zafer, Kara Toprak, Davaro und viele mehr – die Leinwände und Bildschirme in der Türkei die kommenden mehr als zwanzig Jahre immer wieder heimgesucht. Der ›Deutschländer‹ in Dönüş wird mit den filmischen Mitteln als anders und fremd Gewordener erzählt, konkreter durch eben jene visual othering produzierende filmische Blick- und Inszenierungspolitik. Sie besteht zuvorderst in einer Orchestrierung von Kameraeinstellungen, mit denen die über das Äußere (tragbare Accessoires und Kleidung) des emigrierten Ehemannes nach außen hin sichtbare Anderswerdung auf der Ebene der möglichen Blickakte der Zuschauer_innen zu steuern versucht wird, nämlich, dem Kontinuitätsprinzip folgend, in Richtung einer Absicherung auf der Ebene des Wissens. Weil die in der Szene gezeigte Begegnung zwischen Ehefrau und dem veränderten Ehemann als eine solche inszeniert ist, in der der Rückkehrende erst durch zwei Sichtungen der Ehefrau erkannt wird – in der ersten wird der Ehemann wie ein Objekt sichtend umwandert und in der zweiten richten sich die identifizierenden Blicke auf die fremden Objekte an ihm –, wird das über die äußeren Objekte (Kleidung, Dinge, Accessoires) stattfindende visual othering in filmische Operationen eingebunden. In der filmischen Anlage sind diese insbesondere durch intern-fokalisierend-okularisierende Strategien89 geprägt, die darauf abzielen, das Gesichtete der Figur, das Gezeigte in der Kamera und das Gesehene und Gewusste der Zuschauer_innen im Sinne einer Aufrechterhaltung des Kontinuitätssystems zusammenfallen zu lassen. Neben den kameratechnischen Operationen realisiert sich die Andersmachung des Emigranten auch durch das kostüm- und ausstattungstechnische Aufgreifen von Klassenaufstieg, Technizität und Konsumtionskultur des Westens und damit soziale Differenz indizierender visueller Marker, die aus der Nutzungs- und Selbstinszenierungspraxis emigrierter Gastarbeiter_innen entlehnt sind.90 Mit Şorays Szene in Dönüş überträgt sich die aus der Praxis zahlreicher Emigrant_innen der 1960er Jahre hervorgegangene Verhaltensweise, sich mit Dingen91 und Kleidungsgegenständen aus Deutschland von den in der Heimat verbliebenen ›Einheimischen‹ zu differenzieren, in eine filmische Konstruktion, 89 »Die eindeutigste Form einer internen Fokalisierung liegt vor, wenn sich Wissens- und Wahrnehmungsrelation beziehungsweise Fokalisierung und Okularisierung ›überschneiden‹ und insofern übereinstimmen, als sie beide intern sind, die VEI [Visuelle Erzählinstanz] also ungefähr das zeigt, was eine Figur weiß und wahrnimmt«, Kuhn (2011, S. 140). 90 Diese Aussage ist medientheoretisch nur insofern haltbar, wie die Vorgängigkeit der Kleidungspraxis selbst als vorher unmedialisiert vorgestellt ist. 91 Seltsam an Şorays Formulierung ist, dass sie die Ankunftsszene des Emigranten anders beschreibt, als sie in Wirklichkeit inszeniert ist. Gülcans Ehemann İbrahim kehrt nicht mit einem Radio in der Hand zurück (es hängt in späterer Szene am Baum), sondern mit Kamera und Kamerahalfter. Auch Aysun Yüksel spricht vom Radio, als sie die Szene im Film beschreibt, vgl. Yüksel (2001, S. 69). Die Äußerungen von Şoray und Yüksel zeigen an, dass es sich bei dem Radio um ein ikonisches Ding handelt, das sich tief in das kollektive Bildgedächtnis zur Arbeitsmigration eingeschrieben hat und die konkreten filmischen Sichtbarmachungen transzendiert.
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das Zuschauer_innen filmische Bilder dieser Differenzsetzung anbietet, die in der hier angelegten Szene durch den auf die Dinge fokussierenden PoV überdeterminiert werden.92 Noch vor jeder sprachlichen oder anderweitig eine Veränderung İbrahims antizipierenden Geste den gesamten Film hindurch, ereignet sich so das visual othering. Die Andersmachung vollzieht sich beispielsweise nicht nur dadurch, dass die Kleidung fokussiert wird, sondern durch die visuelle Konstruktion der Kleidung. Es ist ein heller, übergroßer Anzug, der visuell hervorsticht. Die Krawattenfarbe ist lila und geht mit dem weißen Anzug einen starken Kontrast ein. Die Fedora verfügt über eine weiße Feder mit roter Spitze, die die Andersheit des mit dem Moderne konnotierten Huts in der Türkei93 nochmal überspitzt und besonders auf Deutschland rückführbar macht (die Feder erinnert an den typisch deutschen Gamsbart94 , ist aber besonders in den 1970er Jahren auch typischer Modeschmuck einer Fedora). Die visuelle Konstruktion des Emigranten bringt damit eine Vervielfachung visueller Elemente mit sich, die die Differenzierung über visuelle Marker übersteigert: Radio, Hut mit Feder, Armbanduhr, Krawatte, Kamera und Kamerahalfter waren zwar Dinge, die man trug und mitbrachte, sicher aber kaum in dieser übersteigerten Gleichzeitigkeit. Sie verbürgt in der visuellen Konstruktion die Hypersichtbarkeit der Andersheit des Emigranten, lässt ihn als Allegorie für jene Umstände entstehen. Der Film zeigt somit die Transformation des Emigranten anhand dieser visuellen Marker an seinem Körper. Der Film bietet darüber – mehr oder weniger freiwillig – eine filmische Konstruktion des Emigranten an. Diese Konstruktion besteht in der Erzeugung einer Sichtbarkeit des Emigranten, die ihn durch die visuelle Differenzierung zugewiesener Accessoires und Kleidung anders im Verhältnis zu Nicht-Migrierten, den im Hintergrund befindlichen Dorfbewohner_innen und seinem Zustand vor der Emigration werden lässt. Es sind eben nicht die prototypischen Dinge, der Hut mit der Feder und das Radio, sondern eine Vielzahl weiterer Objekte mit der die Andersmachung hier sichtbar gemacht ist. Diese übersteigerte Gleichzeitigkeit wird zudem über einen blick-theatralischen Vollzug sichtbar gemacht, der die visuelle Differenzierung in Vorgänge eines die Differenz identifizierenden Sehens auf Seiten der Figur der Ehefrau einbindet. So wird die Emigration des Protagonisten als ein Spektakel des Anderen hergestellt, das sich über eine filmische Blickorchestrierung mit einem Spektakel der Blicke in ein doppeltes visuelles Ereignis überführt: Die Blicke der Zuschauer_innen als Ereignis (Blickakte) treffen auf das Ereignis des filmischen Blickspektakels. Die Spektakularisierung dieser Ereignisse gibt sich hierbei nicht nur durch die Menge und die unnatürlich wirkenden Distanzierungsbewegungen zwischen Gülcan und ihrem Ehemann. Mit der zunehmenden Dauer der Einstellungen und Vorgänge rückt die Theatralität der Szene in den Vordergrund. Die Dauer der einzelnen Blickvorgänge erhöht insofern die Künstlichkeit der Szene, als dass die Wahrnehmung der Blickhaftigkeit, die in Suturierungen 92 Überlegungen zum Verhältnis von Migrationsandersheit, Ikonizität und bildlicher Konstitution, die bildtheoretisch wie affekttheoretisch fundiert sind, finden sich in Wolfgarten (2019). 93 der im Zuge der gewaltvollen Modernisierung landesweit mit einem 1925 erlassenen Hutgesetz etabliert werden sollte; erst unter der AKP Regierung wurde das kaum noch praktizierte oder exekutiv durchgesetzte Hutgesetz abgeschafft. Vgl. Kreiser (2005, S. 453ff.). Zum Rückvollzug der türkischen Geschichte über eine Geschichte ihrer Kopfbedeckungen siehe Kreiser (2005). 94 Kayaoğlu (2011, S. 102).
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zurückgenommen ist, mit zunehmender Zeitlichkeit wahrnehmbar wird. Die Dauer der Einstellungen in Verbindung mit den Absetzungen der Sehakte (Gülcans mehrmaliges Innehalten und Augenverdecken) gibt den Blicken ihre Prozesshaftigkeit, ihren Handlungscharakter zurück. Nicht nur zeigt sich damit zunehmender an, dass den Blicken eine Aufgabe zuteil wird, sondern die Teilung der Aufgaben reproduziert sich in der Blickdauer selbst. Die suture wird nicht gänzlich enthoben, insofern den Blicken der Zuschauer_innen die Blicke der beobachtenden Menge durch Großaufnahmen der Gesichter gegenübergestellt und die Naht so geschlossen wird. Allerdings wird die Teilung des Blickereignisses in Blicke im V/Erkennungsspektakel als solches wahrnehmbar. Der Film wird in dieser Inszenierungsweise zum sozialen Ereignis, nicht nur darin, dass er als soziales Kinoerlebnis einer umfassenden Zuschauer_innenschaft in der Yeşilçam-Phase selbst und danach noch als häufig geliehener Videofilm für Migrant_innen und Konsument_innen von Videos in der Türkei fungierte.95 Die filmische Konstruktion, diese Sichtbarmachung der Emigrant_innen ruft sie auf eine solche Weise auf, dass ihr Bild in der visuellen Kultur des türkischen Films mindestens noch ein Jahrzehnt zirkulieren wird (siehe die anderen untersuchten Filme dieser Jahre). Die visuelle Konstruktion des Emigranten als Radio, Hut mit Feder und andere Accessoires tragender Mann, der mit Geschenken und eigenem Auto zurückkehrt, realisiert sich im türkischen Kino nämlich noch bis in die späten 1980er Jahre und geht visualitätshistorisch betrachtet mit jenen Ereignissen der Selbstandersmachung der Emigrant_innen durch ihre Hüte (reproduziert in unzähligen Photographien und leiblichen körperlichen Performances im Dorf selbst) diffizil einher. Eine umfassende Aufarbeitung dieser visualitätshistorischen Selbstandersmachung der Migrant_innen in der Forschung steht noch aus. Da diese äußere Andersheit auf einen sozioökonomischen Aufstieg verweisen soll, geraten vielfältige Bildtypen96 ins Spiel, die im Bereich von Innen und Außen changieren: das Selbstbild İbrahims (Ichideal); das verinnerlichte Idealich, das auf seinen Narzissmus und die Dopplung des »sich sich sehen sehend«97 verweist; das Bild, das die Dörfler_innen von ihm gewinnen; das Bild, das Gülcan im erkennenden Sehen von ihm herstellen muss (ein Vor-Ich und ein mehr oder minder bereinigtes Nach-Ich und die ganzen Bilder, die sich vor ihr als Prozess des V/erkennens abspielen); auch das Bild von reflektierenden Zuschauer_innen, die in diesem komplexen Gefüge ›sich-sehensehen‹. Gottfried Boehm rekurriert für ein Verständnis dieses »sich sich sehen sehend« auf Lacan und dessen Konzept vom augenlosen Blick: Lacan greift zur Erläuterung dieses Modells [vom Objekt a, das als der Blick fungiert, Ö.A]98 (dessen Stellenwert im Kontext der psychoanalytischen Erkenntnisbegründung 95 96 97 98
Vgl. Klitzke (1982, S. 121). Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008, S. 20). Vgl. Boehm (2001, S. 23). Verkürzend gesprochen ist damit der Blick gemeint, der das Angeblicktwerden verbürgt. In Lacans diskursmächtigem Beispiel ist das eine Sardinenbüchse, die auf dem Wasser treibt, und von der sich Lacan, inmitten von Heimischen als Fremder sitzend, angeblickt fühlt. Sartre erinnert aber auch daran, dass ein Geräusch den Blick verbürgen kann. Henry Krips fasst diesen Blick so zusammen: »In terms of the example of the sea-faring tin-can, the gaze may be thought of as an external point from which an anxiety provoking look assails the subject. But, and this is crucial, the point in question
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hier nicht interessieren kann) auf Valerys »Junge Parze« zurück, einer Figur des gedichteten Narzissmus, von der es heißt, sie sei »sich sich sehen sehend«. Daran wird deutlich (und Lacan bezieht sich wiederum ausdrücklich auf Merleau-Ponty): »dass wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind. Was uns zum Bewusstsein macht das setzt uns auch mit demselben Schlag ein als speculum mundi« (81). Das Subjekt wird unter dem Blick selbst zum tableau, in das sich verschiedenste Sichtbarkeiten einschreiben können. Lacan hat die Reziprozität, die in jeder Wahrnehmung das par distance Sichtbare ihr selbst auch immer einverleibt, zu einer Theorie weiterentwickelt, in der er dieses Gegenüber mit einer Blickqualität ausstattet: »… ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt« (78).99 İbrahims Abwesenheit, die mit seiner Rückkehr in der Anwesenheit eines andersgemachten Ichs für die Dörfler_innen resultiert, reißt einen Riss in die vormaligen Bilder von ihm und dabei ist es die Emigration, die Abwesenheit der Figur in den Bildern und der suggerierten Diegese, die diesen Riss mitverantwortet. Dass es für diesen Riss keiner besonderen Verkleidung bedarf, davon zeugen die Fremdheitserfahrungen, die ein jeder in der Begegnung einer zunächst abwesenden und dann wieder angetroffenen Person, also jenem konstitutiven Spiel des Fort-Da erlebt, das für Freud ein zentrales Element des kindlichen Spiels in seinem »Jenseits des Lustprinzips«100 verbürgt. Dass aber gerade die Verkleidung ein zentrales Moment in der Andersheit ergibt, wird nochmal in einer lacaianisch motivierten, blicktheoretischen Überlegung interessieren (▶ Kap. 8.4). In den sozialen Beziehungen duplizieren sich die Bilder, zu deren Duplikation noch diejenige hinzutritt, die Zuschauer_innen von ihm gewinnen – und das durch die décalage101 bis heute. Dabei können Zuschauer_innen und Reflektierende wie der Autor der hier vorliegenden Untersuchung, die Bilder der figürlichen Instanzen selbst wieder in eigene Vorstellungsbilder einbinden: Das Bildwerden kann im Filmsichtenden umso vielfältiger wuchern. Dieses Wuchern hat Mitchell selbst nicht nur als Migrationsvorgang von Bildern verstanden, sondern als »concept of migrating images, which suggests something much more fraught with contradiction, difficulty, friction, and opposition«102 : The migration of images is not just a metaphor but also what I call a metapicture. […] What would it mean to Talk about images as migrants, as immigrants, as emigrants, or as travelers who arrive and depart, who circulate, pass through, and thus appear and disappear? […] Images as the welcomed Gastarbeiter on the one hand, or the illegal alien, the unwanted immigrant, on the other.103 is definitely not an eye that looks back at the subject, let alone a mirror in which the subject sees himself looking. On the contrary, it is a point of failure in the visual field – in the case of the tin can, a point where perception breaks down and the stuff out of which perceptions are constituted, namely light, becomes visible«, Krips (2010, S. 93). 99 Boehm (2001, S. 23). 100 Freud (1967). 101 Andrew (2010). 102 Mitchell, W. J. T. (2015b, S. 65). 103 Mitchell, W. J. T. (2015b, S. 65).
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Im zirkulierenden image des Deutschländers trifft sich das Charakteristikum von der urtümlichen Qualität von Bildern nach ihrem unvermeidlich migratorischen mit jener visuellen Konstruktion einer sozialen Type, die selbst als Migrant besteht. In dieser bildwissenschaftlichen Assoziation zeigt sich so, dass Migration das Leben auf vielfältige Weise durchwebt und gleichsam spielt sie in die visuelle Konstruktion des Fremden in unserer Welt besonders intensiv hinein; eine Fremdheit, die uns immer wieder in situativen Gefügen langer Zeit ungesehener Personen zufällt. Migration ist nicht nur die Absenz einer Person zu einer home group, sondern die gegenseitige Absenz eines jeden zum anderen und auch des Eigenen zum Selbst, das noch in jenen Figurationen der Begegnung seine soziale Verkomplizierung erfährt.104 Die diametral entgegengesetzte Figuration, also die Emigrationssituation, provoziert demgegenüber andere andersmachende Blickprozesse und Blickregime. Aufgrund der verkomplizierten Verhältnisse durch die mannigfachen Migrationsbewegungen und möglichen Intergenerationalitäten, lässt sich von Migration nur schwierig im Sinne eines stabilen Untersuchungssettings sprechen. Es gilt daher kurz einige zentrale Thesen zum Migrationsanderen aus der Migrationsforschung zu rekapitulieren, die die Reflexion dieses Vorgangs der Anderswerdung bereits geleistet haben. Die jüngere, kritische deutschprachige Migrationsforschung thematisiert seit 25 Jahren die Andersmachung (othering) oder Konstruktionen der Andersheit von Menschen, die (e)migriert sind. In der Migrationspädagogik unter dem Konzept der »Migrationsanderen«105 verhandelt, wird ihre Andersheit zumindest in der deutschsprachigen Forschung zunehmend über die dreifache Zuschreibung einer »natio-ethno-kulturellen Identität« festgeschrieben. Dieser typologisierende Vorgang der Zuschreibung einer Andersheit realisiert sich nicht nur in der sprachlichen Bezeichnung ›Migrant_in‹, ›Ausländer_in‹’106 in juristischen oder journalistisch-medialen Formaten oder durch andere Bezeichnungspraxen wie Almancı (Deutschländer), der in der Türkei in den 1970ern Verwendung zu finden beginnt. Die Ermöglichung einer Typologisierung funktioniert auch über Filme als »medienkulturelle Ensemble« als audiovisuell-mannigfaltige Medienverbündnisse der Sichtbarmachung, in denen Dinge, Blicke, Sehoperationen, Ton, Wissensverhältnisse, Affekte, Apparaturen, vor- und nachgängige Ereignisse, Rezeptionsweisen und -orte, Sinne und verkörperte Wahrnehmungen, Erinnerungsprozesse diese Sichtbarmachung produzieren. Die Rede von Migrationsanderen basiert auf einer imaginären Setzung und ist damit hochgradig kontextabhängig. Das Imaginäre daran besteht darin, dass für die Festlegung der Migrationsandersheit eben nicht unbedingt eine Migrationserfahrung zentral ist: So wird die phänotypische Andersheit von Menschen in nationalen Kontexten auf einen migrationsbiographischen Hintergrund bezogen. Die Bezeichnungspraxis entspringt daher dem Umgang mit Normalitätsabweichung, sodass eine Ordnung bereits vorausgesetzt wird. Migration ist in zwischenmenschlicher Hinsicht getragen von einem Aufeinandertreffen von subjektiven Blicken. In den Blickbegegnungen zwischen Menschen greifen 104 Vgl. Copjec (2005, besonders S. 82-86). 105 Castro Varela und Mecheril (2010). 106 Vgl. Heidenreich (2015).
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dann stets Momente der Ortskonstruktion hinein. Jedes Individuum hat den Raum, den er bewohnt, vereinnahmt – manchmal gar nur für kurze Zeit. Diese räumliche Zugehörigkeit ist für den Migranten enthoben, er ist eine transitorische Existenz im Liminalzustand. Er bleibt aber Blicken überantwortet, die ihn in räumlich vorbesetzten Orten imaginativ situieren und daraus zuallererst seine Migriertheit in dieser Kartographie der Welt in der Vorstellung bestimmen. Blicke fixieren diese Existenz, wenn sie die Migriertheit des Anderen zu erkennen versuchen: Als Existenz im Ab-Ort der Herkunft. Die Migriertheit gibt sich durch Indizes an dessen Körper, oder auch durch die Konfiguration von Ethnie und Raum daran, sodass die komplexe Wahrnehmungserfahrung des Anderen in diesen Templates vom Anderen als ›Migrant‹ verwaltet werden können.107 Doch solche Analysen zur Migrationsandersheit sind insofern zu relativieren, wie beispielsweise im Falle von Remigration eine Normalitätsabweichung ganz verschiedenen und eher homogenisierten Ordnungsmustern und Normabweichungen angehört. Bei Remigranten verschwindet die Konstellation, die die Normabweichung herstellt, das heißt, dass die Normalisierungsabweichung von Migrationssubjekten ordnungsgraduell fungiert. Aus dieser Perspektive heraus, lassen sich die türkischen Emigrationsfilme zugleich als Zeugnisse der Stabilisierung und -produktion von Normabweichung, Ordnungsdestabilisierung und Reintegration sowie Einebnung von Ordnungsdestabilisierungen lesen, was eine komplexere Konstellation von der Herstellung von Migrationsandersheit ergibt und damit zugleich auf die Mannigfaltigkeit migrantischer Fremdheitserfahrungen verweist. Was in den Analysen bisher als Stereotyp des ›Deutschländers‹ fast als ausweglose Darstellung jener Figur klang, wird mit Blick auf ein zentrales Genre der Türkei als Migrationskinematographie nochmal gebrochen. Dass sich hierbei das im nächsten zu untersuchenden Film anzeigende Blickereignis dabei ebenfalls als Spektakel herstellt, gibt die Gelegenheit zur Ausdifferenzierung der Blickbegegnungsmomente im Kontext der visuellen Kultur des türkischen Emigrationsfilms.
8.3.
Blicksequenz III: Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) – Arabesk und Blickkrise
Die dauerhafte Abwesenheit einer Person geht im Falle eines Wiederzusammenfindens zwischen Personen aus dem sozialen Gefüge und dem Migrierten mit eben möglichen V/Erkennungsmomenten108 einher, die als face-to-face-Begegnung einer zentralen Urszene menschlicher Sozialität zugehören. In den folgenden Ausführungen werde ich die hier beschriebene Szene einer Begegnung zwischen Emigrant und Personen seiner home group genauer untersuchen und die filmische Konstruktion darin herausstellen. Obgleich intersubjektive Begegnungsmomente nicht nur konstitutiv für Migration allein sind, sondern stets auf das soziale Gefüge von Trennung zwischen Daheimverbliebenen 107 Mitchell, W. J. T. (2015a, S. 237f.). 108 V/Erkennung ist laut Lacan’scher Psychoanalyse, die einzige mögliche intersubjektive Begegnungsmöglichkeit.
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und (E-)Migrierten verweisen, gehört die intersubjektive Begegnung von Emigriertem und den Personen des ehemaligen sozialen Gefüges zu jeder Migrationsfiguration mit Heimkehr dazu, sofern die Lebenswelten von Emigrationsort und Remigrationsort sich nicht radikal verändert haben.109 Die vorliegende Szene entwirft eine Begegnung radikalen, krisenhaften V/erkennens, das sich als Blickspektakel ereignet. Die Analyse wird das Krisenhafte an der Szene herausstellen, die Differenzen in der Andersmachung des ›Deutschländers‹ im Vergleich zu Dönüş hervorheben. Zugleich wird die Analyse transparent machen, wie Blicke in Migration als Konfrontationsverhältnis hineinspielen.
8.3.1.
»Ich habe gehört, du hast vergessen…« – Ein Arabeskfilm zur Emigration
Der Arabeskfilm Almanya’da Bir Türk Kızı (»Ein türkisches Mädchen in Deutschland«)110 (1974) ist ein Film von Oksal Pekmezoğlu, einem Regisseur, der zu der Zeit hauptsächlich mit kommerziellen Yeşilçamfilmen unterwegs ist und mit seiner bereits erwähnten Sexklamotte 5 Tavuk Bir Horoz (»5 Hühner und ein Hahn«) (1974) noch im selben Jahr die Sexfilmwelle initiieren wird.111 Dabei hat der Arabeskfilm selbst kaum mit einer explizit sexuellen Dimension zu tun. In seiner Kritik charakterisiert Erman Şener das Filmgenre mit der Formulierung, dass »Arabesk-Sängerinnen in entsprechenden Jahren in je zwei bis drei solcher Produktionen auf[traten], in denen sie zu Yeşilçam-typischer Handlung zahlreiche ihrer Lieder anstimmten.«112 Entgegen der Vermutung, die der Titel nahe legt, handelt der Film selbst, zumindest in seiner ersten Hälfte, nicht von einem nach Deutschland emigrierten »türkischen Mädchen113 «. Die Protagonistin des Arabeskfilms Zeynep ist eine, in einem Badeort lebende Daheimverbliebene, die sehnsüchtig auf ihren seit Monaten als Arbeitsmigrant nach Deutschland ausgereisten Ehemann Murat wartet. Weil ihr Mann in der Emigration sich in eine Deutsche verliebt, versucht die türkische Frau in Deutschland ihren Ehemann zurückzugewinnen, sodass sie wieder zueinander finden. Die folgende analytische Auseinandersetzung an einem Arabeskfilm, hier also zunächst noch verstanden als gesangszentriertes melodramatisches Genre mit türkischen Starsänger_innen einer Populärmusik in der Hauptrolle, will sich weniger den sich eröffnenden, durchaus interessanten Aspekten der Repräsentation und Konstruktion deutscher Frauen im türkischen Film widmen. Obgleich die filmischen Konstruktionen dieser Frauen insbesondere in den späteren Arabeskfilmen xenologische Analyse114 regelrecht herausfordern, soll der Fokus hier nicht auf dem rassistischen Stereotyp von der deutschen blonden Frau liegen (die Zentralität dieses Stereotyps sehen wir zum 109 Das kann dann der Fall sein, wenn wie im Klassiker Eşkiya – The Bandıt (1996) das Heimatdorf wegen einer Staudammflutung evakuiert werden musste. Das soziale Trennungsgefüge einander lange Zeit getrennter Parteien ist also dann nicht gegeben, wenn die sozialen Gefügen der Parteien selbst sich inkommensurabel und einander nicht mehr annäherbar gewandelt haben. 110 Die für die Untersuchungen herangezogene Version ist eine digitalisierte Version einer in einem deutschen Verleih erschienenen VHS des Films. 111 Özgüç (2003, S. 174f.). 112 Şener (1975). 113 Kayaoğlu weist darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs ›Mädchen‹ im Titel zur Bezeichnung der Protagonistin einen Verweis auf ihre türkische »Tugendhaftigkeit« darstellen soll (2011, S. 100). 114 Vgl. Erdheim (2008).
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Beispiel an der Darstellung der deutschen Frau im Filmposter, die im Bikini auf dem Bauch liegt und sich vom Emigranten Murat den Rücken massieren lässt). Im Fokus soll auch nicht die Emigrantenfigur selbst stehen, sondern das Blickspektakel, das sich im Begegnungsmoment zwischen Emigrant und home group im Film herstellt. Der Film selbst beginnt dabei zuerst noch mit Abwesenheitsszenen. In diesen erinnert sich Zeynep daran, wie sie und ihr Ehemann noch vor ihrer Hochzeit gemeinsam Zeit am Meer verbringen; wie sie sich in einer dort gelegenen Hütte vorehelich lieben115 und wie sie dann schließlich heiraten. Auch an die Verabschiedung am Bus erinnert Zeynep sich, als Murat dann nach Deutschland emigriert. Im Hintergrund spielt Karaböceks Klassiker Duydumki Unutmuşsun (»Ich habe gehört, du hast vergessen«) in Anspielung auf Zeyneps Angst davor, von ihrem Mann in Deutschland vergessen worden zu sein. Wie in anderen Abwesenheitssequenzen (Oğlum Osman und Kara Toprak) greift sie nach Ende der Erinnerungssequenzen eine, hier diesmal überdimensionale Photographie Murats und küsst sie (Abb. 36.1-2). Sie erinnert sich an Murats Versprechen, dass er noch »vor der Ernte kommen« würde, dann darüber schmollend, dass schon »so viele Ernten vergangen, er aber immer noch nicht heimgekehrt« sei (so Zeyneps voice over). Sehnsüchtig wartet sie auf Briefe von ihm und fragt stets beim Briefträger nach und stattet einem Bus hinterherrennend dem Busbahnhof einen Besuch ab, in der Hoffnung, dass ihr Murat vielleicht unter den Ankommenden ist: vergeblich. Doch schon wenig später erreicht ein Brief den Vater des Emigrierten, der am Hafen des Badeorts als Fischer arbeitet. Murat komme heim, auch mit deutschen Tourist_innen und er erwarte einen würdigen Empfang. Zeynep ist außer sich vor Freude. Doch Murat wird nicht als derjenige heimkommen, der er vor der Ausreise war. Und er wird eine Dame mitbringen, die als exotistische kollektive Angst schon in anderen Emigrationsfilmen diskursiv verhandelt wurde.
8.3.2.
Arabeskfilm und Gurbet – Das türkische Migrationsgenre schlechthin?
Der Begriff Arabeske, aus dem Französischen arabesque, bezeichnet in der Kunst zuerst im Kontext maurischer Gestaltung entstandene Ornamente, die 115 Der voreheliche Geschlechtsverkehr wird insofern in enttabuisierende Zusammenhänge eingebunden, als dass sich sofort die Hochzeitsszene gibt. Das ist besonders deswegen auch hinnehmbar, als dass der Umstand vorehelichen Geschlechtsverkehrs mit dem zu heiratenden Mann in einer double bind durchzogenen Zone stattfindet. In dieser ist die Handhabung jenes Umstands des Prä-EheSex im Sinne eines nicht offen diskursiv zu verhandelnden Geschehnisses den Heiratenden selbst überlassen – oder wird auch durch die Eltern durch Nicht-Thematisierung dem Paar überlassen. Der Bruch mit dem Ehrenkodex gibt sich ja beispielsweise dann, wenn auch der spätere Ehemann, der mit der Frau in der Hochzeitsnacht die Braut entjungfern wird, nicht Teil des vorehelichen Geschlechtsverkehrs gewesen ist und diesen vorehelichen Geschlechtsverkehr in der Hochzeitsnacht durch das Nicht-Bluten der Braut erkennt. Hat es diesen vorehelichen Geschlechtsverkehr gegeben, wird er selbst darum bemüht sein, die Verhandlung dessen zu verschweigen oder wird den Beweis von der Blutung mit der Braut herzustellen versuchen: Auch seine Ehre wäre ja ansonsten damit beschmutzt. Diese kulturerklärerischen Informationen sind lediglich als Idealtypus einer weitaus komplexeren und heterogeneren Matrix des Ehrenkodex zu verstehen, die aber helfen, die hier ermöglichte Szene vom vorehelichen Geschlechtsverkehr einzuordnen.
8 Figuration III: Ankunft
Abbildung 36.1-2 – Standbilder aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974)
aus phantasievoll gestalteten, sich gabelnden Pflanzenranken, Blüten und Blättern [bestehen, Ö.A.], die oft symmetrisch angeordnet sind. […] Die für die Arabeske als Vorbild dienenden Moresken oder Mauresken entstanden durch das Verbot des Korans, lebende Wesen darzustellen. Islamische Künstler spezialisierten sich deshalb auf die Wiedergabe von stilisierten Laubgebinden und kalligraphisch geschriebenen Koransprüchen als Dekor.116 Wie dieser Begriff völlig unabhängig aus diesem kunsthistorischen Kontext eine Musikund schließlich Lebenskultur der Türkei beschreibt, lässt sich nicht getrennt von der populärkulturellen Praxis des Kinos betrachten. Als in der Türkei in den 1930er und 40er Jahren die ägyptische Musik und Filme Einzug in Radio und Kino halten, wird damit auch – nicht erst dort, sondern auch punktuell auch früher schon117 – die arabische Populärkultur Teil einer großen kulturellen Konsumtion in der Bevölkerung. Nijat Özön hat die transnationalen Austauschprozesse zwischen Ägypten und der Türkei im Bereich des Kinos umfassend aufgearbeitet.118 Einen Meilenstein bildet dabei das erste Screening des ägyptischen Melodramas Dumu al-hubb (»Tränen der Liebe«)119 , das 1938 mit seinem großen Erfolg in den türkischen Kinos einen regelrechten Filmboom ägyptischer Filme durch das ganze Land hervorruft.120 Filmhistoriograph Özön selbst spricht davon, dass nach einer Dauer von drei Jahren Durststrecke nach nationalen Filmproduktionen die Menschen bei der Vorführung in Istanbul regelrecht außer sich waren, als sie Schauspieler_innen mit der Fes und arabischen Liedern sehen durften121 : Mit dem kemalistischen Modernisierungsprojekt war die arabische Sprache und die Fes, von den Osmanen eigentlich aus dem arabischsprachigen Raum als Modernisierungsaccessoires herangeholt, aus dem öffentlichen Raum verbannt und in die kulturellen Praktiken der Bevölkerung, die sich durch Bezug zum Islam sowie Anatolischem auszeichneten, umfassend interveniert worden. Arslan ordnet die populären Filme dabei als gegenstaatliche subversive Praxis ein und hebt an ihnen ihren hybriden Status hervor, der eben nicht kontaminierungsfrei 116 Hartmann, P. W. (o.A.). 117 Vgl. Ulusay (2008). 118 Ulusay (2008). 119 Karim (1936). 120 Arslan (2011, S. 67). 121 Özön (2010, S. 117), siehe auch Ulusay (2008, S. 76f.).
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von Westlichem, sondern gerade durch eine phantasierte Sehnsucht nach dem Westen gekennzeichnet ist, die sich dann mit den regionalen Spezifika der Türkei mischt.122 Die Aufgreifungen von Hollywood, westlicher Musik und moderner Instrumente stellte damit einen Integrierungs- und Modernisierungsprozess dar, der die eigenen früheren kulturellen Anteile in einer Aushandlung mit der Moderne mit Westlichem hybridisierte. Damit vollzog sich zwar eine Modernisierung und Verwestlichung im Inneren, doch sie war eben auch durch die populäre Kultur induziert und nicht wie häufig nur angenommen von den Kemalisten. Es vollzog sich also nicht nur eine Modernisierung »from above, but emerging on their own flux«123 . Wegen der großen Resonanz in der Bevölkerung hatte sich noch vor dem ägyptischen Klassiker besonders die arabische Musik als populäre Musikkultur durchsetzen können, die in das Modernisierungsprojekt der Kemalisten intervenierte. Die Folge war, dass die über das gesamte Land verbreiteten Aufführungen bis 1957 auch in den Dörfern verboten wurden oder mit dem Türkischen synchronisiert werden mussten und erst danach zur Distribution freikamen.124 Damit war also weniger die Stadt als vielmehr Anatolia […] the site of the republican dream. In this respect, Egyptian, Indian, or popular Turkish films complicated and hindered this project by presenting ambivalent and alternative routes of westernization.125 Auch auf musikalischer Seite bot die ägyptische und arabisch geprägte Kultur Möglichkeiten der Hybridisierung. Für die Volkssänger_innen ermöglichte die ägyptische Musik die Gelegenheit zu experimentellen Praktiken, in denen anatolische Volks- und Bardenmusik arabisch-orientalischer Musik unter Einsatz moderner Musikinstrumente vermischt werden konnte. Mike Stokes ordnet die Entstehung der Arabeskmusik in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein: Before the spread of national radio in the middle of the twentieth century, many people in Turkey listened to Radio Cairo and developed a fainiliarity with the mnajor stars of the Arab world, particularly Umm Kulthum and Mohammed Abd al-Wahhab. Their films were known through Turkish versions, to which newly composed music (often by Sadettin Kaynak) was added.126 Abgelöst werden die ägyptischen Melodramen auf filmischer Seite in den späten 1940ern von Muharrem Gürses‹ Dorfmelodramen, die als besonders eindeutige Indikatoren für die Entstehung des ›heimischen‹ Yeşilçam-Kinos zu verstehen sind. Doch schon einige Jahre später sollte die ägyptische Populärkultur in Form von Arabesk auch wieder das Kino affizieren. An diesen historischen Annahmen setzt die bestehende Musikhistoriographie an. Sie ersieht in den musikalischen Erfolgen und frühen Leistungen des Saz-Spielers, Komponisten und Sängers Orhan Gencebay, dessen »Bir Teselli Ver« (»Spende mir einen 122 123 124 125 126
Vgl. Arslan (2011). Arslan (2011, S. 70). Ulusay (2008, S. 77). Arslan (2011, S. 69). Stokes (2012).
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Trost«) (1968) als erstes Arabesk-Lied betrachtet wird, die Entstehung der Arabeskmusik in der Türkei. Gencebay weist diese Rückführung der Begriffserfindung auf seine Person zurück und verweist auf die Massenmedien der 1960er, die den Begriff erfunden und zirkuliert hätten.127 Doch wodurch zeichnete sich diese Musik nun genau aus? Güngör definiert die Arabeskmusik als eine Musik, die den Widerhall des Wertechaos beinhaltet, der aus der Urbanisierung resultiert, und die aus den verschiedensten Sounds besteht, die man mit den fortschrittlichsten westlichen Musikinstrumenten aus den Tönen der türkischen Volksmusik, der türkischen Kunstmusik und der westlichen religiösen Sounds128 erarbeiten kann, und die auch als Kleinbus-Musik129 genannt wird. kentleşmeyle ortaya çıkan değerler karmaşasının bütün yansımalarını içeren, halk müziğinden, klasik Türk müziğine, doğulu dinsel seslerden batının en gelişmiş elektronik müzik aletleriyle elde edilebilen karmaşık seslerden oluşan ve minibüs müziği olarak adlandırılan müziktir.130 Wie zentral Gencebay für das kollektive kulturelle Erbe dieses »Wertechaos« in der Türkei ist, lässt sich an der Mythenbildung um die Arabesksänger_innen herum ersehen. Gerade Fatih Akıns Musikdoku zur vielfältigen Musikkultur in der Metropole Istanbul, Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul (2005)131 , hat an einer internationalen Proliferation des Phänomens ›Gencebay‹ mitgearbeitet. Der Sänger, der von seinen Anhänger_innen und auch darüber hinaus als Orhan Baba (»Papa Orhan«132 ) bezeichnet wird, hält sich mit Liveaufnahmen seiner saz-Performance zurück und hat bis in die Mitte der 2000er Jahre kein Live-Konzert gegeben. Bekannt für seine wahnwitzigen Kompositionen für das türkische Instrument schlechthin, können die Filmemacher_innen der Doku Gencebay wohl zu einer Liveaufnahme seines Hits Hatasız Kul Olmaz (»Es gibt keinen Menschen ohne Fehler«) bewegen. Zugleich wird Gencebay zu den Entstehungsgründen der Musik befragt und berichtet von den Schmähungen durch die Kulturkritiker_innen jener Zeit, die die Vermischung der Musik, die von Gencebay vorgenommene Hybridisierung ganz im Sinne einer Kontaminationsvorstellung traditioneller Musik verrissen hätten. Aufgrund der Vermengung von Modernem und Traditionellen in der Arabeskmusik lässt sich so ein Teil der Gründe heranziehen, weshalb sie zum Sinnbild für die Migrationskulturen in der Türkei und dem Migrationsausland der 1970er und 80er Jahre wurde. Diese Vorstellung lässt sich zugleich dahingehend erweitern, dass man Migration als Katalysator der Musikkultur des Arabesks versteht. Die umfassenden Binnenmigrationen, die in den 1960ern bis dato ihren Höhepunkt erreicht hatten, haben mit dem Einzug der Populärkultur133 zur weitreichenden Durchsetzung der Arabeskkultur im gesamten Land beigetragen, sodass Arabeskmusik in den 127 Kırık (2014, S. 99). 128 Gemeint sind hier sicherlich Orgelsounds. 129 In der Türkei sind s.g. Kleinbusse oder dolmuşs sehr beliebt. Siehe auch Kapitel 7, Fußnote 48. 130 Kırık (2014). 131 Akın (2005). 132 Das ›Vater‹ hier ist mit Schwere, Schwermütigkeit, Güte und herrschaftlicher Väterlichkeit konnotiert. 133 Kırık (2014, S. 102).
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1980ern kulturelles Allgemeingut wird.134 Dass sie ausgerechnet von den migrierenden Bevölkerungsschichten so aufgenommen wurde, macht die Relevanz der Arabeskkultur für ein Verständnis der türkischen Migrationsfilme so zentral. Um zu verstehen, wieso ausgerechnet durch die Migrant_innen im Land die Arabeskkultur bereicherndes Identifikationspotential bereithielt, lohnt es, sich Überlegungen zu Affekt- und Sinnpolitiken anzustellen. Aufgrund der Ohnmacht des Subjekts gegenüber den ihn übersteigenden Widrigkeiten kommt aus Banu Mustan Dönmez’ Sicht der Arabeskmusik kathartische und damit affektive Reinigungs- und Kompensationsfunktion im Sinne von Copingstrategien zu. Eine mögliche kausale Rückführung gibt Mustan Dönmez, wenn sie sagt, dass die Arabeskmusik kathartische Funktionen übernimmt, für wirtschaftliche Bedrängnisse, Anpassungsschwierigkeiten an die Stadt und Entfremdung, die Unfähigkeit zur Zugehörigkeitsentwicklung, Liebeskummer, Zermarterung aus Armut und die Hinwendung an das Schicksal oder Gott ekonomik bunalımlar, kentin sosyal yapısına uyum sağlayamama ve yabancılaşma, bir yere ait olamama, aşk acıları, yoksul olmanın verdiği ezilmişlik, çözümlenemeyen sorunlar karşısında Tanrı’ya ve kadere sığınma135 – also all jene Schwierigkeiten, die sich für eine fremdmigratorische Existenz aus einem besonders vormodernen in einen modernen Zusammenhang ergeben. Dass die kathartische Funktion das Ergebnis und weniger die prozesshafte Dimension der Konsumtion von Arabeskkultur erklärt, werde ich sogleich aufzeigen können. Zentral für eine Kopplung von Arabesk- und Migrationskultur ist zuvorderst die Vorstellung von gurbet. Gurbet ist ein kaum eindeutig ins Deutsche zu übersetzender Begriff, der oft mit »Fremde« übersetzt wird. Im Konzept verbindet sich die Dimension des Affektiven mit einer normativen topologischen Figurationsvorstellung. Die Figuration von Subjekt und Raum, die durch Trennung bestimmt ist, bedeutet stets die Annahme von Leid für das Subjekt, das von seinem als zugehörig gedachten Raum, der Sicherheit und Geborgenheit verbürgt, getrennt ist. Ein Subjekt, das sich nicht in seinen heimatlichen sozialen Gefügen befindet, gilt also als deplatziert, Fremdheit ausgesetzt und der Geborgenheit und psychische Stabilität, sowie sozialen Rückhalt vermittelnden Lebenswelt entzogen. So überrascht es nicht, dass der zuvor untersuchte Film Dönüş den Alternativtitel Gurbetçiler (»die, die in der gurbet sind«) trägt. Gülcan ist in ihrem Heimatdorf Fremde geworden, durch den Wegzug ihres Ehemanns und İbrahim hat sich selbst in die Fremde begeben und sich mit ihr identifiziert, bleibt also aus fremdbestimmter Sicht ein gurbetçi. Während im frühen deutsch-türkischen Kino der 1970er und 80er die Migrationsexistenz in orientalisierender, viktimisierender Betroffenheit mündete, ist sie im türkischen Film an die Vorstellung des gurbet und damit weniger spezifisch an die Fremdkulturalisierung gebunden. Betroffenheit gebührt auch demjenigen, der fremd im eigenen Raum (körperlich, psychisch, innerlich wie äußerlich) geworden ist. Dass Fremdheit zentral für das Konzept von gurbet ist und nicht zwangsweise an Migration, sondern 134 Kırık (2014, S. 113). 135 Mustan Dönmez (2011, S. 236f.).
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eher an die Fremdwerdung der Lebenswelt, die Entkoppelung von Subjekt und dem Lebensraum der Geborgenheit gebunden ist, zeigt sich in dem Drama Gurbet Yolcuları (»Die Reisenden der Fremde«) (1962)136 . Der Film von Sırrı Gültekin setzt mit Aufnahmen eines im Zuge des Ersten Weltkriegs von den Franzosen besetzten Dorfs in Adana ein. Die Militärs schikanieren die Bewohner_innen. Ein Dorfälterer, der an dem Tisch mit zwei anderen sitzt, spricht daraufhin von der Anavatan, der Mutternation, der Heimat, als das ihr eigenes Dorf an jenem gesegneten Kandil, einem islamischen Feiertag, aufgrund der Besetzung und der Gewalt des Militärs nun nicht mehr erscheinen kann. An dieser Rückführung von gurbet an eine schon geringe Deplatzierungsfiguration, in der nicht ein deplatziertes Subjekt, sondern ein entfremdetes Heim schon die gurbet herstellt, zeigt sich, dass nicht nur Emigration, Binnenmigration, sondern jede Form der räumlichen Defiguration eine besondere Prekarität für die betroffenen Subjekte erzeugend angenommen wird. In diese in psychischer Hinsicht bedrückend erachteten Leidumstände jeder Migration oder des Verlusts des Heimatlichen spielt die Arabeskmusik mit ihrer affektiven und diskursiven Sinnproduktion hinein.137 Die gurbet-Erfahrung bleibt besonders Männern in der türkischen Gesellschaft fast schon zwanghaft vorbehalten, da für sie die Verpflichtung zum achtzehn-monatigen Wehrdienst besteht. Da der Ort der Absolvierung ausgelost wird, ist er stets von den heimischen Zusammenhängen entfernt und damit verpflichtend migratorisch.138 Damit durchleben diejenigen, die nach ihrem Wehrdienst heimkehren und erneut emigrieren eine doppelte Emigrations- und Heimkehrsituation, spielt sich das Schützsche Drama von der Heimkehr im Leben eines türkischen Mannes mindestens doppelt ab. Damit sind es vornehmlich junge Menschen, die zumindest in den türkischen Filmen als von der Migration betroffen imaginiert sind: Sie bilden als Dorfgrenzen durchschreitende Akteur_innen jene Agenten des Dorfs, die als Ausreisende zugleich mit den Mythen der Heldenreise und Vorstellungen besonderer Potenz belehnt sind.139 Dabei spielt 136 Gültekin (1962). Siehe dazu auch Alkın (2013, S. 56f.). 137 1962, als Gültekin seinen Film realisiert, hat sich die Arabeskmusik als solche namentliche Muskrichtigung jedoch noch nicht entwickelt. 138 Die Absolvierung der Heimkehr nach dem Wehrdienst bringt in der normierten Sozialisation entweder schon die Heirat vorab oder dann die Notwendigkeit der Heirat danach mit. In Dönüş und Almanya’da Bir Türk Kızı, die als Hauptthema die Zurückgelassenheit der Frauen und die Ehefrauen als Protagonisten der Filme anlegen, sind die emigrierenden damit bereits verheiratet. In den untersuchten Filmen, in denen der Protagonist Heimkehrer ist, ist dieser fast ausnahmslos unverheiratet und besteht der vornehmliche Hauptkonflikt in eben jenem Versuch der Verheiratung der Zurückkehrenden, der Bändigung der Triebhaftigkeit eines heranwachsenden und herangewachsenen Mannes, für den es an der Zeit ist, in die Reproduktion der Sicherung des Gabentauschs integriert zu werden. 139 Aus einer polyzentrischen Perspektive heraus, wäre es interessant, nach den gurbet-ähnlichen Vorstellungen im deutschen Kino zu fragen. Beispielsweise beginnt auch Edgar Reitz’ Heimat-Reihe mit einer Migrationsfiguration: Darin ist es tatsächlich der Kriegsheimkehrer, der in sein Heimatdorf zurückkehrt. Weg vom tendenziell künstlerischen Anspruch von Reitz’ Filmreihe hin zur populären Kultur, bietet sich besonders der Heimatfilm für vergleichende Untersuchung mit dem türkischen Dorffilm an. Das populäre deutsche Nachkriegs-Genre der 1950er Jahre, das wie die YeşilçamFilme weit in das Gefüge von der Produktion vorgestellter Gemeinschaften hineinspielt, und durch den Entwurf ›heiler‹ Lebens- und Umwelten zur kollektiven Sinnstiftung und emotionalen sowie
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die Arabeskkultur nicht nur in migrantische Zusammenhänge hinein, sondern bleibt auch in lokal verankerten Kulturen eine treibende populärkulturelle Kraft. Mit dem Aufkommen der Arabeskmusik etabliert sich besonders in den gazinos (Gesangslokale) alsbald eine ganze Kultur von Arabeskstars, die so auch mit Postern ganze Wände und öffentlich sichtbare Bereiche des Alltagslebens zieren.140 Ihre Prominenz und Popularität wird im Yesilçam-Kino entsprechend aufgegriffen, sodass in den 1970er und 80er Jahren schließlich Arabeskfilme entstehen. Im Diskurs wird hierbei Ömer Lütfi Akads Bir Teselli Ver (»Gib mir einen Trost«) (1971)141 mit Orhan Gencebay in der Hauptrolle als erster Arabeskfilm überhaupt verhandelt, dessen Titel auf den vermeintlich ersten Arabesksong eben jenes Arabeskbegründers zurückgeht. In produktionstechnischer Hinsicht lassen sich diese Filme als kommerzielle, populäre Filme verstehen, in denen musikalische Einlagen oder Hintergrundlieder aus aktuellen Arabeskalben zu Gelegenheiten einer melodramatischen Story vorgetragen werden. Dezidierte Charakteristika der Arabeskfilme sind weniger abseits der gängigen YeşilçamModalität zu suchende Eigenschaften, als vielmehr Genre bedingende externe Spezifika wie die unbedingte Inklusion von Arabesksänger_innen als Protagonist_innen und die sich durch den Film durchziehenden Gesangseinlagen.142 Diese Sicht auf die Arabesk-Filmkultur lässt sich noch in gesellschaftshistorischer spezifizieren: Zentral für die Arabeskkultur ist weniger die Emigration als vielmehr die Binnenmigration. An den Stadträndern bilden sich die so genannten gecekondus143 , die den verarmten, zumeist aus vormals dörflichen Zusammenhängen ausgereisten Migrant_innen eine Behausung ermöglichen. Diese riesen Züge von provisorischen, illegal gebauten, aber je nach rechtlicher Inanspruchnahme durch Staat beziehungsweise Landeigentümer unreklamierten Behausungen entwickeln sich zu dauerhaften Wohnstätten, die die Randgebiete der Großstädte zieren. Aufgrund der widrigen Lebensumstände in der modernen Stadt, die sich als spannungsreich für die traditionellen anatolischen Migrant_innen entpuppen, wird die Arabeskmusik zur kulturellen Praxis der dort Lebenden schlechthin. Die in den schwermütigen Texten artikulierte Sehnsucht (Liebe, Heimat, Zustand der Problemlosigkeit) rekurriert dabei stets auf eine Konstellation eines Subjekts, dessen Leid zumeist schicksalsinduziert ist, aber auch Hinwendungen an die Geliebten finden sich. Die Hochphase erlebt die Arabeskkultur damit in affektiven Modulation ihrer Zuschauer_innen hineinreicht, böte die Möglichkeit einer polyzentrischen Untersuchung, in der die Migrationsfilme der Türkei vergleichend unter der Prämisse jener gemeinschafts-, sinn- und affektproduktiven Eigenschaften untersucht werden könnte. So wären die sozioaffektiven Funktionsmechanismen des Filmischen und die visuellen Konstruktionen im Hinblick auf Relationalitäten zu erarbeiten. 140 Grewe (2003, S. 48). 141 Akad (1971). 142 Dabei funktioniert der Arabeskfilm im Verhältnis zum Dorffilm anders, insofern er weniger durch soziokulturelle Aspekte wie das Feudalsystem oder Vorstellungen vom Ehrenkodex geprägt ist, sondern eher affektzentriert und produktionsbedingt (Inklusion von Säner_innen und Musik) funktioniert und deswegen kaum auf dezidierte soziokulturelle Milieus beschränkt bleib. Schwerpunktmäßig bilden dabei weniger Dorf sondern vielmehr Stadt und auch Ausland die Hintergründe für die Arabeskfilme. 143 Alkın (2016e).
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den 1970er Jahren, die nicht nur, aber besonders von den Bewohner_innen in den gecekondus und so auch von anatolischen Minoritäten in der Türkei konsumiert wird, die zugleich zahlreiche der Arabesksänger_innen hervorbringen. Von den Intellektuellen und auf staatlicher Seite wird sie als populäre Kultur verachtet und es dauert noch bis in die 1990er Jahre bis die Arabeskmusik als selbstverständlicher Teil türkischer Gesellschaft ihren Einzug auch in das türkische Staatsfernsehen TRT findet. An Yavuz Turguls in der Türkei Kult gewordenen Tragikomödie Muhsin Bey (»Herr Muhsin«) (1987)144 lässt sich der Stellenwert des Arabesk besonders schön illustrieren: Der gleichnamige Manager des aus Südostanatolien angereisten Sängers Ali Nazik vertritt den gutmütigen, naiven aber talentierten Mann nur unter der Bedingung, dass dieser keine Arabesk-Lieder singt. Als dieser dann aus wirtschaftlichen und karrieristischen Gründen doch einem solchen Profil als Arabesksänger folgt, zeigt sich in diesem interpersonellen Konflikt nicht nur der abwertende Gestus eines aus der Zeit gefallenen Managers an, sondern auch die Wirkmächtigkeit der Arabesk-Kultur, die aus dem bescheidenen südostanatolischen Mann schließlich einen unbeholfenen, aber wohlhabenden Macho und seinem Lehrer eine anachronistische Figur machen wird. Gerade in den 1980ern schwappt die Arabeskkultur dann auch nach Deutschland über, sodass ein immenser Import von Schallplatten und LP-Kassetten einsetzt. Bemerkenswert hierbei bleibt, dass der in Deutschland immens etablierte Videomarkt sich dabei auf den türkischen Markt und der Etablierung von Video auch dort auswirkt. Damit ist es gerade die Emigrationskultur, von der ein immenser Einfluss auf den massenmedialen kulturellen Markt des Entsendelands einhergeht. Martin Greve formuliert die Zentralität der Arabeskmusik, die er nicht nur für die binnen- sondern auch emigrierten Migrant_innen in Deutschland ersieht, folgendermaßen: Musikalisch fand diese starke Sehnsucht [der Migrant_innen, Ö.A.] nach der ›Heimat‹ in den 1970er und 1980er Jahren ihren Ausdruck im arabesk, einer Mischung aus anatolischer Volksmusik, westlichem und urbanem türkischen Schlager sowie Arrangements libanesischer Unterhaltungsmusik, die Ende der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der zunehmenden Binnenmigration in der Türkei entstanden war. […] Die Liedertexte sowie später die arabesk-Filme handelten von den Schmerzen unglücklicher Liebe, von Heimweh, von der Kälte der Großstädte, von Schicksalsergebenheit und Verzweiflung. […] Von dem Rückbezug auf eine ›eigentliche‹ Heimat Türkei wurden auch die nachfolgenden Generationen stark beeinflusst. Erzogen von Eltern voller Heimweh, bemüht, ihren Kindern vor allem die Heimatkultur zu vermitteln, wuchsen die meisten türkischen Jugendlichen in Deutschland mit arabesk-Liedern auf und entwickelten ebenfalls eine starke Identifizierung mit der Türkei als imaginärer Heimat.145 Es entstehen hier wie dort dezidierte gazinos, in denen entsprechende Sänger_innen auftreten. Die Liedtexte erzählen dabei von Schmerz, wobei gerade der Schmerz der ›türkische‹ Affekt schlechthin zu sein scheint, sodass gerade die masochistischen sexuellen Politiken der Arabeskkultur sich entlang ihrer Filme, Songtexte und Musiken 144 Turgul (1987). 145 Grewe (2003).
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nachverfolgen lässt. Langsame, getragene Rhythmen, die Karawanen konnotieren, und Texte, die von den unerschöpflichen Sorgen und Schmerzen des lyrischen Ichs kundtun. Viele der Arabesklieder treten aufgrund ihres langsamen Drei-Viertel-Takts auch instrumentell zur Konstruktion des Schmerzaffekts hinzu, insofern die darin enthaltene Rhythmik mit ihrer Konnotierungsfähigkeit von Langsamkeit, die Genussdimension des Schmerzes in den Vordergrund bringt. Schmerz, der möglichst so kurz wie möglich sein sollte, wird hier ästhetisch in einen Dehnungszusammenhang gebracht, der den erlittenen Schmerz streckt und darum umso effizienter in den masochistischen Zusammenhang bringt. Besonders deutlich wird er an den Anhänger_innen des 2015 verstorbenen Sängers Müslüm Gürses. Auf Konzerten ritzen sich Fans des inzwischen verstorbenen Rauhstimmigen146 mit Rasierklingen in die Haut. Das weinerliche, hypnotische Singen von Ferdi Tayfur, einem anderen Sänger, koppelt die in der textuellen Ebene enthaltene explizite Leidpoesie mit einem »Geno-Gesang«147 , der also jene Dimension der Wehklage auditiv in seinem Singen reproduziert. Dabei ist dem Masochismus zu Eigen, dass die Lust daran ambivalent bleiben muss, um wirkmächtig bleiben zu können: Die Als-Ob-Modalität des Masochismus basiert auf der Unsichtbarmachung jener Lustpotentiale auf Seiten der Schmerzempfänger_innen. Es geht also in der Arabeskmusik nicht um eine affektive Strategie, die darauf zielt, den Schmerz zu tilgen, indem die Musik mit dem Schmerz der Zuhörer_innen resoniert oder kathartisch fungiert, sondern der Schmerz rückt das Subjekt ins Zentrum der Welt, entkoppelt es von seinem Außen, und versammelt die Aufmerksamkeit darauf: ›Seht her, wie groß mein Schmerz ist. Niemand wird ihn verstehen.‹ Damit versichert die Schmerzartikulation und die hieraus resultierende szenische Konstellation, in die es das Subjekt bringen kann (Performation), die Möglichkeit sich als wertvolles Subjekt zu erfahren, da es die unvorhandene Aufmerksamkeit für die Leiden in eine imaginäre Szenerie der Aufmerksamkeit überstellt. In der Zurückgezogenheit auf die nicht mehr intersubjektiv zu versichernden Schmerzen bleibt das Lied eine solidarische, aber virtuelle, weil nicht in kontingente Kommunikation einbringende Instanz. Zwar kann man die Arabeskkultur durchaus als Copingstrategie mit der Sehnsuchtssituation oder mit der sozialen Überforderung (Familie, Arbeit) gerade vor dem Hintergrund der Migrationsexistenz in der Stadt oder im Ausland betrachten. Diese psychologisierende Erklärung greift mit Blick auf jene sexuellen Dimensionen zu kurz. Doch das Funktionieren auf affektiver und ästhetischer Ebene hat wenig mit eskapistischen Tendenzen des weltlichen Rückzugs zu tun, als vielmehr mit der Versicherung von der Fähigkeit zum eigenen Überleben: Überlebbarkeit bedeutet mit Grenzerfahrungen konfrontiert 146 Über die Biographie des Sängers gibt es besondere Gerüchte zu einem Autounfall im Jahre 1978, den er nur knapp überlebt. Der Beifahrer stirbt. Als Folgen des Unfalls verliert Gürses Riech- und Teile des Hörvermögens, auch wird ihm eine Metallplatte in den Kopf operiert. Zuvor wurde er zunächst noch als tot erklärt und im Sarg untergebracht, aus dem er sich dann wenig später nach Erwachen befreien konnte. Gerüchte unter Fans sagen auch, dass die Rauheit seiner Stimme nach der ›Wiederauferstehung‹ besonders markant geworden wäre. Das kommerziell erfolgreiche und in der Türkei hergestellte Biopic Müslüm (2019) nimmt die Lebensgeschichte des 2013 verstorbenen Müslüm Akbaş (bürgerlicher Name) auf und verhandelt dort auch den genannten Unfall. 147 Barthes (2002).
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zu sein, die wieder auf das betroffene Subjekt zurückweisen. Diese kann in dem szenischen Performativ von der Leidverkündung immer wieder iteriert werden. Arabesk ermöglicht Subjektivation und fungiert wie viele andere Musiken zugleich als Herstellungsperformativ von der Resonanz mit der Welt. Gerade deswegen haben akademische Stimmen, die Fatih Akıns Gegen die Wand im Kontext des Migrationskinos evaluiert haben, in der Gesamtanlage des Films auf dessen Arabesk-Qualitäten verwiesen. Die beiden Protagonist_innen bringen sich im Verhältnis zu ihrer Umwelt an ihre Grenzen: durch ihre Haltung ›gegen die Wand‹, ihren transgressiven Handlungen: Protagonistin Sibel lässt sich mehrmals von zwei machistischen Männern in Istanbul nachts auf der Straße zusammenschlagen. Cahit fährt zu Beginn des Films sein Auto gegen die Wand, um zu sterben und mit seinen Drogen- und Alkoholexzessen bringt er sich stets außer sich. Der aus den Handlungen resultierende Schmerz versichert sie in ihrer Umwelt ihrer selbst und im Überleben trotz der lebensgefährlichen Grenzüberschreitungen versichern sie sich ihrer eigenen Involviertheit in das Außen der Welt.148 Wie bereits formuliert, halte ich deswegen Untersuchungen zur Arabeskfilmkultur, die die mediengenerativen Aufgreifungen und damit produktionstheoretische und -ästhetische Analysen mit polit- wie kulturhistorischen Kontextualisierungen vollführen, für aufschlussreicher (▶ Kap. 5). Arabesk ist kein hartes emotionsbestimmtes Genre, sondern eine Modalität, ein komplexes Gefüge aus Sinn, Text, Affekt, Bildern, Ikonographien, Atmosphären und medialen (Wieder-)Aufgreifungen, das sicherlich noch ein komplexes Nachleben im so genannten ›deutsch-türkischen Kino‹ und darüber hinausführt. Um zur Filmkultur des Arabesk in der Türkei zurückzukehren und sein Ende zu erörtern: Die Bedeutung der Arabeskfilme im Kontext der Kinokultur lässt sich mit der empirischen Angabe danach illustrieren, wie viele der hergestellten Filme sich jenem Genre zuordnen lassen. Fast 50 % der Filme des Jahres 1981 sind Arabeskfilme.149 Doch für Ali Murat Kırık bringen die 1980er nicht nur die Integration von Arabesk in die Alltagskultur mit sich, sondern die 1980er markieren für die Filmkultur gesprochen damit auch das Ende der Sexfilmwelle. Statt Arabesk gegen Sexfilmwelle zu positionieren, müsste sie in den verschiedenen Relationalitäten zur Rolle des Sexuellen in der Film- und Politkultur der Türkei in den Blick kommen. Es ist schon erstaunlich, dass in der innenpolitisch so angeheizten Situation des Rechts-Links-Konflikts jener Jahre ausgerechnet (soft-)pornographische Filme von der rigiden Zensur verschont bleiben. Es verhärtet sich so der Eindruck, dass die Zensur die Überschwemmung des Filmmarkts mit jenen sexuell enthemmenden Filmen nahezu politstrategisch zugelassen hat: eine These, die hier nicht genauer nachvollzogen werden kann, aber unter versierten Filmwissenschaftler_innen ein Leben als Gerücht führt. Bislang wurde kaum thematisiert, dass sich unter den Arabeskfilmen die melodramatische Story auch mit Action- und Krimielementen koppelt. Diese Gewaltfilme verlaufen dabei entlang sexueller Kodizes, die eher durch Sadismus und Patriarchalität geprägt sind: Folter- und explizite Gewaltszenen verbinden sich mit gewaltsam ausgelebten Rachephantasien. Die männlichen Protagonisten verkörpern wie in unzähligen 148 Vgl. Görling (2007). 149 Esen in Kırık (2014, S. 108).
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anderen Yeşilçam-Filmen einen von besonderer Potentialität und Handlungsmacht gezeichneten Charakter, der sich und seine Familie gegen eine gefährliche Umwelt verteidigen muss.150 Dass diese an Michael Winners paradigmatischen Death Wish (»Ein Mann sieht rot«) (1974)151 erinnernde Konstellation nicht nur für den Kontext des Arabeskfilms reserviert bleibt, versteht sich in der Kopierkultur des Yeşilçam-Kinos dahingehend von selbst. Doch dass die Arabeskkultur mit actionlastigen Storys nicht nur Männern reserviert ist, sondern Männer und Frauen gleichermaßen adressiert, macht sich in der Einschätzung Metin Gürs deutlich, der davon erzählt, dass [e]s […] in den Liedern um Trennung, um Sehnsucht, um Liebe [ging] […] Das waren Lieder, die jeder für sich deuten konnte. Eine Frau, die sich von ihrem Mann getrennt hatte, um als Arbeiterin nach Deutschland zu gehen, konnte sich in ihnen ebenso wiederfinden, wie ein Arbeiter bei Ford, der seine Frau, seine Kinder, seine Mutter zurückgelassen hatte, seine Gefühle in den Worten dieser Lieder zum Ausdruck bringen konnte.152 Jener hier im Hinblick auf das Krisenereignis der Emigrantenrückkehr in den Untersuchungsfokus rückender Arabeskfilm Almanya’da Bir Türk Kızı, der von einer weiblichen Protagonistin, nämlich der Sängerin Neşe Karaböcek getragen wird, stellt einen Typus dar, der sich dezidiert an ein weibliches Publikum richtet. Oksal Pekmezoğlus Film ist weit von der Bestimmung einer Arabeskkultur als dezidiert männlicher Subkultur entfernt und adressiert stattdessen Frauen als Publikum. Bevor diese filmische Modalität als Frauen-Arabeskfilm genauer erörtert wird, lohnt es jenes Blickbegegnungsmoment von Emigrant und Ehemann Murat, dessen Eltern sowie seiner Frau Zeynep im Hinblick auf die visuelle Konstruktion zu untersuchen. Noch bevor dieser Schwenk auf die Analyse vollzogen wird, sollen die Gründe für das Ende der Arabeskwelle nicht zurückgehalten werden: Als Grund für das Ende des rasanten Erfolgs des Genres Ende der 1980er Jahre betrachtet Kırık den Umstand, dass die aus der Binnenmigrationswelle in den 1960ern entstandene gecekondu-Schicht, die als Rezeptionskultur der Arabeskmusik par excellence zu betrachten ist, aufgrund gestiegener Einkommen und der zunehmenden Migration in die städtischen Zentren einen sozialen Aufstieg durchmacht und damit die umfassende Konsumtion unterlässt.153 Und doch bleibt es noch bis heute wirkmächtiger und kaum wegzudenkender Teil der populären Kultur der Türkei.
8.3.3.
Filmanalytische Beschreibung – Almanya’da Bir Türk Kızı
Menschen aus dem gesamtem Badeort warten vor einem Platz auf den ankommenden Bus: Bewohner_innen, Händler_innen und eine Folkloregruppe samt Trommler und Tröter (→). Murats Ehefrau Zeynep steht mit ihrer Freundin in der Menschenmenge und wartet sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Ehemanns, so wie Murats Eltern, die ebenfalls in der Gruppe voller Menschen den Ankunftsort des Busses beobachten. 150 Vgl. Arslan (2005). 151 Winner (1974). 152 Gür (1998), zuerst gefunden in Grewe (2003, S. 48). 153 Kırık (2014, S. 113).
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Ähnlich wie in den anderen Emigrationsfilmen zeigen rennende Kinder die bevorstehende Ankunft des Emigranten (hier gar einer ganzen Truppe von Tourist_innen) an. Doch diesmal rennen sie dem ankommenden Gefährt nicht hinterher, sondern voraus. Sie laufen zur Menschenmenge, die sich am Ankunftsplatz des Badeorts zusammengefunden hat, um den Reisebus mit den Tourist_innen feierlich zu begrüßen. Die Folkloregruppe tanzt mit vollstem Elan zu Trommel und Tröte. Von der Halbtotalen, die die Szenerie zeigt, in der Murats Vater einen der Jungen umarmt (Abb. 37.1), wird auf eine Halbnahe geschnitten, in der Zeynep und ihre Freundin auf den Ankunftsplatz blicken und den Reisebus erwarten (Abb. 37.3). Die Einstellung wechselt zwei Mal zwischen ankommendem Bus, den beiden Frauen, der tanzenden Menge bis schließlich aus einer Halbnahen der Eingang des Busses zu sehen ist (Abb. 37.8), aus der nun eine gelb gekleidete Frau aussteigt. Ein erneuter Schnitt setzt ein, der die beiden wartenden Freundinnen, diesmal aus einer Normalen zeigt. Hier wird nochmal das räumliche Umfeld der beiden deutlich: Vor ihnen stehen zwei Männer und einige andere Personen um sie herum. Nun setzt ein over-the-shoulder shot über Murats Eltern hinweg auf den Buseingang ein (Abb. 37.11), aus dem nun nach und nach Tourist_innen aussteigen. Als ein knallrot gekleideter Mann mit Cappy und Sonnenbrille in der Tür steht, vollführt die Kamera einen schnellen Zoom zu ihm an die Bustür (Abb. 37.12). Der Mann winkt den Personen zu und spricht ein Grußwort: »Merhaba«; dann ein Schnitt auf die Halbnahe mit Zeynep und ihrer Freundin (Abb. 37.13). Ein Zoom naht an Zeyneps überrascht dreinblickendes Gesicht bis zur Einstellungsgröße einer Großaufnahme heran, wobei mit dem Zoom eine mit Trompeten gespielte Fanfare im Vibrato einsetzt, die ein Gefühl von Panik etabliert (Abb. 37.14). Noch während sich das Vibrato hält, setzt ein Gegenschuss auf den Buseingang und zugleich ein Zoom auf den rot gekleideten Mann ein (Abb. 37.15-16). Der Mann greift an seine Cappy und winkt dann wieder leicht der Menge zu, gefolgt von einem raschen Gegenschnitt auf die Großaufnahme Zeyneps von vorhin (Abb. 37.17). Erneuter Schnitt auf den rot gekleideten Mann (es ist Murat), der nun seine Begrüßung erneuert, diesmal mit Verkündung der Adressat_innen: »Sevgili hemşerilerim, merhaba!« (»Meine lieben Landsmänner_frauen, hallo!«) (Abb. 37.18). Schnitt auf eine Amerikanische, in der Murats Eltern in einer Menge mit Menschen stehen, die Willkommens- und Werbeschilder in ihrer Hand tragen (der Mann im Hintergrund rechts mit rosarotem Plakat wirbt für beispielweise für »Hähnchen« und »Fisch«) (Abb. 37.19). Hier zoomt die Kamera diesmal auf eine Großaufnahme des verwundert dreinblickenden Vaters (Abb. 37.20). Nun setzt erneut der entsprechende Gegenschuss ein, der als PoV des Vaters angelegt durch zwei davorstehende Frauen hindurch auf die Eingangstür des Busses zoomt, in der Murat steht (Abb. 37.21-22). Dieses Zoomverfahren, das als PoV der Blickenden angelegt ist, setzt noch zwei Mal ein: Von einer Totalen, in der eine oder beide erwartende Personen zu sehen sind (also möglicher PoV von Murat, der im Bus steht) wird auf sie zu einer Großaufnahme gezoomt. Von dieser Großaufnahme heraus wird dann wieder auf den Bus gegengeschnitten, der als PoV der soeben Blickenden entsteht, woraufhin in diesem PoV erneut auf den Buseingang gezoomt wird, in dem Murat dann in Halbnah- oder Nahaufnahme samt Gesten oder Worte der Begrüßung darbietend und lächelnd zu sehen ist. Dieses Muster wiederholt sich bei Murats Mutter (Abb. 37.23-28) und dann bei Zeyneps Freundin, die dann auch im Dialog mit Zeynep sich fragend bei ihr absichert, ob das auch wirklich »Murat abi«
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(»Bruder Murat«) sei (Abb. 37.29-33). Schließlich merkt sie an, wie sehr er sich doch verändert habe. Nachdem die dramatische Musik nun ausklingt, fragt Murats Vater aus einer Normalen heraus mit Ehefrau gefilmt, ob das ihr gemeinsamer Sohn Murat sei (Abb. 37.34). Nachdem die Kamera eine Nahe auf Murats Gesicht zeigt (Abb. 37.35), die das sehende Versichern der Mutter antizipieren soll, sichert die Mutter ihrem Ehemann mit zeigender Geste auf den Bus hin nun zu, dass es tatsächlich ihr Sohn sei (Abb. 37.36). Diese Begrüßungs- und Ankunftsszene ist noch länger, zumal in der Folge dieser zahlreichen Zooms und Schnitte Murat und seine Eltern sich umarmend begrüßen und erst dann Zeynep an Murat herantritt und sie halbherzig umarmt. Daraufhin steigt Murats deutsche Freundin Gertha aus dem Bus und alle stellen sich einander vor, wobei Zeynep verwirrt über die deutsche Freundin Murats ist, die sie abwertend mustert. Als Murat Zeynep dann noch bittet, die Koffer wegzubringen, da er und Gertha später nachkommen würden, ist Zeynep umso herber enttäuscht. Der Hotelbesitzer des Badeorts führt die angekommenen Tourist_innen samt der Einheimischen, die sich zur Begrüßung eingefunden haben, zum Hotel ab. Da der Fokus auf die Blickbegegnung von Ankommenden und Erwartenden gelegt ist, werden sich die Ausführungen auf diese knapp 90 Sekunden andauernden Hin- und Herbewegungen im Blickkontakt zwischen Remigrant und home group konzentrieren und das Wie dieser Blickvorgänge in der Begegnung von home group und Emigrant als visuelle Konstruktionen eines kritischen Moments von Remigration analysieren.
8.3.4.
Analyse: Zoom, Zoom, Zoom – Blickbegegnung als Blickkrise
Im Gegensatz zu den anderen Remigrationsfilmen haben wir es hier nicht mit einem klassischen Dorf-Setting zu tun. Die Handlung spielt sich nämlich an einem touristischen Badeort am Meer ab, was sich zum Beispiel an einigen Einstellungen an einem Hafen anzeigt. Der Emigrantenvater arbeitet an einer Gaststätte und Zeynep deckt die Außentische dort. Im Hintergrund sehen wir das Meer. Andere Einstellungen zeigen mit Wohnhäusern versehene Straßen. Auch gibt es einen größeren Busbahnhof, typisch für kleinstädtische Orte. Das Setting des Films gibt vor, wie die Menschenansammlung bei der Busanfahrt des Emigranten zu werten ist. Die Wartenden haben kommerzielles Interesse an den Tourist_innen. Ein Hotelier steht bei der Menge und einige der bei der Ankunft Anwesenden halten Werbeschilder im Hinblick auf gastronomische Optionen hoch (»Taze [frischer] Fisch«; das Werbeschild koppelt das türkische Adjektiv mit dem Nomen). So vermischt sich in der Ankunftsszene also die Anreise von Tourist_innen mit der Heimkehr eines Arbeitsemigranten. Aus diesem Setting ergeben sich einige Unterschiede zum gängigen Dorffilm, die hier nicht weiter interessieren sollen. Vielmehr gilt es den Blick darauf zu lenken, wie sich die filmische Konstruktion im Sinne eines komplexen blicktechnischen Gefüges der Ankunft als Remigrationsbegegnung vollzieht. Obgleich beide Emigrantenfiguren aufgrund äußerer Merkmale (Kleidung, Accessoires) fremd erscheinen, ist die Andersgewordenheit je unterschiedlich inszeniert. Statt wie in Dönüş auf die einzelnen Dinge zu fokussieren, die die visuelle Andersgewordenheit des Emigranten ausmachen, wird die Andersgewordenheit hier durch zweierlei vermit-
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Abbildung 37.1-32 – Standbilder aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974)
telt: erstens über die kameratechnische Operation des Zooms und zweitens über die Orchestrierung der Normal- und Nahaufnahmen der Gesichter der ihn Erwartenden. So wird die Szene als krisenhafter V/Erkennungsvorgang auf Seiten der Erwartenden sichtbar gemacht, der sich besonders durch Vermittlung eines Schockmoments auf Seiten der Figuren auszeichnet. Blickkrise Generell wird die Blickbegegnung zwischen Emigrant und seiner erwartenden home group wie in Dönüş als Krise des V/erkennens angelegt. Das Krisenhafte resultiert aus den filmischen Mitteln, sie als solche in Szene zu setzen: weniger als sequentiell durch-
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komponierte Blickorchestrierung wie in Dönüş, sondern als eine Krise von Sichtaktionen. Eine Krise im Erkennen des Emigrierten auf Seiten der ihn Erwartenden zeigt sich, so die Erkenntnis aus der Untersuchung auch der anderen Sequenzen, wenn es sich bei den Erwartenden um Personen handelt, die aus dem intimen Nahfeld des Emigrierten kommen. War in Dönüş die Ehefrau des Emigranten eine sozial nahe Erwartende, so sind es hier neben der Ehefrau auch die Eltern, die den heimgekehrten Sohn als nächste Bezugspersonen empfangen. In der Blickbegegnung gibt es allerdings im Vergleich zu Dönüş eine Differenz, die sich aus der zeitlichen Verhältnisse der Ankunft ergeben: Sowohl die Menschen des Orts als auch die Personen aus dem Nahfeld Murats (Eltern, Ehefrau) sehen den Emigranten zur gleichen Zeit und erst mit dem Austritt aus dem Bus. Auch bei Davaro hatten wir es mit einer erwartenden home group zu tun: alle warteten gleichzeitig auf den Heimkehrer Memo. In Dönüş war hingegen eine zeitliche Differenz der jeweiligen Begegnungen mit dem Emigranten angelegt. Zuerst begegnet İbrahim den Dörfler_innen, dann erst trifft Gülcan auf ihn. In Almanya’da Bir Türk Kızı ist das anders. Murats Körper wird in einem kurzen Moment zuallererst sichtbar – in einem Heraustreten. Zuvor ist er unsichtbar. Mit jenem Heraustreten übergibt er sich dann den Blicken der Erwartenden, doch die Blicke zwischen ihm und der ihn erwartenden Familie treffen sich anfangs nicht. Murat schaut in die Menge, nicht dezidiert nach seiner Familie suchend, sondern empathisch die Masse begrüßend. Seine Adressierung der Masse bleibt dabei anonym. Er spricht sie euphorisch als »Landsleute« an und tut damit seine Zugehörigkeit zu ihnen kund. Man kann diese Verhaltensweise psychologisch plausibilisieren: Damit die erwartenden Leute erkennen, dass er Einheimischer, also nicht lediglich einer der ankommenden Tourist_innen ist, muss er seine Nicht-Zugehörigkeit zu den Tourist_innen in seiner Begrüßung als zu ihnen Zugehöriger markieren. Während die Aussteigenden vor ihm rasch den Eingang des Busses freigeben, ist er der einzige, der beim Austreten aus dem Bus innehält und die Erwartenden grüßt. Das ermöglicht, dass überhaupt die Eltern, Zeynep sowie ihre Freundin die Gelegenheit haben, mit ihrem erkennenden Sehen Murat zu identifizieren. Er ist mit seiner Begrüßungsperformance ein Ausnahmefall unter den eilig aussteigenden Ankommenden, die relativ unbekümmert aus dem Bus treten. Murats Blicke sind dabei in die Menge gerichtet, die Blicke der Erwartenden aber gegen ihn ausschließlich. Dieses zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen einer Gruppe der Blickenden und einem einzelnen Blicksubjekt ist noch in die Figuration eines Kamerablicks, der als Blick einer_s einzelnen angelegt ist, eingebunden. Die Multiplizität von Blicken, die sich zum Beispiel in Multiscreen-Einstellungen gibt, sofern jede Bildrahmung als korrespondierend zu einer Blickinstanz gesetzt wird, bleibt außen vor. Mit 33 Bildern und den vielzähligen Zoomoperationen ist die Szene unglaublich dynamisch und schnell geschnitten. Die Einstellungen von den Gesprächen zwischen den Figuren (Freundin mit Zeynep, Vater mit Mutter) bilden dabei die Rahmung der Sequenz der schnellen Zooms. Sie bilden also Anfangs- und Endeinstellungen der Krisenszene des Sehens, wodurch das Krisenmoment aufgrund des Fehlens von Dialogen als besonders entsprachlichtes Moment zurückbleibt. Es sind je fünf Mal vorgenommene Zooms und Gegenschüsse, in denen jeweils eine der Murat erwartenden Personen einmal per Zoom aus einer Normalen heraus erfasst
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wird und worauf unmittelbar ein Gegenschuss anschließt, der aus der Richtung der Angeblickten auf Murat zoomt (erst Eltern gemeinsam, dann Zeynep, Vater, Mutter und schließlich Zeyneps Freundin). Es wechseln sich damit also Zooms als subjektive Kameras der erwartenden Personen und die Zooms von Normalen auf Nahaufnahmen der jeweils ihn sichtenden Personen ab. Dabei sind jeweils bei Mutter und Zeynep noch ein zusätzlicher Schnitt und Gegenschnitt zwischen Murat und den Nahaufnahmen ihrer Gesichter angelegt. Doch der Blick der Kamera, in Form auch des Zooms, wird zum Akteur, der sich nicht an die Figuren rückbinden lässt, insofern er immer ein stückweit von den möglichen Blicken der Figuren ver-rückt ist. Dadurch dass die Figuren beim Zoom auf Murat im Anschnitt nicht mehr gezeigt werden, erzeugen sie eine eigenartige Konfiguration, die sich gar kaum noch als subjektive Kamera lesen lässt. Der jeweils zweite Zoom aus der Perspektive der erwartenden Person auf Murat ist teilweise so schnell und kurz angelegt, dass die Ambiguität, nicht eindeutig ausmachen zu können, ob der Zoom exakt dem Blick der Figur entspricht, hier besonders erhöht ist. Wir sehen ja nicht den zum Blick dazugehörigen Körper, sodass die Kameraperspektive sich nicht eindeutig auf einen Körper rückbeziehen lässt. In Dönüş wurde diese Problematik durch den Kniff umgangen, Gülcans Finger im Bildfeld sichtbar zu belassen, wodurch wissenstechnisch der Kamerablick als Gülcans Blick nochmal vereindeutigt wurde. Hier ist die Annahme nach einer subjektiven Kamera durch Positionalität und Montage der Einstellung der Konstruktionsleistung von Zuschauer_innen überantwortet. Nochmal: Der Blick bleibt unbestimmbar im Hinblick auf die ihm zugehörige Instanz, indem wir im Bildfeld nicht mehr Anzeichen nach den Personen finden können, denen der zoomende Blick zuzuordnen wäre.154 Das Nahen auf ihr Gesicht will nahelegen, dass der Zoom, der darauf folgt, genau der Blick der Person ist, deren Gesicht gezeigt wurde. Der Blick im Zoom verbündet sich quasi mit dem potentiellen Sehen der stehenden Erwartenden und vollzieht einen Vorgang des hastenden Nahens, so als wolle der Blick selbst noch jenen Vorgang des Genauerhinsehens für die Figuren umsetzen. Die Ex-Lokalisation der zugedachten Zooms zu den Figuren, durch das Nicht-Anschneiden der Figuren wahrt die découpage, insofern mit der Kopplung von Nahaufnahme des Gesichts und dann einsetzendem Zoom auf den Emigranten die Zuschauer_innen damit suturiert werden. Die Organisation der Gesichteraufnahmen und der Zooms bleibt einer normativen filmischen Ordnung treu, deren Ziel als Suturierung lesbar wird. Die Dauer der Blicke folgt im Einstellungsteil, der aus den abwechselnden Zooms besteht, einer Schnelligkeit, die eben die Desorientierung hervorruft. Sie sind so schnell geschnitten, dass eine intelligible Ein- und Zuordnung der Blicke zu den Blickenden kaum mehr möglich ist. Erst die hier vorgenommene Untersuchungsoperation der Einstellungsanalyse, die die Bilder extrahiert und anordnet, zeigt die Logik der Blicke auf. Die Gesichter der Akteure ermöglichen zwar die Identifikation der beteiligten Blickenden für die Gesamtszenerie, doch die Zooms sind viel zu schnell, als dass auszumachen wäre, welcher Zoom in der suturierenden Logik welcher Figur zugeschrieben ist. 154 Kuhn (2011, S. 122-133).
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Das Krisenhafte gibt sich also auf visueller Ebene mit den in schneller Abfolge gedrehten sehr kurzen einzelnen Einstellungen, in denen dann noch jeweils ein immens schneller Zoom einsetzt. Die Hektik, die aus der Vielzahl der kurzen Einstellungen resultiert, stört die Verortung, die der Kamerablick anbietet. Es entsteht Desorientierung. Die Zooms destabilisieren diesen Halt umso mehr, als sie die Verortung von Hier und Da erschweren. Es kommt zu einem situativen Verlust der verkörperten Wahrnehmung, zu einem drohenden Verlust der Origo. Der Blickhalt wird in eine Krise gestürzt. Zwar setzen die Zooms jeweils über die Schulter einer blickenden Person und so durch Rückbindung an den Blick einer konkreten Figur hinweg ein. Weil sie aber so unvermittelt einsetzen und der Wahrnehmung nur in geringem Maße die Möglichkeit zur Erfassung der Person erlauben, über deren Schulter geblickt wird, droht, dass die Zuschauer_innen die einzelnen Einstellungen als Entstehung eines subjektlosen Blicks empfinden. Der Zeigegestus des Zooms als Blickhaftes tritt in den Hintergrund und es stellt sich das Zeigen des Zooms her. Die Hauptcharakteristik lässt sich damit wie folgt festhalten: Jeder einzelne Zoom auf den Emigranten soll sich als Sichtakt des ›Genauer-Hinsehens‹ lesen lassen, der auf ein besonders intensives Erkennen der aussteigenden Person aus ist. Der Zoom fungiert so als Metapher. Die Metaphorisierung besteht darin, dass der Zoom, der von den Figuren aus auf Murat zu-›schießt‹, die qualitative Steigerung in der Schauenspraxis lediglich auf kameratechnischer Hinsicht umsetzen, in menschlicher Hinsicht allerdings lediglich symbolisieren kann. Warum ist das eine Metapher: weil der Zoom selbst keine Erkennenspraxis impliziert. Er gehört nicht zum organisch-technischen Repertoire des menschlichen Auges. Der epistemische Zugewinn durch die optische Vergrößerung erfährt zwar seine technische Fundierung, doch die daran geknüpfte Deutungspraxis fällt nicht mit der technischen Praxis zusammen. Generell zum Zoom: Er folgt einem Vergrößerungsdispositiv, das auf einer korrelativen Prämisse fundiert ist. Je näher die Dinge sind, umso deutlicher müssten sie zu erkennen und umso evidenter müsste das Gesichtete sein. Doch schon mit Antonionis Blow Up (1966) lässt sich der visualitätstheoretische Allgemeinort rekapitulieren, dass jedes Herannahen zugleich ein ›weiter Wegtreten‹ ist, insofern jede Vergrößerung Verhältnisverlagerungen zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit produziert. Jede Vergrößerung produziert eine Unsichtbarmachung anderer zuvor sichtbarer Teile. Die Verhältnisverlagerungen in der Vergrößerung des Bilds führen nicht unbedingt zu einem Mehr an Wissen. Objekte, die im Raum in Entfernung sind, können vergrößert werden, was aber stets um den Preis einer Ausblendung anderer Teile sowie anderer ästhetischer Variablen geschieht: Kontraste, Farbverhältnisse, Strukturen. Doch die Logik des Zooms hier folgt der Annahme, dass es das ›Genauer-Hinschauen‹ als Sichtakt symbolisieren kann. Das Genauer-Hinschauen richtet sich, folgt man dem Punkt, auf den der Zoom zufährt, auf den Oberkörper respektive das Gesicht des Emigranten und fungiert so auch zugleich als Akt der Vergrößerung. Das Gesicht ist Identifikationspunkt des Menschen, der Ort an dem seine jeweilige Singularität identifiziert werden kann. Würden die Figuren als menschliche Wesen also tatsächlich mit ihren Augen zoomen können, so würde er ihrem erkennenden Sehen auch zuarbeiten. Der Zoom als Metapher für das ›Genauer-Hinschauen‹ zeigt so auf, dass die filmästhetischen Verfahren selbst im Hinblick auf den Vorgang der Sichtbarmachung von Sichtoperationen nur spezifische
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Vermögensleistungen haben. In der Verschränkung von Sehen und Wissen klaffen die Modi des Films und der Wahrnehmenden (Zuschauer_in, Figur) auseinander. Wie äußert sich der Vorgang des ›Genauer-Hinschauens‹ auf Seiten des sehenden Menschen, wenn er keine technischen Hilfsmittel heranzieht, so wie hier bei den Erwartenden? Das ›Genauer-Hinsehen‹ ist eher ein ›Sich-konzentrieren‹, eine Wahrnehmungsfokussierung, die aus einer zielgerichteten Aufmerksamkeitslenkung im Hinblick auf das betrachtete visuelle Feld besteht. Das ›Genauer-Erkennen‹ hingegen ist auf die Fähigkeiten des Erinnerns, des Abgleichens, des Rückschlüsse-Ziehens, des Übereinanderlagerns von inneren und äußeren Bildern angewiesen. Das Krisenhafte verdankt sich neben den vielfältigen Zooms auch der Musik: Nachdem Murat auf einen Zoom über den over-the-shoulder shot der Eltern aus dem Bus heraustritt und »Merhaba« ruft (Abb. 37.12), wird auf Zeyneps Gesicht geschnitten. Mit dem Schnitt auf Zeyneps Gesicht in der Nahen (Abb. 37.13), die dann zur Großaufnahme heranzoomt (Abb. 37.14), setzt eine fanfarenähnliches hochtöniges Vibrato von Blasinstrumenten ein, das von E-Gitarrenklängen im Hintergrund begleitet wird. Das chaotische, dissonante und laute Spiel der Blasinstrumente, die die immens hohen, jeweils lang gezogenen Töne herstellen, reizen den auditiven Strang aus, zumal im Hintergrund auf diegetischer Ebene immer noch leicht die grelle Tröte und die laute Trommel des feierlichen Empfangs zu hören sind und trotz ihrer Rhythmik so zur tonalen Überforderung beitragen. Es ist die Hörbarkeit der Töne, die an ihre Grenze kommt, die Symmetrie des harmonischen Klangs, die subvertiert wird. Mit den darauffolgenden abwechselnden Gegenschnitten und Zooms setzen sehr hektische und dissonant gespielte Streicherklänge ein, sodass die Situation zugleich als bedrohlich empfunden wird. In ihrem Klang konnotieren sie noch die hohen Streicherklänge, die an Alfred Hitchcocks bekannte Duschszene aus Psycho (1960) erinnern. Das Moment des Erkennens wird selbst erst in den Gesprächen deutlich, nicht aber an den Mimiken oder der Inszenierungsweise selbst. Das Erkennen von Murat als winkender Emigrant ist somit einer eindeutigen Zuweisbarkeit von Erkennensmomenten entzogen. Sowohl Zeyneps Freundin als auch Murats Vater versichern sich beim jeweils anderen darüber, ob der Mann, der am Bus steht und winkt, der erwartete Heimkehrer ist. Die Differenz zwischen vorgestelltem Mehmet und dem aktuellen Bild von Mehmet klaffen zu weit auseinander, als dass eine Identifikation möglich wäre. Der Umstand, dass Murat aus einer Menge von anderen Tourist_innen tritt, macht die Annahme möglich, dass der Heraustretende eventuell nicht Murat ist. Insofern ist hier eine höhere Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Ankommende nicht derjenige ist, als der er in einer ersten Wahrnehmung erscheint. In dieser Konstellation des erkennenden Sehens auf Seiten der diegetischen Figuren ist ein Schirm aktiv, der als kultureller Schirm das »Feld der Sichtbarkeit«155 verbürgt. In weiteren Überlegungen zu Dönüş und in Kapitel 8.4 wird darauf nochmal genauer einzugehen sein. Dass Kamera- und Figurenblick und die Zuweisbarkeit von Vorgängen des V/Erkennens an die Figuren instabil bleiben, zeigt sich besonders in Folge des kurzen Gesprächs der Eltern. Nachdem Murats Vater die Mutter fragt, ob das »unser Murat« sei, kann sie 155 Schaffer (2008, S. 112-116).
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ihn erst nach einem erneuten skeptischen Blick zum Bus hin und eine erneute subjektive Kamera als Nahaufnahme auf Murats Gesicht eindeutig erkennen. Nachdem sie ihn erkennt, wandelt sich ihr skeptischer Blick in eine Mimik, die das Glücksgefühl nach Murats Ankunft vernehmen lässt. Dabei hatte der crash zoom156 auf Murat vom Gesicht seiner Mutter aus schon vorher eingesetzt. Die hierauf folgende Nahe auf das Gesicht der Mutter hatte sie doppelt gezeigt, sogar so lange, dass das ›Nach-rechts-und-nachlinks-Kippen‹ des Kopfs der Mutter wahrnehmbar war, was auf die Einrichtung eines Perspektivwechsels der Mutter und damit auf ihren Zustand der Nicht-Erkennbarkeit Murats schließen ließ (Abb. 37.27-28). Das Überraschungsmoment der Mutter darüber, ihren Sohn schließlich doch identifiziert zu haben, lässt sich noch in eine weitere Richtung lesen: Vielleicht hat sie ihn in den vorherigen Einstellungen schon erkannt und simuliert dem Vater ein erst auf sein Fragen hin einsetzendes Erkennen des Sohnes, um einen in der Frage enthaltenen Vorwurf zu umgehen. Weil die Aufgabe der Kindeserziehung vom Vater als Sache der Mutter angenommen sein könnte, kann dessen Frage nach der Versicherung nach Murat auch als Vorwurfsfrage an die eigene Ehefrau verstanden werden, im Sinne der Frage: ›Identifiziert dein mütterlicher Blick, mit dem du unseren Sohn großgezogen hast, den Mann als Murat?‹ Dass das V/Erkennungsmoment als schockierend angelegt ist, lässt sich zugleich aus den Mimiken der Figuren ablesen. Die Münder aller vier Personen, die den Emigranten erwarten, stehen vor Erstaunen offen (Abb. 37, jeweils die Bilder 17, 20, 24, 31). Die Sprache der Beobachtenden versagt und so entsteht der Eindruck von Paralysierung durch einen Schockeffekt. Die Nahaufnahmen der Gesichter ermöglichen die Lesbarkeit ihrer Empfindungen, die neben dem Schockhaften, dem Erstaunen auch das Skeptische in ihrem Ausdruck lesbar halten. Das Sehen mit Mehreren impliziert die Annahme einer Objektivierung des Sichtinhalts. Intersubjektiv Geteiltes hat den Charakter des Objektiven, des Verlässlichen. Wenn zwei Figuren dasselbe sehen, ist das Gesehene weniger möglichen imaginären Bereichen zuzuordnen. Die paarweise Anordnung der Figuren, die die Ankunft beobachten, tilgt die Durchsetzung subjektiver Einstellungen mit imaginären und phantasmatischen Zuschreibungen, die subjektive Kamera und einzelsichtende Blickoperationen mit sich bringen könnten. Zwar wäre eine solche Objektivierungsstrategie aufgrund der Menge an erwartenden Menschen, die die Szene auffährt, nicht nötig, doch zugleich ermöglicht der Umstand einer paarweisen Sichtung der Ankunft mit anschließendem Gespräch, die diskursive, weil dialogische Artikulation der Verunsicherung über die Identifikation Murats. Das ›Reden-über‹ stabilisiert so die Zuweisbarkeit von Wissen an die Figuren und ihr Sehen. Die Ambiguität der PoVs der erwartenden Figuren, die vorhin noch artikuliert wurde, wird durch die Bürgschaft der zugeschriebenen Intersubjektivität, die in der paarweisen Darstellung der Figuren und ihrer dialogischen Versicherung über das Gesehene liegt, dadurch in ihren imaginären Bedeutungshorizonten getilgt. Zwischen Zeynep und der Freundin findet so derselbe Versicherungsmoment statt wie zwischen den Eltern. Die Freundin fragt: »Ist das Murat?« Hier ist es also die Freundin, die sich nach der Ahnung, dass der rot gekleidete Mann wohl Murat sei, 156 Ein crash zoom ist ein hastiger Zoom, der auf die Objekte ›einstürzt‹.
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bei Zeynep über ihre Vermutung versichert. Zeynep nickt bejahend. Beide verfallen in ein Lachen, in dem sich ihre Vergnügung über Murats eigenwillige Aufmachung lesbar hält. Es setzt nach ihren skeptischen Blicken ein. Zugleich stellt dieses Moment damit eine Ent-Dramatisierung der Krisenszene dar und weil auch die Streicherklänge aussetzen, markiert dieser Augenblick des Lachens das Ende des mit Schock versehenen V/Erkennungsmoments. Nachdem Zeynep an Murat herantritt, ist die Freundin nicht mehr sichtbar und erst als Zeynep alleine die Koffer wegtragen muss, steht sie wieder bei Zeynep. Die Funktion der Figur und auch der anderen Dialogszenen zur Ankunft Murats werden deutlich: Das ›Reden-über‹ gestattet den Zuschauer_innen das überdeutliche ›Verstehen-von‹. Andersmachung des Selbst Sicherlich fungiert die Szene auch als eine solche, in der der Auftritt des Emigranten als Selbstfetischisierung und Spektakularisierung angelegt ist. Wie in Dönüş freut sich der Emigrant einer interessierten Menge entgegenzutreten. Seine deiktischen und phatischen Handlungen als Begrüßungsgesten strotzen vor Selbstbewusstsein und vermitteln die Ansicht nach einer angenommenen Normalität seines Auftretens. Er setzt sich selbst als Bild in Szene, womit den Zooms auch ein Charakter der Instrumentalisierung dieses Bild-Werden des Emigranten zukommt. Dieses Bild-Werden ist noch mit jenem Charakter des ›Heureka!‹ besetzt, das das Kind im Spiegelstadium erlebt, als es sein Spiegelbild im Spiegel als sich selbst entdeckt.157 Auf die Äußerungen seines Vaters nach seiner Andersgewordenheit geht der Emigrant nicht ein und anders als die anderen Aussteigenden lässt die lange Dauer seines Stehens im Buseingang seine Begrüßung als eine Selbstinszenierung zurück; seine Begrüßungsgeste des Winkens wird exzessiv aufgeführt. Damit scheint Murat nicht nur der Menge zuzuwinken, sondern die Figur führt regelrecht eine Begrüßungsperformance auf. Das Begafftwerden ist so als eine genussvolle Selbstinszenierung angelegt, und die Blicke an ihn scheinen zunehmend sein empfundenes Glück zu erhöhen. Es scheint so, als ersieht er sich selbst als Aufsteiger. Sein eigenes Sehen bleibt uns allerdings entzogen, er kann selbst nur als Bild fungieren. Der Migrant scheint kein Bewusstsein dafür zu haben, dass er durch seine Andersheit die anderen schockieren könnte. Obgleich das Setting ein Badeort ist, sind Murats Eltern und Zeynep in ihrem Habitus, ihrer Kleidung, durch ihr Sprechen und die Charakteristik ihrer Häuslichkeit dörflich konnotiert und von dieser anatolischen Normalität ausgehend gibt sich Murats Anderswerdung umso intensiver. Seine veränderte äußere Erscheinung vermittelt erst in der Wissensoperation von der Blindheit für seine Selbstwahrnehmung seine Anderswerdung auf charakterlicher Ebene. Zumindest sein Verhalten, die moderne blonde Gertha über seine dörfische Ehefrau zu stellen und mit ihr ein feucht-fröhliches, moderneres Leben zu fristen, vermittelt dann einen kon157 Schaffer fasst Lacans Modell so zusammen: »Das Spiegelstadium bezeichnet bei Lacan jenen Prozess, durch den ein Wesen sich als Selbst ›erkennt‹, indem es ein Bild, das durch einen Spiegel produziert wird, als sein eigenes annimmt, d.h. sich damit identifiziert, und damit die Mediiertheit, Alterität und Exteriorität dieses Bildes verkennt«, Schaffer (2008, S. 113).
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kreteren Eindruck nach einer Veränderung seiner Lebensweise – allerdings, so wie bei Oğlum Osman, erst im weiteren Verlauf des Films. Das Gesicht Murats besticht durch ein breites Grinsen: So vermitteln sich dadurch Eindrücke von Selbstbewusstsein, Stolz und Freude des Emigranten, die die Identifikation mit seinem Selbstbild deutlich machen. Wenn er nicht verstehen kann, weshalb ihn die anderen nicht erkennen oder weshalb der Vater so verwundert über sein Dress ist (er spricht ihn darauf an), hat er sich von den Dispositionen, der Ordnung des Wissens der home group schon distanziert. Die Wissensdifferenzen zwischen home group und Emigrant trennt damit das solche Soziale nicht nur auf der Ebene der Erwartungshorizonte, sondern lässt sie auch als solche Subjekte anderer »Bezugsschemata«158 dastehen. Zugleich hat der Emigrant sich wie die anderen Tourist_innen eine grelle Sommerkleidung angelegt (Shorts, Cappy mit zwei großen weißen Aufklebern auf dem Schild, grellrotem Hemd), die sich mit den Accessoires von Radio und Photoapparat dann doch noch mit den stereotypen Elementen des ›Deutschländers‹ koppeln. Der Schock rührt hier aus der Fremdwerdung: Er rührt aus einer Ent-Stellung, die sich in der bunten Aufmachung als Aufmachung des Anderen ergibt. Der Andere ist hier dem türkischen Eigen-tum das Hippietum. Dadurch dass Murat als jemand gezeigt wird, der in der Gruppe der Hippie-Touristen erscheint, wird sein Auftreten mit den Konnotationen von Hippietum belehnt. Dass jene Kultur im türkischen Filmkontext als eine mit besonders negativen Zuschreibungen behaftete dasteht, ist Allgemeinort eines Yeşilçamaffinen Bewusstseins, das Kayaoğlu so formuliert: Gegen Ende 1960er Jahre [sic!] sind es dann die Hippie-Touristen, die in zahlreichen Filmen für das klischeebeladene Bild der westlichen bzw. deutschen Jugend herhalten mussten und durch ihre ›Ausgefallenheit‹ und ›Abartigkeit‹, neben einer gewissen Komik, auch eine Abneigung gegen das Fremdländische hervorriefen.159 War in Dönüş der Heimkehrer jemand, der im Dorfmilieu als sozialer Aufsteiger dastand – er trägt einen Anzug und eine Krawatte und damit eine elegante Kleidung –, ist der ›Deutschländer‹ hier als Shorts und Hemd tragender Fremdgewordener Freizeitmensch inszeniert. Die V/Erkennung verdankt sich, wie in Dönüş, der Kleidung, die sich als grellrote Aufmachung zwar hypersichtbar zeigt; doch die Vorstellungsbilder der ihn Erwartenden, die seinen Zustand vor der Emigration kennen, decken sich nicht mit jener dort materialisierten Aufmachung in der Ankunft des Emigranten. Das Wissen um die Andersgewordenheit des Emigranten wird durch das grelle Rot seiner Kleidung und die gesichtsentstellende Brille zu erzeugen versucht. Nimmt man das Konnotationsfeld des Hippietums als das fremde Andere des Türkischen, dessen zugeschriebener Anarchismus als Chaos die rigide Ordnung des Lebens zu unterminieren droht, dann ist Murats Aufmachung auch mit dem Moment der Bedrohung durchsetzt. Doch diese Drohung relativiert sich durch die Peinlichkeit seiner Aufmachung: Shorts gelten im Dorfkontext als entmännlichende Kleidung. Das Tragen einer Sache auf dem Rücken, so wie Murat nun Mal die Westerngitarre trägt, ist 158 Schütz (2002b, S. 100). 159 Kayaoğlu (2011, S. 97f.).
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im Dorfkontext mit Armut konnotiert, da es das besonders den Frauen zugeschriebene Tragen von Heu oder anderem antizipieren lässt. Die überdimensionierte Sonnenbrille erinnert ebenfalls eher an einen weiblichen Tragestil von Sonnenbrillen, den dann auch die von Murat mitgebrachte Deutsche Gertha aufweist, indem sie ebenfalls eine überdimensionierte Sonnenbrille trägt. War der Emigrant in den Dorffilmen als wirtschaftlich potente Figur imaginiert, äußern die Figuren hier keine solche Erwartung an den Ausgereisten. Dabei werden wie in Dönüş Vorbilder des Emigranten entworfen, die die Differenz umso deutlicher hervortreten lassen. Wir sehen den Emigranten vor seiner Ausreise in den Erinnerungsszenen der Abwesenheitssequenz: Hier ist er Fischer, trägt Hemd und typisch-dörfische Schiebermütze bei der Abreise am Busbahnhof. Bei der Rückkehr ist hiervon kaum mehr etwas übrig. Die innere Welt der Heimkehrer ist keine der Skepsis. Nahezu in allen Filmen ist die Heimkehr ein freudiges Ereignis für die Rückkehrer und so auch hier: Die gute Laune, die das Verhalten des Emigranten trotz eines kritischen V/Erkennungsvorgangs vermittelt, erscheint nicht weiter fragwürdig insofern, wie er seine vermeintliche Heimkehr eigentlich als vorläufigen touristischen Aufenthalt angelegt hat: Mit der deutschen Geliebten Gertha wird er wieder nach Deutschland zurückkehren und das Ankommen in seinem Heimatdorf stellt für ihn selbst noch ein freudiges soziales Ereignis dar.160 So ist seine äußere Erscheinung nicht wie in Dönüş als Dress zur sozialen Aufwertung zu evaluieren als vielmehr ein Dress der Anpassung, der einen Lebensstilwechsel anzeigt. Indem das Deutschtum selbst nicht negativ besetzt wird, halten sich okzidentalistische Annahmen im Film fast gänzlich zurück. Diese kulturell durchsetzte Wahrnehmung des Emigranten als peinlicher Verfremdeter lässt sich in einer anderen paradigmatischen Begegnungsszene in einem Emigrationsfilm wiederfinden, die hier nur kurz und ohne besondere Beschreibung der visuellen Konstruktion wiedergegeben werden kann. In Kartal Tibets Katma Değer Şaban (»Mehrwert Şaban«) (1985)161 will der Vater eines aus Bildungsgründen nach Deutschland ausgereisten Emigrantensohns diesen bei seiner Rückkehr am Flughafen empfangen. Als der Sohn schließlich durch den Ausgang tritt, kann der Vater seinen Augen nicht trauen. Der Sohn ist zu einem Punk mutiert, der dem Vater sogleich auf seiner EGitarre ein heute unter türkischen Filmkenner_innen zum Klassiker avanciertes Ständchen spielt (Abb. 38.1): »Alo, Papa! Oğlun Şaban Almanya’dan geldi!« (»Hallo Papa! Dein Sohn Şaban ist aus Deutschland gekommen!«). Die Durchsetzung des Erinnerungsbildes des Sohns mit einem derart verfremdeten Bild eines Punks wirft den ansonsten domestizierten (blickgezähmten) Blick zurück. Der Vater wird in der schockierenden Maskerade des Sohns zum Angeschauten, dem nur noch mit einem Rückzug aus der Welt der Sinne (Ohnmacht) zu begegnen ist. Hier ist es nicht das Hippietum, das das Andere verbürgt. Es steht der anarchistische Punk für das fremde Andere, das den Vater bis zur Ohnmacht schockiert (Abb. 38.2). 160 Dieser Umstand stimmt mit den Filmen überein, in denen alle äußerlich andersgewordenen Heimkehrer ins Dorf zurückkehren (Vahşi Arzu, Baldız, Kara Toprak, Davaro). Die Gestimmtheit ist positiv. 161 Tibet (1985b).
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Abbildung 38.1-2 – Standbilder aus Katma Değer Şaban (1985)
8.3.5.
Zweiteilung – Raumproduktion im Film und Migration
Das Soziale besteht in der Szene als eine solches der Zweigeteiltheit. Die Zweiteilung gibt sich mit der Figuration der Verhältnisse von Gerichtetheit. Die Körper sind durch die Mise en Scène reguliert. Eine Skizze, die das Setting nochmal aus Aufsicht schematisiert, hilft hier weiter (Abb. 54).162 Generell stehen die beiden Paare, Vater und Mutter sowie Zeynep und Freundin, an je zwei unterschiedlichen, voneinander entfernten Positionen und schauen damit je doppelt aus derselben Position auf den Reisebus. So will es jedenfalls die filmische Konstruktion der Szene vermitteln. Insgesamt besticht die Szene durch zwei Durchschreitungen zweier Handlungsachsen. Die eine verläuft hier in der Skizze vertikal, also vom Bus zur Menge, wobei sie konkret für die Krisenszene bei Murat als Blickzentrum ansetzend angenommen werden kann. Die Achse teilt zugleich die Orte der beiden Zweiergruppen auf: Auf der einen Seite befinden sich Zeynep und ihre Freundin, auf der anderen Seite befinden sich Murats Eltern. Die Annahme, dass Zeynep und Freundin überhaupt zur Gruppe vor Ort gehören erscheint fragwürdig dahingehend, Die andere Handlungsachse verläuft horizontal, geht durch den Distanzraum hindurch, der sich generell zwischen der home group und Murat aufzieht. Der Zoom vollzieht nun Achsüberschreitungen, jeweils auf vertikaler und horizontaler Handlungsachse (die zweigerichteten Pfeile sollen diese Bewegung signifizieren). Die découpage bleibt intakt, der Raum wird durchmessen, weil die Überschreitung der Handlungsachse durch die Zooms die räumliche Ordnung des Platzes etabliert. Auch wenn die Pfeile hier nur andeuten, dass die horizontale Handlungssache überschritten wird, so gibt sich mit dem Schnitt, mit dem jeweils zum anderen Paar übergeschnitten wird, eine Achsüberschreitung auf der vertikalen Handlungsachse. Die vertikale Achse wird also nicht durch den Zoom im raumdurchschreitenden Sinne überschritten, sondern durch einen Wechsel des Kamerastandpunktes im Schnitt: der »Dynamisierung des Raums« und »der Verräumlichung der Zeit«.163 Zentral suturierend ist hierbei eine Einstellung, die in der Einstellungsübersicht nicht enthalten ist, nämlich Abbildung 40. Sie liegt zwischen Abbildung 37.6 und Abbildung 37.7. 162 Zu den besonders voraussetzungsreichen Implikationen dieses methodischen Verfahrens siehe die Ausführungen gegen Ende des vorliegenden Unterkapitels. 163 Panofsky (1999).
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Abbildung 39 – eigene Illustration, Positionsübersicht zu Almanya’da Bir Türk Kızı
Abbildung 40 – Standbild aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974)
Dass gerade diese suturierende Einstellung mir bei der Erstellung der Einstellungsübersicht erst beim dritten Abgleich zwischen Übersicht und Filmszene auffällt, ist bezeichnend für ihren besonders suturierenden Charakter. Dabei ist sie für ein Verständnis der bildräumlichen Produktion des Sozialen sehr zentral, denn sie arbeitet ihr maßgeblich zu. Konkreter: Die Überschreitungen der Handlungsachse arbeiten hinsichtlich der Lokalisierungen der Akteur_innen einer Zweiteilung zu. Die Kamera trennt in ihrer Figuration den Raum in zwei Sphären auf, die sich entlang der Handlungsachsen der Aufnahme konstellieren. Der Achsensprung verläuft entlang der Sichtachse, der
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Sichtenden. Diese Einsicht, die noch sehr an die Ergebnisse aus Kapitel 6 aus Davaro erinnert, in der ja auch die home group auf den Emigranten wartete, lässt sich hier jedoch noch um Einsichten erweitern, die die Produktion szenischer Gefüge im Film jeher betreffen. So wird durch die hier genannte suturierende Einstellung die Lokalisierung der Parteien (home group, Emigrant) überhaupt gewährleistet, also so, dass die Zweiteilung zwischen wartender Menge und Buseingang filmräumlich ohne besondere Wahrnehmungsbrüche etabliert wird. Die ersten Einstellungen etablieren als Master den Handlungsraum. Wie geschieht das? Es werden zwei voneinander separierte Bereiche entworfen: erstens der Bereich am Bus der Aussteigenden und zweitens der Bereich der wartenden Menge selbst. In der Skizze entspricht das den beiden Bereichen, die durch die horizontale Handlungsachse gebildet werden. In der Skizze sind sie durch zwei gestrichelte ovale Kreise markiert. Ein Blick auf die genannte Einstellung bringt etwas mehr Erhellung (Abb. 39). Der Standpunkt der Kamera in dieser zentral suturierenden Einstellung (Abb. 39) entspricht ungefähr der Stelle, an der sich wenig später die Bustür befinden wird, doch sie steht auch nah an der tanzenden Folkloregruppe, sodass sie in der Skizze eher noch derjenigen Stelle entspricht, an der sich vertikale und horizontale Handlungsachse kreuzen. In dieser Einstellung erfährt die Kartierung der Szenerie also einen zentralen Punkt, der in Blickhinsicht Richtung wartende Menge gerichtet ist. Die Zweiteilung des Sozialen zwischen home group und Emigrant gibt sich so durch die Raumteilung sowie die Richtung der Körper beider Parteien zur Kamera. Die Gerichtetheit der Körper fungiert als Medium der Trennung. Die Zuordnung der Richtungen der Körper im Verhältnis zum Raum konstituiert dieses Soziale zwischen ›wir‹ und ›ihr‹, home group und Emigrant. In Dönüş war es eine Szene der Umstellung, eine Anordnung als Kreis. Diese Anordnung produziert dieses Migrationssoziale zwischen wir und dem/der Anderen. In Almanya’da Bir Türk Kızı ist eine Distanz eingelassen zwischen dem Bus und der wartenden Menge. Diese freie Fläche vor dem Bus, die das Aussteigen der Touristen ermöglicht, arbeitet jener Zweiteilung zu und stellt zugleich den Operationsraum des Präsentationsmoments des Emigranten dar. Die Logik der Positionierung baut also noch eine Zweiteilung auf, die dann aufgelöst wird, als Murat Gertha vom Bus abholt. Waren zuvor noch reine statische Aufnahmen in der Szene enthalten, weichen sie zum ersten Mal einer Schulterkamera, die das gehen Murats durch die Menge begleitet. Der Raum wird so im Gehen und der Ort in seiner Räumlichkeit erschlossen, der Raum wird in seiner Fluidität164 durchgangen, in dem die vertikale Handlungsachse durch eine erstmalig seitlich zur Gesamtszenerie stehende Kamera, Murats Gang vom Bereich der wartenden Menge hin zur Buseingangstür als Wackelbewegungen vernehmbar machende, sich bewegende Handkamera begleitet. So gesehen absolvieren Murat in diesem Gang und die Handkamera einen Vorgang der Gesamtdurchschreitung durch die gesamte Szenerie. Das Auge wandert wie in der Migration mit dem wandernden Emigranten durch die Menge. Die Menge als Masse doppelt noch die Massenlogik der Zuschauer_innenschaft im Publikum des Kinosaals. War in Dönüş noch die Identifikation ein Einzelsehen, bietet Almanya’da Bir Türk Kızı eine Figuration an, in der sich die räumliche Situation des 164 Vgl. Epstein (2012).
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Kinofilmsehens in den Filmbildern als soziales Gefüge von Erwartung doppelt: wie im Kinosaal blickt die Menge auf den Bus und die Bustür, die wie die Leinwand der Raum oder die Fläche ist, auf der sich die zu sichtenden Ereignisse vollziehen. Bewegt man diese Überlegungen von der Blickkonfiguration im Film, die das Filmesehen im Kino als Gefüge doppelt, hin zu Überlegungen nach der Rolle des Blicks im Kino als ein kollektives Sehen, ergeben sich neue Fragen: Ist in Migration nicht immer auch diese Logik von Vielen und Einzelnen in die Blickfiguration eingeschrieben, die die Welt im Sinne einer »imaginären Topographie« als Bühne sieht? Ist der geringe Abstand des Busses zu der Menge, nicht die Bühne der Präsentation der Anwesenheit des Emigranten, der Raum, der dem Körper zugedacht ist und an dem sich die Handlungsachse entlangzieht? War diese Bühne bei Dönüş nicht ein Platz vor der Dorfmenge, deren großzügigen Raum Gülcan nutzte, um um ihren Mann umherzugehen? War es in den anderen Heimkehrszenen nicht der große Dorfvorplatz, auf den sich dann die Blicke richten konnten? Und waren es nicht die unzähligen Blicke der Kinder, die ungeduldig darauf warteten, dass der Emigrant aus dem Auto ausstieg, um seine Ankunft zu bezeugen, ihr beizuwohnen, ein Teil des Erfolgserlebnisses sein zu dürfen? Bleibt dieser Raum nicht schlichtweg angenommen und so unsichtbar wie die Grenzen, die die Migration als Grenzen überschreitendes Bewegungsregime zurücklässt? Sind das nicht die Momente, in denen sich die »Welt als Bild« reflektieren lässt, in der die Migration selbst immer nur als aus Aufsicht auf eine Kartierung betrachtete Wanderbewegung eines Subjekts dastehen kann? Die Skizze (Abb. 39) zeigt, dass die Bewegungen der Kamera (Zooms), die Zurichtungen der Körper, die Blickverhältnisse, das Überschreiten beziehungsweise der Umgang der Kamera und damit der erstellten Bilder mit den imaginären Grenzlinien des Raums (Handlungsachsen), die die Szenerie durchziehen, in ihrer Konfiguration die Situation der Migration doppeln. Nimmt man Migration in migrationsforscherischer Sicht als die Überschreitung imaginärer Grenzen an (Mecheril), so sind die Zooms und Schnitte selbst noch Migrationsbewegungen durch diese Grenzlinien hinweg. Zwischen den Sphären von Diesseits und Jenseits der Handlungsachsen lassen sich noch Grundlinien der Migration wiederfinden, die zwischen dem Hier der Heimat und dem Dort der Fremde die basale Struktur der Migration doppeln. Auf Mikro-Ebene gibt sich dann in dem Gefüge der Mise en Scène eine Reproduktion von Migrationsbewegungen in den Kamera- und damit auch Blickbewegungen selbst. Der Vorgang der zweidimensionalen Fixierung entsteht aus vielfältigen Umsetzungsvorgängen, die den Weg der Wahrnehmung und des Wissens durch die Filmbilder gegangen sind. Diese Transformationen von Raumverhältnissen stellt im Sinne eines Rückwegs aus der durch den Film suggerierten Raumstruktur ein Analysehilfsmittel dar, dem deswegen besonders viele Konstruktionsmomente eingeschrieben sind, die vielfältige Implikationen des skopischen Regimes übernimmt. Die Skizzierung einer Übersichtsansicht, die besonders auch in architekturpraktischen Überlegungen noch am ehesten die Operationalität in komplexen räumlichen Gefügen als Grundriss erlaubt, doppelt hier also noch die Bildumsetzungsvorgänge, die mit den Vorstellungsprozessen zur Migration einhergehen. Und doch bleibt die Grundkonstellation von der Etablierung von imaginären Grenzen durch die entstehbaren Raumgefüge, die in der Konstellation der Bewegungen der Kamera, den Bewegungen der Figuren und Objekten
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und ihren je spezifischen Blickkonstellationen auf die Reproduzierbarkeit der migrantischer Prozesse hinweisen. Diese wurden soeben in den Analysen nachzuvollziehen versucht. Ein methodisch-analytischer Weg, der von der filmischen Konstruktion der Raumzusammenhänge die Skizzierung zweidimensionaler aufsichtiger Ansichten ermöglicht, um darüber die grundrissmäßigen Raumverhältnisse zu erhellen, wurde in der Filmwissenschaft bislang noch nicht untersuchungstechnisch bemüht.165 Die bisherigen und nachfolgenden Überlegungen von der Aufspaltung in zwei Lager, zwischen Wartenden und Erwartenden, bleiben merkwürdig konstruiert. Sie operieren auf der Prämisse der Trennung von home group und Emigrant und lassen noch unberücksichtigt, inwieweit der Spalt zwischen zwei Einstellungen, noch all jenes Imaginäre einbrechen lässt, dass die suture destabilisiert. Tendenziell unsichtbar gemacht wird durch die Konstruiertheit der Überlegungen, die Relationalität in jener konkreten Szene in der Lokalisierung des Gefüges zwischen Kameraposition, Lage der Körper der Figuren und des architektonischen Raums. Dennoch wurden sie weiterverfolgt, um Einsichten der medialen Logik von Migration im Kontext von medialen Logiken des Films aufzeigen zu können.
8.3.6.
Plot von Almanya’da Bir Türk Kızı: Ein Frauen-Arabeskfilm
Nachdem Murat in seiner Heimat ankommt, verbringt er seine Zeit statt mit seiner Frau mit der deutschen Gertha, die er schon aus seinem Aufenthalt aus Deutschland kennt. Sie gehen in die Disko und betrinken sich jeden Abend, während Zeynep zu Hause die Hausarbeit erledigt. Zeynep ist traurig über das Desinteresse ihres Mannes an ihr und entsetzt über das offenkundige Geflirte zwischen ihm und Gertha. Als Murat eines Abends wieder mit Gertha betrunken zu Hause ankommt, bringt Zeynep ihren Mann in ihr Ehebett und Gertha in ihr Zimmer. Daraufhin haben Murat und Zeynep Sex, doch der Alkoholisierte, der kaum bei Sinnen ist, spricht im Anschluss daran geistesabwesend davon, wie sehr er Gertha liebe. Zeynep ist am Boden zerstört über den Betrug an ihr. Noch am nächsten Tag reisen Murat und Gertha wieder ab, denn Murat muss in Deutschland weiterarbeiten. Nach einer nüchternen Verabschiedung von Zeynep, fängt die Betrogene und wieder Zurückgelassene an, über ihre Situation nachzudenken und entschließt sich, ihrem Mann nach Deutschland zu folgen. In München angekommen begibt sich Zeynep zu ihrer Freundin Huriye, die ihr in der Situation beisteht. So kann Huriye ihrer Freundin einen Job bei BMW vermitteln. Wie der Zufall es will, wird Zeynep in der bayrischen Landeshauptstadt jedoch – Yeşilçam-typisch – zu einer erfolgreichen und ruhmhaften Sängerin, als ihre Freundin sie auf einer Feier zum Singen überredet. Die Menge ist so begeistert, dass sie dann vom gazino-Inhaber eine Anstellung als Starsängerin erhält. Mit diesem Erfolg und einem Wandel von der schlecht gekleideten Hausfrau zur modernen, europäischen Frau versammelt sie das Interesse 165 Ansätze finden sich in Rohmers Buch zu »Murnaus Faustfilm«, das sich dem Verhältnis von Film und Raum widmet und hier zur Erfassung des architektonischen Raums noch Blick- und Subjektpositionen im Filmbild ausblendet, Rohmer (1980). Siehe die Skizzen in Rohmers Arbeit auf den Seiten 48, 51, 52.
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ihres Ehemanns wieder auf sich. Sie reicht die Scheidung ein, behandelt ihn in ihrer Rolle als elegante und wohlhabende Sängerin nun von oben herab. Sie spielt sogar die Szene nach, in der Murat beim Sex davon ausging, dass sie Gertha sei, nämlich dadurch, dass sie sich angetrunken von Murat nach Hause fahren lässt und dann im Bett angekommen, den Namen ihres Verehrers Hans stammelt. Damit rächt sie sich an ihm für all die Schmähungen, die sie durch ihn und Gertha bei ihrem Besuch des heimatlichen Badeorts erleiden musste. In dieser Story versucht der Film seinen weiblichen Zuschauer_innen empowernde Phantasien anzubieten. Diese Phantasien zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die modernen und sexuell freizügig lebenden Frauen aus dem Ausland gegenüber den türkischen Hausfrauen als Gegenmodelle angelegt sind, wobei gerade die Hausfrauen in der Lage sind, zwischen den Lebensweisen von modern und traditionell hin- und herzuwechseln und so besonders auch klassistische Identitätsmigrationen (▶ Kap. 9.3) vorzulegen. Der in diesen Filmen enthaltene Empowermentversuch für seine weiblichen Zuschauer_innen domestiziert Emanzipationsversuche allerdings durch die Repräsentation der Rückbindung der Protagonistin in die Institution der Ehe. Das Leben als moderne Frau ist ein Leben des Als-Ob, das in der scheinbaren Konstellation der ehelichen Aussetzung dann wieder in die heterosexuelle, eheliche Ordnung eingebunden werden muss. Während die Aussetzung ehelicher Treuepflichten auf Seiten der Frau indiskutabel wäre, bietet der Film mit seinem fiktionalen Gefüge, entsprechend der Dynamik der Potenzphantasien männlicher Gewalt- und Rachefilme, dadurch Potenzphantasien für die weiblichen Zuschauer_innen an. Mit der Gesangskarriere und dem Yeşilçam-klassischen Identitätswandel zeigt sich so als Grundtenor jedweder Yeşilçam-Modalität, in der der sozioökonomische Aufstieg als traumhafter, idealer Aufstieg und die damit verbundene soziale Anerkennung, das phantasmatische zu einem Popstar geronnene, materialisierte »Ideal-Ich/Ichideal«-Bild stellt: Die Gestaltung des Selbstbildes nimmt jene Form des Ideal-Ichs ein, das das Ich-Ideal als solches an das Subjekt heranträgt, damit es Teil der symbolischen Ordnung werden kann. Dass die Rolle, die die Protagonistin angenommen hat, in ihrer Als-Ob-Modalität noch bis in letzte Sekunden aufrechterhalten werden muss, macht sich in dem Ende des Films deutlich. Während Zeynep ihren Mann schmäht und ihren inzwischen zur Welt gebrachten gemeinsamen Sohn auch als Sängerin alleine großzieht, entschließt sie sich, dem Heiratsantrag ihres deutschen Verehrers und Arbeitgebers Hans nachzugeben. Und so führt das Ende der Geschichte die Handlung wieder in der Türkei zurück. Hans lässt sich vor der Hochzeit mit Zeynep beschneiden und konvertiert zum Islam. Damit zeigt er genau jene Identitätsflexibilität auf, die noch fast jede ausländische Figur in den Migrationsfilmen als kaum dem Eigenen Anhängliche repräsentiert (▶ Kap. 9.3.2). Doch schon vor dem türkischen Standesbeamten lässt Zeynep Hans für ihren früheren Ehemann bei der Trauung stehen und läuft ihm mit Sohn in die Arme. Der von Lebensfreude, sommerlicher Badeort-Atmosphäre, gesättigten Farben getragene Film realisiert ein Happy End, in dem Hans in seine deutsche Heimat ob der unnötigen Beschneidung und einer geplatzten Ehe fröhlich und ihnen zuwinkend zurückreist. Das Schlussbild zeigt eine Normale des als Naivling dargestellten Deutschen, auf der er in
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einem Segelboot Richtung Deutschland setzt. Den Menschen im türkischen Dorf und dem wiedervereinten Pärchen zuwinkend vollzieht er so seine Abreise (Abb. 41).166
Abbildung 41 – Standbild aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974)
Die weibliche Arabesksängerin verkörpert als solche Frau, die sich wieder zurück in die Arme ihres untreuen Ehemanns begibt, einen Frauentypus, dem jenseits der ehelichen Gefilde keine Lebensoption zugedacht sein kann – so wie die türkisch-anatolische Frau, die dem Ehrenkodex folgen muss, selbst in ihrer Scheidung noch ihre Ehre durch die Reserviertheit ihrer Sexualität erst durch erneute Heirat wieder ausleben kann.167 Mit der eigenständigen Migration begibt sich die Frau in einen prekären Raum, der durch die Angst der Männer nach ihrer sexuellen Freizügigkeit besetzt ist und auch hier im Film die Angst des Ehemanns besonders schürt. Welche Erfahrung hält die so erzählte Geschichte für ihren Zuschauer_innen bereit? Man stelle sich das so vor: Frauen treffen im Kinosaal oder dem Open Air Kino zusammen, um gemeinsam jener Rachestory von Zeynep, verkörpert durch die Arabesksängerin Neşe Karaböcek, beizuwohnen. Wie sehr identifizieren sie sich doch mit der unterschätzten Ehefrau, die von einem abgereisten Ehemann zugunsten einer anderen Frau, zumal westlichen, ausländischen, blonden und modernen Frau, geschmäht wird? Das Ausland kann im Falle der eigenen Lebensumstände der Zuschauer_innen ja die Stadt sein, in die ihr Ehemann auch aus Arbeitsgründen ausgereist sein könnte. Die eher durch Gesangsqualitäten als durch normativ-ästhetische Schönheitskriterien auffallende Sängerin bildet für die Frauen Identifikationsfigur auch durch ihr ›durchschnittliches‹ Äußeres. Die gesellschaftlich hinnehmbare, chauvinistische Verhaltensweise vom betrügenden Ehemann wird mit der Anlage einer potenten und modernen Frau als Gegenbild in einen erzählerischen Zusammenhang gestellt, in dem sein Verhalten zugunsten des Fortbestands der Ehe so domestiziert wird, dass es ihn danach 166 Die Endszene reproduziert den Rassismus, einen Schwarzen als Bediensteten anzulegen, der das Boot steuert. 167 Einen parallelen Film zu Almanya’da Bir Türk Kızı stellt Orhan Elmas’ Film Almanyalı Yarim dar; mit Filiz Akın und Kadir İnanır in den Hauptrollen (Kapitel 9.3.1).
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in die Arme seiner Frau treibt. Inwieweit Migration und Identitätsmigration miteinander verschränkt sind, wird noch deutlicher werden, wenn es um die Frage filmischideologischer Programmatiken geht (▶ Kap. 9).
8.4. 8.4.1.
Blicksequenz II (Fortsetzung): Dönüş (1972) – Schirme Das auseinanderklaffende Sehen zwischen Gülcan und Zuschauer_innen
Die andersgemachte Figur des ›Deutschländers‹ zeigt sich auch in Almanya’da Bir Türk Kızı anhand verschiedener Marker an seinem Körper an. Doch Dönüş etablierte die einzelnen Elemente fokussiert durch jenes Blickprozedere der Figur Gülcans, das darin bestand, durch ihre Finger zu blicken und die einzelnen Elemente zu fixieren. Beide Szenen zeigen krisenhafte Ereignisse, in denen die Figuren der home group zwischen den Erkenntnismodalitäten von Glauben und Wissen sich zu einem sicheren Erkennen des Emigranten zu bewegen versuchen. Beide wissensprekären Sichtereignisse (inwieweit können die Figuren ›ihren Augen trauen‹), sind dabei spektakularisiert, insofern sich das Spektakel durch eine vertechnisierte Zurichtung der Blicke ergibt. In Dönüş bestand sie in der Funktionalisierung der Blicke zur Identifikation der andersmachenden Marker am Körper des Emigranten, in Almanya’da Bir Türk Kızı war es das vierfache, Taumeleffekte produzierende Zoomen als Sichtungsakte der Erwartenden in der Ankunft des Emigranten. Eine besondere Ambivalenz des Sehens zeigt sich an einer Szene zu Dönüş, an der sich so demonstrieren lässt, inwieweit die Differenzierungen jener auch filmmedialen Blickvorgänge in Gefüge aus Wissen, Sichtbarmachung und Subjektivität in der Migration reichen. Wie in den Kapiteln zu den nationalen Filmprogrammatiken noch genauer herauszustellen sein wird (▶ Kap. 9), setzen filmische Blickpolitiken auf ein Sehen, das durch die suture auf die Aussetzung der Bewusstwerdung der Medialität des Gezeigten aus ist: The classic cinematic organization depends upon the subject’s willingness to become absent to itself by permitting a fictional character to »stand in« for it, or by allowing a particular point of view to define what it sees. The operation of suture is successful at the moment that the viewing subject says, »Yes, that’s me,« or »That’s what I see.«168 Dass das sichtende Subjekt, das in die suture eingebunden ist, tatsächlich eine an sich selbst gerichtete Ansprache vollzieht, wie Silverman hier artikuliert, müsste metaphorisch gemeint sein, denn es ist ja gerade der Selbstverlust, der die erfolgreiche suture auszeichnet, das heißt, gerade die Unsichtbarmachung des Vorgangs einer Differenz des Sehens von Kamera, Figur und Zuschauer_innen. Und auch die in dem Satz vorausgehende Bereitschaft die Stellvertretung für das sichtende Subjekt selbst zu überlassen ist als stillschweigende Übereinkunft zu verstehen. Es wäre verwunderlich, mit dem sprachlich verfassten, sich daran permanent erinnernden Bewusst-sein ins Kino zu treten oder sich mit einem solchen auf einen Film einzulassen, dass es ein solches 168 Silverman (1994, S. 205). Siehe dazu auch Chow (2011, S. 24).
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Bündnis überhaupt gäbe. Noch ideologisch versierte Zuschauer_innen können sich im Prozess der Filmsichtung in der suture ›verlieren‹ oder ereignet sich die Hervorbringung ihrer Subjektivität (Subjektivation durch Interpellation) im apparativen Gefüge (Dispositiv) zwanghaft als solches. Interessanter als die in der Suture-Theorie angelegte Subjektivations- und Ideologiekritik (▶ Kap. 9.3) ist eine durch die Perspektive der Visuellen Kultur mögliche Reflexion der Sichtungsverfahren in der entsprechenden Szene aus Dönüş selbst. Ausgehend aus einer Perspektive, die sich für visuelle Kultur als Kultur des Sehens interessiert, wäre das, was man als Gleichschaltung von Sichtbarkeit, Blick und Wissen/Informierung nennen könnte, problematisch. Unterschiedliche Faktoren, die Sehapparate, der historische Kontext und die emergierende Subjektivität der Zuschauer_innen, die als Effekt der dispositiven Situation erst entstehen, bringen das, was als Blickpolitik durch den Film angeboten wird, überhaupt erst hervor. Der Glaube an die Herstellung von der Übereinstimmung zwischen Kamera- und Zuschauer_innenblick in Dönüş wird fragwürdig, wenn man den Blick von Gülcan nicht als einen Modus des einen, bei Menschen gleichsam funktionierenden Sehens betrachtet: Zuschauer_innen und Gülcan sehen nicht gleich (sofern die Figur tatsächlich sehen kann). Die Durchsetztheit ihres Sehens mit der Angst vor Verkennung ihres Ehemanns ruft die phantasmagorische Dimension dieses Sehens bereits auf. Die Brüchigkeit dieses Glaubensverhältnisses gibt sich dann noch, wenn man ihr inszeniertes Sehen nicht als Evidenzblicken betrachtet. Ein solches Sehen der Protagonistin als visuelle Absicherung über das Dasein des Ehemannes anzunehmen wäre eine Vereinfachung. Man kann Gülcans Sehen nämlich auch in Wissenshinsicht als ein negatives Blicken verstehen, das die Accessoires des Ehemannes negiert. Erst als sie die Accessoires als Fremdes identifiziert hat, erkennt sie ihren Mann wieder. Ihr Blicke sind dann ein Absonderungsvorgang, eine Extraktion, die die Accessoires des Mannes im Sehen dieser Dinge an ihm ›auslöscht‹. Es wäre sinnvoll anzunehmen, dass sie versucht, ihren Ehemann in dem Sichtungsvorgang mit dem verkleideten Menschen vor ihr in Einklang zu bringen. Das anzunehmen legitimiert sich schon im Nachgang an die V/Erkennungsszene, denn da zeigt sie kaum Interesse an den Objekten an seinem Körper, sondern wirft sich in seine Arme, ihn nicht weiter anstarrend. Was dann in der Sichtungsszene nicht zu sehen ist und was die Kamera nicht zeigen kann, ist die Nicht-Entzifferbarkeit der Accessoires. Gülcan hat vermutlich noch nie einen Kamerahalfter gesehen, vermutlich kaum Hüte mit Federn oder eine Uhr, die am Armgelenk getragen wird. Gülcan kann zwar die Fremdkörper an İbrahim identifizieren. Ihr Modus des Sehens müsste allerdings durch ihren kulturellen und sozialen Kontext bedingt sein, also geprägt durch das, was Ludwik Fleck mit dem Begriff »Denkstil« bezeichnet hat.169 Ihr Denkstil und ihr erkennendes Sehen entspricht damit nicht demjenigen solcher Zuschauer_innen, die diese Gegenstände kennen. Die Gegenstände an İbrahim sind kein Teil von Gülcans Bild- oder Gegenstandswissens. In ihrem Sehen dient die Identifikation der Objekte dem Versuch einer Negation an İbrahims Körper. Sie muss die Fremdobjekte identifizieren, um die Objekte an ihm von dem möglich werdenden Vorstellungsbild abzusondern, und ihn dann zu er-kennen; dafür muss sie die Gegenstände erst einmal sehen und als unbekannte Dinge identifizieren. Die Parallelisierung der Blicke von Zuschauer, Filmfigur, 169 Fleck (2014).
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Kamera führt nicht zur Parallelisierung der Modi des Sehens zwischen Figur und Zuschauer_in, auch wenn das Anschneiden des Fingers der Protagonistin im Filmbild das aufzuheben, genauer: den enunziativen Akt des PoVs zu vereindeutigen versucht. Obwohl also Figur und Zuschauer_innen beides ›sehen”’170 , gehören ihre Sichtoperationen unterschiedlichen Zwecken und Ordnungen an, sind es unterschiedliche Sichtoperationen und Ereignisse. Im Sehen der Zuschauer_innen werden die Gegenstände als Markierung verstanden werden, an denen der Emigrant als Type differenzierbar wird. Für eine sehende Kultur kann die visuelle Konstruktion des andersgemachten Emigranten bedeuten, ihn von da an als stereotypisiertes Template anzunehmen, das die »visuelle Konstruktion des Sozialen«171 verbürgt. Dieselbe visuelle Konstruktion ist aus der Welt der Figur heraus gedacht eine andere funktionale Bestimmung, nämlich die der Negierung des Fremden am beobachteten Subjekt. Es differieren daher die Sehmodi. Im Zwischenraum der Kontingenz dieser Sehweisen bildet sich das heraus, was Migration am Menschen sein kann. Was ist diese Migration am Menschen in visueller Hinsicht? (▶ Kap. 8.2.3). In der Rede vom Sehen und vom Blick ist dem Körper in den Ausführungen zuvor relativ wenig Beachtung gewidmet worden. Dabei ist es der Körper des ›Deutschländers‹, der als Medium der sichtbaren Andersgewordenheit fungiert. Darin sind es die Kleidung sowie tragbare Geräte die ihn anders aussehen lassen. Zugleich geht mit der Verkleidung des Emigranten auch ein von ihm induzierter Wunsch der Sichtbarmachung seiner eigenen Andersgewordenheit einher. Er ist nicht nur ein anders gemachtes Opfer eines ihn stereotypisierenden Blicks oder einer Zuschreibung. Er ist auch jemand, dem die Anderswerdung Wunsch ist: im Sinne der Produktion einer Sichtbarkeit seines sozioökonomischen und soziokulturellen Aufstiegs. Seine Verkleidung lässt sich durch die Anbringung von modernen, technischen Objekten als Akt der Selbstfetischisierung werten. Für Gülcan ist dieses high othering aber zugleich auch eine Fremdwerdung, die sich nachträglich als Anderswerdung sichtbar machen wird: in İbrahims Entscheidung, ihren gemeinsamen Traum von einem landwirtschaftlichen Leben in der türkischen Heimat gegen ein Leben im ›fortgeschrittenen‹ Deutschland einzutauschen. Weil Remigration Normalisierung bedeuten kann (zum Beispiel Reintegration in die Heimräume), weil Migration also gerade nicht zwangsweise Andersgemachtheit und Fremdwerdung involviert, kann die Andersmachung auch auf Seiten der Migrierenden als Distinktionsgeste gewollt sein, so wie hier im high othering der ›Deutschländer‹. Auf Seiten der Zuschauer_innen generiert sich an den visuellen Konstruktionen des ›Deutschländers‹ zugleich die Möglichkeit einer essentialisierenden Zuschreibung. Das Wissen um die Anderswerdung von Migrant_innen koppelt sich dann mit den Weisen der Sichtbarmachung der Anderswerdung. Eine stereotypiehistorisierende Erarbeitung jener Figur des ›Deutschländers‹ kann hier allerdings – auch aufgrund der an anderer Stelle genannten visualitätshistorischen Defizite – nicht zu leisten sein. Allenfalls die Beständigkeit vom Stereotyp des ›Deutschländers‹ in den filmischen Konstruktionen 170 Wir können nicht wissen, wie und ob Figuren sehen, da sie als von der Existenzweise ›Fiktionalität‹ geprägte Entitäten sich einem Zugriff der Gleichsamkeit entziehen. Vgl. Latour (2014, S. 335-363, hier 340). 171 Mitchell in Dikovitskaya (2005, S. 245).
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aus türkischen Produktionszusammenhängen und darüber hinaus kann hier festgestellt werden: auch in der deutsch-türkischen Produktion Vatanyolu trägt der Emigrantenvater den Hut mit Krempe.
8.4.2.
Blickregime I: Das Bild vom ›Deutschländer‹ zwischen Idealbildern
Zentrale Arbeiten zur Visuellen Kultur haben stets darauf hingewiesen, dass neben dem singulären Blick noch genau jene Felder in ihrer Bedeutsamkeit hervorzuheben sind, die man als »kulturelle Bilderrepertoires«172 verstehen könnte. Einige Begriffsangebote mit grundsätzlichem Bezug auf Lacans bekannten Text zum »Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«173 und dessen Fortführungen in psychoanalytisch-medientheoretischen Zusammenhängen sollen hier nun aufgenommen und zur Erläuterung der filmischen Konstruktion des ›Deutschländers‹ herangezogen werden. Nehmen wir zunächst einmal an: Filme sind ein Spiegel, aber keiner, der die Wirklichkeit spiegelt, sondern einer, der den Zuschauer_innen die Möglichkeit genau zu jenen Identifikationsprozessen ermöglicht, anhand derer sie zu sich selbst und zu ihrer Welt zu kommen versuchen: wie wir mit Lacan annehmen können, in einem Modus permanenter Verkennung. Dann sind Filme zusammengenommen ein kultureller Spiegel oder »Schirm«, in denen die großen Phantasmen, Ängste, Narzissmen als Potentialität entlang visueller und anderer ästhetischer Konstituenten eingelassen sind. Einige feministische Auslegungen fassen Lacans Überlegungen zum medialen Verhältnis der Konstruktion des Subjekts über den Spiegel medienkulturtheoretisch weiter.174 Zahlreiche Praktiken der Emigrierten in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren lassen sich als solche Repräsentationspraktiken verstehen, durch die sie sich sowohl konstituiert als auch differenziert haben. Ihre Repräsentationspraktiken entsprechen/entsprachen dabei zum Beispiel der Selbstrepräsentation in ihren Photographien, die dann nach Hause in die Heimat kommuniziert wurden. Dabei fußten ihre Posen nicht nur auf imaginären Bildern, die sie von sich hatten. Diese Selbstinszenierungen entsprachen auch den Mustern der internalisierten Bilder, von denen sie dachten, dass die anderen sie von ihnen hätten. Sie machten sich zu Bildern, die im Spannungsfeld von Ich-Ideal und Ideal-Ich angesiedelt waren: oder, wie sogleich zu zeigen sein wird, sie wurden »photo-graphiert«175 . Wir werden sehen: Sie machten sich zu Schirmen, die ihre Andersheit die nächsten Jahrzehnte noch verbürgen sollten. Es ist in diesem Sinne, dass Migration und damit die Produktion von Anwesenheit und Abwesenheit all jene Filter evoziert, die die An- und Abwesenden zu Anderen machen. Inwieweit diese konkreten Praktiken zur Selbstdarstellung, die sich in den Photographien materialisierten aber noch den gesamten Habitus in der Rückkehr prägten, noch den bildlichen Konstituierungsweisen des Subjekts entsprechen, die Lacan als Spiegelstadium untersucht hatte, lässt sich besonders mit Georg Christoph Tholens Beschreibung jener Theorie herauslesen: 172 173 174 175
Silverman (1997). Lacan (1973, S. 61-70). Schaffer (2008, S. 112f.). Lacan und Miller (1996, S. 113).
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Doch da die imaginäre Funktion des Ideal-Ichs, sich seiner Realität als Bild zu vergewissern, sich nicht selbst genügt, sondern nur über das von ihm unterschiedene virtuelle Ich-Ideal im Spiegel auf sich zurückkommt, d.h. sich mit den in ihrer kulturellen Fragilität unausgeglichenen Vor-Bildern konfrontiert sieht, zeigt uns erst die zweite Abbildung [gemeint ist das bekannte Bild Lacans vom Blumenstrauß und der Vase in seiner »Topik des Imaginären«176 ] genauer, was unter der virtuellen, verschiebbaren Struktur des imaginären Bildes und seiner Einbettung in die symbolische Ordnung zu verstehen ist.177 Das heißt, dass die Migrationssituation eine besondere Topographie in den Selbstkonstituierungsweisen aufruft, die in ihrer Grundstruktur schon den topologischen Verhältnissen der Ich-Bildung im Lacan’schen Sinne entspricht. Die Ideal-Ichs der Emigrant_innen, die die imaginären Bilder entwerfen, genügen sich nicht ihrer Selbst, um sich ihrer »Realität« zu versichern, sondern brauchen geradezu das virtuelle Ich-Ideal im Spiegel zur Integration in die symbolische Ordnung. Doch weil das virtuelle Ich-Ideal sich in der deutsch-türkischen Arbeitsmigration in Form der home group vom Virtuellen zum Aktuellen als Träger symbolischer Ordnung materialisiert hat, findet sich in der Migrationssituation eine Verschiebung von virtuellen und aktuellen Bildinstanzen und -vorgängen wieder, in die sich die »Topik des Imaginären«178 noch konkreter einschreibt. In Tholens weiteren Ausführungen zur Konstitution des Subjekts im Spiegelverhältnis zeigt sich noch das unentwegte Verhältnis zwischen den Spiegelungsmedien, der Verortung der Bilder darin, also ihre Bewegungen im Feld der Sichtbarkeit (die dem topologischen Verhältnis der Migration aufs Engste gleicht) und die daraus resultierenden Kommunikations- und so auch Konstitutionsprozeduren: Da der Spiegel im zweiten Schema instabil, beweglich und verschiebbar ist, mithin die Bilder sich vom Rand her anamorphotisch verzerren lassen bzw. ganz verschwinden können, andere wiederum, je nach Winkeleinstellung, gar nicht erst auftauchen, zeigt uns diese Verschiebbarkeit als solche die Intervention des sprechenden Anderen, das Fort-Da-Spiel der Artikulation des Symbolischen, d.h. das Subjekt in seiner Konstitution als Dialektik wechselseitiger Anerkennung von in sich selbst endlos widersprüchlichen bzw. nomadisch ertastenden Ansprüchen und Vorlieben, die, da alle unsere Vorlieben eine virtuelle, d.h. eine (sich) versprechende Dimension haben, ungewiss und prekär bleiben.179 An Davaro wurde ein spezifisches Ineinandergreifen von Bildregimen schon herausgestellt. Als die Frauen die Photographie von Memo betrachteten folgte ihr Sehen einem erkennenden Sehen, das sich den »dominanten Fiktionen«180 nach der Deutschländer-Werdung samt Statusaufstieg schon hingab. Die Kategorie des Vorgesehenen (der Begriff given-to-be-seen ist Silvermans Übersetzung für Jacques Lacans donné-a-voir) beinhaltet einen Teilbereich des Feldes der Sichtbarkeit, nämlich jene Parameter der Sinnherstellung und jene Bilder, die sich nachdrück176 177 178 179 180
Lacan (2012, S. 215). Tholen (2011, S. 24). Lacan (2012, S. 215). Tholen (2011, S. 25). Schaffer (2008, S. 114).
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lich und unvermeidlich aufdrängen, weil sie durch häufige und emphatische Wiederholung enorm präsent sind. Das Konzept des Vorgesehenen kann gleichgesetzt werden mit einem hegemonietheoretischen Konzept, das Silverman in einer früheren Arbeit entwickelt: dem der dominanten Fiktion.181 Davaro zeigt, wie in diese performativen Bildspiele zur visuellen Herstellung des ›Deutschländers‹ eine Irritation eingebracht werden kann. Die Figur des ›Deutschländers‹ Memo reißt einen Riss in den Schein der Welt des ›Deutschländertums‹. Die Photographien der Deutschländer, ihre Bilder von sich selbst für die anderen, die home group, sind aufgesetzt. Sie entsprechen zumeist nicht den Lebensbedingungen vor Ort, die die Photos repräsentieren. Sie suggerieren und vermitteln Bilder, die ein Leben in Deutschland als wohlständiges in-szenieren. Dieser Schein ist für die home group aber als solcher nicht wahrnehmbar beziehungsweise darf nicht wahrnehmbar bleiben. Daran hängt der Selbstwert des Emigranten. Das Wort ›Gesichtsverlust‹ beschreibt die identitätskonstitutive Dimension dieses Selbstwerts und es ist bezeichnend, dass das Gesicht verloren geht: jenes Medium, das so komplex in die »visuelle Konstitution des Sozialen«182 verwoben ist. Dabei ist es unerheblich, ob das entworfene Selbst-Bild den tatsächlichen Bedingungen entspricht. Das Bild existiert um der Wahrung der Bildwelt willen, die im Band der symbolischen Welt zwischen ›Deutschländer‹ und home group die tatsächliche, also auch geteilte Welt markiert. Ein soziales Scheitern, die Möglichkeit der Verweigerung einer Anerkennung durch die home group, gilt dann als angenommen, wenn trotz der finanziellen und anderweitigen Möglichkeiten in Deutschland der Emigrant sich keinen Wohlstand hat erarbeiten können – dafür reicht es schon, den Schein davon nicht wahren zu können. Als Indizes fungieren für diese Bilder nun mal ›Auto‹ und ›äußere‹ Anderswerdung. Gerade weil das Selbstbild der Figur des ›Deutschländers‹ Memo nicht von einem internalisierten oder auf sich selbst projizierten Ich-Ideal (als Bild, das die anderen von ihm als wohlhabenden, messianischen, potenten Deutschländer entworfen haben) und damit auch der Angst des Statusverlusts in der ›Heimat‹ geprägt ist, klaffen die Bilder des Emigranten von sich selbst und die Bilder, die die home group von ihm hat, auseinander. Dieses Spiel der identitären Bilder der V/Erkennung lassen sich in ihrer Dimension davon, dass die Bilder eben nicht solche sind, über die das Subjekt wie ein Stück Eigentum verfügt, noch genauer fassen: durch eine Erweiterung der Reflexionsdimension im Hinblick auf das Konzept des Schirms. Dafür wird der Fokus von Davaro wieder auf Dönüş und damit von der übergeordneten gesellschaftlichen Dimension auf die intersubjektive Sphäre zwischen Heimkehrer und die Personen des Nahfelds gerichtet werden.
8.4.3.
Blickregime II: Die Spaltung von Auge und Blick – und der Schirm
Während Silvermans Schirm-Konzeption als »kulturelles Bilderrepertoire«, also in einer Weise besonders kollektiver Wirkmächtigkeit zu verstehen ist, hat Lacans ursächliches Modell einige vertrackte und auch für die intersubjektive Begegnung bedeutsame 181 Schaffer (2008, S. 114). 182 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325).
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Wendungen, die es lohnt für einen blicktheoretisch gesättigten Ansatz auf die Begegnungsszene in Dönüş und damit auch für die Remigration aufzurufen. Hierfür ist das erweiterte Modell von Lacans Ansatz der Spaltung von Auge und Blick heranzuziehen, das aus zwei verschränkten Dreiecken besteht, die zur Erläuterung zuerst noch zu trennen sind.
Abbildung 42.1-2 – Lacans Schemata von Auge und Blick
Quelle: https://lacan-entziffern.de/trieb/obertitel-lacans-schemata/
Auch wenn es nicht so aussieht, wurde das untere Dreieck schon an einigen Stellen der Arbeit erörtert. Daher also zuerst zum oberen Dreieck: Es entspricht dem Feld eines ›geometralen‹ Sehens. Auf der rechten Seite ist der ›Geometralpunkt‹ eingesetzt, der »dem Auge des betrachtenden Subjekts (dem Augpunkt, Lacan spricht von ›Geometralpunkt‹)«183 entspricht. Es richtet sich gegen das Objekt. Das Verhältnis beider zueinander ergibt sich daraus, dass im Sehen vom Geometralpunkt aus jedem Punkt des Objekts ein anderer entspricht, »die Punkt-für-Punkt-Entsprechung«184 : Was sich auf dem Feld des Sehens nach diesem Bild-Modus richtet, läßt sich auf dieses einfache Schema reduzieren, aufgrund dessen auch die Anamorphose herzustellen ist, das heißt, es läßt sich reduzieren auf das Verhältnis eines an eine Fläche gebundenen Bilds zu einem bestimmten Punkt, den wir »Geometralpunkt« heißen wollen. Was immer sich nach dieser Methode – bei der die Gerade die Aufgabe hat, Bahn des Lichts zu sein – bestimmt, mag sich Bild ∫ image nennen.185 Seine ideale Entsprechung findet das Modell in der Zentralperspektive, das »nicht unbedingt auf das Licht angewiesen ist«186 , sondern sich aus Darstellungsverhältnissen beziehungsweise auch Konstruktionsvermögen für das Auge ergibt. Das Subjekt sieht ein Objekt vermittels einer Dargestelltheit als Bild (image). Illustriert wird dieser Zusammenhang von Lacan mit Rekurs auf Dürers Metabild »Vermessung der Laute«, die aufzeigt, dass auch blinde Menschen sehen können: Es scheint uns also das Licht den Faden zu geben. Bedenken Sie aber trotzdem, daß dieser Faden nicht unbedingt auf das Licht angewiesen ist – es genügt, daß er gespannt ist. Deshalb ist ein Blinder in der Lage, allen unsern Demonstrationen zu folgen, wir müssen uns nur etwas Mühe geben. Wir geben ihm zum Beispiel einen Ge183 184 185 186
Blümle und Heiden (2005b, S. 27). Lacan und Miller (1996, S. 92). Lacan und Miller (1996, S. 92). Lacan und Miller (1996, S. 99).
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genstand von bestimmter Höhe, den er betasten soll, dann soll er den gespannten Faden entlanggleiten, dann ihn, mit Hilfe des Tastsinns an den Fingerkuppen eine bestimmte Figuration auf einer Fläche zu unterscheiden, die das Merkmalhafte eines Bilds wiedergibt […].187 Die grundsätzliche Erkenntnis ist hier, dass eine solche Betrachtung auf das Sehen, wie es das obere Dreieck vermittelt, eben nur einen sehr beschränkten Teil des Sehens umfasst: Bei der geometralen Perspektive geht es ausschließlich um die Auszeichnung eines Raums und nicht um das Schauen. […] das heißt von einem Sehen, das sich in einem Raum ansiedelt, der wesentlich nicht der visuelle Raum ist. […] Eine solche Konstruktion gibt uns also noch nicht die Möglichkeit, zu sagen, was das Licht hier eigentlich beiträgt.188
Abbildung 43 – Albrecht Dürer, »Der Zeichner der Laute« (1525)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:358durer.jpg
Dem steht das andere Dreieck gegenüber, das schon im vorangegangen Kapitel erörtert wurde. Gerade weil sich das Subjekt von einem ortlosen Blick aus, durch einen im Sehfeld irritierenden »Lichtpunkt« angeblickt fühlen kann, entsteht es selbst als Bild dieses Blicks im Außen, was Lacan im Schema als »tableau« bezeichnet.189 Das Subjekt entsteht also als von allen Orten anblickbares und angeblicktes Bild/tableau. Der Blick ist keiner, dem ein sehendes Subjekt zugeordnet werden könnte. Vielmehr aktualisiert 187 Lacan und Miller (1996, S. 99). 188 Lacan und Miller (1996, S. 93, 99). 189 Ausführlich dazu: Nemitz (2014).
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sich der Blick als potentiell von überall her operierender Blick. Er ist ins Außen eingeschrieben. Es ist diese Dimension, über die zuerst eine umfassende Bestimmung des Sehens überhaupt möglich wird: […] – auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild ∫tableau. Dies die Funktion, mit der sich die Institution des Subjekts im Sichtbaren zuinnerst erfassen lässt. Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig.190 Nun ist in beiden Dreieckschemata eine mittlere Instanz enthalten. Im oberen Dreieck ist es das Bild, das aus dem Verhältnis zwischen Geometralpunkt und dem Objekt resultiert. Im unteren Dreieck steht der Schirm zwischen tableau und Lichtpunkt (Blick). Das, was der Schirm ist, lässt sich verstehen als eine Form, den im Außen gelagerten Blick, der das Subjekt heimsucht, zu bändigen. Dies kann verschiedene Formen annehmen: Das, was das Subjekt zu sehen gibt, ist eine Täuschung, ein Trugbild. Das Subjekt stellt sich als etwas anderes dar als das, was es ist. Die Beziehung zwischen dem Schirm und dem Tableau ist eine Beziehung von Schein und Sein, wobei das Sein im Seinsmangel besteht, im Begehren.191 In der Verschränkung der Dreiecke gibt sich nun eine doppelte Funktion des Schirms, der in beide Richtungen gerichtet ist. Der Schirm ist hier eine Existenzweise, die darin besteht, sich dem Blick (Blickregime) gegenüber so zu realisieren, dass dieser potentiell von überall her scheinende Blick gebändigt werden kann, also nicht permanent als solcher empfunden wird. Paranoia wäre demnach die Folge der Unfähigkeit, den permanent vollziehbaren Blick so zu domestizieren, dass sich das Gefühl des Beblicktwerdens aussetzt. Der Paranoide hat keine Schirme mehr, also kann er sich in der symbolischen Ordnung, in die er bereits eingegangen ist, nicht mehr so umsetzen, dass er in seinem Sehen der verwalteten Sichtbarkeit in der Ordnung der Dinge als Beschirmter existierte. Weil der Schirm genau an der Stelle angesiedelt ist, an der sich auch die Objekte zu Bildern transformieren, bedeutet das für den Schirm, dass er maßgeblich von der Domäne des Bildes konstituiert ist. Weil das Subjekt so geometral sieht, wie es sieht, besteht die Weise der Blickbändigung nicht nur in einer solchen Form, dass der Blick gebändigt wird, damit das Subjekt vor dem Blick nicht erstarrt, sondern auch in einer Weise der Bildwerdung (Schein, Täuschung). Die Bildwerdung bedeutet nun genau solche Weisen des Täuschens und des Scheins anzunehmen, dass sich eine Differenz zum Sein auftut. In der Tierwelt sieht Lacan das Modell des Schirms und sein Verhältnis zum Bild (image), das sowohl in Richtung des »Subjekts in der Vorstellung« als auch in die des Blicks strahlt, in der Mimikry und Mimese realisiert, wodurch Tiere die Blickregime spezifisch regulieren/umsetzen. Mimese (die zumeist optische Anverwandlung eines Tiers zu einem visuellen Verhältnis) bedeutet die Bändigung des Blicks und zwar auf 190 Lacan und Miller (1996, S. 113). 191 Nemitz (2014, S. 11).
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eine solche Weise, dass die optischen Bedingungen dieser Anverwandlung dem Bereich des Bildes aus der Umwelt zufallen. So kann der gefährdende Blick gebändigt werden und fällt nicht auf das Tier zurück. Für den Menschen hält Lacan fest: Nur das Subjekt – das menschliche Subjekt, das Subjekt des Begehrens, welches das Wesen des Menschen ausmacht – unterliegt, im Gegensatz zum Tiere, nicht ganz diesem imaginären Befangensein. Es zeichnet sich aus. Wie das? In dem Maße, wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt. Tatsächlich vermag der Mensch mit der Maske zu spielen, ist er doch etwas, über dem jenseits der Blick ist. Der Schirm ist hier Ort der Vermittlung.192 Als Gülcan İbrahim sieht, erkennt sie ihn nicht. Sie geht um ihn herum, wie ein Objekt, das man von neuem sieht und nicht erkennt. Sie kann das, was sich ihr zu sehen gibt (»le donner-à-voir«193 ), nicht in ihr Bildwissen integrieren. Wir schauen diesem Vorgang des Erkennen-Könnens zu, nämlich über den Schulterblick von İbrahim, in etwas Distanz von ihm (Abb. 34.11). Zuvor noch zeigte uns eine subjektive Kamera, die sich auf den Emigranten zubewegte, diesen mit offenen Armen vor uns stehen und auf uns zugehend (Abb. 34.9). Die Arme des strahlend glücklichen Mannes laden uns ein, vielleicht unseren Blick, der sich an ihm ergötzen soll. Doch wir können nicht, denn der Schnitt setzt schnell über zur gekrümmt um ihn herumgehenden Gülcan, die dort schon an ihm die Sachen sehend fixiert. Dann senken sich die Arme des Emigranten. Leichte Seufzer der Frau indizieren schon die unangenehme Seite der Begegnung der beiden. Die Kamera steht zu ihm in einem spitzen Winkel. So gesehen ist der Emigrant von allen drei Blickinstanzen eingerahmt: vom Blick der Kamera, Gülcans Blick und vom Blick der Zuschauer_innen. Er steht uns mit dem Rücken zugewandt, doch seine Arme bleiben geöffnet. Die Einladung besteht stets fort. Wir sind des Sehens verwehrt, so wie Gülcan ihn nicht erkennend sehen kann. Wir wissen, dass İbrahim sie erkennt, dass er einen Vorsprung und eine Gelassenheit hat. In Gülcans Blick zwischen ihren Fingern wird İbrahims Körper dann in die an ihm fremden Teile zerteilt und dann wieder zu einem Bild eingegliedert, integriert. Das Zerteilen ist jedoch flüssig, denn er besteht in Form eines ungeschnittenen Schwenks. Das ungelenke Schwenken und das Nicht-Blinzeln dieses Blicks lassen den Blick durch ihre Finger als mechanisches, künstliches Ersichten dastehen. Dadurch wirkt der abgefilmte Körper des Emigranten flächig: flächig wie ein Schirm, auf dem die Bildtiefe nur schlecht, eben als Bild projiziert ist – in Lacans doppeltem Dreiecksschema ist der Körper des Emigranten hier nun das Bild/image, ein flacher Schirm eines verwaltenden und verwalteten Sehens, das die »visuelle Konstruktion des Sozialen«194 verbürgt. Gerade W. J. T. Mitchell ist es, der für diese visuelle Konstitutiertheit des Sozialen noch die eingängigsten und eindringlichsten Worte findet und ihren Zusammenhang in eine sehende Gesellschaft stellt, die als visuelle Kultur untersuchbar wird: 192 Lacan und Miller (1996, S. 114). 193 Lacan und Miller (1996, S. 122). 194 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325).
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Stereotypen, Karikaturen, Klassifikationsfiguren, Suchbilder, Kartierungen des menschlichen Körpers und der sozialen Räume, in denen es195 [die Begegnung von Angesicht-zu-Angesicht] erscheint, würden die fundamentalen Entwicklungen der visuellen Kultur konstituieren, auf denen das Gebiet des Bildes – und des Anderen – konstruiert wird. Als vermittelnde oder ›subalterne‹ Entitäten sind diese Bilder die Filter, durch die wir andere Leute erkennen und natürlich auch verkennen. Sie sind die paradoxen Vermittlungen, die möglich machen, was wir die ›unvermittelten‹ oder ›face-to-face‹-Beziehungen nennen, die Raymond Williams als den Ursprung der Gesellschaft als solcher postuliert. Und das bedeutet, daß die ›soziale Konstruktion des visuellen Feldes‹ ständig neu inszeniert werden muß als die ›visuelle Konstruktion des sozialen Feldes‹, als unsichtbarer Schirm oder als ein Gitterwerk aus scheinbar unvermittelten Figuren, das die Effekte der vermittelten Bilder möglich macht.196 Ihre Hand, die sich das Gesicht verdeckt, schützt Gülcan vor dem Blick, nicht nur, weil sie ihr Gesicht verdeckt, sondern weil sie ihr offenes Sehfeld so beschränkt, dass İbrahims Blick als Anblick nicht mehr sichtbar und sie nicht mehr erfassend bleibt. War der Blick nicht unabhängig von Augen, eine schauende Potentialität in jeder visuellen Feldtiefe, die sich als Beblicktfühlen aktualisiert? Solange İbrahims Schirm nicht als solcher von Gülcan gesehen wird, ist er Blick, heimgesucht vom Begehren des Anderen. Daher muss sie seine Verkleidung auch sehen, die Blickhaftigkeit im unergründlichen Unbekannten, das er zuerst abgibt, in das Feld des Bildes (image) übersetzen. Wo sind wir als Zuschauer_innen hierin verortet: in all jenen komplexen Orten (Dispositiven), in dem wir als entkörperte und emergierende Subjekte durch die Lacan’sche Filmtheorie versetzt sind.197 Dieser Perspektive der Aussparung der Zuschauer_innen bei der Berücksichtigung der Blickprozesse der Szene soll hier noch ein wenig weiter gefolgt werden, um den Erläuterungen von Lacans Blicktheorie im Zusammenhang des Films einige konkrete Einsichten zur Seite zu stellen. Zurück also zur Szene: Auch bei İbrahim gibt es das Blickregime auf Gülcan, denn es geht nicht um seine Augen bei diesem Blick, sondern um dasjenige Blickfeld des Anderen, das gar aus der gesamten Fläche seines Seins auf sie hereinstrahlen und sie fixieren kann. Das fixierende Blickregime, das aus İbrahim herauszuscheinen droht und das Gülcan zum tableau werden lässt, muss durch ihr Sehen wieder so in eine Ordnung übersetzt werden, dass der Blick gezähmt und İbrahim als vom Sehen verwaltetes Objekt im Sinne einer Ordnung der Sichtbarkeit vor ihr stehen kann: İbrahim als Gülcan permanent fixierender Blick muss wieder zu einem kontrollierten Bild werden. Gülcan hat keinen Schirm, sie steht als sie selbst da. Der angekommene Fremde hat aber einen Schirm, einen so fremdartigen Schirm, mit dem der ihr Bekannte jedoch als verfremdeter und nun als Blickregime vor ihr stehender zu stehen scheint. Dieser Schirm ist das 195 Es müsste hier »sie« heißen. Das Pronomen im Original »it« ist hier nicht richtig übersetzt, da es um die Begegnung von Angesicht-zu-Angesicht und in der Folge um »die Disposition« geht, die im Vorsatz geäußert wird: »der Begegnung von Angesicht zu Angesicht, der eindeutigen und festen Disposition, die Augen eines anderen Organismus zu erkennen (was Lacan und Sartre den ›Blick‹ nennen)«, Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). 196 Mitchell, W. J. T. (2008a, S. 325). 197 Elsaesser und Hagener (2011, S. 103-135).
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Bild, das er abgibt – ein Bild, das sich durch die Kleidung an ihm und die Accessoires konstituiert: ein Bild, das im Schein den Blick besänftigt. İbrahim kommt als Anderer wieder, als Verfremdeter, als jemand, der nicht mehr derjenige ist, der er vorher war. Vielleicht kann Gülcan ihren Mann nicht nur aufgrund der Veränderung im Visuellen kaum mehr erkennen. Vielleicht ist es sein gesamtes Sein, das sich nach außen hin als Anderes gibt, aber gerade in der Verkleidung seine Schirmhaftigkeit und damit die Unzugänglichkeit zu dieser Andersheit als Sein verbürgt. Und nochmal: Nur das Subjekt – das menschliche Subjekt, das Subjekt des Begehrens, welches das Wesen des Menschen ausmacht – unterliegt, im Gegensatz zum Tiere, nicht ganz diesem imaginären Befangensein. Es zeichnet sich aus. Wie das? In dem Maße, wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt. Tatsächlich vermag der Mensch mit der Maske zu spielen, ist er doch etwas, über dem jenseits der Blick ist. Der Schirm ist hier Ort der Vermittlung.198 Für dieses Begehren des Anderen kennt die türkisch-muslimische Kultur, wie viele andere Kulturen das Konzept des ›bösen Blicks‹. Lacan findet es ebenfalls wieder: Es ist, betrachtet man die Universalität der Funktion des bösen Blicks, überraschend, daß es nirgends auch nur die Spur eines guten Blicks, eines Auges, das Segen bringt, gibt. […] Die ihm zugesprochenen Kräfte, daß es die Milch eines Tiers versiegen lassen kann, wenn auf dieses der böse Blick fällt […] daß es Krankheit mit sich bringt, Unglück, wo könnten wir uns diese Kraft besser verstollen als in der invidia? Invidia kommt von videre. Die beispielhafteste invidia, für uns Analytiker, ist die, […], die [sic!] des kleinen Kindes nämlich, das seinen an der Brust der Mutter hängenden Bruder anblickt, ihn anblickt amare conspectu, mit bitterbösem Blick, der ihn dekomponiert und auf es selbst wie Gift wirkt.199 In weiten Kreisen türkisch-muslimischer Kultur wird der böse Blick, der im Neid (bei Lacan »invidia«, im Türkischen nazar) gründet, mit dem nazar-Stein abgewendet. Dabei ist der Neid, der als böser Blick besteht, kein akuter Blick mit Augen, der sich in Form einer konkreten Person aktualisiert, sondern er wird imaginiert als ubiquitärer Blick des Neids, der sich in seiner Potentialität vollziehen und Unheil bringen kann. Er kann, wie hier im Beispiel Lacans, rückgeführt werden auf beneidende Menschen. Doch der ›böse Blick‹ realisiert sich nicht akut mit dem Blick in dem Moment, sondern kann sich in einer Zeit, nachdem der Blickende schon gegangen ist, umsetzen. Es ist eben das Blickregime, das im nazar gefürchtet wird, und das doch der beneidenden und neidvoll blickenden Personen ausgelöst wird: nun aber in der Entkoppelung ihres Blicks, der von da an Unheil anrichten kann. Lacans Modell des Begehrens konkretisiert die Funktionsweise des nazar, dessen Blickhaftes sich genau in der Realisierung eines »Bildes von der Befriedigung« gibt: So ist der wahre Neid beschaffen. Vor was läßt er das Subjekt erbleichen? Vor dem Bild einer in sich geschlossenen Erfüllung und davor, daß das kleine a, das abgetrennte a, 198 Lacan und Miller (1996, S. 114). 199 Lacan und Miller (1996, S. 122).
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Abbildung 44 – nazar boncuğu (nazar-Stein)
Quelle: https://www.needpix.com/photo/download/49211/nazar-amuletamulet-nazar-bad-look-blue-black-eye-eye-trailers-souvenir
an welches es sich hängt, für ein anderes einen Besitz darstellen kann, an dem dieses sich befriedigt, die Befriedigung* [der * ist eine Anmerkung der Übersetzer_innen und bedeutet, dass es im Original auf deutsch formuliert ist, Ö.A.].200 Und wie sieht der Talisman, dieser nazar-Stein aus? Warum kann er den Blick bändigen? Er hat die Form eines Auges, das selbst eine akute Form des ›bösen Blicks‹ annimmt (Abb. 59): Gegen den gierigen Blick des Angreifers kann man sich nur wehren, indem man sich abschirmt – abschirmt dadurch, indem man den Angreifer konfrontiert mit dem, was man aus der Anthropologie als den ›bösen Blick‹ kennt. […] Wenn die Schwärmermotte in Ruhe gelassen wird, verbirgt sie ihre inneren Flügel (Abb. 2). Nähert sich jedoch ein Angreifer, demaskiert sie sie plötzlich und es werden zwei große Augenflecken sichtbar (Abb. 3). Du dachtest, du könntest dich gütlich tun, an dem, was dir auf der Augenweide jenseits der Bildebene geboten wird, aber plötzlich verwandelt sich deine Speise in einen Angreifer – und du selbst bist die Speise. […] Die Wirkung der Ozellen [zum Beispiel eben die Augenflecken, Ö.A.] beruht jedoch nicht auf ihrer Ähnlichkeit mit Augen – das wäre eine antropomorphe Deutung –, sondern auf der Funktions des Blicks, die von der Funktion des Auges zu trennen ist. Augen, so Caillois’ Argument, faszinieren nur deswegen, weil sie eine Beziehung zur Ozelle haben, die ihrerseits auch als Fleck, Lichtreflex oder als Blitz realisiert sein kann.201 200 Lacan und Miller (1996, S. 123). 201 Siegert (2005, S. 107f.).
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Dass der nazar-Stein als böser Blick sich in Form eines Auges realisiert, hat also selbst damit zu tun, dass der Blick, der sich eben aus der Irritation des Sichtfelds gibt, eine solche Ereignisform des Augen-Blicks annimmt. Mit der Nahen auf Gülcans Gesicht, mit der diese dann ihre Finger spreizt, ist nur ihr Auge noch sichtbare Blickinstanz im Bildfeld. Wir blicken auf ihr Auge, den UrGrund des Sehens, der in die Welt die Überzeugungen sät, dass nur dort die Blicke sind, wo es Augen gibt. Den Glauben, dass es ein sehendes Subjekt gibt, das sich in Distanznahme zum Objekt konstituiert. […] Doch eben darin liegt eine Reduktion, die das Subjekt verkennen lässt, dass es nicht nur sieht, sondern von den Dingen in den Blick genommen ist. Durch Effekte des Lichts ist es selbst ins Bild eingeschrieben, photo-graphiert. Das Subjekt sieht »nur von einem Punkt« aus, wird jedoch in seiner Existenz von überall her erblickt.202 Die Konfiguration des als Voyeur ertappten Blicks in Gülcans Verdecken ihres Gesichts offenbart zugleich auch die voyeursmäßige Sichtungspraxis von Zuschauer_innen, die die okulozentrische, besonders psychoanalytisch motivierte Filmtheorie jeher herumgetrieben hat und noch herumtreibt. Löst man die Verstetigung des Sehens von einer zentralperspektivischen Blickhaftigkeit, die die Apparatustheorie dem kinematographischen Dispositiv zuspricht, hin zu einer Beweglichkeit des Auges entlang der Bildlichkeit des bewegten Bilds, so eröffnet sich damit eine Prozessualität des Sichtungsereignisses, das die möglichen Blickvorgänge in ihrer Kontingenz und dadurch auch die »Bildaktivität«203 mithin die »Performanz des Bildes«204 ernst nimmt. Von hier aus ist der Weg zu den Bildtheorien, die mit Verkörperungskonzepten arbeiten, ein kurzer: ein Weg, der zu Gunsten einer finalisierenden Betrachtung der in der Szene aufgeworfenen Schirme rückgestellt wird.
8.4.4.
Blickregime III: Die Geste des Verdeckens
Den Fokus der Untersuchung weg vom Sehen hin zum Blickregime zu lenken, kann auch bedeuten, sich auf die Momente der Blickverdeckung anders zu konzentrieren. Nochmal also zur Geste, mit der Gülcan ihr Gesicht verdeckt, nachdem sie um İbrahim gegangen ist: Die Theatralität der Einstellung, in der Gülcan um İbrahim herum geht, gab sich mit dem absurden Umstand, dass sich Hasan mit Gülcan mitbewegt und dass sie so eigentlich unentwegt ihm in selber Weise entgegenblickt, statt sich rundherum um ihn zu bewegen und ihn so umfassend zu betrachten. Stets steht İbrahim zu Gülcan gerichtet, lässt sich nicht beobachten, sondern bleibt ihr durchweg zugewandt: die Blicke zueinander gerichtet, einander niemals in ›reiner‹ Form sehend, sondern stets 202 von Hilgers (2005, S. 128). Siehe dazu generell den Band Blümle und Heiden (2005a) sowie Tholen (2011). 203 Skrandies (2013, S. 42-47). 204 Krämer (2009, S. 7f.). Das performative Potential des Bildlichen besteht allerdings, wie Krämer in Auseinandersetzung mit David Freedberg aufzeigt, nicht in einer Parallelität zu performativen Eigenschaften des Sprachlichen wie in der Sprechakttheorie (umfassender Handlungsvollzug, Wirklichkeitssetzung/Konstituierung), sondern darin, »was durch Bilder mit uns gemacht wird« (Realisierung eines Handlungsvollzugs auf Seiten der Betrachter_innen) Krämer (2009, S. 11).
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in Verkennung, »weshalb die Begegnung von Angesicht zu Angesicht, wie jeder Theoretiker, angefangen von Levinas zu Sartre zu Lacan, darin insistiert hat, niemals wirklich stattfindet«205 . Das Verdecken des Gesichts durch Gülcan lässt sich nach dem Rundgang um den Emigranten herum auf eine Scham rückführen, die Gülcan empfinden muss, wenn sie davon ausgeht, dass İbrahim ein Fremder ist, denn sie hat sich einer fremden Person als Glück Empfindende freuend hingegeben. Es gebietet sich nicht, an einen Fremden so heranzunahen, doch Blicken und das Verhältnis zur Subjektivität und ihrer unterminierenden Empfindung der Scham, die das Blickregime verbürgt, stehen in konstitutiver Korrelation zueinander. Helmut Pape findet für diese trennende Blickfiguration, die das voyeursmäßige in der Szene verfolgt, folgende Worte: Für Sartre ist dies aber ein Beobachten des Blicks des anderen auf mich. Ein wechselseitiges Ineinander der Blicke, durch das menschliches Leben miteinander gelingend handelnd vollzogen wird, kommt dabei nicht zustande. Der Blick des einen wird von dem Blick des anderen ertappt, der sich gegen das Erblicktwerden zur Wehr setzt. Der so beim Anblicken Ertappte wiederum schämt sich und empfindet seinen von dem anderen Menschen gesehene Blick als Schuld. Das Beobachten des mich erblickenden Anderen entfernt mich vom Anderen. Denn es geht dabei nur, wie Marten bemerkt, um »ein Verhältnis von erblicktem Blick des Ich und erblickendem Blick des anderen, das sich genau nicht als das des Augenblicks der Begegnung, Spiegelung und Zuneigung darstellt«. Eine nur miteinander gelingende Praxis des Lebens kann auf diese Weise nicht zustande kommen. Im Gegenteil, die Einsamkeit des Subjekts vertieft der erblickte Blick. Sartres Konzeption des Blicks beschreibt also die spezielle Situation des ertappten Voyeurs.206 Aus der Annahme der Scham heraus kann Gülcans Geste auch als eine der Trauer oder des Glücks über seine Rückkehr zu lesen sein, mit der sie sich weinend in ihre Hände gibt. Dadurch, dass sowohl İbrahim blickentzogen und mit dem Verdecken des Gesichts auch Gülcans Blick nicht sichtbar ist, besteht die entsprechende Einstellung als doppelte Blickentzogenheit, in der nur die Augen der Dörfler_innen auf die Szenerie, aber auch Zuschauer_innen blicken. So sind beide von der Migration betroffene Subjekte in eine Blickfiguration gesetzt, die sie aus beiden Positionen, dem Hier der Zuschauer_innen und dem Dort der Dorfbewohner_innen, blickmäßig umstellt hat. Ähnlich wie in Velazqez’ Las Meninas entsteht eine komplexe Blick-Positionalität, die die Bezeugungs- und Sichtungssouveränität aus der Identifikation zwischen objektiver, weil außenstehender Dorfmenge und außerhalb der internen Filmordnung stehenden Zuschauer_innen herstellt. War es in Velazquez’ vielbeachtetem Gemälde207 der an der gegenüberliegenden Wand hängende Spiegel, der das königliche Paar in dunklen Umrissen als gegenüberliegende, konträre Blicksubjekte anlegte und die Betrachter_innen entsprechend ambig 205 Mitchell (2017, S. 173). 206 Pape (2011, S. 126). 207 Erwähnenswert ist, dass hat eine diskurstheoretische Lesart des Bildes vorgenommen hat, mit der er die Rolle des Subjekts in der Bedeutungsherstellung reflektiert, wobei er an einigen Stellen seiner Argumentation mit dem Fokus auf die Blick- und Sichtungsvorgänge zugleich eine subjektkritische Lesart anbietet. Siehe Hall (1997, S. 56-63).
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interpellierte, sind es hier die Dorfbewohner_innen, die die innerdiegetische, objektivierende Blickinstanz ergeben. Die Souveränität des Blickens bleibt mit der fazialen Entzogenheit des Emigranten auch dem Emigranten gegeben. Die Leerstelle, die sein Hinterkopf ergibt, lädt zur Projektion genau jener Blickhaftigkeit ein, die die Entzogenheit provoziert. Oder vielmehr: Es ist möglich, den Blick in seinem Kopf zu »deponieren«208 . In dem gesamten Tableau besteht die Bildlichkeit so als komplexe Fläche, in die sich verschiedene Blickheiten eintragen und eingetragen sind. Die polyzentrische Blickhaftigkeit, die die Bildaktivität der filmischen Bilder ergibt, wird in unterschiedlichen Subjektivitäten, die angeboten werden, zum Beispiel eben jenen Gesichtern, den Blickinstanzen der Dörfler_innen, des Emigranten und der Protagonistin domestiziert und in einen Raum intersubjektiver Versicherung überstellt, der die prekäre, mit Phantasmen durchsetzte und im Bereich des Imaginären verbleibende Selbstbezeugung in ein Ereignis mannigfacher Fremdbezeugung, aber zugleich auch in jene Position der Scham überführt. Migration in den Momenten intersubjektiver Mikroverhältnisse zu verfolgen, heißt für den Film, sich den blicktechnisch-sozialen Konstituierungsverhältnissen hinzugeben: vielleicht auch in einer Variante, die die Verkörperungsaspekte dieser Blickregime wieder in den Vordergrund stellen. Darin liegt der Reichtum der visuellen Kultur der Filme, die noch in vielerlei anderen Figurationen von An- und Abwesenheit darin eingeschrieben ist.
8.4.5.
Plot en detail – Dönüş
Nachdem İbrahim in ihr gemeinsames Heim tritt, zeigt er Gülcan all die schönen Dinge, die er ihr und ihrem gemeinsamen Sohn in Deutschland gekauft hat: ein blaues Nachthemd für Gülcan, Spielzeug für Hasan und unzählige andere Kleidungsstücke. Die Kamera schwenkt langsam über die auf den Möbeln verteilten gekauften Objekte, während das von Yalçın Tura komponierte und von einer Flöte gespielte melancholische Lied in einer etwas schnell gespielten Version, mit leichtem Klopfgeräusch als snare rhythmisch dazu ertönt. Da überrascht Hasan seine Ehefrau mit einem Tonaufnahmegerät und einer Aufnahme des Gesprächs, das sie soeben führten. Die vom Körper entkoppelte Stimme verblüfft die beeindruckte Frau. Gülcan fällt auch schon eine Einsatzmöglichkeit für das moderne Gerät ein: Es könne helfen, Eindringlinge von ihrem Feld fernzuhalten, wenn sie selbst nicht mehr anwesend sein könnten. İbrahim ist amüsiert von Gülcans Phantasie, denn nicht einmal »dem Konstrukteur wäre so eine Anwendung eingefallen«. Als sie vom verbrannten Feld berichtet, ist Hasan relativ unbeeindruckt, die Hoffnungen, die er einst leidenschaftlich in ihre Pläne in der Landwirtschaft im Dorf setzte, sind verschwunden. Stattdessen schwärmt er vom Leben in Deutschland und dem Wohlstand dort, gibt am nächsten Tag mit seinem tragbaren Radio im Dorf an: Er versammelt die Männer des Dorfs in der Teestube um sich, die ihn neugierig befragen. İbrahim hat sich gewandelt, ist ein anderer Mensch, mit anderen Wissenshorizonten, Erwartungen und Perspektiven geworden. Im Laufe des Tages werden die Dinge des Alltags von modernen Dingen aus Deutschland imaginativ durchdrungen: Die Blechtasse, mit der ihm Gülcan Wasser über den Kopf gießt, verwandelt 208 Lacan und Miller (1996, S. 107).
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sich in einen Duschkopf. Gülcans verdreckte Plastikschuhe verwandeln sich in saubere Frauenfüße samt Socken und eleganten blauen Stöckelschuhen. Die Kerzenleuchter im Hause werden zu elektrischen Lampen. Wenige Tage später teilt İbrahim Gülcan mit, dass er abreisen wird und bald mit noch mehr Geld wieder zurückkommen werde. Er werde sie aus dem Dorf befreien und sie mit einem Auto zu sich holen und ihnen allen ein Leben in Wohlstand bescheren. Gülcan ist aufgelöst, will ihren Ehemann bei sich haben und nicht alleine sein. Sie fleht ihren Ehemann an, nicht fortzureisen – vergeblich. Doch dem ağa Reşit kommt İbrahims Abreise gelegen, so kann er erneut versuchen, Gülcan für sich zu gewinnen. Kaum ist İbrahim abgereist, versucht er Gülcan zu vergewaltigen. Als diese sich gelungen vor dem Großgrundbesitzer verteidigen und ihren Widersacher im Gesicht verletzen kann, schwört Reşit darauf, ihr keine Ruhe mehr im Dorf zu lassen. Es vergehen erneut unzählige Tage, in denen Gülcan mit der Hoffnung auf eine Nachricht ihres Ehemanns zur Poststelle eilt. Schließlich erreicht sie tatsächlich ein Brief, doch sie ist verwundert, denn die Schrift im Brief unterscheidet sich von derjenigen aus früheren Briefen. Tatsächlich fälschen die Dörfler_innen aus Tröstungsgründen die Briefe ihres Ehemannes an sie. Weil sie als Analphabetin den Umstand nicht mehr hinnehmen möchte, die Briefe ihres Ehemannes nicht lesen zu können, bittet sie den Dorflehrer darum, ihr Lesen und Schreiben beizubringen. Schnell verbreiten sich Gerüchte um Gülcan, die vom Ehebruch mit dem Lehrer handeln, denn der Unterricht findet in den Räumen der Schule statt, die der Öffentlichkeit verborgen sind. Gülcans Zustand des sexuellen Entzugs aufgrund der Abwesenheit ihres Mannes tut sein Übriges: Es entfachen sich Gerüchte. Nachdem eine Gruppe von Dörfler_innen sich zusammentut, um Gülcan zur Rede zu stellen, treten sie ins Klassenzimmer genau dann ein, als der Lehrer ihr lobend auf die Schulter klopft. Dies als Beweis ihrer ehelichen Untreue annehmend, entschließen sie sich, sie zu lynchen. Gülcan muss mit ihrem Baby im Arm vor der Meute davonrennen. Völlig aufgelöst und im Schock flieht sie in ihr Heim. Die Dörfler_innen entschließen sich, ihrem Ehemann durch ein Telegramm von Gülcans Ehebruch und der Besudelung der Dorfehre in Kenntnis zu setzen. Als Gülcan am frühen Morgen mit ihrem Sohn Hasan im Arm zum Fluss geht, um unentdeckt Wasser holen zu können, wird sie von Reşits Männern überfallen. Im Gerangel fällt ihr Sohn ins Wasser und wird, auf mehrere Felsen aufschlagend, von der Strömung hinfortgetragen. Sie wirft sich dem Baby hinterher ins eiskalte Wasser, doch es nützt nichts. Als sie sich und Hasans an Ufer rettet, ist dieser schon ertrunken. Gülcan verbarrikadiert sich in ihr Heim und will ihren Sohn erst dann begraben, wenn ihr Vater wieder ins Dorf heimgekehrt ist: Aus islamischer Sicht, in der das Begräbnis noch am nächsten Tag und so schnell es geht zu vollziehen ist, ist Gülcans Entscheidung für die Dörfler_innen völlig unverständlich und so sammeln sie sich unentwegt vor Gülcans Heim, um sie durch Einreden zur Vernunft und zum Begräbnis des Kindes zu bewegen. Es vergehen Tage, in denen Gülcan mit dem Gewehr in der Hand die Dörfler_innen von sich fernhält. Sie flehen Gülcan weiterhin an, doch Gülcan will nichts unternehmen, ehe İbrahim heimgekehrt ist. Als auch der Dorflehrer auf sie einredet, ihr Baby zu begraben und es nicht für die Fehler der Dörfler_innen zu bestrafen, lenkt sie ein und begibt sich mit der Leiche
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ihres Jungen zum Friedhof, wo sie ihn in ein weißes Leichentuch umwickelt in ein Grab legt, das sie noch selbst vor Ort gräbt. Anschließend verbrennt sie vor ihrer Haustür İbrahims Geschenke, die er aus Deutschland mitbrachte. Da sucht Reşit die psychisch und körperlich ans Ende ihrer Kräfte angelangte Frau in dem Moment auf und wirft ihr vor, dass ihr alles hätte erspart bleiben können, wenn sie sich nur auf ihn schon früher eingelassen hätte. Dann befiehlt er ihr, ihm zu folgen. Die resignierte Frau folgt resigniert der Anweisung. Als sie am Fluss ankommen, greift Gülcan Reşits Waffe, die am Pferd des vor ihr reitenden ağa befestigt ist und erschießt ihn genau an derjenigen Stelle, an der ihr Sohn ins Wasser gefallen und gestorben ist. Reşit stürzt ins Wasser und treibt davon. Als Gülcan wieder ins Dorf heimkehrt, kommt sie am äußeren, unbewohnten Rand des Dorfs an einer Unfallstelle vorbei. Ein VW Käfer und zwei Leichen bedeckt mit Zeitungen und umzingelt von Menschen liegen vor ihr: Es sind Hasan und seine deutsche Frau. In unmittelbarer Nähe hört Gülcan das Geschrei eines Babys, das den Unfall überlebt hat. Gülcan nimmt sich des aufgelösten und weinenden Kindes an, das İbrahim wohl mit der deutschen verstorbenen Frau gezeugt hat. Der Film endet aus einer Vogelperspektive heraus, mit Gülcans Gang über den Weg ins Dorf, samt Baby im Arm. Der Fokus der Geschichte liegt auf dem Schmerz der Zurückgelassenen, besonders einer zurückgelassenen Frau. Den Tod des eigenen Kindes will die Emigrantin ohne die Rückkehr des Vaters nicht überwinden: Es muss die Sozialität der Familie wiederhergestellt sein, ehe sie die Familie verabschieden kann. Die Verabschiedung des Kindes ohne Vater käme einem Verrat an dem Vater und der Familie gleich und zugleich will sie Rechenschaft für die ihr vorgeworfenen Taten nur vor ihrem Ehemann abgeben. Nur so kann eine Zukunft für sie existent bleiben, in der der Vater überhaupt eine Rolle spielt. Was im Film unartikuliert bleibt, ist, dass sie die Schuld am Tod des Kindes auch der Abwesenheit des Vaters anlasten kann, der die Familie im Stich gelassen hat. Der Akt des Widerstands gegen die dörfliche Ordnung und das Dorf, das darin insistiert, dass sie das Kind begräbt, stellt eine Intimisierung der Familie dar, in dem sie keinen öffentlichen Eingriff mehr zulässt. So kehrt sie die Entintimisierung des Lebens im Dorf, in dem die Gemeinde einander vollends kennt und jedes Ereignis zum Gerücht werden kann, in eine Intimisierung zur (Wieder-)Herstellung der familialen Ordnung um. Die Trauerarbeit, die sie leisten muss, bleibt aufgestaut, denn sie zeigt kein Weinen mehr, als sie das Baby beschützt. Doch nicht nur gegen den Willen des Dorfs setzt sie sich durch, sondern auch über das religiöse Gesetz des schnellen Begräbnisses, das das Dorf zugleich an sie heranträgt: Die Prekarität ihrer Situation, ihr Zustand als vogelfrei, des nackten Lebens, das ihre Lynchbarkeit ermöglicht und aus der vermuteten Ehrenkodexverletzung resultiert, zwingt sie zur Missachtung auch der göttlichen Ordnung, das in ihrer Situation als islamisches Gesetz zur raschen Waschung und Beerdigung des Leichnams besteht. Weil ihr Versuch der Herstellung der familialen Ordnung durch den Tod des Babys fehlgeht, wird sie zum Besitz des ağas, dessen Wille sich durch Tötung ihres Kindes und der Zersetzung ihrer Ehre durchsetzt. Die Willensaussetzung gleicht aber einer Fehleinschätzung der Widerstandskraft der Frau, die sich an dem ağa zu rächen weiß. Der Tod ihres Kindes bedeutet nicht die Aussetzung der Ehre: Sie bleibt permanent
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gewahrt. Zugleich strahlt die Entortung der Körper, die Tödlichkeit der Migration aus Şorays Film förmlich heraus. Alles innerhalb der Familie wird in die verschlingende Ökonomie des Zersetzens eingeschleust, nimmt die Zirkularität der Gabe verschlingende Züge jenseits eines Austauschs ein, die sich ja in der Erzähllogik narrativer Filme als Konstituens gibt. Die Logik der Ökonomie des innerdiegetischen Raum in Dönüş ist damit die des Verlusts: Gülcan verliert Feld, die Waren aus Deutschland, also Hab und Gut, Kind, Ehemann, Ehre, Perspektive, Zukunft, Hoffnung. Nur am Ende, als Gülcan das andere Kind İbrahims mit der Deutschen in Armen hält und durch die Ermordung Reşits Gerechtigkeit erfährt, erlaubt der Film die Annahme nach einem Ausgleich in der Ökonomie des Gabentauschs. Nachdem Gülcan ihr Kind begraben hat, schmeißt sie von ihrem Kopftuch befreit, ein ums andere Mal ins Haus ein- und austretend, İbrahims Geschenke ins Feuer (→). Einige Frauen im Dorf stehen dann um das Feuer herum und erhaschen noch schnell vor Verscheuchung durch Gülcan das brennende Radio aus dem Feuer. Als Gülcan eine neue Menge an Sachen ins Feuer schmeißt, ertönt plötzlich die Stimme İbrahims. Ein rascher Zoom auf das überraschte Gesicht Gülcans wird von einer Aufnahme abgelöst, in der sich das Tonaufnahmegerät im lodernden Feuer anzeigt. Es hat sich eingeschaltet und gibt nun die Worte des absenten Emigranten zu den Geschenken wieder. Das mit einem Kunststoffkörper ausgestattete Aufnahmegerät, das uns in jener Einstellung mit seinen beiden Rollen wie Augen anblickt, entlässt die Stimmen der Vergangenheit, die dann noch in der Aufnahme abgelöst werden durch das weinende Geschrei des verstorbenen Babys, das darin damals Gespräch seiner Eltern störte (Abb. 45.1-2).
Abbildung 45.1-2 – Standbilder aus Dönüş (1972)
Mit weit geöffneten Augen kniet sich Gülcan vor den Haufen und blickt erstaunt nur infinitesimal so an der Kamera vorbei in den brennenden Haufen, dass man annehmen könnte, dass sie vor den Zuschauer_innen kniet und blickt (Abb. 45.2). Das Gespräch setzt sich fort und İbrahim spricht von den Nachthemden und modernen Kleidungen, die er für Gülcan gekauft hat. Mit ausbreitendem Feuer deformiert sich das Gerät und damit die Stimme, bis das Gerät nichts mehr abspielen kann und das Feuer die Bildfläche füllt. Gülcans leerer Blick verkehrt sich in verschließende Augen und in eine Körperhaltung der Trauer, die sich von der Ergriffenheit des soeben erlebten Moments löst: Sie weint und bedeckt sich mit beiden Händen das Gesicht. Die beiden ›Augen‹ des Tonbandgeräts kommen mit der zunehmenden Verdunklung sei-
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nes Gehäuses, die aus dem Verbrennen durch das Feuer resultieren, zu einer solchen Form, dass die Augen des Geräts quasi selbst nicht mehr zu blicken scheinen. Das abgetötete innere Auge der gequälten Gülcan wird vom Blick des Dings heimgesucht. Ein Blick, der sich mit der körperlichen Entortetheit der Stimme koppelt, und dadurch den ganzen Raum vereinnahmt. Die Stimme, die entortet ist, verbürgt für sie genau jenes Blickregime, dass das Subjekt zum tableau werden lässt. Die Spannung zwischen der Anwesenheit dieser Stimme und der Abwesenheit des geliebten Mannes, kann nur das Feuer des Tonbands beenden. Der anfänglichen Widerständigkeit des Tonbandgeräts, die sich in seiner Schwerbrennbarkeit anzeigt, entspricht die Erhaltung der aufgenommenen Stimmen. Der Speicherbarkeit der Stimmen steht der Verlust der Stimmgeber für Gülcan (Baby, Ehemann) zur Seite. Der Tod ist Migration für immer. Speichermedien überlisten den Tod und die Abwesenheit der für immer Migrierten wird in Anwesenheit überführt. Die tonale Reproduktion des Dialogs ermöglicht dessen Erfahrung und es entsteht die Präsenz der Abwesenden in ihrer Stimme. Dadurch wird die vielschichtige Trennungssituation evoziert, die Schütz in seiner Studie zum Heimkehrer beschrieben hatte (und mit dem, das erste Analysekapitel noch eingeleitet wurde): Es gibt nicht mehr die totale Erfahrung der geliebten Person, ihrer Gesten, ihrer Art, zu gehen und zu sprechen, zu hören und die Dinge zu tun; was bleibt, sind Erinnerungen, eine Photographie, einige handschriftliche Zeilen. Diese Situation von getrennten Personen ist gewissermaßen auch die der Hinterbliebenen; ›partir, c’est mourir un peu‹.209 Und Berger und Mohr schreiben in ihrem Band »Arbeitsemigranten« über den Zusammenhang von Migration und Tod: Im neunzehnten Jahrhundert war die Emigration meist für immer. Manchmal blieb der Auswanderer mit seiner Familie, die ihn nicht begleitete, in Verbindung. Aber seine Abreise war wie ein Tod.210 Dem Verdecken des Gesichts, das Gülcan vornimmt, als sie die unerträglichen Stimmen hört, dem Verschluss der Augen entspricht die Verdunkelung der Welt und der Rückzug aus ihr. Nur die Zuschauer_innen können mit offenen Augen vor der Szenerie zurückbleiben und Zeug_innen jener Momente der Trauer und der Verzweiflung werden. Doch vielleicht hat sich mit den verschlossenen Augen Gülcans, das innere Auge der Zuschauer_innen ebenfalls verschlossen, die damit gleichsam die Resignation der Frau mitempfinden. Vielleicht aber hält sich auch die Lust nach der Rache, die die filmische Gerechtigkeitsökonomie zur Herstellung all der Rachegelüste motivierte, die das Genre des Dorffilms so auszeichnet. Egal wie die Empfindungen sich ereignen, nicht nur die Figuren migrieren zwischen Übergangszuständen, sondern die gesamte Welt der Empfindungen, Affekte, Regungen, Wahrnehmungen ist in ständiger grenzüberschreitender Bewegung.
209 Schütz (2002b, S. 101). 210 Berger und Mohr (1975, S. 179).
9. Figuration IV: Anwesenheit und Triplett – Migration in den Nationalen Filmprogrammatiken
Um die Nutzbarmachung von Emigration im türkischen High-Yeşilçam-Kino in seiner ideologischen Dimension wie im millî und ulusal sinema angemessen film- wie sozialhistorisch erfassen und zudem die Komplexität der Emigrationsfigurationen auch im frühen Emigrationsfilm sichtbar machen zu können, werden zwei paradigmatische Filme, die die Emigration jenseits der oder komplexer als die Heimkehrfiguration thematisieren, untersucht werden: Halit Refiğs ulusal film-Klassiker Bir Türke Gönül Verdim (1969) und Yücel Çakmaklıs paradigmatischer millî sinema-Film, Memleketim (1974). Beide ideologiehistorisch durchaus wichtigen Filme, die auf Emigration zentral Bezug nehmen, sollen eben aufgrund ihrer produktionsideologischen Rahmung hier im Hinblick auf die visuelle Konstruktion der Emigration genauer untersucht werden. Damit schließt das Kapitel 7 auch jenes Forschungsdesiderat nach der Herausstellung der Verknüpftheit von ideologischen Programmen im High-Yeşilçam-Kino und der Emigrationsfiguration, das bislang gar in der türkischsprachigen Forschung kaum aufgearbeitet wurde. Nicht nur sind die beiden nationalen Filmprogrammatiken ihrer Gründer und Regisseure eben filmhistorisch relevant, sondern die zentrale Rolle von (E)Migration verbleibt darin nicht nur zufälliges, sondern konstitutives Element, das sich weit in das Gefüge von Filmproduktions-, Filmwahrnehmungs- und filmästhetischer Kultur einschreibt. Ihre Untersuchung gibt der oft reproduzierten These vom türkischen Kino als nationale Migrationskinematographie1 eine bislang unaufgearbeitete Verifikation und Rahmung, die im Verhältnis von Kino, Moderne und kultureller Identität theoretisch allgemeiner spezifiziert werden wird. Denn bei aller filmhistorischen Exklusivität der beiden Konzepte, zeigt der Exkurs zu ihnen ganz konkret auf, dass Migration als Gefüge sich bestens für die identitätspolitischen Implikationen der beiden Programmatiken eignet: weil sich Subjekte zu Trägern ideologischer, auch geopolitisch (West-Ost) verorteter Werte transformieren und so zu Repräsentationsmedien werden. Mit Rey Chows Reflexionen zum Verhältnis von kultureller Identität und Film2 wird das Gefüge zwi1 So zum Beispiel Pişkin (2010). 2 Chow (2011).
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schen den Filmen, den Filmprogrammatiken zum nationalen Kino und der Emigration weiter spezifiziert werden. Zurück zur Untersuchung der Emigrant_innen in ihrer Anwesenheit im Filmraum: Die Migrationsforschung hat die Zuschreibung von Andersheit auf Personen aufgrund ihrer Wanderungsbewegungen jenseits nationaler Grenzen als Operation herausgestellt, die sich auf das Imaginäre als Bezugsfeld beruft, um dadurch Subjekte überhaupt erst als normabweichende Migrant_innen konstitutieren zu können.3 Wenn also die Anwesenheitsszenen des Emigranten untersucht werden sollen, so ist die Annahme der Anwesenheit eines solch imaginär zugeschrieben Migrationssubjekts im Bildraum überhaupt erst der operative Grund, auf dem von Migrant_innen oder ihrer Präsenz gar in raumtheoretisch differenzierter Hinsicht die Rede sein kann. Weil die Anwesenheit des Emigranten sich über die gesamte Filmdauer quantitativ umfassend erhält, macht eine Begriffskomposition aus Präsenz und dem jeweiligen Begriff für die filmsequentielle Einheit (Szene, Sequenz) keinen Sinn, weshalb hier nur von Anwesenheit die Rede ist. Für die hier in der Arbeit vorgenommene Grundzweiteilung in Anwesenheits- und Abwesenheitssequenzen muss also Folgendes stets berücksichtigt werden: Allenfalls unter der Annahme, dass Absenz im Heimkehrfilm nur eine relativ kurze Figuration von abwesendem Emigranten und der Präsentation von Daheimgeblieben darstellt – denn Absenz ist filmmedial konstitutiv – lässt sich das Argument von der Schwierigkeit in der Analyse der Anwesenheitsszenen aufgrund des quantitativen Überhangs aufrechterhalten. Um ein extremes Beispiel zu geben, eignet sich mithin das für das türkische Staatsfernsehen von Tuncer Baytok gedrehte TV-Drama Geyikler, Annem ve Almanya (1987), das auf Nursel Duruels gleichnamigen Debütroman4 zurückgeht. Erzählt werden die Erlebnisse der kleinen Nigar, die mit ihrer Mutter und Oma dörflich lebt, während ihr Vater nach Deutschland reisemigriert ist. Die minimalistischen Ereignisse kreisen um den Alltag der drei, der von Unbestimmtheit geprägt ist, da Nigars Vater seit seiner Emigration nicht mehr von sich hören lässt und ihnen auch keine finanzielle Hilfe zukommen lässt. Alle drei migrieren zur wohlhabenden Freundin in Istanbul, bis Nigars Mutter sich entschließt ihre Tochter und Mutter zurückzulassen und selbst nach Deutschland migriert. Die Ängste sowie Fantasiebilder von Nigar und ihrem Vater, die Kristallbilder5 , in denen Nigar in jungen wie alten Jahren die Mise en Scène durchschreitet, stellen den Film als Zeit-Bild im Deleuze’schen Sinne her und durchsetzen ihn mit jenen komplexen Figurationen der Migration, die sich in den kommerziellen Filmen Yeşilçam-Filme der 1970er nicht anzeigen. Er ist purer Absenzfilm, insofern sich die Ankunft des Emigrantenvaters als sich zu erfüllendes Ereignis in Erwartung der Tochter über den gesamten Film erstreckt und phantasmatische, imaginative, virtuelle und aktuelle Bilder sich abwechseln und verschränken: Die Protagonistin wandert durch ihre eigenen Erinnerungen, die ältere Nigar wandert durch die Filmbilder, in der zugleich die junge Nigar die Zeit ohne ihren Vater durchlebt. Mit seinen komplexen Zeit-Bildern eignet dem Film damit ganz besonders die Fähigkeit zur Reflexion und Sichtbarmachung 3 Vgl. Castro Varela und Mecheril (2010). 4 Duruel (2006). 5 Fahle (2002, S. 102-106).
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auch jener komplexen Vorstellungen von Migration an, in der sich diese gar nicht mehr in Form eines migrierenden Subjekts realisiert. Diese Komplexität lässt sich in den beiden hier zu untersuchenden Filmen nicht in jener zeit-bild-relevanten Konstellation finden, sehr wohl aber in jenen Konstruktionen, die in Filmen visuell verbürgt sind. Doch auch wenn eine solche unzuverlässige Narration die gefügekomplexe Textur von Migration sichtbar macht, so bleibt im erzählenden Film die Logik des Bewegungs-Bildes erhalten. Kappelhoff beschreibt, hier ohne Bezug auf Deleuze, so: Auch wenn die Erzählebenen, ineinander verschachtelt, ein Konstrukt aus Rahmenerzählung und Rückblenden bilden, hat es den Anschein, als bleibe die Darstellungsform selbst dem höchsten Gebot des klassischen Hollywoodkinos treu: dem Gebot der abbildlichen Illusionierung des Geschehens durch eine objektivchronologische Erzählweise. Deshalb begreifen wir in dem, was uns Leinwand und Mattscheibe zeigen, die Abfolge objektiver Bilder eines fiktiven Geschehens. Wie immer das Geschehen selbst in sich verschachtelt oder elliptisch dargestellt wird, auf der Ebene des Bildes reiht sich Einstellung an Einstellung zum kontinuierlichen ,,und dann geschieht«. Ein unbedingter Präsens scheint das kinematographische Bild zu beherrschen, jedenfalls wird seine zeitliche Gleichförmigkeit ganz selbstverständlich vorausgesetzt.6 Für das vorliegende Kapitel werden nun zwei Filme (Memleketim und Bir Türke Gönül Verdim) zweier nationaler Filmprogrammatiken erörtert, die im filmwissenschaftlichen Diskurs zur türkischen Filmgeschichte des Yeşilçam-Kinos eine zentrale Rolle spielen. Es gilt mit der Untersuchung der beiden Filme die Eingebundenheit von Emigration in zwei zentrale nationale Filmprogrammatiken aufzuzeigen und zugleich die Relation von Identität, Film und Emigration an ihnen zu bestimmen. Dabei lassen sich die beiden Filme im Hinblick auf ihre Figuration von Subjekten und Lokalitäten als ein Gefüge von Anwesenheit und Triplett beschreiben. Während Memleketim mit der Erzählung von der Emigrationssituation zweier Figuren in Wien deren Anwesenheit im Emigrationsland figuriert, entwirft Bir Türke Gönül Verdim mit seinem Plot um eine ›deutsche‹ Ausländerin, die in die Türkei emigriert, einem türkischen Gastarbeiter-Remigranten und einem Prämigranten, der als Arbeitsemigrant nach Deutschland auswandern möchte, ein Triplett an Figuren und Figurationen, die in das filmpolitische Programm ihres Regisseurs funktional eingewoben werden – was, wie zu zeigen sein wird, nur in gewissen Hinsichten gelingt.
9.1.
Nationale Filmprogrammatik I: Memleketim (1974) als Millî Sinema
In Oğlum Osman stand die Reversion eines verwestlichten Emigranten zu einer türkisch-islamischen Identität im Handlungsmittelpunkt. Mit der identitätspolitisch motivierten Erzählstrategie des Films war in den Film so das Potential eingeschrieben, Zuschauer_innen zu einer islamisch-turkisierten Selbstregierung zu bewegen. Dieses Potential resultierte aus der Kopplung von klassischer Dramaturgie und den filmästhetisch-ideologischen Mitteln des Kontinuitätssystems: Die erzählte ›Heldenreise‹ (klassi6 Kappelhoff (1999, S. 87).
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sche Dramaturgie) des Protagonisten soll in einer solchen emotionalen Erfahrung (kathartische Reinigung) auf Seiten der Zuschauer_innen resultieren, dass diese gleichsam eine (Re-)turkisierung durchmachen oder herbeisehnen. Turkisierung bezeichnet einen phantasmatischen Vorgang der Identitätserwählung, der in der Identifikation mit einer muslimischen Lebensweise und imaginierten türkisch-nationalen Identität besteht. Damit war der Film auf die Etablierung, Verbreitung und Durchsetzung normativer und essentialistischer Identitätsentwürfe bei Zuschauer_innen aus, die sie zu einer solchen Glaubens- und Lebenspraxis bewegen sollte. Das filmästhetische Kontinuitätssystem (suture, Zeit-Raumkohärenz) lieferte hierbei die mediale Architektur, auf deren Grundlage diese (Re-)turkisierung als Effekt unsichtbar und damit ideologisch wirksam verbleiben konnte. In einer Lobschrift auf Çakmaklı erzählt der Autor Hasan Albayrak eine Anekdote, die die identitätspolitische Zwecksetzung des Films expliziert. Die Anekdote gilt dabei Birleşen Yollar (»Die Wege, die sich einen«) (1971)7 , dem ersten Film des millî sinema-Gründers überhaupt – ein Film, der denselben erzählerischen Strategien folgt, die sich auch in Oğlum Osman wiederfinden lassen, und dabei konkret den Wandel einer reichen Unternehmenstochter hin zu einer frommen Frau erzählt, die fortan eine muslimischen Lebensweise erwählt: Şule Yüksel Şenler [die Autorin des Romans, Ö.A.] hatte es mal in einer Fernsehshow erzählt: Sie war ins Kino gegangen, um den Film Birleşen Yollar zu sehen, welcher auf ihrem eigenen Roman (Huzur Sokağı [Straße der Harmonie, Ö.A.]) basierte – genau genommen, um den Effekt des Films auf die Zuschauer_innen zu beobachten. Neben ihr saßen zwei moderne Frauen mit Belgin Doruk-Frisur [türkische YeşilçamSchauspielerin]. Diese sahen sich den Film voller Tränen an. Als Türkan Şoray [Hauptdarstellerin des Films] den islamischen Weg einschlägt und die Anforderungen eines islamischen Lebens zu erfüllen beginnt, hat wohl eines der Mädchen gesagt »Ich werde auch Kopftuch tragen und mit dem Gebet beginnen.« Mit den Worten ›Deine Mutter würde es nicht erlauben, aber ich werde mich hoffentlich bedecken‹ entgegnete ihr darauf die andere… Şule Yüksel Şenler bir televizyon programında anlatmıştı: Kendi romanından (Huzur Sokağı) uyarlanan Birleşen Yollar filmini izlemek -daha doğrusu bu filmin seyirci üzerindeki etkisini gözlemlemek- için sinemaya gitmiş. Yanında Belgin Doruk saçlı iki ›asrî‹ kız oturuyormuş. Bunlar filmi gözyaşları içinde seyrediyorlarmış. Türkan Şoray hidayete erip İslami hayatın gereklerini yerine getirmeye başlayınca, kızlardan biri ›Bende başımı örtüp namaza başlayacağım« demiş. Diğeri de ona »Senin annen izin vermez, ama ben örtüneceğim inşallah‹ diye karşılık vermiş…8 In dieser Anekdote wird das Ziel eines jeden, dezidiert propagandistischen Thesenfilms expliziert, der identitätspolitische Ziele verfolgt: Die unmittelbare, affektiv-somatische Einwirkung des Films auf die Körper und ›Hirne‹ der Zuschauer_innen soll auf Seiten des adressierten Publikums zur Erziehung eines solchen Subjekts führen, das sich 7 Çakmaklı (1971). 8 Albayrak (2014, S. 287).
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mit der vertretenen Ideologie identifiziert und sie gar als weltanschauliches Selbstregierungsprogramm umsetzt – besser gar, wenn damit noch die Abkehr von einer als falsch angenommenen ›Identität‹ (unislamisch) einhergeht. In diesem hier artikulierte Gefüge von Apparatustheorie und ›Medien-Macht‹ werde ich mit Rückgriff auf mediale Gouvernementalitätskonzepte die Vereinfachung des Einwirkungs-Modells von Film nachzeichnen. Ideologisch begründet der Film die islamisch-türkischen Identitätsentwürfe, oder besser gar -utopien, auf einer zuallererst vorausgesetzten kulturellen Differenz zwischen (christlichem) Westen und (muslimischem) Osten, zwischen Europa und der Türkei und greift damit auf okzidentalisierende Diskurse zurück. Demnach sei das Türkisch-Islamische im Vergleich zum Europäischen in besonders kultureller Hinsicht inkommensurabel und Europa dürfe nur funktional als Wissensreservoir dienen – eine Haltung, die die Identitätspolitik sowohl der muslimischen Konservativen als auch die der Kemalisten auszeichnet. Arslan fasst die Grundüberzeugungen einer solchen Politik so zusammen: Bei der Übernahme des Westens geht es darum, wie Abdullah Cevdet vorschlägt, ihn nicht gleich einer Rose samt der Stacheln also mit allem zusammen, sondern ihn von seinen Stacheln befreiend zu übernehmen. Yani Batı’yı alırken, Abdullah Cevdet’in önerdiği gibi gülünü dikenini ayırmadan, neyi varsa onunla değil, dikenlerinden arındırarak alma çabası öne çıkıyor.9 Eine islamische Identitätspolitik bildet in Çakmaklıs millî sinema-Œuvre lediglich einen filmischen Modus. Dem anderen, der sich eher als nationalistisch beschreiben lässt, widmet sich sein zweiter Emigrationsfilm10 : Memleketim (1974) (»Meine Heimat«). Diesen Film werde ich im folgenden Kapitel näher untersuchen. Das Melodrama erzählt in Yeşilçam-Modalität11 die sich in Wien abspielende heterosexuelle tragische Liebe zweier Emigrant_innen. Was es hier aufzuzeigen gilt, ist nicht vordergründig eine filmideologie-historische Spezifizierung des millî sinemas, die schon in Kapitel 6.5 geleistet wurde. Es gilt vielmehr die Rolle und Funktion der Emigration in der identitätspolitischen Filmprogrammatik Çakmaklıs zu bestimmen. Dabei gibt sich die Untersuchungswürdigkeit von Memleketim aus dessen exklusiven Status innerhalb des untersuchten Filmkorpus. Der Film eröffnet nämlich Diskurs- und Reflexionsfelder, die in den anderen Emigrationsfilmen dieser Zeit nur zurückhaltend aufscheinen. Memleketim als Thesenfilm12 birgt zudem ein anderes Sichtbarkeitsgefüge als andere Filme jener Zeit, weil er einer der wenigen türkischen Filme der 1970er ist, der seine Hauptfiguren so anordnet, dass sie sich im ›Ausland‹ befinden. Im Vergleich zu den Remigrationsfilmen des Yeşilçams der 1970er Jahre ist die deutsch-türkische Arbeitsmigration nicht als Hauptgegenstand der filmischen Verhandlung erwählt. Dennoch spielt sie, so wie in Oğlum Osman auch, in der filmideologischen Programmatik eine zentrale 9 Arslan (2014b, S. 143). 10 Memleketim ist seine bis dahin sechste Filmarbeit. 11 Vgl. Arslan (2011). 12 Arslan (2014b, S. 129, 136).
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Rolle und macht damit die Art und Weise deutlich, in der die deutsch-türkische Arbeitsmigration in die je spezifischen Repräsentationsregime jener kommerziellen Filme zu der Zeit eingebunden ist. Zum Aufbau und den konkreten Untersuchungsschritten: In dem Kapitel werde ich zunächst die Dichotomie als Prinzip des millî sinema anhand einer vorausgehenden Untersuchung des Filmposters erörtern (▶ Kap. 9.1.1). Durch die struktural verfahrende Analyse des paratextuellen Elements wird zum einen das Repräsentationsregime vorweggenommen und zum anderen seine Wirkmächtigkeit über den Film hinaus bestimmt.13 Daran anschließend werde ich den Plot des Films nacherzählen (▶ Kap. 9.1.2). Mit dem Kapitel 9.1.3, einem Exkurs zur Abwesenheitsszene in Memleketim, leite ich zu einem Analysekapitel (▶ Kap. 9) über: Darin untersuche ich eine Szene, die Diskurse zur Arbeitsmigration und zum Kolonialismus durch ein Rollenspiel einer der Protagonist_innen medial komplex verhandelt. Diese Szene wird auf das filmideologische Programm des millî sinema hin überprüft, in dem ein Vergleich zu Çakmaklıs Film Oğlum Osman dahingehend vorgenommen wird (▶ Kap. 9.1.4.1). Ziel ist es, die Funktionsweise beider Filme im Hinblick auf die Anrufungsweisen von Zuschauer_innen transparent zu machen und ihre ideologisch-medialen Effekte mit Blick auf den deutsch-türkischen Arbeitsmigrationskontext hin zu untersuchen, der in beiden Filmen nur kurz, aber strategisch und relevant diskurriert und in visuellen Konstruktionen medialisiert wird (▶ Kap. 9.1.6). Das Unterkapitel (▶ Kap. 9.1.7) stellt in Oğlum Osman und Memleketim die Konstruktion der Alterität zwischen Türkischem und Westlichem heraus. Dies geschieht durch eine Explikation der Diskurse über den Westen und zum Westen. Dadurch wird das ideologische Umfeld des Films und des Konzepts der Emigration darin erhellt und so eine filmideologiehistorische Aufarbeitung geleistet, die nachweist, dass Emigration und der Komplex der Okzidentalisierung im Yeşilçam-Kino Hand in Hand gehen. Damit gehört Memleketim zu einem der wenigen Filme, der explizit kulturerklärerische, okzidentalisierende Thesen zur Dichotomie von West und Ost generiert. Kapitel 9.1.8 entrückt die Analyse aus der Untersuchungshaltung der Herausstellung des strukturalistischen Programm des Films durch eine weitere Posteranalyse und zeigt dekonstruierende Momente des Widersinns im Film auf, um so in das zweite Hauptkapitel (9.2) überzuleiten. Dass der Film Memleketim in den hier im Kapitel vertretenen Untersuchungsansichten jeglicher »oppositionellen Lesart«14 beraubt erscheint, die propagandistische Filme in ihrem Widersinn einem kritischen Bewusstsein nahezu aufzwingen, bleibt hierbei der Untersuchungsabsicht des Kapitels geschuldet, das sich der Herausarbeitung von Identitätspolitiken im türkischen Emigrationsfilm der 1970er verschrieben hat. Denn Memleketim ist nicht nur ideologischer Thesenfilm, sondern mitunter durch die Verbreitung auf den Youtube-Kanälen auch Teil des turkish trash und pop und somit 13 Zur Argumentation von Film als Akteur-Netzwerk, das sich nicht nur durch die Trias von Preproduktion, Produktion und Postproduktion bestimmen lässt, also in dem wissensrelevante Elemente über diese drei Prozessstadien hinausweist siehe Spöhrer (2016). 14 Hall (2004b, S. 80).
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Teil einer reflektierten Populärkultur, die sich durch Jahrzehnte später entstehende Rezeptionszusammenhänge entwickelt hat.15
9.1.1.
Das Filmposter I: Dichotomie als Prinzip des Millî Sinema
Eine blonde Frau mit orangefarbenem Hemd, brauner Schlaghose, braunen Plateauschuhen und allerlei Armreifen sowie Ringen an den Fingern ist eine von zwei Figuren auf dem Plakat (Abb. 58; die Analyse eines alternativen Posters [Abb. 57] erfolgt am Ende des Kapitels). Die Frau hält ihre Arme weit voneinander gestreckt und zeigt ein glückliches, weil leicht lächelndes Gesicht samt nach oben rechts blickenden Augen. Die so gekleidete und posierende Frau steht im Blickzentrum eines Posters zu einem Film, der offenkundig Memleketim, also ›Meine Heimat‹ heißt. Obwohl es eine Zweiteilung des Hintergrundes gibt, der zwei Bereiche deutlich als solche markiert, nimmt die Frau durch ihre ausladende, frontal ausgerichtete Pose mehr Raum ein, als die zweite rechts am Bildrand verortete Figur des Mannes. Er steht im Seitenprofil in der Nähe des Posterrahmens und unterstreicht durch seine Armgeste die zentrale Stellung der Frau. Er trägt einen blauen Anzug und eine Krawatte und streckt seine Arme gerade vom Körper in Richtung der Frau. Sie scheint mit ihrem linken Bein aus dem Bildrahmen zu treten und suggeriert so eine Bewegung in den Betrachter_innenraum. Ihre emotionale Ergriffenheit spiegelt sich einerseits durch die geöffnete Haltung und andererseits in ihrer Mimik wieder: Sie blickt mit einem Lächeln und einer Glückseligkeit ausstrahlenden Miene in das Off des Posters. Beide Personen sind in das Poster montiert, die Größenverhältnisse so, dass die Frau gleich groß erscheint wie der verkleinert aussehende, eher apathisch dreinblickende Mann. In dem auf beige-farbenem Grund gehaltenen Poster befindet sich hinter je einer der beiden Figuren eine rechteckige Photographie im Hochformat. Während die Photographie im linken Bildbereich hinter der Frau im Ausschnitt die Pariser Kathedrale Notre Dame16 zeigt, ist hinter dem Mann die Selimiye-Moschee17 zu sehen. Die Photographien der Frau und des Mannes haben dieselbe Größe und die Körper von Mann und Frau erstrecken sich nahezu über dessen gesamte Fläche. In den Photographien sind die Ausschnitte der Gebäude und ihre Entfernungen zum Aufnahmepunkt so gewählt, dass die Kirchturmspitze und die linke vordere der vier Minarettenspitzen der Moschee auf einer Höhe liegen. Die Körper der Figuren gehen mit den Hintergrundphotographien keine raumlogische Verbindung ein. Es entsteht keine Antizipation danach, dass die Figuren unmittelbar aus dem jeweiligen Sakralbau getreten sein könnten. Die topographische Unverbundenheit zwischen Figurenkörper und repräsentiertem Ort verdeutlicht den re15 Für einen deutschsprachigen Text, der die Yeşilçam-Historienfilme popkulturell liest, siehe Tuna und Klingler (12.04.2017) oder allgemeiner zum Yeşilçam-Kino siehe die Kino-Dokumentation Remake, Remix, Rip-Off (2014). 16 Obwohl der Film in Wien spielt, ist es nicht der Wiener Stephansdom oder die Votivkirche, sondern die Notre-Dame de Paris und damit eine umso bekanntere Kirche. 17 Es handelt sich um ein Bild der Selimiye Camii, eine Moschee, die von Mimar Sinan im Auftrag von Sultan Selim II. 1575 fertiggestellt wurde und in Edirne, der ehemaligen osmanischen Hauptstadt, steht.
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präsentationalen Bildzweck der Photographie. Die Moschee steht so für den Islam und die Kathedrale für das Christentum. Auffällig ist, dass beide Personen sich nicht anblicken und entsprechend der Richtung ihrer Gestiken auch aneinander vorbeizielen. Während der Mann seine Arme eher frontal zur Frau gerichtet hält, seine Gestik also personenadressiert ist, sind die Arme der Frau18 ausgestreckt: eine Geste der Öffnung, eine Geste, die vermittelt, dass die Person bereit ist, eine aus dem oberen, rechten Off des Posters kommende Sache zu empfangen. In der Aufmachung des Posters ist das Grundprinzip von Çakmaklıs millî sinema-Filmen zu erkennen. Die Konstruktion von Dichotomien: Mann und Frau, Moschee und Kathedrale, Christentum und Islam, orange und blau (Komplementärfarben), leger und formell (Kleidung). Dabei muss auch hier im Poster der Aspekt anerkannt werden, dass Binarismen häufig einem Muster von Parallelität, also der Homologie zweier gegensätzlicher Elemente folgen: Wenn die Dichotomien, die auf der Grundlage von Binarismen zu entstehen vermögen19 , durch asymmetrische Darstellungsparameter unsichtbar oder wenig sichtbar blieben, der Mann zum Beispiel nur zur Hälfte im Poster sichtbar wäre, könnte sich die Sichtbarkeit der Dichotomie nur schwerlich herstellen. Die Parallelität gewährleistet eine erhöhte Erkennbarkeit der Dichotomie. Eine weitere konzeptuelle Besonderheit ist der Blick, den das Poster offenbart. Er erscheint als ein Überblicks-Blick, der die montierten Elemente in Übersichtlichkeit hält. Es geht um die wohlüberlegte Positionierung der Elemente, ihre Größenskalierung, die die Zugerichtetheit erzeugt. Es sind nicht nur Dichotomien angelegt, sondern die von Dichotomien durchsetzten Charaktere und anderen Elemente gehen trotz ihrer parallelen Struktur auch keinen Kontakt ein: In dem Versagen der gestischen Adressierung ist beispielsweise ein Moment der Fehlkommunikation enthalten. Zudem berührt weder der Mann die Frau oder umgekehrt, noch sind die Hintergrundphotographien von einer Verbindung zueinander geprägt, da die Ränder der Photographien sich nicht berühren (es führt ein beigefarbener Rahmen an den Photos entlang), noch ist in der Collage eine anderweitige Berührung zweier Elemente angelegt. Allenfalls die Frau scheint zwischen beiden Photographien insofern im Poster zu stehen und ein anderes Element zu ›berühren‹, als dass ihr linker Arm in die Moscheephotographie ragt. 18 Was das Poster nicht aufzeigen kann, ist die Zuschreibung einer Nationalität Grundlage der phänotypischen Merkmale der blonden Frau. Selbst eine Yeşilçam-affine Zuschauer_innenschaft, die in der dargestellten Frau die Schauspielerin Filiz Akın erkennt, wird im Zusammenhang mit der im Hintergrund gezeigten Kirche nicht unbedingt eine türkische Frau vermuten, zumal Akın schon vorher in den Filmen Almanyalı Yarim (»Meine deutsche Geliebte«) (1974) und Ankara Ekspresi (»Der Ankara Express«) (1971) eine Deutsche mimen durfte. Die rassistische Kopplung von phänotypischen Merkmalen und nationaler, ethnischer Zugehörigkeit versagt hier, fungiert in dem Sinne, als dass die Blondheit der Figur den Westen signifizieren soll, aber dennoch im Sinne der paratextuellen Aufgabe des Posters zur Explikation von Dichotomie als Kernprinzip des Films. 19 Ich erkläre mir den Unterschied zwischen Dichotomie und Binarismus so: Dichotomie = griech. dichotomía: Zweiteilung; Binarismus = lat. binarius: zwei enthaltend; In der heteronormativen Vorstellung von Geschlechtlichkeit ist diese als binär aufgeteilt vorgestellt. Das strukturale Programm dessen ist der Binarismus. Die Entgegensetzung (Dichotomisierung) der Geschlechter geschieht erst auf Grundlage einer Konstruktions- oder Zuschreibungsleistung. Vgl. Krah (2013), Horatschek (2013).
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Eine vorläufige repräsentationslogische Deutung der Photographie lässt sich wie folgt vornehmen: Der Geste des Mannes, seinen nach der Frau ausgestreckten Armen, lässt sich entnehmen, dass er die Frau zu empfangen sucht. Sie hingegen scheint ihn nicht zu beachten und ist ›blind‹ für sein Ersuchen, da sie nach etwas ›Höherem‹ strebt, das außerhalb der Hintergrundfläche im Off des Bildraums (hors-champ) verortet zu sein scheint. Eine blonde, aufgrund ihrer Kleidung als modern anzunehmende und hinter einer Kathedrale stehende Frau, tritt aus ihrem Bereich des Kirchlich-Westlichen im Zuge einer Hinwendung nach etwas Hohem/Erhabenen heraus, wobei sie an einem Mann vorbeiläuft, der als Zugehöriger zur Moschee und folglich mit dem Islam verknüpft, sie auf seiner Seite zu empfangen versucht. Diese kommunikative Verfehlung sowie Blindheit und Unaufmerksamkeit der Frau wird die Melodramatik des gezeigten Films verantworten.
9.1.2.
Der Plot: Zwischen Orientalisierung, Okzidentalisierung, Turkisierung und Europhilie
In Ansätzen gibt die im Poster enthaltene Deutungsmöglichkeit den Plot des 1974 von Çakmaklı gedrehten Films wieder, da es vor allem die Kontraste und Dichotomien fokussiert. Generell ist es eine Erzählung über die »Abenteuer des türkischen Menschen in Europa«20 . Konkret erzählt Memleketim21 von einer sich in Wien anbahnenden, später tragischen Liebe zwischen zwei Menschen, die sich aufgrund scheinbar unversöhnlicher Dispositionen trennen: Leyla (Filiz Akın) ist eine europäisch sozialisierte Istanbuler Türkin, die in einer wohlhabenden, modernen und reichen Familie aufwächst und im Erwachsenenalter nach Europa emigriert. Mehmet (Tarık Akan) ist ein angehender Arzt, der in einem Dorf im anatolischen Osten (Erzurum) aufgewachsen ist und nun in der österreichischen Hauptstadt studiert, um danach wieder zu remigrieren. Mit Wien und anderen Städten in Europa als Setting des Films gehört Memleketim zu den wenigen Emigrationsfilmen der 1970er, die im Ausland gedreht wurden.22 Schon zu Beginn des Films23 werden beide Portagonist_innen als haltungs- und wertedifferente Persönlichkeiten gezeigt. Mehmet trifft auf Leyla in einer britischen Gruppe von Hippies, die sich an einem verlassenen Tempelmonument in Wien zusammengefunden hat. Dort trinken und rauchen die Hippies, unterhalten sich, spielen Gitarre, singen. Zunächst verhält sich die Gruppe Mehmet gegenüber noch gleichgültig, aber dann wird er schließlich von der türkischen Leyla, die sich der Hippie-Gruppe als Afghanin vorgestellt hat, eingeladen, mit ihnen mitzuziehen und zu feiern. Mehmet stimmt zu und begleitet sie durch die österreichischen Kneipen und Discos. Was Leyla und die Gruppe jedoch nicht ahnen ist, dass Mehmet die Gruppe für eine im Umfeld der Psychiatrie angelehnte wissenschaftliche Untersuchung über die »Relation von Drogenabhängigkeit und Charakterformationen« beobachtet. Als Leyla in seinem Notizbuch stöbert, von 20 Çakmaklı in Arslan (2014b, S. 129). 21 Çetin Aktepe evaluiert den Film als Verarbeitung von Vittorio de Sicas Sonnenblumen (1970). Siehe Aktepe (2015). Zuerst gefunden in Arslan (2014a, S. 140). 22 Der Dreh hat für Yeşilçam-Verhältnisse unverhältnismäßig lange gedauert, nämlich vier Wochen. 23 Dessen Geschichte wird von der Drehbuchautorin, der intellektuellen Schriftstellerin Ayşe Şaşa, ideell vorbereitet und als Drehbuch letztendlich von Atilla Gökbürü ausgeführt.
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seinen befremdlichen Notizen erfährt und sie über diesen Vertrauensbruch in Streit geraten, trennen sich die Wege der beiden – trotz der Zuneigung, die sie füreinander hegen. Nach einer Begegnung in München einige Zeit/Jahre später bahnt sich letztlich doch noch eine Liebesbeziehung der beiden Migrant_innen an. Leyla, die einen Wandel vom Hippie zur eleganten Dame durchlaufen hat, wird hier allerdings durch den dominanten Mehmet stets belehrt. Er will ihr die auf westlich-aufklärerische Ideen rückgeführte Ideologie der unbedingten Freiheit des Individuums und der Selbstverwirklichung samt ihrer, das Westliche vor dem türkischen Eigenen vorziehenden Haltung ausreden. Für ihn ist unbestreitbar, dass die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl wichtiger als das persönliche Glück ist. Genau jenen Egoismus kritisierte er zuvor schon bei der liberalen, hedonistischen und ich-fixierten Lebensweise der Hippies.24 Der angehende, überaus höflich und versiert auftretende Arzt wird als jemand gezeigt, der auch in den späteren zufälligen Treffen mit Leyla besonders einer Sache nicht müde wird: das freizügige, europhil orientierte Leben der jungen Frau (sie liebt klassische westliche Musik) als eine liberale, pro-westliche und damit vermeintlich ›richtige‹ Lebensweise als der türkischen Wesenheit widersprechende in Frage zu stellen. Die vermeintliche Fortschrittlichkeit der westlich-liberalen Haltung Leylas stellt er mit Argumenten zur jahrhundertelangen Marginalisierung der Leistungen der östlichen und morgenländischen Kulturen im westlichen Wissenskörper in Frage, die Leyla mit ihrem Studium der Musik in Wien und Idealisierungen des Westens reproduziere. So erklärt er während einer Party bei Leylas Freundin Helga den gut betuchten deutschen Freund_innen, dass unter anderem die westliche Medizin zwei bis drei Jahrhunderte die Lehrbücher des »türkischen«25 Gelehrten Ibn Sīnā (lat. »Avicenna«) genutzt habe. Mehmet betont, dass die westliche Medizin der östlichen sehr viel verdanke. So habe zum Beispiel die westliche Medizin von Ibn Sīnā die Richtlinien zur Quarantänisierung übernommen. Aber auch in Astronomie, Physik, Chemie et cetera hätte der Osten lange Zeit Vorreiterrolle in der Wissenschaft gespielt. In Leylas westlichen Lebensmodell, in dem die individuelle Selbstentfaltung zentral ist, erkennt er einen Verfall gesellschaftlicher Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und der Schwachen. Ihr Lebensmodell steht aus seiner Sicht als Vergeudung dar, weil die an sie als Individuum gegebene Gaben in Anbetracht der Verpflichtungen der eigenen Nation gegenüber durch ihre Lebenshaltung vergeudet würden. Mehmet plant deswegen, nach Ende seiner ärztlichen Ausbildung wieder nach Anatolien zu reisen und dort die medizinische Versorgungslücke in seinem Heimatdorf zu schließen – verstanden als sinnvolle Funktionalisierung des einzelnen Individuums, hier seines eigenen Lebens, für seine bedürftige Dorfgemeinschaft und die eigene Nation. Leyla kann diese Zukunftsperspektive trotz ihrer großen Liebe für Mehmet nicht 24 Generell scheint im Yeşilçam-Kino die in der Flower-Power-Bewegung enthaltene politische Haltung der Hippies vollständig ausgeblendet zu werden. 25 Ibn Sina war ein aus Persien stammender muslimischer Gelehrter, der von 980 bis 1037 gelebt hat, vgl. Hendrich (2011, S. 69-73). Inwieweit er als türkischer Gelehrter zu bezeichnen ist, ist nicht unmittelbar evident beziehungsweise auch fraglich.
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teilen. Für sie erscheint der Verzicht auf Europa, das sich durch Liberalität und ›Hochkultur‹ auszeichne, widersinnig und nicht ihren Zukunftsvorstellungen entsprechend. Zusätzlich ist für Leyla die Frage nach dem gesellschaftlich relevantem Wirken in einer humanistischen Welt, deren nationalen Grenzen zunehmend aufgelöst würden, nicht von einer Ortsgebundenheit abhängig. Nach Mehmets schmerzhafter Abreise verfällt Leyla in eine Phase der Depression. Diese spitzt sich zu als auch noch Leylas Freundin Helga aus Liebeskummer verstirbt. Helgas adliger Unternehmer-Vater hatte sich gegen deren Geliebten gestellt, weil dieser aus dem Arbeiter_innenmilieu kam. Nach dem Tod ihrer Freundin Helga lernt Leyla schließlich deren Bruder Helmut kennen und lieben, sodass sich beide gar zur Heirat entschließen. Bei der kirchlichen Trauung ist Leyla allerdings von der für sie Fremdheit produzierenden christlichen Symbolik (Kruzifix, Glockengeläut, der katholisch-orthodoxe Trauungsvorgang samt »gregorianischer Gotteshymne«26 ) so verängstigt, dass sie die Trauung verlässt und sich entschließt nach Istanbul zurückzureisen – weniger gar zu ihren Eltern, die sie verantwortlich für ihre Verfremdung macht, sondern zu ihrer Großmutter. Auf einem Zwischenhalt in einem Hotel in der mazedonischen Hauptstadt Skopje wird sie wieder von Glockengeläut heimgesucht, der ihr den Schlaf raubt. Doch als das Glockengeläut wenig später vom islamischen Gebetsruf, dem Ezan, abgelöst wird, weicht ihr Unwohlsein einer positiven Ergriffenheit, die von nun an eine Turkisierung in Gang setzt. Im Besuch der Moschee lernt sie einen Einheimischen kennen, der sie durch Stätten in Skopje und im Kosovo führt, die für den Islam und das osmanische Reich bedeutungsvoll waren. Damit setzt sich Mehmets Informierungsprojekt aus Belgrad fort: Er führte sie zuvor durch die Stadt und informierte sie über die osmanisch-historischen Hintergründe. Daraufhin begibt sich Leyla wieder auf den Heimweg, samt türkischem Grenzübertritt am symbolträchtigen Kapıkule, während im Off Ayten Alpmans nationalistisches Lied »Memleketim« spielt. Zuerst fährt Leyla zu ihrer Großmutter, die Leyla schon vor ihrer Ausreise ins Ausland vor einer möglichen Verfremdung gewarnt hatte. Doch als Leylas Eltern von ihrer Rückkehr erfahren, sind sie enttäuscht darüber, dass ihre Tochter nicht zuerst sie aufgesucht hat. Auf der Hochzeitstagsfeier der Eltern offenbart sich, dass Leyla die prowestliche Erziehung ihrer Eltern für ihre europhile, identitäre Verirrung mitverantwortlich macht. Weil Erinnerungen und Gedanken an Mehmet Leyla nicht loslassen, entschließt sie sich, den jungen Arzt in seiner Heimat Erzurum aufzusuchen. Als sie vor Mehmets Heim ankommt, wird sie von einer Frau hereingebeten, da Mehmet von der Arbeit noch nicht zurückgekehrt ist. Während Leyla auf ihn wartet, muss sie feststellen, dass die Frau, die ihr die Tür öffnete, Mehmets Ehefrau ist und beide zwei Kinder haben: einen Sohn namens Mustafa und eine Tochter namens Leyla. Noch vor Mehmets Heimkehr verlässt Leyla die Wohnung und begibt sich auf Rückreise mit dem Zug. Am Bahnhof taucht plötzlich Mehmet auf und sie tauschen sich ein letztes Mal aus, wohlwissend, dass es keine gemeinsame Zukunft mehr für sie gibt. Leyla bedankt sich für seine Aufrichtigkeit, die sie »erst jetzt verstanden« habe. Der Zug reist ab, doch diesmal ist es Leyla, die aus dem wegfahrenden Zug auf den am Zugsteig wartenden Mehmet blicken muss. In Istanbul angekommen offenbart Leyla nun einen endgültigen 26 Arslan (2014b, S. 133).
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Zukunftswunsch: Sie will Lehrerin in Deutschland (!) werden, um die dortigen Kinder türkischer Migrant_innen vor den Erfahrungen der Verfremdung, die sie selbst durchmachte, zu bewahren. Lehrerin Leyla ist nun in ihrer Türkisch-Klasse und präsentiert den migrantischen Schüler_innen das Thema der ersten Sitzung: die Türkei, »unsere Heimat [memleketimiz]«. Der Film endet mit Aufnahmen von der Staatsfeier zum 51jährigen Bestehen der türkischen Republik. Mit anderen Worten, die These von Memleketim, einem Film, der in der Atmosphäre einer Kriegsphase [Zypernkonflikt27 ] und inspiriert von einem auf TRT gespielten Lied Ayten Alpmans entstanden ist und sich im Dreieck Österreich, Jugoslawien und Türkei abspielt, basiert darauf, dass die Werte des Islams und des Türkentums vor denen des Christentums und des Westens kommen und dass ein jeder nur über den Weg dieser Werte für die Bevölkerung nützlich sein kann. Verwestlichung sei also ein auf die Debatte von der ursprünglichen Wesenheit zurückgehendes Problem und maßgeblich sei es, sich die Wissenschaft und die Technik des Westens anzueignen ohne unser auf Religion und nationale Identität zurückgehendes Wesen abzulegen. Bir diğer deyişle, bir savaş dönemi atmosferinde Ayten Alpman’ın da TRT’de çalınan şarkısından feyz alarak ortaya çıkmış ve Avusturya, Yugoslavya ve Türkiye üçgeninde geçen bir film olan Memleketim’in tezi ise kanımızca İslam ve Türklüğün değerlerinin Hristiyanlık ve Batı’nın değerlerinden önce gelmesine ve bir kimsenin ancak bu yolla topluma yararlı olabileceğine dayalıdır. Yani batılılaşma öz meselesine dayalı bir sorundur ve aslolan dine ve millî kimliğe dayalı özümüzü kaybetmeden Batı’nın bilim ve tekniğin alınmasıdır.28 Obgleich der Film von Çakmaklı hier im Zitat in einer nationalistischen Atmosphäre während angespannter, gewaltsamer außenpolitischer Auseinandersetzungen zwischen Türkei und Griechenland um Zypern verortet wird, erfordert es ein Mehr an historischer Kontextualisierung, um die Entstehungszeit des Films gerade zu Beginn der Sexfilmwelle des Yeşilçam-Kinos verstehen zu können. Denn das Produktionsjahr von Memleketim (1974) markiert mit dem Einzug der Soft-Porno-Komödie 5 Tavuk Bir Horoz (1974)29 zugleich den Beginn einer sechs Jahre fortdauernden Sexfilmwelle im Yeşilçam-Kino (▶ Kap. 3), die zugleich auch mit der Entstehung zahlreicher so genannter Religionsfilme zusammenfällt.30 Neben der Kriegsatmosphäre, die durch den Zypernkonflikt hervorgerufen wird, sind die »die Armenier Ereignisse«31 und der »Tod einiger Diplomaten« prägend für jene Zeit: eine Zeit, in der besonders ein Interesse seitens der extremen Rechten an Çakmaklıs Film entsteht.32 27 Zwischen Griechenland und der Türkei findet eine militärische Auseinandersetzung um die Etablierung von nationalen Grenzen auf der umkämpften Insel statt, vgl. Kreiser (2012, 86, 97). 28 Arslan (2014b, S. 129), Übersetzung Ö.A., leicht geändert. 29 Pekmezoğlu (1974b). 30 Arslan (2011, S. 111-114). Eine Arbeit, die diese ›Diskrepanz‹ kulturhistorisch oder -theoretisch untersucht, steht noch aus. 31 Çakmaklı in Evren und Çakmaklı (2014, S. 222): Damit scheint Çakmaklı auf ein besonderes Einsetzen politischen Drucks auch auf armenischer Seite anzuspielen, welcher sich durch die Ereignisse rund um den Zypernkonflikt herum mitinitiierte. 32 Çakmaklı in Evren und Çakmaklı (2014, S. 222).
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Das Liebesmelodrama führt mit seiner nationalistischen Ausrichtung dazu, dass Çakmaklıs Unterstützer und bisherigen Weggefährten sich von ihm distanzieren. Hierfür sind zwei Gründe zentral: erstens aufgrund der Rückstellung des Islams als thematischen Fokus und zweitens aufgrund seiner positiven Hinwendung zum Kemalismus, die sich im nationalistischen Modus des Films erhalte.33 Doch im folgenden Kapitel wird es weniger um diese filmkulturhistorische Kontextualisierung jener Diskrepanz zwischen der Entstehung von Religionsfilmen und einer Sexfilmwelle oder der Spezifizierung der ideologiehistorischen Hintergründe zu der Zeit gehen. Anhand filmästhetischer Untersuchungen und der damit verknüpften Reflexion der vornehmlich okzidentalisierenden, nahezu kulturtheoretischen Aussagen im Film werden diejenigen Nuancen des millî sinema herausgearbeitet, die das Verhältnis von Emigration und Identitätspolitik betreffen. Die leitende Frage ist: Welche Rolle nimmt Emigration in dem Forschungssubjekt Memleketim ein? Wie steht sie zur identitätspolitischen Ideologie, zum Feld der Arbeitsmigration und dem kulturdichotomischen Spielfeld, das der millî sinema-Film entwirft?
9.1.3.
Die verkehrte Abwesenheitssequenz
Bevor die Rolle der Emigration innerhalb der ideologischen Programmatik des millî sinema zu diskutieren ist, lohnt es einen Blick auf die Abwesenheitssequenz im Film zu werfen: Denn war in den bislang untersuchten Filmen stets die in der Heimat lebende home group gezeigt, verfügt Memleketim als einer der wenigen Filme der 1970er über eine solche Sequenz, die die Abwesenheit der home group aus Sicht des Emigranten im Ausland verhandelt. Das Trennungsgefüge, das die Untersuchung von Abwesenheitsszenen motivierte, ist also auch in Memleketim bestimmt. Hier ist es nun der Emigrant selbst, der sich an die absente Mutter mit Briefen und Photographien, also auf Medien der Präsenz/Absenz rückgreifend erinnert. Die Blickposen, die Photographien und das Gesprochene sind dabei vermeintlich unspektakulär, doch sind sie es, die im durchweg europäischen Setting (Wien, Salzburg, Belgrad) einen soziokulturellen Raum eröffnen, der das Gefüge der Emigration als transnational und transkulturell durchsetzt. Die Szene stellt dabei innerhalb des Films zum ersten Mal eine visuelle Ebene her, die Assoziationen mit der Türkei hervorruft. Zuvor wurden nur europäische Settings gezeigt (Wien). Die Sequenz lässt sich nun sehr kurz wiedergeben: Nach einem Gespräch mit den beiden Ärzten, die seine Arbeit betreuen, begibt sich der angehende Arzt auf seinen Heimweg. Angekommen in seiner Wohnung widmet sich Mehmet einem Brief seiner Mutter, den sie ihm aus der Heimat geschrieben hat, und betrachtet dabei Photographien von und mit ihr. Dabei zeichnet die Sequenz eine atmosphärische Rahmung aus: Vor und nach den Szenen, die ihn in seinem Zuhause zeigen, sehen wir ihn auf seinem Weg durch die Stadt (Abb. 46.1). Die Diskrepanz der kulturellen Besetztheit der Räume in Mehmets Emigrationssituation wird also dadurch verstärkt, dass er zuvor in einigen Einstellungen auf seinem Weg durch Wien gezeigt wird. In diesen Bildern ist nur der 33 Evren (2014, S. 75).
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Ton des Straßenverkehrs durch hupende und fahrende Fahrzeuge zu hören. Die auditive Reduktion in diesen vorhergehenden Einstellungen (Verzicht auf Musik) hebt die incesaz-Musik, die in Mehmets Zimmer einsetzt, atmosphärisch umso stärker hervor. Erst die Diskrepanz zwischen unkonnotierten beziehungsweise ›europäischen‹, musiklosen steinernen Asphaltstraßen samt deutschsprachiger Schilder und Schriftzüge im Verhältnis zu Mehmets mit Holzdielen verkleideter Wohnung samt türkischer Musik intensiviert sich der Eindruck des Gegensätzlichen durch die Besetzung des Raums durch das ›Türkische‹. Dadurch werden jene schon im Poster untersuchten Dichotomien hervorgehoben: grauer Stein vs. Holz, Fokus auf Hintergrundgeräusche vs. Fokus auf Hintergrundmusik, Außenraum vs. Innenraum.34 Zugleich wird in dem abrupten Wechsel der Settings das welterzeugende Potential des Films deutlich. Während zuerst noch die Münchener Straßen und dann das mit Holzdielen versehene, rustikale sowie mit Details aus der Heimat bestückte Zimmer samt türkischer Musikuntermalung sichtbar war (mit Kalligraphien verzierte Teller an der Wand), entfaltet der Film nun binnen weniger Sekunden differente atmosphärische Welten.35 So wird der vollzogene Weltwechsel, der auch die internationale Migration auszeichnet, im kurzen Heimweg des Emigranten und filmmedial in den Filmschnitten vollzogen. Konkret wird Mehmets Zimmer mit einer Atmosphäre des ›Türkischen‹ verbunden, denn mit Eintritt in seine Wohnung setzt im Hintergrund eine Kanun-Musik ein. Dem folgt eine incesaz-Melodie (orientalisches Orchester)36 , die hörbar wird, als er den Brief seiner Mutter öffnet. Der Text des Briefes ist in Form eines mit Hall-Effekt versehenen voice over der Mutter gesprochen. In ihrer Sprache ist kein eindeutiger anatolischer Erzurum-Dialekt enthalten. Ihre Sprache stellt eher eine Hybridform dar, die bestimmte umgangssprachliche Verkürzungen von Verben und anderen Worten birgt, welche die Ruralität indizieren sollen. Im Yeşilçam-Kino sprechen insbesondere Städter_innen generell Hochtürkisch und auch Mehmet und Leyla sprechen ein solches. Der Dialekt zeigt in den Filmen die Ruralität und regionale Zugehörigkeit einer Figur an, wobei das Hochtürkisch das Bildungsniveau oder die Klassenzugehörigkeit antizipiert. Doch auch in zahlreichen Dorffilmen wird noch Hochtürkisch gesprochen. Grund hierfür ist die hochtürkische Sprache der Dialogautor_innen. Sie haben nicht immer milieugetreu geschrieben, so aber eine sprachliche, meist verfremdende Hybridform geschaffen.37 Im voice over, der scheinbar den Brieftext wiederzugeben scheint, spricht Mehmets Mutter von der Sehnsucht nach ihrem Sohn und dem Wunsch seiner baldigen Heimkehr. Der voice over wird hörbar, nachdem uns eine Großaufnahme Mehmet zeigt, der mit gesenktem Blick im Brief liest (Abb. 46.2). Als Mehmets Blick sich vom Blickobjekt 34 Musik ist häufig ein Erzeugungsmedium für fremdkulturelle oder nationale Räume in YeşilçamFilmen: In fast allen Emigrationsfilmen indizieren Musik und Panorama-Aufnahmen europäischer Städte den Westen oder Deutschland. Siehe zum Beispiel El Kapısı, Oğlum Osman, Almanya’da Bir Türk Kızı, Hayatımızın En Güzel Yılları (»Die schönsten Jahre unseres Lebens«) (1972). 35 Vgl. Tröhler (2012). 36 Meist bestehend aus ud (Saiteninstrument), der kanun (Kastenzither) und weiteren wechselnden Instrumenten wie Tamburin sowie kemençe (Kastenhalslaute). 37 Die Sprache, so wie viele andere Eigentümlichkeiten des Yeşilçam-Kinos auch, werden häufig durch türkische Stand-Up Comedians humoristisch verhandelt, die zum Beispiel die irreale Redeweise persiflierend nachahmen.
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(Brief) leicht abwendet und er leicht nach links blickend zu grinsen beginnt (Abb. 46.3), setzt ein Schuss auf eine Photographie ein (Abb. 46.4). Es bleibt unklar, ob es sich bei der Detailaufnahme der Schwarzweißphotographie, die Mehmet und Mutter in frontaler Aufnahme nebeneinandersitzend zeigt, um eine Erinnerung oder eine Photographie auf dem Tisch handelt, denn es ist kein Bilder- oder sonstiger Rahmen außer der Kadrage sichtbar. Mehmets Existenzmodus ist, und das wird die Beschreibung sogleich zeigen, dadurch gekennzeichnet, dass er nicht mehr bei sich selbst ist. Er ist seinen inneren Bildern erlegen. Der Körper befindet sich physisch in Wien, aber in Gedanken ist er woanders. Dieses »Woanders-Sein« ist dann selbst ein Migrationszustand, da das Subjekt darin geistig von den raumzeitlichen Koordinaten des Körpers entortet ist.38 Die Blickchoreographie folgt also einer Doppelbewegung von Blick und dem Anzeigen der beiden Photographien, wobei die inneren Prozesse der Figur visuell unverfügbar beziehungsweise ungezeigt bleiben. Es gibt keine Vereindeutigung der Gedanken Mehmets, keinen voice over wie im Falle Fatmas, der seine Gedanken expliziert, sondern aufgrund der Blickbewegungen ins »Leere« verbleibt allenfalls die Möglichkeit der Deutung einer Geistesabwesenheit, oder genauer: einer kurzzeitigen Insichgekehrtheit. Die folgende Beschreibung soll aufzeigen, dass Mehmets Existenzmodus durch ein »Nichtmehr-bei-sich-selbst-sein« gekennzeichnet ist. Es gibt keine Eindeutigkeit über Mehmets Gedanken, kein Voice Over wie im Falle Fatmas (Oğlum Osman), der seine Gedanken expliziert, sondern aufgrund der Blickbewegungen ins ›Leere‹ verbleibt allenfalls die Möglichkeit der Deutung einer so genannten Geistesabwesenheit, oder genauer: einer kurzzeitigen Insichgekehrtheit. Das Unverfügbarhalten der Erinnerungen in Verbindung mit den beiden Photographien vermag imaginationsevozierend wirken (▶ Kap. 6.2.3), doch die Szene scheint vielmehr die Trennung des Subjekts in der Emigrationssituation zu verdeutlichen. Die Abwesenheit von der ›Heimat‹ spaltet Körper und Geist in die unterschiedlichen Orte. Die Sichtoperation Mehmets ist nicht in den Raum gerichtet, in dem er physisch anwesend ist, sondern, wie Sartre es an der »Pathologie der Imagination« formuliert39 , geht der Raum der Imagination mit dem physischen Raum auch keine Verbindung ein.40 Sehr wohl hält aber die Montage der Photographie Indizien bereit, die die Erinnerungsaktionen Mehmets zumindest nachvollziehbar halten: Die Einschätzung darüber, dass sie von Erzurum oder seinem Leben im Dort handeln wird mit dem Aufeinanderfolgen von Photographieaufnahme und der gezeigten Blicke 38 – wobei in dieser geistesphilosophisch naiven Ansicht von der Trennung von Körper und Geist die phänomenologische Einsicht von der Korrelativität und Ko-Konstitutivität zwischen Körper/Leib und Bewusstseinsprozessen zu bedenken ist. Für Letzteres siehe zum Beispiel Waldenfels (2001a, S. 60f.) oder den phenomenological turn in den Arbeiten zur Kognitionswissenschaft, siehe dazu Varela (2005). 39 Vgl. Sartre (1994, S. 234). 40 In Anbetracht materialitätstheoretischer Debatten lässt sich das Verhältnis zumindest nicht so radikal trennen. Siehe zum Beispiel: »Die performativen Prozesse der Produktivität stellen sich kulturell in ganz diversen Formen dar: in sinnlicher Praxis, im Arbeiten, in der Einbildungskraft/Imagination, der Kreativität, der Fantasie, in Emergenzen, dem künstlerischen Schaffen, letztlich auch der biologischen Geburt ebenso wie in der technischen Innovation und des strategischen Managements. Alle diese Produktionsqualitäten sind in ihrem Inneren stets von jenem Moment bewohnt, das wir als Materialität erfahren und wahrnehmen [Hervorhebungen, Ö.A]«, Skrandies (2016, S. 13).
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Mehmets möglich. Dass die Profilaufnahme (Abb. 46.2), die erst das Brieföffnen sichtbar hält, der Nahaufnahme vom Gesicht weicht und von dort aus nochmal zur Normalen mit dem Lampenschirm wechselt, wird mit Blick auf die Notwendigkeit einer Sichtbarmachung plausibel: Die Profilaufnahme zeigt das Öffnen des Briefes, die Nahe vom Gesicht zeigt den Blickwandel, der in der Halbnahen mit dem Lampenschirm zugleich die Stärke des Erinnerungszustands Mehmets verdeutlicht. Der Impuls der Erinnerungsarbeit wurde durch das Öffnen des Briefes zwar gelegt, jedoch wird Mehmet gänzlich von seiner Erinnerung ergriffen, als er den Brief auf den Tisch legt. Nachdem Mehmets Blick sich wieder zum Tisch richtet (Abb. 46.5), setzt ein erneuter nicht einmal ein-sekündiger Schuss auf eine Photographie der Mutter ein, die diesmal mit Bilderrahmen gezeigt wird (Abb. 46.6). Diese Einstellung wird von einer Normalen abgelöst, die aus frontaler Sicht und Normalhöhe Mehmet am Tisch mit Brief zeigt; ein Lampenschirm in Unschärfe rechts ragt in das Bildfeld hinein (Abb. 46.7), sodass die Raumtiefe dadurch abschätzbar wird. In dieser Einstellung wird er sehr kurz (kürzer als eine Sekunde) in nachdenklicher Haltung gezeigt, die sich an seinen Augen deutlich macht. Sie scheinen in einen Raum des Leeren zu blicken: eine Inszenierungsbeziehungsweise schauspielerische Strategie, die über die Steuerung der Blickrichtungen der Figur die Aktiviertheit der Imagination indiziert und schon bei Fatmas Erinnerungssequenz in Oğlum Osman genutzt wurde: Das Einsetzen von Erinnerungen beziehungsweise die Insichgekehrtheit bewegt den externen Blick des Subjekts an einen Ort ohne konkretes Blickobjekt. Bezogen auf die Zuschauer_innen heißt das aber auch, dass sich in der Blickverschiebung der Figur in einen dritten Raum (Gedankenraum, radikaler Raum [Sartre, s.o.]), die Blickhaftigkeit des filmischen Dispositivs selbst ankündigen kann. Dieses Moment der Blickverschiebung auf einen Raum jenseits der räumlichen Gefüge der Mise en Scène bedeutet, dass sich der Blick also auf einen Gedankenraum bezieht, welcher jenseits des filmischen Bildes liegt. Dieses Jenseits als Ort, der nicht mehr in der Ordnung der Sichtbarkeit des Films existiert, teilen im Moment der Rezeption sowohl Zuschauer_innen als auch Figur, wodurch sich der Trennungscharakter des Bildschirms, der die Zu-Ordnung der Blicke verbürgt, durchschritten, labil und damit zur Schwelle werden kann. Die Schwelle und damit die Übergänge41 zwischen den Welten (hier der Welt des Wiener Außen und der Welt des anatolischen Innen) werden schon in dem Augenblick überschritten, in dem die Figur durch die Tür in ihr Zimmer tritt. Die Ver-Setzung des Blicks verbürgt nun das Anblicken eines Anderswo, das zugleich über die diegetische Ordnung und so über den Bildraum hinausweisen kann. Die Schüsse auf die Photographien verschließen die Blicknaht, sodass sich die suture erhalten und das den Bildraum potentiell irritierende Blickgefüge wieder in die filmische Ordnung der Kontinuität domestizieren lässt. Ein zentraler Aspekt der Abwesenheitsszene ist sicherlich die Abb. 46.4. Das Fehlen des Bildrahmens, das das Bild der Mutter und Mehmet eindeutig als Photographie bestimmbar beließe, rückt es dadurch in die Nähe des Bildtypus des Erinnerungsbilds beziehungsweise lässt die Unterscheidung von »subjektivem und objektivem Wahrnehmungsbild«42 schwierig werden, obwohl mit der Unbewegtheit das Zeitregime der Pho41 Elsaesser und Hagener (2011, S. 52f.). 42 Deleuze (2005, S. 103f.).
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tographie das Photographische des Bildes geradezu als Annahme aufzwingt. Dennoch verbleibt eine Unentscheidbarkeit im Hinblick darauf, in welcher Relation die Photographie zu den räumlichen Verhältnissen in Mehmets Zimmer steht: Ist es eine Photographie, die auf dem Tisch steht? Wurde sie an die Wand gehängt? Oder ist es eher im Raum der Imagination enthalten (Erinnerung, virtuelles Phantasiebild)? Auch in Oğlum Osman fehlten die Rahmen der Photographien in der konkreten Aufnahme der Kindheitsphotographien in Fatmas Album, sodass auch diese in ihrem Status zwischen Erinnerungs- und Phantasiebildern eigentlich unentscheidbar blieben.43 Allerdings sind in beiden Filmen die Bilder schwarz-weiß beziehungsweise radikal farbentsättigt enthalten und der Bildinhalt darin erschien unbeweglich, sodass es vom medialen Modus her als Photographisches einzuordnen war. Doch auch ein photographisches Bild kann als solches imaginiert, erinnert und phantasiert werden. Es fehlen Indizien, die die räumliche Verortung der Photographie vereindeutigen könnten. Wegen der zeiträumlichen Enthobenheit der Aufnahme von der Photographie kann sie so trotz der »Senso-Motorik« des Films, aus der modalzeitlichen beziehungsweise durch ein Modell von Sukzessivität bestimmten Zeitlichkeit des Films herausfallen und so Momente der Zeit-Bildlichkeit hervorrufen. Betrachtet man dieses Fehlen von raum-zeitlichen Markern in jener Photographie-Einstellung als Loslösung der raumzeitlichen Indexikalität zur Raum-Zeit-Origo der Einstellung zuvor, dann liegt ausgehend vom Kontinuitätssystem also ein faux accords vor. Dies ist für Deleuzes Filmtheorie wenig tragisch. Es sind ja genau die falschen Anschlüsse, die nicht den Ausnahmefall des Films stellen, sondern konstitutiv zu seiner Ordnung gehören44 . Das Kontinuitätssystem ist nichts, dass das Medium selbst verbürgt. Die »faux accords«, wie sie Deleuze nennt, sind nicht der Ausnahmefall des Films, sondern seine Regel: In der Projektion eines Filmes wird die Illusion einer Zusammensetzung eines bewegten aus unbewegten Bildern bereits unterhalb der Wahrnehmungsschwelle korrigiert. Es ist die Macht des Falschen, durch die sich die Wahrnehmung im Kino konstituiert: als Perzeption eines Wahren, das vom Falschen niemals streng zu trennen ist. Während die verschiedenen Künste auf verschiedene Weise das Falsche zu erreichen vermögen, ist das Kino die einzige Kunstform, die es niemals verlässt. Doch statt ein Mangel zu sein, ist das die Bedingung seiner besonderen Macht. Was man im Kino einen falschen Anschluss zu nennen pflegt, ist nur ein besonderer Fall jenes Falschen, das auch die richtigen Anschlüsse erzeugt.45 Für ein Konzept von Migration bedeutet das, dass Abwesenheitsszenen, die auf Erinnerungs- oder Imaginierungsaktivitäten der jeweils fokussierten Partei verweisen (home group oder Emigrant), das Trennungsgefüge in der Migration nicht nur in der geographischen Getrenntheit (Settingwechsel), sondern in der komplexen sozialen, räumlichen, zeitlichen sowie inneren Relation zueinander (Begehren, permanente 43 Die Montage wies mit der Einstellung vorher einen stärkeren Bezug zur Voreinstellung auf, sodass im Hinblick auf den Versuch der Kontinuitätserzeugung im Falle von Oğlum Osman eine stärkere Rahmung der Einstellungen als Aufnahmen von Photographien stattfand. 44 Vgl. Zechner (2003, S. 44-48). 45 Zechner (2003, S. 45).
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gedankliche Abwesenheit) sichtbar machen können. Die Einstellung von der Photographie kann verschiedenen Modi zugeschrieben werden (Erinnerungsbild, Phantasiebild [virtuelles Bild], Vergangenheitsbild et cetera), weil sie in ihrer Relation zur Einstellung zuvor unterbestimmt ist. Hieran zeigt sich, dass mit abnehmender Belehnung einer Einstellung an die vorherige, die Unbestimmtheit beider Einstellungen zueinander und an sich zunimmt. Wie in den anderen Filmen wird die Photographie so zum innerfilmischen Medium, das das von der Emigration erzeugte Trennungsgefüge in seiner Komplexität vernehmbar hält und damit »ontologisch stabilisiert«46 . Weil Migration ein zeitlicher Prozess ist, das Trennungsgefüge also prozessual zu denken ist, reichen solche, die »sensomotorische Logik«47 des Films durchschreitenden falschen Anschlüsse in einzelnen Momenten in das zeitliche Gefüge der Migration hinein. Auf der Wahrnehmungsebene fallen sie nicht auf, sie werden als »Durchschnittsbild erzeugt, das in Bewegung ist«48 . Schließlich mag das Photo von Mehmet und seiner Mutter zwar als Verweis auf seine geistige Aktivität fungieren, doch kann sie über ihren Status als indexikalischer Hinweis auf jene fiktiven inneren Bilder einer fiktiven Figur (Mehmet) auch nicht hinausweisen, weil die geistige Aktivität an sich nicht sichtbar werden kann. Die Materialität von Denkbildern und die Materialität des photographischen Filmbilds sind nicht identisch, aber man kann sie filmtheoretisch als solche annehmen. Das heißt, dass eine Trennung von »Bewusstsein und Bewusstseinsinhalt« aufzugeben und das Filmbild mit Deleuzes Konzeption gesprochen als »Immanenz«, als Ununterscheidbarkeit von Bild und »Leben« anzunehmen ist.49 Die Montage, die aus beiden Einstellungen (Nahaufnahme Mehmet nachdenklich und Einstellung von der Mutter) resultiert, rückt es aber in jene Sphären des Deleuze’schen Zeit-Bildes, in dem aus der indexikalischen Funktion der Photographieeinstellung zugleich ein solches Bild wird, das die geistige Aktivität nicht nur metaphorisieren, kommentieren, allegorisieren, repräsentieren kann, sondern als Kristallbild in seiner zweiten Bedeutung bestehen kann: Um ein Ereignis zu verstehen, gehen wir normalerweise davon aus, dass es eine Gegenwart hat, die sich von seiner Vergangenheit und Zukunft unterscheidet. Dies aber ist, so Deleuze, eine Sicht auf das Ereignis, die ebenfalls im Wesentlichen den Zeitbegriff an räumliche Vorstellungen bindet. Man kann Zeit nämlich auch als Gleichzeitigkeit von Gegenwart der Vergangenheit und Gegenwart der Gegenwart und sogar von Gegenwart der Zukunft verstehen, denn, wie oben dargelegt, ereignet sich Zeit ja gerade an dem Schnittpunkt von Bewahren und Vorübergehen. Es geht dann nicht um das Bewahrte oder das Vorübergegangene, sondern um beides zugleich. Das eigentliche Ereignis enthält mehrere zeitliche Momente zugleich, die in der geläufigen Vorstellung nacheinander ablaufen, es zieht also diese verschiedenen Momente zu einem Ereignis zusammen.50 46 47 48 49 50
Skrandies (2016, S. 12-13, 35). Vgl. Deleuze (2005). Zechner (2003). Vgl. Elsaesser und Hagener (2011, S. 198f.). Fahle (2002, S. 104).
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Man kann dieses Filmbild von der Photographie wegen dieser Annahme von der Gegenwart, die in sich Vergangenheit und Zukunft enthält, als »Denken des Films«51 verstehen, als ein Denken von zeitlicher Relationalität, das sich in diesen montierten Bildern vollzieht. Lorenz Engell verwickelt dieses Denken in den Begriff der »kinematographischen Agentur«, um daran die Agentialität des Films hervorzuheben. In der Weiterführung Engells ließe sich von der »kinematographischen Agentur« der Montage sprechen.52 Als Denkoperation, »erzählt« diese dann nicht nur, dass Mehmet in Gedanken versunken ist und mit dem Schnitt auf das Photo zeigt die darauf folgende Einstellung nicht nur ein Stück des dekorativen Mobiliars des Tisches samt der Photographie und das Stück gewesene Familiengeschichte, dass darin repräsentiert und indiziert ist. Sondern sie vollzieht in der Unentscheidbarkeit danach, innerhalb welcher Zeitschicht und innerhalb welcher komplexen Zeitoperation und Figuration von »Zeitspaltung«53 diese anzusiedeln ist, ein Denken an sich, das sich nicht als die eine oder andere Bedeutung fixieren lässt, sondern als »Immanenz«54 besteht. Zurück zur Szene: Nun setzt die Musik wieder etwas lauter ein und Mehmet richtet seinen Blick erneut zum Brief. Die Szene endet mit einer Einstellung, die den Emigranten in einer Totalen vor einer Werbetafel für eine Modemesse in München zeigt (Abb. 46.8). Diese Spannung aus der Unbewegtheit des Körpers des Emigranten in der heimischen Einstellung samt der Erinnerungsakte einerseits und der Bewegtheit des Körpers in den Einstellungen davor und danach in der Stadt (davor reist er mit Tram und zu Fuß durch die Stadt nach Hause und danach spaziert er hastig in der Münchener Innenstadt), die ihn in Bewegung zeigen andererseits, doppeln jenes Schicksal, die eine migrantische Existenzform stets auszeichnet: in permanenter Bewegung und Deplatzierung (die Sehnsüchte mobilisieren das Begehren, welches sich immer an das heimatliche oder das heimatlich angenommene Dort richtet55 ).
9.1.4.
Okzidentalisierung I: Die Rollenspielszene Meine Filme […] sind auf einer TürkeiWesten-Dialektik errichtet.56 (Yücel Çakmaklı, Milli Sinema, Milli Televizyon: Yücel Çakmaklı57 )
Schon am Plot wird deutlich, wie sich der Film in Çakmaklıs Œuvre fügt. Er operiert auf der Grundlage von Okzidentalisierung und macht sich dafür die migrantische Existenzform der beiden Protagonist_innen zu Nutze: Leylas migrantische Existenzform ist von Assimilation und Europhilie geprägt. Die Europhilie verdankt sie unter anderem 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Krtilova (2010). Engell (2010). Fahle (2002). Elsaesser und Hagener (2011, S. 198f.). Vgl. Gutiérrez Rodríguez (1999). »Filmlerim [...] bir Türk-Batı diyalektiği üstüne kurulmuştur.« Çakmaklı in Arslan (2014a). Çakmaklı in Arslan (2014a).
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Abbildung 46.1-8 – Standbilder aus Memleketim (1975)
der Erziehung durch die modern-säkularen prowestlichen Eltern. Damit setzt die Entwicklung von der Europaliebe zwar schon in der Türkei an, entfaltet sich aber erst im Ausland durch eine westliche Ausbildung als Musikstudentin und den Lebenserfahrungen, die sie dort macht. Mehmets Haltung besteht demgegenüber in Widerstand gegenüber westlichen ›Verlockungen, funktionaler Aneignung des Wissens aus dem Westen und der Bewahrung einer ›anatolischen Identität‹ und nationalistischer Grundprinzipien. Trotz der gegensätzlichen Anlage eint beide Figuren, dass sie das, was sie aus ihrer ›Heimat‹ mitnehmen, in ihrer Emigrationssituation fortführen oder ›bewahren‹. Während bei Leyla die Fortführung und Bewahrung in einer Intensivierung und Modulierung der aus der Heimat (Istanbul) eingebrachten Europhilie besteht, liegt sie bei Meh-
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met in einer Bewahrung und Verteidigung des Anatolischen und einer Überzeugung von der national-sozialen Verantwortung des Individuums. Die mit dieser Figurenkonstruktion einhergehenden essentialistischen Vorstellungen von Identität, die schon Oğlum Osman auszeichnete, operieren auf der Grundlage der so genannten ContainerVorstellung58 , die das Programm einer Preservation verbürgt (▶ Kap. 6.5.4). Damit sind solche Konzepte von Identität und Raum gemeint, mit denen menschliche Subjekte oder Räume als Behälter vorgestellt sind und die einen irgendwie gearteten Inhalt in sich zu enthalten vermögen. Zumal in Kapitel 9.3 nochmal konkreter auf Identitätskonzeptionen einzugehen ist, reicht es hier anzumerken, dass beide ideologischen Filmprogrammatiken und viele der anderen Emigrationsfilme eben jenem essentialistischen Raum-59 und Identitätsmodell folgen. Aber nicht nur eine solche Identitäts- und Raumvorstellung wird im Film verbürgt: Die Stadt Wien als Setting, in dem beide Protagonist_innen mit ihren Dispositionen aufeinandertreffen, wird mit ihrer historisch bedeutsamen Rolle für die Geschichte des osmanischen Reichs und damit des Islams auf repräsentationslogischer Ebene eingebunden: Es ist der Ort, an dem der Westen durch militärische Siege die Expansion des Ostens beziehungsweise des osmanischen Reichs über das weitere Europa abwehren konnte. Zugleich doppelt Memleketim das pädagogische Verfahren der Wissensvermittlung (Zuschauer_innen und verwestliche Protagonistin Leyla) in den Sequenzen, in denen Mehmet die junge Leyla historisch über das osmanische Reich aufklärt. Damit geht der Film sowohl bei Leyla als auch bei den Zuschauer_innen potentiell von andersgewordenen beziehungsweise der Gefahr der Anderswerdung ausgesetzten türkischen Subjekten aus. Durch die Wissensvermittlungen sollen diese eine Perspektivenverschiebung im Hinblick auf ihre Einstellung zum Westen erfahren (Abwertung desselben und Aufwertung des türkischen Eigenen) oder die Vermittlungen sollen bei »gesunden« Zuschauer_innen zu einer Festigung oder Bestätigung ihrer pro-türkischen Dispositionen führen. Die Wissensvermittlung intensiviert sich auf der interpersonellen Kommunikationsebene zwischen den Figuren, die beide durch den Wunsch der Überzeugung des jeweils anderen durch ihre Weltsicht motiviert sind. Mehrmals betont der angehende Arzt seine Verbundenheit zum und seine Verantwortung gegenüber dem Anatolischen und weist Leylas Insistieren, dass sie zu den Hippies gehöre, zurück. Mehmet zufolge sei sie ein im Kern bestimmter Mensch, eine Türkin, die sich von ihren HippieFreunden maßgeblich unterscheide. Ihrer liberalen Überzeugung, dass alle Menschen unabhängig ihrer Hautfarbe und Herkunft gleich und frei seien und dass aufgrund von zunehmendem Verschwinden nationaler Grenzen das Nationale keine Rolle mehr spielen werde, begegnet der Bildungsmigrant während ihrer zahlreichen Unternehmungen mit dem Argument, dass sich Menschen als soziale Wesen notwendig zu Gemeinschaften zusammenfinden und Zugehörigkeiten entwickeln müssten. Bemerkenswert und für Yeşilçam-Verhältnisse auch außergewöhnlich an dem Film ist zudem, dass beiden Figuren keine ausgeprägte geschlechterhierarchische Beziehung 58 Für eine Kritik der Container-Metapher im Migrationsforschungskontext siehe Hess (2011). 59 Zur Kritik am essentialistischen Raummodell im Kontext der Migrationsforschung siehe Scheibelhofer (2011).
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zugemessen ist: Mehmet und Leyla treten als verhältnismäßig selbstbestimmte Figuren auf, die einander Raum zur Artikulation und Entscheidungsfindung überlassen. Keine_r der beiden zwingt dem/der jeweils anderen etwas auf, obgleich beide davon angetrieben sind, den/die jeweils andere/n von der Richtigkeit seiner/ihrer Haltung zu überzeugen. Sehr offensichtlich wird sich das Machtverhältnis in einer bestimmten Szene in einem Modus der Theatralität zugunsten von Leyla verkehren, wobei zugleich zu bedenken ist, dass die vom Film als moralisch und ideologisch ›richtig‹ angenommene Haltung dem Mann zugewiesen ist. Das heißt, dass der Film durchaus heterosexuelle Normativität dadurch reproduziert, dass er zum Beispiel Männlichkeit als mit einer Wissenssouveränität ausgestattete und das Weibliche demgegenüber als emotional bestimmte, erlebnisorientierte Instanz darstellt. Ganz besonders reproduziert der Film auch in seinen Bildpolitiken die Achse der Geschlechterdifferenz zu Gunsten des Männlichen als ›Wahren‹, ›Richtigen‹, ›Rationalen‹: Der Logos, den Mehmet verkörpert, ist ein männlicher und als solcher durchzieht diese Vorstellung vom Männlichen als weltbestimmender Logos auch die strukturale Matrix des Films. Wenn hier also festgestellt wird, dass der Film auf der Diskursebene eine gleichberechtigte soziale Beziehung suggeriert, heißt das zweierlei: Erstens sollen damit nicht die komplexen Mächteverhältnisse in interpersonellen Beziehungen ignoriert sein. Sie zeigen sich im Film auf mikrosozialer Ebene, die hier aber in dieser Hinsicht nicht weiter interessieren soll. Zweitens – und hier zentral – hilft die Aussage nach der geschlechtlichen Gleichberechtigung auf sozialer Ebene die Konstruktion des Films zu verstehen. Das soll aber nicht heißen, die Wachsamkeit gegenüber den unbewussten oder ästhetischen Durchsetzungsverfahren der »männlichen Herrschaft«, die der Film als »doxa«60 herstellt, ad acta zu legen. Und dennoch widmet sich die vorliegende Arbeit diesen filmischen oder diskursiven Verfahren gar im untersuchten Gesamtkorpus nur punktuell, nicht programmatisch. Zur ideologiestrategischen Anlage des Films gehört, dass der Rahmen einer Liebesbeziehung benutzt wird, um in dieser engen sozialen Bindung der beiden Protagonist_innen die Einwirkungsverfahren des/der einen gegenüber dem/der anderen auf einer intimeren Ebene anzusetzen. Das resultiert darin, dass die vermeintlich widerstreitenden Positionen einander enger entgegengesetzt, thesenhaft durch die Figuren verhandelt und dilemmatische Situationen hervorgerufen werden können, die die Melodramatik und so die affektiv-somatische Involvierung der Zuschauer_innen steigern. Die Thesenverhandlung wird zwar melodramatisch und damit affektiv verknüpft, dient aber nicht nur zur Affizierung der Zuschauer_innen, sondern auch der identitätspolitischen Zwecksetzung des Films. Das Genre des Melodramas basiert darauf, erzählerische und filmästhetische Mittel so zu konzipieren (unter anderem Fokalisierung) dass sich eine zeitliche Besonderheit im Gefüge von Erzählung und Zuschauer_innen ergibt, die deren Weinen oder ihre Tränen verbürgt. In Anlehnung an Franco Moretti formuliert Thomas Elsaesser das so: Tränen folgen aus der Hilflosigkeit als Resultat exzessiver Gerechtigkeit, d.h. Ungerechtigkeit; zweitens bedarf es eines plötzlichen, aber sorgfältig vorbereiteten Wech60 Vgl. Bourdieu (1997).
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sels der Erzählperspektive und des Point of View, der das Wissensgefälle zwischen den Figuren, aber auch zwischen Figuren und Zuschauer verändert. Drittens muss es einen Augenblick der Erkenntnis (oder Anagnorisis) geben, eine Erkenntnis indes, die zu spät kommt […]. So ist etwa das Melodram nicht nur ein Genre des zu spät, sondern zu einem Gutteil auch eines des wenn doch bloss, der Zeitlichkeit der Reue also.61 Schnell lassen sich die genannten Charakteristika an Memleketim identifizieren: Zu spät ist Leylas Erkenntnis danach, dass eine turkisierte Identität ihrem Wesen entspricht. Die Anerkennung ihrer Wesensidentität als Türkin hätte ihre Beziehung mit Mehmet aufrechterhalten können. Zu spät kommt die Rückbesinnung deswegen, da Mehmet bereits geheiratet und zwei Kinder bekommen hat und eine Liebesbeziehung zu ihm damit unmöglich erscheint. Die Erzählperspektive und damit die Wissensfigurationen zwischen Zuschauer_innen und Figuren bestehen zum einen in der vornehmlichen Fokalisierung auf Mehmet im ersten Teil des Films und zum anderen in der Fokalisierung auf Leyla im zweiten Teil. Die Irreversibilität ihrer Entscheidung zur Trennung von Mehmet, die sich in der Kenntnis von der Ehe hätte früher erkennbar zeigen können, entsteht so als Überraschungsmoment für die Zuschauer_innen und Leyla. Damit realisiert sich genau jener »plötzliche[], aber sorgfältig vorbereitete[] Wechsel[] der Erzählperspektive und des Point of View, der das Wissensgefälle zwischen den Figuren, aber auch zwischen Figuren und Zuschauer_innen verändert«62 . Die beiden Abschiedsszenen an den Bahnhöfen evozieren im Symbol der Abfahrt und einer Blickchoreographie der Trennung, die mit mehreren herauszoomenden Schuss-Gegenschüssen auf die sich immer weiter entfernenden Gesichter aufgenommen ist, ebenfalls Zeitkonzeptionen des Melodrama: Sobald der Zug abgefahren ist, ist es schon zu spät für eine Abwendung des unglücklichen Umstands. Die mit der Abfahrt einhergehende Absenz des Geliebten wird radikal und die Entscheidungen bleiben dadurch irreversibel. Die lange Dauer der Zugabfahrt, die durch die vielfachen Blickwechsel noch länger erscheint, ziehen den Schmerz von der Vermeidbarkeit der Trennung gleichsam in die Länge. Mit der Zugabfahrt werden die Zuschauer_innen aufgrund ihrer Unfähigkeit in die Szenerie zu intervenieren, um das Unheil zu verhindern, in eine Konfiguration von Grenzerfahrung gebracht, die aus der Spannung zwischen der Unbeweglichkeit des Körpers und der umso stärkeren Affizierung aufgrund des impliziten Interventionsdrangs besteht. In der Anspannung zwischen dem Wunsch, in das Geschehen einzugreifen, um das Leid und Unglück abzuwenden, und der Immobilität des Zuschauer_innenkörpers wird die Einschreibekraft dieser Anspannung durch die Zeitdehnungen gleichsam erhöht. Besonders der zweite Abschied von Leyla in Erzurum evoziert das Moment der Reue und damit der Tränen der Zuschauer_innen, da die Einsicht nach der Annahme einer türkischen Identität schon zu spät ist. Die identitätspolitischen Zwecksetzungen des Films beziehen sich immerhin darauf, entsprechende63 Zuschauer_innen zur Anerkennung einer ver61 Elsaesser (2009, S. 427f.). 62 Elsaesser (2009, S. 428). 63 Der Film bleibt den Hinweis schuldig, welche Menschen denn überhaupt einer Turkisierung überführt werden sollten. Worin ersieht Mehmet Leylas türkischen Kern? Operiert der Film oder die Figur
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meintlich turkisierten Wesensessenz, zum Widerstand vor europhilen Verführungen und zur Übernahme einer national-sozialen Verantwortung als Lebensprogramm zu motivieren. Weil die zeitliche Logik des Melodramas im Film aufzeigt, dass eine zu spät einsetzende Turkisierung unwiederbringliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, resultiert aus der Produktion der Reue-Konfiguration zugleich ein pädagogischer ›Fingerzeig‹, der eine zeitliche Dringlichkeit in die implizite Aufforderung zur eigenen Identitätsprüfung und -veränderung einzubringen vermag. Dem Film ist dadurch eine Dringlichkeitsdramaturgie eingeschrieben. Wenn sich Leylas Reue schließlich in einen nationalistischen Drang verkehrt und in der Motivation mündet, in Deutschland Türkisch-Lehrerin zu werden, um die Kinder vor ihrer europäisierenden Verfremdung zu bewahren, dann wird darin zugleich Leylas Lebensmodus von Selbstverwirklichung zur Selbstaufgabe transformiert.64 Nicht nur die Modalität als melodramatischer Film fügt sich in das Programm des Films, sondern auch das erwählte soziale Milieu, in dem im Film die Handlung verortet wird. Auf der Ebene der Erwählung jener Milieus ist so zum Beispiel markant, dass beide Figuren als Personen mit hohem Bildungsniveau angelegt sind. Die Migrant_innen sind, so wie in Oğlum Osman auch, keine Arbeitsmigrant_innen, sondern Bildungsmigrant_innen. Beide studieren. Sie gehören damit zugleich – obwohl Mehmet der Sohn einer allein erziehenden anatolischen Dörflerin und damit in der ›Unterschicht‹ sozialisiert ist – auch einem ›gehobenen‹ sozialen Milieu an oder bewegen sich souverän in einem solchen Umfeld (hohe soziale Mobilität). Diese Zugehörigkeit und das ausgeglichen angelegte Machtverhältnis wird in einer markanten Szene problematisiert. In dieser Szene ist eine mediale Dopplung enthalten, die die Involviertheit des Films in repräsentationspolitische Fragen rund um die Arbeitsmigrant_innen und der Emigration vollzieht und wegen dieser für die 1970er Jahre außergewöhnlichen Diskurrierung von besonderer Relevanz für die vorliegende Untersuchung ist. Das Rollenspiel: Arbeitsmigration, Repräsentation, Anrufung In dem folgenden Unterkapitel untersuche ich eine Szene (Abb. 47), die die Themen Arbeitsmigration und Repräsentationsmacht in einer medial komplexen Weise verhandelt65 . Die Szene (→) ist insofern zentral für den Film sowie das millî sinema und dessen Verhältnis zur Emigration, als dass sie ein Kraftzentrum ausmacht, an dem die scheinbar irrelevante Rolle der Arbeitsmigration als zentrales Moment der Identitätspolitik auf einer Vorstellung von nationaler Identität, die zum Beispiel ius soli (Ort der Geburt) oder die ius sanguinae (biologistisch) verbürgt ist? 64 Dass in den zeitlichen Bestimmungsversuchen um das Melodrama im Verhältnis von Ereignis und Handlung phänomenologische Zeitbestimmungen Differenzierungen und andere Konstellationen der Reflexion darüber nach sich zögen, muss Verweis bleiben. Weil mindestens die Zuschauer_innen (vielleicht auch die Figuren?) ahnen, dass die Krise auf sie zukommt, gehört in einen Bestimmungsversuch des Melodrama auch eine Erörterung nach der Rolle der Zeitlichkeit von der Dauer dieses »Auf mich Zukommens« der Krise. Dem »Zu Spät« geht die Dauer von der Ahnung der Unvermeidlichkeit der Krisis voraus, die das Ausmaß des affektiven Potentials durchaus mitbestimmt. 65 Sie ist metamedial, da sie die Medien der Theatralität, der Zeitung und der Photographie involviert. Damit ist die Szene in Memleketim auch ein Metabild. Zum Begriff des Metabildes siehe Mitchell, W. J. T. (2008b, S. 324ff.).
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des Films durchschimmert. Dies geschieht durch die sprachlich-diskursive Thematisierung der Arbeitsmigrant_innen in einem Rollenspiel, das die Figur der Leyla initiiert. Darin kann sie provokante Aussagen artikulieren, die sich auf einen westlich-zivilisatorischen Überlegenheitsdiskurs berufen. Zugleich ist das erwählte Rollenspiel eine Interviewsituation und damit eine situative Konstellation, die Fragen nach Repräsentationsmacht im Kontext der West-Ost-Dichotomie aufwirft. Beschreibung: Rollenspielszene Nachdem das Paar Salzburg urlaubsmäßig erkundet und in den vielen Schaufensterläden die Mozartsouvenirs sieht, photographiert Leyla den angehenden Arzt vor dem Salzburger Domplatz. Plötzlich entschließt sie sich mit dem Apparat in der Hand zu einem Rollenspiel und gibt sich als Reporterin der Wiener Post aus, die eine »Serienreportage über Ausländer_innen in Österreich vorbereitet«. Im Gespräch äußert sie die Vermutung, dass der Befragte (Mehmet) »sicher zu den vielen Arbeitsmigranten« gehöre, die gerade »nach Europa kommen«. Dann fügt sie die Frage hinzu, wo er denn arbeite: »auf dem Bau, der Fabrik, der Kohlenmine oder in der Reinigung?« Mehmet entgegnet mit dem Hinweis auf seine Arztausbildung. Leyla spielt daraufhin sarkastisch die Überraschte darüber, dass sich die »Barbaren« inzwischen auch mit »wissenschaftlichen Angelegenheiten« auseinandersetzten. Sie weiß ja, dass Mehmet Arzt werden wird. Daran anschließend sagt sie, ohne die sarkastische Grundhaltung auszusetzen, dass es schön sei, einen »Barbaren« als »Missionar« zu haben, der die »europäische Kultur« in seine Heimat importieren werde. Mehmet entgegnet genervt mit der Antwort, dass er »lediglich etwas von ihrem [europäischen, Ö.A.] Wissen mitnehme«. Daraufhin wird die Szene von einer abgelöst, in der Leyla mit dem Selbstauslöser der Kamera ein gemeinsames Photo vor der Festung Hohensalzburg schießt, das beide glücklich zeigt. Es vermittelt sich dadurch der Eindruck, dass beide trotz des antagonistischen Rollenspiels zuvor noch glücklich gestimmt sind. Die Rollenspiel-Szene besteht konkret aus sechs Einstellungen: zunächst aus einer Halbnahen auf Mehmet vor der Mariensäule, dem Gegenschuss auf Leyla, die die Kamera aufzieht, zwei Totalen, die den Domplatz und die beiden Protagonist_innen zeigen, einmal mit leichter Untersicht auf den Dom und einmal mit etwas totalerem Panoramablick, sowie mehreren Halbnahen jeweils auf Leyla und Mehmet als SchussGegenschuss-Aufnahmen (Abb. 47.3-4). Dass das Ganze auf dem Domplatz und mit Glockengeläut einer Kirche im Hintergrund läuft, nimmt die konnotative Verknüpfung des ›Christlich-Westlichen‹ für den Raumeindruck vor. Noch später im Film wird das Glockengeläut Leylas Re-Turkisierung vorwegnehmen und schließlich auch initiieren. Auf auditiver Ebene kommt hinzu, dass die Versetzung der gesprochenen Sprache der beiden Figuren mit einem Hall-Effekt der Vernehmbarmachung ihrer Anwesenheit auf einem öffentlichen und offenen Platz geschuldet ist. Zugleich erzeugt dieser Effekt in Verbindung mit dem Fehlen weiterer Hintergrundgeräusche einen Eindruck von Weiträumigkeit und von einer relativen Leere des Platzes (auch wenn durchaus einige Menschen vor dem Dom entlanggehen). Die Totale, die besonders den Hintergrund samt dem Salzburger Dom und die vor ihm befindliche Mariensäule in Relation zu den beiden menschlichen Figuren groß erscheinen lässt, produziert zugleich den Raum des
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›Christlich-Westlichen‹ als quantitativ übermäßig präsentes Feld. Mit dem Glockengeläut dominiert das ›Christlich-Westliche‹ auch auf auditiver Ebene die Interviewsituation. Der Ton ist in Relation zum Dialog so abgemischt, dass das Glockengeläut das Gespräch der beiden zu Beginn schwer verstehen lässt. Die Durchsetztheit des Settings und damit auch der Wahrnehmungsebene durch Kirche und Glockengeläut produziert so eine Vereinnahmung durch das ›Westliche‹. Die Domplatzszene kann so quasi als ›Heimspiel‹ für und Vereinnahmung durch den Westen gelesen werden, innerhalb dessen Leyla ihr Gegenüber durch ihre Aufnahme- und Befragungssouveränität aus dominanter Stellung heraus als Handlungsobjekt zu ›bearbeiten‹ und ›in die Ecke zu drängen‹ in der Lage ist. Denn sie ist es, die das Rollenspiel initiiert und steuert. Die visuelle Konstruktion der Szene arbeitet generell auf die Vereinnahmung Mehmets hin, erzeugt auf visueller, architektonischer, räumlicher, auditiver Ebene eine Begrenzung desjenigen Elements in der Szene, das als einziges nicht als dem Westen zugehörig angenommen ist. Vereinnahmung Mehmets: Visuelle Konstruktion, Architektur, Blicke Der gespielte Modus des Dokumentarischen beziehungsweise der Reportage, den Leyla mit der Kamera einnimmt, rahmt in der Szene die Perspektive auf Mehmet, der ihr Befragungsobjekt wird. Dabei figurieren Aufnahmesituationen spezifische Souveränitätspositionen66 , also auch hier: Es gibt die Aufnehmende und den Aufgenommenen. Der von Leyla gespielte Modus des Journalistischen weist aufgrund des Ziels der Fremdexploration eines ›Ausländers‹ auch eine ethnographische Komponente auf. Dadurch wird das intersubjektive Grundverhältnis von Fremdheit, Selbst und Anderer aufgerufen. Die visuelle Konstruktion der Szene folgt jedoch keiner Logik des ethnographischen oder postkolonialen Blicks, die mit möglichen Guckkasten- oder Schlüssellochperspektiven, optischen Verzerrungen oder einer bewegten subjektiven Kamera hätte erzeugt werden können. Die durch die Aufnahmesituation Leylas implizit gegebene Souveränitätsposition wird also nicht filmisch durch blick-subjektive Einstellungen umgesetzt. Schuss und Gegenschuss zwischen Leyla und Mehmet in ihrem Gespräch sind nicht als point of view oder over-the-shoulder shots angelegt, sondern beide sind in spitzem Winkel in halbnaher Einstellungsgröße aufgenommen. Daraus resultiert, dass die Kamera an eine impersonale Erzählinstanz gebunden ist, da sie als an keine Figur rückgebunden erscheint. Es ergibt sich keine Solidarisierung mit einer der beiden Perspektiven des Paares. Der Effekt besteht hier in der Entstehung einer Überblickbarkeit und damit der räumlichen Getrenntheit und Positioniertheit der Körper der beiden Parteien auf dem großen Platz zueinander. Dies zeigt sich im Fall von Mehmet als architektonisch, auditiv, räumlich durch ›Westliches‹ vereinnahmte Figur, die durch Leylas Befragen zum angerufenen, interpellierten67 Befragungsobjekt wird. Das ist die Weise, in der die visuelle Konstruktion der Szene zuarbeitet. Auch eine Vereinnahmung Mehmets durch Blickinstanzen gehört dazu: 66 Für eine Auseinandersetzung zur Dimension des Ethischen der Repräsentationen in der dokumentarischen Aufnahmesituation siehe Nichols (2010, S. 45-59, hier S. 48). 67 Althusser (1977).
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Leyla hält in der Hand ihre Kamera und macht Bilder von Mehmet, in dem sie durch den oben angebrachten Sucher mit einiger Distanz blickt68 und ihre Kamera aufkurbelt. Aufgrund des Suchers, der durch einigen Abstand betrachtet werden kann, behält sie ihren Blick durchweg gegen Mehmet gerichtet und photographiert ihn mit der Kamera aus Oberkörperhöhe. Immer nur kurz weicht ihr Blick von Mehmet ab, wenn sie in den Sucher blickt. Diese permanente Entgegenrichtung ihres Blicks, die in der Ausrichtung durch das Objektiv der Kamera auf Mehmet um eine zugleich photographisch, archivierende Blickinstanz ergänzt wird, stellt so eine entsprechende doppelte Blickanrufung her, der sich Mehmet nicht erwehren kann.69 Das Blickfeld auf dem offenen Platz ist so weiträumig, dass er sich den Blickakten Leylas und der Kamera nicht entziehen kann. Obgleich eine fremdexplorative Blickinszenierung also fehlt, zeigt sich in der Szene eine Blickkonstellation auf, die Mehmet durch zwei separat vorhandene Blickinstanzen als Objekt erhält. Die Mariensäule, die rechts im Filmbild verbleibt und zur Vereinnahmung der räumlichen Ressourcen durch ›Westliches‹ beiträgt, dezentriert das Geschehen durch die Kopf- und damit Blickgerichtetheit der Marienskulptur. Die Maria hat ihren Blick gesenkt und steht dem Handlungsgeschehen zwischen Leyla und Mehmet abgewandt zu. Weil vor Marias Kopf der helle Himmel im Hintergrund zu sehen ist, ist ihr gesenkter Blick aufgrund des Kontrastverhältnisses vor weißem Hintergrund und dunkler Statuenoberfläche deutlicher sichtbar. Ihre Blickabgewandtheit ist also durchaus besonders sichtbares Element und arbeitet damit atmosphärisch der Szene zu. Aufgrund der großen Entfernung ist der Gesichtsausdruck der Marienstatue nicht erkennbar. Durch den Entzug des mimischen Ausdrucks und der resignierten, demütig nach unten gesenkten Kopfhaltung wird eine eigenartige Atmosphäre in der Szene erzeugt, die das Blickregime des Films irritiert und so das Geschehen auf dem Platz auch ein stückweit dezentralisiert. Als historisch eingelagerte, unbewegliche biblische Figur, die wie jede ›realistische‹ Statue zwischen dem bildlichen Grund von Belebtsein und Unbelebtsein changiert, erzeugt sie eine Unheimlichkeit. In der hohen Positionierung und der Unfixiertheit ihres Blicks lässt sie zudem das gesamte Feld als Beobachtetes zurück. Wenn Lacans Blickregime als ein uneinholbares Angeblicktwerden gedacht ist, dann scheint die Mariensäule sie in jener Szene zu erzeugen.70 Bezüglich der Positionierung der Körper der Protagonist_innen lässt sich keine einseitige Solidarisierung mit einer der beiden ›Parteien‹ vernehmen. Leyla läuft zwar hektisch um Mehmet herum und stellt in dieser ihn umgebenden Gehbewegung jenen Explorationscharakter her, der einen diskursiven Beherrschungswillen auszeichnet und 68 Es handelt sich um eine Kamera mit oben angebrachtem Sucher. 69 Bei Photokameras mit Sucher, der nah am Kamerakorpus angebracht ist, ist das das Auge des Photographierenden durch das Objektiv der Kamera verdeckt und erzeugt so einen Eindruck einer mit ein-fach blickenden Blickinstanz. Hier sind zwei Blickinstanzen angelegt. 70 Aus meiner subjektiven Seherfahrung heraus, stellt sich das Aufschimmern des Blickregime umso stärker her, je größer der Bildschirm ist, in der die Szene gesichtet wird. Damit gehört zur ästhetischen Bestimmbarkeit, wie zum close reading eines jeden Films, die ich hier zu leisten versuche, die dispositive Rezeptionssituation des Wissenschaftlers zum ›Labor‹-setting dazu, aus der heraus sich eine Erkenntnisgenerierung speist.
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an der umfassenden Dokumentation des fokussierten Objekts interessiert ist. In Minute 22:26 versucht Mehmet den hektischen Bewegungen Leylas jedoch zu entgehen, in dem er parallel neben ihr her- und nicht zu ihr hinläuft. Mehmet bewegt sich damit in Richtung des hors champ, bis er und Leyla nun nicht mehr in totaler, sondern in halbtotaler Einstellungsgröße im Bild zu sehen sind. Doch statt die im Gehen angelegte Fliehbewegung auch auf seine Blicke zu übertragen und damit von ihr wegzublicken, hält Mehmet seine Blicke weiterhin auf Leyla gerichtet, verweist damit also auf eine Haltung des Selbstbewusstseins, die zugleich auf Kontrollabsichten rückgeführt werden kann: Mehmets Blicken auf Leyla bei gleichzeitigem Weggang vor ihr ermöglichen Mehmet, die beobachtende Akteurin ›im Auge‹ zu behalten. Aus dieser psychologisierenden Begründung heraus erscheint das soziale Verhältnis der beiden in der Rollenspielsituation als trennungsbestimmt: Mehmet lässt sich auf Leylas Rollenspiel ein und ermöglicht ihr so die Einnahme ihrer forschen und frechen Rolle. Zugleich bleibt er in seiner eigenen Rolle selbstbestimmt. Die Hände sind in die Jackentaschen versenkt und damit wirkt Mehmet trotz aller Beteiligung reserviert und unwillig. Die Trennungsbestimmtheit setzt sich in der Architektur fort, die als weitere Mehmet steuernde Agentur auftritt: Die Domfront mit ihren drei großen Portalen bildet vor der grauen Gesteinsfront dunkle Einlassungen, die einen Kontrast zu den umliegenden visuellen Elementen bilden. Leyla geht stets so, dass sie im Zentrum der mittleren Einlassung verbleibt. Die anderen beiden Portale rahmen sie also (Abb. 47.2). Mehmet bewegt sich stets so, dass er außerhalb der drei Portale im Hintergrund verbleibt. Diese Positionierung erzeugt so einen umso stärkeren Eindruck der Trennung beider Körper, weil Leyla durch die Eingänge eingerahmt und Mehmet jenseits der drei Einlassungen, also außerhalb der kompositorischen Linien des Domportals erscheint. Die massive Säule und der Dom begrenzen dabei nicht nur das Bildfeld in den Bereich der Tiefe hin, sondern limitieren zugleich den Bewegungsradius Mehmets, der Leylas Explorationspraktiken umso weniger ausweichen kann. Auffällig ist hinsichtlich des Doms besonders die Einstellung, in der Leyla noch nicht mit dem Photographieren begonnen hat und um Mehmet herum gelaufen ist (Abb. 47.1). Dort ist die Perspektive noch untersichtiger und der Dom ist dunkler gefilmt. Aufgrund der untersichtigeren Perspektive erscheint der Dom durch die Verzerrung bedrohlich über Mehmet zu stehen. Das ist eine Einstellung, in der der Dom aus dem Hintergrund heraus sich über Mehmet zu beugen scheint und so dessen Vereinnahmungseffekt durch das Westliche visuell mitvollzieht. Dieser Vereinnahmungseffekt wirkt umso stärker, als dass diesmal die drei vorderen, schwarzdunklen Portale des Doms in Form der drei Einlassungen Mehmet zu ›schlucken‹ scheinen. In Verbindung mit seiner schwarzen Jacke erscheint er so in den dunklen Einlässen verschwindend.71 71 Diese mikroanalytischen Beobachtungen richten sich durch Operationen ein, die nicht unbedingt mit einer flüchtigen Filmrezeption einhergehen. Sie ergeben sich aus der Latenz zwischen einem Filmesehen und der Filmanalyse. Mit Blick auf das Konzept der visuellen Konstruktion, also der Herausarbeitung der visuellen Gestaltetheit in der Welt, in dem sich das Soziale zum Beispiel auch als filmvisuelles Gefüge manifestiert, ist diese Latenz aber nur dann analysehemmend, wenn die Operationalisierung des Filmmaterials jenseits der Untersuchungszwecke verbleibt.
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Abbildung 47.1-4 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Modalität des Rollenspiels Rollenspiele72 sind durch die Modalität des ›Als-Ob‹73 charakterisiert und unterscheiden sich von den sozialen Aufführungen des Alltags dadurch, dass sie von den Akteur_innen bewusst als solches Spiel aufgefasst bleiben.74 Soziale Aufführungen hingegen geben sich kaum als solche zu erkennen, sondern ihr Charakter als Aufführung bleibt oft maskiert, da ihnen derartige Rahmungen zumeist fehlen.75 Das Rollenspiel, das Leyla initiiert, bleibt für Mehmet klar als solches markiert: Sie stellt sich als Reporterin vor und indiziert so den Beginn eines Rollenspiels. Dabei ist sie im Spiel der Reporterin im Vergleich zu Mehmet forscher und frecher. Das zeigt sich schon daran, dass Mehmet es vorzieht, sich selbst zu spielen.76 Demgemäß nimmt 72 Zur »kommunikative[n] Konstruktion imaginärer Welten« am Beispiel der Pen-und-PaperRollenspiele, die sich in großen Teilen auch auf die im Film dargestellte Situation übertragen lassen, siehe Herbrik (2011). 73 Gebauer und Wulf (1998, S. 191-194). 74 Vgl. Gebauer und Wulf (1998, S. 188f.). 75 Vgl. Herbrik (2011, S. 18). 76 Mehmets Modalität in jener Verfassung lässt sich so schwierig fassen, da sie in einer Sphäre verbleibt, in der die soziale Rolle, die er spielt zwischen Rollen-Ich und Eigen-Ich changiert. Die hier behauptete Eindeutigkeit bleibt in einem Rollenspiel, in dem eine der Parteien eher resignativ verbleibt und kein eindeutig differentes Rollen-Ich einnimmt, ambig, gerade weil die Verfahren der Verkörperung in den jeweiligen Modalitäten von Spiel und Nicht-Spiel enthalten sind: »Plessner konzipiert – ausgehend von den Überlegungen zum Schauspiel – ganz allgemein das ›menschliche[] Leben [.] als Verkörperung einer Rolle nach einem mehr oder weniger feststehenden Bildentwurf [Hervorh. i. Orig.], der in repräsentativen Lagen bewußt durchgehalten werden muß.‹ (Plessner 1982: 158) Der Grund hierfür liegt in der prinzipiellen ›Abständigkeit [des Menschen] zu sich‹ (ebd.) und damit letztendlich in seiner ›exzentrischen Positionalität‹. Im Schauspiel wird diese Grundkonstante menschlichen Lebens exemplarisch vorgeführt. Der schauspielende Mensch ›gibt der Sich-Präsenz die Form
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er keinen ›Identitätswechsel‹ für das Rollenspiel an. Zumindest lässt er sich auf Leylas Rolle ein und gibt sich als ihr Interviewpartner aus, der auf ihre Fragen reagiert. Durch die Aufführung kann Leyla als ›reine‹ und nicht nur ›türkische‹ Westliche auftreten. Daraus ergibt sich, dass Leyla provokante Aussagen formulieren kann, die ein westlich-überlegenes Bewusstsein indizieren. Ein Effekt des Rollenspiels ist die Fähigkeit zur Artikulation von Aussagen oder die Aufführung von solchen sozialen Zusammenhängen, in denen die Konsequenzen aufgrund der ›Als-Ob‹-Modalität vermindert oder überhaupt ausgesetzt bleiben. Aus ihrer Rolle heraus erscheint die provokante, an Mehmet gerichtete Aussage, die die unfreiwillige Teilhabe von Migrant_innen an der Expansion westlicher Kultur in den Osten behauptet, zum Beispiel kaum sanktionsfähig oder aktuell kränkend. Das liegt daran, dass der Vollzug der Aussage eben zwischen den beiden Aufführungsmodalitäten von Rollenspiel und Nicht-Rollenspiel und damit entlang eines Distanzraums stattfindet. Die Distanz zwischen Spiel und Nicht-Spiel verbleibt jedoch subjektiv und damit kommunikativ besonders prekär. Durch das Rollenspiel und die verkomplizierte imaginäre Sphäre ist eine Einordnung für die Beteiligten umso schwieriger. Übertragen auf die kommunikative Sphäre ist eine Trennung von dem, was Leyla sagt und dem, was sie tatsächlich meint, kaum möglich. Dabei ist die Initiierung eines Rollenspiels keineswegs eine Verhaltensweise, die für Leyla außergewöhnlich wäre. Leyla: Identitätsegalitarismus und Lebenslust Leyla ist als Figur dargestellt, die eine spielerische Lebensauffassung hat und Ernsthaftigkeit fern bleibt. Ein genussvolles Leben, in dem die Erlebnislust und Selbstverwirklichung priorisiert sind, ist der Figur wichtig. Leyla erweckt damit den Eindruck von Verantwortungslosigkeit gegenüber anderen, die den durch Mehmet verkörperten Idealen, wie dem national-sozialen Gedanken entgegensteht. Deswegen wird Leyla häufig so dargestellt, als versuche sie Situationen besonderen Ernstes zu vermeiden oder solche Gelegenheiten zu deeskalieren oder ihnen zu entrinnen. Zum Beispiel unterbricht sie eine Diskussion um die repräsentative Unterminierung des Ostens. Als Mehmet bei Helga die Leistungen des Ostens gegenüber den eurozentrischen Haltungen der deutschen, österreichischen Freunde verteidigt, bittet Leyla sie darum, mit den »wissenschaftlichen« Gesprächen aufzuhören und vielmehr über sie zu sprechen, denn »morgen würde sie den Osten in ihren Prüfungen mit Erfolg repräsentieren«. Ein Indiz für ihre erlebnisbestimmte Lebensweise zeigt sich daran, dass sie Besuche von Städten als Unterhaltungsreisen betrachtet. Wenn Mehmet in Salzburg das Angebot artikuliert, nach Belgrad zu fahren, antizipiert sie damit Zigeunermusik und Tavernen, also Praktiken und Orte der Unterhaltung, wohingegen Mehmet den Ausflug als pädagogischen Lehrausflug versteht. Auch war für Leyla der unbeschwerte und von Genuss getragene Lebensmodus der Hippies eine erinnerungswürdige Bereicherungserfahrung: Während Mehmet ihren Aufenthalt bei den Hippies als Erfahrung des Schmutzes beurteilt, weil er sich tagelang nicht waschen konnte und so erhebliche und den Sinn der Trägerschaft der Rolle, der Repräsentation, welche den Träger und Darsteller aus der zufälligen Einheit mit sich in die künstliche Einheit mit dem Dargestellten bringt und im Spiel spielend bewahrt.‹ (Plessner 1982: 161)«, Herbrik (2011, S. 17).
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Hautausschläge bekommen hatte, evaluiert Leyla ihre Zeit als glückliche Erfahrung, der Mehmet mit seiner pessimistischen Ansicht Unrecht tue. Dieser Lebensmodus, der durch das Begehren nach Genuss und Glück getragen ist, ergänzt sich um einen Identitätsegalitarismus: Den Hippies gegenüber gibt sich Leyla nicht als Türkin oder als sich selbst aus, sondern als Afghanin und maskiert so ihre eigentliche Identität und Herkunft. Auf Mehmets Frage hin, weshalb sie sich ihren Hippie-Freund_innen gegenüber als Afghanin ausgebe, antwortet sie: »Sollte eine Abwechslung sein. […] Was macht es für einen Unterschied! Afghanin oder Türkin, Amerikanerin, Japanerin, Engländerin, Französin, eine afrikanische Dunkelhäutige. So eine Dunkelhäutige mit lockigen Haaren! Was macht es für einen Unterschied! Sind alles Menschen. Und weißt du, die afrikanischen Mädchen können sehr gut tanzen.« Hier hat Arslan in seiner Untersuchung des Films auf die Zuweisung eines rassistischen Denkens in Leylas Hinweisen zu Afrika herausgestellt.77 Leylas Habitus, Afrika als »Land der Kannibalen« zu bezeichnen, oder von tanzenden afrikanischen Frauen zu sprechen, muss als Kennzeichnung einer westlichen Haltung verstanden werden.78 Leylas Haltung Afrika gegenüber spielt dem ideologischen Anliegen des Films insofern zu, als dass Leyla als Verwestlichte den westlichen Überlegenheitshabitus reproduziert, von dem sich okzidentalisierende Diskurse abgrenzen. In okzidentalisierenden Diskursen wird eine Differenz des Westens gegenüber dem Osmanischen hergestellt, da die osmanische Herrschaft darin als imperiale und zugleich multikulturelle und tolerante Weltmacht imaginiert ist, die dem versklavenden, kolonialisierenden, pseudohumanen Westen gegenübersteht. So wird eine im Islam und im osmanischen Reich enthaltene Humanität gegen einen in- und pseudo-humanen, kolonialistischen und imperialistischen Westen entgegenzustellen versucht.79 Die Haltung darüber, dass Identität etwas ist, das gestaltbar und Produkt einer Erwählung ist, zeigt sich zudem in den Szenen, in denen Leyla zur Modemesse geht. Dort wird die Wandlungsfähigkeit der Identität von den Frauen auf dem Laufsteg durch den permanenten Kleidungswechsel symbolisch vollzogen. An jenem Ort, in dem der Kleider- und Imagewechsel zum Programm gehört, zeigt sich, dass Leyla das soziale Umfeld sehr schnell wechselt: Nachdem Mehmet Leyla in Wien nach ihrer Trennung sieht, vollzieht sich ein Identifikationswechsel auf filmischer Ebene. Während wir zuvor noch Mehmets Blickperspektive eingenommen hatten, verfolgt die Kamera nun intensiver Leyla, ihren Gang, ihre Perspektive, ihre Erfahrungen. Dieses Wandelmoment ist im Film auch eindeutig markiert. Nachdem Leyla mit ihrem Auto Mehmet fast überfährt – und vorher war einstellungstechnisch der Fokus auf Mehmet gelegt –, verfolgt 77 Arslan (2014b, S. 130f.). 78 Als bemerkenswert hält auch Arslan den Umstand, dass Leyla Afrika, einen Kontinent, in eine Reihe mit Ländern stellt, sodass sich die dahinterliegende stereotype Vorstellung von Afrika als Rückständigem deutlich macht, vgl. Arslan (2014b, S. 130f.). 79 Mit den zunehmenden Modernisierungsbestrebungen im Osmanischen Reich werden die umfassenden Rechte Nicht-islamischer und Anderer zunehmend eingeschränkt und bestehen auch schon zuvor umfassende Rassisierungsdynamiken, die rechteeinschränkend fungieren, siehe Uzun und Atasever (2010, S. 178). Im Vergleich zu anderen Imperien oder Ländern ist jene Zeit dennoch als multikulturell-tolerant zu evaluieren, wodurch sich im Alltagsdiskurs eine Ansicht nach der historisch exklusiven fremdkulturellen Toleranz des osmanischen Reichs etabliert hat.
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er das fahrende Auto, bis es parkt. Leyla steigt nun ohne Mehmet zu bemerken aus, woraufhin ihr der junge Mann erfreut hinterherblickt. Daran anschließend zeigen sich Einstellungen, in denen die zu Beginn des Films noch als Hippie gekleidete Leyla mit Pelz und Accessoires vornehm gekleidet auf einer Kleidermesse einer Modenschau beiwohnt. Sie ist von der Hippie-Frau zur eleganten Dame gewechselt und zeigt sich dort nun mit Pelzmantel, elegantem Dress und Frisur. Die Identifikation mit dem Hippietum entblößt sich als eine temporäre Angelegenheit und zeigt Leylas Flexibilität in der Erwählung von Identifikationsweisen beziehungsweise auch einen daran ersichtlichen Kosmopolitismus. In diesem Lebensmodus und dieser identitätsegalitären Haltung steht sie Mehmet, der der Überzeugung nationaler Identität und national-sozialer Verantwortung folgt, diametral entgegen: Mehmet ist die Stabilität der Herkunft, genealogisch wie selbstinduziert, und damit die Kontrolle über seine eigenen Identifikationsvorgänge hinsichtlich einer Stabilitätswahrung wichtig. Im Kontrast dazu steht Leylas Vorliebe für das spielerische hineinversetzen in unterschiedliche Identitätsentwürfe, das sich schematisch in dem initiierten Rollenspiel als westliche Reporterin fortführt. Repräsentationsmacht und Anrufungsweisen Dass Leyla als westliche Reporterin und damit als bedeutungsherstellende Akteurin eines westlichen Massenmediums (Zeitung) theatral und im Modus des Spielerischen auftritt, bringt an dieser Stelle des Films weitere Diskurse zur Repräsentationsmacht ein und spielt darüber auf die Diskursproduktion des nicht-westlichen Anderen durch die westlichen Medien an. Zudem ermöglicht das Rollenspiel die Etablierung eines Arbeitsmigration thematisierenden und Fragen der Repräsentationsmacht verhandelnden Diskursraums, ohne den Film als solches aus seinem Bildungsmilieu herauszulösen oder die Frage nach globalen Ausbeutungsverfahren im Migrationskontext unmittelbar in den Mittelpunkt zu stellen. Nachdem Mehmet auf Leylas entsprechende Frage hin sagt, dass er zur »türkischen Bevölkerung gehöre«, antwortet Leyla: »Oh, sehr interessant. Die Reportage über sie werde ich in einem viel größeren Rahmen veröffentlichen lassen«. Mehmet antwortet zynisch: »Vielen Dank. Sie sind sehr gnädig.« Mehmet sieht in dem Angebot der »westlichen Reporterin« keinen Gefallen. In der gelassenen, resignativen Haltung bleibt das Wissen der Figur darüber angedeutet, dass die Repräsentationsmacht und damit die Art und Weise der Darstellung des Nicht-Westlichen der Medienakteurin überantwortet ist. Deren ausgiebiges Repräsentierungsangebot kann er deswegen sarkastisch als Akt der Gnade (»gnädig«) evaluieren. Als er bei Leylas Freund_innen um die ideengeschichtlich relevante Rolle der östlichen Gelehrten aufmerksam macht, deutete Mehmet auf die ›Getäuschtheit‹ der deutschen Gäste hin, deren mangelnde historische Kenntnis sie zur Fehlevaluation der wissenschaftlichen Leistungen des Ostens geführt habe. Auch wegen der westlichen Überlegenheitshaltung, in der der Osten stets nur als Unterminiertes auftauchen kann, stellt das ›Mehr‹ an Sichtbarkeit, das die ›Reporterin‹ verspricht, für Mehmet keinen Gefallen oder eine Großzügigkeit dar. Um Leylas Ausführungen kurz zu rekapitulieren: Ihre Aussagen nehmen eine herabwürdigende Einordnung Mehmets vor. Nicht nur ordnet sie ihn in das durch die
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Souveränität des Aufnahmelands bestimmte Gefüge80 der Arbeitsmigration und damit in die Rolle eines ausgebeuteten Proletariats ein, sondern diskreditiert ihn zunehmend, da sie um Mehmets Medizinstudium und um seinen Status als sozialer Aufsteiger weiß. Selbst dann, als sich Mehmet in seiner Situation als ausbildender Arzt bestimmt, konstruiert sie ihn in ihren Aussagen als rückständiges »Barbaren«-Subjekt innerhalb eines fortgeschrittenen, zivisilierten Westens, da er mit seiner Ausbildung »missionarisch« als Exporteur westlicher Kultur für eine rückständige »Barbaren«-Heimat fungiere. Mit seiner Entgegnung, dass er nur bestimmtes Wissen mitnehme, versucht Mehmet zwar eine Richtigstellung der Einordnung Leylas vorzunehmen, aber mit der Antwort auf ihre Frage lässt er die Aussage nach der Rückständigkeit der Arbeitsemigrant_innen als solche unkommentiert. Wie ist die mangelnde Bezugnahme Mehmets auf den Aspekt der rückständigen Arbeitsmigrant_innen oder ihrer Bezeichnung als »Barbaren« zu verstehen – als stillschweigende Akzeptanz, als unterlassene Handlung aufgrund mangelnder Relevanz? Diese Ambivalenz in der Anrufung durch Leyla vollzieht sich nicht nur auf der Binnenebene des Filmischen, sondern auch performativ. Hierzu ist es nötig, die Konzeption der »Interpellation« aufzurufen und einige Gedanken zur Rolle des Politischen darin zu erörtern. Der Modus des Spielerischen verkompliziert dabei das kommunikative Gefüge, das aufgrund des konjunktiven Charakters des Rollenspiels umso schwieriger zu untersuchen ist. Die generelle filmische Anrufung (man nimmt sich als angerufenes Subjekt des Films an), die wegen Leylas Rollenspiel hinsichtlich einer Involvierung ins Imaginäre und Symbolische vertrackter angelegt ist, birgt mindestens das Potential, Zuschauer_innen zu »interpellieren«. Wenn Leyla von Arbeitsmigrant_innen spricht, hat sich die solche Subjektwerdung in dem Augenblick vollzogen, in dem man davon angesprochen, also dem »Ruf« gefolgt ist.81 Louis Althusser, der den Begriff und das Konzept einer vielzitierten Arbeit prägte, formuliert es so: 80 Dabei darf an eine allzu selten aufgegriffene Dimension des Anwerbeabkommens erinnert werden: nämlich die, dass die Türkei beziehungsweise die türkische Regierung selbst in diesem Gefüge als Souveränitätsmacht gegenüber den Emigrierten insofern auftritt, als dass sie unter anderem die Rahmenbedingungen mit Deutschland aushandelt, die zahlreiche Lebensaspekte der Migrant_innen mitbestimmen. Zugleich ist aber auch der globalwirtschaftliche Zusammenhang nicht zu unterschätzen, der die Türkei überhaupt erst zur Entsendung von Migrant_innen bewegt/e. 81 Auch Nanna Heidenreich hat Anrufung im Migrationskontext, genauer im Begriff des ›Ausländers‹ in Bezug auf Althussers Interpellationskonzept als »V/Erkennung« untersucht; hier jedoch nicht konkret eingebunden in den Kontext von Film, sondern als generelle diskursive Praxis in Deutschland, die auf der einen Seite einen rassistischen Diskurs zu entziehen versuche, diesen aber deswegen in seiner Wirkmächtigkeit und seine Effekte verschleiere: »Die (imaginäre und reale) Relation Deutsche-Ausländer wird als Sagbarkeit behauptet, aber wesentlich über Sichtbarkeit verhandelt. Die Idee dieser Differenz basiert auf V/Erkennung: Ausländer werden eben nicht erkannt, sondern grundsätzlich verkannt. Das bedeutet, dass eben gerade nicht von Morphologie, Somatik, Sprache, Namen usw. auf einen rechtlichen Status oder auch auf eine nationale Zugehörigkeit geschlossen werden kann. Die grundsätzliche Verkennung indiziert ebenjenes, bereits häufig formulierte Spannungsverhältnis zwischen der Nichtexistenz von ›Rasse‹ (›Rassen‹ gibt es nicht) und ihrer tatsächlichen materiellen Realität, den nicht wegzudiskutierenden Effekten von ›Rasse‹. So steht das Insistieren auf der Substanzlosigkeit von ›Rasse‹ immer gegen die Auseinandersetzung mit dem Vorgang der ›Rassisierung‹, also des Prozesses der Herstellung und Realisierung der Idee und der Vorstellung von ›Rasse‹, welcher eben jene materiellen Effekte zeitigt, die wiederum Ausgangspunkt bzw. Be-
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Wir behaupten außerdem, daß die Ideologie in einer Weise »handelt« oder »funktioniert«, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte »rekrutiert« (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte »transformiert« (sie transformiert sie alle). Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: »He, Sie da!« […] Wie die Erfahrung zeigt, verfehlen die praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann: Ob durch mündlichen Zuruf oder durch ein Pfeifen, der Angerufene erkennt immer genau, daß gerade er es war, der gerufen wurde. Dies ist jedenfalls ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein »Schuldgefühl« erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die »sich etwas vorzuwerfen haben«.82 Im Moment des Angerufenwerdens in Leylas Ausführungen als Migrant_innen stellt sich die Migrant_innenwerdung ein und folgt einer Verzahnung mit dem Diskurs.83 Judith Butler hat mehrmals mit Foucault darauf hingewiesen, dass Althussers Konzept machttheoretisch unterkomplex verbleibt.84 Mit Oliver Marcharts Perspektivierung der anrufungstheoretischen Implikationen werde ich am Ende des Kapitels mit Rückgriff auf Skrandies’ Konzept der »medialen Gouvernementalität« auf diesen Punkt zurückkommen, das einen Diskursbegriff entwirft, der sich nicht nur in dem apparativen Gefüge erschöpft, das Althussers Konzeption ausmacht (▶ Kap. 9.3). In dem Rekurs auf Barads Materialitätsvorstellung wurden in Kapitel 7.9 schon Fortführungen der hier aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Werdens von Subjekten angesprochen. Ihre systematisierte Involvierung in die nachfolgenden Analysen von Memleketim stelle ich zurück, da es hier noch um die Herausstellung der ideologischen Programmatik im Film mit Bezug auf das konkrete diskurshistorische Feld der Arbeitsmigration geht, für die eine onto-epistemologische Rekonzeptualisierung zuerst einmal nicht förderlich ist. Die Herabsetzung von Mehmets sozialem Status gibt dem Film zudem eine spezifische performative Dimension. Sie ergibt sich aus Leylas provokanter, herabsetzender Bezeichnung der »heutigen Türken, die nach Europa zum Arbeiten kommen«, als »Barbaren«. Auf die Antwort Mehmets, dass er kein arbeitender Migrant, sondern als studierender Arzt emigriert sei, entgegnet sie mit einer gespielten Verwunderung. Sie schiebt standteil des Vorgangs des Sehens, Wahrnehmens und V/Erkennens sind, die ›Ausländer‹ überhaupt erst zu solchen machen«, Heidenreich (2015, S. 45f.). 82 Althusser (1977, S. 142f.). 83 Das Konzept der Interpellation, auf das sich die Apparatustheorie bezieht, um in der Filmsichtung den Zustand einer Regression in einen frühkindlichen Zustand und die Anrufung als Zuschauer_innensubjekt zu beschreiben, betrachte ich hier different, insofern ich eine kognitive Tätigkeit fokussiere, die nicht durch Phantasie und Imaginäres durchsetzt ist. Siehe dazu später. 84 Zum Nachvollzug der Butler’schen Kritik an Althussers Konzept, die machttheoretisch zu einfach verfährt, siehe Bublitz (2005, S. 84-87): »Gegen Althussers Modell der Anrufung gewendet, wonach das Subjekt sich umwenden und die an es gerichtete Adresse annehmen muss, argumentiert Butler diskurstheoretisch mit Foucault: ›Man muß die Anrufung von der Figur der Stimme ablösen, damit sie als Instrument und Mechanismus von Diskursen hervortritt, deren Wirksamkeit sich nicht auf den Augenblick reduzieren läßt.‹ (HS: 52)«, Bublitz (2005, S. 84). So gesehen hieße das, die Anrufung durch Leyla im Film als Produkt eines Diskurssystems, das ihr vorausgeht und ihre Sagbarkeit herstellt, zu verstehen.
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den Satz nach, dass »Barbaren sich jetzt wohl mit wissenschaftlichen Angelegenheiten beschäftigen«. So werden Subjekte, die sich von Leylas sprachlichen Ausführungen angerufen fühlen, als Akteure unweigerlich in ein Panorama gerückt, in dem sie als rückständiges, fremdes, kulturloses Subjekt (»Barbar«) dastehen. Da diese Anrufung in einer Einordnung als »Barbar« besteht, realisiert sich im Falle einer gelungenen Anrufung in jenem Rollenspiel damit ein low othering der Angerufenen: Es wird eine Spaltung zwischen überlegenem Westen und kulturunterlegenem, weil barbarischem Osten erzeugt. Dieses komplexe Gefüge von Figur, Aussage, Film, Zuschauer_innen wird aus subjektivations-theoretischer Sicht zusätzlich durch zweierlei verkompliziert: Erstens emergieren die Figuren hier als Aussagensubjekte und sind deswegen zunächst machtlogisch überstiegen und damit in einem übergeordneten diskursiven Zusammenhang zu verstehen. Zweiten bringt die Dimension des Rollenspiels eine Doppelbödigkeit in den kommunikativen Modus des Filmischen ein. Mir geht es hier darum, die vermeintliche Beiläufigkeit und die Akzidentialität von der Thematisierung der Arbeitsmigrant_innen – trotz der macht- und diskurslogischen Übersteigung der einzelnen aussagenden und ausgesagten Instanzen (Regisseur_in, Film, Figur, Aussage, Zuschauer_innen) – herauszustellen und sie an das ideologische Programm des Films im Arbeitsmigrationskontext rückzubinden. Das heißt, Ziel ist die im Film eingelagerte Intentionalität jener Entscheidung nach der Thematisierung der Arbeitsmigrant_innen durch die Figur herauszustellen. Um diese Herausstellung realisieren zu können, werde ich sie zunächst als Perfidie, das heißt als bewusste, strategische, hinter-listige Täuschung annehmen, die Effekte bei ihren Zuschauer_innen zu evozieren versucht. Das bedeutet, dass ich hier sowohl die Dimensionen der Unbewusstheit als auch der machtlogischen Übersteigung im System der Aussagenproduktionen ausblende: Das Rollenspiel stellt indirekte, performative Adressierungsmöglichkeiten durch die Produktion provozierender Aussagen in der gespielten Figur einer westlichen Reporterin her. Damit ergibt sich die »mediale Gouvernementalität«85 sowohl im apparativ-dispositiven Gefüge (Apparatus), als auch entlang der Repräsentationsdimension gerade so sehr, wie die dispositiven Bedingungen der Zuschauer_innen mit sprachlichen oder anderen diskursiven Anrufungen zusammenfallen, letztere sich also diskursiv konkret vollziehen. Mit der gelingenden Ansprache koppelt sich zugleich eine Unterminierung der psychischen Integrität (Heimatliebe, Nationalismus) beziehungsweise der Destabilisierung der Vorstellungs- und Wertewelt der Angesprochenen.86 Die Szenerie, die Leyla entwirft, stellt nämlich einen moralischen Vorwurf dar, der die Integrität nationalistischer Identität oder anderer ich-idealer Anteile zu destabilisieren droht. Retrospektiv ist durch den Vorwurf der unfreiwilligen Unterhöhlung der Heimat jede vergangene Handlung von Emigrant_innen einer Selbstbefragung überstellt. Das im sprachlichen Diskurs erwählte Panorama, in das Arbeitsmigrant_innen gerückt werden, impliziert, dass die Unterhöhlung sich durch irgendwie geartete Wissenshandlungen als »Kulturexport des Westens« (Leylas Vorwurf) zu vollziehen scheint. Weil das 85 Skrandies (2014). 86 Auch Althusser hebt hervor, dass Schuldgefühle der Anrufung nicht vorausgehen oder sie bedingt. Siehe Zitat oben.
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Konzept der Kultur unbestimmt ist, vermag der Akt einer Selbstüberprüfung sich durch das Gewissen umso umfassender zu initiieren. Die Akzeptanz einer Szenerie von Migrant_innen, die in ihre Heimat die Kultur des Westens exportierten, setzt eine Kenntnis davon voraus, worin jene Kultur besteht, die den Westen konstituiert. Die Westkultur kann für Angesprochene umfassend sein, da dieser als Alterität bestehen kann und folglich jede als falsch angenommene Handlungsweise das Label der Westkultur erhält. Kultur, verstanden als lebensdurchdringende Textur, ist allumfassend. Die Unterhöhlung kann sich wegen der Unbestimmtheit der Handlungen, durch die sie sich vollzogen haben mag, unabsichtlich realisiert haben und macht für eine Bestimmung dieser Aktivitäten eine umso umfassendere Überprüfung notwendig. Aufgrund des double binds indifferenter Objekte bleibt eine Überprüfung dieser Aktivitäten ein unaufhörliches Unterfangen: Weil das, was die Aushöhlung der Eigenkultur zu realisieren vermag, unbestimmt oder, strukturalistisch gesprochen, symbolischer Nullwert bleibt, kann es potentiell alles sein. Weil es potentiell alles sein kann, bleibt die Befragung unaufhörlich.87 Aufgrund der Dispositivs von Filmrezeption sind angerufene Zuschauer_innen dem Film als ›ausgeliefert‹ zu betrachten: Niemand kann damit rechnen, wie ein Film welche Diskurse und Bilder vollzieht. Dahingehend ist in den Rezeptionsraum ein potentieller Vertrauensvorschuss eingelagert, der im Vertrauen um die Einhaltung kommunikativer Grundregeln besteht, dem ein Glaube an die Einhaltung jeder Rezeptionshaltung vorausgeht. Filmrezeption besteht als eine Situation eines potential space88 , eines intermediären und (tele-)intersubjektiven Raums, der paratextuell aber auch anders gerahmt und spezifisch prädeterminiert sein kann. Zuschauer_innen können in der Rezeptionssituation nur davon ausgehen, dass sie in ihrer psychischen Integrität nicht zersetzt werden, da Sozialität und Subjektivierung unweigerlich auf der impliziten Abmachung fußen, die jeder kommunikativen Situation vorausgeht.89 Die Einordnung von Migrant_innen als »Barbaren« verletzt im doppelten Als-ObModus (Film und Rollenspiel) der Szene noch deswegen, weil das Offenlegen des blinden Flecks von der Heimkultursuspendierung die individualpsychologische Verfasstheit entsprechender Zuschauer_innen anzusprechen vermag. Das diskursive Spiel in der Aussage lässt sich dabei fortspinnen: Sie kann ebenso als mahnender, spaltender Fingerzeig gemeint sein, der zur Vorsicht vor der unsichtbar bleibenden Verwestlichung (»Kulturexport«) auffordert. Und dass die potentiell mit Leylas Aussagen angeru87 So war besonders die Angst vor der Kontamination durch Schweinefleisch auf Seiten der Arbeitsmigrant_innen erster Generation nicht selten so umfassend, dass auf bestimmte Nahrungsmittel gänzlich verzichtet wurde. Humoristisch zu dieser Thematik siehe Neco Çeliks Kurzfilm Schweinemilch (2015). Auf den Seiten von ARTE heißt es zum Filminhalt: »Am Abend ihrer Ankunft in der schwäbischen Provinz, von der man ihnen als ›gelobtes Land der Arbeit‹ vorgeschwärmt hat, treffen die drei jungen Türken Erol, Mehmet und Ümmet in einer Gastarbeiterkneipe ein. Dort lernen sie die charmante Lena kennen, die in der Wohnung ihnen gegenüber wohnt und sie zu ihrer Unterkunft führt. In ihrem Zimmer finden sie eine Milchflasche, auf der ein großes Schwein abgebildet ist. Trinken die Deutschen etwa tatsächlich Schweinemilch? Ohne deutsche Sprachkenntnisse erweist es sich als äußerst schwierig, die düstere Vorahnung Ümmets zu überprüfen«, (unbekannt). 88 Vgl. Winnicott (1973). Christopher Bollas hat genau jenes Verfahren der Erzeugung eines »false potential space« als ein Strukturelement des Bösen psychoanalytisch erörtert (1996, S. 211). 89 Es sei denn, die Rahmung ist so, dass die Akzeptanz einer solchen Zersetzung als vorausgesetzt gilt.
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fenen Zuschauer_innen ausgerechnet von einer solchen Akteur_in in ein denunziierendes Panorama gerückt und als Migrant_innen fixiert werden, die als westliche Journalistin ein repräsentatives Bild entwirft: Das lässt sich mindestens auch als provokanter, okzidentalisierender medienkritischer und in der komplexen repräsentationslogischen Überlagerung, die sich durch das Rollenspiel ergibt, als metamedialer Kommentar lesen.
9.1.5.
Okzidentalisierung II: Çakmaklıs Arbeitsmigrant_innen
Arbeitsmigrant_innen und doppelte Anrufung? Eine indirekte Adressierung von Arbeitsmigrant_innen, wie sie sich hier in der Szene vollzog, zeigte sich auch in Oğlum Osman: Als Osman mit Helga und ihrer Familie zusammensitzt, wird ihr Beisammensein von einer Fernsehsendung unterbrochen, die sich an die türkischen Arbeitsmigrant_innen in Deutschland richtet. Diese Sendung versteht sich als Aufklärungsfilm über die Entstehung der Weltreligionen. Die Adressierung könnte performativ auch als Adressierung potentieller Zuschauer_innen gelten, die tatsächlich arbeitsmigriert sind, in Deutschland leben und denen nun über den im Film enthaltenen Zeigegestus der Sendung eben jene Inhalte vermittelt werden. In diesem Sinne wäre der Film im Film zugleich seines metamedialen90 Kontexts enthoben und bildete nicht nur für die Figuren in der Diegese, sondern auch für die Filmzuschauer_innen einen Lehrfilm. Schon filmästhetisch wird dies durch eine doppelte Rahmung offensichtlich, da die Fernsehinhalte mal mit und mal ohne Fernsehrahmen gezeigt werden und durch die Einblendung einer Moderation vor dem Hintergrund einer deutschen Flagge als an Arbeitsmigrant_innen gerichtete Sendung anmoderiert werden (Abb. 48.1-4). Das Weglassen der Rahmung des Fernsehers erhöht den enunziativen Charakter im Hinblick auf eine Adressierung von Zuschauer_innen, wohingegen der Rahmen noch jene Rezeptionssituation der Familie antizipieren hilft. Die filminszenatorischen, insbesondere (blick-)deiktischen Taktiken stellen diese doppelte Adressierung komplexer her, als hier vermerkt, da zum Beispiel räumliche Konfigurationswechsel in der Mise en Scène und Perspektivwechsel vorgenommen werden. Diese beiden unauffälligen Adressierungen der Arbeitsmigration rücken die Filme in einen Bedeutungsraum rund um die ›deutsch-türkische‹ Arbeitsmigration. Diese, als ›doppelte Wissensvermittlung‹ (und auch Adressierung) bezeichnete Taktik im Film werde ich nachfolgend genauer untersuchen. Denn diese Taktik ist nicht weniger strategisch in die Anrufung von (Arbeits-)Migrant_innen eingebunden. Bildungsmilieu, weil abgewertete Arbeitsmigrant_innen? Yücel Çakmaklı wird im wissenschaftlichen wie filmpublizistischen Diskurs in der Türkei nach wie vor als nationaler Filmemacher mit starkem Islambezug verhandelt. Ihm wird attestiert, in den 1970er Jahren, einer sowohl politisch (Rechts-Links-Konflikt) als auch filmkulturell (Zensur, ökonomische Hürden, intellektuelles Klima) schwierigen Zeit, als einer der wenigen die Interessen und Ansichten einer islamisch-konser90 Vgl. Mitchell, W. J. T. (2008b, S. 324ff.).
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Abbildung 48.1-4 – Standbilder aus Oğlum Osman (1973)
vativen umfassenden Gesellschaftsschicht in der Türkei repräsentiert zu haben.91 Die Entwicklung des Religionsfilms in der Türkei hat aufgrund zahlreicher islamisch motivierter Filmbewegungen bis heute komplexere Ausmaße angenommen92 . Als politischideologisch motivierter Filmemacher zählt Çakmaklı dabei sicherlich zu den Ersten, die im Yeşilçam-System entsprechende filmische Verhandlungen zu verwirklichen im Stande waren93 . Besonders ist, dass er in seinen frühen Yeşilçam-Filmen nicht nur auf die Repräsentation einer upper class anhob. Mit der Verfilmung von Necip Fazıl Kısaküreks Drehbuch Kızım Ayşe kommt auch die anatolische Unterschicht in Form einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Tochter in den Genuss einer millî sinema-würdigen Verhandlung. Nachdem Mutter und Tochter in die Stadt ziehen, gibt sich die Tochter dem Leben reicher Städter_innen und einer dekadenten, unislamischen jedoch modernen Lebensweise hin und muss diesen Fehler fast mit dem Verlust der Unschuld und damit der namus (Ehre) bezahlen; eine Erzählung, die schon in Halit Refiğs Gurbet Kuşları94 die anatolische Familie in Istanbul ins Verderben stürzt. So betrachtet zeigt sich zugleich auch der intergenerationelle Konflikt in den nationalen Filmprogrammatiken an: Tochter Ayşe, Sohn Osman, Tochter Leyla in Memleketim, Tochter Feyza in Birleşen Yollar oder Tochter Zehra im gleichnamigen Film stehen im Streit zu den Eltern und den Werten, die sie vertreten. Diese jungen Erwachsenen sind es, die als instabile Persönlichkeiten als besonders offen für westlich-moderne, unislamische, unmoralische Verführungen oder europhil-überhebliche Gedanken und Lebensstile inszeniert sind. Im millî sinema generiert sich die Gefahr für die muslimische Nation der 91 92 93 94
Tezcan (2010, S. 329f.). Für einen historischen Überblick siehe Yenen (2012). Evren (2014, S. 75). Übrigens ein anderer Film, der die zweite hier zu untersuchende Filmprogrammatik repräsentiert.
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Türkei in Form einer verdorbenen Jugend, jenem menschlichem Potential, dass die Zukunft verbürgt. Neben der intergenerationellen Ebene ist in Çakmaklıs erstem Film, der Literaturverfilmung Birleşen Yollar, Yeşilçam-typisch der Klassenunterschied, oder allgemeiner formuliert, sind die sozialen Dialektiken gar die Melodramatik motivierende Figuration: Der fromme, aber aus ärmlichen Verhältnissen stammende Protagonist verliebt sich in die liberal lebende Unternehmerstochter von nebenan. Die klassistische Ebene trifft, wie in Memleketim auch, die Ebene der Weltanschauungen. Dennoch bleibt der Umstand der konkreten Nicht-Darstellung von Arbeitsmigrant_innen (die Schulszene am Ende ausgenommen) in ausgerechnet in denjenigen zwei Filmen, in denen die Protagonist_innen emigriert sind (Memleketim und Oğlum Osman), bemerkenswert. Dieser Umstand vermag sich auf repräsentationslogische Dispositionen zurückführen lassen: Da in den Erzählungen beider Migrationsfilme für das Setting des sozialen Milieus auf gehobene Schichten und Bildungsmigrant_innen zurückgegriffen ist, kann die Aushandlung der Kulturthesen in den Dialogen durch das Stereotyp vom sprachlich-sozial gehobenerem Milieu entsprechend intellektuell(er) verhandelt werden. Intellektualität und Bildungsschicht sind als sich gegenseitig bedingend vorgestellt. Mit Blick auf die soziale Herkunft der Arbeitsmigrant_innen, die zumeist aus dörflichen Kontexten heraus nach Deutschland migrierten95 lässt sich sagen, dass beide Filmplots die Verhandlung jener Kulturdichotomie voraussetzenden, sprachlich komplexer angelegten Thesen den Arbeitsmigrant_innen nicht zumessen – vielleicht, weil ihnen die sprachlich-intellektuellen Kapabilitäten nicht zugetraut werden. Obgleich Arbeitsmigrant_innen in Çakmaklıs Filmen nicht als repräsentierte Subjekte auftauchen, werden sie, so zeigte die vorangestellte Analyse, durchaus implizit, zum Beispiel im Dialog oder metamedial, adressiert.96 Im folgenden Kapitel bleibt zu zeigen, dass türkische Emigrant_innen mit Blick auf die Modalität des Films relevant werden, da sie als implizite Adressat_innen entworfen sind. Die im Film enthaltenen Enunziationsmodi ermöglichen Hinweise darauf, dass der Film entturkisierte Adressat_innen entwirft, von denen Emigrant_innen als eine spezifische und direkt artikulierte Klasse unter ihnen anzunehmen sind. Dies wird besonders in einer der letzten Szenen des Films deutlich, in der türkische Migrant_innen in Deutschland als Türkisch-Klasse von Leyla unterrichtet werden, und so schließlich filmisch umgesetzt sind. Die Feststellung vom Wechsel der Enunziationsmodi soll im Folgenden über eine Analyse besonders jener Szenen herausgestellt werden, die eine ›doppelte Wissensvermittlung‹ realisieren: eine intradiegetisch einsetzende Informierung, die allerdings über das Binnenfeld des Films und damit enunziativ hinausweist. 95 Diese Vorstellung von ungebildeten Dörfler_innen wäre insofern zu relativieren, als dass die türkischen Arbeitsmigrant_innen unter allen anderen die höchste Schulbildung hatten, vgl. Eryılmaz und Kocatürk-Schuster (2011). 96 In einer Untersuchungsperspektive der production oder audience studieswäre mit Blick auf die Involvierung der Gruppe der Migrant_innen in den Filmen sicher auch eine Befragung der Herstellenden und potentieller Zuschauer_innen jener Zeit aufschlussreich. Ergebnisse einer solchen Befragung müssen an dieser Stelle jedoch der Feststellung von der nur impliziten oder indirekten Adressierung weichen. Auffällig verbleibt diese Ausklammerung der Arbeitsmigrant_innen aus dem visuellen Feld der beiden Filme alle Mal.
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Für eine Nachvollziehbarkeit der folgenden Ausführungen gilt es deswegen zunächst den Voraussetzungsreichtum einer filmischen Enunziations- oder Kommunikationstheorie97 zurückzustellen, die zum Beispiel der bereits erwähnte Lie zugunsten einer argumentativen Stärkung des Suture-Konzepts durcharbeitet.98 Vorab ist zu sagen, dass die Unterbreitung des Vorschlags vom Konzept der ›doppelten Wissensvermittlung‹ zur Erfassung der zu untersuchenden Dynamiken nicht bedeutet, nur den hier untersuchten Szenen jene Qualitäten einer doppelten Informierung beizumessen. Als Thesenfilm ist Memleketim unentwegt bestrebt, seine diskursiven ›Wahrheiten‹ an Zuschauer_innen zu vermitteln. Allerdings verfügen die episodisch gehaltenen Sequenzen, in denen eine intradiegetische Informierung mit einer extradiegetischen einhergeht, über Besonderheiten, die sich in anderen Teilen oder Szenen zurückhalten. So sind diese Szenen beispielsweise episodisch als Reisetrips gerahmt und auf die Vermittlung historischen ›Faktenwissens‹ und historischer ›Evidenzen‹ aus.
Abbildung 49 – Standbild aus Memleketim (1975)
Reisen als doppelte Wissensvermittlungen: Belgrad Die erste Szene der ›doppelten Wissensvermittlung‹, in der Mehmet die vermittelnde Funktion innehat, vollziehst sich während des gemeinsamen Aufenthalts in Belgrad: Dort sucht Mehmet mit Leyla historische Orte und Museen auf, an denen sich die Geschichte des osmanischen Reichs und dessen Leistungen sich nachvollziehen lassen. 97 Vgl. Kuhn (2011, S. 75f.). Kuhn plädiert in seiner filmischen Erzähltheorie dafür, sprachliche und visuelle Erzählinstanz zu trennen und die Kommunikationsebenen zu differenzieren. Die hier vorliegende Situation beschreibt Kuhn sein Kapitel 6 seiner Arbeit. Konkret das Unterkapitel »Intradiegetische sprachliche Erzählinstanzen«, vgl. Kuhn (2011, S. 275-278). Statt vom impliziten Adressaten zu sprechen, verwende ich den Begriff ›potentieller Zuschauer_in‹, da ich den Fokus auf die empirische Verwirklichung der Filme legen möchte. Mit einer doppelten Erzählebene, in der die Instanzen Zeigen, Visualität, Blick und die filmische Enunziation verkoppelt sind, kommt eine Erzähltheorie schnell an ihre Grenzen, wenn sie in konkreter Anwendung lesefreundlich bleiben will. 98 Lie (2012).
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Dabei geht dem Besuch der Orte (Moschee, heilige Grabstätte et cetera) ein Panoramablick auf die Donau und ihren Nebenfluss, die Save, voraus (Abb. 49). In der Szene zitiert Mehmet Verse eines türkischen Gedichts, die von der Schönheit der Donau handeln. Im Hintergrund der Szene wird das Janitscharenlied Estergon Kalesi99 angestimmt, ein so genannter osmanischer »Mehter Marsch«. Die Wissensvermittlung koppelt sich mit einer lyrischen Ästhetisierung durch ein angestimmtes Gedicht. Damit ist die Wissensvermittlung nie nur objektiv, sondern ästhetisierend und strebt danach, das Wertvolle des islamisch-osmanischen Erbes hervorzuheben. Als sie nach dem Besuch zahlreicher osmanisch-islamischer Stätten erneut an der Donau ankommen, fragt Leyla Mehmet nach dem Grund ihrer Stadttour. Mehmet begründet ihre Besuche mit der Notwendigkeit der Kenntnis der historischen (hier türkisch-osmanischen) Vergangenheit. Denn erst auf der Grundlage des Vergangenen sei die Gegenwart überhaupt zu gestalten, so Mehmet. Die Gegenwart bilde die Basis, auf der die Zukunft entworfen werden könne. In dieser Verkettung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sieht er die Bedeutsamkeit eines historischen Wissens begründet und offenbart in dieser Ansicht so ein klassisch-historisches100 Bewusstsein, dass das Gewesene als Verstehens- und Gestaltungsbedingung für das Gegenwärtige und für die Zukunft verhandelt wissen will. Im Gegensatz zu Oğlum Osman muss sich in Memleketim der Belehrungsprozess, den die Protagonist_innen durchlaufen, nicht auf eine vorherige Erziehung und die Verhandlung dessen in Erinnerungsflashbacks beziehen. Die Türkin Leyla ist nämlich nicht als Figur angelegt, die nur einen kurzzeitigen westlichen Sozialisationsprozess durchlebt, sondern sie wird als jemand gezeigt, die ihr ganzes Leben hindurch europhil erzogen wurde. Der nun mit der Aufklärung Mehmets einhergehende Versuch, ihre Sicht zu ändern und sie zu belehren, rekurriert entsprechend nicht auf eine erzieherisch angelegte Rückbesinnung verlassen – Osman hatte ja eine muslimische Erziehung genossen –, sondern basiert auf der Hoffnung einer in ihre »Erbmasse«101 eingelagerten, ureigenen Identität beziehungsweise eines »Wesenskerns« (so Çakmaklıs eigener Begriff), die beziehungsweise der reaktiviert werden muss (▶ Kap. 6.5). Hierin offenbart sich ein essentialistisches Identitätsmodell, das den Identitätsdiskursen des Films zugrunde liegt. Identität ist nichts Wandelbares, wie Leyla sie sieht, sondern eine essentielle Entität. Wie in Oğlum Osman ist in dem Film in dieser konkreten Szene und weiteren eine ›doppelte Wissensvermittlung‹ eingewoben, die zugleich ästhetisierend und verklärend gestaltet ist. Zum einen wird in dem Belehrungsgestus durch Mehmet zuvorderst Leyla informiert. Darüber hinaus birgt sich aber auch ein Zeigen und die verbale Vermittlung von Informationen, das zugleich Zuschauer_innen zu informieren und die Verklärung aufdecken will. Mehmets Fingerzeig (Ortsdeiktikon) in der Szene, in der er Leyla den Nebenfluss der Donau (die Save) auf der Burg Belgrads zeigt (Abb. 49), richtet sich an 99 Deutsch: ›Burg Esztergom‹, eine Burg in der ungarischen Hauptstadt Budapests. 100 Zu den drei historischen Bewusstseinsformen, die Nietzsche erörtert, vgl. Nietzsche (1999, S. 248259). 101 Der Begriff, den ich hier zur Beschreibung benutze, wird von Aby Warburg in seinem Einleitungstext zur Mnemnosyne verwendet (2003, S. 3) und trifft die enthaltene Vorstellung Mehmets sehr genau.
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Leyla, aber indirekt zugleich auch an das hors champ, oder empirisch aktualisiert gedacht, an Zuschauer_innen des Films. Es ist eine vereindeutigende Deixis, da er das Zeigen mit der verbalsprachlich vermittelten Information, dass es die Save sei, verknüpft. Das genaue Zeigen, das Ineinanderlegen von Finger und dem visuellen Feld auf das es gerichtet ist, kann auf Seiten der Zuschauer_innen jedoch nicht demjenigen Gefüge aus Blick, Fingerzeig und Sichtfeld entsprechen, das sich mit Leylas Sehen ergibt. Ihr Sehen ist eines, das unverfügbar bleibt. Mehmet zeigt für Leyla. Der Film hingegen zeigt den Zuschauer_innen das Zeigen für Leyla. So entsteht daraus eine medial-spezifische Zeigesituation, die in mindestens einer doppelten Zeigeseite besteht (intradiegetisch und darüber hinaus). Dabei war die Belehrungssituation vor dem Besuch in Belgrad noch umgekehrt angelegt, da Leyla in Wien diejenige war, die Mehmet und die Zuschauer_innen über die Stadt Salzburg und Mozart aufklärte. Dieses mediale Gefüge von Kamera und Mehmets Zeigen für Leyla findet sich wiederholt im Film, beispielsweise wenn sie ins Museum und in die Leopoldskirche gehen. Dort zeigt Mehmet der jungen Frau Bücher über die Schlacht am Kahlenberg, in der Prinz Eugen die Eroberung Wiens durch die von Karamustafa Pascha angeführten Osmanen abwenden konnte. Bei der Betrachtung eines Portraits des Oberbefehlshabers zeigt Mehmet mit seinem Finger auf das Gemälde und zugleich auf die Kamera. Diese Szenen der Belehrung, Überzeugung oder Informierung finden sich noch an anderer Stelle des Films: Auch dann, als Leyla mit dem Moslem aus Skopje die Türbe und Stätten besucht, ist das Gefüge von Zeigendem (Moslem), Bezeigten (Leyla) und Gezeigtem (Türbe und Stätten) auf parallele Weise figuriert. Während in vielen Szenen Leyla als intradiegetische Figur im Filmbild enthalten ist, wird die Doppelbezüglichkeit besonders in den Szenen der Leopoldskirche in die andere Richtung verkehrt: In manchen Einstellungen fehlt Leyla auf visueller Ebene als Adressatin der Zeigegesten Mehmets, zum Beispiel als die Kamera ein aufgeschlagenes Buch des Museums zeigt. Dieses Fehlen der Adressat_innen, denen die Deixis im Bildraum gilt, entkoppelt den intradiegetischen Bezug und lässt Zuschauer_innen in das Wirk- und Direktionsverhältnis der Enunziation eintreten. Der Doppelbezug des Zeigens samt der damit einhergehenden Informierungen fungiert ausgehend von einem spezifischen Informationsstand bei Zuschauer_innen, der eher als durch Mangel geprägt angenommen zu sein scheint. Berichtet wird in der Leopoldskirche zum Beispiel von der Niederlage Karamustafa Paschas gegen die Armee von Prinz Eugen. Das, was vermittelt wird, schickt zugleich auch eine implizite Vorstellung seiner potentiellen Zuschauer_innenschaft entsprechend der mitgeteilten Informationen voraus. Diejenigen Zuschauer_innen, die in der Emigrationssituation ihre historisch-kulturellen ›Wurzeln‹ nicht mehr kennen oder aufgrund einer westlichen Sozialisierung vergessen haben, durchlaufen mit der Filmsichtung parallel mit Leyla eine von Mehmet angeleitete Führung, die sich indirekt als Lehrund entsprechend einer verklärenden oder ästhetisierenden Darstellung auch als Propagandafilm auslegen. Die Modalität des Films bestünde dann über die entsprechenden Strecken hinweg in einer Hybridform zwischen fiktionalem Erzählfilm und informierendem Lehrfilm. Dieser Lehrfilmcharakter entsteht durch Besonderheiten, die sich an unterschiedlichen Stellen des Films aufzeigen lassen:
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Zunächst ist da die Ankündigung der gemeinsamen Ausflüge, die beide unternehmen möchten. Die Ankündigung erfolgt stets in Form eines Dialogs. Die dann folgenden Szenen sind dadurch vorab gerahmt: Leyla bittet den angehenden Arzt auf einer befahrenen Brücke um eine gemeinsame Reise nach Salzburg. In Salzburg türmen sich die Eindrücke bei Mehmet zu einem Wunsch nach einem Ausflug nach Belgrad auf. Nachdem er sie fragt, ob sie gemeinsam dorthin reisen wollen, assoziiert Leyla Vorstellungen von Zigeunermusik und zu besuchende Tavernen und stimmt zum Ausflug zu. Mehmet entgegnet darauf, dass dort »Wichtigeres als Zigeunermusik« vorzufinden sei. Die dritte Informierungsepisode, nämlich die in Skopje und im Kosovo, ist ebenfalls durch eine Ankündigung vorweggenommen. Der Georgier, der Leyla nach ihrem Besuch der Moschee zu sich einlädt, macht beim gemeinsamen Teetrinken im Garten das Angebot einer Führung nach Skopje und in den Kosovo. Die Stadtführung wird also jedes Mal vorab angekündigt. Darin vollzieht sich ein Sprechakt der Vorankündigung, der die nachfolgenden Szenen und Sequenzen markiert, geographisch verortet und zugleich sprachlich und damit für einen spezifischen Bedeutungskontext rahmt. Die Ankündigung verortet die nachfolgenden Szenen zugleich auch in einer empirisch vorhandenen Welt: Wien, Salzburg, Belgrad, Skopje, Kosovo sind faktuale Orte. Die Informierungsepisoden sind von einer spezifischen Rhythmik durchsetzt. Zwar ist der Film als fiktionaler Spielfilm von einer Modalität getragen, die von der Herstellung des Kontinuitätsprinzips, also der Unsichtbarmachung seiner Erzähltheit und der Identifikation sowie Interpellation der Zuschauer_innen mit der filmischen Erzählinstanz gesteuert ist. In den hier herausgestellten Informierungsepisoden ist jedoch eine unpersönliche Erzählhaltung angelegt. Während in anderen Szenen, die erwählte Blickpolitik sich durchaus auf die eine oder andere Seite schlägt, befinden sich in den Informierungsepisoden fast durchgehend beide Figuren gleichzeitig im Bildfeld. Die in der Informierung fokussierten Gegenstände und Gebäude werden ohne eine subjektive Kamera gezeigt, sondern eher als ein impersoneller Außenblick. Die Kameraeinstellungen, die sich dadurch keinem spezifischen intradiegetischen Blicksubjekt zuordnen lassen, begleiten das Paar. Deshalb lässt sich die Modalität der Perspektiven, Einstellungsgrößen und Bewegungen des Kamerablicks als ›Begleitung‹ charakterisieren. Verstärkt wird dieser Eindruck auf der Ebene des Inhalts durch zwischengeschnittene Einstellungen von Alltagsszenen aus den jeweiligen Städten und mehreren Szenen, die das Paar beim Spazierengehen durch die Stadt zeigen. Diese Strategie, die Kamera als Begleiter der beiden Figuren herzustellen, birgt einen ideologischen Effekt, der in der Unsichtbarmachung jener Modalität von der Belehrung besteht. Der begleitende Charakter der Kamera stellt die ersuchten Stätten als zufällige Orte und Objekte auf den Wegen durch die Stadt her, wodurch der belehrende Charakter der Informierungen maskiert wird. Dabei ist die historische Aufarbeitung in den Informierungen nicht wie im Propagandafilm (zumindest nicht in einem extremen Ausmaß) in eine versteckte Symbolsprache, mythisch überhöhte oder in allzu deutliche und bewusstseinsmanipulierende Bilder eingebunden. Hier verdanken sich die ideologischen Effekte vielmehr eben jenen indirekten Adressierungsweisen, deren Unsichtbarkeit sich wiederum den ideologischen Effekten eines jeden Films verdankt: der suture und dem Dispositiv.
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Suture und Dispositiv Als Leyla Mehmet fragt, weshalb sie nach Belgrad reisen sollten, verrät Mehmet Leyla nichts von seinem Vorhaben, sondern bittet sie darum, abzuwarten. In der Verweigerung der Artikulation der Reiseabsicht, vermag sich auf diskursiver Ebene keine Indikation einer Belehrungsabsicht in jenen Episoden einzustellen. Obwohl in den Film seine politische Absicht durch die Erzählung überaus sichtbar eingetragen ist, und die Weigerung Mehmets, Leyla die Absicht ihres Belgradaufenthalts mitzuteilen die Wissensverhältnisse zwischen den Figuren und den Zuschauer_innen spezifisch figuriert, kann so der Informierungsaspekt der Zuschauer_innen in jenen Episoden unsichtbar verbleiben. Dieser ambivalent verbleibende Modus ist zugleich weiteren Umständen der Unsichtbarmachung überantwortet. Dazu gehört das apparative Gefüge (ApparatusTheorie), das maßgeblicher Bestandteil des dispositiven Gesamtgefüges des Films ist und die ideologische Dimension im Besonderen verbürgt. Der ist nicht nur deshalb unsichtbar, weil er die Zuschauer_innen und die Filmfigur adressiert, sondern auch, weil der enunziative Charakter des Films unsichtbar verbleiben kann. Dies wird durch folgende Charakteristika ermöglicht: auf inhaltlicher Ebene durch die Erzählung (discours), auf filmmedialer Ebene durch die suture (Kontinuitätssystem) und durch das apparativ-dispositive-Gefüge (interpellation), in dem der Ort der Zuschauer_innen im Dispositiv maskiert und die Sichtverfahren entsprechend moduliert (realistisch-darstellungskonventionell) sind. Eine Vorstellung des Dispositivs, die sich nicht nur durch die apparativ-mediale Anordnung verbürgt, artikuliert Schaffer, indem sie festhält, dass das mediale Dispositiv (Filmsichtungssituation und -gefüge) nicht nur ein technischer »Repräsentationsapparat« ist, sondern zudem »die Gesamtheit symbolischer und sozialer Formen [umfasst], die das Verhältnis zwischen Betrachter_in und Bild regulieren«102 . Das historisch Erzählte verdankt seinen Eindruck des Realitätsgehalts nicht nur dem Dispositiv, sondern den als realistisch geltenden Darstellungskonventionen und dem »assertiven Charakter«103 des Films, wie Ramòn Reichert es nennt: Filmische Repräsentationen erzwingen als solches ihre Hinnahme (»Wahr«-nehmung) und mit den Leistungen des indexikalisch-ontologischen Status des Filmbilds sowie den Realismus verbürgenden Darstellungsstilen gekoppelt manifestieren und maskieren sie so ihren Wirklichkeitsstatus, der dann als ›realistisch‹ entsteht.104 Auf der anderen Seite folgt die Unhinterfragtheit der Informationen, die Mehmet präsentiert, der Produktivität des Ideologischen. Das Nichthinterfragen arbeitet dem »Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und Wahrheit«105 als Dimension der Sagbarkeit zu. Die verbalsprachlichen Informationen konstituieren so den Wissenskonnex, der sich damit auf die additive Formel »Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Wahrheit« bringen lässt. Für den Wissenschafts- oder Lehrfilm, dessen Modalität auch jene Episoden in Memleketim auszeichnet, drückt diesen Zusammenhang Reichert so aus: 102 103 104 105
Schaffer (2008, S. 86). Reichert (2007, S. 27). Vgl. Kappelhoff (2007b, S. 132ff.). Schaffer (2008, S. 87).
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In der Filmtheorie wird der unmittelbare mimetische Bezug des Films zur außerfilmischen Welt oft als assertive Aussage (oder auch: repräsentionale Aussage) bezeichnet. Mit assertiven Aussagen wird eine Behauptung gesetzt, informiert und festgestellt. Mit diesem Aussagetypus lässt sich ein stereotypes Verfahren der Absicherung von Argumenten im Räsonnieren der Wissenschaftler beschreiben. Im Kinodispositiv des wissenschaftlichen Diskurses wird die ontologisch-assertive Aussage mit dem ›Realitätsparadigma‹ des fotografischen Bildes verknüpft (vgl. zur deutschsprachigen Diskussion über das Kinodispositiv Winkler 1992). Verschwiegen wird meist, dass es sich dabei weniger um eine kognitive Aussage über die faktisch gegebene Wirklichkeit, sondern um einen bestimmten Stil filmischer Gestaltungsmöglichkeiten handelt.106 Die Gräber, Flüsse und Moscheen werden in ihrem historischen Kontext besonders in den Dialogen erhellt (→). Die Bilder heben zumeist auf keine spezifische Ästhetisierung ab, da sie teilweise nur als unfokussierte Elemente der Filmaufnahmen zurückbleiben, wie zum Beispiel der Fluss Save in jener Einstellung. Es sind Informationen, die historisches Faktenwissen mit visuellen Verweisen koppeln. Es geht damit zumeist um kein Detailwissen oder eine visuelle Analyse, sondern um eine Illustration des Diskurses mit filmischen Aufnahmen der Bezugsobjekte und -orte. Zusätzlich dient die Bildebene als indexikalische Referenz, die die dargestellten Elemente als nicht-fiktionale, sondern als ›außerfilmische‹ und damit der faktualen Wirklichkeit angehörende aufzeigt und im Stile ›realitätsparadigmatischer‹ Kodierung herstellt. Hin und wieder finden sich aber auch explizitere Ästhetisierungsstrategien: Während soeben eine Ansicht des Amselfeldes107 gezeigt wird, auf die der Georgier Leyla mit Fingerzeig hinweist, gibt er Informationen zum vierstündigen Kriegsgeschehen des kosova meydan muharebesi (»Die Schlacht vom Amselfeld«) wieder, in der die Osmanen den Feind dem »Erdboden gleich gemacht« haben. Die ideologische Färbung seiner Ausführungen ergibt sich so aus der Heroisierung der Leistungen der Osmanen. Seine Ausführungen bestärkt er mit der Information darüber, dass Murad Hüdavendigar (türkische Bezeichnung für Murat I.) noch in der Schlacht »hinterhältig« erdolcht und ein Grab (türbe) für ihn errichtet wurde.108 106 Reichert (2007, S. 27). 107 Aus dem Brockhaus-Lexikon: »Als Durchgangslandschaft zwischen Norden und Süden war das Amselfeld wiederholt Stätte entscheidender Schlachten. Am 28.6. 1389 (Sankt-Veits-Tag, serbisch »Vidov dan«) besiegte ein türkisches Heer unter Sultan MuradI. in der ›Schlacht auf dem Amselfeld‹ ein südslawisch-serbisches Heer unter LazarI. Hrebeljanović. Beide Heerführer fanden den Tod. Die Folge war die Unterwerfung Serbiens unter türkische Herrschaft.– Am 19.10.1448 wurde der ungarische Reichsverweser J.Hunyadi mit seinem Heer auf dem Amselfeld von den Türken unter MuradII. geschlagen.– Die historische Bedeutung des Amselfelds und der Anspruch Serbiens auf dieses historische Kerngebiet machten es in jüngster Zeit wieder zum Brennpunkt politischer Interessen«, Brockhaus (o.A.). 108 Die Schlacht auf dem Amselfeld gilt für die meisten Serben als zentrales historisches Ereignis. Dabei ist das Ereignis mythisch verklärt und nationalistisch vereinnahmt worden. In innenpolitischen Zusammenhängen (besonders unter dem serbischen Präsidenten Milošević) diente es für und unter der serbischen Bevölkerung als Instrument zu anti-bosnischer und damit anti-muslimischer Diskurs- und Affektpolitik und zur genozidalen Gewaltmobilisierungen, die 1992 in den Bosnienkrieg führten.
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Die Ansicht auf das Grab Murats, das aufgrund der Lichtverhältnisse kontrastgezwungen von fast schwarz gehaltenen Bäumen gerahmt ist, wird als eine Totale einer Weidenlandschaft gezeigt, in deren Hintergrund die am Horizont untergehende Sonne als diffuser Strahlenballen zu sehen ist, der zwischen Mauer und Baum hervorlugt. Diese ästhetisch, weil bildkompositorisch auf romantische Sonnenuntergangsästhetik angelegte Ansicht wird durch einen Zoom in eine Aufnahme mit symbolischer Funktion transformiert: Der Zoom naht so sehr an das Gebäude heran, dass nur noch die Sichelmond anzeigende Spitze der Kuppel vor dem Himmelshintergrund sichtbar ist (Abb. 50.1-2). Die Ansicht auf die türbe, die durch die totale Aufnahme vor Sonnenuntergang als romantisch-ästhetische entsteht, weicht der Konnotierung von Türkenheit, deren historische Relevanz in den Informierungssequenzen ein ums andere auch verbalsprachlich behauptet wird. So mischt sich in die lehrfilmartigen Episoden eine historisch-propagandistische Sicht, die ästhetisch-symbolisch (Sonnenuntergangsästhetik, Herrschaftssymbole des osmanischen Reichs) zugespitzt wird.
Abbildung 50.1-2 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Zeigen, Raum, Feier und Turkisierungsperformance Der pädagogische Charakter im Doppelbezug dieser Informierungen findet seine Zuspitzung und symbolische Verdichtung in der Endsequenz (→). Hier zeigt der Film, wie Leyla Lehrerin wird und vor einer Klasse mit türkischen Schüler_innen in Deutschland ihre erste Unterrichtsstunde hält. Als Resultat ihrer Re-Turkisierung entschließt sie sich nämlich, Kinder von Emigrant_innen in Deutschland zu unterrichten, damit diese nicht dasselbe Schicksal ereilt wie sie. Die Endsequenz des Films zelebriert so die Turkisierung der Migrant_innen und ihre Abwendung als Spektakel. Dabei gehen dieser Zelebration mehrere filmmedial-performative Handlungen voraus, die sich besonders durch die Montage als vertikale und horizontale Lokalisierungsakte verstehen lassen. Dies hat zur Folge, dass die letzte Sequenz der Republiksfeier aufgrund ihrer Montage zwei Deutungsmöglichkeiten zulässt: In Folge der aufreibenden Erlebnisse, die für Leyla identitäre Instabilität und Neuordnung provozieren, fühlt sie sich dazu berufen, jenen national-sozialen Grundgedanken, für den Mehmet einsteht, in einer effizienten Form umzusetzen. Als Lehrerin kann Leyla sich präventiv und quantitativ umfassend (durch das massenpädagogische Verhältnis als einzelne Lehrerin gegenüber einer Vielzahl von Schüler_innen) für eine Erhaltung und Etablierung nationalistischer Gesinnungen einsetzen und so das
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menschliche Einsatzpotential der Migrant_innen für deren Heimatnation, die Türkei, sichern. Das Fehlen dieser Einsatzkraft durch die permanente Emigration sah Mehmet als großen Verlust für seine Heimat an und begründete damit seine eigene Rückkehr ins anatolische Erzurum. Nach dem Besuch des verheirateten Mehmet in Erzurum, kehrt Leyla nach Istanbul zurück und liefert dort eine konkrete Aussage danach, wie die türkischen Migrant_innen in Deutschland im Film imaginiert sind. Sie erzählt ihrer Großmutter von ihrem Wunsch, in Deutschland als Lehrerin zu arbeiten. Daraufhin entgegnet die Großmutter mit dem Hinweis, dass sie dafür nicht auszuwandern brauche, sondern diesen Beruf auch in der Türkei ausüben könne. Leylas Antwort: »Du hast Recht. Aber sie [Emigrant_innen] befinden sich in großer Gefahr. Sie befinden sich in der Gefahr, sich von ihrer eigenen Heimat, von ihren eigenen Landsfrauen_männern und von ihrem eigenen Kernwesen zu entfremden. Ich möchte nicht, dass sie zwischen zwei Bevölkerungen aufwachsen und dieselben Qualen erleiden, die ich erlitten habe. Ich möchte ihnen, so gut meine Kraft dafür ausreicht, nützlich sein.« Ihre Wange streichelnd und einen Ausdruck der Zuneigung artikulierend zeigt sich die Großmutter mehr als glücklich über Leylas aufopfernde Entscheidung. Als Leyla nun in der Sequenz vor der Schulklasse der Migrant_innenkinder steht (Abb. 51.1) und das Thema der ersten Unterrichtsstunde verkündet, faltet sie eine Türkeikarte auf (Abb. 51.2), die frontal und mit Zoom-In aufgenommen ist. Leyla verkündet dazu: »Unser Thema: Türkei. Unsere Heimat«. Daraufhin werden Szenen der Feier des 51. Jahrestags der Republiksgründung der Türkei gezeigt, die von einem choralen Gesang der militaristischen Marschhymne Cumhuriyetimizin 50. Yıl Marşı (»Der Marsch vom 50. Jahr zu unserer Republik«) von Bekir Sıtkı Erdoğan begleitet sind (Abb. 51.3): ein kraftvolles, pathetisches und leicht melancholisches Lied, das mit wallenden Klängen voller Wucht aufwartet.
Abbildung 51.1-3 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Der türkische Schulalltag vollzieht im Übrigen auch heutzutage noch die Stabilisierung der nationalen Identität bei den Schüler_innen durch das performative ant içmek, das Leisten eines Schwurs. Dieser orientiert sich am Leitsatz Mustafa Kemal Atatürks und besagt, dass es ein »Glück ist für denjenigen, der sich Türke nennt« (original: Ne mutlu Türküm diyene). Genau diesen Schulschwur lässt auch Leyla die migrantischen Schüler_innen zu Unterrichtsbeginn aufsagen. Dabei wird der Schwur im Film in umgewandelter und gekürzter Form vorgetragen. Teile, in denen Atatürk vorkommt, sind im Film gänzlich ausgelassen. Hierin zeigt sich das komplexe ideologische Umfeld, das der Film produziert und in dem er sich faktisch bewegt. Obwohl sich Atatürk im Film auf symbolisch-visueller Ebene wiederfinden lässt, wird er sprachlich-diskursiv nicht
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thematisiert. Zudem tragen die Kinder eine türkische Schuluniform (!), auch wenn in deutschen Schulen nicht einmal vorgesehen ist, dass überhaupt eine Uniform zu tragen ist. Dieser Umstand lässt so vermuten, dass die Szene in der Türkei gedreht wurde. Hier nun der im Film aufgesagte Schwur: Türküm Ich bin ein_e Türk_in Doğruyum Ich bin gerecht/aufrichtig Çalışkanım Ich bin fleißig Yasam Mein Gesetz ist Küçüklerimi sevmek Meine Jüngeren zu lieben Büyüklerimi saymak Meine Älteren zu achten Yurdumu, Milletimi özümden çok sevmektir Meine Heimat, mein Volk mehr zu lieben als mich selbst Varlığım, türk varlığına armağan olsun Mein Dasein, soll dem türkischen Dasein ein Geschenk sein In der pädagogischen Leitung durch Leyla, die selbst durch einen schmerzhaften Vorgang der Turkisierung gegangen ist, findet eine turkisierende Performance durch das Leisten des nationalen Schwurs auf Seiten der Schüler_innen statt. Die Kamera wechselt von der vorsprechenden Leyla auf die zahlreichen, in halbnaher Einstellungsgröße aufgenommen Gesichter der Schüler_innen, die ihr den Schwur nachsprechen. In den letzten Versen zoomt die Kamera von der Nahaufnahme, die die sprechende Leyla zeigt, heraus auf die Klasse als Halbtotale: Die mit dem Rücken zur Kamera stehenden Kinder werden im Klassenraum gezeigt, in dem über der Tafel ein Porträt Atatürks und jeweils rechts und links daneben türkische Fahnen zu sehen sind. Dieselbe Zoombewegung wird wenig später von einem Gesicht einer Schülerin auf Leyla vollführt, die in einem over-the-shoulder shot dasteht. Schließlich eine dritte Einstellung, die den Zoom-Out von Leylas Gesicht auf die Klasse umkehrt, also von den Hinterköpfen der Schüler_innen auf Leylas Gesicht hineinzoomt: Suturierender Schuss und Gegenschuss. Leyla hängt nun die Karte auf, verweist mit ihrer Hand auf sie und steht auffallend distanziert zur Karte, wobei sie zugleich auf sie blickt. Der dann einsetzende Zoom, als kameratechnisches Nahen auf Bildobjekte, überträgt das Zeigen auf die Karte in einen Sichtakt. Wenn die Hand des Menschen das Zeigen übernimmt, also gestischer Akt des Zeigens ist, dann ist der Zoom das optische Pendant dazu, weil es das Zeigen mit der hindeutenden Bewegungsrichtung des Bildfeldes auf ein Objekt hin auf der Ebene der Skalierungserzeugung vollführt. Metaphorisch beziehungsweise aus einer Vorstellung eines anthropomorph-verkörperten Status der Kamera gesprochen: Der Zoom ist die »Hand« der Kamera, die am Ende des Zooms mit dem fokussierten Objekt seinen Fingerzeig darauf vollzieht. Sobald der Zoom die Karte erreicht, setzt die kraftvolle Marschhymne zeitgleich mit zunehmendem Nahen des Zooms auf die Karte ein. Von der Karte wird dann auf das vom österreichischen Künstler Heinrich Krippel 1925 entworfene Reiterstandbild Zafer Anıtı (das Siegesdenkmal in Ankara) geschnitten, das am zentralen Ulus-Platz in Ankara an den von Atatürk geführten Befreiungskrieg erinnert, mit dem dieser im ersten Weltkrieg die Auflösung des osmanischen Reichs unter den Siegermächten abwenden konnte.
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Von der Karte, die die Nation als geographische Oberflächengestalt in einer extremen Aufsicht zeigt, wird durch den Schnitt ein Ortswechsel vorgenommen, aus der heraus die Kamera in leichter Untersicht das Reiterstandbild zeigt. Dieser dreifache Bildwechsel, vom Klassenzimmer zur Ansicht auf die Landkarte zum Ulus-Platz in Ankara vollzieht selbst eine Migrationsbewegung für die (Repräsentation, Erzählung) und mit (Phänomenologie, verkörperte Wahrnehmung) den Zuschauer_innen. Das Klassenzimmer markiert dahingehend den Anfangsort dieser Migrationsbewegung. Der Zoom, der aus einem Standpunkt heraus einsetzt, der sich inmitten der Schüler_innen befindet (Schüler_innenstandpunkt ist die Blick-Origo des Zoomakts), erzeugt nicht mehr die Geste des Zeigens, sondern eine Verortungsgeste. Diese Geste versetzt die Zuschauer_innen über die Bildwechsel in einen Zustand migratorischer Bewegung. Diese migratorische Bewegung verläuft gemäß der zeit-räumlichen Folge entsprechend vom AbOrt der Migration, der in der Fremde (Deutschland) liegt, zum Heimatort (Türkei): Jeder Schnitt ist eine Veränderung raumzeitlicher Koordinaten. Im Kontext dieser Geste des Zeigens auf den Kartenausschnitt koppelt sich dieser Umstand der Veränderung raumzeitlicher Koordinaten mit einem szenisch im Schnitt vollzogenen Ortswechsel, der von dem auf der Karte gezeigten Ort auf den ›realen‹ Ort des gezeigten Ausschnitts wechselt. Den präsentierten Landkartenausschnitt als eine Schwelle zu betrachten, die zwischen diesen beiden Orten liegt, kann dann zu zweierlei Folgerungen verleiten: Erstens vollführte der Zoom in die Karte und dem Schnitt auf Ankara dann eine ›Tiefen‹-Bewegung. Der Raum der deutschen Schulklasse ist zunächst ein Meta-Raum des Lernens und der Identitätsaneignung (Turkisierung), von dem aus in die Sequenz der nationalen Feierlichkeiten gedrungen wird, der dann als Innenraum zu denken ist, quasi als Allegorie für eine innere Feierlichkeit als Resultat des Triumphs über die Turkisierung: Von der diegetischen Ebene in eine weitere diegetische Ebene, die im Raum der Karte liegt. Der Schulraum wäre dann ein phantasmatischer Über-Ort und damit auch Über-Bau, sodass die Sequenz von der dokumentarisch festgehaltenen Republiksfeier diegetisch verbürgt ist. Doch der Zoom vollzieht auch, hier nun als verkörperte Wahrnehmung gedacht, einen verortenden Akt des Zuschauer_innenkörpers, der sich mit den operativen Aktionen der Kamera verschränkt hat und diese Tiefenbewegung eher als Sprungbewegung zurücklässt109 : Die Hineinbewegung bewegt nicht wirklich den immobilen Zuschauer_innenkörper. Das Verhältnis von Kameraaufnahme, den erscheinenden und mit Zoom gleichsam in flüssiger Bewegung sukzessive aus dem Filmbild verschwindenden Objekten ist korrelativ zur Wahrnehmung des filmischen Bildes dieser Verhältnisse verknüpft. Weil die Kamera in diesem Hineinzoomen einen Wahrnehmungs(!)akt 109 Zum Verständnis von Film als Körper, hier in extremer Verkürzung argumentiert: »Der Zuschauer registriert die Wahrnehmung des Films stets als eine externe Wahrnehmung einer nicht mit ihm identischen Instanz. So sind Film und Subjekt durch das Phänomen der Verkörperung der Wahrnehmung zugleich verbunden und getrennt. Sie teilen das Prinzip einer verkörperten Wahrnehmung, sind aber gerade durch die Verkörperung voneinander unterschieden«, Morsch (2011). Das heißt die gestaltete Wahrnehmung als Film selbst (das Filmbild; mit Sobchack hatte ich bereits auf ihre Konzeption des cinesthetic subject hingewiesen, Kapitel 6.2) und die Wahrnehmung des Films durch Zuschauer_innen lassen sich als zwei unterschiedliche Wahrnehmungsakte unterscheiden, die sich miteinander verschränken.
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vollzieht, auf den sich die Wahrnehmung von Zuschauer_innen richten kann, ist dieser Akt der Kamera als eine verkörperte Wahrnehmung zu denken, als eine Wahrnehmung, die von einem spezifischen verleiblichten Zuschauer_innenkörper heraus erneut wahrgenommen wird: Einfach ausgedrückt ist damit die untrennbare Relation zwischen dem Sehen und dem Sichtbaren gemeint. Diese intentionale Korrelation korrespondiert nach Sobchacks Ansicht nicht nur mit dem Sehen des Zuschauers sondern auch mit der Wahrnehmung des Films. Die Bewegungsbilder auf der Leinwand sind sowohl der sichtbare Ausdruck der Wahrnehmung des Films als auch das Objekt der Wahrnehmung des Zuschauers. Auf diese Weise überlagern sich im Kino zwei Wahrnehmungsakte, die autonom von einander stattfinden.110 Obwohl der Vorgang des Zooms nicht zu den optischen Operationen gehört, die dem Menschen zur Verfügung stehen, wird er dennoch irgendwann als verkörperte Wahrnehmung eingeholt, denn: Schon die Entfesselte [sic!] Kamera erlaubte Wahrnehmungsverläufe des Films, die dem Menschen wegen seines materiell andersartigen Leibes nicht möglich sind. Jeder ungewöhnliche Wahrnehmungsverlauf ist aber nur für eine bestimmte Zeit ungewöhnlich, er hört auf eine Abweichung von der Norm zu sein, wenn ihn das Publikum aufgrund von Gewöhnung als gewöhnlich wahrnimmt.111 Worin liegt der verortende Effekt des Zooms? Dazu muss hier kurz der Unterschied zwischen den beiden Herannahungsweisen von Zoom und Kamerafahrt erläutert werden: Der Zoom-In erscheint als Bewegung und ist doch keine. Er ist eine Form der sukzessiven Bildausschnittverknappung, die einen statischen Blick als Durchdringungsvorgang in das räumliche Feld vollzieht, die aber alle am Bildrand liegenden aufgenommenen Objekte intakt lässt. Die Skalierung der Welt im Filmbild durch den Zoom, das heißt das sukzessiv, zumeist flüssig verfahrende Abschneiden aller vier Ecken des rechteckigen Bildfelds und das zunehmende Füllen des Bildfelds mit dem gezoomten Objekt, gleicht einem kontrollierten Vergrößern. Der Unterschied zur Kamerafahrt ist, dass der Zoom keine perspektivische Verzerrung der Objekte an den Bildrändern mit sich bringt und so einen zwei-dimensionalen Raumeindruck zurücklässt. Weil der Zoom-In also als ›flache‹ Tiefenbewegung entsteht, den Raum intakt lässt, heißt das für die verkörperte Wahrnehmung, dass der Zoom-In eher als Spannung von Bildfeldverknappung und Objektvergrößerung (im Falle eines Objektzooms wie hier) wahrgenommen wird. Im konkreten Film wird der Zoom-In weniger als ein Eintauchvorgang – dafür hätte sich eine Kamerafahrt angeboten –, sondern viel mehr als eine Vergrößerung eines Ausschnitts ausgemacht. Die Karte wird durch den Zoom in ihrer Größe so weit skaliert, dass der Rest um die Karte herum ausgeblendet erscheint. Und doch bleibt auch beim konkreten Zoom hier in der Szene ein Bewegungscharakter erhalten, weil der statisch 110 Isinger (2005, S. 169). 111 Isinger (2005, S. 174).
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verbleibende Blick eine Verortung erfahren hat, die dann im Sprung von der Karte auf den konkreten Ort Ankara resultiert. Zweitens könnten die Zoombewegung und der Schnitt auch eine Bewegung auf horizontaler Ebene sein. Die Montage folgt dann keiner Logik von Innen- und Außenraum, sondern beide Szenen wären als zwei separate Settings zu denken. In den Sequenzen von der Republiksfeier ist kein eindeutiges Blicksubjekt auszumachen, auf das die Kameraeinstellungen als PoVs rückführbar wären. Die Sequenz präsentiert Realbeziehungsweise dokumentarische Archivaufnahmen von der Feier. Dieser eindeutige Moduswechsel in Verbindung mit der Vorstellung eines horizontalen Settingwechsels gibt der Sequenz einen unsichtbaren, autonomen Erzählcharakter. Dokumentarfilmaufnahmen enthalten oftmals weder ein potentielles Blicksubjekt, das mit dem Kamerablick zusammenfällt, noch sind sie narrativ konkreter zu verorten. Sie entstehen als akusmatischer Blick, da sie keine Bezüglichkeit mehr zu einem eindeutigen Blicksubjekt oder dem Repertoire an vorausgehenden Figuren aufweisen. So unterhalten die dokumentarischen Aufnahmen von der Feier einen ambivalenten Bezug zur diegetischen Erzählwelt von Leylas und Mehmets Story. Es bleibt unentscheidbar, ob die Feieraufnahmen einer Wirklichkeit entstammen, die zur oder die nicht mehr zur Erzählwelt gehören. Dabei sind solche Konstellationen zwischen gestellter, inszenierter profilmischer Welt und dokumentarischen Aufnahmen aus der Ordnung der ›un-gestellten‹ Welt im erzählerischen Film oft genutzte Stilmittel. Beispielsweise gehen dem Vorspann in Krimis meist dokumentarische Fahrtaufnahmen aus der Stadt voraus, die Momentaufnahmen aus dem Stadt- und Straßenleben enthalten. Aufnahmen von Originalschauplätzen sind hybride Filmbilder, in denen unfreiwillige Blicke in die Kamera durch Statist_innen das Blickregime destabilisieren. Zugleich ist dort das Verhältnis der Aufnahmemodi zueinander von stärkerer Bestimmtheit besetzt: Die ›dokumentierte Wirklichkeit‹ soll Teil der diegetischen Welt werden, was komplexe Relationalitäten von gestellter oder ›uninszenierter‹ Aufnahmen zur Folge hat. In Oğlum Osman verkompliziert sich das Verhältnis der audiovisuellen Modi dadurch, dass Çakmaklı Einstellungen aus unterschiedlichen Filmen ein- und zusammensetzt: Der Film, den Helgas Familie und Osman gemeinsam sichten, ist ein aus mehreren Filmen zusammengesetzter. Szenen aus Cecil B. DeMilles Die zehn Gebote (1956)112 und auch aus Çakmaklıs eigenem zuvor gedrehtem türkischem Lehrfilm zur Pilgerfahrt nach Mekka (Kâbenin Yolları) werden darin gezeigt, die gerade im Hinblick auf die Notwendigkeit nach der Suturierung von Zuschauer_innen in dem dezidiert ideologisch angelegten Film die Verhältnisse verkomplizieren. Soeben war in vereinfachter Manier noch von den suturierenden Effekten durch Schuss-Gegenschuss zwischen Lehrerin und Schüler_innen die Rede113 . Dann war die Rede von zwei Möglichkeiten der Verortung: im einen durch die verkörperte Wahrnehmung als Ordnungswechsel und Tiefenbewegung, im anderen als horizontaler 112 DeMille (1956). 113 Hier ausgeklammert bleibt der gesamte Themenkomplex psychoanalytischer Filmtheorie, der die Kategorien von Phantasie, Phantasma, Regression und Traum betrifft.
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Ordnungs- und Settingwechsel und der daraus resultierenden, performativen Modalität der Feier. Hier nun lässt sich die Perspektive der verkörperten Wahrnehmung nochmal zuspitzen, um darüber zu einer angemesseneren Beschreibung der Szene zu gelangen: Das permanente Durchkreuzen des Klassenzimmers durch die Kamerazooms, die auf der Landkarte endeten, können als Explorationsakt der Kamera verstanden werden, der den Raum so vermisst. Die Vermessung des Raums wäre aber keine Verwaltung der Sichtbarkeit, sondern ließe sich als eine Auflösung von Grenzen verstehen, der Grenzen von Hier und Dort (zum Teil auch der komplexen medialen Gefüge einer jeden filmdispositiven Konstellation [Kamera, Figuren, Schirm, Auge, Blick, Körper]): Dem Zoom gehen die harten Schnitte zwischen Leylas Gesicht und demjenigen der Kinder voraus. Die Schnitte sind die Trennung und Getrenntheit und erst mit vollzogenem Schwur werden die ›harten‹ Schnitte zwischen den Gesichtern von einer Einstellung abgelöst, in der die Kinder und die Lehrerin in einem Bild zugleich enthalten sind. Hier nun wird von einem Gesicht eines Kindes auf die Multiplizität der vielen Kindergesichter und der körperlichen Vorhandenheit der Lehrerin herausgezoomt. Die Getrenntheit weicht dem Bild eines solidarischen Miteinanders, dessen räumliche Situiertheit durch die Zooms zunehmend homogenisiert wird: im Hinblick auf die Größenverhältnisse und dem eingenommenen räumlichen visuellen Volumen von Kindern und Lehrerin. Der Effekt ist hier der Verlust der souveränen Orte, die punktuelle Grenzüberschreitung durch den kurzzeitigen Orientierungsverlust in den schnellen überkreuzenden Zooms. So kann die Exploration, also das Beschaffen des Wissens um die Territorialität eines Raums, auch eine Diffusion von Hier und Dort der filmischen Instanzen betrachtet werden: zwischen der Figur der Leyla und den Schüler_innen; zwischen erlittener Turkisierung (Leyla) und zu vollziehender Turkisierung (Schüler_innen); zwischen Film (Eingeschriebenem) und Zuschauer_innen (zu Turkisierende beziehungsweise nun durch den Film Turkisierte); zwischen der verkörperten Wahrnehmung des Films (Zoom) und der Wahrnehmung der Zuschauer_innen (Wahrnehmung des Zooms); zwischen einem Vorherigem (Leyla) und einem noch Kommenden (Schüler_innen). Diese Exploration des Raums in der Montage wird nicht nur deswegen umgesetzt, um die Wahrnehmung so zu modulieren, dass auch »alle weiteren Einstellungen in der Vorstellung eines homogenen Raums«114 zusammengefügt werden. Ganz im Gegenteil: um die Grenzüberschreitung des Raums der figürlichen Instanzen in dem sich vollziehenden Akt des Schwurs als Diffusion von Hier und Ort, Zukunft und Vergangenheit, Gefahr und Auslöschung (der Verwestlichung) zu etablieren und Zuschauer_innen darin unentscheidbar zu verorten. Nicht nur haben Zuschauer_innen mit Leyla mitgelitten, sondern sie werden auch noch selbst der Rolle gefährdeter, zu turkisierender Kinder zugeschrieben und erlöst. So sind sie Doppeltes, weil aktives Erfahrungssubjekt eines Filmischen und passives Bearbeitungssubjekt durch den Film zugleich. Wie wir noch sehen werden, werden in diese Doppelseitigkeit des Zuschauer_innensubjekts noch weitere Aspekte einzubeziehen sein (▶ Kap. 9.3). Es bleibt bei den Aufnahmen der Feierlichkeiten folgendes hervorzuheben: In Memleketim sind die Aufnahmen von der Feier und der Szene in der Schulklasse von ei114 Kappelhoff (2007b, S. 140).
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nem eindeutigen Bruch gekennzeichnet. Galt die Sequenz in der Schule noch als Teil der Erzählung von der Turkisierung Leylas, entstehen die Aufnahmen von der Republiksfeier in dieser narrativen Exkludiertheit selbst als performativer Akt einer Feier, an dem die Zuschauer_innen des Films teilhaben können. Die gezeigten Rituale fallen in ihrer Modalität mit dem performativen Charakter der Enunziation zusammen: Die gezeigte Republiksfeier wird Mittel einer Feier im Film, die durch die Dokumentation im je spezifischen Rezeptionskontext selbst als feierlicher Akt entsteht. Der Schnitt von der Landkarte auf Reiterstandbild kappt den Bewegungscharakter des Zooms dann und trennt zwischen fiktional-erzählerischer und dokumentarischer Modalität115 : Es gilt zu feiern, dass die Arbeitsmigrant_innen und die jeweiligen Zuschauer_innen einer Europhilie und Verwestlichung entkommen sind. Der Film feiert sich, seine Zuschauer_innen und die Durchsetzung seiner ideologischen Programmatik. Versteht man die Aufnahmen als dokumentarische, feiert der Film schlichtweg die Nation selbst.
9.1.6.
Okzidentalisierung III: Das Reiterstandbild
Mehmets und Leylas Beziehung ist von ihrer ideologischen Gestimmtheit abhängig. Dabei ist das Entscheidungsmoment für den Fortgang ihres Zusammenseins von ihrer jeweiligen Zukunftsvision abhängig. Die Zukunftsvisionen der beiden scheinen unvereinbar, denn während für Leyla ein Verzicht auf das ihr so viel einbringende Europa unmöglich erscheint, ist für Mehmet eindeutig die Rückkehr die einzige und verantwortungsvolle Lebensoption – insbesondere deswegen, weil er die Zugehörigkeit zu und die Verortung eines Menschen in einem dazugehörigen nationalen Raum als richtige Konfiguration von Subjekt und Raum versteht. Dieser auch verbal angelegte Konflikt, der sich zuvor in den jeweils sich gegenseitig mit Belehrungsaktionen durchzogenen Auslandsaufenthalten als Widerstreit anzeigte, nimmt sein Ende an einem Reiterstandbild auf dem Heldenplatz in Wien. Die Differenz der beiden Ansichten wird in jenem Setting durch eine besondere Szene sichtbar gemacht (→), die eine genauere Analyse lohnt, weil durch die filmische Konstruktion das Programm des Films (Dichotomisierung) in einen »repräsentationslogischen Exzess« geführt wird, die Entstehung von okzidentalisierenden Diskursen im Emigrationskontext in jener Szene des Films am markantesten umgesetzt wird. Als Mehmet Leyla damit konfrontiert, dass seine Ausbildung beendet sei, er nun in die Türkei zurückkehren werde und sie mit ihm mitkommen solle, sprechen sie über ihre unterschiedlichen Zukunftsperspektiven und die Rolle von Identität, Kultur und Nation. Mehmet versucht Leylas Argument eines universellen Humanismus, der keine lokale oder nationale Zugehörigkeit oder ein gemeinschaftsförderliches Wirken in der Heimat als erforderlich betrachtet, zu enthebeln. Das zeigt sich daran, dass er sagt, dass »kein europäischer Ingenieur oder Arzt nach Anatolien ginge und sich dort aus Gründen des Humanismus niederlasse«. Er bestärkt seine Aussage dadurch, dass er sagt, dass es »egal« sei, wie »lange sie in Wien leben« werde, »fünf Jahre, zehn Jahre, 115 Auch der dokumentarische Modus hat stets fiktionalen und erzählerischen Charakter. Dennoch bleibt die Differenz der Modalität enthalten, was sich zum Beispiel im Fehlen einer_eines handlungsleitenden Protagonisten_in anzeigen kann. Generell dazu Reichert (2007, S. 31-39).
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zwanzig Jahre« oder auch »lebenslang«, niemals würde sie vollständige Akzeptanz erfahren, sie bliebe »immer Türkin für ›sie‹ [die Europäer, Wiener, Ö.A.]«. Immer würden sie Leyla »so« sehen: Auf das deiktische »So [im Original: böyle]« hin zeigt Mehmet auf das im Hintergrund befindliche Reiterstandbild (Abb. 52.1). 1865 vom Bildhauer Anton Dominik Ritter von Fernkorn konzipiert, zeigt das Reiterstandbild Prinz Eugen, auf einem Pferd mit angehobenen Vorderbeinen vor militärischen Insignien feindlicher Soldaten. Der Sichelmond auf dem Helm verweist auf die türkischen Feinde (Abb. 52.4). Auf Mehmets Fingerzeig folgt eine Vielzahl von Zoom-ins und -outs kombiniert mit starken Schwenks, die Details des Reiterstandbilds in nahen bis halbnahen Einstellungen zeigen, während kraftvolle, klassische Musik im Hintergrund zu den Bildern erklingt. Das Standbild wird zur Evidenz für das von Mehmet unterstellte Türkenbild der Wiener oder Europäer, das sich »niemals ändern werde«: das Türkische »immer unter den Füßen« liegend.
Abbildung 52.1-4 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Leyla entgegnet unbeeindruckt, dass sie diesen »chauvinistischen Nationalismus« nicht akzeptieren werde und spricht vom bevorstehenden Zusammenschluss der Nationen zu einem Gesamteuropa sowie von der Auflösung der nationalen Grenzen. Wie ist die Szene filmisch konstruiert? Worin besteht der repräsentationslogische Exzess der Szene und wie ist er konkret in den Zusammenhang von Emigration eingebunden? Der erste Zoom naht auf die militärischen Insignien der Türk_innen. Darauf folgt eine zweite Einstellung, die denselben Zoom-In auf die feindlichen Rückstände vollführt, aber danach auf die Vorderbeine des Pferds schwenkt, die der Reiter Prinz Eugen mit angezogenen Zügeln zum Anheben gebracht hat. Anschließend wird auf das geöffnete Pferdemaul mit einem leichtem Zoom-Out geschwenkt, sodass das gesamte Pferdehaupt samt Hals inklusive Miene mit offenem Maul und aufgerissenen Augen sichtbar wird: Die Mimik vermittelt einen Eindruck des Schocks des Pferds. Ein leich-
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ter Schwenk nach Links mit Zoom-In auf das ernste und zuversichtliche Gesicht des Prinzen setzt nun ein, das aus Untersicht im Profil gezeigt wird. Darauf folgt ein aufsichtiger Gegenschuss auf Mehmet, der mit seinem Fingerzeig vor Leyla noch weiter auf das Reiterstandbild hinweist: Es folgt ein erneuter Schwenk vom Pferdekopf auf den Prinzen in Untersicht und zeigt erstmalig ein Objekt in der linken unteren Ecke, das Mehmets zeigenden Finger indizieren soll. Aufgrund der Kürze der Einstellung ist dieses aber als kaum mehr als ein unscharfes, schwarzes Objekt zu erkennen und aufgrund der Kürze der Einstellung liegt es fast schon jenseits der Wahrnehmungsschwelle. Die schnellen Zoom-Ins produzieren Effekte der Desorientierung, weil sie mit leichter Drehung versehen und aus Untersicht gefilmt sind. Die kontrollierte Situation von stabiler Zuschauer_innenposition und stabilem Bildraum wird insofern in eine Destabilisierung gebracht, als dass der betrachtete Bildraum seine festen Bezugskoordinaten verliert. Die hektischen Bewegungen und die schnelle klassische Musik dramatisieren und dynamisieren die Szene. Die Zoom-Ins mit den Schwenks von den Details des Reiterstandbilds werden anschließend in verkehrter Reihenfolge nachvollzogen, bis der Kamerablick wieder auf den fingerzeigenden Mehmet gerichtet ist. Es scheint so, als würde Mehmet mit seinem Fingerzeig den Blick der Kamera an das Reiterstandbild schleudern, damit die Kamera es stückweise abtasten, die Details einzelner Elemente für einen Moment festhalten und dann den Weg der Kamera wieder zu ihm zurückfinden kann. Der Blick der Kamera wurde mit dem Auftrag der Abtastung an das Bild geschleudert, sodass er sich nach der Erfassung des Bildes wieder an die im Zentrum stehenden beiden Verliebten richtete. Der Auftrag der Kamera lässt sich als Vereindeutigung der Blickbewegungen und Deutungsstrategien des Reiterstandbilds verstehen, der die in der Standbild-Rezeption enthaltenen Möglichkeiten einer polyvalenten Erschließung zu tilgen versucht. Diese Bedeutungssteuerung zeigt die Blickchoreographie als Dienst der Figur und des Films zugleich, da der Protagonist in der Lage ist, die Blickgesten zu steuern. In Verbindung mit der Bewegung durch den Zoom wird der Blick aufgrund der innerfilmischen Figurenanweisung in seiner Beobachtungsaufgabe aktiv. In der Dauer der Abtastung des Reiterstandbilds und der hektischen Bewegungen wird dadurch eine Körperlosigkeit sowie Hektik des Blicks vernehmbar, die sich mit der Hektik der Musik synchronisiert (schnelle Streicherklänge und Tonfolgen). Zugleich verbleibt die Kamera nicht als subjektiver Blick einer Figur zurück, da er für ein menschliches Blicken nicht statisch genug ist, und zugleich die Details per non-humaner Sichttechnik des Zooms exploriert. Mehmets und Leylas Blicke bleiben auf das Reiterstandbild gerichtet. Die Abtastung des Reiterstandbilds durch die Kamera endet mit Mehmets Worten nach der Unveränderlichkeit der Perspektive und Sehweise der Anderen (des Westens, der Wiener): »Der türkische Soldat unter den Füßen liegend. Sie haben uns immer so gesehen und werden uns immer so sehen«. Der Reiter wird hier zum Repräsentanten Wiens und damit auch des Westens etabliert. Die Szene greift den im Interpretationsraum des Reiterstandbilds enthaltenen Repräsentationsgedanken auf und bindet ihn über die Bezugsweise Mehmets in die kommunikative Situation zu Leyla ein. Dadurch werden ebenfalls die Zuschauer_innen adressiert. Insbesondere geschieht dies durch die deiktischen Effekte: Wir sehen Mehmets Zeigefinger in der subjektiven Kamera – ein Zeigefinger, der sich nicht nur
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an Leyla wendet, sondern auch in den Zuschauer_innenraum gerichtet ist. Dies zeigt sich im Gegenschuss auf Mehmets Zeigen, das zwar gegen das Reiterstandbild zeigend suggeriert wird, aber mit der frontalen Gerichtetheit der Kamera auch in den Zuschauer_innenraum zeigt. Damit realisieren die komplexen deiktischen Vorgänge eine Anrufung und changieren somit auch zwischen diegetischer (Leyla zeigen) und performativer (Zuschauer_innen zeigen) Adressierung. Die Skulptur samt ihrer Repräsentation eines Siegs der Wiener_innen über die Türk_innen wird zum Sinnbild einer Disposition, die mit einer Begrifflichkeit des Optischen (»sehen«) verbalisiert wird. Der Erhalt dieser anti-türkischen Haltung ergibt sich Mehmet zufolge mit dem Erhalt der massiven Skulptur, die noch immer dort stehe. Als Denkmal werde es stets an die Unüberwindbarkeit der Wiener Disposition erinnern, dass das Türkische unterwürfig zu machen sei. Das Fortbestehen der Skulptur, ihr Charakter als Denkmalobjekt verdankt sich der massiven Materialität. Ihre erinnerungspolitische Funktion ist folglich auf lange Sicht angelegt. Die filmische Konstruktion expliziert mit dem Denkmal die im Reiterstandbild kondensierte Dispositions-Optik der Wiener_innen/des Westens gegenüber den Türk_innen. Die visuelle Exploration der Standbilddetails avisiert die visuelle Verfügbarmachung eben jener Details, die in ihrer Reihenfolge das im Standbild enthaltene Narrativ verstehbar machen sollen: Die türkischen Soldaten (Nahe der türkischen Insignien) landen vor den Füßen (Nahe von den Hufen des Pferdes) eines aufgebrachten Pferds (Nahe des Pferdegesichts), das selbstbewusst von einem Wiener/Westlichen nach dem Sieg über die Türk_innen geführt wird. Oder nicht der Aufnahmereihenfolge, sondern im Hinblick auf das enthaltene Narrativ formuliert: Ein Wiener Feldherr ist gegenüber dem Türkischen der Vollstrecker einer Demütigungsgeste und Siegverkündung, für das er ein aufgebrachtes Pferd und dessen Hufe als Realisierungsmedium eben jener Herabwürdigung und Glorifizierung des Siegs benutzt. Die Unbewegtheit der Statue enthält in sich die Möglichkeit entlang der Imaginationen ihrer Betrachter_innen in Bewegung gesetzt zu werden, »insofern jede Betrachtung durch ein bewegliches Auge, unter inneren wie äußeren Einflüssen erfolgt und individuell unterschiedliche Längen und Intensitäten hat«116 . Mit der Blicksteuerung über die einzelnen Detailaufnahmen stellt dieser Betrachtungsvorgang eine Reduktion da, die in einer blickchoreographisch verfahrenden Vereindeutigung besteht. Die durch Zooms, Schwenks, Schnitte ausgezeichnete filmische Konstruktion resultiert in dem Effekt, das im Reiterstandbild enthaltene Narrativ in eine solche Lesart zu überführen, dass die imaginative Blickbegehung der Statue durch einstellungsvermittelte Blickoperationen vorweggenommen, vereindeutigt, reduziert wird. Doch die filmische Konstruktion der Szene entäußert nicht nur eine Disposition der Wiener, sondern lässt sich für Mehmet als Repräsentation jener gegenseitigen Feindlichkeit lesen, die ein Emigrant_innen-Dasein als leidhafte Existenz in der Fremde erst herstellt. Mit ihrer deiktischen Überdeutlichkeit und den blicktechnischen Dopplungen einer an sich schon lesbaren Statue stellt sie einen repräsentationslogischen Exzess dar. Er besteht in der Kommunikation von der Unvereinbarkeit von Westen und Türkischem und ist den sichtbarkeitsökonomischen Grenzen der filmischen Materialität geschuldet 116 Bruhn (2009, S. 203).
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ist: Die Reiterstatue ist so groß, dass die Details einzeln durchlaufen werden müssen, da der Blick- und Rezeptionsvorgang der Statue durch Zuschauer_innen in einem Einzelbild nicht zweckbezogen steuerbar wäre. Aus diesem Grund werden die filmischen Blicksteuerungen notwendig. Ein Leben als Emigrant_in ist Mehmet zu Folge immer ein Leben, das der Fremdheit und damit dem Leid überantwortet ist. An den Ausführungen zum permanenten Fremdheitsgefühl eines entorteten Subjekts, das Mehmet anspricht, zeigt sich so auch die Vorstellung von gurbet: Der repräsentationslogische Exzess führt hier zu einer Überbietung des eigenen Sinns der Szene, insoweit die signifikante Signifikanz der Deiktika gar als gewaltvolle Handlung Leyla gegenüber entstehen. Der höfliche Arzt wird zum zentralen Akteur einer gewaltvollen Blicksteuerung, die der Frau keine Möglichkeit des Blickentzugs mehr lässt. Sie soll sich auch auf die Zuschauer_innen übertragen und damit die Ambiguität der Lesarten reduzieren: Insofern zielt die filmische Konstruktion auf Disambiguierung, die propagandistische Strategien jeher auszeichnen.
9.1.7.
Okzidentalisierung IV: Konstruktionen des Westens
Die folgenden Ausführungen arbeiten an den beiden Filmen Memleketim und Oğlum Osman Diskurse im Film heraus, die den Westen konstruieren. Ziel ist es, die Programmatik der Alterität innerhalb des millî sinema und so im türkischen Emigrationsfilm genauer herauszustellen. Insofern bleiben die nachfolgenden Ausführungen im Vergleich zu vorherigen Kapiteln weniger filmästhetischen oder filmmedialen Überlegungen verpflichtet. Minoritär, Majoritär: Die Lust nach kleinen Zahlen Auffällig wird im Hinblick auf Situationen im Film, in denen gegen eurozentrische oder europhile Diskurse argumentiert wird, Folgendes: Die Verteidigung einer gegen das Eurozentrische abhebenden Position obliegt in den szenischen Anlagen stets einer Logik von Mehr- und Minderheit. Sowohl Mehmet als auch die später turkisierte Leyla behaupten sich argumentativ gegen eine große Gruppe von Menschen, die das Europäische als kulturelles oder wertemäßiges Nonplusultra erachten. Dies zeigt sich beispielhaft in den Szenen, als Mehmet gegen Leylas Freunde argumentiert während er bei Helga zu Besuch ist (Abb. 53.1), und als Leyla sich gegen die Freunde der Eltern stellt, die beim Hochzeitstag zu Besuch sind (Abb. 53.2). Das filmisch erwählte Gefüge zwischen einem Einzelsubjekt und einer Gruppe von Subjekten, die einen prowestlichen Standpunkt vertreten, operiert auf einem ideellen Grund von Abwehr: Immer sehen sich die protürkischen Subjekte einer Legitimation gegenüber dem Argument des westlichen Fortschrittsprimats ausgesetzt und stehen damit stets einer europhilen Gemeinschaft und damit als soziale, überindividuelle Größe gegenüber. Während die Szene mit Mehmet ihn eher in einem gelassenen Belehrungsmodus gegenüber den unwissenden Wiener_innen zeigt (deutlich daran, dass er gelassen sitzt), ist die szenische Aufmachung in der anderen Szene als eine Konstellation der Anklage angelegt. Darin wirft Leyla der Gruppe von upper class-Freunden ihrer Eltern aus Istanbul den Verlust und die Verleumdung ihrer ureigenen Werte sowie ihres identitätsbestimmenden tür-
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kischen Wesens vor. Im Fall der westlichen Freunde Leylas handelt es sich um Westler_innen, die das kulturelle Erbe ihrer eigenen »vorgestellten Gemeinschaft«117 verteidigen beziehungsweise durch eine eurozentrische Geschichtsrepräsentation getäuscht sind, in der der Islam unterminiert repräsentiert wird. Diese Haltung ist entschuldbarer, weil es sich um die Verblendung der eigenen Kultur handelt. Im Falle der Istanbuler Boheme wiegt der Vorwurf schwerer, weil sie als ureigen türkische Subjekte es eigentlich besser wissen müsste. Die soziale Figuration spiegelt sich auch in der Positionalität der minoritären Subjekte in den Tableaus wieder, in denen die Szenen inszeniert sind: Leyla steht inmitten der Gruppe europäisierter Türk_innen und argumentiert in dieser Binnenverortung aus einer Binnensozialität heraus gegen die Gruppe. Sie ist Teil der verwestlichen Türk_innen dort und spricht aus der zugehörigen Gruppe heraus gegen sie an (Abb. 53.2). Mehmet hingegen ist mit Leyla im Bild rechts und im Vordergrund verortet und damit von den Westler_innen getrennt. Die (bild)räumliche Trennung korrespondiert mit der sozialen Trennung. Er ist nicht nur in kultureller Identitätshinsicht als von ihnen different präsentiert, sondern er argumentiert auch aus einer antagonistischen Position heraus, die sich zugleich in der farblichen Trennung des Bildfeldes – in blaues rechtes Bildfeld (blaue, weiße, graue, schwarze matte Kleidung der Figuren) und rotes linke Bildfeld (rot-braune Kleidungen der Figuren) – reproduziert (Abb. 53.1).
Abbildung 53.1-2 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Als Thesenfilm ist hierbei den Figuren die Artikulation der konkreten Thesen aufgebürdet und sind zugleich entsprechende Konstellationen provoziert, in denen die Thesenartikulation sich oft an das aufgestellte Gegenbild beziehungsweise deren Repräsentant_innen richtet: returkisierte Türkin gegen europhile Pseudo-Türken; anatolischnationalistischer Bildungsmigrant gegen eurozentrische Westler_innen. In zwei sehr prominenten Arbeiten hat sich Arjun Appadurai im Zuge der Herausarbeitung der Globalisierung die Kontingenz zweier Ereignisse beschäftigt, die in die Konstitution der Moderne einspielen. Dies sind Massenmigrationen und die Entwicklungen massenmedialer Techniken. Das gemeinsame Auftreten dieser folgenreichen Ereignisse habe zu einer Ubiquität von kulturellen Sinngehalten auf der einen Seite geführt, weil die technischen Reproduktionsmittel genau dies ermöglichten. Auf der 117 Anderson (2005). Eine an der Originalvariante angelehnte deutsche Übersetzung des Titels wäre angemessener, da sie den Akt des Imaginierens und damit die Bildlichkeit (imago) an der Aktivität hervorhebt.
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
anderen Seite hätten die globalen Migrationsströme, die vormals fester an ihre jeweils ortsspezifischen Traditionen, Rituale, Bilder, Praktiken, sprich Kulturen gekoppelt waren, mehrere Kulturen in ihrer Mikrostruktur ubiquitär gemacht. Das Aufeinandertreffen dieser beiden folgenschweren Momente hätte nun eine weitere schwerwiegende Konsequenz mit sich gebracht, die in der Proliferation von Imagination als alltäglicher Praxis bestünde.118 In dieser früheren Arbeit entwickelt Appadurai auf Basis dieser Annahmen von der Imagination als verfügbar gewordenen Alltagspraxis sein Modell der scapes als »perspektivische Gebilde«119 , mit Hilfe derer globale Prozesse beschreibbarer würden. In seiner zweiten, düstereren Vision der Globalisierung hat er seine früheren Beobachtungen zu einer argumentativen Verdichtung zusammengeführt, in der er die aggressiven und genozidalen Antriebe mehrheitsgesellschaftlicher Gruppierungen gegenüber Minoritäten theoretisch zu ergründen versucht.120 Für ihn ist die Angst der Mehrheit davor, keine »reine« vorgestellte Gemeinschaft mehr bilden zu können, der Grund dafür, Minderheiten tilgen (töten, eliminieren, ›ausradieren‹) zu wollen. Die von Appadurai darin als abstrakte Prozesse beschriebenen Abläufe und Zusammenhänge, die in konkreten historischen Fällen jedoch in ihrer Grausamkeit und Brutalität sowie Aktualität empirisch überaus greifbar werden, bekommen in den beiden genannten Tableaus aus Memleketim eine filmbildästhetisch umgesetzte Entsprechung: Die Tableaus konzipieren eben jene Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse, in denen die Mehrheit hier als prekäre und minoritäre Größe dargestellt wird. Dabei repräsentiert Çakmaklı mit seiner sunnitisch-konservativen Haltung, und das dürften die aktuellen (2019) politischen Verhältnisse in der Türkei aktuell am deutlichsten aufgezeigt haben, eine Majorität der türkischen Bevölkerung. Erst im Kontext einer Filmproduktionskultur, die vornehmlich kemalistisch, links beziehungsweise liberal orientiert ist, verbleibt Çakmaklı und die in seinen Filmen repräsentierte Position minoritär zurück. Auch wenn die Mehrheit durch ihre Majorität machtstrategisch besser gestellt und privilegiert ist, will sie aus der Angst vor Verlust des Eigenen die Anderen zerstören. Zur Erläuterung dieser Dynamik greift Appadurai auf Mary Douglas Studien zu »Ritual, Tabu und Körpersymbolik«121 zurück: Aggressive Identitäten gehen, mit anderen Worten, aus Situationen hervor, in denen die Idee nationaler Volkszugehörigkeit erfolgreich auf das Prinzip ethnischer Einzigartigkeit reduziert wurde, so daß die Existenz einer noch so kleinen Minderheit innerhalb der nationalen Grenzen als unerträgliche Verunreinigung des nationalen Ganzen empfunden wird. Unter solchen Umständen ist schon die Vorstellung frustrierend, eine Mehrheit zu sein, da sie eine Art ethnischer Zerstreuung der nationalen Volkszugehörigkeit impliziert. Da Minderheiten diesen kleinen, aber frustrierenden Mangel zu Bewußtsein bringen, lassen sie den Wunsch nach Reinigung aufkommen. Hier haben wir ein wesentliches Motiv dafür, warum kleine Gruppen wütend machen: Kleine 118 Appadurai (1996, S. 1-24). 119 Ullmann (2017, S. 237). 120 Appadurai (2009). 121 Douglas (2004).
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Gruppen stellen ein winziges Hindernis auf dem Weg von der Mehrheit zur Totalität oder absoluten Reinheit dar. In gewissem Sinne gilt: Je kleiner die Gruppe und je schwächer die Minderheit, desto rasender die Wut darüber, daß sie der Mehrheit das Gefühl zu geben vermag, lediglich eine Mehrheit und nicht das ganze, unangefochtene Ethnos zu sein.122 Was Appadurai analysiert, ließe sich nicht nur entlang der Demarkationslinie von Ethnizität verfolgen, sondern schreibt sich in die gängigen gesellschaftlichen Prozesse der Rassialisierung ein, die nicht nur über Diskurse der Ethnisierung, sondern generell über die Verfahren der Differenz setzenden Repräsentation fungieren.123 Diese von Appadurai beschriebene unverhältnismäßige Angst der zunehmenden Minorisierung der Mehrheit durch eine umso kleinere Minderheit verfügt auch im Kontext des millî sinema und auch hier im Film über jene perverse Form. Auch wenn für das von Çakmaklı gezeichnete Tableau kein interethnischer Konflikt bestimmend ist und im komplexen politischen Umfeld keine zwei-parteiliche Einfachheit gegeben ist, die das Argument im türkischen Umfeld bestätigen könnte, so zeigen seine Überlegungen die Bedeutsamkeit von Repräsentationsprozessen in diesen Dynamiken an: Die argumentative Kopplung davon, wie Repräsentationsverhältnisse zugleich Mehr- und Minderheitsverhältnisse in der Vorstellung erzeugen, legt fest, wer und was überhaupt als Mehr- und Minderheit zu betrachten ist, sodass sich die Reinheitsgefühle überhaupt entsprechend einstellen können. So gesehen stellt Çakmaklı in seinem Film erst ein Verhältnis zwischen repräsentierten Lagern her und spielt dann in den Szenen mit den jeweiligen Verhältnissen, um das muslimisch-türkische Selbst im Sinne eines Opferdiskurses als minoritär herzustellen. Die Einrichtung derartiger Tableaus als visuell gestaltete Anordnungen von numerischen Verhältnissen in Form von bestimmte Ideologien repräsentierenden Subjekten und Verteidigungsgesten stellen so die Bildhaftigkeit jener tödlichen Anordnungen her. Ich nehme den von Appadurai behaupteten psychologisierenden Argumentationsgang und sehe ihn auf mikropolitischer, binnennationaler und visuell konstruierender Ebene in der Filmkultur von Memleketim wirksam. Wenn Leyla am Ende des Films die Migrant_innenkinder zur türkischen Identität umerzieht, so steckt dahinter die Vorstellung einer Regeneration vorher an das Westliche verlorener oder potentiell zu verlierender Kinder. Die Erziehung ist dann als Motorisierung dieser Regeneration zu verstehen. Das Mehr- und Minderheitsverhältnis besteht hier im Film in dem Antagonismus zwischen dem Westen und der Türkei sowie Europa und der Türkei. Das türkische Eigene wird als gefährdet und minoritär betrachtet. Memleketim lässt sich so als Widerstandsgeste gegen jene Furcht vor der Unterdrückung lesen, die sowohl auf intradiegetischer Ebene (Leyla und Mehmet gegen Mehrheit) als auch auf der Produktionsebene (Çakmaklı gegen die linke, kemalistische Filmkultur) als wirkmächtig angenommen wird. Die Strategie im Film ist damit gar pikanter als diejenige, die Appadurai untersucht: Obwohl »die« türkisch-sunnitische Kultur in der Türkei majoritär ist, wird im Film die Lage eines sunnitisch-konservativen Islams und einer nationalsozialen Haltung als minoritäre Position repräsentiert. 122 Appadurai (2009, S. 69). 123 Vgl. Attia (2014).
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
Das repräsentierte, als richtig angenommene Eigene steht minoritär dar, und erzeugt in dieser Repräsentation aufgrund des Emigrationskontexts eine perverse Vorstellung der numerischen Verhältnisse. Der Film spielt insofern also Empfindungen der Zugehörigkeit zu, in denen bestimmte Positionen in bestimmten Gefügen (Emigration) überhaupt erst minoritär werden. Für die historische Situation der Türkei ist es bestimmend, dass die zugehörigen Lager von rechts, kemalistisch, links, immer unter je spezifischen Bedingungen nicht mehr in binäre Gefüge von mehrheits- und minderheitsgesellschaftlich zugeführt werden können. Während linke Positionen in den 1970ern aufgrund staatspolitischer Verfolgungen ihrer Legitimität enthoben waren und globalpolitisch als minoritäre politische Regierungsform bekämpft wurden, zeigt sich in filmkultureller Hinsicht eine Marginalität islamisch-konservativer Positionen an, von der auch Çakmaklıs Situation geprägt ist: Durch eine hybride Position zwischen islamisch-konservativ und zugleich pro-kemalistisch-nationalistisch hat er sich trotz einer Identitätspolitik, die auf die Stärkung beider Überzeugungsgruppen aus war, in eine Lage begeben, in denen Akteur_innen beider Lager ihm ihre Unterstützung versagten. Zuzüglich zu dieser Repräsentationspolitik ist in den Film eine pädagogisch-propagandistische Inszenierungspolitik eingeschrieben, die ich als »doppelte Belehrung« beschrieben habe. In der genaueren, filmtheoretisch gesättigten Analyse wird sich dieses Konzept noch einmal spezifizieren. Die Helga-Sequenz In der filmischen Konstruktion von Helgas Familie als westliche, aufgeklärte, moderne Familie einer industrialisierten, kapitalistischen Welt, in der sich die Existenz nur noch durch das Funktionieren um des Funktionierens (Wirtschaft) willen, durch den Status um des Status willen (Adel) erhält, zeigt sich das Stereotyp vom kalten und kaltherzigen Westen, dem Empathie und Gefühle abhanden gekommen sind. Die Alterität zwischen sozialem Selbst und a-sozialem Anderen basiert auf einer Kulturdichotomie, die hier im Film Memleketim ihre explizite Formulierung in jener Episode von Helga (→) findet. Konkret zeigt sich die Zuschreibung von Individualität und Egozentrik an den Westen – so wird er nämlich imaginiert – in der filmischen Erzählung von Helgas Schicksal, also Leylas österreichischer Freundin. Nachdem Mehmet mit dem Zug vor Leylas Augen abgereist ist, führen die nun unglücklich zurückgelassene Leyla und Helga in ihrer Wohnung ein Gespräch, in dem sie die Gemeinsamkeit ihres Schicksals in der Liebe erörtern: Helga bleibt ihre Liebe aufgrund eines Klassenunterschieds verwehrt, da der Mann, den sie liebt, aus einer Arbeiter_innenfamilie stammt. Ihr Vater ist nicht bereit, diesen als Schwiegersohn und damit als Mitglied ihrer Adelsfamilie zu akzeptieren. Die Verschmähung des Bräutigams durch den Vater ist eine im Yeşilçam-Kino häufig aufgegriffene Erzählung, die sich in den türkischen Emigrationsfilmen der 1970er Jahre wiederfindet.124 Leyla beschreibt ihre fundamental differente Weltsicht als Grund für die Trennung von ihrem Geliebten und evaluiert ihre Situation gar als das Schicksal zweier Menschen »aus der gleichen Bevölkerung, die sich lieben, aber die sich fremd sind«. Als die beiden Frauen sich diesmal in Leylas Wohnung zusammenfinden, spielt 124 Bir Türke Gönül Verdim und Almanyalı Yarim.
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Leyla auf dem Klavier sehnsüchtig und den Tränen nahe Chopins Polonaise Nummer 53. Von der Musik affiziert schwelgt Helga, die sich mit der Zigarette und einem Drink auf das Sofa niedergelassen hat (Abb. 54.1-2), in Erinnerungen an ihren Freund, genauer in Erinnerungen an einen gemeinsamen Tanz mit ihm (Abb. 54.3). Nun setzte eine weitere Erinnerung ein, die Helgas erzürnten Vater dabei zeigt, wie er harsch und mit Pfeife in der Hand heftig auf Helga einredet, sodass diese weinend davonläuft (Abb. 54.4).
Abbildung 54.1-4 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Auffällig ist hier dass die Erinnerung an die Streitszene mit dem Vater im Gegensatz zur Erinnerung mit dem Ex-Freund farbentsättigt und aus einem schrägen Drehwinkel (verkantet) gezeigt wird, um »den Stress und die emotionale Belastung visuell auszudrücken, unter denen die Figur handelt«125 : Hier verknüpft sich auf ästhetischer Ebene die für die Figur mit negativen Gefühlen behaftete verkantete Präsentation der Erinnerung mit der Farbreduktion, die die Assoziationen von Mattheit, Gräulichkeit 125 Wulff (2005, S. 148-149). Hans J. Wulff spricht in diesem Zusammenhang von »Verkantung« und erörtert diese als Abweichungsprinzip in dem als normal angenommenen generellen Verhältnis, »in denen der Bildhorizont nicht mit dem Zuschauerhorizont übereinstimmt«, Wulff (2005, S. 140). Interessanter ist dahingehend folgende, sicherlich noch schärfer im skopischen Regime zu verortende Beobachtung Wulffs: »Aus dieser Grundüberlegung gehe ich für das folgende von der Annahme aus, daß die Nullform des Handlungsfeldes der Kamera zugleich die Normalform des Bildes produziert: Der Horizont der vorfilmischen Welt ist der Horizont des Bildes. Dabei scheint die Horizontlinie gegenüber anderen Nicht-Null-Lagen der Kamera nochmals besondere Bedeutung zu haben: Auch Auf- und Untersichten – die zumeist aus dem Handeln der Akteure motiviert sind – beachten die Koordination der beiden Horizontlinien. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kinobilder die Normallage einnehmen, bedarf des Nachdenkens und der Begründung. […] Die diegetische Welt und die Normalwelt des Zuschauers gründen auf der gleichen Physik, der Schauspieler bleibt als Schauspielerkörper in der gleichen physikalischen Welt wie der Zuschauer.«
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
und unangenehmer emotionaler Gestimmtheit versieht.126 Nach etlichen Blicken auf die Photographien von und mit Mehmet hört Leyla erschöpft und weinend mit dem Klavierspiel auf. In einer Szene, in der nun Leyla Helgas Wohnung aufsucht, findet die Emigrantin ihre Freundin Helga mit aufgeschnittenen Pulsadern im Bad vor und bringt sie ins Krankenhaus. Helga liegt im Koma. Vergeblich versucht Leyla, Helgas Familie zu kontaktieren, doch sowohl Helgas Vater, der seine Tochter immer noch verschmäht, als auch ihr vielbeschäftigter Unternehmer-Bruder lassen sich nicht zu einem Besuch von Helga im Krankenhaus bewegen. Wenige Tage später erwacht Helga aus dem Koma und muss feststellen, dass ihre Familie selbst in dieser kritischen Situation nicht bei ihr ist. Leyla erzählt in der Hoffnung nach einem Trost die Lüge, dass Helgas Familie derzeit in Frankreich sei und dass sie deswegen nicht kommen können. Helga formuliert dann, dass ihre Familie »niemanden liebte« nur ihre »Fabrik und ihren Adel«, und »repräsentierten nur ihre Regeln, lassen nur diese leben«. Helga wolle »das nicht mehr«, sie hasse ihre Familie. Noch in der Artikulierung dieser Worte stirbt sie vor Leylas Augen – kurz bevor Helgas Bruder im Krankenhaus ankommt. Leyla, die den jungen, deutschen Mann vorwurfsvoll als Mörder anklagt und damit, dass er Helga im Stich gelassen hätte, fällt noch bei diesen Worten vor dem jungen Unternehmer in Ohnmacht und wird daraufhin in dessen Wohnung gebracht. Die filmische Konstruktion ist auf eine Darstellung der Westlichen aus, die sie als ihren Familienangehörigen gegenüber selbst im Krisenfalle empathielose Menschen dastehen lässt. An den Entscheidungen von Helgas Familie sollen die den Figuren unterstellten Dispositionen zu Tage treten: Wertschätzung des Materiellen und des Funktionieren des Systems – im Falle des Vaters das Funktionieren der familialen Ordnung und Fortsetzung der Adelslinie, im Falle des Bruders des Großunternehmertums.127 Als Leyla ihn bei einer Konferenz aufsucht, veranlasst Helgas Bruder zwar die Übersendung von Blumen und die Übernahme der Krankenhauskosten, doch seine Mimik ist von Apathie und wenig Mitgefühl geprägt. Dies führt sich selbst dann fort, als Leyla ihm vom Tod seiner Schwester kurz vor seinem Besuch erzählt. 126 Zumindest stellt es sich so in der restaurierten Fassung dar, die sich auf dem Youtube Kanal des Rechteinhabers Fanatik Film findet. In einer mir zur Verfügung gestellten VHS-Fassung ist eine solche Farbentsättigung der Erinnerungen an den Vater nicht enthalten, das heißt in der Restaurierung durch Fanatik Film ist diese Entsättigung sehr wahrscheinlich künstlich hinzugefügt worden. 127 Interessant erscheint in diesem Subplot noch zweierlei: Erstens reproduziert sich die Figur des westlichen, reichen deutschen Vaters über das Accessoire der Pfeife: auch in Oğlum Osman war der Vater von Osmans Freundin Helga Pfeifenraucher – etwas, das sich ebenfalls als ikonographisches Element für die Repräsentation einer (intellektuellen) oligarchen männlichen Stadt- oder westlichen Kultur etabliert. Zum anderen findet sich das, auch in zahlreichen anderen Emigrationsfilmen enthaltene Erzählelement von der Abweisung der deutschen Tochter von ihrem Vater wieder: so zum Beispiel in dem gleich zu untersuchenden Bir Türke Gönül Verdim oder auch in Almanyalı Yarim. Diese, die Ehe ihrer Kinder aus klassistischen oder anderen Gründen missbilligenden Figuren sollten allerdings nicht als solche betrachtet werden, die nur im Kontext einer Ethnisierung (deutsch) oder der Emigrationsthematik auftauchen. Vielmehr sind sie in Verbindung mit dem Motiv der Nichtverheiratung als unzählige Mal verwendetes Gebrauchselement des melodramatischen Yeşilçam-Kinos zu betrachten, das sich immer wieder in den Filmen immer wieder reproduziert.
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Helga liegt im Koma und kann deshalb das Verhalten ihrer Familie nicht miterleben. Da Leyla sich für die Inkenntnissetzung der Familienmitglieder verantwortlich fühlt, versucht sie mit diesen zu kommunizieren. Als Mittelsperson zwischen Helga und ihrer Familie eingesetzt, bleibt sie durch das unerwartet verweigernde Verhalten des Vaters und der gleichgültig erscheinenden Haltung des Bruders affiziert: Sie ist erschüttert und zeigt sich vor dem Bruder aufgebracht über seines scheinbare Gleichgültigkeit. Die Tönung der familialen, sozialen Beziehungen sowie eines westlichen Kulturellen im Allgemeinen mit dem Konzept »Kälte« behauptet eine soziale Bindungsintensität deutscher/österreichischer Subjekte. Genau hierauf ist die »Helga-Sequenz« aus. Dabei wird sie aus einer internen Erzählperspektive der Protagonistin Leyla sichtbar zu machen versucht. Leyla ist als solche Figur angelegt, die in den Verhaltensweisen von Helgas Vater und Bruder jene »Kälte« als vermittelndes Subjekt durch die personale Fokalisierung (Leyla) erfährt. Die Konstruktion der Westlichen ist hier insofern okzidentalisierend angelegt, als dass die österreichische Oberschicht aus der Perspektive einer Türkin (Leyla) als kaltherzig, kaum familiär und empathielos gegenüber der eigenen Familie gezeigt wird. Leylas Empörung Helgas Familie gegenüber aktiviert sich auf Seiten der Zuschauer_innen allenfalls mit der Solidarisierung von Leylas Perspektive, die hier durch die personale Fokalisierung filmisch angelegt ist. In Oğlum Osman wird diese Sicht auf den Westen als »kalte« Kultur in den Ausführungen der Figur Fatma unmittelbar artikuliert. In einem Café am Bosporus tauschen sich Fatma und Osman über ihre vollkommen verschiedenen Ansichten (Europhilie auf Seiten Osmans) aus: Nach meiner Ansicht trägt unsere Zivilisation128 einen humaneren Kern. Unbegrenzte Freiheiten verurteilen die Menschen zu Einsamkeit. Die westliche Zivilisation, die deine Augen betört, verdankt sich meines Erachtens ihrem technischen Vermögen. Dabei sind die menschlichen Beziehungen in unserer Welt viel wärmer, die Solidarität untereinander wahrhaftig. Bence bizim medeniyetimiz batınınkinden daha da insani bir öz taşır. Sonsuz özgürlükler insanları yalnızlığa mahkum eder. Senin gözlerini kamaştıran batı medeniyeti bana göre teknik kuvvetten ibarettir. Halbuki bizim dünyamızda insanların ilişkileri daha sıcaktır, dayanışma esastır.129 Dass ihr Treffen vor dem Hintergrund der Bosporusbrücke stattfindet, die den asiatischen und europäischen Kontinentalteil Istanbuls miteinander verbindet, fungiert als hinweisender Kommentar für die Inkompatibilität von West und Ost, die sich in der Unvereinbarkeit der Sichtweisen beider ehemals Liebenden doppelt. Was in Memleketim eine filmische Realisierung in eben jener Erzählung von Helgas Familienschicksal war, findet in Oğlum Osman durch Fatmas verbal artikulierte Zuschreibung zum Westen eine Entsprechung (emotionale oder soziale ›Kälte‹). 128 Medeniyet ist zwar als Zivilisation zu übersetzen, aber der Begriff birgt die Konnotation von Zivilisiertheit, die im Deutschen nicht immer impliziert sein muss. 129 Oğlum Osman, 0:15:35.
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
Dialektik von West und Ost: Der kalte Westen, der warmherzige Osten Als Thesenfilm, der Memleketim ist, wartet aber auch jene Charakterisierung des Westens nicht nur in der Sichtbarmachung der Handelsweisen von Helgas Familie auf, sondern auch im Dialog selbst – nämlich in Helmuts Erklärung seines Verhaltens Helgas Not gegenüber. Bei Spaziergängen durch das Anwesen, bei einem gemeinsamen Kaffee mit Leyla vor malerischer Kulisse vor dem Haus (Abb. 56.1) und ein, zwei weiteren Einstellungen, die Leyla in der Ferne und Helmut ihr hinterhergehend zeigen, spricht der junge deutsche Mann davon, dass er genau zu jener Zeit, als sie ihn ins Krankenhaus zu Helga bat, unmöglich seine Tätigkeiten hätte zurückstellen können: Helga hat sich gegen ihre Gemeinschaft gestellt, war nun allein. Sie hatte gesagt, dass sie kämpfen würde, aber alleine konnte sie nichts ausrichten. Und auch mit der Bevölkerung in die sie sich begeben hat, konnte sie nicht harmonieren. Als sie das erkannt hatte, konnte sie nicht mehr zurückkehren und hat das Leben, so denke ich, als sinnlos empfunden. Mein Vater wollte sie nicht sehen, weil sie das Haus verlassen hatte. Aber ich habe sie geliebt. Sie war ein gutes Mädchen. Ich war sehr traurig. […] Fräulein Leyla, sie verstehen mich falsch. Der Mechanismus hängt sonst, hunderte Leiter, tausende Arbeiter machen mangelhafte Arbeit und das bedeutet defizitäre Produktion, großer Werteverlust, den selbst ein großes Unternehmen kaum verkraften könnte. Deswegen muss man von Handlungen Abstand nehmen, die den Mechanismus verlangsamen. Ich würde mir wünschen, dass sie mich verstehen. Unsere Gesellschaft basiert auf dieser Ordnung. […] Wir sind keine schlechten Menschen, Fräulein Leyla. Nur sind wir den hartherzigen Regeln einer Gesellschaft gefolgt, die ihre Gefühle verloren hat, und haben daraus unsere Bindungen zu den Menschen gekappt. Wir sind egoistisch geworden. Denselben Fehler werde ich jedoch nicht mehr machen, weil von nun an sie an meiner Seite sein werden. Wir können nicht ewig trauern und auch wir müssen unser Leben weiterführen. Darauf haben wir ein Recht. Helga cemiyetimize karşı geldi. Ailesine isyan ettı, yalnız kaldı. Mücadele edeceğini söylemişti ama, tek başına bişey yapamazdı. Sonradan içine girdiği toplumlada bağdaşamadı. Bunu anladığı zamanda geri dönemedi ve yaşamayı lüzumsuz saydı sanıyorum. Babam evi terk ettiği için onu görmek istemezdi, ama ben onu severdim. İyi kızdı. Çok üzüldüm. […] Leyla hanım, beni yanlış anlıyorsunuz. O gün hiç bişey yapamazdım. İşlerin gecikmeden yapılması gerekir yoksa mekanizma aksar. Yüzlerce yönetici, binlerce işçi eksik iş yapar. Bu da eksik üretim, büyük değer kaybı demektir ki buna tahammül etmek büyük bir firma için de kolay değil. Bu nedenle mekanizmayı yavaşlatıcak davranışlardan kaçınmak gerekir. Beni anladığınızı ümit etmek isterim. Cemiyetimiz bu düzen üzerine kurulmuştur. […] Biz kötü insanlar değiliz, Leyla hanım. Yalnız duygularını kaybetmiş bir cemiyetin katı kurallarına uyup insanlarla bağlarımızı kopardık. Egoistleştik, Leyla hanım. Ama aynı hatayı bir daha düşmicim, çünkü bundan sonra yanımda siz olacaksınız. Ebediyen yas tutamayız. Biz de kendi hayatımızı yaşamalıyız. Buna hakkımız var.130 In der Selbsteinschätzung der Figur sind die kulturtheoretischen Thesen eingebracht, die das Verhalten Helmuts und seiner Familie Helga gegenüber erklären sollen. Zudem sollen sie Leyla gegenüber, die durch den Tod Helgas angeschlagen und sich noch in 130 Memleketim, 0:43:55.
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Trauer befindend wirkt, eine Erklärung und Rechtfertigung von Helmuts Verhaltensweisen geben und sie zum Ablassen der Trauer und ihrer depressiven Grundstimmung bewegen. Die Legitimation seines Verhaltens im Falle der sterbenden Schwester im Dialog Helmuts baut auf der Benennung dreier Eigencharakteristika des Westens auf: Systemund Ordnungserhalt als primum principium und damit Intakthaltung des wirtschaftlichen Systems; Entsolidarisierung von der Gemeinschaft durch Egozentrik; emotionale Abgehärtetheit (»hartherzig«). Helmut konstruiert sich als westliches Individuum und gibt spezifische Annahmen nach dem Westen als dessen Eigencharakteristika aus, die sich zu großen Teilen aus vorbestehenden okzidentalisierenden Diskursen speisen. Hier baut sich eine Alterität von warmherzigen Süd-/Ostmenschen und kaltherzigen, rationalen, emotional abgestumpften Nord-/Westmenschen auf, die in anderen nichtwestlichen Diskursen finden lässt.131 Der Diskurs, der sich hier abzeichnet, hat seine Inspirationsressource insbesondere auch in eben jenen okzidentalisierenden Diskursen türkisch-islamischer Intellektueller132 , so zum Beispiel bei Necip Fazıl Kısakürek. Der von Helmut beschriebene Rationalismus und die darin artikulierte sinnliche Abstumpfung gegenüber den Anderen rufen zugleich Ausführungen von Adorno und Horkheimer aus ihrer »Dialektik der Aufklärung« auf. Ich denke hier insbesondere an die Ausführungen zur Sirenenepisode aus der Odyssee: Odysseus und seine Schiffsruderer müssen auf ihrer Reise dem Sirenengesang widerstehen. Während Odysseus den Ruderern die Ohren wachst, lässt er sich selbst an den Schiffsmast fesseln. Die Ruderer sind für die Dauer des Sirenengesangs ihrer Sinne beraubt, aber auch so, dass sie den betörten Odysseus nicht befreien können und vor allem nichts von der Schönheit des Gesangs erfahren. So stellt die Sirenenepisode für Adorno und Horkheimer die »Allegorie der Dialektik der Aufklärung«133 dar. Der Preis der List besteht für die Ruderer in der Abstumpfung ihrer Sinne, während Odysseus als gefesselter, sich zwar den Genüssen ihres Gesangs und dem Rausch hingeben kann, aber als Nicht-Arbeitender, der solche vernünftigen Denkoperationen umsetzen muss, sich schon sinnlich versperrt haben muss, denn Vernunft schließt das Sich-Überlassen an die Triebe, die Lust, die Verführung, die Begierde aus: Sie [die Ruderer] reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten. […] In der Beschränkung des Denkens auf Organisation und Verwaltung, von den Oberen seit dem schlauen Odysseus bis zu den naiven Generaldirektoren eingeübt, ist die Beschränktheit mitgesetzt, welche die Großen befällt, sobald es nicht bloß um die Manipulation der Kleinen geht. […].134 131 Für eine »einfache« Konzeption des Okzidentalismus als Alterität siehe Buruma et al. (2005). Zu einer Kritik des Ansatzes siehe Arnswald (2009). Für eine komplexere Anlage des Okzidentalismus siehe Meltem Ahıskas Konzeption des Okzidentalismus, die die Frage der Konstruktion und das Gefüge der Zuschreibungen und Hinwendungen für den türkischen Kontext, tendenziell offen zu halten vorschlägt. Genauer dazu hier in Kapitel 4.1.1. Siehe auch Alkın (2019). 132 Vgl. Duran und Aydın (2013). 133 Horkheimer und Adorno (2016, S. 51). 134 Horkheimer und Adorno (2016, S. 48-54, hier 51, 53).
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Die Dialektik zwischen Rationalismus und Sinnlichkeit, die in Helmuts Vorstellungen einander ausschließend gedacht ist, weil es das »System verlangsamt«, zeigt sich auch in Adorno und Horkheimers Allegorie an, die im Übrigen parallel zu den okzidentalisierenden Diskursen Necip Fazıl Kısaküreks entstehen. Der kulturkritische Impetus bei den genannten Intellektuellen ist virulent und wird zum Beispiel von Duran und Aydın erkannt.135 Die Behauptung Helmuts ist, dass er unter einer empathischeren, sozialeren Beziehung zu Helga die wirtschaftliche Produktivität seines Unternehmens in Gefahr gebracht hätte. Helgas kritischer Zustand ist Helmuts ›Sirenengesang‹ und seine entsinnlichte Prädisposition hilft ihm dabei dem Lockruf der sozialen Empfindung von Mitleid und Mitgefühl zu entsagen. Seine Disposition ist auf die Stilllegung empathischer Beziehungen ausgelegt, die sich mit den ›Fesseln‹ des Odysseus vergleichen lässt, da er diese nutzt, um seine eigenen Sinne zu überlisten: Als Helmut vom komatösen Zustand seiner Schwester erfährt, zeigt er sich zunächst überrascht. Nachdem Leyla ihn aufklärt, fragt Helmut, was er noch tun könne, da die Situation durch die ärztliche Betreuung gesichert sei. Helmut weist daraufhin seine Assistentin an, Blumen für Helga zu besorgen und Leyla eine finanzielle Entschädigung für die entstandenen Krankenhauskosten zukommen zu lassen. Der kurze Moment der Fassungslosigkeit weicht einem organisatorischen Verwaltungsimpuls, der seinen Gefühlshaushalt zu Gunsten der Intakthaltung der Unternehmensmaschinerie balanciert. Generell normalisiert die Inszenierung Leylas emotionalen Zustand Helga gegenüber. Erst auf der Grundlage dieser emotionalen Bindung erscheint die Teilnahmslosigkeit von Helgas Vater und ihrem Bruder als emotionale Härte. Darin liegen eine Skandalisierung der Verhaltensweisen der beiden Figuren und die Zuweisung emotionaler Kälte. Für diese Skandalisierung der gleichgültigen Verhaltensweisen des Vaters und ihres Bruders bedarf es keiner inszenatorischen Raffinesse, um im Kontrast die Empathiefreudigkeit einer türkischen, östlichen oder islamischen Gesinnung zu verdeutlichen. Als Freundin ist Leyla stets an Helgas Seite. Der Film liefert jedoch keine Hinweise, ob Leylas Solidarität und Selbstaufgabe türkisch kulturell motiviert ist. Daraus lässt sich schließen, dass die Inszenierung von der mangelnden sozialen Bindung einer deutschen und damit westlichen Familie lediglich als Außergewöhnlichkeit inszeniert werden muss. Der Film operiert nicht entlang bereits bekannter Kulturdiskurse, sondern rückt vielmehr den moralischen Skandal, der in der Gleichgültigkeit Helmuts und des Vaters liegt, in den Vordergrund. Vor allem in der Figur des Vaters ist die Empfindung von Antipathie und emotionaler ›Kälte‹ inszenatorisch und visuell angelegt. Dies macht sich in verschiedenen Momenten deutlich (Abb. 55): zunächst in der ernsten Mimik mit hochgezogener Augenbraue; dem Spiegel, der in Verbindung mit der Dopplung der Treppenstufen und dem schwarzen Hintergrund einen tiefenräumlichen Effekt von uneinschätzbarer Tiefe und damit eine räumliche Haltlosigkeit produziert; in der dunkelgrünen Beleuchtung 135 Duran und Aydın (2013): »When we talk about Kısakürek’s pessimist assesment of European civilization in 1939, we should note that this was not much different than many European intellectuals. Theodore [sic!] Adorno, for example, would have agreed with Kısakurek in 1942, when he was observing holocaust.«
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und der dunklen Tonalität vieler Bildelemente, die aus gestaltpsychologischer Perspektive eine bedrückende und negative Emotionalität erzeugt; in der Entzogenheit des Gesichts des Vaters, der im gespiegelten Bereich des Imaginären unerreichbar erscheint; in seiner Handhaltung, die Kraftlosigkeit und den Unwillen zu telefonieren aufzeigt; und zuletzt ist da ein Kameraschwenk in den Spiegel und damit in die haltlose Absenz hinein, die die Unerreichbarkeit des Vaters semantisch doppelt und die Wahrnehmung haltlos zurücklässt. Für Yeşilçam-Zuschauer_innen muss diese Szene der Verschmähung der Tochter eine besondere Härte des Vaters vermitteln. In anderen Yeşilçam-Filmen setzt nach der Krise mit dem Kind oftmals die Einsicht um das eigene Fehlverhalten auf der elterlichen Seite ein. Doch die Episode von Helgas Tod bietet Anlass für eine hoffnungsvolle Annäherung zwischen Helmut und Leyla, in der, repräsentationslogisch gedacht, auch ein Zusammenleben von West und Ost aufscheint, die nach Helmuts kulturerklärerischen Ausführungen möglich geworden war. Verständnis wird hier – wenn auch nur kurz – zu einem Fundament, auf dem die Verschiedenheiten nur scheinbar überkommen werden können.
Abbildung 55 – Standbild aus Memleketim (1975)
Die Unvereinbarkeit von West und Ost, die dann in der Heirat zwischen Helmut und Leyla ihre Auflösung zu finden schien, kippt mit Leylas sinnlicher Überforderung während der Hochzeit in einer orthodoxen Kirche. Leyla ist bereits vor der Trauung durch die christlichen Symbole und die Kirchenarchitektur abgestoßen. Durch die ihr fremden sakralen Elemente wird Leyla die radikale sowie unüberbrückbare Andersheit deutlich und sie verweigert sich der Hochzeit: Interkulturelles Verständnis kann die grundlegende Andersheit nicht überwinden. Die Szene in Skopje, in der der Moslem Leyla seine Gastfreundschaft erweist, löst Leylas traumatische Hochzeitserfahrung kurz darauf ab. Für den georgischen Moslem ist es »eine Freude, einer Tochter zu helfen, die aus der Mutternation (›osmanische‹ Türkei) gekommen ist« und die er zuvor in einer Moschee auflas. Dieser Szenenwechsel verweist nicht auf die Ablösung der konstruierten Dichotomie von West und Ost, son-
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
dern bestärkt diese. Auch die Szenen der Teezeiten zwischen Leyla und Helmut sowie Leyla und dem Georgier sind binaristisch konstruiert und vollführen die Programmatik einer Dichotomie zwischen West und Ost, Christentum und Islam (Abb. 56.1-2): auf der einen Seite eine blau-gelb-grünliche Farbkomposition einer österreichischen Teezeit an Metalltischen und -stühlen samt Teekanne und flacher Teetasse aus Hartporzellan; auf der anderen Seite rundlich gewölbte Tulpengläser aus transparentem Glas mit türkischem Schwarztee vor einer Rosenkulisse136 , samt grünlich-rosaroter Farblichkeit der Filmbilder, die sich in den Rosen über das Hemd des Mazedonen, dem Sofaüberwurf mit Rosenverzierung, der rosa-weißen Decke bis zur rosaroten Häuserwand erhält.
Abbildung 56.1-2 – Standbilder aus Memleketim (1975)
Wenn »in Ordnungen immer ein Überschuss am Werk [ist], dessen Andersheit ›für jede Selbstheit konstitutiv ist‹«137 , gilt es aufmerksam zu bleiben: dafür, dass diese konstruierten und konstruierbaren Binarismen nicht über die Momente des Widersinns und der Simplifikation der Modelle des Westens hinwegtäuschen können. In Memleketim ist zum Beispiel die Hippiekultur als verantwortungslose, vergeudende Lebenskultur durch die Figur Mehmets evaluiert – im Übrigen eine Kultur, die im YeşilçamKino fast durchgehend als selbstsüchtige, gleichgültige, lustgesteuerte Subkultur kritisch verhandelt wird (▶ Kap. 8.3). Ertönen in der Eingangssequenz von Memleketim Woodstock-Lieder, darunter das von Joan Baez dem 1915 gehängten Gewerkschaftsführer Joe Hill gewidmete gleichnamige Lied, zeigt sich hierin die Unsensibilität des Films gegenüber der Komplexität westlicher Kultur, die sich hier kritisch mit seiner eigenen Bigotterie auseinandersetzt. So zeigt sich hierdurch auf, dass die westliche Kultur sich nicht in einer Variante der Hippie-Kultur als individualistischer, entpolitisierter Subkultur erschöpft, sondern auch in jene diskursive Sphären reicht, die Woodstock als politisch-kritisches Ereignis auszeichnen. Diese Überlegung nach den Widersprüchen »im Überschuss«138 der Ordnung führt zu dekonstruktivistischen Fährten, die in einer nun anders gelagerten Filmposteranalyse hervorzukehren sind. 136 Zur Ikonographie der Rose im Islam und in Çakmaklıs Filmen siehe auch Kapitel 6.5.4. 137 Skrandies (2003, S. 164). 138 Skrandies (2003, S. 164).
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9.1.8.
Das Filmposter II: Dekonstruktion des strukturalistischen Programms
Vergleicht man das zuallererst untersuchte Poster mit einem anderen, das für Memleketim entworfen wurde und dessen rechteckiges Bildelement nicht photographisch, sondern als gedruckte Malerei hergestellt ist, dann fällt nicht nur dieser Medienbruch zwischen photographisch und malerisch auf. Die Größenverhältnisse fallen im linken Poster (Abb. 57) zu Gunsten des Mannes aus. Breitbeinig steht er auf der malerisch hergestellten Gesamtlandschaft der Türkei und den gegenüberliegenden Balkanländern samt Schwarzem Meer und Ägäis. Leyla, die einen Mantel trägt, steht Mehmet gegenüber. Konkret befindet sie sich vor dem Gebirgszug, der sich von Bulgarien über Mazedonien nach Albanien erstreckt sowie vor Griechenland liegt, dabei aber eben von der Türkei und dem Mann getrennt scheint. Um die beiden Figuren herum ist ansonsten vor ihnen Wasser und hinter ihnen weiteres Land, das sich in den Hintergrund als immer dunkler werdende Fläche verflüchtigt.
Abbildung 57 – Filmposter (Malerei) zu MEMLEKETİM (1975); Abbildung 58 – Filmposter (Collage) zu MEMLEKETİM (1975)
Quelle: http://sinematek.tv/memleketim/
Während Leylas rechte Hand leicht heruntertaumelt, ist ihre linke Hand bei leicht an den Körper angelegtem Arm in Mehmets Richtung gerichtet. Ihre Hinwendung gibt sich durch die Gerichtetheit ihres Körpers zu Mehmet, die auch durch die Geöffnetheit ihres Mantels als offen zu charakterisieren ist, sowie ihren nach vorne gesetzten Fuß, der auf das Gebirge tritt. Die bergigen Züge auf dem Landausschnitt, die sich durch die drei genannten Balkanländer ziehen, geben die Übertrittsmöglichkeit Leylas in Richtung der Türkei ab. Durch ihre Lokalität direkt vor Leylas Füßen erscheint der mit eisigen Wipfeln versehen Gebirgszug als weiteres Hindernis für den Übertritt zu Mehmet. Leyla blickt hier nicht wie in dem anderen Poster in ein Off, sondern ihr Blick lässt sich als in Mehmets Richtung schauend lesen. Ihre Hinwendung ist diesmal keine Geste, die
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die Verfehlung zwischen ihr und Mehmet herstellt, weil sie in den Off-Raum gerichtet ist, sondern lässt sich eher als ein Wunsch nach einer Zusammenfindung mit Mehmet lesen. All die vielen Verfehlungen aus dem photographicollagierten Poster rechts (siehe Analyse des Posters am Anfang des Kapitels zu Abb. 58), scheinen aufgrund der Steuerung durch das Malen und weniger der Collage der einzelnen Elemente im Hinblick auf Positionierung, Blick-, Gestikulations- und Größenverhältnisse einer solchen Abgestimmtheit zu folgen, dass sie als repräsentationale Elemente des Filmplots gelesen, diesen auf eine unmittelbarere Art und Weise zu vermitteln scheinen als im Poster rechts: Leyla will in die Türkei, zurück in die Arme ihres turkisierten Geliebten. Hier verlagert sich die im Bild getroffene Aussage zu einer solchen Leseart des Plots, dass die Trennung als tragische erscheint: Leyla sehnt sich nach der Türkei, will zu ihrem Mehmet und damit zur Türkei. Das Verfehlungsmoment, das noch im Poster rechts als Blindheit Leylas angelegt war (sie blickt ja ins Off), ist hier einer zielgerichteten Hinwendung an Mehmet gewichen. Beide aus den Abbildungen lesbaren Handlungswillen der Figuren weisen demnach eine Diskrepanz auf: Verfehlung im Einen versus Hinwendungswunsch im Anderen. Auffällig an den Kleidungen der beiden Figuren ist im Poster links der Umhang Leylas sowie die farbliche Umgestaltung von Mehmets Anzug. Während die farbliche Kleidung in Poster rechts noch komplementär angelegt war (orange – blau) weicht sie in Poster rechts einer tendenziellen Annäherung: Mehmets weißer Anzug, seine rote Krawatte und die braune Hose korrespondieren mit Leylas rotem Umhang, ihrem roten Rock, ihrem weißen Hemd mit großen Kragen und ihren weißen Plateaustiefeln. Also auch über die Kleidungen löst sich das Moment der Dichotomie aus dem Poster rechts auf. Aufgrund der Konzentration auf die geographische Darstellung der Türkei und der angrenzenden Regionen (Griechenland und die Balkanländer) geht außerdem der Aspekt der Religiösität gänzlich verloren. Nichts scheint auf die im anderen Poster als Dichotomie angelegte Anordnung von Christentum (Kirche) und Islam (Moschee) zu deuten. Die Religiösität ist im ersten Poster damit nun vollkommen getilgt. Auch wird Leyla mit den Nationen, auf denen sie steht, nicht konnotiert. Sie steht im Balkan, dem Ort, der vormals osmanisch war und noch osmanische Geschichte birgt, aber selbst nicht mehr türkisch ist. Doch ein Bezug zu diesem Umstand oder zu den kulturellen Konstruktionen der Länder lässt sich nicht herstellen. Was bedeutet diese zweifach gänzlich unterschiedlich angelegte Strategie für die Poster im Hinblick auf das Programm der Dichotomie, die an der Analyse am Poster rechts (Abb. 58) identifiziert und dann im weiteren Fortgang des Films als strukturalistisches Programm untersucht wurde? Was bedeutet die de-eskalierende Auflösung des Binarismus in diesem anderen Poster, also in diesem paratextuellen Element für die Programmatik des millî sinema? Warum wird sie hier im gemalten Poster links (Abb. 57) zugunsten der Betonung der schieren Unüberwindbarkeit und damit der Tragik in der Beziehungskonstellation betont? Diese beiden, tendenziell dem Film zuarbeitenden Lesarten lassen sich noch in eine andere Richtung führen: Es gibt eine Flexibilität in der Auslegung, die sich durch die Analyse der bildästhetischen Besonderheiten gibt: unscheinbare Momente des Widersinns aus der genaueren, entkontextualisierten Betrachtung der Poster, aus einer
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frischen Wahrnehmung des Bildes. Was zeigt sich, wenn das Poster der strukturalen, »mythischen Lesart«139 (Barthes) beraubt ist: Eine weiterhin wirkmächtige Lesart wäre, im Poster links einen westlich angezogenen Mann zu identifizieren. Die elegante Kleidung könnte dann einen gehobenen Status signifizieren und das Betreten der Türkei könnte als Ausbeutungshaltung eines solchen Moguls gewertet werden, der mit seinen Füßen die Türkei tritt oder dem die Türkei zu Füßen liegt: als Machtfigur, die diese Position zur Türkei einnehmen kann. Und was ist, wenn wir uns gar von einem »wiedererkennendem Sehen«140 , zu einem »sehendem Sehen« bewegen, das »den formalen Bildsinn [berücksichtigt], die Syntaktik des Bildes: die Art und Wiese, wie etwas dargestellt ist«141 ? Eine mit einem Umhang gekleidete blonde Frau, die nach dem Mann gerichtet, ja hingewendet scheint. Ein dunkler Hintergrund zieht sich über die Szenerie, scheint die beiden Personen und sie damit zu überschatten. Es ist ein instabiler Untergrund, der mit jedem Fehltritt das Fallen ins Gewässer bedeuten könnte. Die Inseln stehen als scharfkantige, spitze Herausragungen aus dem Wasser, als tödliche Gesteine dar, die das gefährdende Umfeld darstellen, als Ausbuchtungen des Gewässers, die in ihrer nach dem Mann gerichteten Geschwungenheit gar nach diesem zu dürsten scheinen. Die Pinselstriche sind durch wenig Durchdringlichkeit gekennzeichnet. Damit stellen sie die Schäumung der Wellen und des Wassers als harte Materialität her. Der nahende schwarze Hintergrund und die tendenziell ruhige Haltung der Frau scheinen eine Resignation zu vermitteln, denn wäre der Hintergrund tatsächlich Gefahr, müsste sie engagierter nach dem Mann greifen. Doch ihre Haltung ist eine, die sich nicht durch Hatz oder Hast kennzeichnet oder eine solche, die eine schnelle Bewegung antizipieren lässt. Wollte sie den anderen Mann erreichen, so müsste sie über die enge Landschaftsgasse tänzeln, die sie dann zum Mann führen würde. Die Gesichter der beiden scheinen apathisch, das Gesicht des Mannes gar so sehr von seiner Fazialität getrennt, dass er nahezu unmenschlich oder gekünstelt dasteht, mit jenen zombiehaften dunklen Konturen im Gesicht als verdunkelt gezeichnete Wangen- und Halseinbuchtungen, samt leeren Augen, die den zombiehaften Zustand von der Seelengetilgtheit entsprechender Subjekte kennzeichnet (Abb. 59). Der dunkel gezeichnete Tränensack, lässt ihn müde und von Toten auferstanden erscheinen, denn die hellen Stellen im Gesicht wirken noch blasser. Hier ist zudem das Fehlen der Sichtbarkeit zwischen Iris und Pupille, also der Mangel eines Kontrasts im Auge, die gänzliche Dunkelheit, die sich in dem einzelnen Punkt als Auge gibt, weiterer Produzent jenes Eindrucks vom entseelten Zustand, da die Spiegelung der Seele, die sich in den Augen gibt, durch die Reduziertheit in der Darstellungsleistung hier dadurch ausbleibt. Die hier aufgezogene Beschreibung entwirft ein Katastrophenszenario, in dem die geographisch unzuschreibbare Zugehörigkeit an die Figuren sie als solche zurücklässt. Doch nun besteht das Poster ja nicht nur aus dem Bildteil oben, sondern aus einem Textteil, der ein Drittel der Gesamtposterfläche ausmacht und am unteren Rand positioniert ist: in beiden Postern. In großen roten Buchstaben zieht sich der Schriftzug 139 Vgl. Barthes (2003). 140 Waldenfels (2001b, S. 234). 141 Waldenfels (2001b, S. 235).
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Abbildung 59 – Detailaufnahme aus Filmposter (Malerei) zu MEMLEKETİM (1975)
mit dem Namen des Films über das in Beige gehaltene rechteckige Hintergrundfeld des Textes, das entlang der Posterkanten verläuft. Darunter befinden sich die Namen der weiteren Schauspieler, die in den Nebenrollen besetzt sind. Die Namen der beiden Hauptdarsteller in beiden Postern sind dabei jeweils anders verortet: Im Poster links stehen sie über dem Filmtitel, im Poster rechts über den beiden Photographien von Kirche und Moschee. Der Bindestrich trennt/verbindet die beiden Namen der Schauspieler_innen, wobei sich die jeweiligen Namen genau über/unter den entsprechenden Schauspieler_innen stehen. Als Unterschied zeigt sich allenfalls eine differente Schriftart der jeweiligen Filmtitel an: Der Titel links ist eine kantige, moderne Serifenschrift und die rechte Typographie ist eine, die sich durch besondere Wölbungen der Buchstaben auszeichnet. Im Poster links hält sich die Schriftart durch das ganze Poster hinweg durch, während rechts die andere Typographie eine Exklusivität herstellt. Als Schriftart wirkt sie unflexibler und militanter. Das Poster rechts ist tendenziell frivoler, sowie mit dem Hellblau von Mehmets Anzug und dem Orange von Leylas Hemd generell freundlicher, obgleich es die Dichotomie sehr viel radikaler entwirft als der Entwurf links. Doch was bedeutet diese Rahmung der Poster durch den Titel der Filme: Memleketim, »Meine Heimat«. Wer ist meine Heimat. Inwieweit hängt »Meine Heimat« mit den Bildern zusammen? Die Trennung des Visuellen vom Textuellen, die gemeinsame Zuarbeit beider Qualitäten ist hier in ihrer gegenseitigen Rahmungsproduktion aus einer filmdiskursiv undefinierten Perspektive eine relativ ambigue. Die Referenz zum Text, wessen Heimat zu wem gehört, das heißt die Konfiguration von Subjekt und Ortszugehörigkeit kann nicht aus den Bildern selbst eindeutig erschlossen werden, weil die Zuschreibung von Ortsqualitäten an Subjekte sich in der Photocollage, aber auch in der gemalten Szenerie nicht eindeutig vollzieht: Heimat ist tendenziell eine Zuschreibung und visuell nicht eindeutig erschließbar. Landkarte und die Photographien der Architekturen der jeweiligen Gotteshäuser stellen konventionelle und schnell erschließbare Zeichen dar, die eher im Poster rechts erahnen lassen, wer zu welcher Heimat gehört: Mehmet zur Moschee und Leyla zur Kirche. Im Poster links lässt die Verortung in der Landkarte selbst kaum eine Heimatzuschreibung möglich werden. Die Unaufhörlichkeit dieser Hevorkehrungsarbeit der Lesarten ist zugleich der Materialität der Poster geschuldet, die als Bild sprachlich unerschöpflich zu beschreiben ist. Fokussiert man statt der Sinnschichten, das Wahrnehmungsereignis, dann treten vielleicht auch jene Qualitäten in den Vordergrund, wie die Pinselstriche in der Malerei, die selbst in ihrer plastischen Form sich im Poster rechts wie weißer, harter Schaum entlang dunkler Kontraste geben und weniger als Wasser oder Meer wirken, sondern als dynamische Richtungszüge fungieren, die auf der platten Oberfläche des Blaus wie
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Wegweisungen zu jenen dunklen plastischen Hervorkehrungen werden, die als Inseln zu identifizieren sein sollen. In dieser einzunehmenden Fokussierung auf das Poster stellt Materialität also weniger einen Begriff dar, der auf eine bestimmte Stofflichkeit verweist (so wie man etwa vom Material Holz, Fleisch oder Wasser sprechen kann). Materialität ist hier vorerst eher eine Bezeichnung für eine spezifische Ereignisform unseres Wahrnehmens, Erlebens und Erfahrens – nämlich jene, dass wir im Zuge unserer ständigen und nahezu unabgesetzten Sinnproduktionen immer wieder an oder auf etwas stoßen, dass sich weder einerseits der unberührten Materie noch andererseits dem kulturellen Sinn des Materials vollständig zurechnen lässt. Wir befinden uns hier auf dem gemeinsamen Spannungsfeld von Sinn- beziehungsweise Verstehensprozessen und Materialitätseffekten.142 War die hier vorgenommene Analyse darauf aus, das strukturalistische Programm durch eine hermeneutisch getriebene Analysearbeit hervorzukehren und dann im Postervergleich und den Angeboten frischer Wahrnehmungsmodi andere Lesarten anzubieten, so lassen sich die Analysen an den Filmausschnitten zugleich als Arbeiten am Überschuss des Materials verstehen. Die Unaufhebbarkeit dieses Überschusses bereitet zuallererst die Vielfältigkeit jener Auseinandersetzung, die als Abtragungs- und Aufschichtungsprozedere von Signifikanten eben jene Analysen ermöglichten. Wandte sich die Analyse der ästhetischen Materialität der Filmbilder besonders den visuellen Konstruktionen zu, so verband sie beide Momente miteinander. Die weniger auch materielle, sondern diskursive Widerspenstigkeit im Sinne einer Dekonstruktion wird im nachfolgenden Kapitel, das sich mit der anderen großen nationalen Filmprogrammatik der Türkei beschäftigt, im Fokus stehen. Was bedeutet das untersuchungsstrategisch? Der Anzug, den Mehmet in beiden Postern trägt, ist ein westlicher Herrenanzug. Als Kleidungsstück, das aus dem britischen Kontext im Zuge des 19. Jahrhunderts entstanden ist143 , ist in dieser Gestaltetheit Mehmets ein Widerspruch eingelassen. Er widerspricht dem diskursiven Willen des Konzepts des millî sinemas insofern, als dass er in der Durchzogenheit der Bildfelder, die das Türkische repräsentieren sollen, einen Widersinn einbringt. Die blaue Farbe des Anzugs im Poster rechts lässt ihn gar als formell gekleideten, modischen Jüngling zurück. Obgleich Osman als turkisiertes, im rechten gar muslimisches Subjekt entstehen soll, produziert der westliche Anzug Konnotationen nach westlicher Elite, die ja als großes Andere des turkistischen Eigenen in den zahlreichen Diskursen rund um den Film proklamiert wird. Dass die Diskurse in der filmischen Umsetzung der Programmatiken in sich etwas tragen, was ihnen selbst widerspricht, wird in dem folgenden paradigmatischen Beispiel des frühen türkischen Emigrationsfilms umso deutlicher hervortreten. 142 Skrandies (2016, S. 18). 143 Vgl. Meyerrose (2016, S. 18).
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
9.2.
Nationale Filmprogrammatik II: Bir Türke Gönül Verdim (1969) als Ulusal Sinema
Halit Refiğ war eine der zentralen Figuren des türkischen Kinos in den 1960er und 70er Jahren. Er begann als politisch links orientierter, marxistisch inspirierter Filmkritiker, wechselte dann aber Ende der 1950er Jahre in die Produktion. Als Regisseur erzeugte er so bis in die 2000er Jahre unzählige Spielfilme, deren Großteil einen Sonderstatus in der Film- und Kulturgeschichte der Türkei einnimmt. Emigration und Remigration spielen sehr häufig eine bedeutsame Rolle darin. Im folgenden Kapitel geht es darum, die Filmprogrammatik Halit Refiğs, die er ulusal sinema (»Nationales Kino«) nennt, vorzustellen und sie filmhistorisch einzuordnen. Zudem wird einer seiner zentralen Filme mit Blick auf die besondere Stellung der Emigration darin untersucht werden: Bir Türke Gönül Verdim (»Ich gab mein Herz einem Türken«) (1969). Im Vordergrund werden dabei weniger umfassende Szenenanalysen stehen, die die anderen Filmuntersuchungen bislang motivierten, sondern es wird untersucht werden, inwieweit sich die filmhistorische Selbstkonstruktion des ulusal sinemas ausgerechnet über eine Emigrationserzählung realisiert. Ziel ist es, die Rolle der Emigration in dem ideologischen Gefüge zwischen Film und Filmprogrammatik zu reflektieren. Dabei wird vordergründig die Repräsentationsvorstellung des Begründers des ulusal sinema erörtert und am ausgewählten Film nachvollzogen werden, um daran anschließend eine Kritik an Refiğs Überlegungen zum Verhältnis von Film und ideeller Programmatik formulieren zu können.
9.2.1.
Grundthesen einer Filmprogrammatik: Ulusal Sinema (»Das Nationale Kino«)
Halit Refiğ, Filmkritiker, Regisseur und Intellektueller, als Sohn einer kemalistischen Textilunternehmerfamilie am 5. März 1934 in Izmir geboren, ist eine der herausragenden Figuren der türkischen Filmgeschichte. Seine Rolle klärt sich speziell mit seinem 1971 erscheinenden Buch mit dem Titel »Ulusal Sinema Kavgası« (»Der Streit um das Nationale Kino«), in dem seine Texte zur türkischen Filmkultur versammelt sind. Darin artikuliert er seine Konzeption eines ulusal sinema und stellt die Gründe für die Notwendigkeit dafür dar.144 Grundsätzlich richtet sich Refiğ darin strikt gegen eine Orientierung des Kinos in der Türkei am westlichen Kino. In einer Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Filmkritiker_innen, die prowestlich und europhil orientiert sind, und Filmemacher_innen, die in der Yeşilçam-Filmkultur kommerzielle Filme realisieren, versammelt Refiğ in diesem Buch also eine Vielzahl an Texten, in denen er dabei durchaus auch polemisch die Zustände der türkischen Filmkultur analysiert. Die Hauptthesen seiner Filmprogrammatik ulusal sinema fasst Refiğ folgendermaßen zusammen: Die spezifischen Produktions- und die sozial- wie kulturhistorischen Bedingungen der Türkei würden keine Orientierung am Westen erlauben, da sich die 144 Die nachfolgenden Informationen sind entnommen aus Refiğ und Türk (2001) und Refiğ und Zileli (2009). Für eine allgemein verortende, genaue und dichte, auch zeit- wie filmkulturhistorische Kontextualisierung von Refiğ siehe Yıldırım (2015).
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Türkei grundsätzlich vom Westen unterscheide. Die Filme der Türkei müssten sich dabei einer Aufwertung des Eigenen widmen, das demnach in der Aufwertung des unter anderem Anatolischen und Historisch-Spezifischen der Türkei liege.
9.2.2.
Das Ulusal Sinema als Resultat von Refiğs Wandel
Biographisch lässt sich die Einnahme dieser pro-türkischen Haltung als ein Wandel skizzieren, den Refiğ durchmacht: Bis in die späten 1950er hinein studiert er am amerikanischen Robert College in Istanbul, dient im Südkoreakrieg als Verbindungsoffizier und realisiert dort erste dokumentarfilmische Arbeiten. Obgleich sich in seiner Perspektive zum ulusal sinema eine Abwendung vom Westlichen deutlich macht, sieht sich Refiğ in den 1950ern, in denen er nach seiner Rückkehr aus Südkorea als Filmkritiker für verschiedene türkische Zeitungen und Magazine tätig ist, zuerst noch dem europäischen Kino verpflichtet. Nah fühlt er sich allen voran dem italienischen Neorealismus, insbesondere den Arbeiten des marxistischen Regisseurs Visconti, den Filmen und dem Denken Buñuels sowie den Schriften Freuds. In dieser Zeit rezensiert er türkische Filme sehr kritisch, evaluiert sie gemessen am westlichen Kino. Auch kommerziellen Produktionen gegenüber zeigt er sich oft kritisch. Nach einer Begegnung mit dem Autor und Schriftsteller Kemal Tahir macht Refiğ in den 1960ern einen Wandel von kemalistischen zu eher eigennationalistisch, proanatolischen Dispositionen durch. Er ist begeistert von der Fähigkeit des Tahirs, die anatolischen ›Wirklichkeiten‹ im Medium der Literatur sozialrealistisch zu verhandeln und zeigt sich beeindruckt von dessen Scharfsinnigkeit zur Erfassung der politischen wie historischen Situation der Türkei. Unter anderem in Anlehnung an Tahirs politische Argumente formuliert Refiğ in den 1960ern nun eben jenen Standpunkt, der ihn zur Konzeption seines ulusal sinema bewegen wird: Der europäische Humanismus und dessen Orientierung an einem westlichen Aufklärungsprojekt seien für den Film in der Türkei gänzlich unangemessen. Seiner Meinung nach mache die Deklaration der Freiheit des Individuums als primum principium der Aufklärung mit all ihren aufklärerischen Folgen (Mündigkeit) allenfalls vor dem feudal ausgerichteten wirtschaftlichen, den einfachen Mann versklavenden Klassensystem des Westens Sinn. Weil es ein solches Klassensystem samt Arbeiterklasse in der Türkei so nicht gäbe, sei eine Hinwendung der Türkei in kultureller Hinsicht an Europa widersinnig.145 1964 wird Refiğ zusammen mit seinem Vorbild Tahir für den historischen Film Haremde Dört Kadın (»Vier Frauen im Harem«), der die Umstände bei einem vortürkischen, osmanischen Paşa und seinem Harem beleuchtet, dann auch konkret zusammenarbeiten. Kemal Tahir gibt für die unter Druck geratenen vormals sich als sozialrealistisch definierenden Regisseure wie Halit Refiğ, Metin Erksan, Ertem Göreç nicht nur eine unterstützende Stimme ab. Er bereitet darüber hinaus für diese Filmemacher eine ideelle Positionierung. Die Unterstützung für seine pro-anatolischen, pro-osmanischen Argumente entlehnt Tahir selbst bei den beiden Linksintellektuellen Sencer Divitçıoğlu und Selahat145 Zur Kontextualisierung der Entstehung des ulusal sinema im Kontext der Entstehung institutioneller Filmvereinigungen et cetera, siehe Ellinger (2017, S. 70-74).
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tin Hilav. Beide letztgenannten Intellektuellen greifen auf Marx’ Konzept der »asiatischen Produktionsweise«146 zurück und konkretisieren das auf Türkisch »ATÜT« (Asya Tipi Üretim Tarzı) lautende Konzept für die Türkei und das osmanische Reich in ihren Schriften: Es wird zu sehen sein, dass diese wirtschaftliche Perspektive auf die West-Ost-Dichotomie auch Refiğ in seinem ulusal sinema-Konzept argumentativ stützen wird. In dieser Begegnung mit dem sozialistischen Schriftsteller Tahir begründet sich also, dass der zuerst noch prowestliche Refiğ in den 1960ern zu einem Filmintellektuellen wird, dem die filmische Umsetzung nationaler Themen Kernanliegen wird. Die Bestimmung des politischen Orts der Akteure der türkischen Filmkultur: Was ist das Ulusal Sinema? Refiğ hat seine Vorstellungen eines ulusal sinema in den 1960ern trotz seiner ähnlichen nationalistischen Zielsetzung nicht als Parallelkonzept zum millî sinema entwickelt. Ihm ging vielmehr die Auseinandersetzung mit Filmkritiker_innen voraus, die das nationale Kino der Türkei von dessen Beginn an kritisierten und das westliche Kino, besonders in seiner Form als auterism als begehrenswerte, künstlerische und professionelle Filmkultur ersehnten. Refiğ erachtete ein prowestliches Modell für die türkische Filmkultur als unangemessen, da es die Bemühungen der türkischen Filmemacher_innen immer am europäischen Kino bemaß und es weniger vor dem Hintergrund der je spezifischen »nationalen«, wirtschaftlichen und technischen Bedingungen der Türkei evaluierte. Damit eint das ulusal sinema und das millî sinema mindestens die Abgrenzung gegen prowestliche Tendenzen in der türkischen Filmkultur. Refiğ selbst fasst die Dispositionen der prowestlichen »upper class« und ihr »gefährliches« ideologisches Programm für den türkischen Film wie folgt zusammen: Das Resultat aus all dem ist Folgendes: Kino ist eine universelle Kunst. Der Kern für die Bewertungsmaßstäbe dieser universellen Kunst liegt im Westen. Einen guten Film kann man nur machen, indem man ihn wie ein Westlicher macht. Eine Auseinandersetzung mit türkischen Filmen, solange sie das Maß westlicher Filme nicht erreicht haben, ist sinnlos. Von den türkischen Filmen sollte auch so lange keine Rede sein, wie sie sich noch nicht vom Westen haben akzeptieren lassen, muss für die Liebe und die Aneignung der Filme aus dem Westen gekämpft werden. Bütün bunlardan çıkan sonuç şudur: Sinema evrensel bir sanattır. Bu evrensel sanatın değerlendirme birimi Batı’dadır. İyi Film yapmak ancak batılı gibi Film yapmakla olur. Batılı filmler ölçüsüne varmadıkça Türk filmleriyle ilgilenmenin bir manası yoktur. Türk filmleri kendilerini 146 »Als typische Merkmale dieser Produktionsweise erwähnte Marx das Fehlen des Privateigentums bzw. die Erhaltung der primitiven autarken Gemeinde mit Gemeineigentum, sowie die Entwicklung einer staatlichen Organisation meist despotischen Charakters, die sich auf der Grundlage der schon in der verfallenden Urgesellschaft entstandenen öffentlichen Funktionen entwickelt hatte. In diesem Zusammenhang wurde sowohl von Marx als auch von Engels die Notwendigkeit umfassender Flußregulierungs- und Bewässerungsarbeiten als günstiger Nährboden für die Entwicklung einer derartigen Produktionsweise genannt«, Töpfer (1967, S. 259f.).
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Batı’ya da kabul ettirmeden onlardan söz edilmemeli, Türk seyircisine Batı’dan gelen filmleri sevdirmek ve benimsetmek için savaşılmalıdır.147 Die mangelnde, differenzierte Auseinandersetzung der Filmkritiker_innen, die in der »upper class«148 sozialisiert und so entsprechend an der Verwestlichung der türkischen Gesellschaft interessiert waren, betrachtet Refiğ dabei als Selbstaufwertungsstrategie. Aufgrund ihrer Abwertung des türkischen Kinos würden sie mit dieser Abgrenzungsgeste eine Aufwertung ihres Selbst vornehmen und sich als moderne Intellektuelle herstellen. Diese Abgrenzungsbewegung gegen eine vermeintlich rückständige türkische (Nicht-)Kultur diene den prowestlichen Akteuren also auch als Profilierungsstrategie. Solche Akteure wussten Refiğ zu Folge das Engagement jener Filmemacher_innen aus der Türkei nicht zu schätzen, die in der auf Kommerz ausgelegten Yeşilçam-Filmkultur Risikobereitschaft und außerordentliches Engagement für die Herstellung auch nichtkommerzieller Filme an den Tag legten – eine Einschätzung, auf die Refiğ erst nach seiner zunehmenden Eigenaktivität als Filmemacher kommt. Zu diesen Differenzen tritt eine weitere Konfliktdimension hinzu: Refiğ und andere Regisseur_innen der Filmemacher_innenphase, die sich relativ früh und mit einigem idealistischen Elan für die Etablierung einer Filmkultur in der Türkei widmeten, geraten in der auch staatlich organisierten Zusammenkunft des ›Filmrats‹, mit den prowestlichen Filmkritiker_innen in Streit: Die Vermittlungskonferenz scheiterte schließlich, als die Filmschaffenden um Refiğ den ›Filmrat‹ verließen. Das war der Anfang eines Konflikts, der inhaltlich, individuell und organisatorisch zahlreiche Auseinandersetzungen und Konsequenzen nach sich ziehen sollte.149 In der Folge gründet Refiğ mit seinen Weggenossen wie Erksan, Göreç und anderen Interessensverbände, Vereine und Initiativen, erwirkt anderweitige Zusammenarbeiten und wirkt unter anderem am Aufbau des von Sami Şekeroğlu initiierten Filmarchivs150 mit. Unbestritten war für Refiğ, dass der Westen nach wie vor auch prinzipiell Inspiration sein konnte – so wie die sozialrealistischen Filme der Türkei am italienischen Neorealismus Orientierung fanden und so wie das frühe Schaffen Refiğs auch vom europäischen Kino geprägt war. Allerdings bewertet er die Bemessung des türkischen Kinos an und den Wunsch nach einer Gestaltung entlang der europäischen Kinematographie als eine Unverhältnismäßigkeit. Als einen weiteren negativen Effekt einer prowestlichen Konzeptualisierung des türkischen Kinos ersieht er die Provinzialisierung der spezifisch aus dem Osmanischen erwachsenen türkischen Kultur gegenüber einer nur oberflächlich zivilisiert erscheinenden Kultur des Westens: Aus diesem Grund gibt es für diejenigen unter unseren Aufgeklärten, die mit der Kunst des Westens groß geworden sind, so etwas wie ein türkisches Kino nicht. So wie es für die Westlichen so etwas wie eine türkische Kunst nicht gibt… 147 148 149 150
Refiğ (2013, S. 49). Refiğ (2013, S. 43). Ellinger (2017, S. 71). Das Archiv befindet sich auf dem Campus der Mimar Sinan Üniversitesi İstanbul und ist für Externe kaum zugänglich.
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Bu yüzden, Batı kültürüyle yetişmiş aydınlarımız için Türk sineması diye bir şey yoktur. Tıpkı batılılar için Türk sanatı diye bir şey olmadığı gibi…151 Das Ulusal Sinema als Fortsetzung des Halk Sineması Wegen der fehlenden staatlichen Unterstützung des Kinos in der Türkei ist für Refiğ das türkische Kino mit seiner gezwungenermaßen auf Kommerzialität hin ausgerichteten Finanzierungspolitik, ein Volkskino, ein halk sineması (»Volkskino«). Es ist als ein Kino zu charakterisieren, das sich, laut Refiğ, ausschließlich im Abgleich zwischen den Sehnsüchten seiner Zuschauer_innen und der Befriedigung dieser Bedürfnisse durch die Filmherstellenden entwickle: Weil das türkische Kino nicht durch Fremdkapital gegründet wurde, ist es kein Kino des Imperialismus, weil es nicht auf Basis eines nationalen Kapitalismus gegründet wurde, ist es kein Bourgeoisie-Kino, weil es nicht durch den Staat gegründet wurde, ist es kein Staatskino. Das türkische Kino ist unmittelbar ein ›Volkskino‹, weil es ein aus den Bedürfnissen des türkischen Volks nach Filmsichtung entstandenes und kein an Kapital, sondern an individuelle Mühen gelehntes Kino ist. Türk sineması yabancı sermaye tarafından kurulmadığı için emperyalizmın sineması, millî kapitalizm tarafından kurulmadığı için burjuva sineması, devlet tarafından kurulmadığı için bir devlet sineması değildir. Türk sineması doğrudan doğruya Türk halkının Film seyretme ihtiyacından doğan ve sermayeye değil emeğe dayanan bir sinema olduğu için bir ›halk sineması’dır.152 Zu tun hat die hier im Zitat artikulierte synchrone Abgestimmtheit zwischen Filmfinanzierung, Filminhalten und Bevölkerungsbedürfnissen mit der regionalen Finanzierungs- und Filmdistributionspolitik des Yeşilçam-Kinos: Die Finanzierung eines Films im Yeşilçam sineması wurde unmittelbar und ausschließlich durch die konkreten Ticketverkäufe gesichert, dem so genannten Bono-System (siehe Kapitel 3), also so, dass sich Zuschauer_innen und Herstellende aufeinander abstimmen mussten. Also gerade im Gegensatz zu den anderen Künsten wie Musik, Theater oder Malerei spiele das Kino für die Bevölkerung eine besondere, nämlich sie verwirklichende Rolle.153 Denn im Zuge der Republiksgründung und- bewahrung (Kemalismus) waren jene anderen Künste durch einen Prozess der Westernisierung gegangen, dem sich die Menschen aufgrund der darin enthaltenen kemalistisch-paternalistischen Haltung verschlossen hatten. Das Kino aber sei davon größtenteils verschont geblieben. Das von Refiğ konzipierte ulusal sinema geht insofern weiter mit dem Konzept eines halk sineması, als dass es versucht, inmitten dieser kommerziellen ›Volkskino‹-Kultur die je spezifischen kulturellen wie historischen Besonderheiten der türkischen Bevölkerung durch das Medium der filmischen Erzählkunst zu realisieren. Und zwar so, dass die nationalen Besonderheiten entgegen imperialistischer Tendenzen des Westens aufrechterhalten bleiben. Mit dem ulusal sinema gilt es also die historischen Bedingungen 151 Refiğ (2013, S. 71). 152 Refiğ (2013, S. 89). 153 Refiğ (2013, S. 71).
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der betroffenen Nation (hier der Türkei) nicht zu leugnen und zu unterminieren, sondern auf ihrer Grundlage nationale Filme als Widerstandsmedium gegen imperialistische Tendenzen auch (eigen-)staatlicher Bemühungen (hier: europhiler Kemalismus) aufzubauen: Denn die Europhilie des Kemalismus reproduziere den westlichen Kulturimperialismus.154 Refiğ verortet seine Vorstellung westlicher Imperialisierungstendenzen dabei im Kontext der damaligen Befürchtungen, dass die türkische Politik mit ihrer pro-amerikanischen Haltung155 und ihrer Verwestlichungstendenz eine staatspaternalistische Haltung gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung fortsetzen würde. Das staatliche Modernisierungsprojekt folgte nämlich dem westlichen Industrialisierungsmodell inklusive dem ihm zugrundeliegenden soziokulturellen Unterbau von Humanismus und Aufklärung. Die Künste mit ihren Repräsentationsmöglichkeiten sollten, so argumentiert Refiğ, diesen Imperialisierungs- und Paternalisierungstendenzen den Ausdruck kulturhistorischer Spezifika der türkischen Kultur entgegensetzen. Eine alternative Leseart der Entstehung des Ulusal Sinema und ihre Kritik Um die Vielschichtigkeit der politischen Zusammenhänge deutlich zu machen, in denen das ulusal sinema zu situieren ist, sei hier eine alternative Lesart der Entstehungsgründe eben jener nationalen Filmprogrammatik wiedergegeben, die Aslı Daldal in ihrem Buch zum türkischen Sozialrealismus im türkischen Kino der 1960er Jahre entwirft.156 Ihrer Meinung nach hätten die Filmemacher_innen, die sich dem ulusal sinema Gedanken verpflichtet fühlten, eher pragmatische Gründe für die Einnahme einer solchen Haltung gehabt: Daldal zufolge mussten die vormals am (marxistischen) Sozialrealismus orientierten Filmemacher_innen einen Kompromiss mit dem YeşilçamKino als einer kommerziellen Produktionskultur eingehen. Sie sahen sich gegenüber der Kritik durch die pro-westlich, marxistischen Filmkritiker_innen zu einer Abwehrhaltung verpflichtet. Diese Abwehrhaltung habe in der Legitimation ihres kommerziellen Filmemachens in der Yeşilçam-Ära mit eben jenen Konstruktionen des halk sineması (›Volkskino‹) bestanden.157 Obwohl mit dem Militärputsch von 1961 umfassende Verfassungsänderungen möglich geworden waren (▶ Kap. 3) und die Rigidität der Zensur sowie die innenpolitisch-gesellschaftliche Situation sich zu beruhigen schien, habe sich mit der Wahl von 1965 wieder ein proamerikanischer, antikommunistischer, rechter Kurs entfacht, der die Filmemacher_innen zu einer Neuorientierung beziehungsweise -positionierung drängte. Denn in jener Wahl wurde die im Putsch abgesetzte pro-amerikanische, rechtskonservativ, gemäßigt islamische und so auch contra-linke Regierung in ihrer nun neuen Form als AP (Adalet Partisi [Gerechtigkeitspartei]) wiedergewählt, 154 Refiğ (2013, S. 94). Insofern steht Refiğs Anliegen in dieser Hinsicht auch parallel zu Konzeptionen des Dritten Kinos, bedarf aber aufgrund der schwierigen Lage der Türkei im globalen Feld (Ahıska, Kapitel 2) eingehenderer Spezifizierungen, die hier nicht zu leisten sind. 155 Die Türkei tritt der NATO 1952 unter Menderes bei. Es kommt zu einer Verschärfung des Kalten Kriegs mit zunehmender Hinwendung der Türkei zu einer besonders pro-amerikanischen, pro-nationalistischen und pro-kapitalistische Haltung. 156 Daldal (2005). 157 Daldal (2005, S. 122f.).
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sodass rigide Filmzensur und der Mangel einer staatlichen Filmförderung sich weiter erhalten konnten.158 Refiğ selbst hingegen würde einer solchen These, dass die Überlegungen zum ulusal sinema nur als Reflex und Legitimation dienten, auf der Basis eben jenes halk sinemasıKonzepts widersprechen. Erstens erlaube das staatlich unsubventionierte bono-System eben nur, dass im Wechsel mit kommerziellen Filmen künstlerisch ambitionierte Filme möglich würden und zweitens bekennt sich Refiğ bewusst zur ideellen Dimension des halk sineması, das eben jene Sehnsüchte des Volkes unmittelbar bediene159 : ein Potential, das der türkische Filmhistoriker Savaş Arslan in seiner kulturtheoretischen Konzeption des Yeşilçam Sinemas 50 Jahre nach Refiğs Ausführungen, wenn auch komplexer begründet, teilt (▶ Kap. 3). Seine pro-national-türkische Haltung bewahrt Refiğ über seine gesamte Karriere hindurch (ab den 1990ern wird er TV-Film- und Serienregisseur beim türkischen Staatssender TRT) – bis zu seinem Tod 2009. Refiğ konnte in der Türkei die Zielsetzungen seines ulusal sinema nur in einigen wenigen Filmen umsetzen. In zahlreichen Interviews betont Refiğ damit immer wieder, dass seine Filme Bir Türke Gönül Verdim und Haremde Dört Kadın am ehesten sein Verständnis eines ulusal sinema verwirklichen – bleibt aber eine Antwort schuldig, warum ausgerechnet diesen beiden Filmen jenes Vermögen zukommt. Refiğs Mentor Kemal Tahir, der als größte Inspirationsquelle seiner Filmprogrammatik fungiert, liefert zwar für den früheren der beiden Filme, Haremde Dört Kadın, schon im Jahre 1964 das Drehbuch, also noch vor der Konzeption des ulusal sinema selbst. Doch es ist der letztere Film, der als erster bewusst unter dem Label ulusal sinema gedreht wird. Deshalb – und mit Hinblick auf die Thematik der Emigration, dem Fokus der vorliegenden Arbeit, wird Bir Türke Gönül Verdim hier in der Analyse einer zentralen Filmprogrammatik des türkischen Kinos der 1970er im Untersuchungszentrum stehen.160
9.2.3.
Bir Türke Gönül Verdim (1969) als Ulusal Sinema
Es wird zunächst dargelegt werden, wie Refiğ in diesem Film seine Konzeption des ulusal sinema verwirklicht sieht, und wie die jeweiligen Filmelemente (Architektur, Figuren, Titel, Story) seine pro-anatolischen und anti-westlichen Thesen des ulusal sinema zu repräsentieren vermögen. Speziell wird auch auf die Rolle der Emigration in diesem Film einzugehen sein. Das Kapitel wird mit einer Kritik seiner Repräsentationsvorstellung enden und den Ort von Emigration darin als instrumentelles Gefüge bestimmen, das hilft (kultur-)dichotomische Thesen und Positionen auch filmisch und paratextuell zu formulieren. Plot und Entstehung Bir Türke Gönül Verdim entsteht nach einer »wahren Begebenheit«. Von ihr erfährt Halit Refiğ in einer Zeitung: 158 Daldal (2005, 126, 127). 159 Refiğ und Türk (2001, S. 232-235). 160 Tunç Yılıdırım zählt Metin Erksans Kuyu (»Brunnen«) (1968) als ersten offiziellen Ableger (2015, S. 220).
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Eine deutsche Frau namens Margit Schmidt geht mit ihren Zwillingen in die Umgebung von Ürgüp Göreme [Kappadokien, Ö.A.], um nach dem Vater ihrer Kinder zu suchen. Und weil sie ihn nicht finden kann, lebt sie bei einer Familie, die sie in ihrer schwierigen Situation auffindet. Diese Nachricht war in den Zeitungen erschienen. Margit Schmidt adında bir Alman kadın, ikiz çocuklarıyla beraber Ürgüp Göreme civarına çocuklarının babasını aramaya geliyor. Ve bumaladığı için, o civarda onu benimseyen bir ailenin yanında yaşıyor. Bu haber gazetelerde çıkmıştı.161 Bei der Produzentensuche muss Refiğ »von Tür zu Tür« gehen, bis sich der erfolgreiche Produzent, Regisseur und Sänger Hürrem Erman mit seiner Produktionsfirma des Films annimmt. Im Film selbst spielt Halit Refiğs damalige schwedische Lebensgefährtin Eva Bender die gleichnamige Hauptrolle: Eine deutsche Frau sucht den, in seine Heimatstadt Kayseri remigrierten, türkischen Gastarbeiter İsmail Acar auf, um ihn in der Hoffnung auf eine familiale Zukunft mit ihrem gemeinsamen Sohn Zafer zu konfrontieren. Von diesem weiß der Remigrant nichts, da er Eva in Deutschland vor der Geburt des Kindes zurückließ. Nachdem Eva in der belebten Stadt ankommt, verweigert İsmail die Verantwortung für Sohn und Geliebte, zumal er selbst verheiratet ist und bereits eine Tochter im Schulalter hat – ein Umstand, von dem Eva bis zu ihrer Konfrontation mit İsmail nichts wusste. Ein weiterer Protagonist, Mustafa, der Sohn des Großgrundbesitzers eines umliegenden Dorfs von Kayseri nimmt sich der Frau und ihres Sohns Zafer an, die beide vom gewalttätigen Konflikt mit İsmail aufgelöst und verzweifelt sind. Auf der einen Seite fasziniert von der anatolischen Kultur und auf der anderen Seite die Hoffnung nach einer gemeinsamen Zukunft mit İsmail ablegend fügt sich Eva bewusst in das Leben im Dorf ein. Sie übernimmt die Lebensweise der Dörfler_innen, konvertiert zum Islam und versteht sich von nun an als integrativen Bestandteil der Dorfgesellschaft, die sie auch aufnimmt. Davon beeindruckt beschließt Mustafa, Eva zu heiraten. Die Emigrantin nimmt Mustafas Antrag an und möchte mit ihm ein gemeinsames Leben im Dorf verbringen – zumal sich der Feudalherrensohn prächtig mit ihrem Sohn Zafer versteht. Der lange Zeit stumm gebliebene Junge beginnt mit Hilfe Mustafas, Türkisch zu sprechen. Doch kurz nach dem Ja-Wort der beiden Verliebten auf dem Standesamt passiert das Unheil. İsmail erschießt in einem Eifersuchtsrausch den gutmütigen Anatolier, als dieser sich zum Schutz von Eva vor den Schüssen vor sie wirft. Während der Flucht vor nach Lynchjustiz durstenden Männermenge, die sich am Tatort bildet, wird İsmail schließlich von der Polizei gefasst und verhaftet. Noch auf der Fahrt im Krankenwagen erliegt Mustafa in den Armen seiner Ehefrau seinen Schusswunden. Nach dieser gewalttätigen Episode bleibt Eva trotz der traumatischen Erlebnisse der anatolischen Lebensweise und einem künftigen Leben im Dorf verpflichtet. Wenig später kommt Evas Bruder aus Deutschland in Kayseri an. Er reist im Auftrag ihres Vaters, der Eva vor ihrer Emigration in die Türkei seine Zusprache versagt hatte, weil sie in Deutschland die Beziehung zu einem Ausländer, nämlich İsmail erwählt und von ihm sogar einen Sohn bekommen hatte. Durch ihren Bruder erhält sie nun das Angebot des Vaters zu ihm nach Deutschland 161 Refiğ und Türk (2001, S. 264), siehe dazu auch Refiğ (2013, S. 141).
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zurückzukehren. Eva lehnt ab. Während das moderne Taxi mit dem Bruder die Landstraße entlangfährt und das Dorf verlässt, fährt es an der modrigen Holzkutsche vorbei, die die in Weiß gehüllte Eva mit Arbeitswerkzeugen zur Arbeit auf dem Feld transportiert. An ihre Münder halten die Frauen im Sinne einer Verschleierung schwarze Tücher, um ihre Gesichter zu verdecken. Als das Auto in Kutschenhöhe entlangfährt, blickt Evas Bruder auf seine Schwester, die mit ihren hellen Augen durch das mit dem Tuch verdeckte Gesicht blickt. Ein kleines Winken zwischen beiden ist möglich, bevor beide Autos in die Tiefe der kappadokischen Landschaft verschwinden… Warum realisiert ausgerechnet ein solcher Film die Ideen hinter der Konzeption des ulusal sinema? Für Refiğ leisten die innerfilmischen Entitäten (Figuren et cetera) die Realisierung seines ulusal sinema. Dadurch dass der Film bestimmte Ideen umsetzt, realisiert er in Refiğs Verständnis eine Illustration bestimmter Annahmen des ulusal sinema. Es wird sich zeigen, dass Refiğ die vielfältigen Dimensionen des Repräsentationskonzepts (Ästhetik, Epistemologie, Politik) vernachlässigt, die Schaffer so an drei umfassende »Dimensionen« koppelt, und damit die Reichweite jenes Konzepts indiziert: Darstellung, Vorstellung und Stellvertretung sind die drei Bedeutungsfelder, die der Begriff Repräsentation umfasst. Korrespondierend damit öffnen sich mit dem Begriff Repräsentation die Dimensionen der Ästhetik, der Epistemologie und der Politik (vgl. Heath 1991). Auf allen drei Ebenen bezeichnet er einen Prozess des Stellvertretens und Einstehens für etwas Abwesendes. […]162 Um die Vorstellung vom Film als repräsentativen Träger einer bestimmten Idee herauszustellen, die Refiğ zu Folge gar eine filmpolitische Programmatik zu realisieren imstande ist, sollen im Folgenden diejenigen Aspekte von Bir Türke Gönül Verdim herausgestellt werden, die ein Verständnis des Films als ulusal sinema qualifizieren. Dafür werden sowohl Eigenbewertungen des Regisseurs als auch Analysen und Reflexionen zur Repräsentationsvorstellung des Regisseurs vorgenommen werden. Dass darin Migration Refiğ die Artikulation der Thesen des ulusal sinemas zu realisieren hilft, wird ebenfalls nachgewiesen werden, insbesondere an der Figurenanalyse. Vorläufig bleibt festzuhalten, dass Refiğ wie Çakmaklı die Fabula des Films als Akteur der Realisierung der Ideen des ulusal sinema betrachten: Weniger die ästhetischen Besonderheiten würden also die Idee der kulturellen wie kulturhistorischen Spezifika der türkischen Gesellschaft umsetzen, sondern die Story und die filmischen Repräsentationen, aus denen sie erwächst, stellen selbst Thesen und Aussagen her oder setzen solche um, die es als solches ulusal sinema qualifizieren.163 Um die solche Vorstellung nach dem Repräsentationsvermögen des Filmischen auch in ihrer Unhaltbarkeit aufzuzeigen zu können, werde ich methodisch, dem Repräsentationskonzept Refiğs folgend, 162 Schaffer (2008, S. 83). 163 Es wird noch deutlich werden, dass Oğlum Osman auf kommunikativer Ebene durchaus propagandistischer fungiert: Während bei Bir Türke Gönül Verdim Refiğs Aussagen zum Verhältnis von West und Ost oder ideologische Annahmen implizit bleiben, werden die okzidentalisierenden Thesen des millî sinema selbst noch in ihrem ideologischen Gehalt durch die Figuren (insbesondere durch Osmans Vater) über den Dialog artikuliert. Ein solcher expliziter Gestus bleibt in Refiğs Film aus. Siehe später.
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sowohl die von ihm vorgenommenen Repräsentationsanalysen nachvollziehen, als auch die Realisierung des ulusal sinema anhand von eigenen Beobachtungen und Analysen aufzeigen, nämlich anhand von vier Repräsentationsmedien, die Refiğs Perspektiven auf den Film strukturieren und klassifizieren helfen: Ort, Architektur, Milieu (I), Dinge und Kleidung (II), schriftliche Texte (III) und Figuren (IV).164 Konkret werden zunächst eine Analyse der Repräsentation der Settings und daran anknüpfend zwei ausführlichere Figurenanalysen vorgenommen. Ein Verständnis von Refiğs Repräsentationskonzept offenbart, wie vereinfachte Verständnisse von Migration stets für kultur-dichotomisierende und essentialisierende Annahmen instrumentalisiert werden können: Weil also Migration als qualitativer Ortswechsel eines wandernden Kultursubjekts aus einem kulturell vorbestimmten Ausgangsort zu einem anderen aufgefasst wird, sind Figur und Ort in seinem Verständnis vornehmliche Akteure der Produktion des ulusal sinema. Diese Vorstellung eint das ulusal sinema und millî sinema. Wenn das Kino der Türkei immer schon das Kino von der Krise der kulturellen Identität ist165 , dann ist Migration dasjenige Gefüge, das seinen Akteur_innen ermöglicht, darin identitätsstabilisierende Angebote wie die Turkisierung, Anatolisierung oder die Produktion sowie Artikulation von okzidentalisierenden Dispositionen vornehmen zu können. Wichtig ist es zu betonen, dass dieser Nachvollzug von Refiğs Vorstellungen davon, wie sein Film das ulusal sinema umsetzt, an einigen Stellen um eigene Analysen und Beobachtungen ergänzt werden wird und die so über Refiğs Analysen zunächst affirmierend hinausweisen. Das wird zumeist dann der Fall sein, wenn sich die Identifikation von Krisenmomenten jener Repräsentationsvorstellung Refiğs anbieten oder seiner Argumentation offensichtlich zuarbeitende Elemente in der Analyse am Film deutlich werden. Es geht hier, wie im Kapitel zum millî sinema auch, zuerst den Repräsentationslogiken der Filme – und hier besonders dem für den Film vorgeschlagenen Kommunikationszusammenhang seines Regisseurs – zu folgen, um punktuell sowie am Ende des Kapitels auf dekonstruktivierende Momente an diesen Vorstellungen zu verweisen. Repräsentationsmedien des Ulusal Sinema I: Ort, Architektur, Milieu Bevor im Film Eva Bender166 mit dem Zug in der belebten Stadt Kayseri eintrifft, setzt der Film selbst mit einem knapp ein-minütigen Schwenk von den eisigen Spitzen des Erciyes-Gebirge (Abb. 60.1) auf die Stadt der Provinz Kayseri ein (Abb. 60.2), liefert so schließlich Stadtansichten in extremer Totale (Abb. 60.3) und produziert damit die establishing shots (→). Im Hintergrund ertönt dabei das von einem Frauenchor gesungene und vom Kayseri Künstler Ahmet Gazi Ayhan für seine Heimat komponierte167 Volkslied »Bir Of Çeksem Karşıki Dağlar Yıkılır« (»Wenn ich einmal ›Of‹ sage, stürzen die Berge gegenüber ein«). 164 Die einzelnen Elemente überschneiden sich natürlich. Kleidung gehört zum Beispiel zu Figur et cetera 165 Vgl. Aksoy und Robins (2000). 166 Die Protagonistin trägt den Namen der Filmschauspielerin, die sie verkörpert. 167 Ahmet Gazi Ayhan. o.A.
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Abbildung 60 – Standbild aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Der Text handelt von der Trennungssehnsucht einer_s Liebenden und ist ein so genanntes typisches gurbet-Lied, also ein Lied, das das In-der-Fremde-sein als Leiderfahrung thematisiert. Die Interjektion ›of ‹ ist ein Ausspruch des Schmerzes und des Leides, das das lyrische Ich den Bergen entgegenschleudert und das so voller Schmerz und Wucht ist, dass gar die Berge einstürzen würden. Der Liedtext greift mit der expliziten Benennung einer Trennungssehnsucht zweier Liebenden die Filmhandlung antreibende Ausgangslage, nämlich die Trennungssituation zwischen Eva und İsmail auf. Eine solche Verklammerung von Filmsoundtrack wiederholt sich mehrmals und zeichnet die Filmmusikstrategie aus. Am Ende des Vorspanns scheinen Aussprüche von Mevlana168 und Yunus Emre auf, die mit weißer Schrift die Thematik der Fremde und der ungläubigen Frau textuell herstellen. Die Titel gesellen sich zu Bildern von Eva als Mutter, die die Hand ihres stummen, jungen Sohns haltend durch die Stadt Kayseris geht (Abb. 60.4). Diese Einstiegssequenz, die der Etablierung des Settings des Films überaus umfangreichen Raum beimisst (es vergehen mehr als vier Minuten), ergibt sich aus einer spezifischen filmischen Inszenierungspolitik Refiğs, die sich für nahezu alle seine zumindest künstlerisch ambitionierten Filme feststellen lässt und die Fatoş Adiloğlu herausgearbeitet hat.169 Gemeint sind hier die architektonisch-filmästhetischen Besonderheiten in Refiğs Filmen, die sich insbesondere über eine Analyse der filmischen Raumproduktion herausstellen lassen. Zentral in Refiğs Arbeiten bleibt Adiloğlu 168 Refiğ (2013, S. 143). 169 Adiloğlu (2005) und Adiloğlu (2010).
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zu Folge die Relation von Raum zu »den Beziehungen zwischen menschlicher Seele, Lebensraum und Stadt« und als thematischen Schwerpunkt identifiziert sie den »OstWest-Gegensatz«, aber auch die »Beziehung zwischen Haus und Heim« – gemeint ist damit die Differenz zwischen gebautem physischem Lebensraum und sozialer Konstruktion.170 Für Refiğ verbleibt weniger die filmästhetische Perspektive bestimmend als vielmehr die soziale Besetztheit der Räume selbst. Für Bir Türke Gönül Verdim bindet er dadurch weniger die filmmedialen, jedoch die geographischen sowie orts- und architekturhistorischen Besonderheiten der Stadt Kayseri und des Settings des Films an die Erzählung einer (zivilisations- und sozial-)historischen Vielfalt zurück: Die am Fuß des Erciyes Gebirge erbaute, seit den Hetithern171 als Siedlungsgebiet fungierende Stadt, die von den Römern hinterlassenen Stadtmauern; die aus der Zivilisation des Seldschuk Türken-Islam erhaltenen Moscheen, Medressen, Kuppeln; die [mit kappadokischen, spitz zulaufendem Aussehen versehenen, Ö.A.] Steinhäuser, die die Siedlungsbesonderheiten anzeigen, die Basarplätze, Fabriken, kleinen Ateliers, neuen Viertel, großen Beton-Block-Gebäude vereinten die Elemente auf vollkommen durchmischte Art und Weise in der Struktur der neuen und alten Welt. Erciyes’in eteklerinde kurulmuş, Hititlerden beri bir yerleşim bölgesi olan şehir, Romalılardan kalma surları; Selçuk Türk-İslam medeniyetinin eserleri olan camileri, medreseleri, kümbetleri; bölgesel yerleşme özelliklerini ortaya koyan taş evli mahalleleleri, pazar yerleri, fabrikaları, küçük atölyeleri yeni mahalleleri, büyük beton blok binalarıyla eski ve yeni dünyanın bütün unsurlarını karmakarışık bir biçimde bünyesinde topluyordu.172 Das Stadtbild repräsentiere damit jene dichotomen soziokulturellen Bedingungen, die Refiğ als Gegensatz von Tradition und Moderne reflektiert wissen will: Westliche Kultur, türkische Vorkultur, spezifische Naturphänomene, die an der Schnittstelle von Wohnkultur und Naturkultur anzusiedeln sind (Steinhäuser), Stadtentwicklung anzeigende Gebäude. In ökonomischer Hinsicht vollziehe sich die Dichotomie von ›neuer‹ und ›alter‹ Welt in der Stadt durch das Vorhandensein von Fabriken, die Handwerksbezogenheit ergebe sich durch die kleinen Ateliers und die architektonische Vielfalt schließlich zeige sich durch die Blockgebäude aus Beton. Dabei dominiert das Setting der Stadt Kayseri lediglich die erste Hälfte des Films. Danach verlagert sich der Handlungsort der Geschichte mit dem Wechsel von Eva ins anatolische Dorf generell auch dorthin. Mit den Aufnahmen in Stadt und Umgebung versucht Refiğ also vor allen Dingen Kayseri als Ort der Vielfalt und der Vermengung zu etablieren. Ein solcher ist seiner Meinung nach besonders geeignet, durch die inhaltlich kulturdifferent angelegten Milieus und Figuren zu führen, die ihm darüber hinaus die implizite Etablierung jener Thesen seines ulusal sinema im Film ermöglichen. Die Architekturräume werden damit zu instrumentellen Repräsentationsressourcen, die sich 170 Adiloğlu spricht in ihrer Untersuchung dabei von »görsel ve dokunsal doku« (»visueller und taktiler Textur«) (2005, S. 126). Allerdings sind die so formulierten thematischen Rahmungen von Refiğs Werken sehr umfassend bestimmt und die in seinen Werken identifizierten Eigenschaften von Architektur, Raum, »visuelle Textur« der generellen medialen Eigenlogik des Filmischen zuzurechnen. 171 Kleinasiatisches Volk, das ca. 2000 v. Chr. lebte. 172 Refiğ (2013, S. 141).
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durch vorausgesetzte Zuweisungen von Stadt, Dorf, ›alter‹ und ›neuer‹ Welt für seine Thesenproduktion im Film mobilisieren lassen. Eindeutige, also historisch fundierte Anspielungen auf die architekturkulturelle Vielfalt lassen sich jedoch allenfalls für architekturhistorisch versierte Zuschauer_innen vernehmen, wie der Film insgesamt nur unter Verständnis der jeweiligen ulusal sinema-Diskurse sich für eine spezifisch filmideologische Lesart zu öffnen vermag. Dieses Vorwissen, das Refiğ für ein Verständnis seines Films einfordert, müsste eigentlich durch den Film ja erst erzeugt werden. Es soll der Osten gegenüber dem Westen aufgewertet erscheinen, doch zugleich wird genau jenes Wissen danach erst vorausgesetzt, ohne dass Refiğs Film oder seine Programmatik bei Zuschauer_innen bekannt wäre. Diese Tautologie zwischen Wissensvoraussetzung und der Wissensproduktion setzt sich in Refiğs Überlegungen zum Film fort und reproduziert damit jene medientheoretische Problematik eines »Inhaltismus«173 für den Film, die schon in Kapitel 5 zur Abgrenzung der methodischen Herangehensweise der vorliegenden Arbeit fungierte. Die Differenz von stadträumlicher und anatolisch dorfräumlicher Sozialität indiziert sich aber auch an dem dargestellten Verhalten der Männer in den jeweiligen städtischen Kontexten Eva gegenüber. So werden die türkischen Männer darin als lüsterne, Eva zum ethnisierten Sexualobjekt degradierende Kerle gezeigt, die sich sowohl im Restaurant mit İsmail (»Versteht unser İsmail das Sex-Gelabere dieses Weibs überhaupt?«, Abb. 61.1), als auch im Hotel (der Hotelier und zwei Freunde spannen durch das Schlüsselloch von Evas Zimmer, während sie sich auszieht, Abb. 61.2-3), als auch auf İsmails Arbeitsstelle (»Er [İsmail] hat es uns immer erzählt, aber wir wollten ihm nicht glauben. Was soll er dort nicht alles angestellt haben«) als solche erweisen. Im Film erscheint die Stadt als von solchen Männern durchsetzt, denen der sexuelle Kontakt zu Eva als ersehntes Verhältnis angelegt erscheint. Demgegenüber werden im Film die sexuellen Dispositionen der Männer im anatolischen Dorf als restriktive gezeigt. Die Stadt als moderner, verruchter, lasterhafter und verführerischer Ort wird als diametral zum anatolischen Dorf angelegter Sozialraum repräsentiert: etwas, das die gesamte Epoche des Yeşilçam-Kinos und die türkische Filmkultur auch darüber hinaus durchzieht – und auch schon in Scognamillos Beschreibung des Genres des Dorffilms artikuliert wurde (▶ Kap. 6.4.1). Die filmraum- und filmarchitektonische Zweiteilung produziert also den von Adiloğlu herausgestellten Stadt-Dorf-Konflikt in Kayseri.
Abbildung 61.1-3 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
173 Vgl. Heidenreich (2015, S. 74).
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Der dörfliche Kontext ist dabei eher durch weibliche und männliche Geschlechtertrennung, also entlang anatolischer kultureller Matrizes bestimmt. Dafür steht ganz besonders folgendes Ereignis im Film: Nach einer Schlägerei zwischen Mustafa und İsmail vor der Fabrik, die dadurch ausgelöst wird, dass Ersterer die deutsche Frau ins Dorf mitgenommen hat, wird Mustafa schließlich bei seiner Rückkehr ins Dorf Eva gegenüber handgreiflich. Er erfährt, dass diese mit dem Dorflehrer die christlichen Katakomben besucht hat. Vermutlich aus Eifersucht ohrfeigt Mustafa sie heftig für das im Ehrenkodex-Kontext ungebührliche Verhalten. Ihr solches Verhalten gibt sich dadurch, dass sie mit der Führung mit dem Lehrer durch die Katakomben – auch wenn es unbeabsichtigt war – eine für die anatolische, vom Ehrenkodex geprägte Kultur enorm wichtige Regel missachtet: dass nämlich der als begehrensmäßig gefährlich vorgestellte zwischengeschlechtliche Kontakt als Zweier-Beziehung (Mann und Frau alleine) nicht auf eine solche Art und Weise stattfinden darf, dass sich Annahmen nach einer möglichen sexuellen Beziehung einstellen können.174 Was im Stadtkontext noch unproblematisch bleibt, wird im Dorfkontext zu diskreditierender, sanktionierender Handlung: Der Film zeigt an einer Stelle, wie der Dorf-Imam und zwei Männer Eva verurteilen, als sie ihr beim Spaziergang mit dem Lehrer begegnen. Diese repräsentationslogische Dichotomie der beiden Kulturräume vermengt die Stadt mit Vorstellungen von Modernität und produziert eine Differenz zum Dorf. Was Refiğ in seinen Interviews oder anderen konkreten Diskursen nicht artikuliert, aber seinem ulusal sinema also zuläuft, ist die Konnotierung der Stadt als moralisch verfallener, moderner(er) Ort, der dem mit Moralität und Traditionalität konnotierten anatolischen Dorf gegenübersteht. Mit diesem Repräsentationsgedanken ist es nicht getan: Der Film weist über die Intentionalität und die ihn rahmende Filmprogrammatik insoweit hinaus, wie sich seine ästhetische und diskursive Materialität als unversiegliche Sinnquelle gibt. Repräsentationsmedien des Ulusal Sinema II: Dinge und Kleidung Nicht nur die Architekturräume des Films fungieren für Refiğ dabei repräsentativ und in solcher Funktion auch thesenförderlich für seine Idee des ulusal sinema. Auch Dinge und Kleidungen sind auf-grund ihrer soziosymbolischen Funktionen auf Refiğs Konzept hin ausgerichtet. Am Beispiel des Protagonisten Zafer, Evas Sohn, lässt sich dies gut nachverfolgen. Zafer, etwa sechs Jahre alt, besitzt eine Spielzeugrakete und ist stets mit einem Fedora-Hut und einem Anzug gekleidet. Seine Kleidung weist ihn als typischen Gastarbeiter aus beziehungsweise stellt ihn durch seinen Kleidungsstil so dar, wie Remigranten der ersten und zweiten Generation in dieser Zeit imaginiert werden. Damit zeigen 174 Diese Konstellation ist ein double-bind, denn die Zuweisung der Missachtung des Ehrenkodex hängt maßgeblich von demjenigen ab, der sie als solche interpretiert. Da der Sex ja im Geheimen stattfinden muss, der den Ehrenkodex verletzt, kann auch nicht mit einfachen Mitteln abgesprochen werden, dass der Sex stattgefunden hat. In unzähligen Dorffilmen wird diese Prekarität von der Unschuldsbeteuerung narrativ eingebunden, so am dramatischsten sicherlich in Süreyya Durus Ehrenmord-Dorffilm Bedrana (Kapitel 6.4.1), in dem die Ehefrau Bedrana des Dorfhirten von diesem in den Ehrenmord gedrängt wird, obwohl der Vergewaltigungsversuch ihres Peinigers erfolglos blieb. Da dieser sie aber einen entfernten Ort entführt, kann Bedrana auch nicht beweisen, dass die Vergewaltigung nicht stattgefunden hat. Ihre Ehre ist damit in jedem Fall besudelt.
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sich hier im Film schon, jedoch weniger auffällig, die visuellen Marker des »Deutschländers« an, die wenige Jahre später noch in einigen anderen Filmen reproduziert werden. Insbesondere das Raketenspielzeug von Zafer das er in der Schule unter großer Aufmerksamkeit seiner Mitschüler_innen präsentiert kann symbolisch gedeutet werden. Es lässt sich als ein Symbol des westlichen Fortschritts lesen.175 Später tauscht er es gegen einen Esel ein. Dieser ist das Transporttier der Anatolier schlechthin. Die Geste des Tauschs kann sich dabei zugleich als Verabschiedung und Ablösung des technischfortgeschrittenen Westens durch das Anatolisch-Lebendige verstehen lassen. Die westlich fortgeschrittene Technologie und der darin symbolisch enthaltene Materialismus176 weicht der traditionell-türkischen Schlichtheit. Im Zuge der den Sohn heimsuchenden Transformation weicht dabei auch seine vormals »westliche« Kleidung regionaler anatolischer Kleidung: ein Vorgang, der sich insbesondere an dem Wechsel des FedoraHuts gegen die külah [Spitzhut] (Abb. 62.1-2) sichtbar macht. Auch Eva wird ihren Minirock gegen das Kopftuch (tülbent) und die Kleidung (basma) eintauschen.
Abbildung 62.1-2 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Repräsentationsmedien des Ulusal Sinema III: Textzitate Als dritte Form von Repräsentationsmedien können Textzitate gelten. Die eingeblendeten Zitate am Filmanfang enthalten Refiğ zufolge zudem Verweise und Implikationen, die den Kerngedanken des ulusal sinema repräsentieren und hier auch die West-OstDichotomie vernehmbar halten. Dazu gehört die Repräsentation des Anatoliers als wesensguten Menschen, hier allen voran der Sohn des ağa, Mustafa. Seine Gutmütigkeit besteht darin, dass er Eva aus dem Hotel in sein eigenes Heim im Dorf führt und sie dort unterbringt – zumal Eva in ihrer Unterbringung vom Hotelier und dessen Freunden belästigt und bedrängt wird. Refiğs Entschluss zur Charakterisierung des im anatolischen Dorf lebenden Mustafa als hilfsbereiten Mann gründet für ihn auf der sichtbar zu machenden Differenz zwischen wesensgutem Anatolier und moralisch verfallenem Westler, zur metafilmischen Produktion einer dichotomischen, okzidentalisierenden Absetzungsgeste: 175 Vgl. Yıldırım (2015). 176 Vgl. Yıldırım (2015, S. 223).
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Während die türkischen Arbeiter in den europäischen Ländern bei ihrer Suche nach Arbeit an den Grenzen niedergeschossen wurden, habe ich mich bemüht, den Film ›Bir Türke Gönül Verdim‹ zu machen, um gegen den bourgeoisen Humanisten, der seinen Wohlstand nicht teilen will, die Menschenfreundlichkeit des türkischen Dörflers zu zeigen, der selbst in seiner Not noch Teilhaber akzeptiert. Die Worte Mevlânâs als Entnahme aus seinem Mesnevî177 ›Aus jenem Dorf ist eine ungläubige Frau zusammen mit ihrem Esel rennend zu Mustafa (Aleyhisselam) gekommen, um ihn zu testen, in ihren Armen ein zwei Monate altes Kind dabei. Das Kind hat dem Propheten gesagt ›Gott hat dich gegrüßt. O du Gesandter, eben zu dir sind wir gekommen‹; Yunus Emres Worte ›Die Tür der Erreichenden ist die Tür der Güte – Die, die mit Ehrlichkeit gekommen sind, sollten nicht mit einem Mangel gewendet werden‹ – Diese beiden Aussprüche sollten zeigen, dass diese Menschenfreundlichkeit nicht erst 1923178 begonnen hatte, sondern über eine siebenhundert Jahre zurückreichende Tradition verfügt. Türk işçilerinin zengin Avrupa ülkelerinde kendilerine iş ararken sınır kapılarında kurşunlandığı sıralarda, ›Bir Türke Gönül Verdim‹ filmini, refahını paylaşmak istemeyen batılı burjuva hümanistine karşılık, sefaletine bile ortak kabul eden Türk köylüsünün insanseverliğini göstermek için yapmaya çabaladım. Filmin başına koyduğum Mevlânâ’nın Mesnevî’sinden alınma ›O köyden bir kâfir karısı Mustafa aleyhisselâmı sınamak için koşa koşa, eşeğiyle beraber yanına geldi, kucağında da iki aylık bir çocuk vardı. Çocuk, Peygamber’e; ›Tanrı sana selam söyledi, ya Resulallah, sana geldik işte‹ dedi‹ sözleriyle; Yunus Emre’nin ›Erenler kapısı, mürvet kapısı – Sıdk ile gelenler mahrum dönülmez’ sözleri, bu insanseverliğin 1923'te başlamadığını, yedi yüz yıl möncesine kadar uzanan bir geleneği olduğunu belirtmek amacındaydı.179 Mit seiner Konstruktion der Grenzpolitik Deutschlands als tödlich für unerwünschte Arbeitsmigrant_innen zielt Refiğ darauf ab, die westlich-bourgeoise humanistische Kultur als bigott herauszustellen. Die Bigotterie ersieht er darin, dass bei ihrer vermeintlichen Zivilisiertheit, die sich hinter dem Humanismus verberge, ein inhumaner Solidaritätsmangel enthalten sei, sobald ihre Mitglieder ihren Wohlstand als gefährdet betrachteten. Mit Humanismus im Sinne von »an Renaissance orientierter westlicher Kultur und Zivilisation« und der Nennung von 1923 als Gründungsjahr der türkischen Republik spielt Refiğ unmissverständlich auf die Kemalisten an, die den Humanismus idealisierten und als Leitidee für das kulturelle wie gesellschaftliche Leben in der Türkei formulierten.180 Dabei entstammt Refiğ selbst kemalistischen familiären Zusammenhängen, die er im Zuge seiner Sozialisation seiner filmpublizistischen Tätigkeiten Ende 1950er Jahre zunächst gegen europhile, dann marxistische Favorisierungen und dann eben gegen jene nationalen (türkischen) Kinematographie-Ideen eintauscht. Da er die meisten Filmkritiker_innen als Europhile versteht, gilt der Wink in der Formulierung 177 Dichtgattung aus Doppelversen, die erzählerischen Charakter trägt. Mevlânâs jener Gattung zuzurechnendes Werk wird auch generell als Mesnevî bezeichnet. 178 Jahr der türkischen Republiksgründung. 179 Refiğ (2013, S. 143). 180 Yıldırım sieht auch die linken, sich als marxistisch verstehenden, europhilen, Yeşilçam-feindlichen Filmkritiker_innen des Sinematek Vereins samt ihrer, ans Cahiers du cinéma angelehten Zeitschrift »Yeni Sinema« (»Neues Kino«), als Zielgruppe von Refiğs Kritik am Westen (2015, S. 217f.).
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ganz besonders ihnen, denn die Etablierung des türkischen Kinos als internationales, westliches Kino, das auf die kulturellen Werte des Humanismus zurückgreifen solle, war, wie schon an anderer Stelle artikuliert, ihr oft erklärtes Ziel. Demgegenüber konstruiert und idealisiert er die anatolische Kultur als Referenzpunkt auch filmischen Schaffens und versucht mit zwei historisch weit zurückliegenden Zitaten zweier sufistischer Gelehrter die Philanthropie als Wesensessenz anatolischer Kultur offenzulegen. Dies lässt sich auch als Widerstandspraxis gegen den Kemalismus lesen, der das Osmanische, Dörfliche und so auch oft das Anatolische abwertete und mit der Abschaffung islamisch-spiritualistischer Kultur des Sufismus/Mystizismus (▶ Kap. 3) sich auch gegen kulturell-ästhetische Formen des Islams einsetzte. So gesehen spielt er einen nur scheinbar toleranten und sozialen Humanismus181 gegen eine essentiell philanthropische, anatolisch-islamische Kultur aus. Die im Zitat artikulierte Lesart Refiğs nach der Funktionsweise von Bir Türke Gönül Verdim zeigt in aller Deutlichkeit seine Konzeption des ulusal sinemas auf: Das ulusal sinema ist ein solches Kino, das die Qualitäten des Anatolisch-Türkischen vor eine Form kultureller Hinwendung an den Westen stellt und vor allen Dingen auch keinen Klassismus kennt: Der ağa, der in den meisten anderen türkischen Dorffilmen als tyrannischer Dorfherrscher repräsentiert wird, ist hier ein gemeindeorientierter, durchaus ärmlicher Mann, der um den Bau von Wasserleitungen im Sinne von Gemeindeförderung bemüht ist. Mit dieser anti-klassistischen Repräsentation des Feudalherrn rekurriert Refiğ auf die von seinem intellektuellen Vorbild Kemal Tahir proklamierte These von der besitz-wirtschaftlichen Dichotomie: zwischen der auf dem Timar-System basierenden Lehenswirtschaft des osmanischen Reichs, die nur Staatsbesitz kannte (arzı-mîri), und dem westlichen System des Privateigentums, das einen Klassismus produziere. Der Unterschied in der Entwicklung in eigentums-wirtschaftlicher Hinsicht habe laut Refiğ – der in dieser Argumentation Tahirs sozialhistorischen Analysen folgt – generell zu unterschiedlichen historischen, soziokulturellen Entwicklungen zwischen asiatischen und westlichen Bevölkerungen geführt.182 Das ulusal sinema unterscheide sich also auch in dieser anti-klassistischen Repräsentation von Klassenverhältnissen, hier für ağas, von anderen Kinematographien oder solchen, die eine pro-westliche Filmkunst für die Türkei proklamierten. Repräsentationsmedien des Ulusal Sinema IV: Figuren Zentral für die Konzeption von Bir Türke Gönül Verdim als ulusal sinema bleiben in Refiğs Sicht auch die Figuren.183 Für die West-Ost-Dichotomie-Repräsentation hierbei zentral sind der verwestlichte, moralisch verfallene, egozentrische Remigrant İsmail, der als Produkt einer vermeintlich nicht auf den türkischen Kontext übertragbaren individualistischen westlichen Kultur und Lebensweise daherkommt. Mustafa, als der 181 Refiğ und Türk (2001, S. 265f.). 182 Yıldırım (2015, S. 218). 183 Figuren sind komplexe, je spezifisch emergierende Entitäten im Film, vgl. Eder (2008), Lehmann (2017a, S. 255-306). Im Folgenden werde ich zur Entfaltung des Argument einer heuristischen Bestimmung von Figuren als im Film ›repräsentierte Menschen‹ nachgehen.
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Andere, repräsentiert den in Opposition dazu stehenden selbstlosen, hilfsbereiten anatolischen Prämigranten. Damit soll die Konstruktion des Anatolischen als philanthropisch also nicht nur an den Zitaten, sondern der Repräsentation der Figuren vollzogen werden. Für die Figur des Mustafa ist das Wohlergehen des Dorfes und weniger seine Individualität und sein Drang nach Selbstverwirklichung relevant, der eher westliche Kulturen auszeichne. Mustafa verkörpere in seiner Selbstlosigkeit jene Kerngedanken, die sich auch im tasavvuff (auch »Sufismus«, eine mystisch-ästhetische Praxis und Konzeption des Islam) wiederfinden ließen. Als anatolischer junger Mann, der anatolische Werte wie Gastfreundlichkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft repräsentiere, stehe er dem im Westen verdorbenen antagonistischen, egozentrischen Charakter des Remigranten diametral gegenüber. Während der eine eine sexuelle Beziehung mit seiner Nichte unterhält, hält sich Mustafa gar vor Eva, die von den anderen Männern der städtischen Gesellschaft als sexuelles Begehrensobjekt verhandelt wird, zurück. Er wird als moralisch integrer, mit einem sozialen, humanen Gewissen angelegter Mann konstruiert, der gar seinem Vater bei der Finanzsicherung zum Bau von Wasserleitungen, also gemeinwohlorientiert unterstützt. Für den Westen will auf der Figurenebene Refiğ demgegenüber den Remigranten İsmail als die westliche Ideologie repräsentierende Figur verstanden wissen. Die Konstruktion eines »westlich verdorbenen« Remigranten: İsmail Acar Im Folgenden wird die Remigrantenfigur İsmail Acar dahingehend untersucht, wie seine Konstruktion zur Repräsentierung von Refiğs ulusal sinema-Idee auch aus dessen eigener Sicht im Stande ist. Dabei wird die Figur auch mit anderen bis hierhin untersuchten Emigrationsfiguren verglichen und insbesondere die Konstruktion statischer und unwandelbarer Charaktere als Differenz zum millî sinema von Yücel Çakmaklı vermerkt. Obwohl Refiğ die Figur des İsmail als Emigranten konstelliert, der über vier Jahre in Deutschland tätig war, ist sie keinem visual othering überantwortet. Generell wird die Figur des İsmail Acar als Vorarbeiter mit gehobenerem Status innerhalb einer staatlichen Fabrikhalle gezeigt, der sich mit der Errichtung eines eigenen Ladens weiteren sozialen Aufstieg erhofft. Das Geld dafür hat er durch den Verkauf seines aus Deutschland gekauften Mercedes 220 beschaffen können. Ihm geht es in seinem Leben also um eine finanzielle Besserstellung und wirtschaftliche Unabhängigkeit, vielleicht auch sozialen Status. Als Vorarbeiter, der in der Fabrikhalle zudem nie bei der Arbeit, sondern allenfalls in Gesprächen gezeigt wird, scheint eine mangelnde Solidarität mit den Arbeiter_innen nahegelegt zu sein, denn er verrichtet selbst keine körperlichen Tätigkeiten. Für einen ›Deutschländer‹ mag ein solcher Aufstieg als Vorarbeiter jedoch zugleich als Abstieg zu verstehen sein, ganz besonders schon in den 1960ern, da die endgültige Remigration, die nicht in eine Selbständigkeit führt, gesellschaftlich oft noch als Versagen gewertet werden konnte. Für Refiğ bleibt im Hinblick auf das wirtschaftliche Verhältnis zwischen İsmail und staatlicher Fabrik, in der er arbeitet, noch eine Unbestimmtheit zurück: Ob İsmail in seiner Untätigkeit den Staat oder der Staat in seiner Niedrigzah-
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lung den Arbeiter ausbeute, bleibe ungeklärt.184 Auf jeden Fall zeigt sich İsmails mangelndes solidarisches oder soziales Bewusstsein und sein Desinteresse an dem Wohl anderer in bestimmten Andeutungen im Film. Ihre offensichtlichste Ausprägung findet sie in der Verschmähung und Täuschung Evas sowie in der Verweigerung seines Sohnes Zafers. Ihre dezente, aber zugleich ambivalent bleibende Form zeigt sich in der kurzen Einstellung, in der İsmail auf die Anmahnung von einem seiner Arbeitskollegen zur Teilnahme an der Gewerkschaftsversammlung, nur abwinkend reagiert. İsmail entgegnet, dass er »bei seinem Zustand keine Zeit für Gelabere« habe.185 Zum mangelnden sozialen (Verantwortungs-)Bewusstsein und seiner Gier nach sozioökonomischem Aufstieg als charakterliche Defizite im Hinblick auf ein gesellschaftlich verantwortungsvolles Handeln treten Refiğ zu Folge sexuelle moralische Defizite hinzu. Generell ist İsmail eine Figur, die sich besonders von ihren sexuellen Bedürfnissen leiten lässt, eine Figur, um es mit der Analyse Refiğs selbst zu formulieren, deren »Über-Ich«-Instanz, als Kontrollinstanz der Triebe verkümmert ist, besonders auch mit Blick auf seinen Aufenthalt in Deutschland186 . Im Film erfahren wir zum Beispiel, wie seine Arbeitskollegen darüber sprechen, dass sich İsmail in Deutschland vergnügt habe, deren offensichtlichster Beweis eben Eva und ihr Sohn Zafer seien. Diese über die Randfiguren artikulierte Einschätzung seiner sexuellen Aktivität im Ausland İsmails erweitert sich im Film konkret um den Ehebruch durch eine heimliche sexuelle Beziehung zu seiner (erwachsenen) Nichte, die neben seiner Frau und Tochter bei ihm untergebracht ist. Dies ist ein Verhalten, das die Ehefrau schließlich entdeckt, aber unthematisiert lässt und verschweigt (Abb. 63.1-2). Refiğ selbst evaluiert İsmails sexuelle Handlungen als »Wahrung seiner HaremsOrdnung«187 . Es ist eine patriarchalisch-sexuelle Ordnung, die am Ende mit dem Durchbrennen der Nichte mit einem anderen Mann zerbricht. Die Geschichte lässt dabei offen, inwiefern İsmail durch die vielen Verluste zur fatalen Entscheidung nach dem Mordversuch an Eva bewegt wird. Gemeint sind, die vielfältigen Verluste, die ihn am Ende des Films heimsuchen. Zum Verlust der Nichte als Sexualpartnerin, tritt der der wirtschaftliche Verlust, verursacht durch den Unterhalt an Zafer auf. Daraus folgt, dass die Errichtung seines eigenen Ladens finanziell gefährdet ist. Hinzu kommt auch noch der Verlust der deutschen Freundin an Mustafa. Als İsmail vor dem Standesamt die Schüsse auf Eva abgibt, sagt er zu Mustafa: »Ich habe dir gesagt, dass ich sie dir nicht als Geliebte überlasse.« Diese Aussage bindet İsmails Tat an das Motiv von Eifersucht zurück, doch reicht alleine nicht hin, die anderen Umstände (Verlust der Nichte als Sexualobjekt, möglicher Verlust des Ladens) unberücksichtigt zu lassen, da sie lediglich eine introspektive Sicht auf sein eigenes Verhalten zulassen. 184 Refiğ (2013, S. 142). 185 Diese Charakterisierung der Figur bleibt ambivalent, denn: Wenn mit der Szene zur Einladung zur Gewerkschaftsversammlung die Indikation eines bei ihm fehlenden Klassenbewusstseins avisiert ist, schwächt der Beisatz, dass er dafür in seiner Situation keine Zeit habe, jene Indikation, weil er da situationsabhängig und nicht gemäß einer Wertehaltung gewerkschaftlicher Arbeit gegenüber reagiert haben könnte. 186 Refiğ und Türk (2001, S. 266f.). 187 Refiğ (2013, S. 142).
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Abbildung 63.1-2 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Dahingehend, dass İsmail als Emigrant dargestellt wird, ist interessant, dass er all jene Verhaltensweisen an den Tag legt, die als Befürchtungen der home group über die Emigrant_innen in den anderen Filmen formuliert wurden. Zu denken ist hier an den Emigranten Mehmet in Kara Toprak, dessen Eltern befürchten, dass ihr Sohn sich durch die Emigration so verändern hat, dass er den »blonden deutschen Frauen« verfallen ist. Als Figur ist İsmail bereits diesen Verführungen des fremden Deutschland erlegen und hat sich auf eine deutsche, blonde Frau eingelassen, mit der er gar einen Sohn zeugte. Als ich-fixierte Figur ist er nicht nur an der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse, sondern auch an seinem eigenen sozio-ökonomischen Aufstieg interessiert. Er verweigert sich seiner gewerkschaftlichen, gemeinde-sozialen und zuletzt auch familiären Verantwortung. Dies wird im Film zum Beispiel dann indiziert, wenn er seine lernende Tochter früher ins Bett schickt, damit er schneller Sex mit seiner Nichte haben kann. Da wir İsmails Zustand vor der Emigration nicht kennen, lassen sich Annahmen über eine Verwestlichung im Ausland, wie sie Osman in Çakmaklıs Oğlum Osman beispielsweise durchlebt hat (▶ Kap. 6.5), filminhaltlich nicht eindeutig erschließen. Nur durch Refiğ, der die Vermutung eines moralischen Verfalls des Emigranten in einem Interview expliziert, kann dies angenommen werden. Refiğ sagt zweierlei: Die Figur des İsmails zeige als Person mit einer überaus gering ausgeprägten »Über-Ich«-Instanz, die eigentlich als Befolgungsinstanz sozialer Regeln und Steuerungsinstanz der Triebe zu denken sei, eine solche Subjektivität, wie sie Menschen auszeichnet, »die durch die westliche Erziehung gegangen sind«188 . İsmail habe zudem eine Lebensweise erwählt, in der Individualität und die Subjekt-Zentralität vor dem Wohl der sozialen Gemeinschaft wertehierarchisch angesiedelt sei: Das, was dort gezeigt werden will, ist, wie opportunistisch und egozentrisch ein türkisches Individuum werden kann, das sich von seinen eigenen Bräuchen, den Wertenormen seines eigenen Volkes entfernt hat und über keine Gewissenskräfte mehr verfügt … also das, was er lernt, als er in den Westen geht, und die Lehren, mit denen er von dort wieder zurückkehrt, erscheinen in Form individuellen Opportunismus. 188 Refiğ und Türk (2001, S. 267).
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Orada gösterilmek istenen, kendi törelerinden, kendi toplumunun değer yargılarından uzaklaştığında, vicdani bir gücü kalmadığında bir Türk ferdinin ne şekilde çıkarcı, bencil bir hale geleceği. İşte bir çeşit batı terbiyesinden geçmiş … yani batıya gittiğinde öğrendiği, öğrenip de döndüğü şey bireysel çıkarcılık şeklinde tecelli ediyor.189 Das Zitat und die daran anknüpfende Vorstellung vom Emigranten als Person, die in ihrer Zeit im Westen eine Aussetzung ihrer Über-Ich-Instanzkräfte erfahren habe, offenbaren okzidentalisierende Tendenzen. Der Westen ist für Refiğ materialistisch geprägt und seine moralische »Hülle« verdeckt den Verlust immaterieller Werte – eine Argumentation, der auch Çakmaklı in seiner millî sinema Konzeption folgt, die wiederum auf das Denken islamischer, türkischer Intellektueller wie Kısakürek zurückgeht.190 Für eine solche Lesart der Emigrantenfigur in Bir Türke Gönül Verdim fehlen Zuschauer_innen allerdings ausgerechnet jene Szenen von seiner Emigration oder noch eher seiner Rückkehr beziehungsweise also solche Szenen, die im vorangehenden Kapitel als Abwesenheitssequenzen untersucht wurden. Das Fehlen auch visueller Marker oder das Nicht-Aufgreifen soziokultureller Narrative zur Emigration im Film ermöglichen es nicht, die Anderswerdung des Emigranten im Ausland nachvollziehen zu können. Es fehlt das Zeigen oder Benennen der Ereignisse, die zur Verfremdung des Emigranten in der westlichen Fremde geführt hätten. Da die Zuschauer_innen İsmails Leben aus der Zeit vor der Emigration also nicht kennen, scheint die repräsentative Funktion an der Figur İsmails für einen schlechten Westen, die sich Refiğ erhofft, kaum so eindeutig erfüllt, wie er sie in seinen Lesarten als realisiert annimmt. Die Figur des Mustafa, die vor der Begegnung mit Eva plant, nach Deutschland zu emigrieren und der damit eben jenen Verfremdungsprozess nicht durchgemacht hat, sei dann als Vorstufe eines solchen Emigranten wie İsmail angelegt. Im Film sehen wir diesen Prämigranten-Status Mustafas in einer Szene, in der er in der Teestube in einem Wörterbuch lernt und einige Teestubenbesucher ihn nach dem Stand seiner Emigration befragen. Refiğ dazu: Demgegenüber macht die von Ahmet Mekin verkörperte Type [die Figur »Mustafa«, Ö.A.], die noch nicht in den Westen gegangen, noch nicht von ihrem traditionellen Ort getrennt ist, sichtbar, wie die gesellschaftlichen Werte in bestimmtem Ausmaß sich selbst bewahren. Buna karşılık henüz batıya gitmemiş olan, geleneksel mekânından kopmamış olan Ahmet Mekin’in canlandırdığı tipte de işte o toplumsal değerlerin bir ölçüde varlığını nasıl muhafaza ettiği gösterilme durumunda.191 Refiğ zu Folge realisieren beide Figuren damit die binären Wertekonflikte und Wertedichotomien auf der filmischen Ebene: humaner Anatolier vs. verwestlichter und damit inhuman gewordener Remigrant. In so einer Funktion wiederum würde, ausgehend von Refiğs Überlegungen, die dichotomische Anlage der Figuren die Kernthese des ulusal sinema repräsentieren: Nicht nur sei der zivilisatorische Westen in seiner auf Individualität des Subjekts zielenden Anlage pseudohuman, sondern das Türkische bedürfe 189 Refiğ und Türk (2001, S. 267). 190 Vgl. Refiğ und Türk (2001, S. 268f.). 191 Refiğ und Türk (2001, S. 267).
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in seiner historischen Vielschichtigkeit (Sufismus et cetera) keiner Zivilisierung durch ein westliches Vorbild. Weil das Türkische also an sich schon kulturell spezifisch und für die Bevölkerung in kultureller wie künstlerischer Hinsicht Bezugspunkt und keiner westlichen Orientierung zur Erzeugung einer türkischen Renaissance bedürftig sei192 , hätten sich die Filme auch auf das Türkische beziehungsweise auf die umfassenden kultur- wie gesellschaftshistorischen ›Wirklichkeiten‹ statt auf den Westen zu beziehen. İsmail als Remigrant und Mustafa als Prämigrant (er steht zu Beginn des Films kurz vor seiner Emigration) sind als einander widersprüchliche Figuren konzipiert. Sie gehören zwei unterschiedlichen zeitlichen Migrationszuständen und den aus ihnen folgenden charakterlichen Konfigurationen an: Mustafa stellt, zumindest ist es so in Refiğs Sicht vorgestellt, eine Vorstufe des moralisch verfallenen, verwestlichen Emigranten dar, in der der Migrant in sich noch die anatolischen Werte konserviert hat. İsmail stellt den verwestlichten Remigranten dar, der vom Westen charakterlich betrachtet, nur das Schlechte mitgenommen hat. Damit stellen beide Figuren solche Migrationszustände von Emigranten dar, die in den späteren Emigrationsfilmen der Filme der 1970er kaum mehr sichtbar werden: ein Migrant, der vor längerer Zeit remigrierte, und einer, der kurz vor der Emigration steht193 . Man kann diese Unsichtbarkeit im Film derjenigen Migrationszustände der Figuren, die gerade die Emigrationsfilme der Folgezeit charakterisieren (es fehlt so die Figur des ›frischen‹ Heimkehrers) aber auch produktiv wenden: Gerade weil Refiğ nicht am Diskurs von Tradition und Moderne insofern interessiert ist, als dass das Letztere das Erstere bedroht, muss sich kein Prozess der charakterlichen Reversion eines fremd gewordenen Emigranten oder die Tilgung einer Identitätskrise des Emigranten erfüllen. Vielmehr spaltet sich in Bir Türke Gönül Verdim die Dichotomie vom Westen und Anatolischem in zwei antagonistische, wesensunterschiedliche Figuren auf, die keinerlei charakterliche Wandlung mehr durchmachen, wie sie zum Beispiel in Oğlum Osman, Memleketim oder anderen Filmen erzählt wird. Während Oğlum Osman oder Memleketim den Konflikt im Inneren des Subjekts verorten (die Emigrant_innen sind verwestlicht, europhil und praktizieren keinen islamischen Glauben mehr), findet der Konflikt in Bir Türke Gönül Verdim auf der interpersonellen, äußeren Ebene statt. Die Repräsentationslogik von Oğlum Osman operiert mit einem Konflikt, der vielmehr als zivilisatorischer Kontrollkonflikt einer je schon prekären Lebensphase des Heranwachsens/der Pubertät zu verstehen ist (Chaos des Gedanken- und Triebhaushalts). Bir Türke Gönül Verdim setzt die Figuren – bis auf Eva – als erwachsene und damit charakterlich gesetzte und unveränderliche Charaktere an, die einen unwandelbaren Status und damit eine als statisch zu bezeichnende Repräsentationsfunktion einnehmen. Diese dichotomische Figurenkonzeption, der Refiğ Fähigkeit zur Repräsentation eben jener okzidentalisierenden Dichotomie und 192 Konuk (2010, S. 54). 193 Die Figur des potentiellen oder kurz vor Ausreise Stehenden taucht im türkischen Emigrationsfilm des High-Yeşilçam noch einige Male auf, zum Beispiel in Banker Bilo (»Der Banker Bilo«) (1981), Baba (»Vater«) (1971) und Canım Kardeşim (»Mein geliebter Bruder«) (1973). Siehe Epilog.
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damit die Mobilisation seiner Thesen zuspricht, ist mit der Figur der Eva nochmal in eine komplexere Konstellation überführt. Die Konstruktion einer Assimilation einer westlichen Emigrantin: Eva Bender In diesem Kapitel wird die Emigrantenfigur Eva dahingehend untersucht, inwiefern ihre Konstruktion im Film zur Repräsentation von Refiğs ulusal sinema beiträgt. Mit einer repräsentationskritischen Verortung wird die mangelnde filmdiskursive Thematisierung der Figur durch Refiğ selbst sichtbar zu machen versucht und mit der Analyse spezifischer filmischer Konstruktionsverfahren das defizitäre Repräsentationsverständnis Refiğs aufgezeigt. In den bislang besprochenen Filmen waren die Emigranten Heimkehrer, deren Transformation im Westen teils in den Abwesenheitssequenzen als auch darüber hinaus (sprachlich) durch die home group verhandelt wurde. In Bir Türke Gönül Verdim ist die Figuration der Heimkehr verkompliziert. Der Emigrant wird nämlich als schon Heimgekehrter gezeigt, der von einer transnationalen Verkomplizierung seiner interpersonellen Verhältnisse betroffen ist: der deutschen, schwangeren Freundin Eva, die ihn nun mit dem gemeinsamen Sohn Zafer aufsucht. In Bir Türke Gönül Verdim haben wir mit der Erzählung von Eva zudem eine weitere Migrationsfigur: die deutsche Emigrantin. Gezeigt wird Eva als Frau, die in der Emigrationszeit eines Gastarbeiters von ihm schwanger zurückgelassen wird und nun in der Emigration nach Kayseri auf eine glückliche Familienzusammenführung mit dem Vater ihres Kindes hofft. Eine solche Zusammenführung bleibt jedoch aus, da İsmail ein auch schon vor der Emigration bestehendes Familienleben bevorzugt. Ein Leben mit Eva kann er sich nicht vorstellen, genauso wenig wie die Vaterschaft für den Jungen akzeptieren, da es »keine Garantie für eine solche Angelegenheit gibt«. Diese Aussage spielt darauf an, dass er für deutsche Frauen wie Eva annimmt, dass sie – aufgrund der Irrelevanz des Ehrkonzepts in sexueller Hinsicht – außerehelichen Sex mit mehreren Partnern haben, sodass seine Vaterschaft gerade deswegen nicht als garantiert anzunehmen sei. Die Äußerung lässt sich aber auch als Abwertung Evas vor dem Hotelier lesen, vor dem er den Satz formuliert. Mit der Äußerung gibt er sie so von seinem Besitzanspruch für den Hotelier und dessen potentielles Interesse an Eva frei. Denn entgegen seines Versprechens, später wiederzukommen, wird İsmail nicht mehr zum Hotel zurückkehren. Erst nachdem seine Nichte, mit der İsmail schläft, die Familie verlässt, und er auch noch Alimente für Sohn Zafer zahlen muss, sodass er damit seine Ladenfinanzierung zu verlieren droht, zeigt er ein Pseudo-Interesse an Eva und Zafer. Mit der Annahme der Vaterschaft für den Jungen hofft er sich von der Zahlung der Alimente zu befreien. Mit der Erzählkonstellation von verschiedenen Emigrantenfiguren – verfremdeter Remigrant, hoffnungsvolle Emigrantin und sich ihr annehmender Prämigrant – gilt im Film der Zustand der natio-kulturellen Deplatzierung, die die Emigration impliziert, lediglich für die Emigrantin Eva. So ist sie es, die sich ihrer neuen Umwelt samt Kultur anpasst. Ihr schon im Vorfeld gütiger Charakter bleibt erhalten, doch nimmt sie sich mit der Übernahme der anatolischen Lebensweise der Gebräuche und Regeln
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eines solchen Lebens an. Dieser Lebenswandel scheint aber nicht freiwillig zu erfolgen, sondern ist durch männliche Gewalt forciert. Zum ersten Mal erfährt Eva in einer Ohrfeige durch İsmail physische Gewalt, als Eva bei ihm zu Hause im Vorgarten mit Zafer auftritt und damit vor der Ehefrau dessen migrantisches Doppelleben in Deutschland offenbart. Das zweite Mal physische Gewalt erfährt sie durch Mustafa als sie mit dem Lehrer Kontakt hat. Die physische Gewalt entlädt sich also immer dann, wenn sie sich ihrer durch die Männer zugewiesenen Rollen und Räume (unbeabsichtigt) verwehrt: zum einen ihrer Rolle als ausländisch-unehrenhaftes, blondes Sexualobjekt, das als sexuelle Episode eines Gastarbeiteraufenthaltes in Deutschland (Raum I) hätte »dort zurückbleiben müssen«; zum anderen als fremde Frau, die als gefährliches Objekt im anatolischen Dorfkontext allenfalls zu Hause im privaten Raum von Mustafas Eltern (Raum II) »hätte bleiben müssen« (Formulierungen von İsmail). Eva wirkt im Film, bis auf das Ende, indem sie sich für das Anatolische über Mustafas Tod hinweg entscheidet, kaum selbstbestimmt, sondern dient als Verfügungsobjekt für beide Männer. Vor allen Dingen offenbart sich das an der Konstruktion zweier Szenen. Die eine Szene ist diejenige des ersten Treffens von Eva und İsmail vor der Fabrik (Abb. 64.1). Darin wird Eva in einer Totalen gezeigt, während im linken Drittel des Bildraums İsmails Körper zu sehen ist. Filmbildrahmen rechts und der Körper İsmails rahmen die Frau und weisen ihr einen im Verhältnis zum männlichen Körper kleinen Raum zu. Eva und Sohn stehen als betrachtetes Objekt in Relation zum groß erscheinenden Körper İsmails in einer sie rahmenden Positionierung da: Die Bäume und die Gebäude im Hintergrund strukturieren dabei die Tiefendimension und ermöglichen die Einschätzbarkeit der großen Entfernung zwischen Gastarbeiter und deutscher Frau mit Sohn. Die räumliche Getrenntheit reproduziert die soziale Getrenntheit der beiden Parteien auf visueller Ebene. Eine andere Einstellung (Abb. 64.2) ähnelt dieser Mise en Scène. Doch nun ist es Mustafa, dessen Körper entsprechend angeschnitten ist. Als Eva erfreut von der Nachricht, dass Mustafa sie ins Dorf mitnimmt, ihren Sohn umarmt, reproduziert sich die schon oben beschriebene Besitzlogik, die sich aus den Größenverhältnissen und der Position der Figuren ergibt. Sie ist in dieser Szene zwar nicht so radikal, doch grundsätzlich bleibt die Logik von Positionierung und Größenverhältnis erhalten. Eva und Sohn sind durch die Einstellung der Kamera als Schulterblick das Blickobjekt Mustafas. Sie freuen sich nicht mit ihm, sondern sie freuen sich quasi für Mustafa und damit vor ihm. Mit Blick auf die Zuschauer_innenblickposition zeigt sich so auch eine Solidarisierung mit der Männerperspektive an. Diese Einstellungslogik von Schulterblick reproduziert sich an vielen Stellen des Films, auch so, dass Eva die Person mit Schulterblick angeschnittene Person ist. Oft lässt sich in den Schulterblick-Einstellungen zwischen Mustafa und Eva eine Gleichheit in den Größenverhältnissen ausmachen. Doch die beiden Einstellungen, die den sozialen Raum Evas an diesen beiden Kernstellen des Films vorgeben (Ablehnung im ersten und Vereinnahmung im zweiten), indizieren im Besonderen das machtlogische Verhältnis der beiden Männer zu der Frau, die mit ihrem Sohn ihr Objekt sozialer Hand-
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lungen wird.194 Diese Untersuchung der ästhetischen Variablen von Positionierung und Größenverhältnis weist über Refiğs Repräsentationsverständnis hinaus, weil es eben die Dimension der Ästhetik der Repräsentation analysiert. Refiğ entgeht in dieser Perspektive die Rückbindungsfähigkeit jener ästhetischen Variablen an sein ulusal sinema, weil er den Film lediglich als konnotierenden Diskurs versteht.
Abbildung 64.1-2 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Selbst wenn Refiğ in seinen Ausführungen Eva als Medium der Realisierung seines ulusal sinemas nicht erörtert, ist auch sie als Figur ein für das ulusal sinema dienliches Medium: Weil Eva das Anatolische über das Westliche stellt, artikuliert dieser Identitätswandel die Aussage, dass das Anatolische durchaus eine lebenswerte(ere) Kultur ist, die der westlichen Kultur in nichts nachsteht. Mit der doppelten Gewalt, die ihr wiederfährt, würde aus einer solchen repräsentationslogischen Lesart, die auch Refiğ in seinen Ansichten nahelegt, der Westen aber auch als vom Anatolischen und einem verwestlichten Anatolischen nicht akzeptierbare Kultur dastehen. Sie und damit der Westen können entweder nur als Ausbeutungsobjekt eines liberalisierten, moralisch durch den Einfluss des Westens (Emigration) verfallenen Anatolischen (bei İsmail) oder als assimiliertes Objekt eines, vom Ehrenkodex konstituierten nicht-verwestlichten Anatolischen (bei Mustafa) bestehen. Aus Refiğs Repräsentationsperspektive gesprochen, könnte das lauten: Der Westen hat in beiden Fällen (verwestlicht oder nicht-verwestlicht) entweder nur einen unterwürfigen oder keinen Platz. In der Darstellung von Evas Wandel zeigt sich außerdem die Parallelität zu Çakmaklıs Film als identitätspolitisch motivierter an. Sowohl Oğlum Osman als auch Bir Türke Gönül Verdim erzählen mit der Veränderung von Migrant_innen (Osman und Eva) vom Prozess einer Turkisierung. Während Erstgenannter einen Reversionprozess, genauer eine Re-Turkisierung beschreibt, erzählt der Letztgenannte die vollkommene Hinwendung einer deutschen Frau an die für sie neue, lebenswerte Kultur. Repräsentationstechnisch geht Oğlum Osman gegen einen Verfall türkischer, insbesondere islamischer Werte in der Gesellschaft vor, indem er die Inkompatibilität europäischer Werte und Lebensweisen für türkisch-muslimische Subjekte behauptet und mit den filmi194 Murat Akser untersucht Bir Türke Gönül Verdim als die filmische Vollendung der »vier Elemente einer nationalen Identität«: die türkische Sprache, der muslimische Glauben, die anatolische Kultur sowie die Überlegenheit der Bevölkerung über das Individuum. Siehe Akser (2001, S. 110).
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schen Mechanismen der découpage und suture identitätsproduzierende Verfahren anlegt. Bir Türke Gönül Verdim ist dahingehend anders bestimmt, als er mit der Repräsentation einer auch explizit gefilmten Konvertierung und Assimilation einer Deutschen und damit Westlichen ins Anatolische eine Aufwertung des Anatolisch-Türkischen herstellt. Zugleich nimmt er aber an der Figur eines charakterlich verfallenen Remigranten zugleich eine Abwertung des Westlichen durch die Identifikation dessen als Quelle jenes Verfalls vor. Wie verhält sich diese repräsentative gegensätzliche Besetzung des Westens durch die Figuren? Und zuvor noch: Wie wird diese Anderswerdung im Film überhaupt konstruiert? Eigenartigerweise ist die Figur der Eva im Hinblick auf eine mögliche Repräsentationsdimension des Westens, des Humanismus et cetera jedoch unbestimmt, insofern ihr weder vom Regisseur in dessen Äußerungen zum Film noch vom Film selbst repräsentationslogische Besonderheiten zugesprochen wären. Bemerkenswert wird dieser Umstand umso mehr dadurch, dass die Schauspielerin Eva Bender eine schwedische Bauchtänzerin, die damalige Ehefrau Refiğs und die Schauspielerin der gleichnamigen Rolle ist. Weshalb entfallen Refiğs Einschätzungen zur Realisierung des ulusal sinema im Film ausgerechnet im Hinblick auf die Figur der Eva? Wenn die Figuren die kulturellen Zusammenhänge signifizieren, in denen sie sozialisiert sind, dann verbliebe der Westen vor allen Dingen aufgrund der Charakterisierung von Eva als naive Person ebenfalls als minder komplexe/naive Kultur zurück. Die Naivität ergibt sich aus den dargestellten Handlungsweisen der Figur, aber unter anderem auch durch ihre Synchronisation mit einer besonders hoch angesetzten Stimmlage der türkischen Schauspielikone Hülya Koçyiğit. Das produziert sie als Person, die zudem mit einer minderen Persönlichkeitsstruktur ausgestattet erscheint. Die Naivität, die damit aufscheint, gibt sich auch mit eben jener Verfehlung der Rolleneinnahme: In beiden Fällen gibt sich ihre Deplatzierung mit einer Fehleinschätzung des sozialen Raums, der ihr durch die beiden Männer zugedacht wird. Sie verfügt insofern über eine Art Raumblindheit für ihre eigene Verortung in den von den Männern für sie angedachten Räumen, deren konstitutive Regeln sie unbeabsichtigt missachtet. Mit der Figur der Eva bekommt die Repräsentation des Westens neben dieser enthaltenen Abwertung jedoch eine ambivalente und aufgespaltete Form: Der Westen ist ja nicht nur durch İsmail repräsentiert, sondern auch durch Eva in ihrer menschenfreundlichen Art, die sich besonders an einer Stelle als schwer einschätzbar gibt: Als Hotelier und Freunde bei Eva vor der Tür stehen und ihr in sexueller Absicht das Angebot machen, mit ihr gemeinsam Musik zu hören und zu essen, schlägt sie das Angebot mit Hinweis darauf aus, dass sie krank sei, und wirft lächelnd die Tür zu (Abb. 65.1-3). Mit dieser smarten, sich schützenden Geste lässt sich also eine Diskrepanz zwischen der in dieser Szene eher als smart zu bezeichnenden Repräsentation der Figur der Eva durch den Regisseur identifizieren und einer sie je spezifisch hervorbringenden Rezeption dieser Figur, die sie als naiv zurücklässt. Ihre Darstellung als Figur mit minderer Persönlichkeitsstruktur, mit Sprachunverfügbarkeit195 , Passivität und jenen 195 Sie spricht bis zur Anderswerdung oft nur in grammatikalisch inkorrekten Sätzen. Dieser Umstand verdankt sich eventuell auch der Überlegung, dass ihre Übernahme der türkischen Sprache als Entwicklungsprozess zu zeigen ist.
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Abbildung 65.1-3 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Unberechenbarkeiten produziert im Verhältnis zur unentscheidbaren in der Rezeption aufscheinenden Gerissenheit eine Ambiguität, die konstitutiv für den gesamten Film ist. Schon diese Ambiguität ist hinreichend dafür annehmen zu können, dass der Film in seinem Sinn stets über die dem Film zugeschriebene Programmatik hinausschießt.
9.2.4.
Kritik an der repräsentationslogischen Umsetzbarkeit des Ulusal Sinema
In diesem Kapitel werden die Vorstellungen Refiğs dahingehend kritisiert, wie der Film seine ulusal sinema zu realisieren vermag. Zugleich werden seine Aussagen aber auch als Versuch des Widerstands gegenüber unterminierenden, pro-westlichen Tendenzen im damaligen historischen Kontext herausgestellt. Außerdem wird ein kurzer resümierender Vergleich zwischen den beiden nationalen Filmprogrammatiken, millî sinema und ulusal sinema, vorgenommen. Generell greift die Zuschreibung von repräsentativen Funktionen an den Film, die die Realisierung des ulusal sinema anzeigen würden, zu kurz und lässt die Hinfälligkeit einer vom Urheber selbst proklamierten Vereinnahmung des Films und seiner Lesarten deutlich werden. Vor allen Dingen, dass sich die Fiktion des Films seinem politischen Programm nicht so fügt, wie es sein Gründer selbst aufrechterhalten wissen will, bleibt als Infragestellung der film-politprogrammatischen Perspektive des Regisseurs zurück. In der Szene, in der Mustafa Eva schlägt, hieße das der Lektürestrategie des Regisseurs folgend daraus abzuleiten, dass der ›Anatolier‹ den Betrug des ›Westens‹ an seinen Werten im affektiven Moment stets bestrafe. Es wird deutlich, wie abstrus ein Repräsentationskonzept wird, das Repräsentationen eines speziellen Falls als Stellvertretung für etwas Allgemeines betrachtet. Bleiben die Regeln nicht dahingehend unbestimmt, festlegen zu können, welche Szenen und filmischen Elemente in welcher Hinsicht als repräsentativ anzunehmen sind? Wenn die kultursignifizierenden Funktionen der filmischen Repräsentationen nur dann als repräsentative anzunehmen sind, sofern sie die Idee des ulusal sinema umsetzen, muss die Kenntnis vom ulusal sinema und die genremäßige Zuschreibung als ulusal sinema-Film ja zuallererst vorausgesetzt werden. Insofern wären ulusal sinema-Filme einer Tautologie überantwortet, in der die Kommunikation als Austausch von Informationen sich in der reinen Selbstbestätigung erschöpft fände. Wenn schon klar ist, dass das Anatolische über dem Westen steht und welche Elemente genau jene Information als solche genau kommunizieren, wird die
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Kommunikation, die zur Etablierung jener Vorstellungen in der ›Wirklichkeit‹ hinarbeitet obsolet. Auch ohne filmtheoretisch weit auszuholen lässt sich also gegen Refiğs Vorstellungen des Films als Träger und Produzent von Diskursen einiges einwenden: zum Beispiel, dass die Lektüre von Bir Türke Gönül Verdim entlang der Repräsentationen polysemisch funktionieren kann und so das Besondere eben nicht für das Allgemeine stehen muss. Auch lässt sich einwenden, dass der Film sich entlang der von ihm genannten Thesen nur mit historischer Kontextualisierung und in Kenntnis der politideologischen Annahmen und filmkulturellen Kontexte, lesen lässt. Die Hinfälligkeit der Verknüpfung von filmischer Repräsentation und produktionsideologischem Diskurs zeigt sich ganz besonders an Refiğs Versuch an, seine Vorstellung von der Inkompatibilität westlicher Kultur und anatolischer Kultur im Film realisiert zu finden. Die Wesensverschiedenheit von Anatolischem und Westlichem zeige sich ja ganz besonders an der Konfrontation von anatolischem Subjekt (İsmail) mit westlichem Umfeld (Deutschland) an. In einem Interviewgespräch mit İbrahim Türk muss Refiğ auf die Unhaltbarkeit und Ambivalenz jener Konstruktion der Emigrantenfigur als westliche und daher moralisch verfallene reagieren. Der Interviewer verweist den Interviewten auf die Universalität der Rolle moralisch fragwürdigen Verhaltens im Menschen hin, die nicht speziell für den Westen zu reservieren sei.196 Den moralischen Verfall begründet Refiğ auf Türks Frage hin mit der Übertragung von Freuds Drei-Instanzen-Modell auf ein vorher türkisch sozialisiertes Subjekt, das wegen des Westens als liberalem kulturellem Lebensumfeld die Aussetzung beziehungsweise Reduktion der Ausprägung des Über-Ichs erfahren würde. Nicht nur, aber besonders aussetzen lässt sich an dieser Vorstellung des Regisseurs, dass der Bestand einer eher liberalen Umwelt, die die potentielle Boshaftigkeit und Egozentrik einer eigentlich wesensgut sozialisierten Figur durch die Aussetzung des Über-Ich gar entfesselte, nicht entlang West-Ost Grenzlinien verläuft. Denn ›liberal‹ und ›restriktiv‹ sind relative Kategorien, die sich erst im Gefüge zwischen Subjekten je spezifisch zu erzeugen vermögen. Filme müssen sich schließlich aufgrund ihrer medialen Eigenlogik als ambigue, filmästhetische Entität repräsentationslogischen Fixierungen auch widersetzen. Generell lassen sich selbst in einer semiotischen Perspektive die Repräsentationsebenen in Bir Türke Gönül Verdim unendlich fortspinnen, lassen sich die Signifikantenschichten ein ums andere übereinanderlegen. In der Reduktion auf eine semiotische Perspektive auf den Film bleiben vor allem Bild- und Rezeptionsprozesse unberücksichtigt, die aber essentiell zu jeder Filmwahrnehmung gehören. Es geraten ja fast immer innere (die der Zuschauer_innen) und äußere Bilder (die dargestellten Bilder) in Widerstreit zueinander – sind Phantasie, Imagination in Filmen und ihren Rezipient_innen nicht minder am Werk. Aber selbst, wenn man Refiğs Annahmen nach einer Realisierung der Ideen des ulusal sinema durch filmische Repräsentationen folgt: Refiğs Gesamtkonzeption des ulusal sinema lässt sich wegen dieser Zuschreibungen und Dichotomien von West und Ost, Türkei und West et cetera als mit Essentialisierungen operierende und ein Feindbild 196 Refiğ und Türk (2001, S. 266)
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aufbauende Konstruktion herausstellen. Der Westen dient darin als Gegenbild und das Türkische als davon verschiedene Wesensessenz. Refiğs Argument, dass ein im Yeşilçam-Kontext produzierter Film diesen per se als halk sineması auszeichne, greift noch am ehesten, da, wie es Savaş Arslan auch als zentrale Eigenschaft des Yeşilçam-Kinos untersucht, der Abgleich zwischen der Bedienung der Bedürfnisse des Publikums und der Herstellung der Filme durch die Produzierenden jene befreienden Phantasmagorien bespielen, die die Produktion einer ›Masse‹ (hier nicht polemisch oder abwertend gemeint) erst ermöglicht. Die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann sieht in genau dieser Funktion der Entstehung der Einbildungskraft der »Masse« im Anschluss an Kracauers Filmtheorie, das ethische und errettende Potential des Kinos, das sich eben nicht nur an künstlerischem Avantgardefilm erzeuge.197 Und sie geht, so wie Refiğ auch, am westlichen Freiheitsprimat der Aufklärung davon aus, dass »[u]nter der Ideologie der Freiheit […] die Wirklichkeit der Individuen in die der ›einsamen Masse‹ über[gehe]«198 ; dass also das türkische Kino als Volkskino keiner westlichen Veredelung bedürfe, wäre mit Refiğ dahingehend geteilte Ansicht. Doch weil Refiğs Ansichten des ulusal sinema mehr auf eine Kritik am Westen und eine Aufwertung von Osten, als an eine Herausarbeitung der produktiven Eigenkräfte des Kinos zielen, verkennt er die »errettende« Dimension des erzählerischen Kinos, relativ unabhängig seiner Repräsentationen. Ihm geht es um die Produktion einer Wesensessenz des Östlichen oder Anatolischen, das er auf der Basis einer Alterität zum Westen errichtet. Er wird blind dafür beziehungsweise möchte blind dafür bleiben, dass ›Gut‹ und ›Böse‹ oder ›moralisch‹ und ›unmoralisch‹, so sie als solche Dichotomien überhaupt sinnvoll zu konzeptualisieren sind, nicht an den Konturen einer hypernationalen Grenze von West und Ost verlaufen. Doch Refiğs Engagement und die von ihm ersehene Notwendigkeit zur filmhistorischen Aufarbeitung der Umstände, in denen er dreht und produziert, sind auch als Versuch zu werten, auf dem Feld einer westlich-kulturellen Hegemonialisierung eine östlich-türkisch-kulturelle Ermächtigung zu produzieren – nämlich eine solche, die sich auf dem Diskursfeld der Filmkritik abspielt und auf die staatlich-ideologische Dimension auswirkt (Zensur). Seine Überlegungen und Ziele stellen den schon mindestens seit dem Kemalismus bestehenden Kampf gegen eine elitäre Schicht in der Türkei dar, die die bevölkerungskulturelle Selbstbehauptung zu unterminieren droht. Insofern sind seine Bestrebungen als Verteidigung einer zwar bevölkerungstechnisch majoritären, aber diskursmächtig minoritären kulturellen ›Wirklichkeit‹ zu verstehen. Sie versucht er gegen jene elitären Strukturen und Schichten zu wahren, die das historisch erwachsene Türkische, dessen Wurzeln für ihn im Islamisch-Osmanischen gründen, für eine Europäisierung verleugnen. Refiğs Bestrebungen gelten also als Aktivitäten, die gegen solche Formen kultureller Imperialisierung vorzugehen versuchen, die eben jene nicht-westlichen kulturellen Ausdrucksformen zu unterminieren drohen. Man sollte damit den politischen Gehalt von Refiğs Auffassungen im Sinne einer enthegemonialisierenden Perspektive auf dem Feld intellektueller Auseinandersetzungen zum Film 197 Schlüpmann (2007). 198 Schlüpmann (2007, S. 27f.).
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nicht herunterspielen, da er gegen eurozentrische Tendenzen in der türkischen Filmkultur zu argumentieren versucht, die schon im Kemalismus das Anatolische gegen den Humanismus herabwerteten. Und dennoch muss berücksichtigt bleiben, dass Refiğs anti-imperialistische ulusal sinema-Idee, die auf Enthegemonialisierung eines europhileurozentrischen kulturellen Imperialismus hinarbeitet, nationalistische Tendenzen argumentiert, die auf gängigen Mechanismen von Essentialismus beruhen, die das Anatolische und Türkische als Wesensessenz voraussetzen. Beispiel: Acı Zafer Während Refiğ bei Bir Türke Gönül Verdim noch glaubte, dass der Film die ulusal sinema-Idee in der filmischen Erzählung repräsentiere, scheint sich hier ein anderer filmpolitischer Umgang eingestellt zu haben. In seiner Anlage scheint der Film den Ideen des ulusal sinema gar diametral entgegenzustehen. Wie passt es beispielsweise mit dem okzidentalisierenden ulusal sinema zusammen (der Abwertung des Westens durch die Höherwertung des orientalischen Anderen), dass der Emigrant in Acı Zafer kein solcher Anatolier ist, der sich im Westen zu einem charakterlich verdorbenen Mann verändert hat, dass der Westen also als keine solche Instanz entsteht, die den Anatolier verdirbt? Mutter und Dörfler_innen gegenüber tritt der Emigrant in Acı Zafer höflich und hilfsbereit, den Dorfkindern gegenüber großzügig, seiner deutschen Ehefrau gegenüber liebenswürdig auf. Das sind Verhaltensweisen, die denen des Emigranten İsmail aus Bir Türke Gönül Verdim, also dem ulusal sinema-Film schlechthin, diametral entgegenstehen (▶ Kap. 9.2.2.6). Das ulusal sinema zeichnete ja der Versuch aus, das Türkisch-Anatolische als eine dem Westen gegenüber wesensdifferente, wertvolle, humane und philanthrope Kultur zu konstruieren. Wie ist dann der Umstand zu werten, dass ausgerechnet die dörflich-anatolischen Viehhändler als vergewaltigende, mordende, geldlüsterne Meute konstruiert sind? Inwieweit ist dieser Umstand etwa lediglich dem Aspekt der Herstellung eines kommerziellen Films geschuldet, also als bewusste Vernachlässigung des repräsentationspolitischen Potentials des Films zu werten? Ist diese Nachlässigkeit der Herstellungsabsicht geschuldet, die vielmehr nur noch kommerziellen Motiven folgt? Oder nochmal genauer auf das Konzept des ulusal sinema bezogen: Ist die Gutmütigkeit eines anatolischen Dörflers nur dann als repräsentativ hinzunehmen, wenn der Film programmatisch als ulusal sinema fungieren möge beziehungsweise ist die Boshaftigkeit des Anatolischen in kommerziellen Filmen durchaus erzählbar ohne damit die Programmatik des ulusal sinema zu unterminieren? Ab den 1970ern setzt Refiğ seine ulusal sinema-Programmatik völlig aus, weil er die Hoffnung nach der Verwirklichung anspruchsvoller Filme im Yeşilçam-Betrieb aufgibt und dann in eine Phase fällt, in der er nur noch kommerzielle Filme drehen kann.199 199 Dass der Film eher als kommerzielle Produktion zu werten ist, lässt sich aus der Ausklammerung des Films in den wissenschaftlichen wie publizistischen Diskursen rund um Refiğ herum annehmen, vgl. Eder in Ellinger (2017, S. 94). Eder nennt hier 1968 als Jahr, von dem an Refiğ keinen Film mehr gedreht habe, mit dem er sich identifizierte. In Anbetracht von Bir Türke Gönül Verdim scheint dieses Datum etwas verfrüht gesetzt zu sein. Refiğ selbst spricht von 1970, siehe Refiğ und Türk (2001, S. 271).
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Refiğs Einschätzung davon, wie sich sein ulusal sinema in den Filmen vollzieht, wird brüchig, wenn man an seinen anderen Filmen wie Acı Zafer das durchspielt, was er sich für Bir Türke Gönül Verdim vorgenommen hatte: Seine eigenen Filme widersprechen seiner Konzeption des ulusal sinema insoweit, wie er die filmischen Repräsentationen als stellvertretende Akteure seines filmpolitischen Programms verstanden wissen will. Besonders am Beispiel der Emigrantenfigur zeigt sich, dass Acı Zafer im Hinblick auf die Repräsentationsideen des ulusal sinema gar diametral entgegengesetzt angelegt ist: Der Emigrant ist wesensgut und es sind die eigenen Anatolier, die diese immensen Gräueltaten vollziehen.
9.2.5.
Ulusal Sinema und Millî Sinema: Verschieden und doch gleich?
Wie steht das ulusal sinema zum millî sinema? Die Differenz zu Çakmaklıs millî sinemaKonzeption ergibt sich insbesondere aus der besonderen Stellung des Islams innerhalb beider Konzeptionen. Während der Islam bei Çakmaklı ein selbstbezogenes Bekenntnis, eine Religion im wahrsten Sinne des Wortes ist, deren Verlust im Zuge einer Verwestlichung der türkischen Bevölkerung zu drohen scheint, ist sie für Refiğ lediglich eine soziokulturelle Wirklichkeit, die die türkische Bevölkerung jedoch konstitutiv auszeichnet200 . Mit Blick auf Refiğs Selbsteinschätzung hinsichtlich der Differenzen beider nationaler Kinoformen, dass das ulusal sinema an Fortschrittlichkeit orientiert, das millî sinema demgegenüber eher konservativ angelegt sei, kann diese Differenz an seinem Film Bir Türke Gönül Verdim keineswegs mehr formuliert werden. Allenfalls in der Zentralisierung des Islams, die sich im millî sinema anzeigt, lässt sich eine Differenz beider Kinoformen entlang der Repräsentationsdynamiken ihrer Filme artikulieren – und dies auch nur so lange wie millî sinema-Filme wie Zehra, die wie ulusal sinema-Filme an einer Überhöhung des Anatolischen festhalten, ausgeblendet werden. Die also von den Regisseuren vorgenommenen Selbstpositionierungen – für Refiğ ist der Islam eine soziologische Größe und auch kein Teil seiner religiösen Überzeugung, während er für den Moslem Çakmaklı ideologisch bestimmend ist – lassen sich in den unterschiedlichen Filmen im Hinblick auf die repräsentative Funktion der Filme nur im bestimmten Maße wiederfinden. Da sowohl Çakmaklı als auch Refiğ die »bourgeoisen« Kritiker_innen und ihre Filmorientierung am Westen diskreditieren und damit gemeinsame Antagonist_innen bestimmen, ist also gar dahingehend noch Einigkeit im Hinblick auf das Produktionsinteresse beider Filmemacher eingestellt. Noch deutlicher wird die Parallelität des Filmeschaffens beider Filmemacher in ihren Filmen Fatma Bacı (»Schwester Fatma«) (1972) und Kızım Ayşe (»Meine Tochter Ayşe«) (1974). Nicht nur erzählen beide relativ zeitgleich gedrehten Filme eine quasiparallele, weiblich-binnenmigratorisch, denn männlich-emigratorisch bestimmte Geschichte zu Oğlum Osman, in der die Re-Anatolisierung von verstädterten Binnenmigrant_innen gezeigt wird – beide erzählen die Geschichte einer in die Stadt gezogenen Mutter, deren Kinder sich dort von einer als vorausgehend religiös oder anatolisch zu bestimmenden Wesensessenz lösen und einem charakterlichen wie schicksals200 Refiğ und Türk (2001, S. 292-295).
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haften städtisch-modernen Verderben überantworten. In beiden Filmen spielt überdies die Schauspielerin Yıldız Kenter die Figur eben jener Mutter, der die Aufgabe der Re-Anatolisierung201 ihrer Kinder zukommt. Auch wenn Refiğ in seiner Selbstpositionierung dem millî sinema eher proislamisch- propoagandistische Tendenzen zuschreibt und sein eigenes Vorgehen eher im Sozialrealistischen verortet202 , bleiben solche repräsentationslogischen Funktionen, die über ein Interesse an einem okzidentalisierenden, pro-turkistischen Identitätskonzept verfügen, in beiden Filmen grundsätzlich erhalten. Die Notwendigkeit nach einer Re-Turkisierung ist zugleich häufig den weiblichen Figuren aufgebürdet: Nicht nur, aber besonders in Çakmaklıs Filmen sind es die Frauen, die sich charakterlich zu wandeln haben, insbesondere in Birleşen Yollar, Zehra und Kızım Ayşe. Es ist der Mann, der den Weg zeigt, der Mann führt in den richtigen Weg. Er ist der »konservierte«, denn die Frauen sind von Falschem verführt (Kızım Ayşe) oder verwöhnt (Birleşen Yollar, Zehra) oder beides (Memleketim). Aber auch die Umkehrgeschichte, die Rückbesinnung eines drogenabhängigen Mannes durch die umfassenden Mühen seiner Frau, finden sich in Çakmaklıs Œuvre, im Film Diriliş (»Die Wiederauferstehung«) (1974), in der sie den drogenabhängigen Mann einem Entzug aussetzt. In ästhetischer Hinsicht hingegen sind Differenzen nicht nur entlang der filmischen Programmatiken beider Filmemacher auszumachen, sondern auch entlang ihrer einzelnen Filme: etwas, das im nachfolgenden Kapitel zur filmischen Konstruktion der Identitätspolitiken genauer verfolgt werden wird. In den türkischen Filmen des High-Yeşilçam qualifiziert die Migration also nicht nur die Produktion eines Identitätsdiskurses von (Re-)Turkisierung oder (Re-)Anatolisierung, sondern zugleich die Aushandlung von Repräsentationsstrategien zweier national-turkisierten Filmprogrammatiken wie sie Refiğ und Çakmaklı konzipierten.
9.3.
Identitätsmigration: Mediale Gouvernementalität in den Filmprogrammatiken
Mehrfach wurde deutlich: Eine Untersuchung von Migration fordert die Reflexion kulturtheoretischer Paradigmen heraus, hier besonders das Paradigma der Identität. Im Hinblick auf die medialen Spezifika des Films taucht es in den Untersuchungsgefügen besonders komplex auf. Will man den Voraussetzungsreichtum von der Rede von zumeist subjektiver Identität und Film nicht als Heuristik und Vorausgesetztes zurücklassen, ist dahingehend eine Erörterung notwendig, die das Verhältnis der Konzepte Filmfigur, Identität, Subjekt, Zuschauer_innen reflektiert.203 Konkret werden die nachfolgenden Ausführungen diese Diffizilitäten im Zusammenhang identitätspolitischer filmischer Ideologien, die in einigen ihrer Hinsichten schon in den Kapiteln zuvor untersucht wurden, genauer herauszustellen suchen, nämlich in drei Schritten: Im ersten 201 Da sie ja Binnenmigrant_innen sind, taucht das Westliche hier nicht als national-regionale/kontinentale (Europa) Größe auf, sondern besteht als Stadt. 202 Refiğ und Türk (2001, S. 292-295). 203 Vgl. Dennerlein und Frietsch (2011).
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Schritt werden kürzere Szenenanalysen präsentiert, die den repräsentierten Identitätswandel nachvollziehen (Bir Türke Gönül Verdim, Almanyalı Yarim, Oğlum Osman und Memleketim). In einem zweiten Schritt wird auf eine grundsätzliche Differenz der filmischen Konstruktionen von Identitätswandeln hingewiesen, der die beiden bislang untersuchten Filmprogrammatiken (millî und ulusal sinema) in ihrer Unterschiedenheit auf der Ebene der Verschränkung von Identität und Repräsentationspolitik verdeutlicht. In einem letzten Schritt wird ein Konzept von medialer Wirkweise erarbeitet, das das Verhältnis zwischen filmischer Konstruktion von Identitätswandeln und den Dispositiven des Filmischen grundlegend erörtert, nämlich als »mediale Gouvernementalität«204 . Ziel mit diesem letzten Schritt ist es, subjektkritische Annahmen mit medientheoretischen so zu verknüpfen, dass deutlich wird, dass relationale Annahmen zwischen filmischer Repräsentation und medialer Effekte zu kurz greifen, will man besonders ideologisch angelegte Filmprogrammatiken in ihrer medientheoretisch reflektierten Grundsätzlichkeit verstehen. In diesen letzten Überlegungen wird dabei die Rolle des Konzepts der Migration in seinen vielfältigen Bezügen grenzüberschreitender Bewegung und Beweglichkeit auch für die Untersuchung von Filmen überdenkt werden. Den Abschluss begründen also medientheoretische Gedanken zum Verhältnis von Medialität und Subjektivität, die aufzeigen werden, inwieweit ideologische Filmprogrammatiken, die auf Migration als Veränderungs- und Affizierungskraft bei Zuschauer_innen setzen, nicht mehr hinreichend über Konzepte der Interpellation oder Selbst-Regierung zu beschreiben sind. Erst so wird es möglich, den Weg zu einer visuellen Kultur der Migration zu gehen, der auch im Umfeld konkreter polit-ideologischer Felder nicht auf die Reduktionismen von Identitätskonzeptionen beschränkt bleibt.
9.3.1.
Identitätsmigration I: Migration von Körpern, Konzepten und Identitäten
Bevor dieses Vorgehen nun angegangen wird, lohnt es, einen genaueren Blick auf die Migrationsbewegungen an sich zu werfen, hier im Film Memleketim, der zugleich die Anwesenheitsfiguration der beiden Migrant_innen illustriert. Die Übersicht ermöglicht dahingehend die Erörterung der Strategien der Sichtbarmachung jener Bewegungsformen. Dadurch, dass die Eingebundenheit der filmischen Konstruktion des Grenzübertritts in die Identitätspolitik des Films aufgezeigt wird, soll sich zugleich die Involviertheit von Migrationsbewegungen in die Produktion von Identitätspolitiken der millî sinema-Filmprogrammatik deutlich machen. Memleketim ist nicht nur aus einer filmpolithistorischen Perspektive und in Anbetracht der Nutzbarmachung des Emigrationsgefüges für die daran angeknüpften Identitätspolitiken so interessant und außergewöhnlich. Es sind auch die pluralen Bewegungsformen, die schon in Oğlum Osman eine komplexere Form angenommen hatten und die den Film für Untersuchungen zur Sichtbarmachung von Migration qualifizieren: Osman als Bildungsemigrant und reicher Unternehmersohn verfügt über die soziale Mobilität, die ihm die Reisemobilität erst ermöglicht (Rückkehr nach Istanbul, Re-Emigration nach Deutschland zu Helga, Remigration wieder nach Istanbul über den Kapıkule-Grenzübertritt, Pilgerfahrt nach Mekka, Remigration ins Heim nach Istanbul). 204 Skrandies (2014).
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Permanent sind auch Mehmet und Leyla in Bewegung, weil in unterschiedlichen Ländern/Städten Mal gemeinsam, Mal getrennt unterwegs, wobei ein Ortswechsel zwischen München und Wien nicht durch die Erzählung motiviert stattfindet: nämlich dann, als die beiden sich wiedersehen. Die folgende Übersicht soll die aus der Erzählung erschließbaren transnationalen und Binnenreisen chronologisch aufzeigen: Timecode
Stadt
Grund für Ortswechsel
0:00:00 – 0:16:00
Wien
Beginn: Hippie-Episode
0:08:16 – 0:09:55
München/Wien
erneutes Wiedersehen, Kennenlernen
0:20:20 – 0:23:26
Salzburg
Stadttour auf Leylas Wunsch hin
0:23:26 – 0:26:45
Belgrad
Stadttour auf Mehmets Wunsch hin
0:26:45 – 0:36:35
Wien
letztes Treffen vor Mehmets Remigration
Italien
dort verbleibt Leyla bis kurz vor Mehmets Abreise
0:36:35 – 0:37:20
Erzurum (TR)
Eindrücke aus Mehmets Leben in der Türkei
0:37:20 – 0:50:12
Wien
Helga-Episode; Fast-Hochzeit mit Helmut
0:50:12 – 0:56:52
Skopje (MK), Kosovo
Zwischenhalt, Re-Turkisierung, Stadttour
0:56:54 – 0:57:22
Kapıkule (TR)
Grenzübertritt
Edirne (TR), Einfahrt Stadt
Grenzübertritt
Istanbul
Besuch Oma und Eltern
0:57:22 – 1:09:30
Erzurum
Besuch in Mehmets Heimatstadt
1:18:45 – 1:19:10
Istanbul
Rückreise zur Oma
1:19:10 – 1:22:30
Wien
Türkisch-Lehrerin an einer deutschen Schule
Die beiden Figuren verfügen als Bildungsmigranten und aufgrund ihrer sozialen Situation über eine erhöhte soziale Mobilität, die zugleich mit erhöhter Reisemobilität einhergeht. So können sie häufige transnationale Migrationen und binnenmigrantische Bewegungen vornehmen – Leyla als wohlhabende Unternehmerstochter reist öfter als Mehmet. Die räumlichen Distanzbewältigungen im Film werden lediglich an drei Stellen explizit als Reise gezeigt: Bei beiden Abreisen mit dem Zug (Mehmets Abreise nach Erzurum und Leylas Rückreise aus Erzurum nach Istanbul) und Leylas Rückreise in die Türkei mit dem Auto. In allen anderen auch szenischen Übergängen von einem Ort zum anderen wird lediglich von einer Einstellung auf die andere geschnitten, wobei nur gelegentlich establishing shots eine Orientierung ermöglichen, sodass das Setting sich oft erst nachträglich durch Dialoghinweise oder andere Indizien eindeutig identifizieren lässt. Dabei war schon in vorherigen Kapiteln in der Auseinandersetzung zu Migration und Film auf die Komplexität von Migration Bezug genommen worden. Im Hinblick
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
auf die »imaginäre Topographie«205 von Migration und mit Blick auf die kulturwissenschaftliche Rahmung im material oder affective turn lässt sich eine solche Vorstellung von Migration als Raumbewegungen zwar kritisieren (▶ Kap. 6.3), sie möge hier aber zur Illustration jener zahlreichen Bewegungen dienen. So bleibt in der Übersicht einiges unberücksichtigt, wie zum Beispiel der Umstand, dass zwischen den einzelnen hier als chronologisch angenommenen Reisen wiederum andere Reisen haben stattfinden können, die allerdings aus dem erzählten Film nicht zu dedizieren sind, sondern sich allenfalls aus dem Wirklichkeitsmodus und den darin impliziertem Wahrscheinlichkeiten des Films als Potentialitäten ableiten ließen. Die Bewegungsformen werden im Film im Sinne von »ontologischen Stabilisierungen«206 sichtbar gemacht207 : Wie in Oğlum Osman wird zum Beispiel der Grenzübertritt in die Türkei zu einem Ereignis transformiert. Diese These erfordert etwas Erklärung. Wenn hier von Transformationen eines Ereignisses gesprochen wird, so soll damit jener Vorgang bezeichnet sein, der mit den filmischen Verfahren bestimmte Szenen als eine Außerordentlichkeit innerhalb der innerfilmischen Ökonomie herzustellen versucht. Wenn Außer-ordent-lichkeit eine Ordnung erfordert, dann ist hier zunächst die Ordnung im Film im Hinblick auf die Migrationen bestimmbar als Wechsel der präsentierten raum-zeitlichen Koordinaten der diegetischen Settings: Das Setting ist mal Wien suggerierend kommuniziert und mal als Salzburg. Trotz der notwendig hohen Anzahl der Settingwechsel werden die Reisen selbst nicht explizit gezeigt. Die Ordnungen der Sichtbarmachung im Film im Hinblick auf die Ortswechsel und so auch Migrationen ist also durch die Unsichtbarkeit der Reisen selbst gekennzeichnet. Ortswechsel fallen dann mit Filmschnitten zusammen. Die Ordnung des Films im Hinblick auf die Sichtbarmachung von Migration besteht demnach im Nicht-Zeigen der Reisen an sich. Dass also innerhalb der Ordnung der unsichtbaren Ortswechsel genau jener Grenzübertritt sichtbar gemacht ist, erzeugt die Reise selbst als der Ordnung der Sichtbarmachung im Film widersprechend – und deswegen entsteht die Reiseszene auch als besonderes Ereignis. In Memleketim sind dahingehend noch die beiden Trennungsmomente besonders, die als dramatische Zugabfahrten inszeniert sind. Beide Momente sind komplex als Gefüge von Körpern, Blicken, Bewegungsmaschinen (Zug), Mimiken und Bewegungen inszeniert, also jenen Dingen, die in den Analysen der Ankunft bereits untersucht wurden (▶ Kap. 7). Eine parallele Einreise in beiden Filmen von Çakmaklı ist also besonders augenfällig, nämlich diejenige am türkischen Grenzübertritt Kapıkule208 . Nicht nur, dass der Grenzübertritt in Kapıkule, jenem ikonischen Ort der Heimkehr nach Einsetzen der ReTurkisierung gezeigt wird – beide Male reisen Leyla und Osman zurück, nachdem sie 205 Müller-Richter (2015). 206 Skrandies (2016, S. 13). 207 Hauke Lehmann spricht mit der Schwerpunktsetzung auf Wahrnehmung auch von »Permanenz«: »Die Ausgangsthese dieses Beitrags lautet demzufolge, dass das Road Movie den ›liminalen‹ Zustand des Migrierens (verstanden als eine transitorische Existenzform zwischen Aufbruch und Ankunft) in Permanenz überführt und als Wahrnehmungseindruck erfahrbar macht«, (2011, S. 157). 208 Für einen kursorischen Einblick in die Konstruktionen des Sıla Yolu im türkischen Film siehe Alkın (2016a).
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schon das Initialereignis ihres Wandels durchlebt haben. Der Grenzübertritt ist besonders, weil dieser in filmischer Hinsicht nahezu gleich gefilmt ist. Zuerst zeigt sich in beiden Filmen die architektonische Besonderheit des Grenzübergangs, der ihr ihren Namen gibt: Der Turm (kule) am Tor (kapı) wird beide Male in relativ nahen Einstellungen gezeigt, mindestens so, dass ein bewaffneter Soldat als Wachposten auf dem Turn und der Name des Grenzkontrollpunkts, der auf weißem Hintergrund mit roten Buchstaben (in den Farben der türkischen Nationalflagge also) angelegt ist, sichtbar werden. In beiden Filmen werden die beiden Protagonist_innen am Eingangstor durchfahrend gezeigt, beide sind Mercedesfahrer_innen. Beide Male wird die Atatürk-Büste an der Kontrollstation mit dem Schild zur Bezeichnung der türkischen Republik und beide Male das Stadteinfahrtsschild von Edirne gezeigt, jener ersten Stadt, auf die man nach dem Grenzübertritt durch Kapıkule trifft (Abb. 66.1-2). Zwar sind einstellungstechnisch Unterschiede festzustellen, zum Beispiel wird in Oğlum Osman eine subjektive Kamera für die Einfahrt am Grenzübergang benutzt, die einen Blick aus dem fahrenden Auto heraus kurz simuliert. Doch zentrale motivische Aufnahmeelemente bleiben auch in ihrer filmischen Darstellungsweise erhalten.
Abbildung 66.2 – Standbild aus Memleketim (1975); Abbildung 66.1 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
In beiden Filmen funktioniert die filmische Konstruktion des Grenzübergangs und ihre Inklusion auf ähnliche Weise, denn in beiden Filmen ist sie eng an die Identitätspolitik und ihre filmische Produktion geknüpft: So geht das Einsetzen einer ReTurkisierung in beiden Filmen, bei Osman sogar unmittelbar mit der Repräsentation der Heimkehr in die Türkei einher. Die Betonung der ›Türkei‹ als Nation wird filmisch durch die Fokussierung auf nationale Symbole erzeugt. Diese Markierung wird durch die relativ hohe Zahl an Einstellungen und ihre Dauer auch zeitlich erfahrbar, wobei insbesondere das Stadtschild von Edirne zugleich die Assoziation nicht nur zur Türkei, sondern auch zum osmanischen Reich erhält, insofern sie ehemalige Hauptstadt jenes Reichs war und Reisenden in die Türkei im Zuge des sıla yolu209 die Ankunft der ›Heimatnation‹ indiziert. Der Grenzübertritt möge also in beiden Fällen zugleich als Orts- und Raumpraxis mit der Identitätspraxis der Re-Turkisierung zusammenfallen: internationale Migration und Identitätsmigration fallen zusammen. 209 Türkischer Begriff für die Heimreise aus dem Ausland.
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Die Hintergrundmusik in beiden Übergangsszenen indiziert allerdings die filmideologischen Differenzen der beiden Filme, die zugleich auch die Verortungen der Filme in Çakmaklıs Œvre deutlich machen: Während in Memleketim der gleichnamige nationale türkische Schlager den Nationalismus adressiert, der auch auf thematischer Ebene im Film in der Re-Turkisierung Leylas bespielt wird, ertönt in Oğlum Osman das von einem Frauenchor gesungene osmanische Lied Vur pençe i alideki şemşir aşkına (»Schlage auf die Schwertliebe in der Hand des Ali«).210 Die pro-osmanische Grundhaltung, die den Film um einen Protagonisten namens Osman auszeichnet, stellt sich damit auch auf auditiver Ebene her. Dabei wird im Liedtext, der einen feierlichen Ausruf auf die Soldaten der Eroberung Konstantinopels enthält, durch genau diese inhaltliche Dimension eine Tonalität des Kriegerischen erzeugt, die einer Erwachens- beziehungsweise Auferstehungsmetaphorik aus beispielsweise nationalsozialistischen Zusammenhängen vergleichbar funktioniert. Nachdem Osman aus dem Traum erwacht, in dem sich ihm die beiden historischen Osmans ihm anzeigten, wird unmittelbar auf die Kapıkule geschnitten – samt direktem Einsetzen eben jener Marschmusik ergänzt. Das Aufwachen mündet unmittelbar in der Handlung des Grenzübertritts. Der Schnitt markiert den identitären Bruch als Bruch, die Migration entsteht zwischen Schlaf- und Wachmodus, zwischen den Bewusstseinszuständen, den Lebenseinstellungen und den Lokalisierungen der Körper in der nationalen Topographie zwischen Deutschland und der Türkei. Zurück zur disparaten Funktion der Grenzübergangsszene: Im Einen doppelt die Verwendung eines nationalistischen Lieds in der GrenzübertrittsSzene die Thematik des Nationalen. Durch die Leidensgeschichte Leylas und ihre Re-Turkisierung werden dabei pro-westliche, europhile oder kosmopolitische Dispositionen insofern kritisiert, als sie als Eigennationalität gefährdende Haltungen bewertet werden, die nicht über die unvermeidliche Verfremdung jeder Migrationsexistenz hinwegtäuschen können. Im Anderen (Oğlum Osman) ist insbesondere die (Re-)Islamisierung des Migrationssubjekts entgegen einer Verwestlichungstendenz als notwendiger Identitätswandel ersehen, der zugleich auch eine nationale beziehungsweise osmanisch-historische Rückbesinnung koppelt. Obwohl beide Filme also jeweils Religion und Nationalismus adressieren, liegt der Schwerpunkt der verhandelten Diskurse im jeweils einen oder anderen. Diese Schwerpunktlegung lässt sich entlang der beiden verwendeten verschiedenen Hintergrundlieder im Grenzübertritt in die Türkei feststellen: osmanische Mehter-Marschmusik im einen und Ayten Alpmans nationalistisches Lied »Memleketim« im anderen. Während dem Poster von Memleketim mit der Photographie der beiden Gotteshäuser noch die Konnotation von Religiösität anhaftet, rückt der Film selbst den diskursiven Schwerpunkt in den Themenbereich von Nationalismus. Dieser wird in dem Islam-fokussierten Oğlum Osman allenfalls nebensächlich thematisiert, zum Beispiel durch die Nationalfeier, in der der junge Osman die türkische Fahne schwenkt, oder 210 Es wird vom türkischen Komponisten und Sänger Münir Nurettin Selçuk aus Yahya Kemal Beyatlıs Gedicht »›îstanbulu Fetheden Yeniçeriye Gazel« übernommen und in einen Liedtext umgewandelt. Der Titel heißt auf deutsch »Ghasel [Lyrische Dīwān Dichtform] für die osmanischen Soldaten, die Istanbul eroberten«. Das Gedicht ist erschienen im Band »Eski Şiirin rüzgariyle« (»Mit dem Wind des Gedichts«).
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durch Osmans Lauf an den Büsten osmanisch-türkischer Herrscher vorbei, die an der riesigen Büste Atatürks endet. Löst der repräsentierte Grenzübertritt die Identitätsmigration symbolisch ein und expliziert die aktive Handlung der Figuren die Grenze zu überschreiten zugleich einen inneren Wandel – bleibt also als Index für innere Prozesse zurück –, so sind die Ereignisse, die dazu führen, von Außen induziert. Konkret: Der Impuls zum Identitätswandel kommt für beide Figuren in beiden Filmen von Außen, als Akkumulation von Ereignissen, die ihre Welt und Weltsichten radikal verändern. Osman bleibt durch die Fragen seines Schwiegervaters nach der Sichtung des Dokumentarfilms irritiert zurück und noch irritierter, als ihm seine Freundin noch am gleichen Abend beim Gang nach Hause sagt, dass sie am Sonntag keine Zeit für ihn habe, da sie dann in die Kirche gehe – eine Szene, die Osman beim Gang nach Hause als bedrohlich phantasmiert (Abb. 67).
Abbildung 67 – Standbild aus Oğlum Osman (1973)
Noch vor dem Eintritt in die Kirche fällt Leylas Blick auf die Kruzifixe, die am Kirchenäußeren angebracht sind und ein schaukelnder Kameraschwenk erzeugt Eindrücke des Schwindels, die durch Gegenschüsse auf Leyla als ebensolcher subjektiver Eindruck des Schwindels inszeniert sind. Ihr Taumel setzt sich in der Kirche fort, als der Priester die Trauung zu vollziehen versucht und ihre Ringe mit der Kruzifixbewegung segnet. Eindrücke vom Kruzifix und den Kirchenfenstern samt Ikonen schüchtern Leyla weiter ein. Nachdem der Priester auch eine Bibel mit der Kruzifixbewegung segnet, die gleichzeitig den Kuss seines Rings erfordern, rennt Leyla aus der Kirche und stürzt sich weinend zu Boden. Leylas Wandel setzt also mit der Krise in der Trauung ein, als die christlichen Symbole und der gesamte christlich-orthodoxe Trauungsvorgang sie überfordern und zur Flucht aus der Kirche treiben. Dabei wird die Bedrohlichkeit des Glockengeläuts für Leyla im Film schon vorher antizipiert: Als sie nach der Trennung mit Mehmet an der Votivkirche (Wien) vorbeigeht und das Geläut einsetzt, hält sie davor inne und schaut die Kirche verwundert an. Während für Osman die Traumsequenz von den ihn errettenden Osmans seinen Identitätswandel als harten Bruch zu markieren sucht, ist es für Leyla der ezan (islami-
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sche Gebetsruf) in Skopje, der als Weckruf zuerst das christliche Glockengeläut ablösen und damit gleichsam erholend sie hin zur islamischen Religion und zur türkischen Identität führen wird. Das Moment des Übergangs wird in diesen Ereignissen als kurzzeitiger Vorgang angelegt, der zugleich somatisch auf die Figuren wirkt. Bei Osman ist es ein fieberhafter innerer Kampf, der sich quasi als schmerzhafter Entzug darstellt, ja es wirkt gar als Exorzismus, der durch den Außenblick in leichter Aufsicht mit Zoom auf sein Gesicht als fremdinduzierter Eingriff erscheint. Schon in der Abwesenheitssequenz, in Fatmas Traumsequenz in ihrem Zimmer drang die Kamera durch die extreme Aufsicht in Fatmas Kopf ein, war als penetrierender Blickakt und damit mit Handlungscharakter belehnt. Die in rotes Licht getauchte Szenerie, die dann einsetzte, als Osman sich schmerzhaft mit beiden Händen an die Kehle griff, so als würde die Europhilie, der er verfallen ist, ihn zum Ersticken bringen oder gar würgen, wechselt wieder zurück in die normale Farblichkeit des Films, nachdem Osman nach dem Traum mit den beiden historischen Vorbildern erleichtert aufwacht. Er springt aus der Schlafhaltung auf, woraufhin schon der harte Schnitt auf den Turm von Kapıkule einsetzt: dem bedeutenden Turm, der den bulgarisch-türkischen Grenzübergang, den Übergang vom Westen in den Osten markiert. Bei Leyla erzeugt das Glockengeläut eine sensuelle Überforderung, die ihr so starke Kopfschmerzen zufügt, dass sie ihre Stirn gegen die Fensterscheibe presst. Der Wandel geschieht hier nahezu als bruchloser Identitätswechsel. Ihre Fahrt in die Türkei zeigt schon Leylas Wandel an, zwar als Unbestimmtheit, weil ihre Haltung zum Türkischen darin noch nicht konkret artikuliert ist und wir nicht wissen können, ob sie zur Großmutter oder vielleicht doch zu den europhilen Eltern reist. Doch mindestens ist sie also auf dem Weg in Richtung Türkei. Es war die Hochzeit, die in ihrer sensuellen Überforderung eine unaushaltbare Xenophobie im wahrsten Sinne des Wortes indizierte, nicht als Fremdenfeindlichkeit, sondern als Phobie vor dem Fremden. In der Szene zeigt sich dabei das Moment der Indikation der Xenophobie als Selbstverlust Leylas, als Verlust ihres raumzeitlichen Halts. Die Bilder und so die Eindrücke der Kirche stürmen quasi auf sie ein, in verkanteten Einstellungen und dadurch in umso Haltlosigkeit produzierenden Zuständen. Mit der Szene vom ezan in Skopje wird ihr unbestimmter Wandel, der allenfalls die Phobie vor dem Christlichen indizierte, noch einmal signifikativ vereindeutigt. In der positiven Hinwendung an den muslimischen Gebetsruf zeitigt sich bei Leyla ein körperlicher Effekt, der diametral zum unaushaltbaren Kopfschmerz durch das Glockengeläut angelegt ist, nämlich Beruhigung und Besänftigung, die sich in ihrer Musik abzeichnet. Hier wird so das Muslimische mit dem Charakter der Heilung besetzt, das bedrückende, zersetzende christliche Glockengeläut weicht dem Heilungsprozess durch das muslimisch-auditive Ikon des ezans, dem visuell Filmbilder von Kuppel und Minarette einer Moschee an Tag zur Seite gestellt werden, nachdem zuvor noch Leyla erleichtert und nun mit Erhabenheit vermittelnder Mimik aus dem Fenster ihres Hotelzimmers blickt. Wenig später wird sie sich dem Gebet in der Moschee widmen. In dem Emigrationsfilm Almanyalı Yarim (»Meine deutsche Geliebte«) (1974) doppelt sich diese Szene von der Erhabenheitserfahrung durch den Ezan, der den Identitätswandel einer verwestlichten Frau initiiert. Hier wird die deutsche Frau ebenfalls durch die blonde und zumeist Europäität konnotierende Filiz Akın, der Hauptdarstellerin aus Memleketim, verkörpert. In dem wenige Monate vor Memleketim erschienen
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Emigrationsfilm, der zu großen Teilen in München an Originalschauplätzen gedreht wurde, wird die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Emigranten Murat und der deutschen Maria erzählt. Der ehemalige hochrangige Nazioffizier Wellmann wehrt sich vehement gegen die Beziehung der beiden. So r/emigriert das Liebespaar in die Türkei, um dort, vor den Eskapaden des fremdenfeindlichen Vaters geschützt, ein Dasein in der türkischen, dörfisch-anatolischen Heimat Murats zu fristen. Nachdem Maria ihre erste Nacht bei Murats Eltern verbringt, wird sie durch den ezan geweckt. Eingeleitet wird die Sequenz durch eine Großaufnahme einer aufgegangenen Sonne, zu der schon der ezan im Voice Over ertönt. Daraufhin wird eine Moschee samt Minarette gezeigt. Maria wacht auf, geht zum Fenster und blickt heraus und sieht die Moschee. Da erlangt sie eine Mimik des Erstaunens, wie Leyla in Memleketim in jener ezan-Szene. Dann tritt sie vom Obergeschoss, wo sich ihr Zimmer befindet, ins Untergeschoss. Anschließend beobachtet sie bei ihrem Gang durch das Haus nach draußen ihre Schwiegermutter beim Gebet. Sie ist beeindruckt und geht dann weiter ins Freie zu ihrem Geliebten, Murat, der sich gerade das Gesicht wäscht. Dort spielt sich dann folgender Dialog zwischen den beiden ab: Murat: »Sieh. Heute geht die Sonne für uns auf, meine Geliebte.« Maria: »Als soeben der ezan ertönte, ist in mir eine sehr viel größere, viel strahlendere Sonne aufgegangen. Ich habe gespürt, wie meine Seele gereinigt wurde, erhaben wurde.« Murat: »Unser Glaube [Islam, Ö.A.] ist die vollkommenste, unübertrefflichste Religion dieser Erde, Maria.« Maria: »Und genau deswegen habe ich mich entschieden, Muslimin zu werden.« Murat: »Falls du für mich nur ein Opfer erbringen möchtest –« Maria: »Nein, mein Geliebter. Das kommt aus meinem Innersten.« Murat: »Bak güneş bu sabah bizim için doğuyor, sevgilim.« Maria: »Biraz önce ezan okunurken ondan çok daha büyük, çok daha parlak bir güneş doğdu içime. Ruhumun yıkanıp arındığını, yüceldiğini duydum.« Murat: »Bizim dinimiz yer yüzünün en mükemmel, en üstün dinidir, Maria.« Maria: »Işte bende bu yüzden Müslüman olmaya karar verdim.« Murat: »Eğer benim için fedakarlık yapmak istiyorsan –« Maria: »Hayır, sevgilim. Bu benim içimden geliyor.« Abgelöst wird die Szene, die mit einer Umarmung der beiden Liebenden endet, von einer Halbtotalen von Murat und Maria. Schnitt auf einen größeren Moscheegebetsraum (mescid). Beide knien mit zum Gebet geöffneten Händen in Distanz vor dem mihrab (Gebetsnische), an dem der Imam ebenfalls mit zum Gebet geöffneten Händen vor ihnen sitzt. Alle drei sprechen die Kelime-i Şehadet 211 , das Glaubensbekenntnis und zwar drei Mal, sodass sich die Konvertierung zum Islam performiert. Die positive Rahmung des Islams im Film arbeitet wie in Bir Türke Gönül Verdim und anderen Filmen des populären türkischen Kinos dem Konzept einer turkisierten 211 Sie gehört zu den fünf Säulen des Islam und ist die zweite Säule. Wortlaut ungefähr: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah und ich bezeuge, dass Mohammed sein Gesandter ist.«
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
Identität zu, zu der maßgeblich der islamische Glaube gehört. Sie ist paradigmatisch für das nationalistische Programm des populären Kinos, das sich scheinbar der majoritären kulturellen Verfasstheit seiner adressierten Zuschauer_innenschaft anpasst. Die fremden Subjekte, insbesondere die Frauen, konvertieren in den Emigrationsfilmen zum Islam und vollziehen damit gleichsam eine kulturelle Integration. In der vollständigen Aufgabe eigenkultureller Matrizes ließe sich gar von Assimilation sprechen. Die Relation von Migration und Identitätsmigration führt sowohl auf Seiten des ›deutschtürkischen Kinos‹ als auch des ›türkischen Emigrationsfilms‹ zu Figurationen kultureller Transformationsprozesse gezeigter Figuren in der Fremde. Doch diese figurenfokussierte Konklusion, erklärt noch nicht, wie die Kategorie der Subjektivität sowohl auf Seiten der Zuschauer_innen als auch auf der intrafilmischen Ebene der Ästhetisierung von Subjektivierungsweisen und Subjektformungsweisen (Figuren) in die Konstruktionen hineinreicht und wie mit Momenten des Scheiterns darin umzugehen ist. Geht es mit den Filmen um eine Affirmation bestehender subjektiver Ressourcen der Zuschauer_innen? Wie sind sie aufgerufen? Wie werden sie durch welchen Inhalt formiert? Wie formen sie sich selbst? Wo liegen die Momente des Scheiterns und wie sind diese in diesen Prozessen zu werten? Wie spielen diese Weisen in das Verhältnis von Identität, Migration und Film hinein? Wie wirkt Medialität in dem hier aufgerufenen Feld?
9.3.2.
Identitätsmigration II: Sprunghafte Änderung und Änderungsresistenz – Millî Sinema und Ulusal Sinema
Bevor diese schwierigen Fragen der Medialität im Kontext identitätstheoretischer Überlegungen erörtert werden, soll eine besondere Differenz der beiden türkischen Filmprogrammatiken im Hinblick auf ihre Identitätspolitiken deutlich gemacht werden: Es besteht ein Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Änderungen in einem spezifischen Gesellschaftlichen und der Referenz dabei auf das Konzept der Migration gerade vor dem Hintergrund der Komplexität der Kategorie des Subjekts. Diese hier noch schwierig und in ihrem Verhältnis zueinander noch konfus klingenden Zusammenhänge werden in Kapitel 9.3.3 genauer erhellt werden. Worin liegt nun die Differenz der beiden Filmprogrammatiken? Während in Çakmaklıs Filmen die Problematik der West-Ost-Dichotomie besonders auf der Ebene der einzelnen Figur anlegt, als Wesensproblem eines einzigen Subjekts (Osmans oder Leylas), tragen Refiğs Filme die Probleme auf der interpersonellen Ebene zwischen den Figuren aus. Zunächst zu Bir Türke Gönül Verdim: Nach ihrer Genesung nach dem Streit mit Mustafa legt Eva sich die typisch anatolische Bekleidung samt tülbent und şalvar 212 an und arbeitet an den Dorftätigkeiten der anderen Frauen mit. Es ist eine plötzliche Veränderung dahingehend, dass das Entscheidungsmoment zur Veränderung nicht explizit gezeigt wird. Konkret offenbart sie sich in einer Blickbegegnung mit Mustafa (Abb. 68.1-2). In einer schon an anderer Stelle beschriebenen, männlich erwählten Schulterblickperspektive, die sich also auch hier wiederholt, ist Eva mit weggedrehtem Gesicht beim Schälen in der Hocke beschäftigt. Nachdem Mustafa vor ihr 212 Eine Hose, die durch eine tief angelegten Schrittschnitt gekennzeichnet ist und heute häufig nur noch im Dorfkontext getragen wird.
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stehenbleibt, zoomt die Kamera mit leichtem Schwenk bis auf eine Nahe auf Evas Gesicht, das sie nun nach Mustafas Ansprache ihm zuwendet. Vor dem Wenden ihres Gesichts wird die instrumentale mit saz gespielte Musik mit einem jeweils gleichzeitig einsetzen Becken- und Paukenschlag unterbrochen. Die Blickbegegnung wird als außerordentliches Ereignis der Verwandlung Evas angelegt, in der auf der tonalen Ebene durch den lang hallenden Beckenschlag ein Gefühl der Unheimlichkeit entsteht, die auch aus dem emotionslos scheinenden, apathischen Blick Evas resultiert. Erst nach dem Gegenschuss auf Mustafas Sicht und seine Frage, was diese Aufmachung bedeute, steht Eva mit lächelndem Gesicht auf. Mustafa schenkt ihr eine Kette, sagt ihr, dass er auf seiner LKW-Tour oft an sie gedacht habe, legt seine Hand auf ihre Schulter, die Eva gegen die Kamera und nicht zu Mustafa gerichtet streichelt (Abb. 68.3). Beide Einstellungen sind aus der Sicht Mustafas gezeigt, dem hier dadurch die Blicksouveränität zukommt. Eva bleibt so als Objekt des Kamerablicks zurück. Noch als Mustafa ihr die Kette anlegt, ist Eva zwischen dem Blick der Kamera und Mustafas Blick gefangen. Ihr Blick, der nicht auf Mustafa gerichtet ist, weil er beim Anlegen der Kette hinter ihr steht, belässt die Gesichtsausdrücke beider Figuren in diesem Moment der Zuneigungsvermittlung zwar sichtbar. Doch beide Blickinstanzen, Mustafa und Kamera, vereinnahmen die Frau – eine Vereinnahmung, die sich noch in anderer Hinsicht weiterführt. Der Regisseur Refiğ, der die Anweisungen an seine schwedische Frau Eva Bender gibt, die die Figur der Eva verkörpert, die Kamera, die Figur Mustafa, die Zuschauer_innen: in all jenen Situationen ist die Handlungsweise Evas fremdbestimmt durch Anweisungen. Hier korreliert die Logik der Positionalität der Figur mit den soziohierarchischen Bestimmungen des Filmsettings, korrespondiert die visuelle Konstruktion des filmischen Bildes mit dem Sozialen als gleichsame Konstitutivität – eine visuelle Konstruktion, die das Soziale als solches erst hervorbringt.213 Auf tonaler Ebene wird das Moment der Blickbegegnung durch Pauken- und Beckenschlag als Außerordentlichkeit markiert. Die Fremdmarkierung Evas zu den anderen anatolischen Frauen durch ihre Kleidung wird als Ereignis einer äußeren Angleichung durchbrochen: Eva ist nun eine von ›ihnen‹ und Mustafa kann sich auf sie auch im Sinne einer artikulierbaren besonderen Zuneigung einlassen, die in der Streichelgeste Evas einen körperlichen Ausdruck findet. In der übernächsten Szene zeigt sich auch die innere Wandlung Evas an: Beim Wäschetrockenklopfen mit anderen Frauen verweigert sie dem Lehrer gegenüber den Gruß: Eva hat verstanden, dass in der anatolischen Kultur fremdmännlicher Kontakt von Frauen nicht sittlich ist. Vor dieser Szene wird Eva beim Teppichweben gezeigt, während im Hintergrund in textabgewandelter Form das fröhliche Liebeslied »Dokumacı Kızlar« (»Die Webefrauen«) erklingt. Darin ist entgegen der Originalfassung des Lieds nicht mehr die Rede von einer geliebten Frau mit schwarzen Haaren, sondern von einer mit blonden Haaren214 . Der weitere Liedtext doppelt das, was in der Szene zuvor gezeigt wurde: dass die Adressierte von der ›beschützten Frau‹ (Eva) zur ›Geliebten‹ (Mustafas) geworden ist. Die Szene des Teppichwebens kann insgesamt Evas Zugehörigkeit zu den anatolischen Frauen aufzeigen und das schnelle Schnitttempo, die Tonalität der Szene und der Refraintext des Liedes, 213 W. J. T. Mitchell in Dikovitskaya (2005, S. 245f.). 214 Im Türkischen ist die Haarfarbe blond durch das Wort ›gelb‹, also sarı bezeichnet.
9 Figuration IV: Anwesenheit und Triplett
der die Weberfrauen adressiert, sowie die Einstellung, die die drei sitzenden Frauen bei gemeinsamen Gespräch während des Webens zeigt, erzeugen ein Konnotationsfeld von Zugehörigkeit, Fröhlichkeit und Arbeitsamkeit anatolischer Frauen.
Abbildung 68.1-3 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Damit nicht genug: Nicht nur bleibt es im Zuge der Anderswerdung Evas bei der Annahme einer anatolischen Lebensweise, sondern sie konvertiert vor ihrer Ehe gar zum Islam. Ihre Konvertierung wird in voller Länge gezeigt. Für die Konvertierung reicht im Islam der überzeugte Ausspruch des Kelime-i Şehadet, der hier in der Szene, wie in Almanyalı Yarim, vor einem Imam vor der islamischen Trauung performiert wird (Abb. 69.1-2).
Abbildung 69.1-2 – Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969)
Die Entscheidung zum charakterlichen Wandel und der Vollzug dieses Wandels durch den Kleiderwechsel sowie die Übernahme hausfräulicher Tätigkeit wird als Überraschungsmoment inszeniert. Die Null-Okularisierung in der Szene, in der Zuschauer_innen mit Mustafa gemeinsam den Wandel Evas feststellen, verweist auf einen zeitlichen Sprung: Diesen muss Eva zur Änderung ihres Äußeren genutzt haben. Dieser zeitliche Sprung, der zugleich innerdiegetische raumzeitliche Distanzen zwischen den Szenen annehmen lässt, belässt den Wandlungsprozess Evas unsichtbar und zeigt nur den Status der Andersgewordenheit. Identitätswandel meint in dieser chronotopischen Figuration von Kluft Identitätssprung, insofern die dazwischenliegenden Schnitte, mit denen der raumzeitliche Wechsel etabliert ist, den Wechsel im charakterlichen Dasein markiert. In Çakmaklıs Filmen fungiert die Kopplung filmmedialer Spezifika und der repräsentierten Identitätswandel der Figuren auf eine andere Weise: Es zeigt sich näm-
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lich eine enge Verflochtenheit zwischen Identitätsmigration, der Migration als raumzeitlicher Wandel von Subjekten und der visuellen Konstruktion der Migration. Bis auf Eva sind in Bir Türke Gönül Verdim alle Figuren also als änderungsresistente angelegt. Mustafa bleibt bestimmt und dorftreu und so bleibt auch der als verfallener Charakter inszenierte Remigrant Reşit den gesamten Film über als solche Person suggeriert, die sich in ihrem Wesen nach nicht ändert. Evas Wandel gibt sich nicht als langwieriger Prozess der unvermeidlichen Wandlung, sondern als plötzliches überrascht eintretendes Ereignis. Leyla und Osman hingegen machen über den gesamten Film hinweg eine Entwicklung der Returkisierung durch, der sich auf die als verwestlicht angenommenen Zuschauer_innen als Returkisierungsvorgang übertragen soll. Zwar fungiert Mehmet als schlechtes Gewissen Leylas und so wird auch hier ein Konflikt interpersonell ausgetragen, doch mindestens mit der Abreise Mehmets fokussiert der Film die Erfahrungen Leylas hin zu ihrer Wandlung. Erst am Ende des Films ist Mehmet wieder zu sehen und da hat Leyla ihre Turkisierung schon durchlebt. In Çakmaklıs Ideologie ist eine Arbeit am Selbst nötig, für Refiğ hingegen gibt es keine Arbeit, sondern allenfalls die Konstatierung von Verhältnissen, nämlich solchen, wie sie zum Beispiel Mehmet in dem Gespräch mit Leylas Freund_innen über die Leistungen des Ostens führt: Der Osten ist wertzuschätzen und nicht gegen einen vermeintlich übermächtigen, fortschrittlichen und zivilisierten Westen als minoritär auszuspielen. Der Diskurs findet in Memleketim eine dezidiert artikulierte These in Form eines Dialogs. Refiğs Film hingegen repräsentiert die These in Form der Konstruktion der Figuren, die dadurch als Medien für die Repräsentation der These fungieren. Was beide Programmatiken und ihre hier untersuchten Filme eint: Die Migrant_innenfiguren werden sowohl in Refiğs als auch in Çakmaklıs Filmen als eine Art ›Container‹ imaginiert, deren Identität vom Einwanderungsland aufgeprägt erscheint. Diese Vorstellung von Figuren als Träger kultureller Werte lässt die Emigration daher als besonders geeignetes Gefüge für die Absichten der Regisseure erscheinen. So können unterschiedliche Figuren als Repräsentant_innen unterschiedlicher Werte oder ›Kulturen‹ fungieren und zueinander, insbesondere auch antagonistisch konstelliert oder durch die Repräsentation eines Reversionsprozesses kann das Andere gegeneinander ausgespielt oder aufgelöst, kann der Figureninhalt mit dem jeweiligen Gepräge durch das Migrationsland konfiguriert, können thesenhafte Signifikationsprozesse umgesetzt werden. Die Emigration bringt das Moment des Wandels und damit der Unvorhersehbarkeit ein, weil die Figuren in ihrer Identität eine Transformation im Sinne von Annahme des vermeintlich kulturell hochwertigeren oder einer charakterlichen Reversion durchlaufen können. Die Figuren können in ihrer repräsentativen Funktion (sie stellen Westen, Osten, Islam, Europa et cetera dar) und radikal und zugespitzt erscheinenden Formen also durchaus auch einen Wandel repräsentierter Werte signifizieren, der die polit-ideologischen Vorstellungen und Ziele vermitteln soll. Rey Chow ersieht hierbei die mediale Qualität des Filmischen im Kontext identitätspolitischer Zwecksetzungen als »Herausforderung«: Wenn kulturelle Identität etwas ist, das sich in spezifischen Repräsentationsmedien verankert, dann ist es leicht verständlich, weshalb die illusorische Präsenz, die das
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Medium Film ermöglicht, in den kontroversen Aushandlungsprozessen um kulturelle Identität eine so große Herausforderung darstellt.215 Das ironische, gar widersprüchliche an den Filmen der nationalen Filmprogrammatiken ist zugleich, dass die hierin etablierten Figuren und räumlichen und identitären Figurationen gerade jene Hybridität ins Unsichtbare rücken, die durch Migration ja eigentlich besonders evoziert wird – Migration also verstanden »als eine Bewegung […], welche Identitat suspendiert, das heißt als eine Bewegung, welche die Verankerung in fixen, definierten Subjektpositionen löst und einen Schwebezustand herbeiführt.«216 Dieser »Schwebezustand« dauert in den hier gezeigten Filmen nur kurz an: in jenen Momenten der Reibung ihrer Erfahrungen, dem Auseinanderklaffen zwischen Wissen von der Welt und der für sie bestehenden Ordnung der Welt, in der sie sich jeweils befinden. Oder sie zeigt sich in den Einsichtsmomenten ihrer Nicht-Zugehörigkeit an, wie beispielsweise in dem Gefühl, das Osman hat, als ihn seine Schwiegereltern nach seinem Glauben befragen und er in die Rolle des Repräsentanten islamischer Religion versetzt wird, sodass sich darin die Differenz zu ihnen etabliert – mithin eine schon klassisch gewordene rassistische Erfahrung Migrationsanderer, die man quasi als eine Urszene des Migrantenseins verstehen könnte217 ; ähnlich jener Szene, die Frantz Fanon als Urszene rassistischer Erfahrung etabliert, in der ein weißes Mädchen zu seiner Mutter »Look, a Negro!« sagt.218 Auch wirken die Figuren so, als sei das Auftreten in der Gesellschaft kaum von Spannungen durchsetzt, die eine ›frische‹ Migrationssituation als solche auszeichnet. Die Situationen, die gezeigt werden (hier eher in den millî sinema Filmen) entbehren Fremdheitssituationen, wie sie die Erfahrung der Migration mit sich bringt. Die Figuren bewegen sich selbstbestimmt durch ihre Umgebung, gerade im millî sinema ist auch in den umfassenden touristischen Bewegungen der Figuren, besonders von Mehmet und Leyla in Memleketim, kaum eine Fremdheitssituation gezeigt. Nur Eva als fremdes Subjekt wirkt raumverloren und raumentzogen, sodass sie die Lösung der Dilemmata, die sich aus ihrer Situation der Fremdheit ergeben, in der Übernahme einer anatolischen Existenz ersieht. Diese Souveränität des Reisens für die Figuren in Çakmaklıs Filmen gibt sich in der sozialen Mobilität der Figuren, die sich noch in diesem Entzug der Fremdheitssituationen deutlich macht. Die These in Memleketim, die Mehmet vorbringt, nämlich dadurch, dass er behauptet, dass Leyla sich nie in Europa wohlfühlen werde, erzeugt einen Widerspruch zu den bis dahin gezeigten Erfahrungen Leylas, die sich souverän und selbstbewusst durch ihre Umwelt bewegt. Erst als Leyla 215 Chow (2011, S. 20). 216 Lehmann (2011, S. 155). 217 Vgl. Terkessidis (2010). In Almanya – Willkommen in Deutschland offenbart sich dieses Moment der V/Erkennung des migrantischen Selbsts in jener Szene, in der der jüngste Spross der Familie seine eigene Differenz durch eine Fremdzuschreibung der Lehrerin erlebt, die ihn in der geographischen Auseinandersetzung mit Türkei nach dessen Heimat fragt – vermutend, dass dieser seine Zugehörigkeit durch Bezug zur Türkei artikulieren und so in die Thematik einführen würde. Auch hier wird die eigene migrantische Existenz durch Fremdzuschreibung (Interpellation) zuallererst konstituiert. Die Liste lässt sich noch vielfältig fortspinnen. 218 Bildwissenschaftlicher Metakommentar dazu in Mitchell (2017, S. 173f.).
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die traumatische Erfahrung in dem Schicksal ihrer Freundin macht und erst als Osman im Ausland bei seiner Freundin und ihrer Familie in eine Identitätkrise dadurch stürzt, dass er nach seiner Kenntnis des Islams befragt wird und über die Frömmigkeit seiner Freundin verwirrt ist, etablieren sich Annahmen nach der grundsätzlichen Fremdheit in der Situation der Migration. Im Hinblick auf die Identitätskonzeptionen in den genannten Filmen wird also erst dann auf Alterität, Ausschluss, Verschließung hingearbeitet, als die Filme selbst das Moment der Reversion beziehungsweise Turkisierung als starke, ereignishafte Krise und weniger als sukzessiven, langwierigen Prozess anlegen. Allenfalls in den Krisensituationen taucht so etwas wie eine Öffnung auf, als sich die Figuren in einer Neukonfiguration befinden: Wenn Eva nach der Ohrfeige durch Mustafa nicht mehr weiß, wohin; wenn Osman von der Fernsehsession mit den Schwiegereltern nachdenklich nach Hause geht; wenn Leyla nachdenklich von Helgas Tod in Gedanken versunken durch die Anlage von Helmut schreitet. Die Identitätsmigration hat ihren Schwebezustand genau dann, wenn die Entscheidung zur Identifikation ausgesetzt wird/ist. Doch beim Fokus auf die Figuren darf nicht vergessen werden: Die Repräsentationspolitik der Filme versagt auch auf anderen Ebenen. Durch die Fixierung der christlichen Symbole als antithetische Zeichen zum Islam wird zum Beispiel der eigentliche Überschuss der Signifikanten, der sich schier unendlich fortspinnen lässt, zu Gunsten der Fixierung einer Bedeutung unterbrochen, sodass sich ein Stopp der Signifikantenkette ergibt. Die so essentialisierten Symbole, die ihrem Signifikantenüberschuss beraubt sind, drängen Leyla und auch die anderen Figuren in den Filmen zur Turkisierung. Als solche Symbole bieten sie sich darum auch in ihren Lesarten der Filme vordringlich an. Der Essentialismus besteht allerdings auch in anderen Zeichen fort, die bestimmte Konzepte wie Westen, Islam et cetera repräsentieren, so zum Beispiel die Spielzeugrakete des zunächst noch stummen Sohns der deutschen Eva in Bir Türke Gönül Verdim. Auch solche Zeichen verbürgen den Essentialismus, der die Filme des millî sinema und auch des ulusal sinema als ideologische Programmatiken zurücklässt. Die Rakete steht für den Fortschritt, der Esel des türkischen Jungen für Rückschritt und rurale Authentizität. Der Signifikantenüberschuss wird zur Funktionalisierung domestiziert.
9.3.3.
Identitätsmigration III: Mediale Gouvernementalität im Migrationskino
Die bislang vorgenommenen Überlegungen zum Verhältnis von Migration und Identität zeigen auf, dass Fragen zur Subjektivation, noch einen relativ intakten Subjektbegriff zurücklassen. Statt diesen Subjektbegriff entlang kulturwissenschaftlicher Positionen kritisch durchzugehen (Subjektkritik), soll hier ein anderer Weg eingeschlagen werden, der über drei Schritte führt: erstens (1) dem Vorausschicken einer Kritik der West-Ost-Dichotomie in der Okzidentalismus-Konzeption der Soziologin Meltem Ahıska, die hilft, das dichotomische Prinzip der Filme in ein Denken zu rücken, in dem es noch einmal in einem anderen Licht politstrategischer Umfelder dastehen kann; zweitens (2) einer Erörterung des Felds des Films im Kontext migrationskinematographischer Überlegungen Rey Chows, die danach fragt, wie das Verhältnis von Film, Migration und kultureller Identität anders als durch die ideologiekritische Brille der suture gedacht werden kann (Hinleitung zur Subjektkritik). Diese beiden Schrit-
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te, die die politische Programmatik nochmal zuspitzen (1) und im weiteren Kontext der Konzepte Identität, Migration und Kino verorten (2) werden drittens (3) um aktuelle Überlegungen zum Verhältnis von Politischem und Medialem gestellt. Diese drei Schritte werden es ermöglichen, die Überlegungen zum Vorgang der Identitätsmigration, dem wahrnehmbaren Wechsel von konstitutiven Bezugssystemen des Subjekts, subjektkritisch so zu reflektieren, dass die gängigen Sackgassen219 der Ideologiekritik vermieden werden: durch Reflexionen zur medialen Gouvernementalität, die dann in eine Bestimmung der Relationalität von Migration, Film und Identität führt, die eben jener Sackgasse auszuweichen weiß. Migration, Identität, Kino und Okzidentalismus Reloaded Meltem Ahıska hat das Modernisierungsstreben der Türkei als ein solches untersucht, das von einem phantasmatischen Ideal ausgeht, dem es stets hinterherrennt, aber das trotzdem unentwegt begehrt würde. Diese Begehrenskonstellation, die den Stellenwert der Moderne und des modernen Westens auch für andere nicht-westliche Länder darstelle, würde besonders gut an der Metapher des Zuges deutlich werden: Die Last des historischen Gegensatz [sic!] zwischen ›dem Westen‹ und dem ›dem Osten‹ gipfelt in einer weiten Kluft zwischen ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹, die die Zugmetapher auf den Punkt bringt. […] Zwischen der Hoffnung, ›den Zug nicht zu verpassen‹, und der Katastrophe des ›Zugunglücks‹ liegt die historische Spannung der ›türkischen Moderne‹. […] Trotz der augenscheinlichen Betonung von Geschwindigkeit und Bewegung, die die Metapher vom ›Erwischen des Zuges‹ besonders gut ausdrückt, impliziert die Art und Weise ihrer Verwendung einen gewissen zeitlichen Stillstand oder sogar Zeitlosigkeit. ›Geschwindigkeit‹ ist symptomatisch für ein weitaus älteres Problem der Modernität in der Türkei, was zu der Annahme verleitet, dass deren Betonung nicht mit Bewegung, sondern mit Stillstand zu tun hat. […] ›Den Zug erwischen‹ ist eine Metapher, die ein geschichtliches Ziel bezeichnet, an dem die ›Nachzügler‹ immer schon zu spät sind.220 Damit argumentiert sie die Metapher des verspäteten Zugs als zentrales Medium, mit dem sich die Türkei selbst in ein Bild jener spezifischen Zeitlichkeit einrückt. Dieses Bild würde die Angst vor der Unerreichbarkeit des westlichen Fortschritts in ein Szenario vom »lähmenden Paradox der Geschwindigkeit«221 überstellen und damit eigentlich erst jenen befürchteten Stillstand hervorrufen. Doch diese Situation einer paradoxalen Begehrensdynamik, die den Westen als zu »befolgendes ›Modell‹« feiert, aber zugleich »als Bedrohung ›einheimischer‹ nationaler Werte verteufelt«222 , gelte ebenso für andere nicht-westliche Länder. Spezifisch für die Türkei sei hingegen der Umstand, dass progressive Tätigkeiten, im Sinne der Verhandlung innenpolitischer Schwierigkeiten, durch ein Repräsentationsregime des Fortschritts verhindert würden: 219 220 221 222
Vgl. Chow (2011, S. 24). Ahıska (2008, S. 26ff.). Ahıska (2008, S. 27). Ahıska (2008, S. 27).
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Die Metapher ›den Zug der westlichen Zivilisation erwischen‹ kanalisiert und frustriert gleichzeitig den Wunsch der Menschen modern zu sein. Die Furcht ›zu spät zu kommen‹ legt kritischem und kreativem Denken, das sich den Fragen der Gegenwart zuwenden könnte, Steine in den Weg. Die drängendsten Probleme der heutigen Türkei – etwa wachsende Armut, Menschenrechtsverletzungen, Geschlechterungleicheit, ethnische Probleme und der politische Islam – werden aufgeschoben oder schlicht undenkbar gemacht durch ihre okzidentalistische Verdrängung.223 Für die Reflexion dieser komplexen Verhältnisse von Zeitlichkeit und Bewegung empfiehlt Ahıska ihren Begriff des Okzidentalismus als Reflexionsmodell, das die Instrumentalisierungsweisen der Konstruktionen vom Westen und (östlich) Eigenem zu verstehen helfe. Dabei verwirft auch sie die Bedeutung von Okzidentalismus als parallel zu Saids Orientalismus angelegtes Konzept, der ja damit die phantasmatische und alteritäre, aber als realistisch angelegte Konstruktion des Osten durch den Westen bezeichnete. Als Gründe, die dagegen sprechen, Okzidentalismus als parallel angelegtes Konzept zum Orientalismus zu nutzen, lässt sich dreierlei anführen: Erstens würde ein Okzidentalismusbegriff, der parallel zum Orientalismus-Begriff angelegt würde, dem Osten die Befähigung zuschreiben, eine global zirkuläre Repräsentation des Westens zu generieren. Das wäre insofern schwierig, als dass damit eine Machtsymmetrie zwischen Westen und Osten behauptet würde, die sich vor dem Hintergrund bestehender Machtasymmetrien nur schwierig argumentieren ließe. Zweitens würde eine parallele Anlage zum Begriff des Orientalismus verdecken, dass keine historisch umfassende und vor allen Dingen so eindeutige Persistenz behauptet werden kann, in der eine solche Konstruktion des Westens möglich ist. Drittens bedarf die Rede vom Okzidentalismus noch ihrer historischen Aufarbeitungen, wie sie im Felde einer kritischen Forschung zum Orientalismus schon vorgelegt wurden. Um den im Konzept des Orientalismus angelegten Absolutismus des damit beschriebenen Diskurses zu relativieren, der für den Okzidentalismus in dieser Form nicht zu behaupten ist, schlägt die Arbeit daher den Begriff der Okzidentalisierung (okzidentalisieren) vor: jene Praktiken, die darauf zielen das östliche Eigene dadurch zu konstituieren, dass ein anderes Westliches projiziert und phantasmiert wird. Dass auf einer Binnenebene durchaus solche okzidentalisierende Strategien möglich sind, zeigt sich mit Memleketim deutlich an, nämlich in der inversen Nutzung der Zugmetapher. Der ›Zug der Turkisierung‹ besteht für die Protagonistin Leyla in Form des Zugs, den Mehmet für seine Abreise nutzt. Für die europhile Frau hängt die Möglichkeit, ihre Liebesbeziehung zu Mehmet weiterzuführen nur davon ab, ob sie in den Zug miteinsteigt oder nicht. Er ist zum Greifen nah. Mehmet steigt in den Zug und fährt ohne sie davon. Leyla kann ihm nur noch hinterherblicken. Nicht der Zug der Modernisierung fährt hier ab. In Çakmaklıs Film wird die Angst vor der Abfahrt des modernen Zugs pervertiert: Hier ist es der Zug, der in den Osten, in die Türkei, in die Rückständigkeit fährt, der als Zug einer Errettung abfährt, einer errettenden Turkisierung. Mit den Variablen von Geschwindigkeit, Stillstand, Bewegung und Zeit sind zugleich zentrale Größen des Films aufgerufen. Für den Zusammenhang von Film und 223 Ahıska (2008, S. 41).
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Moderne beschreibt Chow diesen Umstand mit besonderem Bezug auf die zeitliche Instanz der ›Vergangenheit‹: Der einfache dialektische Zusammenhang zwischen visueller Absenz und visueller Präsenz, der von Anfang an durch das filmische Medium dramatisiert wurde, eignet sich daher hervorragend zur Veranschaulichung der Dilemmata und Widerspruche, der Nostalgien und Hoffnungen, die das Streben nach Modernität kennzeichnen.224 Für die Filme der beiden nationalen Filmprogrammatiken gesprochen: Es verkehrt sich das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft insofern um, als dass die nationalistischen Filmprogrammatiken behaupten, dass die Zukunft (der Türkei) erst auf der Grundlage der Vergangenheit zu entwerfen sei. Das spricht Mehmet nicht nur in Memleketim fast mit denselben Worten Leyla gegenüber aus (Szene in Belgrad). Die Möglichkeit der Heranholung einer vergangenen Geschichte setzt sich im Film noch in jenen Szenen fort, in denen die Protagonistin durch den angehenden Arzt mit historischen Stätten konfrontiert und durch dessen Erzählungen zur Imagination jener Ereignisse eingeladen wird. Die Filme machen die Vergangenheit sichtbar. Sie kann so im Film weiter fortleben; in der Modalität des Lehrfilms auch für diejenigen, die der eigenen Wanderung zu den historisch-aussagekräftigen Orten nicht fähig sind. Für Regisseure aus Festlandchina wie Chen Kaige, Zhang Yimou, lian Zhuangzhuang und Zhang Nuanxin beinhalten die Überlegungen zur »Kultur« zwangsläufig auch ein Überdenken ihrer Ursprünge – der »Vergangenheiten«, die die Gegenwart hervorgebracht haben; die Geschichten, Mythen, Rituale, Bräuche und Praktiken, die erklären, wie ein Volk zu dem wird, was es ist. Weil ein solches Überdenken mit dem historischen Verhältnis von Abwesenheit und Anwesenheit spielt, wird der Film für diese Regisseure und auch für solche in anderen Regionen Asiens zu einem bevorzugten Medium. Sein projizierender Mechanismus bewirkt, dass die Darstellung der Vergangenheit als das, was hinter uns liegt, gleichzeitig auch die Form von beweglichen Bildern einnehmen kann, die in ihrer lebendigen Leuchtkraft direkt vor uns ablaufen.225 Für die Frage nach der Produktion von Identitäten bedeutet das, die Produktivität des Filmischen im Verhältnis zur Anwesendmachung nochmal zu durchdenken, nämlich im Hinblick auf Migration und Film: etwas, dem die Analysekapitel zuvor extensiv gefolgt sind. Zugleich wirken Chows Ausführungen so, dass sie von einem Präsentismus ausgehen, der die Komplexität filmischer Medialität mit Bezug auf die Gefüge von Erinnerung oder durchscheinender Bildlichkeit, ja im Lichte einer negativen Medientheorie von Riss, Spur226 und Gespenstischem noch ausblendet. Zentraler ist für ihren Text daher, dass Chow die vielfältigen Bezüge zu kultureller Identität und Film herausarbeitet, die in das Verhältnis von Kino, Identität, Moderne und Kultur hineinreichen. Ihre Beobachtungen zur Rolle des Kinos in China lassen sich in vielerlei Hinsichten noch für die Situation des Kinos der Türkei nutzbar machen 224 Chow (2011, S. 27f.). 225 Chow (2011, S. 27). 226 Vgl. Nessel (2008, S. 163ff.).
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und ihre Kritik am Konzept der suture und die Konzeption von Subjekt als Interpellation werden die nachfolgenden Ausführungen aufgreifen und in aktuelle Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Subjektivität einbinden, um sich darüber der Frage zu nähern, wie das Gefüge von Film, Migration und den ideologischen Programmen gleichzeitig auch an der Bestimmung des Politischen rühren. So wird sich zeigen, dass eine Reflexion über diese Filme nicht einfach nur eine kulturhistorische Rückvergewisserung einer bislang unbeachtet gebliebenen und gering analysierten Filmkultur darstellt, sondern zugleich daran rüttelt, wie über das Verhältnis von Migration und visueller Kultur überhaupt produktiv zu denken ist. Chows zentrale Beobachtung also, wie technisches Medium und die Konstitution von kultureller Identität auch filmästhetisch miteinander verknüpft scheint, zeigt sich an zentraler Stelle ihres Textes, an der sie mit Rückbezug auf die Suture-Theorie ihr Gebrauchspotential für die Filmtheorie herausarbeitet. Dort heißt es: Sobald Identität mit dem Prozess des Zuschauens verbunden wird, eröffnet sich ein neues Spektrum theoretischer Möglichkeiten. […] Man sollte jedoch nicht vergessen, dass selbst Kritiker, die darauf abzielen, die Mehrheitskultur subversiv in Frage zu stellen, und behaupten, dass »alternatives« Kino auch »alternative« Identitäten hervorbringt, sich theoretisch nicht von dem »Suture«-Konzept loslösen, solange sie Identitäten ausschließlich als klassische Interpellation von Subjektivitäten denken. Tatsächlich könnte man so weit gehen zu sagen, dass Kritiker, die versuchen, »andere« Identitäten in »anderen« Kinos zu idealisieren, eine größere Gefahr laufen, ideologisch zwingende Identifikationsprozesse durch »Suture« festzuschreiben. Aus diesen Gründen schlage ich vor, dass jeder Versuch, Film und kulturelle Identität zu theoretisieren, über eine bloße Kritik und ein implizites Festschreiben der Effekte von »Suture« hinausgehen sollte. In diesem Sinne könnte es ergiebig sein, zu Aspekten des Films zurückzukehren, die nicht unmittelbar mit Identität als solcher verbunden sind, sondern Alternativen zu den von »Suture« geschaffenen Sackgassen bieten.227 Zwar bietet Chow selbst keine Lösung für die Sackgassen an, die mit der suture einhergehen, doch sie kann die dispositiven und ästhetischen Eigenschaften des Kinos so auf ihren kulturellen Kontext rückbeziehen, dass sich hierin auch die Parallelen für die Situation des türkischen Kinos anzeigen lassen. Oliver Marchart hat das Konzept der Interpellation Althussers herangezogen und über die Reflexionen zum Status des Subjekts darin zugleich die Schwierigkeiten der Cultural Studies und anderer theoretischer Positionen zum Verhältnis des Politischen herausgestellt. Seine Reflexionen sind durch den Impuls getragen, die Differenzierung zwischen Politik und Politischem vorzunehmen. Hierin kommt dem entworfenen Subjektivationsmodell eine tragende Rolle zu, wodurch an seinen Überlegungen zugleich auch jene Sackgassen der suture überwunden werden können. Den Argumenten dieser Überwindung, die dann in einem Konzept »medialer Gouvernementalität«228 münden, gilt es nun zu folgen. 227 Chow (2011, S. 24). 228 Skrandies (2014).
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Zwischen Selbstformung und Selbstunterwerfung: Mediale Gouvernementalität Drei Zugänge im Hinblick auf Politik und Medien lassen sich festhalten, die sich in ihrer Funktion der Subjektivation unterscheiden: Erstens die Apparatustheorie Althussers, in der ein Subjekt angerufen und so als Subjekt erzeugt wird, mithin ein »formalistische[s] und in gewisser Weise deterministische[s], zumindest aber passivistische[s] Modell«229 , formalistisch deswegen, weil die Frage des » ›Inhalts‹ der Anrufung – im Unterschied zur traditionellen Ideologiekritik, von der auch bei Althusser noch Spuren aufzuweisen sind – bewusst ausgeklammert wird«230 . Sie hatten wir bei der Analyse der Rollenspielszene bei Memleketimschon durchgespielt (▶ Kap. 9.1.5). Genau hier aber setzt der »post-ideologiekritische« Ansatz der Cultural Studies an, die das Subjekt der Anrufung »abseits der reinen Subjektform« als von verschiedenen, sich verschränkenden Intersektionen identitärer Anteile durchzogen imaginieren beziehungsweise konzipieren (zum Beispiel die allseits bekannte Trias von race, class, gender). Mit Bezug auf Judith Butler rekapituliert Marchart die Verschränkung der formalistischen und inhaltistischen Subjektivationsmodelle, indem er auf das Konzept der Iterabilität anhebt: Denn in der Praxis der Subjektivierung sind (passive) Subjektivierung-qua-Unterwerfung und (aktive) Subjektivierung-qua-Selbstformung Teil ein und desselben Prozesses. Wenn Subjektbildung durch iterative Praxen zustande kommt, die das Moment ihrer eigenen Verschiebung, Dislokation und Subversion aufgrund ihrer prinzipiellen Iterabilität schon in sich tragen, dann arbeiten Subjekte an ihrer eigenen Subjektivierung immer schon mit, ohne ihr darin gänzlich unterworfen zu sein, ohne aber auch voluntaristisch aus ihr herausspringen zu können.231 Jede Anrufung (Interpellation) produziert ein stückweit eine andere Anrufung, wird die vollzogene Aufrufung eine Differenz zur vorgängigen bergen, was eben zu »Verschiebung, Dislokation und Subversionen« führt. Und jeder Selbstproduktion ist dasselbe Moment der Inkongruenz von Selbst inhärent. Die permanent wiedereinsetzende EntLösung des Selbst von sich Selbst durch iterierende Anrufung und Selbstformung findet im Film seine Entsprechung in dessen ästhetischer Materialität, die besonders auch eine bildliche ist. Nina Heiß beschreibt diesen Zusammenhang so: »Ein Bild ist ein Riß im Sein – und diesen Riß spürt der Mensch auch in seiner eigenen Existenzweise. Wenn Sartre das Für-sich durch den Satz beschreibt: ›Der Mensch ist, was er nicht ist, und er ist nicht, was er ist‹, so gilt das auch für das Bild (Böhme 1999, S. 7).« Um sich diesem Riss anzunähern, darf man das Filmbild nicht auf sichtbare Bedeutungszusammenhänge reduzieren. Film als visuelles Medium macht deutlich, dass beide Vorgänge, Identitätskonstruktion und Sehen, in die Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gespalten sind. Im Bereich des Sichtbaren zeigen sich blinde Flecken, welche das kategoriale Sehen stören und den Blick auf das Subjekt und seine prekären Identitätsentwürfe zurücklenken.232 229 230 231 232
Marchart (2005, S. 30). Marchart (2005, S. 29). Marchart (2005, S. 29f.). Heiß (2017, S. 263).
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Die suture kann also nie ganz gelingen, wie das Subjekt sich selbst nie ganz in den Figuren auf der Leinwand wiederfinden kann. Die Insistenz im Übereinklang kann sich allenfalls als eine nie ganz gelingende Resonanz geben. Zu einem eingehenderen Verständnis dessen, was ein solches kapitulatives Subjektivationsmodell für eine programmatische und ideologische Migrationskinematographie wie die beiden erörterten Filmmanifeste (millî und ulusal sinema) bedeutet, ist das zäsurbestimmte Medialitätsmodell Tholens aufgerufen, auf das im Übrigen auch Marchart selbst rekurriert.233 Darin ist Medialität (auch des Subjekts) durch die Aufrufung eines Spalts (Zäsur) definiert, die sich im Prozess jeder Sinnbildung gibt. Skrandies entwirft in einem medientheoretischen Text nun im Durchgang von fünf zentralen Thesen ein Modell »medialer Gouvernementalität«, das das Gefüge zwischen Macht, Medien und Subjektivität noch weiter zuspitzt und konkretisiert. Bevor dieses Modell in seiner Tragweite als Erklärungsmodell für die filmprogrammatischen Zusammenhänge türkischer Migrationskinematographie erörtert wird, soll es entlang der dichten Perspektivierung, die Skrandies vorgenommen hat, rekapituliert werden. Vor diesem Durchgang durch die Thesen, sind noch einige wenige Begriffsklärungen nötig, die hier kaum in ihrer die makrostrukturelle und globalhistorische Dimension von Foucaults Konzept geleistet werden kann. Da ist zum einen der auf Foucault zurückgehende Begriff der ›Gouvernementalität‹: Gouvernementalität als Machtform findet als vielfältiges Geflecht gesellschaftlicher Praxen von Fremd- und Selbst-Regierung statt (und der Staat ist lediglich die prägnanteste der auf das Kollektiv gerichteten Regierungstechniken). Als Herrschaftstechnologie ist Gouvernementalität ein biopolitisches Wissen über Kollektive und Individuen, als Selbsttechnologie (Technologien des Selbst) ist sie performative Rationalität, gemäß der Subjekte agieren, planen, wünschen, hoffen, die Möglichkeiten ihrer Handlungen auszuschöpfen oder auch nicht, kurz: sich als ›freie‹ Subjekte entwerfen und verstehen (wollen) (vgl. Foucault 2005a: 210; 2005: 286f.; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 20f.).234 Der Lobgesang auf Çakmaklıs Filme, der schon zu Beginn des Kapitels die Selbstregierung sichtender Subjekte (hier waren es zwei Frauen; ▶ Kap. 9.1) hin zu einer muslimischen Lebensweise am Beispiel zweier Frauen illustrierte, setzt vorher noch mit Deutungen weiterer Effekte seines Kinos auf die damaligen Publika an: Die Gläubigen, diejenigen, die den Sinn und die Wichtigkeit dieses Landes verstanden haben, diejenigen, die gegen die Verwestlichung sind, haben die Kinosäle mit gesteigertem oder einem erneuerten Selbstbewusstsein verlassen. Diejenigen, die dazu geneigt waren, sich mit der Religiosität und dem Erbe der Osmanen zu versöhnen, haben die Kinosäle mit einer gestärkten Neigung zu beidem verlassen. Viele derjenigen, die aufgebracht über die ›Imame und Konsorten‹ und unsere mit dem Islam geformte Historie waren, haben die Kinosäle mit den Worten verlassen »Diese Themen muss ich nochmal durchdenken«. Dindar olanlar, bu ülkenin mana ve ehemmiyetini müdrik olanlar, batılılaşmaya karşı olanlar, 233 Marchart (2005, S. 33). 234 Skrandies (2014, S. 290).
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sinema salonlarından özgüven kazanarak veya özgüvenleri tazelenerek çıktılar. Dindarlığa ve Osmanlı’nın mirasıyla barışmaya mütemayil olanlar, sinema salonlarından bu temayülleri güçlenmiş olarak çıktılar. ›Hacı hoca takımın‹ a ve İslam ile yoğrulmuş tarihimize tepkili olanların birçoğu ise sinema salonlarından »Bu konuları yeniden düşünmeliyim« diyerek cıktılar.235 Albayrak nimmt eine unmittelbare Relation zwischen Filmsichtung im Kino und den in der Folge dieser Sichtungen entstandenen Änderungen im Subjekt an. Im ersten Abschnitt spricht Albayrak von einem geänderten »Bewusstsein«, im zweiten von einer geänderten »Neigung« und im dritten von einer geänderten, nennen wir es, Haltung. Seine Ausführungen lassen dabei offen, inwiefern der Film konkret zur Veränderung dieser drei inneren Qualitäten des Subjekts führt. Berichtet wird lediglich von der Transformation aller dieser drei genannten Qualitäten in den Subjekten, was damit schon die Infragestellung grundsätzlicher Trennung von Innen und Außen für Subjektivität provoziert.236 Warum also hier nochmal diese medientheoretischen Überlegungen zur medialen Gouvernementalität? In dieser Relation zwischen Filmsichtung im Kino und den Effekten daraus ist noch die ›Black Box‹ zu situieren, die die kommunikationswissenschaftlich motivierte Rezeptionsforschung jeher umtreibt. In dem dialogischen Modell der black-box-haften Vermittlung nimmt das Mediale jedoch genau jenen ambivalenten Status ein, der nicht nur die Anfangs- und Endpole dieses Kommunikationsmodells im Sinne von Medialität heimsucht: Subjekt und Film sind nicht als gesetzte Instanzen, sondern als sich Vollziehendes zu denken, bei dem es nicht zu einem statischen Vermittlungsvorgang kommt, sondern zu jener Ereignisform, die als Kommunikation die grundsätzliche Frage nach der Medialität von jedwedem Sinn herausfordert. Den Umstand nach der Transformation der Subjekte durch den Film zu verstehen, bedeutet zunächst einmal genauer zu fassen, wie Subjekt und Medium in ihrer Verhältnismäßigkeit zueinanderstehen. Anzunehmen ist, dass dies in Form »medialer Gouvernementalität« zu beschreiben ist, was solche Machtfragen relativiert, die Vorstellungen von Medien als machtvolle inhaltsmediale Akteure gegenüber einem ohnmächtigen Subjekt annehmen. Und doch bleibt das, was in Anbetracht der Komplexität einer unerschöpflichen Medientheorie hier vorzustellen ist, eine Möglichkeit, genau jene Verhältnismäßigkeit und noch ihre grundlegendsten Überlegungen zu fassen. Zurück zum Zitat: In Albayraks Formulierungen wird nur der rezeptionshistorische Kontext des Filmscreenings bedacht, nicht jedoch das schier unendliche Nachleben des Films über die Folgejahrzehnte hinweg. Die Orte, in denen sich die mediale Gouvernementalität mit den nationalen Filmprogrammatiken vollzieht, scheinen sich in Anbetracht einer »Explosion des Kinos«237 mannigfach reproduziert zu haben. Film erscheint an »Durch235 Albayrak (2014, S. 287). 236 »Die Subjektivität ist exzentrisch zum Menschen – ihm ist stets etwas zugrunde gelegt, ohne dass er aber dadurch sogleich zum bloßen Objekt verkäme. Der theoriepolitische Vorgang der Moderne besteht ja gerade darin, diese Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht mehr hinreichend begründen zu können. Vielmehr also: Gerade weil die epistemologische Genealogie des ›Subjekts‹ der Moderne den Menschen ›vom Zentrum ins X‹ rollt (Nietzsche), festigt sich die Poniertheit des Menschen im für ihn ursprünglichen Spiel der sinnlichen Vermittlung und Darstellung (Medialisierung) von Subjekt und Objekt als fragliche und bedenkliche Wirklichkeit dieser Welt«, Skrandies (2003, S. 24). 237 Casetti (2010).
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gangsorten«238 , in vielfältigen ›neuen‹ Dispositiven, die dadurch die Entstehung eines post-kinematographischen Zeitalters einzuläuten scheinen. Das Yeşilçam-Kino beispielsweise findet seinen Ort im Netz (Filmproduktionsfirmen aus Yeşilçam-Zeit eröffnen Youtube-Channels, in denen sie teilweise digital restaurierte Fassungen ihrer Filme anbieten) und den unzähligen Hardwareangeboten (Smartphones, Notebooks), die in der Lage sind, die Filme auf die jeweiligen Bildschirme zu holen. Doch diese Vorstellung einer »Explosion des Kinos« hilft nur bedingt weiter, mediale Gouvernementalität, die sich mit propagandistischen Filmen spezifisch eröffnet, zu verstehen. Denn es geht ja nicht nur um die Quantität der Fremd- und Selbstregierungsereignisse und mediale Verschiebungen, sondern auch um die Qualität von Medialität in diesen Prozessen generell: Dass Medien nicht nur Apparate sind, die politische, kulturelle, soziale, subjektive oder sonstige Realitäten nur einfach darstellen (Medienrealitäten), sondern in ihrer ihnen eigenen performativen Konstituierungsbewegung offene Wahrnehmungs- und Erfahrungsorte gründen (Medialität), die in politischer bzw. gouvernementaler Hinsicht schon Orte der Regierung sind. Anders gesagt: Medialität ist eine Matrix politischer Realität und stellt insofern je schon ein Wie des Regierens zur Hervorbringung von Subjekten dar.239 Übersetzt man das Gouvernementalitätskonzept auf den hier beschriebenen Umstand filmischen Kommunikationszusammenhangs so sieht man hierin die Verschränkung der Modelle von Fremd- und Selbstregierung, die die beiden von Marchart beschriebenen Subjektivationsmodelle von Formung und Unterwerfung aufzeigen. Doch dieses Subjektivationskonzept, will man es medientheoretisch insoweit fruchtbar machen, muss um Aspekte eines »Medien- bzw. Medialitätsbegriff[s]« erweitert werden. Dann wird es dem iterativen Charakter jener Prozesse der Subjektivation gerecht, in die Medialität konstitutiv involviert ist. So könnte man den Sinn eines solchen Konzepts darin verstehen, dass es aufzeigt, wie Subjekte zuallererst regierbar werden: »durch Herrschaft und durch es selbst«240 . Wie also ist Medialität in die iterative Praxis der Subjektbildung so eingewoben, dass darin überhaupt Beherrschbarkeit entsteht? Skrandies entwickelt ein Modell »medialer Gouvernementalität« an fünf Überlegungen, die in ihren jeweiligen Wendungen helfen, die Vorstellung medialer Inhalte aus der vereinfachenden Vorstellung von Einwirkungsweisen auf Subjekte zu entkoppeln, die Albayraks Statement impliziert. Skrandies’ erster Punkt zielt darauf ab, Medien von einer Vorstellung als Apparaturen zu verabschieden. Medien sind vielmehr »Effekte und Verdichtungen von zuvor offenen Möglichkeitsfeldern des Handelns«241 . Die begriffliche Verschiebung von Apparatur zu »Effekt« und »Verdichtung« vollzieht eine Entkoppelung des Medienbegriffs aus technizistischen Zusammenhängen, in denen zum Beispiel das komplexe Gefüge ›Fernsehen‹ vielmehr von seiner Effizienz heraus betrachtet wird, Handlungsweisen 238 Casetti (2010, S. 30). 239 Skrandies (2014, S. 295). 240 Skrandies (2014, S. 295). 241 Skrandies (2014, S. 296).
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zuallererst zu ermöglichen. Der Umstand der Lokalität des Fernsehgeräts im häuslichen Umfeld prägt zum Beispiel die Art und Weise der Handlungsbeziehungen, die sich auf den Fernseher richten. Benutzende Familienmitglieder müssen sich im Falle gemeinsamer Sichtung räumlich um diesen versammeln. Der Fernseher strukturiert so zugleich die räumlichen Handlungsmöglichkeiten seiner Nutzer_innen. Die Zeitstruktur der Fernseh- und Senderprogramme strukturiert hierbei die zeitlichen Selbstregierungsprogrammatiken der Subjekte. Will man Memleketim von seiner medialen Gouvernementalität her verstehen, gilt es also die jeweiligen Dispositive in den Blick zu rücken, in denen bestimmte Handlungsweisen im Bezug zu medialen Figurationen zuallererst ermöglicht werden: Wie konstellieren sich Nutzungszusammenhänge? Der zweite Punkt hebt an der Materialität an, die diese Handlungsformen ermöglicht. Skrandies bestimmt seinem Materialitätsbegriff als Apparaturen, sinnliche Wahrnehmungen, Affekt, Emotion, Empfindung und Erinnerung.242 Ein Modell medialer Gouvernementalität, das sich nur auf die gängige Dreiecksbeziehung von »Apparat – Content – User«243 bezieht, kommt demnach zu kurz, unter anderem weil darin »die Fluidität der normalerweise als festgelegte Positionen verstandenen traditionellen Dreiecksbeziehung aus Medien (Technik, Institutionen, Redakteure etc.), Nutzern (Rezipient, Zuschauer, Leser, Hörer, User) und Inhalten (Genres, Narrationen, Struktur des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags, Meldungen etc.)«244 verkannt wird, in denen jene vorher genannten Qualitäten der Materialität je spezifisch hineinreichen: Insofern Mediale Gouvernementalität als spezifische Regierungs-Praxis, im Führen des Führens von ›Kommunikationsbeziehungen‹ (Foucault) besteht, sind ›Medienbeziehungen‹ jene losen Kopplungen, in denen durch Herrschafts- und Selbsttechnologien die Verknüpfungen und Positionen jener Dreiecksbeziehung immer wieder neu ausgehandelt werden.245 Die Annahme nach einer linearen Beeinflussung der Subjekte durch Medien (also auch Filme), verkennt, drittens, dass die Mediennutzer_innen in ihrem Gebrauch der Medien an ihren »Subjektivierungsmodi«246 mitarbeiten und sich quasi selbst zum Regierungsobjekt machen.247 Die Sichtenden des millî sinema stellen ihre Regierung durch den Film quasi selbst her, indem sie entsprechende Nutzungspraktiken vornehmen. Wenn Albayrak sich also darum bemüht, die Filme von Elif Film (Çakmaklıs Filmproduktionsfirma) auf DVD zu erwerben und sie »immer wieder, immer wieder…«248 zu sichten, lässt sich dieser Umstand nicht getrennt davon betrachten, wie die gouvernementalen Bedingungen hineinreichen, jene Handlungsweisen nach einer wiederholenden Sichtung zuallererst zu ermöglichen. Dass Albayrak seine eigenen Kinder mit Çakmaklıs frühem millî sinema großzieht249 , lässt sich als Durchdringlichkeitsmechanismus gouvernementa242 243 244 245 246 247 248 249
Skrandies (2014, S. 297). Skrandies (2014, S. 296). Skrandies (2014, S. 297). Skrandies (2014, S. 297). Schneider in Skrandies (2014, S. 297). Skrandies (2014, S. 297f.). Albayrak (2014, S. 286). Albayrak (2014, S. 287).
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ler Praktiken verstehen. Es verweist darauf, dass gouvernementale Dynamiken auf der Ebene mikrosozialer Systeme wie der sozialen Form der Familie weiterwirken können, insofern sich dort noch ein Herrschaftssystem etablieren lässt, das sich durch Liberalisierungstaktiken der Eltern oberflächlich zu entziehen scheint, aber deswegen umso effektiver wirken kann: Das Besondere von Gouvernementalität ist demnach, »freie« Subjekte (Foucault 2005: 287) zu adressieren, indem deren Verhalten und Handlungen in eine spezifische Spannung von Möglichkeit und Notwendigkeit versetzt wird.250 Der vierte Punkt hebt darauf an, dass Medien »eine Zäsur im Anthropologischen [produzieren]«.251 Wenn Medien Handlungen oder sinnliche Wahrnehmungen zuallererst ermöglichen, dann ist in die Bestimmung des Subjektiven eine Zäsur eingeschrieben. Die Zäsur (oder der Spalt) kommt dadurch zustande, dass die Bestimmung selbst wieder auf die Möglichkeit zurückverwiesen ist, über diese Bestimmung nur über das Mediale reflektieren zu können. Das Anthropologische besteht demnach in einem unauflöslichen Zirkel, in einer »Zäsur der Medien«: »Die Frage nach dem Ort des Menschen kann nur gestellt werden als die Frage nach der Möglichkeit der Bedingungen technischer Kommunikation, in deren Namen ›wir‹ über Kommunikation kommunizieren.«252 Mit Skrandies: Als Prozess eröffnet sie [die mediale Disposivität] das sinnliche und intelligible Möglichkeitsfeld von Handlungen zur Selbstführung via Medientechnologien, -contents und Kommunikationsbeziehungen – was wiederum die Selbst-Differenzen des Subjekts im Sinne der Zäsur unaufhebbar macht. […] Medialität wäre dann als Eröffnungsbewegung des Phänomenalen und Imaginären zu denken – und in dieser Eröffnungsbewegung findet auch Regierung als Mediale Gouvernementalität statt.253 Was bedeutet das für das millî sinema? Die Stärkung eines konservativen Selbstbewusstseins und die Auffrischung desselbigen durch Film, die die millî sinema Programmatik avisiert, kann nur um den Preis der Ausblendung all jener Inkommensurabilitäten als solches mediale Modell von Medium im Sinne von Einwirkung auf Subjekt behauptet werden, die das Filmmediale auszeichnet. In sämtlichen Filmen Çakmaklıs ziehen sich in der Inszenierung Fehlanschlüsse durch, die im Spannungsfeld von Versuchen einer identitätsvereinnahmenden (die potentiell von Verwestlichung bedrohten Zuschauer_innen sollen in die Identifikation involviert werden, damit sie die Leiderfahrung des Subjekts und ihren Wandel ko-erfahren) filmischen Inszenierungspolitik und der filmmaterialen, intraaktiven Widerspenstigkeit254 der faux accords. Das Resultat ist eher eine Dezentrierung der Subjekt- und Identifikationssituationen. In diesen Fehlschlüssen eröffnen sich jene Dimensionen des »Phänomenalen und Imaginären«255 , die die Filmtheorie mit ihren Modellen feministischer und psychoanalytischer Zugänge zum 250 251 252 253 254 255
Skrandies (2014, S. 288). Skrandies (2014, S. 299). Tholen (2002, S. 18). Skrandies (2014, S. 299f.). Vgl. Skrandies (2016). Skrandies (2014, S. 300).
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Film oftmals noch in ihren konzeptuellen prädeterminierten Modellen beherbergte. Die Dimensionen des Phänomenalen und Imaginären verweisen mit ihrem Bezug auf die Vielfältigkeit der Bildbegriffe zugleich darauf, dass die filmische Konstruktion genau in die Dimension von regierbarmachenden Identitätsprozessen eingebunden ist, die deswegen eine Untersuchung der Bildhaftigkeit des Films erforderlich macht. In sämtlichen analytischen Kapiteln der vorliegenden Arbeit wurde immer wieder Bezug darauf genommen, wie die visuelle Konstruktion weit in die Prozesse sozialer Konstitution hineinreichte; ein Soziales also, das sich aufgrund der Iterabilität gerade in der visuellen Vermittlung und damit besonders auch in den Domänen des »Phänomenalen und Imaginären« konstituiert, die in den letzten Analysen sich noch um eine Dimension erweitern ließe: Will man die gelingenden, aber zugleich immer unaufhebbaren Resonanz-, oder neutraler ausgedrückt, Relationsmomente zwischen Subjektivem und Medialem, die sich im Filmesehen ereignen, im Hinblick auf ihre prozessualen Verhältnismäßigkeiten hin beschreiben, so sind von hier an solche theoretischen Reflexionsfelder aufgerufen, die im Bereich der somatischen Filmtheorie, als auch in Affekt- und Empfindungstheorien ihren Grund finden; sprich in werdens- und intensitätsphilosophischen Debatten, die auch den somatic und affective turn der Filmwissenschaften auszeichnen. Dass gerade das Somatische zunehmend in Verbindung mit dem diasporischen Kino verhandelt wird, kommt nicht von ungefähr256 , insofern Migrationen subversiv sind und dadurch weniger in fixen, deterministischen Repräsentationspolitiken als vielmehr in intensitätsbezogenen Mikropolitiken als Transformationskräfte im Verhältnis von Film und Zuschauer_innen und den daraus resultierenden Milieus beschreibbar sind. Für die Kulturwissenschaften ersieht Marie-Luise Angerer die Vielschichtigkeit der Subjektkritik in ihrer Fortsetzung in affektzentrierten und gar technophilosophischen Ansätzen, zumal sie darin noch die Transgression des »poststrukturalistischen« Spaltmodells des Subjekts erkennt: Während eine poststrukturalistische Subjektdekonstruktion die Diskontinuität, die Gespaltenheit des Subjekts im Visier hatte, verweist der (neue) Fokus auf Affekt auf die Diskontinuität des Bewusstseins in Hinblick auf (s)eine affektive NichtIntentionalität. In dieser Verlagerung treffen sich nun allerdings verschiedene Kritiken und Entwicklungen, die durchaus unterschiedliche Anliegen verfolgen: die Kritik an einem Anthropozentrismus, wie sie etwa Donna Haraway vertritt, die Kritik am Begriff des Subjekts und seine Ersetzung durch »life itself« (Thacker, Braidotti; Vgl. Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich; Berlin: Diaphanes, 2007, S. 91ff.) sowie eine medientechnische Entwicklung, die zunehmend subkutan, prä-individuell und a-subjektiv agiert und deshalb, in den Worten von Mark. B. Hansen von uns heute fordert, Subjektivität immer schon als technische Funktion zu begreifen: und zwar Subjektivität nicht nur verstanden als eine verstreute, verteilte und multiskalare Subjektivität, sondern als eine, »die dem sensorischen Angebots256 Vgl. Elsaesser und Hagener (2011), Marks (2000), Naficy (2001).
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charakter der heutigen Netzwerke und Medienumgebungen innewohnt, inhärent ist.«257
9.3.4.
Ein Fortdenken »medialer Gouvernementalität«: Affektivität
Was bedeutet das für die Untersuchung der visuellen Konstruktion eines migratorischen Sozialen? Ohne auf die These von der Produktion von Subjektivität als technische Funktion überzugehen (sie ließe sich zum Beispiel bei Simondon wiederfinden258 ), ließe sich das an einem veränderten Beschreibungsmodus filmischer Konstruktionen festhalten259
Abbildung 70.1-2 – Standbilder aus Oğlum Osman (1973)
Als Osman in seinem Bett liegt und einen Krampf erleidet, in dem die Europhilie sich quasi exorziert, durchlebt er eine intensive Erfahrung mit offensichtlich großen Schmerzen (Abb. 70.1-2). Er windet sich. Mit nacktem Oberkörper liegt er auf dem Bett. Die Brust ist geöffnet und scheint geradezu nach einem Affekt zu lechzen, nach einer Intensität, die sie in Wallung, mindestens zur Affizierung bringt. Oder der Affekt scheint herauszubrechen, sich seinen Weg aus dem Körper in das permeable Feld zwischen Leinwand/Bildschirm und Zuschauer_innenraum zu bahnen. Durch das Chiaroscuro, das Osmans Hose schwarz und seine große Gürtelschnalle als blinkenden Orientierungspunkt zurücklässt, zeichnen sich Schneisen des Dunklen an seinen Körper nämlich dann, als er mit seinen Händen seinen Hals greift. Die schwarzen, differenzentzogenen sichtbaren Bereiche verschlingen ihn in seiner lebhaften Intensität zu einem strukturdurchzogenen deformierten Körper, in dem die Kräfte sich in 257 Angerer (2014, S. 23). 258 Simondon (2012), Delitz (2012). 259 Gözde Naiboğlu hat post-repräsentationalistische Lektüren von Filmen vorgeschlagen, die auch die Dimension des Affektiven im Sinne produktiver Kräfte einbeziehen. Allerdings werden in ihrer Arbeit ästhetische Analysen zugunsten von sinnstiftenden Lektüren ästhetischer Strategien der Filme in einen affekttheoretischen Kontext gestellt, der sich an einigen Stellen wieder von den eigenwertigen Prozeduren des Visuellen in den Filmen wegbewegt. Insofern stellen die nachfolgenden Ausführungen zu stärker affekttheoretisch motivierten Mikroanalysen einen alternativen Weg dar, als ihn Naiboğlu in ihrer Arbeit vorschlägt (2017). Hieran weiterführende Anschlüsse ließen sich aus prozessontologischer Perspektive Whitehead’scher Prägung ziehen, in der auch »Prehensionen« wirksame Einwirkungen in die Welt darstellen, vgl. Wieser (2012, S. 213-240).
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das Schwarz hineinziehen. Osmans Hals ist dabei doppelt bedeckt: durch seine Hände und das Schwarz. Wir wollen zwar annehmen, dass die Schatten, die die Schneisen des Schwarzes einziehen, nur Schatten, also Schichten einer bedeckenden Sichtbarkeit sind. Doch der Griff an den Hals lässt die Schneisen des Schwarz auch als verschluckendes Schwarz verstehen, die nicht mehr reflektieren, sondern jede Farbe, ja gar das Licht des Auges absorbieren.260 Dann färbt sich die Szenerie zügig rot, nicht bruchhaft, sondern durch graduelle Verfärbung, durch Rot-Werden. Der Zoom fährt in den unwahrnehmbaren Luftraum vor Osmans windenden Körper hinein bis er an dessen Kopf und den greifenden Händen am Hals in Großaufnahme ist. Im Hintergrund, an der Kommode, steht die geöffnete Flasche Alkohol samt leerem Glas, doch dieser Teil des Zimmers bleibt nicht farbdurchsetzt, sondern gibt sich mit der warmen Beleuchtung des Lampenschirms darauf als gewöhnlich farblich. Das Grün der Flasche bleibt grün, das Braun des Lampenständers bleibt braun. So gibt sich ein Kontrast zur entnormalisierten roten Verfärbung von Osmans Körper auf dem Bett. Die Trennung von Osmans Körper und Umwelt reproduziert sich in der Farblichkeit des Settings. Das Rot der Szenerie, das aufgrund seiner unaufhebbaren Unvermitteltheit für die wenigen Sekunden die Leinwand tränkt, durchsetzt das Gefüge der Filmwahrnehmung. Im Widerstreit mit dem erzählerischen Charakter der Szene, der auf eine Erfahrungsübertragung zwischen Figur und als verwestlicht angenommenen Zuschauer_innen setzt, ereignet sich in den wenigen Sekunden Film eine Kräfteverschiebung von Intensitäten, die folgenreich für das Wahrnehmungsereignis ist: »Zwischen der Farbe und dem sichtbaren Ding stößt man auf das Gewebe des Fleisches«261 , das heißt, dass zwischen dem sinnlich wahrgenommenen und der Form sich eine Qualität gibt, die sich nicht in beiden allein erschöpft. Dieser Überschuss als »Fleisch« wird in der Szene durch die Konfiguration zwischen den sich entfaltenden Kräften des Körpers Osmans, die sich in dessen pathetischen Gesten explizieren, und der Farbqualität des »schreienden Rots«262 regelrecht gesprengt. Die Entität, die sich vor uns gibt, ist weder Körper noch Ding, sondern ein ästhetisch Entformtes263 . So sind in diesen deformierenden Kraftlinien und dem deformierenden Farbwerden noch jene mikropolitischen Intensitäten zu finden, die in den kurzen Bildern vom Ansetzen des Identitätswandels nicht nur in der vorausgesagten Zeichenhaftigkeit verpuffen, sondern zugleich ein Bild vom Bild des Werdens entwerfen. Die Kraft der Filme zu wirken, die jenen Propagandafilmen zugeschrieben wird, findet sich in den Kraftlinien und Intensitäten, die sich im mikropolitischen der Ästhetik der Bilder ereignen. Das solche Milieu und die solche Verschränkung der Intensitäten im Modus des Zuschauens erfordern ein Beschreiben, in dem die Beweglichkeit und Bewegung der Subjektivität nicht auf die menschlichen Körper und technischen Objekte reduziert sind, sondern auf ihre Unendlichkeit hin geöffnet 260 Es gibt eine Stofflichkeit, die so schwarz ist, dass ihr jegliche Kontur entzogen ist. Sie nennt sich Vantablack, das 99 Prozent des Lichts, das darauf fällt, absorbiert. War die Farbe Weiß die Zerstörung jeglicher Konturhaftigkeit, die gar als Leerstelle zu fungieren vermag, ist das so nur schwerlich in der Natur zu produzierende Vantablack eine künstlich erschaffene Entzogenheit selbst in Anwesenheit des Lichts: ein schwarzes Loch von Farbe. 261 Zechner (2013, S. 80). 262 Görling (2015). 263 Vgl. Schaffer (2013).
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werden: Migration nicht nur als Schwanken »zwischen zwei Territorialisierungen«264 , sondern als unendliches Werden, und daher als exklusiver Modus im Nomadischen.265
264 Delitz (2010, S. 93). 265 Damit widerspreche ich Auffassungen, die mit Deleuze auf Migration als Territorialisierungsprinzip verweisen und damit vom Nomadischen dahingehend differenzieren. Eine solche Definition suspendiert die ureigene Beweglichkeit von Migration und definiert sie ausgehend von den Grenztypen (Territorium). Es geht bei Migration weniger um die Territorien, sondern viel eher um die Zeitlichkeiten der Migration, um die je spezifischen Fügungen raumzeitlicher Verhältnisse, die sich eben nicht immer nur auf die Modelle räumlicher Grenzen fixieren lassen (▶ Kap. 6.3). Migration ist also ein viel grundsätzlicheres Ereignis. Sie kann im Nomadischen erst dann als Modalität aufgehen, sofern mit Migration eben die Monumentalität ihrer Ereignisform getilgt ist/wird.
Schluss
Die Filmkultur des Yeşilçam-Kinos ist eines der heimatlichen sozialen Gefüge. Der Fokus liegt auf der home group und der Transformation der heimatlichen Kräfte der Gemeinschaft, die einst verlassen wurde. Die Filme interessieren sich für die Heimkehr und belassen das Leben des Emigranten im Dort als kaum konkret zu zeigendes Ereignis zurück. Zeitbilder halten sich in diesen Filmen der 1970er Jahre ebenfalls zurück. Die Filme dieser Dekade gehören dem Regime des Bewegungsbildes an. Der Untersuchung dieser Filmdekade ging eine kritische Auseinandersetzung des gesamten Feldes zur narrativen Spielfilmkultur türkisch-deutscher Migration voraus. Kapitel 2 hat die wissenschaftliche Konstruktion des ›deutsch-türkischen Kinos‹ mit diskurshistorischen Aktualisierungen kritisch nachgezeichnet und analysiert: Während die frühen Filme Migrant_innen als Opfer repräsentierten (1970er bis 90er), hätten neuere Filme diese Repräsentationsstrategie gegen spielerisch-subversive Repräsentationspolitiken eingetauscht, die sich besonders dadurch auszeichneten, dass sie Kategorien von Ethnizität und essentieller Identitäten subvertierten, aber auch empowerndere Darstellungen böten (1990er bis in die 2010er). Um die filmhistorische Simplifizierung dieser Historisierung aufzuzeigen, die einen Wandel in der Geschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹ ersieht, wurde mit Hilfe der Analyse des (Des-)Integrationsfilms Aufbrüche von 1988 eine Differenzierung des Betroffenheitskinos vorgenommen. Sie bestand darin, die gesellschaftskritischen Filme der 1970er und 1980er Jahre von integrationspolitisch motivierten Filmen der 1980er und später zu unterscheiden. Die früheren Filme wurden mit der Kategorisierung des Gastarbeiter_innenfilms eher Sujet-bezogen und mit Bezug auf zeithistorische Spezifika (Konzept des Gastarbeiter_innentums) klassifiziert. Die danach hergestellten Filme wurden mit Blick auf ihre integrationspolitischen Motivationen als (Des-)Integrationskino evaluiert, denn sie intendierten, kulturdifferente, islamisch-türkische Migrant_innensubjekte in eine deutsche Kultur der Aufklärung zu integrieren. Damit waren sie eher in der Lage, mit dieser integrationsdispositiven Trennung von wir und andere1 Desintegration zu produzieren. Der zweite Teil des Kapitels rekapitulierte zunächst die in wissenschaftlichen Diskursen ersehene Übergangsphase in der Geschichte des ›deutsch-türkischen Kinos‹ und 1 Vgl. Mecheril (2011).
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erörterte spezifische Vereinseitigungen des Diskursfelds über eine Kritik bestehender wissenschaftspolitischer Diskurse zum ›deutsch-türkischen Kino‹. Eine zentrale Beobachtung war folgende: Indem ein Fokus auf eine ganz spezifische Verhandlung von Kultur in jenen Filmen, besonders im Œuvre Fatih Akıns gelegt wird, ergeben sich hieraus wissenschaftsdiskursive und -politische Einengungen, die beispielsweise eine Verabschiedung der Nation als epistemisches Hilfskonstrukt argumentieren. Dadurch werden postkoloniale Dynamiken und Eurozentrismen wirksam. Die Ausblendung von Filmen aus türkischen Zusammenhängen stellt beispielsweise generell einen epistemischen Reduktionismus dar, die die Transkulturalitätsaspekte einer Migrationskinematographie undifferenziert zurücklässt. Das Kapitelende hat anhand der Beschreibung aktueller filmischer Verhandlungsformen ›deutsch-türkischer Migration‹ einen möglichen Ausblick auf die Historisierungsweise des ›deutsch-türkischen Kinos‹ gegeben und anderweitige historisierende, epistemische Bezugsangebote zu jenem Genre geleistet. Das Kapitel 3 hat die wissenschaftliche Konstruktion des türkischen Emigrationsfilms skizziert und hieran deutlich gemacht, dass auch auf Seiten türkischsprachiger wissenschaftlicher Verhandlung eine Vereinseitigung des epistemischen und Forschungsobjekt generierenden Bezugsfeldes erzeugt wird. Die Rekapitulation filmhistorischer Ergebnisse zum türkischen Emigrationsfilm wurde mit einer diskurshistorisch aktualisierenden Herangehensweise verbunden, die bestehende Forschungsdefizite aufzeigte. Exemplarisch hierfür ist das Fehlen filmarchivischer Bestrebungen, die den ab 1990 wirkmächtig aufkommenden TV-Film einbeziehen oder das Fehlen medienwissenschaftlicher Auseinandersetzungen zur Ausblendung von Fernsehfilmen und anderen Formaten bei der Erarbeitung der Filmkorpora. In Kapitel 4 wurden filmwissenschaftliche Überlegungen nach dem Status des Kinos der Türkei sowie des ›deutsch-türkischen Kinos‹ angestellt: und zwar so, dass die beiden wirkmächtigen filmwissenschaftlichen Modelle des world cinema und des transnational cinema, dahingehend reflektiert wurden, inwieweit sie dazu geeignet sind, migrationskinematographische Forschungsfelder zu adressieren. Da sich in ihren Konzeptionen die Schwierigkeit aufzeigte, auf der Ebene einer global verfahrenden, prozessorientierten Untersuchungskultur angemessen auf Filme zu reagieren, die auf inhaltlicher Ebene selbst bewohnt sind von transnationalen Migrationsthematiken, erörterte das Kapitel zwei Modelle einer Forschungshabitualisierung, die es erlauben, interkulturell sensibler zu forschen. Der »Polyzentrismus« und das Konzept der »flexiblen Geographie« irritieren hegemoniale Überlegungsmuster in der Vorstellung von der Welt als Bild, sodass darüber eurozentrische Verallgemeinerungen oder Annahmen destabilisiert werden. Türkischer Film und deutsch-türkisches Kino können ausgehend von polyzentrischen und flexibel geographischen Überlegungen in einen gewinnbringenden Dialog zueinander gebracht werden. Der zweite Teil der Arbeit widmete sich den Filmen der Yeşilçam-Ära der 1970er Jahre: Die Untersuchung des Verhältnisses von Migration und Film provozierte in der Beschäftigung mit der Filmkultur jener Jahre grundlegende Variablen des Filmmedialen. Raum-Zeit-Verhältnisse, intra- und inframediale Beziehungen, Verhältnisbestimmungen im Zusammenhang von Film und Zuschauer_innen gerieten in einer filmanalytischen Perspektive in den Blick, die getrieben ist von der Vorstellung, dass das, was
Schluss
wir als Soziales annehmen, seine Formen maßgeblich dem verdankt, was als Visualität untersuchbar ist. Damit waren die Analysen auch getrieben von bild-, film- und medientheoretischen Annahmen, die die Bewegtbildlichkeit der Filme in ihrer Ästhetizität ernst nahmen (Kapitel 5) – stets mit Blick auf kulturtheoretische und kulturhistorische Kontextualisierungen. Die filmkulturhistorisch motivierten Perspektiven auf die Filme der 1970er Jahre eröffneten den engen Zusammenhang zwischen den Genres des Dorffilms, des ArabeskKinos sowie identitätspolitisch motivierter Filmrichtungen, wie den nationalen Kinos von Refiğ und Çakmaklı (ulusal sinema und millî sinema). Hier zeigte sich, dass die Figuration der Heimkehr leitend für die Konstruktion der Filme war. Thematisch verhandelt werden konnte in den Filmen der Grundkonflikt von Moderne und Tradition gerade aufgrund der Heimkehrfiguration, weil die Konstruktionen des Westens und des östlichen/türkischen/islamischen Eigenen durch die in der Migration enthaltene raumzeitliche Produktion von Konstellationen (Verhältnisse von Subjekt-Raum-Zeit) antagonistische Verhältnisse aushandelbar und die jeweiligen Diskurse handhabbar machten. Dabei erarbeitete die Untersuchung der Filme auch heraus, auf welchen medienund migrationstheoretischen Annahmen eine solche Konstellierung basiert und beschrieb in den bildlichen Verhältnissen die Vereinfachungen, die ein solches Modell von Migration mit sich brachte. Durch die Untersuchung der filmischen Konstruktionen wurden immer wieder Prekaritäten in den diskursiven Konstellationen herausgestellt; zum Beispiel dadurch, dass die technisch mediale Konstellation von gering telepräsentisch ausgelegten Kommunikationstechniken (Photographie, Brief) die raumzeit-basierten Kontaktverhältnisse zwischen Daheimverbliebenen und Emigrierten in einer Weise aufrief, sodass dieser Kontakt in besonders medienprekären Figurationen auftauchte: Daheimverbliebene Eltern, Ehefrauen und Verlobte, die die Photographien der Abwesenden küssten, Spiegelverhältnisse, die die prekären familiären Verhältnisse aufgriffen, in die die Zuschauer_innen einbezogen werden konnten. Die Untersuchung der filmischen Konstruktionen in Kapitel 6 machte so die mediale Prekarität dieser Verhältnisse deutlich: die Dissemination sinnlichen Potentials, die Verkomplizierung bildlicher Verhältnisse, die den Raum zwischen Imaginärem und Symbolischen irritierte (zum Beispiel durch Spiegeleinstellungen und der Involvierung medialer Gefüge). Verhältnisse, die sich auf der Ebene der filmischen Konstruktion wiederfinden ließen. An Kapitel 7 wurde deutlich wie viele filmische und Bildprozesse zusammenwirken, um Migration im Film zu konstituieren: den vielfältigen Varianten des Zeigens, der Deixis, rhetorischer Kniffe des Dialogs, der Andersmachung der Figuren und der kleidungstechnischen Zuordnung zueinander, der kadrierenden Verfahren, der auditiven Komponenten von Musik und Ton. Die Verfahren reichten damit von deiktischen Vorgängen wie Fingerzeigen der Figur und damit einhergehender Montagen von Raumund Bewegungsverhältnissen sowie audiovisuellen Arrangements von Transportmedien sowie Figuren und landschaftlichen sowie räumlichen Verhältnissen. Wie Anreisen im Sinne von Bewegungsprozessen in heimatliche Gefüge zugleich auch von Ambiguitäten durchsetzt sind, die sie als kaum von anderen nicht-migrantischen Bewegungsprozessen unterscheidet wurde ebenfalls deutlich. Die Akusmatik die sich mit den Blickprozessen im Hinblick auf diese Bewegungen untersuchbar hielt, machte die topologischen Verhältnisse in der visuellen Konstruktion jedweder Raum-Subjekt-Verhältnisse deut-
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lich. Die grundsätzliche Korrespondenz zwischen den Medialitäten des Films und der Migration zeigte sich in Szenen, in denen die An- und Abwesenheit aus dem Verhältnis von Figuren mit menschlichen Bewegungsprozessen sowie den bild- und blicktechnischen Operationen resultierte. Kapitel 8 zeigte auf, dass Migration Momente der Blickbegegnung evozierte, jenes Moment, in dem die visuelle Konstruktion des Sozialen maßgeblich verbürgt wird. Wenn hieraus die Raster entstehen, durch die wir Menschen v/erkennen, ist verständlich, warum Migration stets mit dem Moment der Produktion von Migrationsanderen einhergeht. Die Analyse der Szenen dieser Blickmomente in zwei paradigmatischen Szenen zeigte, dass dieses Blickmoment auch als Krisenmoment entstehen kann, in dem genau der Blick in eine Krise gestürzt wird. Das visuelle Feld wird von Blickregimen bewohnt, die die Kamera mit ihren eigentechnischen Operationen von Zoom immer wieder eigentümlich herausfordert: durch metaphorisierende Blickvorgänge, durch subjektiv durchtränkte Blickprozesse, die die Marker der Andersheit des Emigranten identifizieren. Diese Krise wird hierbei durch die Strategien eines visual othering erzeugt, in dem der Emigrant als äußerlich anders Gewordener dastehen kann. Insofern ließen sich die Filme auch in ihrer Funktion untersuchen, die Produktion von Migrationsandersheit als selbstaufwertende, aber aus vormals heimatlichen Gefügen desintegrierende Verfahren zu lesen. Die kameratechnischen Operationen fungierten hierbei als Medien der Fokussierung, der Hervorkehrung ästhetischer Materialität. Der Film Dönüş wurde hierbei als filmkulturhistorisch bedeutsamer Film herausgestellt, der in produktionstheoretische Überlegungen zur Herstellung der visuellen Stereotype ›Deutschländer‹ einbezogen wurde, die mit einem Ausblick auf weitergehende medientheoretische Fragen endeten. Für Kapitel 9 ließ sich festhalten, dass nationalistische Programme mit Wanderungsfigurationen dargestellter Figuren regelrecht ›spielen‹ und zwar so, dass die Aushandlung ideologischer Prämissen dadurch zuarbeitend gestützt oder überhaupt erst möglich wird. Migration ermöglicht diskursive Operationen, die über das Medium des Subjekts (Figuren) Dichotomien und Binarismen erzeugen, die essentiell für den diskursiven und politischen Standort sind. Migration wird darin als Konfiguration von Subjekten und (hier: nationalstaatlichen) Territorialisierungsprinzipien gedacht. Der theoretische Rekurs auf das Konzept »medialer Gouvernementalität« half, das Konzept der ›Identitätsmigration‹ als filmpolitisch angelegtes Modell für figurenbasierte Filme aus einem Kontext kommunikationswissenschaftlicher Vereinfachung zu lösen und die Verquickung von Medialität, Migration und Subjektivität von einem medientheoretischen Standpunkt aus zu denken, in dem die Fluidität der Verhältnisse zwischen Medien, Nutzer_innen und Inhalten in ihren gegenseitigen konstitutiven Bedingungen berücksichtigt wird.
Epilog: Gescheiterte Abreisen
Abbildung 71 – Standbild aus Baba (1971); Abbildung 72 – Standbild aus Almanya Aci Vatan (1979)
Hier nun sind wir wieder bei den Bildern vom ›siebten Mann‹: dem Stummen, dem Stimmlosen auf der einen Seite, der sich gegen etwas Abwesendes richtet (Abb. 71) und dem Sprechenden, dessen Worte aber scheinbar nicht vermittelt werden (Abb. 72). Blieb der konkrete erzählerische Kontext der beiden Standbilder bislang nur kurz artikuliert, sollen sie nun ihrem erzählerischen Kontext wieder zugeführt werden. Denn es sind diese beiden für den Diskurs zum ›türkisch Emigrationsfilm‹ der 1970er Jahre bedeutsamen Filme, die die Untersuchungen ausgespart haben. Einige der Gründe sollen als Desiderate und Anschlussmöglichkeiten für weitere Untersuchungen formuliert werden. Zuerst zum zweiten Standbild: Entnommen ist es aus einer Sequenz eines Emigrationsfilms, der im Kontext des Emigrationskinos eine ganz besondere Rolle spielt: Der erste Versuch im türkischen Film, das Thema Migration nach Deutschland über das Genre des Melodrama [sic!] hinaus mit einem sozialrealistischen Blick zu verknüpfen, ist Almanya Acı Vatan (1979) von Şerif Gören.1 Der 1979 unter der Regie des Yılmaz Güney-Schülers Şerif Gören entstandene Film erzählt, 1 Sungu (2017, S. 77).
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mit welchen Anstrengungen sich die Arbeiterin Güldane (Hülya Koçyiğit) und ihr Mann Mahmut (Rahmi Saltuk) an das moderne Leben in Deutschland anpassen und wie sie sich dabei verändern.2 Sicherlich gilt Almanya Acı Vatan gerade im Diskurs um das türkische Emigrationskino aufgrund seiner umfassenden Thematisierung des Lebens der türkischen Migrant_innen in Deutschland als zentraler Film jenes Genres. Mit seiner generell solidarischen Haltung mit der Arbeiter_innenklasse ist er zudem linkspolitisch motiviert. Die sozialrealistische Machart des Films knüpft an die frühen Filme des türkischen Sozialrealismus der 1960er Jahre an, wie sie beispielsweise Refiğ, Erksan und Göreç umgesetzt hatten. Aufgrund der Fokussierung des Lebens der Migrant_innen im Immigrationsland gilt das Drama als Ausnahme-Emigrationsfilm der 1970er Jahre und als frühester Ableger solcher Emigrationsfilme, die die widrigen Lebensumstände der Migrant_innen im Einwanderungsland zeigen. Das Standbild ist aus der vorletzten Sequenz des Films entnommen. Der Müllmann Polat spricht darin zur vor ihm stehenden Menge von Migrant_innen, nachdem er eine Medaille der Stadt für seine Arbeitsleistungen entgegengenommen hat. Er erzählt von seinen Lebensumständen; davon, dass er von den 1000 Mark, die er verdient, 600 Mark in die Türkei zu seiner Familie schickt, während er selbst von dem Rest in Deutschland zu leben versucht; davon, dass seine Mädchen in der Schule sehr fleißig seien, seine Söhne aber nicht; davon, dass ein schlauer Kerl ihm stets davon erzähle, dass die Arbeiter_innen für die schlechtesten und schwierigsten Arbeiten ausgenutzt würden, zumal ihnen demgegenüber ein geringeres Gehalt gezahlt würde. Zum Schluss von Polats Ausführungen fragt ihn der deutsche Repräsentant, was dieser tun werde, wenn er in seine Heimat zurückkehrt. Der Dolmetscher übersetzt die Frage des städtischen Repräsentanten, woraufhin Polat antwortet. »Was ich tun werde? Ich werde sterben.« »Das kann ich nicht übersetzen. Sag’ etwas Schönes.« »Warum solltest du das nicht übersetzen können? Außerdem haben sie nicht dich, sondern mich gefragt. Und ich sage es halt: Ich werde sterben. Dieser harten Arbeit hält doch kein Leben stand.« Der deutsche Repräsentant und die anwesende Menge applaudieren. Die Figur des Dolmetschers, die die Aussage des Müllmanns in der feierlichen Situation für unangemessen hält, fungiert als Filter, der die Aussage des Müllmanns zu unterdrücken versucht. Polat soll die Antwort, die in der feierlichen Situation negative Empfindungen freisetzen könnte, ändern. Der Müllmann lässt sich diese Weigerung nicht gefallen und insistiert in der Übersetzung seiner ursprünglichen Aussage, die die biomächtige Situation der Subalternen aufruft, die aufgrund der arbeitsmigrationspolitischen, invers kolonialen Situation dem Sterben überlassen sind.3 Die Frage nach der Repräsentation subalterner Subjekte findet hierdurch im Film seine unmittelbare Umsetzung, die damit Spivaks Frage nach der Hörbarkeit der Subalternen zugleich als Situation mehrfacher Unterdrückungsweisen ihres Sprechens aufwirft. Die Positionalität der Subjekte figuriert in der Bildlichkeit der drei Personen die soziale Anordnung von Deutschem, interkulturellem Vermittler und der betroffenen, quasi unhörbaren Person. 2 Sungu (2017, S. 78). 3 Vgl. Ha (2003). Zur Analyse der nekropolitischen Dimensionen staatlicher Überwachungspraktiken gegenüber der Einwanderungsbevölkerung in Deutschland siehe Topal (2011).
Epilog: Gescheiterte Abreisen
Zwar hat der Film diese Situation als Betroffenheitssituation angelegt, ersichtlich zum Beispiel an dem traurig klingenden, von einer Flöte gespielten Klassiker »Yemen Türküsü« (Jemen Lied). Die Arbeit jedoch hat sich von diesen bewegenden Betroffenheitsperspektiven, die in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur noch immer repräsentationskritisch abgewertet werden, nicht deswegen distanziert, um der befremdlichen Argumentationsdynamik wissenschaftlicher Ansätze zum deutsch-türkischen Kino zu folgen, nach welcher Problemfilme sichtbarkeitspolitisch generell problematisch sind. Die Analysen in Teil II interessierten sich wenig für die Dichotomie vom Kino der Hybridität und des cinema of the affected oder des cinema of duty, schlichtweg deswegen, da mit dieser Dichotomie von alten Betroffenheitsfilmen und neuen transkulturellen Filmen der Filmkultur weder in ihrem kulturhistorischen Kontext noch in ihren Repräsentationsregimen noch in ihren ästhetischen Gestaltungen gerecht zu werden war. Im konkreten Fall von Almanya Acı Vatan war dessen Ausklammerung nötig, weil der exklusive Status des Films, ihn eher zu den filmischen Verhandlungen der 1980er zurechnen lässt, die anderen Dynamiken folgen, als die im Untersuchungsschwerpunkt stehenden Filme der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Im zweiten Standbild zu Baba findet die Thematik der Sprachlosigkeit des ›siebten Mannes‹ eine andere Verhandlungsform: Die acht Prämigranten stehen gut gekleidet in einer Reihe, um die ärztliche Untersuchung über sich ergehen zu lassen (Abb. 73.1). Auch Cemal, der Mann mit geöffnetem Mund aus dem Standbild, ist unter ihnen und hofft nach Deutschland ausreisen zu können, um seiner Frau und seinen Kindern ihre Wünsche erfüllen zu können: ein Fahrrad und eine Mandoline für den Sohn und eine sprechende Puppe für die Tochter. Im Ärztezimmer fordert der deutsche Arzt nun die Männer auf, ihre Münder zu öffnen. Sehr genau blickt er, ein Kinn nach dem anderen greifend, in die Schlünde der Männer, auch in den von Cemal (Abb. 73.2). Nachdem er die Inspizierung beendet hat, tritt er von den Männern wieder ab. »Diese und Jene«. Diese Worte sprechend zeigt er mit dem Zeigefinger auf Cemal und einen anderen Mann. Die türkischsprechende Arzthelferin bittet die beiden Männer, nach vorne zu treten und teilt ihnen mit, dass sie nur nach Deutschland emigrieren dürfen, wenn sie ihre fehlenden Zähne machen lassen. Cemal entgegnet mit dem Hinweis, dass er doch ein ärztliches Gutachten seiner Regierung habe und dass er nicht wisse, wie er so schnell so viel Geld für neue Zähne auftreiben soll. Die anderen Anwärter fordern Cemal auf, nicht weiter zu insistieren, »weil sie fürchten, dass Cemal durch seine Nachfragen den Arzt verstimmen könnte. Der deutsche Arzt bricht die Diskussion rüde ab: ›Nicht viel sprechen, alle ausziehen!‹«4 Die Emigration in Baba scheitert. Cemal, gespielt vom Regisseur Güney selbst, wird die Situation nicht gut meistern können. Nahezu traumatisiert blickt er mit geöffnetem Mund in einen Spiegel im türkischen Café und wird wenig später mit einem Messer in der Hand die eigenen Freunde dort damit bedrohen, dass er einem von ihnen den Zahn rausschneidet, um sein Gebiss reparieren zu können. Ein Filmschnitt auf eine Schießerei in einem gazino unterbricht die Szene. Der Sohn des Villenbesitzers, für den Cemal arbeitet, erschießt einen Mann. Ein erneuter Schnitt führt zum Keller der von Cemal als Hausmeister betreuten Villa. Dort angekommen, 4 Sungu (2017, S. 77).
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begibt Cemal sich von der Ehefrau angeleitet ins Bett. Trotz seiner in der Teestube geäußerten Drohung, hat er niemanden verletzt. Am nächsten Tag wird Cemal eine fatale Entscheidung treffen. Er soll für den Sohn des wohlhabenden Villenbesitzers jenen am Abend begangenen Mord auf sich nehmen. Gegen eine hohe Bezahlung willigt Cemal ein und entscheidet sich damit dafür, für mehrere Jahre ins Gefängnis zu gehen. Das ist erst der Beginn der Familientragödie: Nach Haftantritt wird der Sohn des Villenbesitzers Cemals Frau vergewaltigen. Cemals Mutter stirbt wenig später. Seine Tochter muss sich prostituieren und der Sohn schließt sich den dunklen Drogengeschäften des Villenbesitzersohns an: Das ist das Panorama der Hinterlassenschaft, dem Cemal nach der Haftentlassung begegnet. Die »politics of space«5 des Films nehmen die Raumpolitiken des durch Betroffenheitsperspektiven gekennzeichneten Emigrationskinos auf, die das Leben im Ausland als Gefangenschaft und unbestimmt aufgeschobene Heimkehr zeigen. Die Abwesenheit der Emigration wird im Film mit der Abwesenheit des Gefängnisaufenthalts parallelisiert. Güney, aufgrund seines markanten Aussehens als çirkin kral (»der hässliche König«) bekannt, wusste aufgrund seines grimmigen Aussehens den Mythos vom gutaussehenden Helden in seinen oft auch als Antiheld angelegten Rollen zu irritieren. Mit Baba greift Güney, einer der international bekanntesten Regisseure der Türkei, auf die Figur des Arbeitsemigranten zurück, um darin seine gesellschaftsund kapitalismuskritischen Überlegungen unterzubringen.6 Hamid Naficy spricht in diesem Zusammenhang und auch mit dezidiertem Bezug auf die Arbeiten Güneys von »Chronotopes of Imagined Homeland«, konkret vom »Homeland as Prison«7 .
Abbildung 73.1-2 – Standbilder aus Baba (1971)
Mit der Kenntnis von Kapitel 9 lässt sich der filmhistorische Kontext von Yılmaz Güneys Film Baba (1971) um einen gescheiterten Emigrationskandidaten genauer spezifizieren. Der Film gehört nämlich ebenfalls zu einer türkischen Filmprogrammatik der 1960er und 70er Jahre, die im deutschsprachigen Raum als »militantes Kino« und in der türkischsprachigen Filmwissenschaft als devrimci sinema (»revolutionäres Kino«) bekannt ist. Im Gegensatz zu Çakmaklı oder Refiğ hat Güney (eigentlich Yılmaz Pütün) keinen Gründungstext oder anderweitige Texte verfasst, die auf sein Kino konzeptuell 5 Mennel (2010). 6 Sungu (2017). 7 Naficy (2001, S. 181).
Epilog: Gescheiterte Abreisen
oder begrifflich kohärent im Sinne einer Bezeichnung Bezug nehmen. Die linksintellektuellen Filmkritiker_innen, die gerade von Refiğ und Çakmaklı als Antagonist_innen ersehen wurden, waren unter anderem solche Akteur_innen, mit denen Güney zusammenarbeitete. Güneys Programmatik lässt sich als eine verstehen, die die Arbeiter_innenklasse und gesellschaftskritische Schwierigkeiten mit Kurd_innen ins Zentrum stellt – insoweit wie die Zensur ihm Raum dazu lässt. Es ist bekannt, dass der Kurde Güney, seine gesellschaftskritischen Überlegungen auch aus dem Exil in Paris heraus in seine filmischen Arbeiten einfließen lässt, bevor er 1984 in der französischen Hauptstadt einem Krebsleiden erliegt. Wie eng die filmprogrammatischen Bemühungen der 1960er und 70er Jahre auch zeitlich zueinanderstehen, zeigt sich daran, dass der als Gründungsfilm des ›revolutionären Kinos‹ betrachtete Güney-Film Umut (»Hoffnung«) (1970)8 um den Leidensweg eines verarmten Holzkutschers ausgerechnet Refiğs ulusal sinema-Werk schlechthin, Bir Türke Gönül Verdim, auf dem Adana Altın Koza Filmfestival beim Hauptpreis für den besten Film aussticht. Die Arbeit hat diese beiden zentralen Filme (Almanya Acı Vatan und Baba) wie viele andere wichtige der Untersuchung ausharrenden Werke bewusst ausgespart.9 Sie zu einem berechtigten Teil dieser Arbeit zu machen, hätte bedeutet, der Filmprogrammatik des devrimci sinema (»revolutionäre Kino«) zu folgen. Das devrimci cinema jedoch folgt ganz anderen Dynamiken als einer durch Emigration getragenen Umsetzung einer ideologischen Programmatik. Andererseits hätte die Inklusion späterer Filme wie Almanya Acı Vatan, die sich hauptsächlich dem Emigrationsland widmen, bedeutet, die umfassenden Heimkehr- und Abwesenheitsfigurationen zu vernachlässigen, die aufgrund ihrer Unterschätzung im Diskurs dann aber wieder der Vergessenheit anheimgefallen wären. Einen Schluss mit diesen Hinweisen nach den umfassenden Desideraten in dem Feld zu versehen ist vielleicht weniger in seiner rhetorischen Funktion des Hinweisens als des Aufforderns aufzufassen. Die Hoffnung mit dieser von Pionierimpulsen und medientheoretischer Erneuerungslust getriebenen Arbeit war es stets, künftigen filmund kulturwissenschaftlichen Forschungen zur Migration in Deutschland einen Weg zu bereiten: immer mit dem Ziel vor Augen, dass den Leser_innen dieser Arbeit ein sinnliches, aufmerkendes Aufeinanderzugehen in künftigen transkulturellen Kontakten möglich wird. Ausgehend von dieser Motivation ist die Aufforderung zugleich auch ein Aufruf nach einer Fortsetzung des Projekts von der mindestens polyzentrisch gedachten Geschichtsschreibung türkisch-deutscher und anderer Migrationen im Film. In den stummen, schwarzen, bildlichen Schluchten des geöffneten Mundes des siebten Mannes aus Baba, finden sich die sprachlos gebliebenen unzähligen Filme migrantischer Filmkultur in Deutschland, der Türkei und anderer Teile der Welt versinnbildlicht. Den Blick in diesem Schlund nicht zu verlieren und ihn stattdessen in die Welt der Bilder der Migrationsfilme zu entsenden, heißt zugleich den stumm gebliebenen Schreien der ›siebten Menschen‹ ihre selbstbewusste Tonalität zu verleihen…
8 Güney (1970). 9 Siehe Filmliste.
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Filmverzeichnis
Akad, Ömer Lütfi. 1949. Vurun Kahpeye. Akad, Ömer Lütfi. 1952. Kanun Namına. Akad, Ömer Lütfi. 1955. Beyaz Mendil. Akad, Ömer Lütfi. 1971. Bir Teselli Ver. Akın, Fatih. 1998. Kurz und Schmerzlos. Akın, Fatih. 2004. Gegen die Wand. Akın, Fatih. 2005. Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul. Akın, Fatih. 2007. Auf der anderen Seite. Akın, Fatih. 2009. Soul Kitchen. Akın, Fatih. 2014. The Cut. Akın, Fatih. 2016. Tschick. Akın, Fatih. 2017. Aus dem Nichts. Akıncı, Nuri. 1977. Alman Gelin. Akkuş, Sinan. 2008. Evet, ich will! Akkuş, Sinan. 2015. 3 Türken und ein Baby. Aksoy, Orhan. 1974. Almanyalı Yarim. Aladağ, Züli. 2006. Wut. Aladağ, Züli. 2015. 300 Worte Deutsch. Aladağ, Züli. 2016. Die Opfer – Vergesst mich nicht. Alakuş, Buket. 2001. Anam. Alakuş, Buket. 2014. Einmal Hans mit scharfer Sosse. Alakuş, Buket. 2015. Die Neue. Alakuş, Buket. 2016. Der Hodscha und Frau Piepenkötter. Alasya, Zeki. 1983. Dönme Dolap. Algül, Hakan. 2012. Berlin Kaplanı. Alpaslan, Mümtaz. 1985. Güllü Kız. Antel, Franz. 1965. Ruf der Wälder. Antonioni, Michelangelo. 1966. Blow Up. Arıburnu, Orhon M. 1951. Sürgün. Arslan, Thomas. 1997. Geschwister. Arslan, Yılmaz. 1998. Yara.
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Arslan, Thomas. 1999. Dealer. Arslan, Thomas. 2001. Der schöne Tag. Avaz, Ali. 1988. Alman Avrat 40 Bin Mark. Avaz, Ali. 1990. Alman Avratın Bacısı. Başer, Tevfik. 1985. 40 m² Deutschland. Başer, Tevfik. 1989. Abschied vom falschen Paradies. Baumann, Michael. 2013. Willkommen bei Habib. Bavaria Media GmbH. 2005-2007. Alle lieben Jimmy. Baytan, Natuk. 1978. Yıkılış. Baytan, Natuk. 1981. Üç Kağıtçı. Baytok, Tuncer. 1987. Geyikler, Annem ve Almanya. Beauvais, Peter. 1968. Der Unfall. Becker, Lars. 2000. Kanak Attack. Benjamin, Bijan. 2007. Zelle. Bochert, Marc-Andreas. 2015. Krüger aus Almanya. Bohm, Hark. 1988. Yasemin. Braak, Isabel. 2016. Plötzlich Türke. Çakmaklı, Yücel. 1971. Birleşen Yollar. Çakmaklı, Yücel. 1972. Çile. Çakmaklı, Yücel. 1973. Oğlum Osman. Çakmaklı, Yücel. 1974. Kizim Ayşe. Çakmaklı, Yücel. 1974. Memleketim. Çakmaklı, Yücel. 1978. Bağrıyanık Ömer ile Güzel Zeynep. Çelik, Neco. 2002. Alltag. Çelik, Neco. 2015. Schweinemilch. Çetin, Sinan. 1993. Berlin in Berlin. Chaplin, Charles. 1940. Der grosse Diktator. Cossen, Florian. 2016. Die Ermittler – Nur für den Dienstgebrauch. Dağ, Umut. 2012. Kuma. Dağ, Umut. 2014. Risse im Beton. Dağtekin, Bora. 2006-2008. Türkisch für Anfänger. DeMille, Cecil B. 1956. Die zehn Gebote. Dinler, Mehmet. 1973. Kara Toprak. Edel, Uli. 2010. Zeiten ändern Dich. Eğilmez, Ertem. 1980. Banker Bilo. Elçi, Ismet. 1990. Düğün. Elmas, Orhan. 1987. Alamancının Karısı. Ergün, Ekrem. 2015. Hördur. Erksan, Metin. 1952. Karanlık Dünya. Erksan, Metin. 1963. Susuz Yaz. Figenli, Yavuz. 1972. Vahşi Arzu. Fischer, Elmar. 2003. Fremder Freund. Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye]. 2003. Karamuk. Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye]. 2004. Saniyes Lust. Freytag, Verena S. [Günar, Sülbiye]. 2011. Abgebrannt.
Filmverzeichnis
Gförer, Jörg. 1986. Günter Wallraff: Ganz unten. Göreç, Ertem. 1961. Otobüs Yolcuları. Gören, Şerif. 1979. Almanya Acı Vatan. Gören, Şerif. 1988. Polizei. Gören, Şerif und Yılmaz Güney. 1982. Yol. Gültekin, Sırrı. 1962. Gurbet Yolcuları. Gültekin, Sırrı. 1975. Öfkenin Bedeli. Günay, Enis und Rasim Konyar. 1988. Vatanyolu – Die Heimreise. Güney, Yılmaz. 1970. Umut. Gürsu, Temel. 1975. Baldız. Gürsu, Temel. 1978. Batan Güneş. Holtz, Stefan. 2006. Meine verrückte türkische Hochzeit. Horman, Sherry. 2019. Nur eine Frau. Horst, Hartmut und Eckart Lottmann. 1986. Aufbrüche. İnanç, Çetin. 1985. Kara Şimşek. İpekçi, Handan. 2007. Saklı Yüzler. Karim, Mohamed. 1936. Dumu al-hubb. Kassovitz, Matthieu. 1995. La Haine. Kavur, Ömer. 1985. Amansız Yol. Kaya, Cüneyt. 2013. Ummah. Unter Freunden. Kaya, Cem. 2014. Remix, Remake, Rip-Off. Keglevic, Peter. 1979. Zuhaus unter Fremden. Ketche und Can Ulkay. 2019. Müslüm. Kızıltan, Özer. 2006. Takva. Koller, Xavier. 1990. Reise der Hoffnung. Kosova, Günay. 1975. Çikolata Tarlası. Kren, Marvin. 2017-. 4 Blocks. Kurçenli, Yusuf. 1984. Ölmez Ağacı. Kürten, Berno. 2011. Liebeskuss am Bosporus. Kurtiz, Tuncel. 1979. Gül Hasan. Kutlucan, Hussi. 1998. Ich Chef, du Turnschuh. Ley, Raymond. 2016. Letzte Ausfahrt Gera – Acht Stunden mit Beate Zschäpe. Maus, Andreas. 2016. Der Kuaför aus der Keupstrasse. Murnberger, Wolfgang. 2011. Kebab mit alles. Okan, Tunç. 1976. Otobüs. Okan, Tunç. 1987. Mercedes Mon Amour (Sarı Mercedes). Ökten, Zeki. 1984. Pehlivan. Olgaç, Bilge. 1984. Yavrularım. Özer, Muammer. 1984. Kardeş Kanı/Splettring. Peckinpah, Sam. 1971. Straw Dogs. Pekmezoğlu, Oksal. 1974a. Almanya’da Bir Türk Kızı. Pekmezoğlu, Oksal. 1974b. Beş Tavuk Bir Horoz. Qurbani, Burhan. 2010. Shahada. Qurbani, Burhan. 2014. Wir sind jung. Wir sind stark. Refiğ, Halit. 1962. Şehirdeki Yabancı.
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Refiğ, Halit. 1964. Gurbet Kuşları. Refiğ, Halit. 1969. Bir Türke Gönül Verdim. Refiğ, Halit. 1972. Acı Zafer. Şamdereli, Yasemin. 2002. Alles getürkt! Şamdereli, Yasemin. 2011. Almanya – Willkommen in Deutschland. Sanders-Brahms, Helma. 1976. Shirins Hochzeit. Saner, Hulki. 1966. Turist Ömer Almanya’da. Saul, Anno. 2004. Kebab Connection. Schaller, Stefan. 2013. 5 Jahre Leben. Schwochow und Christian. 2016. Die Täter – Heute ist nicht alle Tage. Seriner, Yaşar. 1990. Kiraz Çiçek Açıyor. Shahid Saless, Sohrab. 1973. In der Fremde. Sjöström, Victor. 1917. Tösen från Stormyrtorpet. Sorak, Ömer Faruk. 2015. 8 Sekunden. Şoray, Türkan. 1972. Dönüş. Stemmle, Robert A. 1952. Toxi. Swobodnik, Sobo. 2017. 6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage – Die Morde des NSU. Tabak, Hüseyin. 2012. Das Pferd auf dem Balkon. Thurn, Hansjörg. 2015. Ein Fisch namens Liebe. Tibet, Kartal. 1978. Sultan. Tibet, Kartal. 1981. Davaro. Tibet, Kartal. 1985a. Gurbetçi Şaban. Tibet, Kartal. 1985b. Katma Değer Şaban. Tuna, Feyzi. 1975. Ana Kurban Can Kurban. Turgul, Yavuz. 1987. Muhsin Bey. Turgul, Yavuz. 1996. Eşkıya – The Bandit. Uçanoğlu, Yücel. 1984. Gurbet. Ulbricht, Marcus. 2013. Schlaflos in Istanbul. Ün, Memduh. 1958. Üç Arkadaş. Ün, Memduh. 1972. Üç Arkadaş. Ün, Memduh. 1984. Postacı. Üngör, Ali Levent. 2012. Mevsim Çiçek Açtı. Verbong, Ben. 2010. Takiye – In Gottes Namen. Vertov, Dziga. 1929. Der Mann mit der Kamera. Visconti, Luchino. 1961. Rocco und seine Brüder. Wacker, Torsten. 2004. Süperseks. Willbrandt, Nils. 2015. Leberkäseland. Winner, Michael. 1974. Death Wish. Wirth, Franz Peter. 1961. Bis zum Ende aller Tage. Yapo, Mennan. 2007. Premonition. Yavuz, Yüksel. 1998. Aprilkinder. Yıldırım, Özgür. 2008. Chiko. Yıldırım, Özgür. 2011. Blutzbrüdaz. Yılmaz, Atıf. 1966. Ah Güzel Istanbul. Yılmaz, Atıf. 1978. Kibar Feyzo.
Filmverzeichnis
Yurtsever, Korhan. 1979. Kara Kafa. Zübert, Christian. 2011. Dreiviertelmond.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Photographie, Quelle: Berger und Mohr, »Arbeitsemigranten« (1975), S. 42 Abbildung 2: Standbild aus Baba (1971) Abbildung 3: Standbild aus Almanya Aci Vatan (1979) Abbildung 4.1: Standbild aus Shirins Hochzeit (1976) Abbildung 4.2: Standbild aus 40 m² Deutschland (1985) Abbildung 4.3: Standbild aus Abschied vom falschen Paradies (1988) Abbildung 4.4: Standbild aus Yasemin (1988) Abbildung 4.5: Standbild aus Anam (2001) Abbildung 4.6: Standbild aus Der schöne Tag (2001) Abbildung 4.7: Standbild aus Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) Abbildung 4.8: Standbild aus 8 Sekunden (2015) Abbildung 4.9: Standbild aus Einmal Hans mit scharfer Sosse (2014) Abbildung 5.1-4: Standbilder aus Aufbrüche (1985) Abbildung 6.1-2: Standbilder aus 40 m² Deutschland (1985) Abbildung 7.1-2: Standbilder aus Der schöne Tag (2001) Abbildung 8: Inhaltsverzeichnis, Quelle: Arslan, »Cinema in Turkey: A New Critical History« (2010) Abbildung 9.1: Buchcover, Dönmez-Colin, »Routledge Dictionary of Turkish Cinema« (2014) Abbildung 9.2: Fotografie zum Film »Once Upon A Time in Anatolia« (2001), Quelle: https://www.nuribilgeceylan.com/movies/anatolia/photos/poster-yatayhome.jpg Abbildung 10.1: Standbild aus Aci Zafer (1972) Abbildung 10.2: Standbild aus Alamancinin Karisi (1985) Abbildung 10.3: Standbild aus Davaro (1981) Abbildung 10.4: Standbild aus Mercedes Mon Amour (1987) Abbildung 10.5: Standbild aus Amansiz Yol (1985) Abbildung 10.6: Standbild aus Dönüş (1972) Abbildung 10.7: Standbild aus Kiraz Çiçek Açiyor (1990) Abbildung 10.8: Standbild aus Almanya’da Bir Türk Kizi (1974) Abbildung 10.9: Standbild aus Güllü Kiz (1985) Abbildung 10.10: Standbild aus Bir Umut Uğruna (1991)
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Die visuelle Kultur der Migration
Abbildung 10.11: Standbild aus Ana Kurban Can Kurban (1975) Abbildung 10.12: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 11.1-28: Standbilder aus Davaro (1981) Abbildung 12: Standbild aus Davaro (1981) Abbildung 13.1-12: Standbilder aus Kara Toprak (1973) Abbildung 14.1-12: Standbilder aus Kara Toprak (1973) Abbildung 15: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 16: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 17: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 18.1-32: Standbilder aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 19.1-2: Standbilder aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 20: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 21: Standbild aus Aci Zafer (1972) Abbildung 22: Standbild aus Baldiz (1975) Abbildung 23: Standbild aus Kara Toprak (1973) Abbildung 24.1-3: Standbilder aus Aci Zafer (1972) Abbildung 25.1-6: Standbilder aus Kara Toprak (1973) Abbildung 26: Standbilder aus Baldiz (1975) Abbildung 27.1-15: Standbilder aus Öfkenin Bedeli (1973) Abbildung 28.1-4: Standbilder aus Vahşi Arzu (1972) Abbildung 29.1-2: Standbilder aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 30.1-12: Standbilder aus Aci Zafer (1972) Abbildung 31: Setfoto von Dönüş (1972), Quelle: Şoray, »Sinemam ve Ben« (2012) Abbildung 32: Setfoto, Quelle: Şoray, »Sinemam ve Ben« (2012) Abbildung 33: Illustration aus Ernst Mach »Antimetaphysische Vorbemerkungen«, Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Mach#/media/Datei:Ernst_Mach_Innenperspektive.png Abbildung 34.1-20: Standbilder aus Dönüş (1972) Abbildung 35.1-3: Standbilder aus Dönüş (1972) Abbildung 36.1-2: Standbilder aus Almanya’da Bir Türk Kizi (1974) Abbildung 37.1-32: Standbilder aus Almanya’da Bir Türk Kizi (1974) Abbildung 38.1-2: Standbilder aus Katma Değer Şaban (1985) Abbildung 39: Eigene Illustration, Positionsübersicht zur Begegnungsszene aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) Abbildung 40: Standbild aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) Abbildung 41: Standbild aus Almanya’da Bir Türk Kızı (1974) Abbildung 42.1-2: Lacans Schemata von Auge und Blick, Quelle: https://lacan-entziffern.de/trieb/obertitel-lacans-schemata/ Abbildung 43: Albrecht Dürer, »Der Zeichner der Laute« (1525), Quelle: https://de. wikipedia.org/wiki/Datei:358durer.jpg Abbildung 44: nazar boncuğu (nazar-Stein), Quelle: https://www.needpix.com/photo/ download/49211/nazar-amuletamulet-nazar-bad-look-blue-black-eye-eye-trailerssouvenir Abbildung 45.1-2: Standbilder aus Dönüş (1972) Abbildung 46.1-8: Standbilder aus Memleketim (1975)
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 47.1-4: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 48.1-4: Standbilder aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 49: Standbild aus Memleketim (1975) Abbildung 50.1-2: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 51.1-3: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 52.1-4: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 53.1-2: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 54.1-4: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 55: Standbild aus Memleketim (1975) Abbildung 56.1-2: Standbilder aus Memleketim (1975) Abbildung 57: Filmposter (Malerei) zu Memleketim (1975), Quelle: o.A. Abbildung 58: Filmposter (Collage) zu Memleketim (1975), Quelle: http://sinematek.tv/ memleketim/ Abbildung 59: Detailaufnahme aus Filmposter (Malerei) zu Memleketim (1975) Abbildung 60.1-4: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 61.1-3: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 62.1-2: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 63.1-2: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 64.1-2: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 65.1-3: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 66.1: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 66.2: Standbild aus Memleketim (1975) Abbildung 67: Standbild aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 68.1-3: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 69.1-2: Standbilder aus Bir Türke Gönül Verdim (1969) Abbildung 70.1-2: Standbilder aus Oğlum Osman (1973) Abbildung 71: Standbild aus Baba (1971) Abbildung 72: Standbild aus Almanya Aci Vatan (1979) Abbildung 73.1- 2: Standbilder aus Baba (1971)
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Medienwissenschaften Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)
Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0
Susan Leigh Star
Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5
Geert Lovink
Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9
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Medienwissenschaften Winfried Gerling, Susanne Holschbach, Petra Löffler
Bilder verteilen Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur 2018, 290 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 31 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4070-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4070-4
Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)
Zeitschrift für Medienwissenschaft 19 Jg. 10, Heft 2/2018: Faktizitäten / Klasse 2018, 256 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4097-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-4097-1 EPUB: ISBN 978-3-7328-4097-7
Ramón Reichert, Mathias Fuchs, Pablo Abend, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 4, Issue 1/2018 – Rethinking AI: Neural Networks, Biometrics and the New Artificial Intelligence 2018, 244 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4266-7 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4266-1
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