Die Bundesrepublik: Eine visuelle Geschichte 3806246157, 9783806246155

Geschichte produziert Bilder, Bilder machen Geschichte. Denken wir an deutsche Geschichte der letzten 75 Jahre, so stürz

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German Pages 598 [602] Year 2023

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)
Auftragsfoto: Bonn, 23.5.1949
Braune Relikte: (Nach-)Bilder von Nationalsozialismus und Krieg
Zweite Chance: Umgang mit den visuellen Erblasten der Vergangenheit
Transparenz und Sachlichkeit: Die Präsentation der jungen Republik
„Demokratie als Bauherr“: Selbstdarstellung in Architektur und Staatsbesuch
Medienkanzler: Die Repräsentation der Repräsentanten
Händedruck – Gebet – Umarmung – Kniefall: Pathosformeln der Politik
Vom ‚Negative Campaigning‘ zum Kampf der Gesichter: Das politische Plakat
Wahlplakat: Der Bolschewik
Von dekorativer Abstraktion zum Stammheim-Zyklus: Die bildende Kunst
Historiengemälde 1.0: Herr Heyde und Tante Marianne
Das fotografische Gesicht der Republik: Von der Dokumentations- zur ‚Knipserfotografie‘
Kompositfotografie: Andreas Gursky, Bundestag, Bonn
Vom Heimatfilm zum ‚Neuen Deutschen Film‘: Bundesdeutsche Kinowelten
Vom Zuschauer zum Teleflaneur: Der Aufstieg des Fernsehens
„Fenster zur Welt“: Vom Bildungsfernsehen zum Entertainment
Parallelwelten: „Fernsehwirklichkeit“ und Leben aus zweiter Hand
Vom Mauerbau zu den Spielen von München: Fernsehereignisse der ‚Bonner Republik‘
Holocaust und Heimat: Großereignisse des fiktionalen Fernsehens
Kultfilm: Heimat – Eine deutsche Chronik
Eichmänner, Wohlstandssymbole, neue Geschlechterbilder: Zur Ikonografie der Bilderwelten der ‚Bonner Republik‘
Täter und Taten: Der Holocaust in der visuellen Erinnerung
Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsheimkehrer: Die Ästhetik von Verlust und Opfer
Stacheldraht, Mauern, Durchlässe: Zur Ikonografie des Totalitarismus
Ikone der deutschen Teilung: Tod an der Mauer
Rauchende Schlote, Fortschrittseier und harte Mark: Ikonen des ‚Wirtschaftswunders‘
Fortschrittsikone: Das Atom-Ei von Garching
Zwischen HB-Männchen und Afri-Cola-Rausch Bilderwelten der Werbung
Werbeikone: Das HB-Männchen
„A Star is Born“: Popkulturelle Bilderwelten
Von der Heiligen Elisabeth zur Emma: Wandel der Geschlechterbilder und -praxen
Comicfigur: Die BILD-Lilli
Krisen, Affären, Skandale: Risse im Bild des ‚Wirtschaftswunders‘
Die Ölkrise von 1973: Bilder der Stille
Saurer Regen – mörderisches Atom: Anfänge der ‚Öko-Ikonografie‘
Genf und Gladbeck: Bilder einer Politikaffäre und eines Medienskandals
Titelbild: Der Tote in der Badewanne
Körper als Medium: Die visuelle Protestkultur der 68er
Inszenierung einer Ikone: Der Rückenakt der K1
Deutscher Herbst 1977: Bildermaschine RAF
Die Maueröffnung, die Bilder und das Ende einer Epoche: Bilder als Mauerbrecher
II. Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021)
Symbolbild: Das Selbstverständnis der Republik
Zwischen ‚neuer Prächtigkeit‘ und Spaßkultur: Die Ästhetik der ‚Berliner Republik‘
Damnatio memoriae: Der Ikonoklasmus der Wendezeit
‚Neue Prächtigkeit‘: Die präsentativen Neubauten der ‚Berliner Republik‘
Ikone der Demokratie: Der verhüllte Reichstag
High und Hossa: Zur Ästhetik der ‚Bunten Republik Deutschland‘
Im Bilde sein: Bilderpolitiken der präsentativen Demokratie
Kohl – Schröder – Merkel: Zwei Medienkanzler und eine -kanzlerin
Fotografie: Allein unter Männern – Merkel und die: Fischer von Lobbe
Politainment: Unterhaltende Politik – politische Unterhaltung
Toxische Öffentlichkeit: Die Bildunfälle der Herren Scharping und Laschet
BilderMacht: Schockbilder in der Politik
Digitalisierung und Diversifizierung: Bilder und Bildermedien der ‚Berliner Republik‘
Pixel und Tafelbild: Bildende Kunst – Aktionskunst – Kunstfotografie
Kunstaktion: ‚BYE, BYE‘ – die Medien-Kunst-Aktion des Michael Schirner
Von Handys und Selfies: Visuelles Kommunizieren in Alltag und Journalismus
Von bewegten Männern und dem Leben der Anderen: Das Kino der ‚Berliner Republik‘
Live, Reality, Doku: Das neue Fernsehen
„Infektionsbild“ 9/11: Massenmord im Live-Format
Public Viewing und YouTube: Neue Formen des Schauens und Zeigens
Allgegenwärtige Augen: Auf dem Weg in die panoptische Gesellschaft
Piktogramm: Das Video-Auge der BVG
Kriege, Krisen, Katastrophen: Zur Ikonografie der ‚Berliner Republik‘
„Blühende Landschaften“: Fallstricke der Wahlwerbung
Fadenkreuze – Sargfotos: Die neuen/alten Bilder des Krieges
Von „vollen Booten“ und einer „Willkommenskultur“: Bilder der Flüchtlingskrisen
Selfie: Schakir und Angela – Das Selfie der ‚Willkommenskultur‘
Ausschreitungen, Anschläge, Attentate: Ikonen des Hasses
Medienereignis ‘92: Rostock-Lichtenhagen
Symbolbilder und die Gesichtslosigkeit des Leids: Die Coronakrise
Bilddiskurse – Bilderstreits: Kämpfe um Sichtbarkeit
Krieg und Diktatur im Fokus: Bilddiskurse um die Erinnerung
Gender & Diversity: Die neuen Bilddiskurse zu Vielfalt und Identität
Der neue Bilderkampf: Kultur im Fokus
Großer Zapfenstreich: Bilder vom Ende einer Ära
III. Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.)
Pressefoto: Unter wilden Augen
Zwischen Aktentasche und Regenbogen: Zur Ästhetik und Ikonografie der ‚Ampelrepublik‘
„Das war’s!“: Imageprobleme der Regierung Scholz
Agenturfoto: „Der Bückling von Katar“
Die Regenbogen-Republik: Regenbogen und Diversity
Die „Ampelkalypse“: Bilder und Bildpraxen in Krieg, Krise und Kultur
Blau-gelb: Die neue Allgegenwart der Kriegsbilder
„Schwarz-Rot-Kalt“: Zur Ikonografie der multiplen Krise
Immersion und Visual Correctness: Neue Bilderpraxen in Kultur und Publizistik
‚Letzte Generation‘: Zur Protestästhetik des Klimaaktivismus‘
Anhang
Endnoten
I. Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)
II. Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021)
III. Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.)
Literatur
Monografien, Sammelbände, Bildbände/Ausstellungskataloge, Aufsätze in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften (auch Online)
Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften, Online-Portalen
Bildnachweis
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Die Bundesrepublik: Eine visuelle Geschichte
 3806246157, 9783806246155

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In drei großen Blöcken schreibt Gerhard Paul zum 75. Jahrestag ihrer Gründung die umfassende Bild­ geschichte der Bundesrepublik: Bonner Republik – ­Berliner Republik – Ampelrepublik. Was sind die Bilder, die ­unsere Geschichte repräsentieren? Wie präsentierte sich die deutsche Politik, die sich wandelnde Gesellschaft? Was prägte unser visuelles Gedächtnis? Das opus magnum des Altmeisters der Visual History Gerhard Paul.

ISBN 978-3-8062-4615-5

Einbandabbildungen: siehe Bildnachweis im Buch Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

€ 60,00 [D] € 61,70 [A]

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DIE BUNDESREPUBLIK

Geschichte produziert Bilder, Bilder machen Geschichte. Denken wir an deutsche Geschichte der letzten 75 Jahre, stürzt eine Flut von Bildern auf uns ein: von den grauen Trümmerbildern der Nachkriegszeit und der betonten Bescheidenheit der Bonner Republik über die schrille Buntheit der 60er- und 70er-Jahre bis zur neu gestalteten Berliner Hauptstadt und der ganzen Diversität unseres heutigen Landes.

EINE VISUELLE GESCHICHTE

75 JAHRE IN ÜBER 500 BILDERN …

GERHARD PA U L

© PRIVAT

Der Historiker Gerhard Paul ist in Deutschland geradezu der Pate der Visual History. Er hat grundlegende Werke zur Bildergeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben (Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Matrosenanzug und Davidstern. Bilder jüdischen Lebens aus der Provinz, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Das visuelle Zeitalter. Punkt & Pixel, Bilder einer ­Diktatur. Zur Visual History des ‚Dritten Reiches‘). Als sein opus magnum erscheint zum 75. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik deren große Bildgeschichte.

G E R H A R D PA U L

DIE BUNDESREPUBLIK EINE VISUELLE GESCHICHTE

75 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik 1949 blicken wir auf eine vielfältige Geschichte zurück. Wir fragen: Wie präsentierte sich die Politik, wie die Gesellschaft, die Kultur in diesen Jahrzehnten? Was sind die Bilder, die unsere Geschichte repräsentieren? Welche Geschichte erzählen sie? Vom offiziellen Foto der Unterzeichnung des Grundgesetzes Katholizismus – Revolution – der Bundesrepublik in Bonnunter im diesen ­Nationalsozialismus: beschreibt Guillaume Mai 1949Leitbegriffen bis zu den Attacken der die Phasen „LetztenPayen Generation“ aufvon dasHeideggers Leben. Ein kompromissloser Grundgesetz-Denkmal in Berlin machte im März Katholizismus 2023 breitet der Bandnach dem Ersten Weltkrieg einem heftigen die „Visuelle Geschichte“ der Streben nach philosophischer ­Republik in faszinierender VielRevolution Platz – ein Boden, auf falt vor unseren aus. dem der Augen Nationalsozialismus tiefe Wurzeln schlagen konnte. Diese Biographie wurde mit dem Prix Maurice Baumont der Académie des Sciences Morales et Politiques ausgezeichnet.

Gerhard Paul

Die Bundesrepublik

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DIE BUNDESREPUBLIK EINE VISUELLE GESCHICHTE

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

I. Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989) Auftragsfoto: Bonn, 23.5.1949. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Braune Relikte (Nach-)Bilder von Nationalsozialismus und Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zweite Chance Umgang mit den visuellen Erblasten der Vergangenheit. . . . . . . . . . . . . . . 31 Transparenz und Sachlichkeit Die Präsentation der jungen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 „Demokratie als Bauherr“  Selbstdarstellung in Architektur und Staatsbesuch. . . . . . . . . . . . . . . . 39 Medienkanzler Die Repräsentation der Repräsentanten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Händedruck – Gebet – Umarmung – Kniefall Pathosformeln der Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

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Inhalt

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Vom ‚Negative Campaigning‘ zum Kampf der Gesichter Das politische Plakat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Wahlplakat: Der Bolschewik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Von dekorativer Abstraktion zum Stammheim-Zyklus Die bildende Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Historiengemälde 1.0: Herr Heyde und Tante Marianne. . . . . . . . . . . . .81

Das fotografische Gesicht der Republik Von der Dokumentations- zur ‚Knipserfotografie‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Kompositfotografie: Andreas Gursky, Bundestag, Bonn. . . . . . . . . . . . 92

Vom Heimatfilm zum ‚Neuen Deutschen Film‘ Bundesdeutsche Kinowelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Vom Zuschauer zum Teleflaneur Der Aufstieg des Fernsehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 „Fenster zur Welt“ Vom Bildungsfernsehen zum Entertainment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Parallelwelten „Fernsehwirklichkeit“ und Leben aus zweiter Hand. . . . . . . . . . . . . . . 138

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Inhalt

Vom Mauerbau zu den Spielen von München Fernsehereignisse der ‚Bonner Republik‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Holocaust und Heimat Großereignisse des fiktionalen Fernsehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kultfilm: Heimat – Eine deutsche Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Eichmänner, Wohlstandssymbole, neue Geschlechterbilder Zur Ikonografie der Bilderwelten der ‚Bonner Republik‘ . . . . . . . . . . . . . . 161 Täter und Taten Der Holocaust in der visuellen Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsheimkehrer Die Ästhetik von Verlust und Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Stacheldraht, Mauern, Durchlässe Zur Ikonografie des Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Ikone der deutschen Teilung: Tod an der Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Rauchende Schlote, Fortschrittseier und harte Mark Ikonen des ‚Wirtschaftswunders‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Fortschrittsikone: Das Atom-Ei von Garching. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Zwischen HB-Männchen und Afri-Cola-Rausch Bilderwelten der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Werbeikone: Das HB-Männchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 „A Star is Born“ Popkulturelle Bilderwelten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Von der Heiligen Elisabeth zur Emma Wandel der Geschlechterbilder und -praxen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Comicfigur: Die BILD-Lilli. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

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Inhalt

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Krisen, Affären, Skandale Risse im Bild des ‚Wirtschaftswunders‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Die Ölkrise von 1973 Bilder der Stille. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Saurer Regen – mörderisches Atom Anfänge der ‚Öko-Ikonografie‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Genf und Gladbeck Bilder einer Politikaffäre und eines Medienskandals. . . . . . . . . . . . . . 228 Titelbild: Der Tote in der Badewanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Körper als Medium Die visuelle Protestkultur der 68er . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Inszenierung einer Ikone: Der Rückenakt der K1. . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Deutscher Herbst 1977 Bildermaschine RAF. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Die Maueröffnung, die Bilder und das Ende einer Epoche Bilder als Mauerbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

II. Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021) Symbolbild: Das Selbstverständnis der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Zwischen ‚neuer Prächtigkeit‘ und Spaßkultur Die Ästhetik der ‚Berliner Republik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Damnatio memoriae Der Ikonoklasmus der Wendezeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .273

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Inhalt

‚Neue Prächtigkeit‘ Die präsentativen Neubauten der ‚Berliner Republik‘ . . . . . . . . . . . . . 277 Ikone der Demokratie: Der verhüllte Reichstag. . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 High und Hossa Zur Ästhetik der ‚Bunten Republik Deutschland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Im Bilde sein Bilderpolitiken der präsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Kohl – Schröder – Merkel Zwei Medienkanzler und eine -kanzlerin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Fotografie: Allein unter Männern – Merkel und die Fischer von Lobbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Politainment Unterhaltende Politik – politische Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Toxische Öffentlichkeit Die Bildunfälle der Herren Scharping und Laschet. . . . . . . . . . . . . . . . 334 BilderMacht Schockbilder in der Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

Digitalisierung und Diversifizierung Bilder und Bildermedien der ‚Berliner Republik‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Pixel und Tafelbild Bildende Kunst – Aktionskunst – Kunstfotografie . . . . . . . . . . . . . . . . 344 K  unstaktion: ‚BYE, BYE‘ – die Medien-Kunst-Aktion des Michael Schirner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Von Handys und Selfies Visuelles Kommunizieren in Alltag und Journalismus . . . . . . . . . . . . . 358 Von bewegten Männern und dem Leben der Anderen Das Kino der ‚Berliner Republik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

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Live, Reality, Doku Das neue Fernsehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 „Infektionsbild“ 9/11: Massenmord im Live-Format . . . . . . . . . . . . . . 376 Public Viewing und YouTube Neue Formen des Schauens und Zeigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Allgegenwärtige Augen Auf dem Weg in die panoptische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Piktogramm: Das Video-Auge der BVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Kriege, Krisen, Katastrophen Zur Ikonografie der ‚Berliner Republik‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 „Blühende Landschaften“ Fallstricke der Wahlwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Fadenkreuze – Sargfotos Die neuen/alten Bilder des Krieges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Von „vollen Booten“ und einer „Willkommenskultur“ Bilder der Flüchtlingskrisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Selfie: Schakir und Angela – Das Selfie der ‚Willkommenskultur‘ . . . 415 Ausschreitungen, Anschläge, Attentate Ikonen des Hasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Medienereignis ‘92: Rostock-Lichtenhagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Symbolbilder und die Gesichtslosigkeit des Leids Die Coronakrise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Bilder der Apokalypse und der ‚Erlösung‘ Die Klimakatastrophe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

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Bilddiskurse – Bilderstreits Kämpfe um Sichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Krieg und Diktatur im Fokus Bilddiskurse um die Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Gender & Diversity Die neuen Bilddiskurse zu Vielfalt und Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Der neue Bilderkampf Kultur im Fokus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

Großer Zapfenstreich Bilder vom Ende einer Ära. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

III. Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.) Pressefoto: Unter wilden Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

Zwischen Aktentasche und Regenbogen Zur Ästhetik und Ikonografie der ‚Ampelrepublik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 „Das war’s!“ Imageprobleme der Regierung Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Agenturfoto: „Der Bückling von Katar“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Die Regenbogen-Republik Regenbogen und Diversity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520

Die „Ampelkalypse“ Bilder und Bildpraxen in Krieg, Krise und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Blau-gelb Die neue Allgegenwart der Kriegsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

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„Schwarz-Rot-Kalt“ Zur Ikonografie der multiplen Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Immersion und Visual Correctness Neue Bilderpraxen in Kultur und Publizistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 ‚Letzte Generation‘ Zur Protestästhetik des Klimaaktivismus‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559

Anhang Endnoten I. Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 II. Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 III. Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574

Literatur Monografien, Sammelbände, Bildbände/Ausstellungskataloge, Aufsätze in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften (auch Online) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften, Online-Portalen. . . . . . . . . . . . . 590

Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596

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Einleitung Sie ist schon etwas in die Jahre gekommen – die Bundesrepublik. Am 23. Mai 2024 wird sie 75 Jahre alt. Auf den Tag genau vier Jahre nach dem Ende des unheilvollen ‚Dritten Reiches‘ hat sie in Bonn am Rhein das Licht der Welt erblickt. Ihre Paten, die sie stets begleiteten und beschützten, waren die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich. Die Bilder, die von ihrer Geburt und ihren Kinderjahren überliefert sind, waren noch schwarz-weiß. Das Fernsehen gab es noch nicht. Vom Internet wurde nicht einmal geträumt. Heute ist die Bundesrepublik eine ältere Dame, aber immer noch sehr lebendig und ansehenswert. Von schweren Krankheiten ist sie verschont geblieben. Zu ihren Vorfahren besitzt sie nach anfänglichen Schwierigkeiten eine rationale Beziehung. Ihr Rat ist weltweit weiterhin gefragt, ihr Ansehen groß. Das Verhältnis zu ihren Enkelkindern indes ist nicht frei von Konflikten. Diese werfen der alten Dame vor, über ihre Verhältnisse gelebt und zu wenig an die nachrückenden Generationen gedacht zu haben. In den ersten vier Jahrzehnten musste sich unser Geburtstagskind von ihrer bösen Verwandtschaft im Osten abgrenzen, bis diese 1989 friedlich dahinschied. Nachgetrauert wurde ihr nur von wenigen. Wirklich sicher lebt die Jubilarin aber auch heute nicht. Einige Ewiggestrige trachten ihr nach dem Leben. Die Geschichte unserer alten Dame ist in einem Album mit vielen schwarz-weißen und noch mehr farbigen Bildern festgehalten. Später gab es auch bewegte Bilder von ihr. Mit der Zeit wusste unsere Jubilarin, wie sie sich gekonnt in Szene zu setzen hatte und welche Bilder man lieber nicht dem Familienalbum anvertraute. Auch Künstler haben immer wieder unser Geburtstagskind porträtiert. Karikaturisten haben sich über sie lustig gemacht. Geschadet hat es ihr nicht. Den Bilderschatz unserer alten Dame zu sichten, ist Sinn und Zweck dieses Buches. Es ist keine ganz normale Familiengeschichte, die dabei herausgekommen ist, und auch kein Bilderbuch, in dem man nur zu blättern braucht, sondern eine ‚Visual History‘, eine – verkürzt übersetzt – visuelle Geschichte. In Erweiterung der älteren Historischen Bildforschung handelt es sich bei dieser um ein sich vor allem innerhalb der Neueren Geschichte und der Zeitgeschichte etablierendes Forschungsfeld, das Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst. Ihr geht es darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hinaus als Medien und Aktiva mit einer eigenständigen Ästhetik zu begreifen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, Deutungsweisen transportieren, die Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren und in der Lage sind, eigene Realitäten zu generieren. Bilder werden im Folgenden daher

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nicht einfach nur als Abbildungen betrachtet, sondern auch als aktive Medien, die Einstellungen verstärken, mitprägen oder sogar eigene Handlungswelten erzeugen. Das bedeutet in der Konsequenz auch, dass Bilder in diesem Buch nicht einfach nur Illustrationen eines vorgefertigten Textes sind, sondern oftmals Zitate, vor allem aber eigenständige Objekte der Analyse. ‚Visual History‘ in diesem Sinne ist damit mehr als eine additive Erweiterung des Quellenkanons der Geschichtswissenschaft oder eine Geschichte der visuellen Medien; sie thematisiert das ganze Feld der visuellen Praxis sowie der Visualität von Erfahrung und Geschichte: Aspekte der Mediengeschichte, der Ästhetik, der Ikonografie sowie Bildpraxen. Dieses Buch ist daher kein normales Geschichtsbuch und auch keine kunstgeschichtliche Abhandlung. Vom konventionellen Geschichtsbuch unterscheidet es sich dadurch, dass es Bilder als Ausdruck und als gestaltende Kraft der Geschichte ernst nimmt, von der kunsthistorischen Darstellung dadurch, dass es den Blick nicht nur auf Schöpfungen der Hochkunst richtet, sondern Bilder in ihrem gesamten Spektrum vom Logo bis zum Spielfilm berücksichtigt und diese in ihrem jeweiligen historischen Kontext betrachtet. Unterteilt habe ich die Geschichte unserer älteren Dame in die der ‚Bonner Republik‘ der Jahre 1949 bis 1989, die der ‚Berliner Republik‘ der Jahre zwischen 1990 und 2021 sowie die der ‚Ampelrepublik‘ seit 2021, die sich nicht nur in ihrer Politik, sondern ebenso in ihrer Ästhetik, in ihrer Ikonografie sowie in ihren Bildpraxen unterschieden und denen wiederum unterschiedliche visuelle Leitmedien entsprachen. Die Geschichte der Bundesrepublik werde ich im Folgenden auf drei Ebenen betrachten. Zunächst untersuche ich die ästhetische Selbstdarstellung der jeweiligen Republik in ihren architektonischen Schöpfungen, die Bild- und Imagepolitik ihrer Kanzler und ihrer Kanzlerin, deren Pathosformeln und sonstigen medialen Darstellungen. Alle drei Republiken haben eine eigenständige, sich voneinander unterscheidende Ikonografie hervorgebracht, die die ästhetische Kennung ihrer Zeit bestimmten, sowie bestimmte Bildpraxen und Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem anderen Teil Deutschlands. Auf einer zweiten Ebene verfolge ich die Geschichte der bildenden Kunst, der Kunstfotografie und der technischen und elektronischen Bildmedien, deren Auf- und Abstieg, wie sie historische Ereignisse verarbeitet und zum Teil auch geprägt haben. Auf einer dritten Ebene schließlich geht es um Bildpraxen wie die zunehmende Überwachung des öffentlichen und des privaten Raums, um den Einsatz des individuellen wie des kollektiven Körpers als Medium sowie um die Nutzung moderner Bildmedien im Terrorismus. Die Geschichte und die Bilder der DDR spielen nur am Rande eine Rolle, insbesondere dort, wo die Bundesrepublik auf sie reagierte. Dass Bilder in der Lage sind, auch Mauern und Regime zu Fall zu bringen, haben uns die Bilder und Bildmedien im Oktober/November 1989 demonstriert, in denen sie regelrecht zu ‚Mauerbrechern‘ wurden. In der Geschichte der Bundesrepublik fungierten Bilder immer wieder als Medien der kollektiven Identitätsfindung und -bildung, entweder negativ durch Abgrenzung oder positiv durch Identifikation. Dabei wurde deutlich, dass die ‚Bonner

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Republik‘ ein anderes Modell verfolgte als die ‚Berliner Republik‘. Während sich die ‚Bonner Republik‘ primär durch die Abgrenzung zur DDR sowie insgesamt zum Totalitarismus definierte und in den Segnungen des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Deutschen Mark starke Verbündete hatte, musste sich die ‚Berliner Republik‘ nach 1990 neu definieren und auch den Bürgern der ehemaligen DDR neben der neuen Währung neue positive Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Auch die ‚Ampelrepublik‘ – die erste Regierungskoalition links von der Mitte nach mehr als 70 Jahren, sieht man einmal von dem kurzen Zwischenspiel der rot-grünen Regierung des Gerhard Schröder ab – musste neue Identitätspunkte setzen. Stichworte hierzu sind: die ökologische Transformation der Wirtschaft, eine neue feministische Außenpolitik, eine antikoloniale Identität sowie Diversität und geschlechtliche Gleichstellung. Neben der Frage nach der kollektiven Identitätsfindung und -bildung durch Bilder geht es im Folgenden auch um allgemeinere Fragen nach dem Strukturwandel des Öffentlichen infolge des Aufstiegs immer neuer Bildmedien, zunächst des Fernsehens, später des Internets. Dabei wird deutlich, dass gerade auch die Bildmedien den Herausforderungen einer distanzierten und reflektierenden Berichterstattung nicht immer gerecht wurden, sondern sich in entscheidenden Situationen zu Komplizen von Kriminellen, Terroristen und Kriegsherrn machen ließen. Einige Fragestellungen wie die nach den Bilddiskursen zu Gender und Diversity sowie zu Ökologie und dem Umgang mit Krisen und Katastrophen durchziehen das gesamte Buch. Dabei zeigt sich: Die Republik wurde zunehmend bunter, vielgestaltiger, diversifizierter, aber auch unübersichtlicher. Andere Themen ‚ploppen‘ demgegenüber nur kurz auf. Stets geht es zudem um allgemeinere Fragen. Wie wurden und werden Krisen und Katastrophen durch die Brille von Bildmedien wahrgenommen bzw. wie formten diese unsere Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Und schließlich: Wie veränderten bzw. gegebenenfalls wie generierten Bildmedien den Gegenstand, über den sie berichteten? Die folgende Darstellung ist keine linear-chronologische Geschichte, die es real ja auch gar nicht gibt. Sie ist vielmehr verschachtelt, teils mosaikartig und berücksichtigt so auch das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen. Chronologischen Passagen folgen immer wieder Rückblenden und vertiefende Analysen einzelner Bilder und Bildergeschichten sowie Verweise auf verwandte Passagen des Buches. Blättern wir das Album unserer älteren Dame durch, so fallen einige stets wiederkehrende Motive auf. Es sind dies Gebäude, Symbole und Farben, die der Geschichte unserer Jubilarin eine bestimmte ästhetische Kennung gaben. Diese traten in immer neuen Gestaltungen auf, ob in Fotografie und Film, in Malerei und Grafik oder in Skulptur und Architektur. Zu ihnen gehören der Berliner Reichstag mit seiner imposanten Kuppel, das Brandenburger Tor gleich in unmittelbarer Nachbarschaft, die schwarz-rot-goldene – genauer: rapsgelbe – Nationalflagge, der Adler als Wappentier, aber auch bis 1989/90 die Negativsymbole Stacheldraht, Dämme und Mauern. Auch einige archaische Symbole wie das Auge und die Sonne tauchen bis in die Digitalmoderne immer wieder auf, ob als Logo von TV-Sendungen oder als

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Objektiv von Fernseh- und Überwachungskameras oder wie die Sonne auf Transparenten und politischen Plakaten. Wir begegnen vielen Bekannten, die uns auf unserem medialen Lebensweg begleiteten, bis sie wie Werner Höfer oder das HBMännchen plötzlich wieder von der Bildfläche verschwanden. Wir blicken hinter die Fassaden uns bekannter Persönlichkeiten und sehen diese in neuem Licht. Hier und da müssen wir feststellen, dass uns so manche Bekannten hinters Licht führten und wir uns von ihrem schönen Schein blenden ließen. In der Darstellung habe ich thematisch oder ikonografisch verwandte Bilder zu Bildblöcken montiert, die sich wie ein Bildessay zu einzelnen Themen, etwa den Bildern des Kalten Krieges oder denen des ‚Wirtschaftswunders‘, ‚lesen‘ lassen. Bei einigen Bildern erschien es mir sinnvoll, sie genauer zu beleuchten. Das Spektrum dieser 21 vertiefenden Bildanalysen ist breit gefächert. Es reicht vom Wahlplakat über das Historiengemälde über ausgewählte Fotografien der Publizistik und der Kunst über Standbilder aus Filmen, Ikonen der Politik und der Werbung bis hin zu berühmten Comic- und Werbefiguren, dem Cover einer Zeitschrift, einem Piktogramm, einem Selfie und Medienereignissen, bei denen sich verschiedene Bildmedien gegenseitig ergänzten. Zwei Analysen widmen sich Bildpraxen wie der Inszenierung eines Pressefotos und einer Kunstaktion im öffentlichen Raum. Viele der Bilder dieses Buches werden die Leser und Leserinnen kennen, andere werden sie vergessen haben und hier neu entdecken, einige dürften unbekannt sein. Dennoch ist dieses Buch keine Widerspiegelung der Bildgeschichte der Republik und schon gar keine repräsentative. Diese kann es gar nicht geben. Die im folgenden Buch getroffene Bildauswahl hat letztlich einen subjektiven Charakter. Sie spiegelt nicht zuletzt auch die Bilderwelt des Autors wider, der fast so alt ist wie unsere Jubilarin. Quellen dieses Buches sind eine eigene Bildersammlung, die ich seit mehr als 30 Jahren aufgebaut habe, eine Sammlung von Ausstellungskatalogen der letzten Jahrzehnte sowie unzählige Aufsätze und Bücher, in denen ich mich immer w ­ ieder auch mit der Geschichte der Bundesrepublik beschäftigt habe. Nennen möchte ich meine Gesamtdarstellung Bilder des Krieges/Krieg der Bilder (2004) über die ­Visualisierung des modernen Krieges, meinen unter dem Titel Das Jahrhundert der Bilder erschienenen zweibändigen Bilderatlas (2008/09), den Band BilderMACHT (2013) mit exemplarischen Tiefenbohrungen zu einzelnen Bildern und Bildclustern, die unter dem Titel Das visuelle Zeitalter/Punkt & Pixel (2016) erschienene ‚­Visual History‘ der Moderne sowie die beiden Bände Bilder einer Diktatur (2020) und ­Nationalsozialismus (2022; zusammen mit Michael Wildt), in denen es vor allem um die Vorgeschichte der Bundesrepublik geht. An die beiden zuletzt genannten Bände knüpft dieses Buch unmittelbar an. Dabei habe ich zum Teil Formulierungen und ganze Absätze aus den genannten Büchern übernommen, ohne diese im Einzelnen zu kennzeichnen. Die dem Buch zugrunde liegende Literatur ist am Ende in einem Literaturverzeichnis aufgelistet. Ansonsten wurden nur direkte Zitate in den Anmerkungen belegt. Als weitere Quellenbasis stand mir ein breites Spektrum von Tages- und Wochen­ zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Welt, der tageszeitung (taz) und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), aber

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auch von Regionalzeitungen wie der Stuttgarter Zeitung und dem Flensburger Tageblatt zur Verfügung. Daneben habe ich die großen illustrierten Blätter und Maga­ zine der Republik wie die BILD-Zeitung, den SPIEGEL und den Stern zurate ­gezogen. Zusätzlich habe ich die Archive der großen Bildagenturen durchforstet, wie die der Agenturen dpa-picture alliance, akg-images und das digitale Bildarchiv des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung. Das Manuskript habe ich Anfang Juni 2023 abgeschlossen. Begleiten Sie mich nun auf meiner Entdeckungsreise durch das Familienalbum unserer Jubilarin, der ich noch viele gute Jahre wünsche.

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

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[I/1] Erna Wagner-Hehmke, Unterzeichnung des Grundgesetzes, Bonn 23.5.1949

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Auftragsfoto: Bonn, 23.5.1949

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Auftragsfoto: Bonn, 23.5.1949 Das Bild besitzt alles, was die frühe Bundesrepublik charakterisiert. Es zeigt – mit einer Ausnahme – ausschließlich feierlich gekleidete Herren in dunklen Anzügen sowie sechs männliche Fotografen bzw. Kameramänner, die ein Geschehen im Bild festhalten. Zwei von ihnen werden teilweise von einer Fahne verdeckt. Sie alle wohnen einem Ereignis bei, dessen Bedeutsamkeit sowohl durch die Anwesenheit der Medienvertreter als auch durch die Ausleuchtung der Szenerie mit Scheinwerfern unterstrichen wird und das Geschehen als Medienereignis ausweisen. Zum Teil geraten sich die Fotografen bzw. Kameramänner gegenseitig ins Bild. Die Fotografie dokumentiert zugleich die Anwesenheit der später zur ‚vierten Gewalt‘ aufsteigenden Journalisten, hier in Gestalt der Bildreporter. Nicht zu sehen bzw. zu identifizieren sind die ebenfalls anwesenden Regierungschefs der Länder und die Landtagspräsidenten sowie Vertreter der Westalliierten und weitere Gäste aus Politik und Gesellschaft. Anlass der Aufnahme ist die Unterzeichnung des wenige Tage zuvor angenommenen Grundgesetzes, des eigentlichen Gründungsdokuments der Bundesrepublik Deutschland, durch die Angehörigen des Parlamentarischen Rates. Zuvor hatten sich auch die Militärgouverneure geeinigt, mit einigen Vorbehalten dem Entwurf zuzustimmen, und auch die Landtage der Westzonen – mit Ausnahme Bayerns – hatten das Grundgesetz bestätigt. Die Aufnahme wie der feierliche Akt erscheinen durchkomponiert. Beide zeugen von Sinn für Stil und Inszenierung. Dabei sind wesentliche ikonografische Elemente der künftigen Republik erkennbar: das auf dem Tisch zur Unterzeichnung liegende Grundgesetz, die Bundesflagge und eine barocke, im Original goldfarbige Tischskulptur mit zwei Engeln. Alle drei Elemente bilden das optische Zentrum der Fotografie. Diese ist formal in zwei etwa gleich große Tei-

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le untergliedert: die große Fensterfront des Raumes, durch die das Tageslicht eindringt und den Raum beleuchtet, sowie die Gruppe der versammelten Festgäste, die dem Akt der Unterzeichnung beiwohnen. Das eigentliche Zentrum des Bildes, leicht unterhalb der Bildmitte situiert, ist ein aufgeschlagenes Buch, um das es an diesem Tag geht: „Deutschlands wichtigstes Buch“, wie es oft heißt, die Urschrift des Grundgesetzes. Das Licht des Scheinwerfers ist exakt auf es gerichtet. Was nicht zu erkennen ist: Die 1.400 Gramm schwere Urschrift ist 35 Zentimeter hoch und 24 breit sowie 2,7 Zentimeter dick. Der Text ist auf schwerem und rauem Büttenpapier einer nahen Papierfabrik gedruckt. Schlägt man den von der Bonner Druckerei Rudolf Stodieck hergestellten Band auf, fällt der Blick zunächst auf die schwarz-rot-goldene Präambel. Der größere Teil des Textes ist schwarz getönt; die Ländernamen sind in roter Farbe gedruckt; die Initiale ist in Gold  eingeprägt. In seiner ursprünglichen buchmateriellen und schriftbildlichen Gestalt, so der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, zeige das Grundgesetz einen „bezwingenden Sinn für Stil“ und erreiche eine „eigene Form des Sublimen“. Die Urkunde des Grundgesetzes zeichne sich darüber hinaus durch einen modernen Schrifttyp aus, der sich bewusst von traditionellen Schriftbildern absetze. Damit distanziere sich das Grundgesetz nicht nur von der bisherigen Staats- und Verfassungstradition Deutschlands, es negiere zugleich den herrschaftlichen Charakter des Dokuments.  Über dem Tisch mit dem zur Unterzeichnung ausgelegten Dokument ist die schwarzrot-goldene Bundesfahne platziert. Sie sticht beim Betrachten des Bildes als Erstes ins Auge. Optisch dominiert sie die Szene, zumal sie auch die beiden Bildteile, die Gruppe der Versammelten und die transparente Fensterfront, verbindet. Sie scheint das Geschehen zu weihen.

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

Exakt vor dem Unterzeichnenden und dem Dokument befindet sich eine hellstrahlende Tischskulptur mit zwei Engeln, die ein kristallenes Tintenfass tragen, mit dessen Tinte das Grundgesetz besiegelt wird. Sie bildet den optischen und symbolischen Kontrapunkt zur Flagge sowie zu der insgesamt sachlichen Zeremonie. Die beiden Engel mit den ausgebreiteten Schwingen scheinen die Unterzeichnung zu beurkunden und dem Akt dadurch eine christliche Note zu geben. Adenauer hatte ausdrücklich um die prachtvolle Skulptur aus dem Kölner Rathaus gebeten. Die Tischskulptur mit ihrer christlichen Symbolik erscheint in der Fotografie gleichsam als Fundament der Staatssymbolik. Der einzige Akteur auf dem Bild ist Thomas Dehler, einer der drei einflussreichen Redakteure des endgültigen Verfassungstextes, der soeben seine Unterschrift unter das Dokument setzt. Für den Akt der Unterzeichnung hat er auf einem einfachen Schemel Platz genommen. Dehler ist einer von insgesamt 59 Unterzeichnern und 4 Unterzeichnerinnen. Die beiden kommunistischen Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben sich der Unterzeichnung verweigert. Dehler ist 51 Jahre alt und Rechtsanwalt von Beruf. Im ‚Dritten Reich‘ hatte er immer wieder auch jüdische Mandanten vertreten. Verheiratet ist er mit Irma Frank, einer ­Jüdin, weshalb seine Ehe von den Nationalsozialisten als ‚Mischehe‘ betrachtet wurde. Trotz wiederholter Aufforderungen, sich von seiner Frau zu trennen, hielt er an der Ehe mit ihr fest. Politik – auch das zeigt die Aufnahme – ist noch ganz Männersache, so wie die frühe Bundesrepublik in ihrer optischen Präsentation noch weitgehend eine Sache von Männern war. Die wenigen in der Aula anwesenden Frauen sind mit einer einzigen Ausnahme – eine Frau mit Hut in der ­linken oberen Bildecke – nicht zu sehen. Um wen es sich bei ihr handelt, um eine Presse­ vertreterin oder eine Politikerin, ist nicht zu erkennen.

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Weder der Ort noch das Datum der Unterzeichnung sind zufällig gewählt. Beide verweisen auf Kontinuitäten, in denen man sich definiert. Die Aula der Pädagogischen Akademie in Bonn ist ein zwischen 1930 und 1933 in der Tradition des Bauhauses errichtetes Gebäude, für das der preußische Regierungsbaumeister Martin Witte als Architekt verantwortlich zeichnete. Bereits Ende 1948 ist auf Beschluss des nordrhein-westfälischen Landeskabinetts der Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert beauftragt worden, einen Plan für den Umbau der ehemaligen Akademie in ein dauerhaftes Parlamentsgebäude vorzulegen. Da sich dieses im Mai 1949 noch im Bau befindet, weicht man für die Unterzeichnung des Grundgesetzes auf die große, über zwei Geschosse reichende Aula der ehemaligen Akademie mit ihrem großen Südfenster aus. Durch dieses wird der Blick nach außen in Richtung Rhein und Siebengebirge geöffnet. Nur im Vergleich mit anderen Bildern ist zu erkennen, dass die große Fensterfront zum Teil geöffnet ist, um auch diejenigen Gäste an dem Ereignis teilhaben zu lassen, die nicht mehr in der Aula selbst Platz gefunden haben. Der spätere Parlamentsbau von Schwippert wird die Materialikonografie der Aula aufnehmen und die Transparenz noch verstärken. Auch das Datum der Unterzeichnung, der 23. Mai 1949, ein Montag, scheint bewusst gewählt worden zu sein. Auf den Tag genau vor vier Jahren, fast zur selben Uhrzeit, hat mit der gänzlich unspektakulären Festnahme der Geschäftsführenden Regierung des Großadmirals Karl Dönitz durch die alliierten Siegermächte in Flensburg die letzte Regierung des ‚Dritten Reiches‘ und damit das Deutsche Reich aufgehört zu existieren. Mit dem Datum unterstreichen die Unterzeichner, dass sie sich als Nachfolger des 1945 untergegangenen Reiches verstehen. Fotografin des Bildes ist – außergewöhnlich genug – eine der wenigen Frauen im Saal: die 44-jährige, ursprünglich aus Breslau stammende Fotografin Erna WagnerHehmke. Durch ihre exakte Arbeitstechnik

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Auftragsfoto: Bonn, 23.5.1949

und o ­ bjektive Bildsprache lässt sie sich der Neuen Sachlichkeit zuordnen. Als Inhaberin der bekannten Düsseldorfer ‚Lichtbildwerkstatt Hehmke-Winterer‘ und profilierte Industriefotografin ist Wagner-Hehmke im Rheinland seit zwei Jahrzehnten bekannt. Den Auftrag hat sie nicht zuletzt erhalten, weil ihr betont sachlicher und distanzierter Blick Gewähr dafür bietet, den Festakt bildnerisch von den pompösen Selbstinszenierungen des totalitären NS-Regimes abzusetzen. In ihrer Aufnahme erscheint die Gründung der Bundesrepublik als souveräner Akt des deutschen Volkes, da es ihr gelingt, die Vertreter der Westalliierten, die am Rande der Versammlung Platz genommen haben und diese gleichsam rahmen, aus der Aufnahme auszublenden bzw. durch die Fahne zu verdecken. Ihre fotografische Dokumentation des Geschehens vermeidet jede Überhöhung der Protagonisten und jedes Pathos. Der Blick auf die Symbole des neuen Staates bleibt sachlich und zurückhaltend, wodurch es gelingt, das Selbstverständnis des neuen Staates mit fotografischen Mitteln zu stilisieren. So wie auf Wagner-Hehmkes Aufnahme, so dürfen wir vermuten, wollen sich die Gründungsväter und -mütter der ‚Bonner Republik‘ gerne gesehen wissen: in der demokratischen Tradition von Schwarz-RotGold, in der übergeordneten christ­lichen Tradition, als sachliche und als männliche ­Republik.

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Die in Wagner-Hehmkes Fotografie festgehaltenen Kontinuitäten zu Weimar sind insgesamt bestechend: die schwarz-rotgoldene Fahne, die Architektur des Raumes, eine Fotografin des Neuen Sehens sowie eine fast ausschließliche Männergesellschaft. Zugleich fällt ein entscheidender Unterschied zu Weimar auf. Die Unterzeichnung des Bonner Grundgesetzes ist ein Medienereignis, das von Fotografen und Kameramännern festgehalten wird. Die Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung durch Reichspräsident Friedrich Ebert am 11. August 1919 demgegenüber hatte, soweit heute bekannt ist, noch ohne Medienvertreter in dessen Urlaubsort im thüringischen Schwarzburg stattgefunden. Von dem Akt existiert nicht einmal eine Fotografie. Das Grundgesetz wurde gemäß Artikel 145 Abs. 3 in der ersten Nummer des Bundesgesetzblattes noch am Tag der Unterzeichnung veröffentlicht. Es trat am Tag danach, also am 24. Mai 1949 und damit etwa viereinhalb Monate vor der Gründung der DDR, in Kraft. Seine Urschrift wird heute in einem Panzerschrank des Bundestages in Berlin aufbewahrt. Die Tischskulptur mit den beiden Engeln ist heute Teil der ständigen Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

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Braune Relikte (Nach-)Bilder von Nationalsozialismus und Krieg

Bonn war nicht Weimar. Deutlich stärker als die Republik von Weimar gründete die ‚Bonner Republik‘ von Anfang an auf Transparenz und Sichtbarkeit. Statt aber in ­Architektur, Fotografie und bildender Kunst neue und zeitgemäße Formen demokratischer Sichtbarkeit zu entwickeln, rekurrierte die Bundesrepublik in ihren Anfängen ästhetisch zunächst auf Formen der untergegangenen Republik. Deren Diskreditierung durch die Nationalsozialisten als ‚entartet‘ oder ‚kulturbolschewistisch‘ hatte diese nach 1945 geradezu zum „Leitstern postfaschistischer K ­ ultur“ (Paul Betts) geadelt, zumal auch die DDR zur gleichen Zeit die Moderne als ‚bürger­ lichen Formalismus‘ und ‚amerikanischen Kulturimperialismus‘ ablehnte. Die Repräsentation der ‚Bonner Republik‘ in den ersten Jahrzehnten war daher nie wirklich frei. Ihre Bilderwelt war vielmehr durch eine doppelte Abgrenzung geprägt: durch eine diachrone zu den Bildschöpfungen der NS-Zeit sowie eine synchrone zu den Symbolen, Bildproduktionen und Bildpraxen der DDR. Als Hypothek für die zweite deutsche Republik erwies sich von Beginn an, dass visuelle Artefakte der NS-Zeit in Illustriertenpresse und Schulbuch, in Film und Fernsehen, in Skulptur und Architektur weiter existent waren. Überall war man umgeben von visuellen Zeugnissen, die weiterhin einer rassistischen Deutung der Welt sowie kriegerischer Gewalt huldigten. Diese rahmten die Versuche der neuen Republik, auch bildlich eine eigenständige Identität zu entwickeln. Im Alltag waren die Bundesbürger zwischen Flensburg und Berchtesgaden umgeben von architektonischen Überresten der NS-Zeit, von Stätten der Machtdemonstration, von Kultstätten der ‚Volksgemeinschaft‘, von Orten der Verherrlichung von Partei und Staat, die mehr oder minder unbeschadet NS-Herrschaft und Krieg überstanden hatten und sichtbar Aspekte der NS-Ideologie zum Ausdruck brachten. Die visuelle Entnazifizierung des öffentlichen Raumes direkt nach 1945 hatte sich weitestgehend auf die Entfernung von Hitler-Büsten und -Bildern beschränkt, auf die Umbenennung etwa von auffälligen Örtlichkeitsnamen sowie auf die Demontage von Hakenkreuzen. Nur vereinzelt waren Überreste wie das goldene Hakenkreuz über der Haupttribüne des Nürnberger Parteitagsgeländes unmittelbar nach Kriegsende gesprengt worden. Ohne Bedenken weiter genutzt wurden von den Nationalsozialisten errichtete Stätten wie das Olympiastadion von 1936, das Reichsbankgebäude oder der Flughafen Tempelhof in Berlin. In München waren es der ‚Führerbau‘ am Königsplatz und das Haus der Kunst, in Nürnberg große Teile des

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Parteitagsgeländes, in Sonthofen und in Vogelsang in der Eifel die dortigen Ordensburgen, in Kassel das Wehrkreisdienstgebäude, in Karlsruhe die Oberpostdirektion, in Köln der Dienstsitz der Gestapo, in Saarbrücken das Staatstheater, in Laboe bei Kiel das Marine-Ehrenmal usw. usf. Den Krieg überdauert hatten auch in der Vorkriegszeit erstellte NS-Mustersiedlungen wie das Dorf im Warndt im Saarland, die Schlagetersiedlung in Düsseldorf, der Adolf-Hitler-Koog in Schleswig-Holstein und die ‚Stadt des KdF-Wagens‘ bei Fallersleben, das spätere Wolfsburg, als – wie es zeitgenössisch hieß – „Orte gelebter Volksgemeinschaft“. Erhalten geblieben waren zudem etliche Thingplätze, wie die Waldbühne in Berlin und das Kalkbergstadion in Bad Segeberg, die bis in die Gegenwart für Großveranstaltungen genutzt werden. Skulpturen aus der NS-Zeit schmückten Parks und Tiergärten. Allein für Berlin weist eine Datenbank über 70 zwischen 1933 und 1945 aufgestellte Skulpturen nach, bei denen es sich aber zumeist um ‚harmlose‘ Objekte handelte, denen man ihre Herkunft nicht ansah. Da Skulpturen im öffentlichen Bewusstsein nicht als Propaganda, sondern als Kunst galten, fanden auch die tonnenschweren Pferde von Josef Thorak oder die Skulptur Die Wehrmacht von Arno Breker, die einst vor Hitlers Reichskanzlei gestanden hatte, bei Sammlern in Gärten und Hallen eine neue Heimat. Dass diese Skulpturen einem rassistischen Menschenbild huldigten, das ursächlich für die Verbrechen der Nazis verantwortlich war, gehörte nicht zur Grundüberzeugung der meisten Bundesbürger. Auch die Medien trugen ihren Teil dazu bei, dass die Bildproduktionen der NSZeit und die in ihnen eingeschriebenen Selbst- und Fremdbilder virulent blieben. Während Werke der bildenden Kunst des Regimes zumeist in den Magazinen der Museen verschwanden, wurden Fotografien aus NS-Beständen wie die Aufnahmen der Bildberichter der Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht von Presse und Publizistik unbedenklich weiter als vermeintlich authentische Zeugnisse der NSZeit genutzt und oft weiterhin mit den alten Bildlegenden vertrieben. Geradezu stereotyp reproduzierten bundesdeutsche Medien NS-Propagandafotos wie das vom 1. September 1939 an der Grenze von Danzig zum polnischen Umland, das den Bruch und die Demontage des polnischen Grenzbaumes zeigte,

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[I/2] Titelbilder des SPIEGEL 15/1989; 14/1973; 5/1964; 43/1999

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

als Spiegel des Weltkriegsbeginns und erhoben dieses damit in den Status einer diachronen Ikone. Auf diese Weise transportierte das Bild bis in die Gegenwart die propagandistische Deutung des Überfalls auf Polen als harmloser, fast spielerischer Polizeiaktion, obwohl dieser der bis dato brutalste und massivste Militärschlag eines Landes gegen ein Nachbarland in der Geschichte war. Ähnliche Beispiele gibt es zuhauf. Aufnahmen von NS-Fotografen fungierten als publizistische Eyecatcher. Mit Fotografien aus NS-Beständen wie dem Standbild vom Nürnberger NSDAP-Reichsparteitag aus Leni Riefenstahls Parteitagsfilm Triumph des Willens machten namhafte bundesdeutsche Historiker ihre Bücher zum ‚Dritten Reich‘ auf. Gewiss unbeabsichtigt, transportierten auch sie damit die damals gewünschte Sicht auf den Nationalsozialismus. Indem diese Bilder der Masse eine klare Ordnungsstruktur verpassten, vermittelten sie zugleich propagandistische Idealvorstellungen der NS‚Volksgemeinschaft‘ als disziplinierter, geschlossener und gesichtsloser Masse, die so geschlossen, diszipliniert und gesichtslos keineswegs war. Fotografien von NS-Inszenierungen machten nach 1945/49 Karriere auf den ­Titelseiten von Magazinen, in unzähligen Dokumentationen sowie in Ausstellungen und Geschichtsbüchern, ohne dass sie kommentiert und hinterfragt worden wären. Etliche erlangten erst jetzt ikonischen Status. Allein der ‚große Diktator‘ zierte mehr als 50 Titelseiten des SPIEGEL: mal frontal vor schwarzem Hintergrund, mal in Feldherrenuniform und mal als Privatmann, mal zusammen mit seinen Widersachern, mal als Inkarnation des absolut Bösen, mal als Pressebild und mal als Karikatur. Auch Goebbels und Himmler erhielten via Pressebild, Film und Fernsehen mediale Unsterblichkeit. Ähnlich schleppten sich zudem die Bilder der Kameramänner der PKs vom industrialisierten Schlachtfeld als unbegriffenem Erbe in unzähligen Fernsehdokumentationen fort. Insbesondere die streng durchkomponierten Aufnahmen der Deutschen Wochenschau wurden noch Jahrzehnte später als authentische Spiegel der Zeit in Dokumentationen des Fernsehens eingeschnitten, ohne dass auch nur eine einzige Einblendung auf die Tatsache hingewiesen hätte, dass es sich um Propagandamaterial handelte. Historikern und Regisseuren gerieten die Wochenschauen naiv und unkritisch zur Quelle. Insbesondere die Fernsehdokumentationen und Bücher des ZDF-Chefhistorikers Guido Knopp trugen zum Nachleben der NS-Bilder bei und bescherten diesen Unsterblichkeit. Geradezu überschwemmt wurden die Zeitgenossen mit Filmen aus der Produktion der Ufa. Im DDR-Fernsehen besaßen sie sogar einen eigenen Sendeplatz. Noch 1957 überstieg die Zahl der gesendeten (I/3–6) Unterhaltungsfilme aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ mit den Ufa-Stars Hans Albers, Heinz Rühmann, Zarah Leander, Marika Rökk & Co. im Westfernsehen diejenige von Beiträgen über den Nationalsozialismus. Oft reichte es aus, ein Hakenkreuz, ein ‚Kraft durch Freude‘-Plakat oder eine Sequenz zu entfernen, in der verächtlich über Juden gesprochen wurde, um wieder gespielt zu werden. Die zwischen 1936 und 1944 gedrehten Filme mit Zarah Leander sahen in ARD und ZDF mehr Menschen als vor 1945. Im ‚Bildschirm-Barometer‘ von TV Hören und Sehen rangierte Ufa-Star Leander noch 1979 unangefoch-

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Braune Relikte

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Renaissance von NS-Filmen [I/3] Die Feuerzangenbowle, Kinoplakat (1944); [I/4] Der Blaufuchs, Kinoplakat (1938); [I/5] Münchhausen, Kinoplakat (1943/1953); [I/6] Unter den Brücken, Kinoplakat (1945)

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ten auf Platz 1 und damit weit vor zeitgenössischen Fernsehstars wie Hans Rosenthal und Peter Alexander. Zum Teil wirkten bis weit in die 1960er Jahre einzelne visuelle Stereotype der NS-Propaganda fort, wie in dem beliebten Pferdefilm Die Mädels vom Immenhof von 1955, in dem ein Geldverleiher mit einem Menora-Leuchter im Bildhintergrund als durchtriebener Jude dargestellt ist, was damals niemandem sonderlich auffiel. Fiktionale Nachkriegsproduktionen reproduzierten nahezu 1:1 die propagandistischen Selbstdeutungen des NS-Regimes. Im Kontext der Wiederbewaffnung etwa deutete Helmut Käutner nicht nur Carl Zuckmayers Drama Des Teufels General in ein Rechtfertigungsstück der deutschen Wehrmacht um, er vermittelte zugleich das Bild einer weitestgehend ehrenhaften Truppe und grundierte damit visuell die zählebige Legende von der ‚sauberen Wehrmacht‘, wie sie sich schnell nach 1945 herausgebildet hatte. Mitunter reinszenierten Spielfilme noch nach der Jahrtausendwende Propagandamaterial der NS-Wochenschau mit der Attitüde, so sei es gewesen. Selbst in Grafik und Wandtatoos lebten Versatzstücke von Propagandamotiven der NS-Zeit wie das Bild der ‚Volksgemeinschaft‘ und das des ‚ewigen Juden‘ weiter. Auf diese Weise prägten Inszenierungen und Klischees, die das NS-Regime von sich geschaffen hatte, über Jahrzehnte auch die Vorstellungswelt und die Erinnerungskultur der Bundesbürger, weshalb es vielen Menschen schwerfiel, sich eindeutig und engagiert von dem Vorläufer der ‚Bonner Republik‘ zu distanzieren. Während das ‚Dritte Reich‘ physisch nach zwölf Jahren am Ende war, wurden seine Selbstbilder und Pseudorealitäten insbesondere durch das Fernsehen auf Dauer gestellt. Ihre wahren Triumphe feierten Goebbels & Co. erst in der Bundes­ republik, oder wie es der Filmhistoriker und Essayist Georg Seeßlen überspitzt formulierte: „Das faschistische Bild erweist sich als dominant gegenüber dem Bild vom ­Faschismus.“1

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„Zweite Chance“ Umgang mit den visuellen Erblasten der Vergangenheit

Politik und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik gingen mit Hitlers wichtigsten Bildpropagandisten – mit Heinrich Hoffmann, Leni Riefenstahl, Hans Schweitzer, mit Arno Breker und Walter Frentz – ganz unterschiedlich um. Keiner der Genannten, das einte sie, konnte an seine Erfolge von vor 1945 anknüpfen. Der Adenauer-Staat zeigte ihnen die kalte Schulter. Indes: Während Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann gesellschaftlich als diskreditiert galt, umgab sich die Münchner Schickeria ohne Scham mit Hitlers Regisseurin Leni Riefenstahl, suchte geradezu ihre Nähe, lud sie zu Pressefesten und Talkshows im Fernsehen ein. Keine neue Karriere gelang Hitlers ‚Reichsbeauftragtem für künstlerische Formgebung‘, Hans Schweitzer, alias ‚Mjölnir‘. Er blieb politisch wie gesellschaftlich ein Außenseiter. Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker fand zwar nach 1949 keine staatlichen Aufträge mehr, wohl aber private. Die Filmarbeit von Walter Frentz, dem ‚Kameramann des Führers‘, blieb in der neuen Republik von geringer Bedeutung. Außer einigen kleineren Tourismus- und Lehrfilmen war er von größeren Filmprojekten ausgeschlossen. Ganz anders sah dies bei den Propagandisten aus der zweiten Reihe aus und somit bei denen, die vor 1945 nicht unmittelbar im Rampenlicht gestanden hatten. Viele von ihnen vermochten an ihre Karriere von vor 1945 anzuknüpfen. Ähnlich wie das Gros der Juristen und Polizeibeamten, das an Hitlers Verbrechen mitgewirkt oder Nationalsozialismus und Krieg verherrlicht hatte, erhielten auch sie eine ‚zweite Chance‘. Einer der Gründe hierfür war: Gemälde, Plakate, Fotografien, Filme, Skulpturen und Architekturen galten den meisten Deutschen und selbst den alliierten Befreiern – zumindest denen im Westen – nicht als Propaganda. Sie betrachteten diese vielmehr als unpolitisch, wodurch ihre Produzenten bis auf wenige Ausnahmen vom Verdacht befreit waren, mit Nationalsozialismus, Rassismus und Krieg irgendetwas zu tun gehabt zu haben. Mit deren visuellen Erblasten gingen Politik und Gesellschaft pragmatisch um. Ein Bilder- bzw. Denkmalsturz, gar das Schleifen von öffentlichen Gebäuden fand mit wenigen Ausnahmen nicht statt. Die Bildwerke der braunen Vergangenheit wanderten in die Magazine von Museen oder wurden von den Alliierten beschlagnahmt und außer Landes gebracht. (I/7) Nach 1933 errichtete Nazi-Gebäude konnten für demokratische Zwecke umgenutzt oder zu Gedenkstätten umfunktioniert werden. Den fotografischen Bilderberg der Nazis übernahmen Agenturen und Archive und

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[I/7] Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, integriert in die unvollendet gebliebene Kongresshalle, Nürnberg, Aufnahme 2007

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nutzten diesen gewinnbringend. Eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Bilderwelten von Nationalsozialismus und Krieg, gar eine visuelle Entnazifizierung der Köpfe, fand – wenn überhaupt – erst spät statt. Die Sprengung und der Abriss von architektonischen Überresten der NS-Vergangenheit blieben auf wenige markante Orte beschränkt, die zumeist mit Hitler direkt verbunden waren und noch vor der Gründung der Bundesrepublik durch die Alliierten stattfanden: auf die Sprengung der Reste der Neuen Reichskanzlei und von Hitlers privatem Domizil auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, auf Teile des Geländes der Nürnberger NSDAP-Reichsparteitage. Die meisten NS-Bauwerke dagegen wurden von Behörden weiter genutzt oder später in Gedenk- und Erinnerungsorte umgewandelt. Während Hitlers Star-Architekt Albert Speer die Jahre 1945 bis 1966 hinter Gittern verbrachte, machten einige seiner Mitarbeiter in der neuen Republik schon bald wieder Karriere. Hans Freese und Ernst Neufert, die noch 1944 in Hitlers Liste der ‚Gottbegnadeten‘ aufgenommen worden waren, wirkten aktiv am Wiederaufbau mit und erhielten ohne Bedenken Aufträge von Staat, Kommunen und Wirtschaftsunternehmen. Hans Freese, der vor 1945 für Speer als Generalbauinspektor für Berlin tätig gewesen war, Monumentalgebäude entworfen und Zwangsarbeiterlager hatte errichten lassen, bekam Anfang der 1950er Jahre den Zuschlag für die Planung des Auswärtigen Amtes in Bonn, des damals größten Verwaltungskomplexes in Deutschland. Neufert, seit 1943 Reichsbeauftragter für Baunormung und ebenfalls zum engeren Kreis um Speer gehörend, plante nach 1945 weiterhin Industriebauten wie etwa das Versandzentrum des Quelle-Versandhauses in Nürnberg. Eine ‚zweite Chance‘ erhielten auch Künstler und Grafiker sowie Fotografen und Regisseure. Materielle Unterstützung und ideologische Hilfe bekamen sie dabei etwa von Netzwerken, die sich um Publizisten wie den Chefredakteur des Stern, Henri Nannen, und den Mitgründer der documenta, den Kunsthistoriker Werner Haftmann, gebildet hatten, die über jeweils besondere Möglichkeiten verfügten, den einstigen Bildpropagandisten Hitlers Aufträge zu verschaffen, ihnen neue Betätigungsfelder anzubieten oder sie gesellschaftlich zu unterstützen. Zu diesen Netzwerken gehörten auch Prominente und Unternehmer, die Chefredakteure von Illustrierten und Magazinen, aber auch eine Partei wie die frühe FDP und zeitweise sogar die amerikanische Besatzungsmacht. Etliche der ‚gottbegnadeten‘ Bildhauer waren auf diese Weise nach 1945 weiter beruflich tätig. Sie konnten ihre Werke in Ausstellungen präsentieren oder als Kunstam-Bau-Projekte im öffentlichen Raum platzieren. Sie wirkten an der Gestaltung von öffentlichen Gebäuden mit, unterrichteten an Kunsthochschulen und erhielten Ehrungen des neuen Staates. Einige von ihnen änderten ihre Formensprache, andere mussten sich weniger verbiegen und blieben ihren bisherigen Bildthemen treu, die häufig aus der antiken Mythologie oder der abendländischen Symbolik stammten und oftmals gefallene Soldaten und trauernde Mütter zeigten. Ein Beispiel ist Richard Scheibe  – einer von Hitlers ‚Gottbegnadeten‘, vor 1945 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und seit 1937 mit seinen Skulpturen regelmäßig auf der ‚Großen Deutschen Kunstausstellung‘ vertreten. (I/8) Von

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[I/8] Errichtung des Ehrenmahls für die Opfer des 20. Juli 1944 im Hof des Berliner ­Bendlerblocks von Richard Scheibe, Aufnahme der ehemaligen NS-Fotografin Liselotte ­Orgel-Köhne (1953)

ihm stammte das Ehrenmal für die Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944 um Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Im Auftrag des Berliner Senats wurde Scheibes Skulptur – ein an den Händen gefesselter nackter Jüngling – am 19. Juli 1953 in Anwesenheit von Kanzler Adenauer und des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter im Hof des Bendlerblocks enthüllt, dort, wo Stauffenberg erschossen worden war. Scheibe wurde Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Er erhielt das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Der, wie der SPIEGEL schrieb, „am meisten von Hitler gehätschelte Künstler“, war zweifellos Arno Breker. Seit 1941 war er Vizepräsident der ‚Reichskammer der Bildenden Künste‘ gewesen. Seine bekanntesten Monumentalskulpturen waren Die Partei und Die Wehrmacht für den Ehrenhof der Neuen Reichskanzlei gewesen. Obwohl nach 1945 als ‚Mitläufer‘ eingestuft, konnte er in der jungen Bundesrepublik mit keinen öffentlichen Aufträgen mehr rechnen, wohl aber mit privaten. Zu sei-

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nen Auftraggebern zählten Industrielle wie die Brüder Quandt, Hermann Josef Abs, Rudolf-August Oetker, Gustav Schickedanz, Künstler wie Ernst Fuchs und Salvador Dalí, der Schriftsteller Ernst Jünger sowie ausländische Staatsführer wie Kaiser Haile Selassie und Léopold Senghor. Der Gerling-Konzern ließ seine Kölner Zentrale mit Reliefs von Breker ausstatten. Die Stadt Wuppertal bestellte bei dem Sohn ihrer Stadt eine Statue der Kriegsgöttin Pallas Athene. Alt-Kanzler Ludwig Erhard beauftragte Breker mit einer Porträtbüste. Auch von Kanzler Adenauer fertigte Breker nach fotografischen Vorlagen eine Büste an, ohne sie allerdings der Familie des ExKanzlers verkaufen zu können.

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Mecki & Mercedes – Hitlers Zeichner nach 1945 [I/9] Werbeplakat Hans Liska (1952); [I/10] Titelseite Wilhelm Petersen (1957); [I/11] Wahlplakat Hans Schweitzer (1953)

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Einige Maler aus Hitlers Umfeld setzten nach 1945 ihre Karrieren ebenfalls fort. Paul Mathias Padua etwa, der in seinen Gemälden Hitler und dessen Krieg verherrlicht hatte, eröffnete am Tegernsee eine Galerie und spezialisierte sich auf Porträtmalerei. Zu seinen Kunden zählten u. a. die Industriellen Friedrich Flick und Helmut Horten sowie die Politiker Josef Ertl und Franz Josef Strauß. Die Bilder des Parteitagsmalers Ernst Vollbehr lebten auf den Titelseiten von Ausstellungskatalogen und historischen Sachbüchern weiter. NS- und Marinemaler Claus Bergen durfte erleben, wie sein Monumentalgemälde zum Untergang des Schlachtschiffes ‚Bismarck‘ in der Marineschule der Bundeswehr in Flensburg-Mürwik als Symbol der Traditionspflege der Bundeswehr aufgehängt wurde. Andere Künstler, die wie Emil Nolde Hitler ideologisch nahegestanden und dessen Rassenpolitik unterstützt hatten, erhielten durch Werner Haftmann – dem Chefideologen der documenta in Kassel  – eine ‚zweite Chance‘. Haftmann gelang es, Nolde zum „existenziellen Antifaschisten“ umzustilisieren und seine Werke der ‚inneren Emigration‘ zuzuordnen, womit sie für die Nachkriegsgesellschaft salonund hoffähig blieben. Nolde war mit seinen Bildern nach 1955 gleich auf mehreren Kasseler Kunstausstellungen präsent. Einen ähnlichen Identitätswandel erlebte auch der Lithograf A. Paul Weber, einst Propagandazeichner von Goebbels. Ihn wertete die Nachkriegsgesellschaft gar zum ‚antifaschistischen Künstler‘ auf. Für Nolde wurde 1957 im nordfriesischen Seebüll und für Weber 1973 auf der Dominsel in Ratzeburg ein eigenes Museum errichtet. Die Bewunderung für beide Künstler war parteiübergreifend. Sie reichte bei Nolde von Helmut Schmidt bis Angela Merkel und bei Weber bis hin zu Gustav Heinemann, dem ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten, der es sich nicht nehmen ließ, 1973 persönlich das ‚A. Paul Weber-Museum‘ zu eröffnen. Eine zweite Karriere nach 1945 gelang auch dem einstigen Starzeichner der Berliner Illustrierten Zeitung und der Auslandsillustrierten Signal Hans Liska, der während des Krieges einer Propagandakompanie angehört hatte. 1948 gehörte er zu den Mitgründern der Zeitschrift Quick; später war er erfolgreicher Werbegrafiker (I/9) für Daimler-Benz, für Ford, die Kaufhof-AG, für DEGUSSA, für Märklin, Quelle usf. (I/10) Wilhelm Petersen, bekannter Kriegszeichner und Rassenfanatiker, fand durch Vermittlung von Hörzu-Chefredakteur Eduard Rhein 1950 eine Anstellung als Comic­ zeichner in der neuen Rundfunkillustrierten. Außerdem illustrierte er bis 1964 zwölf der beliebten Mecki-Kinderbücher, die allesamt einem gemäßigten Rassismus ­huldigten. Ab 1964 gehörte Petersen der rechtsradikalen NPD an. Obwohl er sich gegenüber den Entnazifizierungsbehörden erfolgreich als ‚unpolitischer Künstler‘ ausgegeben hatte und als ‚Mitläufer‘ eingestuft worden war, blieb Hitlers Plakatmaler und Karikaturist Hans Schweitzer eine größere Nachkriegskarriere versagt. Für ( I/46) die FDP und den weit rechts angesiedelten (I/11) Gesamtdeutschen Block/BHE fertigte Schweitzer einige Plakate an. Im Wettbewerb um das offizielle Adenauer-Porträt indes hatte er das Nachsehen. Beruflich fand er vorübergehend eine Beschäftigung bei der amerikanischen Besatzungsmacht, die entweder von seiner Vergangenheit nichts wusste oder nichts wissen wollte. Um 1960 arbeitete er als Maler und Dekorateur auf der US-Air-Base in Ramstein, wo er nun Kino-,

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Revue- und Veranstaltungsplakate sowie Prospekte und Speisekarten entwarf. Wie Petersen war Schweitzer in den 1960/70er Jahren fast nur noch für die NPD aktiv. Hunderte seiner Zeichnungen erschienen in rechtsextremen Zeitschriften wie Das Neue Reich, Nation und Europa, MUT und in der Deutschen Wochenzeitung. In Stil und Inhalt knüpften sie an Schweitzers Karikaturen für den Völkischen Beobachter und für Goebbels’ Angriff an. Nahezu ohne Ausnahme fanden die Fotografen Hitlers in der Illustriertenlandschaft der jungen Bundesrepublik neue Beschäftigungsverhältnisse, so bei Hörzu, bei Quick, dem Stern und dem SPIEGEL. Nicht wenige von ihnen saßen dort auf Herausgeber- oder Chefredaktionssesseln. PK-Fotograf Benno Wundshammer etwa war zeitweise Chefredakteur des Prominentenblattes Revue. Er fotografierte die Stars der neuen Zeit wie Brigitte Bardot, Marilyn Monroe und Romy Schneider. Außerdem begleitete er Kanzler Adenauer 1960 auf dessen Auslandsreisen in die USA und nach Japan. Günther Beukert – ehemals Bildredakteur bei Heinrich Hoffmann – wurde Bildchef des Stern. Mit Erich Anders, Max Ehlert, Roman Stempka, Hilmar Pabel und Hanns Hubmann waren gleich mehrere ehemalige PK-Fotografen für den SPIEGEL tätig. Keinem anderen Nazi-Fotografen gelang es, so nahe an die Mächtigen der Zeit heranzukommen, wie Hanns Hubmann. Er begleitete Kanzler Adenauer bei dessen legendären Besuchen in Paris und Moskau. 1970 fotografierte er den ( I/43) historischen Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Auch das Personal des NS-Films konnte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach 1945 ungehindert weiterarbeiten. Schon bald nach Kriegsende fand sich ein Großteil der Regisseure des ‚Dritten Reiches‘ in ihren alten Berufen wieder. Einer von ihnen war Wolfgang Liebeneiner – ehedem Regisseur des ‚Euthansie‘-Films Ich klage an, Leiter der Fachschaft Film der Reichsfilmkammer, Produktionschef der Ufa sowie Mitglied des Präsidialrats der Reichstheaterkammer. 1947 inszenierte er in Hamburg die Uraufführung von Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür, das er zwei Jahre später unter dem Titel Liebe 47 auch verfilmte. In der Bundesrepublik führte Liebeneiner bei einigen aufwendigen TV-Produktionen Regie, so bei dem ZDF-Abenteuervierteiler Die Schatzinsel und Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer. Ein anderer Regisseur war Alfred Weidemann, einst Regisseur von Werbefilmen für die HJ und Mitglied der Reichsjugendführung der NSDAP. Zusammen mit seinem Freund Herbert Reinecker, der mit Serien wie Der Kommissar, Derrick und Das Traumschiff einer der meistgefragtesten TV-Regisseure der ‚Bonner Republik‘ war, hatte Weidemann 1943/44 den Propagandastreifen Junge Adler realisiert. In den frühen 50er Jahren führte er Regie in dem Spielfilm Canaris. Svend Noldan – Trickfilm-Spezialist u. a. in Riefenstahls Parteitagsfilm und in den Propagandastreifen Feldzug in Polen und Der ewige Jude sowie Regisseur des Kriegsfilms Sieg im Westen – produzierte später Werbefilme für die BASF über Schädlings- und Unkrautbekämpfung. Felix von Eckhardt – unter Goebbels Autor von Drehbüchern für Revue-, Kriminal- und Propagandafilme – machte die vielleicht überraschendste Nachkriegs­karriere. Er wurde Leiter von Adenauers Bundespresseamt und Pressesprecher der ­Regierung.

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Bei einigen Filmproduktionen tummelte sich das technische und künstlerische Filmpersonal der NS-Zeit geradezu, so etwa bei den beliebten Heimatfilmklassikern der Immenhof-Serie. Einige der Schauspieler hatten ihre Karrieren im ‚Dritten Reich‘ begonnen. Die Filmmusik stammte von keinem Geringeren als Norbert Schultze, der vor 1945 nicht nur unzählige Kampf- und Soldatenlieder komponiert hatte, sondern von dem auch die Musik des NS-Kriegsfilmklassikers Feuertaufe stammte. Auch Regisseur und Kameramann hatten an NS-Filmen mitgewirkt. Abgesehen von der Fertigstellung des Films Tiefland und einigen kleineren Dokumentarfilmen konnte Hitlers Starregisseurin Leni Riefenstahl keine größeren Filmprojekte mehr realisieren. Eine neue Karriere gelang ihr dagegen als Fotografin. Aufsehen erregten ihre Fotoserien über die Ethnie der Nuba, die sie ab 1964 in mehreren dekorativen Bildbänden sowie in den großen illustrierten Magazinen bis hin zum Life Magazine veröffentlichte. Im Dezember 1969 brachte der Stern eine mit 20 Aufnahmen illustrierte Titelgeschichte mit den Nuba-Fotos heraus, ohne Riefenstahls Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus irgendwo zu thematisieren. Die Ästhetik ihrer Nuba-Fotos schloss fast nahtlos an die Körperdarstellungen ihres Olympia-Films von 1937 an. Zum Teil trieb Riefenstahl die Stilisierung noch weiter, indem sie ihre Modelle ganz aus ihren Lebens- und Alltagszusammenhängen löste, sie in Untersicht und gegen den klaren Himmel fotografierte. Kritiker der Veröffentlichungen sahen in den Publikationen nicht nur eine Riefenstahl-Nostalgie, sondern eine NS-Nostalgie im Allgemeinen. Die Strategie der ‚zweiten Chance‘ ging auch bei Hitlers Bildpropagandisten auf. Die große Mehrheit von ihnen arrangierte sich mit der neuen Demokratie und fügte sich – sieht man von wenigen Einzelfällen wie Schweitzer, Petersen und Riefenstahl ab – ästhetisch mehr oder minder in deren Formensprache ein. Ihre Bildproduktionen der Nazi-Zeit lebten zur gleichen Zeit ungehindert fort. Gefahren irgendwelcher Art gingen von ihnen indes nicht mehr aus.

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Transparenz und Sachlichkeit Die Präsentation der jungen Republik

Während Ästhetik und Bildersprache des ‚Dritten Reiches‘ in unterschiedlicher Weise nachwirkten, entwickelte das offizielle Bonn seine Repräsentation nach innen wie nach außen bewusst in Absetzung von den Symbolen und Bilderwelten der NS-Ära. Die neu gewonnene staatliche Legitimität sollte auch optisch deutlich werden. Wenn es auch umstritten ist, ob Demokratie überhaupt der Anschauung und der symbolischen Repräsentation bedarf, waren sich die Gründungsväter und -mütter der zweiten deutschen Demokratie darin einig, dass sich die neue Republik im Unterschied zur nationalsozialistischen Ästhetisierung von Politik und Gesellschaft bei der Wahl ihrer Staatssymbole, ihres Staatszeremoniells und seiner architektonischen Repräsentationen als nüchtern, rational und symbolarm darstellen sollte. Im Streit um die Nationalhymne hatte Bundespräsident Theodor Heuss hierfür die Formel vom „Pathos der Nüchternheit“ geprägt. Gerade im Fehlen affirmativ-bindender Images und in der Visibilität seiner Entscheidungsfindungen sah der postfaschistische Staat den Bruch mit der politischen Kultur seines Vorgängers. Zu Recht ist die junge Republik daher als ein „symbolarmer Staat“ (Herfried Münkler) bezeichnet worden. Der öffentliche Raum sei nur spärlich und zurückhaltend mit Symbolen besetzt worden. „Die Abgrenzung von den gigantischen Selbstinszenierungen des Nationalsozialismus erfolgte durch einen weitgehenden Verzicht auf politisch-rituelle Selbstdarstellungen und durch ein bescheiden-zurückhaltendes Staatszeremoniell.“2

„Demokratie als Bauherr“ Selbstdarstellung in Architektur und Staatsbesuch Anschaulich zeigten sich der neusachliche Charme der ‚Bonner Republik‘ und das ‚Zurück‘ zur architektonischen Moderne von Weimar in vier repräsentativen Gebäuden: im Bonner Bundeshaus, im deutschen Weltausstellungspavillon in Brüssel, im Kanzlerbungalow sowie im Gebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Die „kriegs- und teilungsbedingte Symbolarmut“ (Thomas Maria SchaffrathChanson) spiegelte sich in diesen architektonischen Objekten ebenso wider wie die Vorläufigkeit des Bonner Provisoriums. Gerade in ihrer Abgrenzung zur neoklassizistischen Bedeutungsarchitektur der vorangegangenen NS-Architektur speerscher Prägung sowie zur sich abzeichnenden DDR-Architektur stalinscher Provenienz

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war dennoch auch die frühe Architektur der ‚Bonner Republik‘ politisch motiviert und folgte einer spezifischen Ikonografie. Ähnlich wie in bildender Kunst und Design spiegelte sich in den neuen Repräsentationsbauten im Wesentlichen eine westliche gemäßigte Moderne wider. Vorbilder und Anknüpfungspunkte hatten diese in dem vom Bauhaus inspirierten, international anerkannten Neuen Bauen, das als Symbol von Freiheit und Individualismus galt und u. a. in Mies van der Rohes Pavillon zur Weltausstellung 1929 in Barcelona zum Ausdruck gekommen war. Mit einer Architektur der Offenheit, Transparenz und Leichtigkeit und der Ablehnung alles Pathetischen und Geschichtlichen demonstrierte die junge Republik sowohl ihre Zugehörigkeit zur Architektur des ‚freien Westens‘ wie ihre Ablehnung der monumentalen und geschlossenen Repräsentationsarchitektur, wie sie das NS-Regime etwa mit dem Berliner Olympia­ stadion, dem Pariser Weltausstellungspavillon sowie der Neuen Reichskanzlei geschaffen hatte. War die bisherige Geschichte des Parlamentsbaus „eine Geschichte der Adaption demokratischer Parlamente an eine vordemokratische Bausubstanz“3 gewesen, wie sie die Frankfurter Paulskirche und der Berliner Reichstag darstellten, sollte sich der neue Parlamentsbau vom NS-Regime abgrenzen und dies explizit auch sichtbar

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Modern, transparent, dauerhaft – Staatsarchitektur der ‚Bonner Republik‘ [I/12] Bundeshaus, Bonn (1961); [I/13] Alter Plenarsaal mit den Wappen der Bundesländer an der Stirnwand während der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestages am 7. September 1949; [I/14] Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe (o. D.); [I/15] Deutscher Pavillon, Weltausstellung Brüssel (1958); [I/16] Bonner Kanzleramt (nach 1976)

zum Ausdruck bringen. In einem viel zitierten Vortrag mit dem Titel „Demokratie als Bauherr“ stellte der SPD-Kronjurist und Architekturkritiker Adolf Arndt später einen Zusammenhang „zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und einer äußeren wie inneren Durchsichtigkeit und Zugänglichkeit ihrer öffentlichen Bauwerke“ her. Der umbaute Raum fungiere als Bedeutungsträger demokratischer Werte.4 Dahinter verbarg sich der keineswegs neue Gedanke, dass „die Form [das] Vehikel des Inhalts“ sei, wie es 1951 der Kunsthistoriker Günter Bandmann formuliert hatte. (I/12) Bei der Suche nach einem neuen Parlamentsgebäude fiel die Wahl auf die von Martin Witte in der Formensprache des Bauhauses errichtete, 1933 eingeweihte Pädagogische Akademie in Bonn, die als Musterbeispiel der sogenannten ‚weißen Moderne‘ galt und nun von Hans Schwippert für die Zwecke eines modernen Parlamentsgebäudes umgestaltet wurde. In seinen vom Dessauer Bauhauskomplex inspirierten Plänen schwebte dem Architekten „ein Haus der Offenheit, eine Architektur der Begegnung und des Gesprächs“ (Hans Schwippert) vor. Im Zentrum von Schwipperts Umbau stand der mit schlichten Materialien und dezenter Farbgebung ausgestattete, seitlich verglaste Plenarsaal. Transparenz, Licht und Offenheit schienen ihm in besonderer Weise dem Öffentlichkeitsgebot des Grundgesetzes zu

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entsprechen. Glas und Kreis galten Schwippert materialikonologisch und politikikonografisch als adäquater Baustoff und architektonische Form der modernen Demokratie. Nicht durchzusetzen vermochte sich der Architekt allerdings mit seiner Idee eines kreisrunden Plenarsaals als Symbol von Harmonie und Egalitarismus. Stattdessen wurde auf persönlichen Wunsch Adenauers eine einem Hörsaal ähnliche Sitzordnung realisiert. (I/13) Auch mit den Staatssymbolen ging Schwippert sparsam um. Die Stirnwand des Plenarsaales schmückten, der Idee des Föderalismus entsprechend und im Gegensatz zum Zentralismus der Nazis, zunächst die Wappen der Bundesländer. 1953 wurden diese durch einen großen Bundesadler ersetzt. Neben Schwippert prägten in den 1950/60er Jahren vor allem die Architekten Egon Eiermann, Sep Ruf und Paul Baumgarten die architektonische Selbstdarstellung der Republik. (I/15) Dem Sitzungsgebäude des Bonner Bundeshauses nicht unähnlich war Eiermanns Brüsseler Weltausstellungspavillon von 1958. Auch er stellte eine „visuelle Antithese zu Speers überwältigendem, vertikalen Pseudo-Klassizismus“5 dar. Das flache, unscheinbare, geradezu bescheidene Gebäude im Stil des Neuen Bauens mit seinen großen Fenstern galt als architektonischer Ausdruck des Wirtschaftswunders und der neuen Demokratie. Auf jegliches Pathos verzichtend und lediglich durch seine zurückhaltende Eleganz bestechend, zeigten sich der Kanzlerbungalow von Sep Ruf von 1963/64 und (I/16) das neue Bundeskanzleramt aus dem Jahr 1976, das Bundeskanzler Helmut Schmidt später an den „Charme einer rheinischen Sparkasse“ erinnern sollte. In die Reihe der schlichten und funktionalen Repräsentationsbauten reihte sich 1969 auch das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe von Paul Baumgarten ein (I/14), das ebenfalls prägende Elemente der Pavillonarchitektur aufnahm. „Die zurückhaltende Form, welche die Weigerung, zu repräsentieren, zum Stil der Repräsentation selbst machte“, so der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, „wurde zu einer bis in die neunziger Jahre reichenden Verbindlichkeit.“6 Die staatsrepräsentative Unanschaulichkeit und geringe formalästhetische Kraft der weiteren Bonner Staatsbauten veranlasste den Leiter des Deutschen Architekturmuseums, allgemein eine Repräsentationsmisere und einen mangelnden Repräsentationswillen der Demokratie zu beklagen und von einer „Rechnungshof-Architektur“ zu sprechen, „in der die Institutionen der Republik zwar Unterkunft, doch kein Image“ 7 gefunden hätten. Erst der von Günter Behnisch entworfene neue Plenarsaal des Bundestages von 1992 stimmte die Architekturkritiker versöhnlicher. Behnisch hob mit seinen zu Hallen sich erweiternden Fluren und der kreisförmigen Sitzordnung der Parlamentarier nicht nur den von Adenauer durchgesetzten Hörsaalcharakter des Bundestages auf und verhalf dem neuen Verständnis der repräsentativen Demokratie damit zum adäquaten Ausdruck, sein Neubau verkündete architektonisch zugleich das Ende der Bonner Provisorien und das Ende der Nachkriegszeit. Transparenz und Sachlichkeit waren immer nur die eine Seite der Medaille. So transparent, wie die Bonner Staatsarchitektur suggerierte, war die Politik nämlich realiter nie. Wichtige Entscheidungen wurden weiter wie bisher in Hinterzimmern getroffen. Die großen Skandale und Korruptionsaffären der ‚Bonner Republik‘ wie Absprachen bei der Besetzung von hohen politischen Posten, die Zahlung von

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­ estechungsgeldern bei der Beschaffung von Rüstungsgütern, der Skandal um die B gewerkschaftseigene ‚Neue Heimat‘ 1982 und der um die Kieler Staatskanzlei 1987 hinterließen sichtbare Spuren immer nur im Nachhinein und dann, wenn sie aufgedeckt wurden. Die Diffamierung sozialdemokratischer Remigranten wie Willy Brandt und Herbert Wehner als ‚Vaterlandsverräter‘ hatte mit Sachlichkeit nichts zu tun. Das Bauen der Nüchternheit und Schlichtheit und die Verabsolutierung des architektonischen Prinzips ‚form follows function‘ fand seine hässliche Fortsetzung in den in den 1960er Jahren entstandenen tristen Großwohnsiedlungen am Rande der Städte wie dem Märkischen Viertel in West-Berlin oder dem Mettenhof in Kiel. Neben den Repräsentationsbauten lieferten vor allem die Staatsbesuche der jungen Republik Gelegenheiten, um sich im Bewusstsein ihrer Bürger zu etablieren sowie sich gegenüber dem Ausland darzustellen. Staatsbesuche wie der des äthiopischen Kaisers Haile Selassie I. bereits 1954 waren eine besondere Form der Staatsarchitektur. Sie ermöglichten es den führenden Repräsentanten der Republik, sich selbst und das Land öffentlich in Szene zu setzen. Zu diesem Zweck bildete die ‚Bonner Republik‘ ein „ausgefeiltes Bildprogramm und ein breites darstellerisches Repertoire“ (Simone Derix) heraus.8 Die Orte der Inszenierung selbst hatten häufig symbolische Qualität, wie das Volkswagenwerk und die Kruppwerke als Orte des Wiederaufbaus und des ‚Wirtschaftswunders‘, die Berliner Mauer und das Brandenburger Tor als offene ‚Wunden‘ der deutschen Teilung und das Bonner Ehrenmal, die Gedenkstätte Plötzensee sowie die KZ-Gedenkstätten als ‚Narben‘ der Vergangenheit. Zum Standardprogramm der Staatsbesuche zählte wie einst im antiken Drama der obligatorische Blick über die Mauer auf das sich dahinter verbergende Grauen, so auch bei der Deutschlandreise von John F. Kennedy 1963, die einen ­Höhepunkt in der symbolischen Politik des ‚Kalten Krieges‘ darstellte. Die Zuschauer bei diesen bis ins Kleinste durchchoreografierten Staatsbesuchen waren allerdings nur als Staffage eingeplant. Nach und nach indes emanzipierten sich diese aus der ihnen zugedachten Rolle, wie etwa bei den Gegendemonstrationen aus Anlass des Schah-Besuches 1967 in Berlin. Die offizielle Politik verlegte ihre Selbstrepräsentation als Reaktion darauf zunehmend von der Straße zurück in die Arkanbereiche von abgeschirmten Veranstaltungen mit geladenen Gästen, da sich diese visuell effizienter planen und polizeilich besser kontrollieren ließen.

Medienkanzler Die Repräsentation der Repräsentanten Das Dilemma, zwischen der Abgrenzung von den Repräsentationen des ‚Dritten Reiches‘ und der Notwendigkeit staatlicher Darstellung in der neuen Demokratie einen Platz zu finden, brachte Konrad Adenauer auf den Punkt: „‘ne neue Goebbels brauchen wir nicht und wollen wir nicht, aber ein wirksamer Apparat mit einem presseerfahrenen Mann an der Spitze  – das muss unbedingt sein.“9 Mit der Hilfe eines solchen Apparates, zunächst in Gestalt des Bundespresseamtes, später dann professioneller Medienberater, avancierten die Kanzler nach 1949 zu regelrechten Medienikonen, die von Millionen Menschen als personale Repräsentanten der

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Konrad Adenauer (1949–1963) [I/17] Plakat Bundestagswahl (1953); [I/18] Adenauer am 15.6.1956 in Milwaukee/USA; [I/19] CDU-Wahlplakat 1957, Entwurf Paul Aigner; [I/20] Fernsehansprache Adenauers (1962); [I/21] Standbild aus dem CDU-Werbefilm Keine Experimente (1957); [I/22] SPIEGELCover 37/1957

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­ euen Demokratie wahrgenommen wurden. Das Attribut, ein ‚Medienkanzler‘ zu n sein, traf keineswegs nur auf Gerhard Schröder zu. Alle Kanzler der Republik waren ‚Medienkanzler‘, wobei sich deren Verhältnis zu den Medien durchaus unterschiedlich gestaltete. Während sich Konrad Adenauer primär der ‚klassischen‘ Medien Plakat, Fotografie und Film bediente, Willy Brandt medial eher ein Kanzler des Übergangs war und alle Medien bespielte, handelte es sich bei Helmut Schmidt um den ersten ‚Fernsehkanzler‘ der Republik. In ihrer Darstellung hatten alle Kanzler zwischen den Ansprüchen staatlichen Zeremoniells und der Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Zurückhaltung zu balancieren. Eingebunden waren diese Kanzler in ihrer medialen Präsentation in einen Strukturwandel der politischen Repräsentation, den vier Merkmale kennzeichneten: „1.  eine immer stärkere Medienfixierung des politischen Systems verbunden mit einer Boulevardisierung von Politik durch vermehrte Auftritte von Politikern in Unterhaltungsformaten, 2. eine immer größere Rolle der Berater und Agenturen und die Verlagerung der PR-Aufgaben weg von Parteifunktionären hin zu professionellen Politikvermittlern, 3. die immer größere Bedeutung von Personen statt Inhalten, 4. die Dominanz des Fernsehens in der Politikvermittlung.“10 Konrad Adenauer, Bundeskanzler von 1949 bis 1963, war bei seinem Amtsantritt bereits 73 Jahre alt. Medial blieb er ein Kanzler auf Distanz. Im Unterschied zu den Reichspräsidenten der Weimarer Republik war er sich aber durchaus der Bedeutung von Bildern, Symbolen und Inszenierungen sowie der Risiken der Performanz bewusst. Dies hatte bereits die Inszenierung der Unterzeichnung des Grundgesetzes 1949 in der Aula der Pädagogischen Akademie Bonn deutlich gemacht. Und dass Adenauer auch keine Scheu besaß, sich kompetenter Medienberater zu bedienen, verriet seine Bestellung des ehemaligen NS-Drehbuchautors Felix von Eckardt zum

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Leiter des Bundespresseamtes, zum Pressesprecher der neuen Regierung sowie zu einem seiner wichtigsten Berater überhaupt. Wie wichtig dem ‚Alten‘ die Arbeit des Bundespresseamtes war, zeigte sich darin, dass sich dessen Etat zwischen 1950 und 1957 von 2 auf mehr als 20 Millionen DM verzehnfachte und sich die Mitarbeiterzahl in den 1950er Jahren mehr als verdreifachte. Mit dem Bundespresseamt hatte sich Adenauer eine staatliche Dienstleistungsagentur für Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Den ersten Wahlkampf der neuen Republik prägten noch stark Praktiken und Stilelemente der Weimarer Zeit. Dieser wurde hauptsächlich mit Plakaten, Broschüren und öffentlichen Versammlungen geführt. Dem ersten Kanzler der Bundesrepublik begegneten die Bundesbürger vor allem in den klassischen Medien der Zeitungsfotografie und des Plakats. Im Unterschied zur Fotografie spielte das Fernsehen zur Amtszeit Adenauers noch eine untergeordnete Rolle. (I/20) Gleichwohl ließen sich Tendenzen „zu einer verstärkten Bildhaftigkeit, verbunden mit einer Boulevardisierung“ 11 auch während seiner Kanzlerschaft festmachen. In seinen medialen Darstellungen inszenierte sich der Kanzler vor allem als überparteiliche Führerfigur mit präsidialen Zügen. Mit Adenauer setzte sich zugleich der Politikstil der Personalisierung durch. Immer wieder lud der Kanzler Journalisten und Pressefotografen in sein Haus nach Rhöndorf oder in sein Feriendomizil nach Cadenabbia am Comer See ein, um sich dort als Rosenzüchter, Bocciaspieler und Familienvater ablichten zu lassen. Bei allen diesen scheinbar privaten Ereignissen entstanden Bilder und Geschichten, die den ‚Menschen Adenauer‘ in die Wohnzimmer der Deutschen brachten. Ein Tauschhandel begann sich zu etablieren: Die mediengerecht bereitgestellten Informationen und Homestorys brachten den Zeitschriften Käufer und Abonnenten ein, dem Kanzler wiederum verschafften sie ein Mehr an Publizität. Die Auftritte Adenauers waren in der Regel symbolträchtig organisiert. Die vom Bundespresseamt gemeinsam mit einer PR-Agentur vorbereiteten Reisen 1953 und 1956 in die USA ließen eine Vielzahl symbolischer Aufnahmen entstehen, die alle das Ziel verfolgten, Deutschland wieder als gleichberechtigtes Mitglied in den Kreis der Nationen einzubringen. (I/17) Wahlplakate präsentierten den ‚Alten‘ daher ganz modern als Netzwerker, der „die Fäden zur freien Welt“ knüpfte. (I/18) Berühmt wurde ein Foto, das Adenauer mit indianischem Federschmuck in Milwaukee zeigt, während er eine Friedenspfeife raucht und Blutsbrüderschaft schließt. Der CDUWerbefilm Ein Mann wirbt für sein Volk, der Aufnahmen von Adenauers erstem USABesuch 1953 kompilierte, zeigt den Kanzler als Kapitän auf der Brücke eines Oceanliners, als unermüdlichen Arbeiter auch auf Reisen, als Gast im New Yorker Waldorf Astoria, beim Besuch des US-Präsidenten Eisenhower sowie bei einer Kranzniederlegung in Arlington. (I/21) In dem Zeichentrickfilm Keine Experimente von 1957 – dem Geburtsjahr der TV-Werbespots mit dem HB-Männchen ‚Bruno‘ ( I/194)  – agierte Adenauer zeitgemäß als Trickfigur in einem modernen Produktionsbetrieb an den ‚Schalthebeln‘ der Macht. Professionell legt er die Hebel um auf Frieden bzw. präsentiert sich als tüchtiger Verwalter und Garant für Stabilität. Wie etliche seiner Nachfolger nutzte er Staatsbesuche immer auch als Gelegenheit, um sich durch

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symbolische Gesten massenwirksam in Szene zu setzen und seine politischen Absichten visuell zu unterstreichen. Adenauer wurde zu einem der meistfotografierten Männer Europas. Dabei besaß er keine Bedenken, sich auch von ehemaligen NS-Propagandafotografen ablichten zu lassen. Aufnahmen wie das ‚offizielle‘ Kanzlerporträt von Theo Schafgans zeigten den Kanzler zumeist ernst, nachdenklich, zuweilen verschlossen, immer auf Distanz bedacht und selten nur lächelnd. Auf den meisten Fotografien schaut er an dem Fotografen und damit an dem Betrachter vorbei oder fixiert diese allenfalls skeptisch. Es waren eher einer vordemokratischen Ästhetik verhaftete Bilder, die den Kanzler abgehoben und ungenau kontextualisiert präsentierten. Eine Beziehung zum Betrachter bauten sie nur selten auf. (I/22) Eines der bekanntesten Adenauer-Porträts stammte von dem Kölner Fotografen Carl-Heinz Hargesheimer, alias Chargesheimer, das dieser 1957 für den SPIEGEL gemacht hatte und den Kopf des Kanzlers vor schwarzem Hintergrund ohne Bezug zu Körper, Raum und Betrachter zeigt. Adenauers Kopf war  – vermutlich ganz entgegen der Intention des Auftraggebers – zur Skulptur von archaischer Qualität geraten. „Der Mythos Adenauer hatte endgültig seine Form gefunden, und Chargesheimer gab ihm die erste Ikone.“12 Die Fotografie fügte sich ein in die Medienstrategie der CDU, den Kanzler als über den Parteien stehenden Übervater ins Bild zu setzen. Wie sehr Adenauer aber auch selbst an seinem eigenen Mythos arbeitete, machte seine Umdeutung der sogenannten Teppichszene deutlich. Bei einem Besuch der drei Hohen Kommissare der Westalliierten im September 1949 auf dem Petersberg bei Bonn war der frisch gewählte Kanzler entgegen dem Protokoll zufällig auf denselben Teppich geraten, auf dem auch die drei Kommissare standen. In seinen Memoiren deutete Adenauer die in einer Fotografie festgehaltene Szene später zu einem bewussten politischen Akt um, mit dem er den Alliierten die wiedererlangte deutsche Souveränität und völkerrechtliche Gleichberechtigung habe demonstrieren wollen – eine Deutung, die gleich von einer ganzen Riege bundesdeutscher Historiker übernommen wurde. Dass Adenauer um die Risiken von Performanz und Sichtbarkeitspolitik wusste, zeigt sein letztlich gescheiterter Versuch zu Beginn der 1960er Jahre, mit der Deutschland-Fernsehen GmbH als Dachgesellschaft ein Staatsfernsehen zu etablieren, sowie der von ihm betriebene Ausbau des Bundespresseamtes. Beides lässt sich als Bemühen deuten, die Bildproduktion der Bundesregierung institutionell kontrollieren zu wollen. Im Unterschied zu Adenauer präsentierte sich Willy Brandt  – Jahrgang 1913, Kanzler von 1969 bis 1974 – als Politiker zum Anfassen. Schon als Regierender Bürgermeister von Berlin war er zum „populären Medienhelden“ (Lars Rosumek) geworden. Deutlich stärker als Adenauer orientierte sich Brandt an den Bedürfnissen der Medien und deren Präsentationslogiken. „Dies schlug sich in einer großzügigen Informationspolitik, einer an den Medien ausgerichteten Politikdarstellung sowie in der medialen Inszenierung der eigenen Person nieder.“ 13 Brandts Wahlkampf­touren waren minutiös durchgeplante, auf Medienwirkung ausgerichtete Veranstaltungen (I/27).

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Seit seiner Zeit als Regierender Bürgermeister setzten Brandt und seine Berater auf die mediale Inszenierung und Visualisierung von Politik. Deutlicher als Adenauer bedienten sie das Interesse des Boulevardjournalismus an Prominenz und Homestorys. Brandt drängte regelrecht ins Blitzlichtgewitter der Pressefotografen. Die Folge: Obwohl Brandt eigentlich kein Familienmensch war, stellte er seine Frau und seine Söhne öffentlich zur Schau, was sichtlich ungelenk wirkte. (I/23) Wie in der Werbung präsentierten sich die Brandts, traditionelle Rollenklischees bedienend, in einem Wahlfilm von 1961 als moderne und glückliche Mittelstandsfamilie. Darüber hinaus versuchten seine Berater, die Popularität des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy auf Brandt zu übertragen, um ihn als künftigen Staatsmann zu profilieren. (I/25) Gezielt brachte man daher Bilder in Umlauf, die Brandt zusammen mit Kennedy zeigten. (I/24) Mediengerecht studierte Brandt seine Posen und Gesten bei öffentlichen Auftritten mit dem renommierten Werbefachmann und Fotografen Charles Wilp ein ( I/184, 196). ( I/128) Der Mauerbau 1961 bescherte Brandt eine mediale Dauerpräsenz im Fernsehen, die man gar nicht besser hätte planen können. Anders als Adenauer und

Willy Brandt (1969–1974) [I/23] Willy Brandt mit Gattin Rut und den drei Söhnen (1961); [I/24] Brandt mit Charles Wilp beim Proben öffentlicher Auftritte (1968); [I/25] Brandt mit Kennedy u. Adenauer in Berlin (26.6.1963); [I/26] SPD-Plakat 1957; [I/27] Friedensnobelpreis-Verleihung an Willy Brandt, Oslo, (10.12.1971), Überreichung der Urkunde und Medaille durch Aase Lionäs in der Aula der Universität Oslo; [I/28a] SPD-Wahlkampf 1972 [I/23]

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seine unmittelbaren Vorgänger Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger gelang es Brandt, seine charismatische Wirkung auch im Medium Fernsehen zu entfalten. Zugleich war Brandt wie kein anderer Politiker der Zeit diffamierenden Angriffen in Text und Karikatur ausgesetzt, die vor allem auf seine Zeit im Exil rekurrierten und ihn als ‚Vaterlandsverräter‘ verunglimpften. Noch stärker als bei Adenauer führte die Politik der Personalisierung bei Brandt zu einer Fokussierung auf dessen Gesicht. Dieses erschien den Zeitgenossen als Ausdruck der Seele und als Spiegel von Authentizität. Porträtaufnahmen und Kopfplakate Brandts vermittelten zwei Images: das des ‚Smiling Willy‘ und das des ‚Fighting Willy‘, des entschiedenen Antikommunisten und Berliner Freiheitskämpfers. In seinen Bildern präsentierte sich Brandt jugendlich, braun gebrannt,

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stets dem Betrachter zugewandt und lächelnd, so erstmals 1957 auf einem Titelblatt des SPIEGEL und ähnlich auch (I/26) auf einem Wahlplakat aus demselben Jahr aus Berlin. Indem Brandt den Betrachter direkt fixierte, stellte er eine Beziehung zu ihm her und zog diesen in das Bild hinein. Viele Aufnahmen zeigten Brandt inmitten von Menschenmengen, als Mann aus dem Volk oder in konkreten Alltagssituationen wie beim Weg zur Arbeit oder im Speisewagen der Bundesbahn. „Sieh da, ein Mensch“ titelte der Stern 1973 in einer Bildreportage über Brandt mit Fotografien von Robert Lebeck. Brandt war die „Ikone einer neuen Ära“ (Daniela Münkel). Trotz der insgesamt wohlüberlegten Bildpolitik Brandts gab es auch Auftritte, die ursprünglich medial nicht oder nicht so geplant worden waren. Dies traf sowohl auf ( I/43) den Kniefall Brandts in Warschau als auch auf dessen Begegnung mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, am 19. März 1970 in Erfurt zu, das international viel beachtete erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen. Zu fotografischen Ikonen des Treffens wurden jene Aufnahmen, die Brandt am Fenster des Hotels ‚Erfurter Hof ‘ exakt in jenem Augenblick zeigten, als es dem Besucher aus dem Westen angesichts der von der Masse vor dem Hotel angestimmten „Willy, Willy“-Rufe vor Rührung in Sprache verschlagen hatte und Brandt für eine Minute wie versteinert, fast erschüttert auf die jubelnden Menschen auf den Platz blickte. Die Aufnahmen gingen ins gesamtdeutsche Gedächtnis ein. Trotz Versammlungs- und Fotografierverbots war es auch Hobbyfotografen aus der DDR wie (I/28b) ­Günther Hergt oder Otto Brandt gelungen, Brandt aus der Anonymität und aus dem Schutz der Menge heraus zu fotografieren und ihre Aufnahmen dem Zugriff der DDR-Sicherheitsorgane vorzuenthalten. Für den Stern hatten solche Bilder ‚Mauer­ brecher‘-Qualitäten, da sie das „Ende der Eiszeit“ zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost eingeläutet hätten. Brandt  – so schien es  – hatte die Mauer des Schweigens zwischen den beiden deutschen Staaten durchbrochen und mit seiner

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[I/28b] Günther Hergt, Willy Brandt am Fenster des Hotels ‚Erfurter Hof‘ am 19.3.1970

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[I/28c] Henri Bureau, Erfurt, 19.3.1970

Politik des „Wandels durch Annäherung“ ein neues Kapitel in den deutsch-deutschen Beziehungen aufgeschlagen. Ausdruck der ersten freien Willenskundgebung in der DDR seit dem 17. Juni 1953 waren indes vor allem die Aufnahmen der Brandt zujubelnden und die Absperrungen der DDR-Sicherheitsorgane durchbrechenden Erfurter Bürger (I/28c) wie jener älteren Frau mit ihrer XXL-Handtasche, die dem französischen Fotografen Henri Bureau vor die Kamera geraten war. Der langjährige US-Deutschland-Korrespondent David Binder notierte am 22. März in der New York Times: „Es war ein Aufschrei aus dem Innersten, der sich an die Deutschen in allen Teilen des Landes richtete und zu besagen schien: ‚Wir sind ein Volk!‘“ Für die Stasi war das Gipfeltreffen in Erfurt ein Großkampftag. Angesichts der sich auf dem Platz vor dem ‚Erfurter Hof ‘ abspielenden Jubelszenen, die sich auch durch den massiven Einsatz der Sicherungsorgane nicht unterbinden ließen, hatte sie alle verfügbaren Fotografen nach dort beordert, um die „Krakeeler“ – wie sie im Stasi-Jargon genannt wurden – fotografisch für spätere Auswertungen zu fixieren. Die zahllosen Abzüge und Negative füllten später 17 Aktenordner. Nach der (I/27) Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 an Brandt wegen dessen Beitrag zur Entspannung zwischen Ost und West änderte sich Brandts Präsentation in der Öffentlichkeit. Seine Person wurde nun zunehmend überhöht dargestellt und den Niederungen des täglichen Parteienzwists entrückt. Der einstige ‚Kanzler zum Anfassen‘ inszenierte sich nun „als ein von der Aura der Geschichtlichkeit ­umstrahltes Denkmal, als Kanzler und moralischer Erneuerer der Nation, als deutscher Staatsmann statt als Parteivorsitzender der SPD“.14

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(I/28a) Der gesamte Wahlkampf 1972 – Brandt befand sich auf dem Zenit seiner Popularität  – wurde mit einem einzigen ikonenhaften Porträt Brandts von Harry Walter bestritten, das die bisherigen Merkmale von Brandts visueller Repräsentation bündelte. Hinzu kam eine neue Strategie, die man der studentischen Protestbewegung abgeschaut hatte: das öffentliche Bekennen durch mehrere Millionen ( I/256a) Buttons, Autoaufkleber, Briefaufkleber, T-Shirts usf. Eine Neuerung in der Wahlkampfkommunikation war auch, dass die politischen Fernsehsendungen des Vortages in Flugblättern mit dem Titel ‚TV-intern‘ bereits am kommenden Morgen in Massenauflage analysiert und kommentiert wurden und vor Fabriktoren, in Fußgängerzonen und an Bahnhöfen zur Verteilung kamen. Auf Pressefotografien mit Willy Brandt – ob als Kofferträger auf Wahlkampfreisen, bei (I/29) Kundgebungen hinter Brandt, als Begleiter im Urlaub – tauchte seit 1972 nun immer öfter im Hintergrund ein jüngerer Mann mit vollem schwarzem Haar und dunkler Sonnenbrille auf. Bei ihm handelte es sich um Brandts persönlichen Referenten Günter Guillaume, der eine mustergültige Parteiarbeiterkarriere im rechten SPD-Milieu hingelegt hatte. Wie sich 1974 herausstellte, war Guillaume Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Seine Enttarnung durch den Bundesnachrichtendienst (BND) entwickelte sich zur sogenannten ‚Guillaume-Affäre‘, als dessen Folge Brandt noch im selben Jahr als Bundeskanzler zurücktrat. Wie Adenauer ließ sich auch Brandt nur ungern porträtieren. Dennoch wurde kein anderer Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte in bildender Kunst und Skulptur zu seinen Lebzeiten und auch noch nach seinem Tode so oft und in unterschiedlichen Stilen dargestellt wie Brandt, ob in den Bildern von Andy Warhol und Otto Herbert Hajek oder in den Skulpturen von Gerhard Marcks und Rainer Fetting. Obwohl selbst Fernsehkritiker, der anknüpfend an Neil Postman einen „neuen Analphabetismus“ als Folge des Fernsehens beklagte, wurde Helmut Schmidt – Kanzler von 1974 bis 1982  – zum ersten wirklichen Fernsehkanzler der Republik. Völlig anders als bei Brandt handelte es sich bei Schmidt um eine Persönlichkeit, die vermeintlich jeder Form von überhöhter Theatralik skeptisch gegenüberstand. Große Kanzlerkampagnen lehnte er ab. Sein Umgang mit dem Fernsehen war ungezwungen

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[I/29] Kanzler Brandt bei einer Wahlkampfveranstaltung am 8.4.1974 in einem Braunschweiger Kohlebergwerk, hinter ihm mit Sonnenbrille sein Referent Günter Guillaume

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Helmut Schmidt (1974–1982) [I/30] Helmut Schmidt als Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe im Februar 1962 vor einer Karte mit den Flutgebieten; [I/31] SPD-Plakat zur Bundestagswahl 1969; [I/32] Schmidt an seinem neuen Arbeitsplatz im Bonner Kanzleramt, im Rücken ein Bildnis von August Bebel (Juli 1976); [I/33] Schmidt und der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing in der Kellerbar von Schmidts Privathaus in Hamburg (1978); [I/34] Schmidt mit Ehefrau Loki im Garten des Bonner Kanzleramtes (1974); [I/35] Titelblatt DER SPIEGEL 22/1981 [I/30]

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und selbstbewusst, was ihm bisweilen den Ruf des „arroganten Routiniers“ (Astrid Zipfel) einbrachte. (I/32) In Fotografien inszenierte sich Schmidt routiniert als oberster Angestellter der Republik: als geschäftsmäßig, sachlich-schnörkellos, kompetent, entscheidungsfreudig und immer wieder als Macher. (I/34) Familie und Privatleben spielten in Schmidts Präsentation allenfalls Nebenrollen, sieht man von seiner Ehefrau Loki ab, die er gerne als eigenständige und souveräne Partnerin präsentierte. (I/33) Ausgewählten Fotografen gewährte er auch einmal einen Blick in die Kellerbar seines Hamburger Privathauses, so anlässlich eines Besuches des französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Ansonsten habe sich Schmidt geweigert, seine Person nach den Gesetzen der Medien zu präsentieren. Sein Image sei das „AntiImage“ gewesen, so Lars Rosumek. (I/31) In Wahlkämpfen ließ sich Schmidt von seiner Partei gerne als Mann der Tat und als Modernisierer Deutschlands präsentieren. Interviews und Fernsehdokumentationen schilderten ihn geradezu stereotyp als Pragmatiker und als Macher – ein Image, dass er sich als Hamburger Innensenator während der Sturmflutkatastrophe von 1962 erworben hatte, als er sich bei der Rettung der vom Wasser eingeschlossenen Menschen wenig um rechtliche Grenzen gekümmert und die Bundeswehr zum Eingreifen bewogen hatte. (I/30) Pressefotos zeigten ihn an Karten bei der Planung von Rettungseinsätzen und im Bundeswehrhubschrauber, als er sich ein Bild der Lage verschaffte, als „Herr der Flut“ und selbst ernannter Krisenmanager. Dieses Image begleitete Schmidt bis zu seinem Tode. Es wurde vor allem von etlichen TVDokumentationen und SPD-Politikern zu einer Art National-Mythos aufgebaut, der nicht mehr kritisch befragt wurde. Seit 2018 ist das Macher-Image am Bröckeln. Ausgerechnet ein Historiker der Universität der Bundeswehr, die nach Schmidt bekannt ist, hegt seitdem Zweifel am „Sturmflut-Mythos“ des Helmut Schmidt. „Flutheld oder nur ein ‚Staatsschauspieler‘?“ fragte das Hamburger Abendblatt 2022. (I/35) Die Karikaturisten nahmen Schmidt wie einst Bismarck als Machtpolitiker ins Visier. Sein Beharren in der Nachrüstungsdebatte brachte ihm den Vergleich mit dem ‚eisernen Kanzler‘ ein. Das SPIEGEL-Cover vom 25. Mai 1981 zeigt Schmidt in Gestalt des Hamburger Bismarck-Denkmals. Statt des eisernen Schwertes hält er eine Pershing-Rakete in den Händen. Mit dem Austritt sämtlicher FDP-Minister aus seinem Kabinett scheiterte die von Schmidt geführte sozialliberale Koalition. Der SPIEGEL vom 20. September 1982 zeigte Schmidt nun in Anlehnung an eine Karikatur der englischen Karikaturenzeitschrift Punch von 1890 zur Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. als Lotsen, der das Staatsschiff verlässt. (I/36–39) Dem Hanseaten Schmidt folgte von 1982 bis 1998 der Pfälzer Helmut Kohl als sechster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Dessen mediale Repräsentation und sein Verhältnis zu den Medien unterschieden sich wiederum grundlegend von denen seiner Vorgänger. Kohl  – geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Medien, insbesondere dem Fernsehen – war ein „kommunikativer Phlegmatiker“ (Lars Rosumek), der die neuen Möglichkeiten der Fernsehkommunikation einschließlich des Privatfernsehens in der ersten Hälfte seiner Kanzlerschaft bis zur Wiedervereinigung nur begrenzt einzusetzen verstand. Erst nach

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Helmut Kohl (1982–1990) [I/36] Helmut Hohl vor dem Kapitol in Washington, Foto Robert Lebeck (1972); [I/37] CDU-Plakat Bundestagswahl (1994); [I/38] Titelblatt Titanic 1/1986; [I/39] CDU-Anzeige in DER SPIEGEL, 5.1.1987

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1989/90 gelang es Kohl, in seiner neuen Rolle als ‚Kanzler der Einheit‘ sein Verhältnis zu den Medien zu normalisieren und sein mediales Image zu verbessern. Bis dahin verfügte Kohl über das Image eines ‚Medientollpatsches‘, dem keine medialen Pannen und Ungeschicklichkeiten fremd waren, (I/36) so etwa als er sich 1972 von Robert Lebeck – damals war er noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz – vor dem Kapitol in Washington in Napoleonpose fotografieren ließ. Kohls Verhältnis zur Kunst war konventionell. Als Kanzler der von ihm ausgerufenen geistig-moralischen Wende wies er ihr die Funktion zu, „zur Selbstfindung der Bundesrepublik Deutschland“ beizutragen. Schon bald nach seinem Amtsantritt 1982 ließ er die Nolde-Gemälde seines Vorgängers aus seinem Dienstzimmer abhängen und durch Gemälde pfälzischer Maler wie Max Slevogt und Hans Purrmann ersetzen. Expressionismus und Abstraktion gehörten nicht zu Kohls Welt. Helmut Kohl war bis dato der am meisten verspottete Kanzler der Bundesrepublik. Kein Inhaber dieses Amtes zuvor hatte so viel Spott und Häme bis hin zu persönlichen Verletzungen ertragen müssen wie er, und dennoch hielt er sich länger im Amt als alle seine Vorgänger: ein Hinweis auf die letztlich begrenzten Wirkungen von Medien und Images. Zum Teil bot Kohls Unvermögen, sich mediengerecht zu präsentieren, selbst Anlass für Attacken. Allen voran die Bildmedien prägten das Image Kohls als „ungelenken, spießbürgerlichen Provinzlings aus der Pfalz“.15 In Anlehnung an die Charivari-Karikatur des französischen Königs Louis-Philippe von Charles Philipon aus dem Jahr 1834 wurde Kohl stereotyp als Birne karikiert, so auf dem SPIEGEL-Cover vom 23. August 1976, (I/38) auf etlichen Titelseiten des Satiremagazins Titanic oder auf einem Plakat von Klaus Staeck von 1983. Kohl als Birne wurde zur visuellen Erfahrung einer ganzen Generation: „Birne – das war Kohl und Kohl war Birne.“ 16 Zum Höhepunkt der Birnen-Polemik geriet der Wahlkampf 1987, bei dem CDU-Plakate mit dem Konterfei des Kanzlers massenhaft von GraffitiSprayern mit dem Slogan „Knips die Birne aus“ übermalt und damit unbrauchbar gemacht wurden. (I/39) Die CDU ging daraufhin in die kommunikative Offensive, schaltete wie im SPIEGEL, der zehn Jahre zuvor zu den Vorreitern der Birnen-Polemik gehört hatte, doppelseitige Hochglanzanzeigen mit einem Foto, das den Kanzler beim herzhaften Biss in eine Birne zeigt. „Auf treffende Weise findet sich hier wieder, was Heinrich Heine in einer ähnlichen Situation angesichts der Verspottung des französischen Königs Louis-Philippe geschrieben hatte. ‚Die Menge solcher Spottblätter und Zerrbilder wird täglich größer und überall, an den Mauern der Häuser, sieht man groteske Birnen. Noch nie ist ein Fürst in seiner eignen Hauptstadt so sehr verhöhnt worden wie Ludwig Philipp. Aber er denkt, wer zuletzt lacht, lacht am besten; Ihr werdet die Birne nicht fressen, die Birne frisst Euch.‘ Die offensive Strategie der CDU im Wahljahr 1987 war der Anfang vom Ende der Birnenpolemik gegen Helmut Kohl. Das Symbol war gebrochen. Dem Stachel war die Schärfe genommen und (…) mit dem Fall der Mauer sollte Kohl das Image des tumben Provinzpolitikers sowieso gänzlich hinter sich lassen.“17 Trotz aller Differenzen in ihrem öffentlichen Auftreten weisen die offiziellen Porträts aller Kanzler vor Gerhard Schröder in der ‚Ahnengalerie‘ des Berliner Kanzler-

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amtes einige Gemeinsamkeiten auf. Die von Helmut Schmidt ins Leben gerufene Galerie sollte, so die Absicht ihres Begründers, die „Kontinuität der Demokratie“ mithilfe von Bildern sichtbar machen. Der Gedanke, eine bundesrepublikanische Tradition zu begründen, war für Helmut Schmidt wesentlich. Die Künstler, die mit Kanzlerporträts beauftragt wurden, repräsentierten indes weder zeitgenössisch repräsentative Kunststile noch die Spitze der bundesdeutschen Malerei. Vielmehr spiegelten sich in der ‚Ahnengalerie‘ die künstlerischen Vorlieben und der Geschmack der jeweiligen Auftraggeber wider. Mit dem ersten offiziellen Kanzlerporträt wurde 1986 der DDR-Künstler Bernhard Heisig beauftragt. Das Gemälde zeigte Schmidt, wie er sich selbst sah: als Macher mit abgelegter Brille und mit Zigarette in der Hand nach geleisteter Arbeit. „Es ist das Portrait eines Mannes, der darauf verweisen möchte, seine Arbeit mit viel Bestimmtheit erledigt zu haben.“ 18 Auch Helmut Kohl wurde von einem DDR-Künstler gemalt, dem Heisig-Schüler Albrecht Gehse. Das von Blautönen beherrschte Bild ließ den Kanzler in seiner ganzen Körperfülle nahezu mit dem Hintergrund verschmelzen. Nur seine Hände und sein Kopf waren deutlich ausgearbeitet. Über der rechten Schulter Kohls und damit gleichsam in seiner Vergangenheit situiert, war schemenhaft als Verweis auf die deutsche Wiedervereinigung das Brandenburger Tor angedeutet. Dieser Verweis stellte zugleich den einzigen patriotischen Moment in der Galerie der Kanzlerporträts dar. Die Bildnisse von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt wurden nicht eigens für die Galerie angefertigt oder von den Porträtierten selbst ausgewählt. Das Porträt des ersten Kanzlers stammte aus einer Serie des Porträtmalers Hans-Jürgen Kallmann aus dem Jahr 1963. Das bedeutendere Bildnis Adenauers von Oskar Kokoschka indessen hing lange im Büro von Angela Merkel. Auseinandersetzungen gab es auch um das Porträt Willy Brandts von Georg Meistermann, das die Presse als „Brandt in Öl und ohne Nase“, als „apokalyptischen Reiter“ oder als „Ölbild nach Säureanschlag“ verhöhnte. Helmut Kohl machte sich die Kritik zu eigen. Er ließ das Bild abhängen und durch ein neues, eher herkömmliches und unauffälligeres Porträt des Düsseldorfer Malers Oswald Petersen ersetzen. Allen Kanzlerporträts war gemeinsam, dass sich auch in ihnen ähnlich wie in der Bonner Staatsarchitektur eher Sachlichkeit und Nüchternheit widerspiegelten als Pomp und Pathos. Damit standen und stehen sie im Gegensatz zu den eher im mo­narchistischen Stil inszenierten offiziellen Staatsfotografien französischer Präsidenten, auf denen immer auch traditionelle Macht- und Nationalinsignien wie Orden, Fahnen, Uniformen oder Amtssitz und Bibliotheken als Symbol von Klugheit Abbildung fanden. In Ästhetik und Symbolik erinnerten die „schlichten Kanzlerportraits an die Zurückhaltung des Bundeskanzleramts in Bonn. Nach der bis zur Utopie übertriebenen staatlichen Selbstdarstellung der Nationalsozialisten sollte auch in den Bildnissen Sachlichkeit vorherrschen. Auf nationale Symbole oder staatstragende Attribute wurde folglich verzichtet.“ 19 Insgesamt jedoch spielte die Darstellung der ‚Bonner Republik‘ in t­ raditionellen künstlerischen Gestaltungen nur eine marginale Rolle. Längst hatten R ­ egisseure und Kameraleute Bildhauer und Maler abgelöst. Staatliche Sichtbarkeitspolitik

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­ atte sich von Grund auf gewandelt. Kein politischer Repräsentant, so der Kunsthish toriker Martin Warnke 1988, der auf „der Höhe der technologischen Einflussmöglichkeiten“ operiere, exponiere sich noch als Denkmal oder lasse sein Bild „durch irgendeine Form eines ‚crimen laesae majestatis‘“ schützen. Längst könne man der „archaischen, handwerklichen Intuition von Künstlern“ entbehren. Vielmehr vertraue man sich der „Manipulationskunst von psychologischen Feinstmechanikern“ wie Kameramännern, Regisseuren, Werbefachleuten und Demoskopen an, die die „Rolle der Meißelschläger und Farbvirtuosen vergangener Jahrhunderte“ übernommen hätten. An die Stelle des originalen Bildnisses oder Denkmals sei ein sorgsam fabriziertes und gepflegtes ‚Image‘ getreten, das dem Vorbild des Konsums nacheifere. Dieses mediale Image habe das steinerne bzw. bronzene Abbild ersetzt.20

Händedruck – Gebet – Umarmung – Kniefall Pathosformeln der Politik Weit mehr als irgendwelche Verträge zeigten pathetisch inszenierte Symbolhandlungen der Körpersprache  – sogenannte Pathosformeln  – der deutschen wie der internationalen Öffentlichkeit, wie sehr Deutschland in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg bemüht war, wieder in die Weltgemeinschaft aufgenommen zu werden. Mit dem Begriff der ‚Pathosformel‘ hatte der Kunsthistoriker Aby Warburg wiederkehrende, normativ bestimmte Bewegungen des Körpers bezeichnet, die die Künstler der Renaissance der Antike entliehen hatten, um große Leidenschaften in Superlativen der Gebärde auszudrücken. Solche besonderen Formen des Gebarens konnten der Händedruck, das gemeinsame Verharren im Gebet oder auch der Kniefall sein – allesamt Gebärden, deren sich auch Politiker noch im 20. Jahrhundert bedienten, um ihr Verhältnis zu anderen Politikern oder Nationen zum Ausdruck zu bringen. Solche markanten, weil augenfälligen Bilder können gleichermaßen über Fotografien, Plakate wie über Filmausschnitte und Videosequenzen kommuniziert werden. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung und Ästhetik sind sie in der Lage, unabhängig von ihren materiellen Trägern Handlungen wie Schmerz, Protest oder Freude auszulösen. Eine in der europäischen Kunst-, Kultur- und Politikgeschichte bereits über Jahrhunderte verwendete Pathosformel war der Handschlag bzw. der Händedruck, der Verbundenheit, Anerkennung oder Versöhnung ausdrücken sollte. Nicht erst Willy Brandt, sondern bereits Konrad Adenauer beherrschte das Spiel mit solchen Handlungen perfekt. Mit einem symbolischen Handschlag besiegelte er so etwa 1954 mit dem französischen Premierminister Pierre Mendès France in Paris die Unterzeichnung der Pariser Verträge und das mit ihm geregelte Saarstatut. 1955 folgte der Händedruck zwischen dem Bundeskanzler und Nikolai Bulganin, dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, anlässlich der Verhandlungen über den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung für alle Deutschen, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion sowie über die Entlassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischem Gewahrsam.

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(I/40) Dabei ging besonders jene Szene in die Geschichtsbücher ein, die sich am Abend des 10. September 1955 in der Ehrenloge des Bolschoi-Theaters – der ehemaligen Zarenloge – abspielte, als Adenauer und Bulganin vermutlich spontan das steife Protokoll durchbrachen und sich vor den Augen des Beifall spendenden Publikums die Hände reichten und diese herzlich schüttelten. Genau das hatten zuvor auf der Bühne über den Gräbern ihrer Kinder Romeo und Julia die Tänzer der verfeindeten Grafen Montague und Capulet in Prokofjews Ballettversion von Shakespeares Drama getan. Von wem die Initiative ausging, ist bis heute umstritten. Sowohl Adenauer als auch Bulganin wussten, was sie dem Publikum schuldig waren. Schon beim ersten Applaus, als sie die Loge betraten, hatten sich beide die Hände gereicht. Nun, am Ende der Vorstellung, unter dem Eindruck der Versöhnungs­szene auf der Bühne, mussten sie den Zuschauern eine größere Geste bieten. Eine richtige Umarmung war es nicht und schon gar kein Bruderkuss. Adenauers Dolmetscher, der hinter beiden stand, beschrieb die Szene so, dass Adenauer und Bulganin sich wie alle anderen im Saal zum stehenden Applaus für die Tänzer von ihren Sitzen erhoben. „Sie standen zunächst nebeneinander. Dann drehte sich Adenauer seinem Nachbarn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Nun wandte sich auch Bulganin ihm zu, und beide standen sich kurze Zeit Auge in Auge gegenüber, bis Adenauer Bulganins Hand ergriff und anschließend beide sich wohl eine Minute lang mit großem Ernst an beiden Händen hielten. Es gab großen Beifall, als der Kanzler mit hocherhobenen Armen diesen Handschlag der Menge zeigte.“21 In seinen Memoiren kommentierte Adenauer die Szene: „Meine Handlung geschah impulsiv.“22 Das Foto der häufig als ‚Verbrüderung‘ fehlgedeuteten Szene ging durch die Weltpresse. Gerüchte um ein neues deutsch-sowjetisches Geheimabkommen machten die Runde. Wenige Tage später berichtete die Tagesschau in bewegten Bildern über den Adenauer-Besuch über die Szene. Mit der Körpergeste der beiden Politiker schien das Eis gebrochen, konnten die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden und in der Folge die letzten deutschen Kriegsgefangenen zurückkehren. Später wurde behauptet, Bulganin habe die ursprünglich auf dem Programm stehende Oper Boris Gudonow von Mussorgski absetzen und gezielt durch Romeo und Julia mit der beeindruckenden Abschlussszene ersetzen lassen. (I/41) Eine in ihrer Bedeutung ähnliche Pathosformel war das gemeinsame Verharren von Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle im Gebet anlässlich des Staatsbesuchs des Kanzlers am 8. Juli 1962 in der Kathedrale von Reims. Mit dieser ins Bild gesetzten Geste hofften beide Politiker, symbolisch der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft‘ ein Ende zu setzen, was schließlich wenige Monate später im Élysée-Vertrag tatsächlich gelang und schriftlich besiegelt wurde. (I/42) Erst jetzt fielen sich Adenauer und de Gaulle vor den Kameras der Weltpresse in die Arme und gaben sich den Bruderkuss. (I/43) Die Pathosformel der bundesdeutschen Nachkriegspolitik indes war der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Denkmal für die Kämpfer des Gettoaufstandes 1943 in Warschau, mit der Brandt – so die Deutung der Szene – um Vergebung für die von Deutschen während des Weltkrieges,

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insbesondere an den Juden, begangenen Verbrechen bat. Er habe das getan, „was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“ – mit diesen Worten beschrieb Brandt in seiner Autobiografie später die Szene. Der Kniefall avancierte zum „Höhepunkt medienbezogener Symbolpolitik“ (Lars Rosumek) in Deutschland. Brandt, so lautete der Tenor des Presseechos, habe mit seiner Geste nationale Schuld anerkannt, indem er vor den Opfern des Holocaust auf die Knie fiel. Dass sich die Opfer von Warschau 1943 erbittert gewehrt hatten, war kaum einmal der Erinnerung wert. Time Magazine machte Brandt 1971 zum „Man of the Year“ und widmete ihm ein Cover. Heute erscheint der Kniefall von Warschau als ein fotografisch fixierter, zur Ikone geratener Augenblick der Geschichte. (I/44) Am 22. September 1984 – dem 70. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges und fast 30 Jahre nach dem Händedruck von Moskau – kam es vor dem Beinhaus von Douaumont bei Verdun zum Händedruck zwischen dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand und Bundeskanzler Helmut Kohl. Mitterand hatte nach Bekunden von Kohl spontan seine Hand ergriffen, um anschließend schweigend mit ihm vor einem mit den Fahnen beider Länder bedeckten Katafalk minutenlang im strömenden Regen zu verharren. In seinen Memoiren erinnerte er sich am Ende seiner Ausführungen zu der Zeremonie gewiss nicht zufällig an das Bild der beiden Katholiken Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1962 in der Kathedrale von Reims. Sowohl Kohl als auch Mitterand verbanden mit dem Ort ihrer Begegnung auch persönliche Erinnerungen: Helmut Kohl hatte in Gesprächen mit seinem Vater von der ‚Hölle von Verdun‘ erfahren, während François Mitterand bei den Kämpfen an diesem geschichtsträchtigen Ort bei einem deutschen Tieffliegerangriff während des Zweiten Weltkrieges verwundet wurde und anschließend in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war. Die Szene von Verdun ging als Sinnbild der deutsch-französischen Aussöhnung in die Geschichtsbücher ein. Sie avancierte zu einer viel zitierten fotografischen Ikone des 20. Jahrhunderts. Die Herausgeber des deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches Histoire/Geschichte platzierten das Foto prominent in und auf ihrem Buch. Schnell fand das Foto seinen Platz auch außerhalb der deutsch-französischen Beziehungen. Zu sehen war es etwa im Vorfeld der Wahlen zum Europaparlament von 1988. Als Motor der Europäischen Integration nutzten es 1992 die Befürworter des Vertrages von Maastricht, die mit dem Bild beim Referendum in Frankreich für das ‚oui‘ warben. Der Gebrauch dieser Pathosformeln war eine Form symbolischen Handelns, mit der glaubhaft Politik gemacht wurde, nicht einfach nur Ersatzpolitik wie etwa 2022 beim Tragen der ‚one love‘-Binde durch die Fußball-Nationalmannschaft. Brandt, Adenauer und Kohl nahm man ihre Handlungen ab. Gerade dadurch war ihre Wirkung stark und konnten sich ihre Gesten – sieht man einmal vom Händedruck Adenauers in Moskau ab  – nachhaltig ins kollektive Bildergedächtnis der Deutschen einschreiben.

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Pathosformeln der Politik [I/40] Bundeskanzler Adenauer u. der sowjetische Ministerpräsident Bulganin am 10.9.1955, rechts neben Bulganin der sowjetische Parteichef Chruschtschow, Standbild aus einem B ­ ericht der Tagesschau von 1955; [I/41] Adenauer und der französische Staatspräsident de Gaulle während eines Gottesdienstes in der Kathedrale von Reims (8.7.1962); [I/42] Adenauer und de Gaulle umarmen sich nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, ­Paris 22.1.1963; [I/43] Kniefall Willy Brandts am Denkmal des Gettoaufstandes, Warschau 7.12.1970; [I/44] François Mitterand und Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof Douaumont, 22.9.1984

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Vom ‚Negative Campaigning‘ zum Kampf der Gesichter Das politische Plakat

Als Legitimationsgrundlage benötigten die Repräsentanten der neuen Demokratie maximale Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Die in Weimar begonnene und mit dem ‚Dritten Reich‘ verstärkte Transformation von Politik auf die visuelle Ebene setzte sich in der Bundesrepublik unvermindert fort. Die Komprimierung der politischen Kommunikation auf das Visuelle ließ Wahlentscheidungen in der Folge zunehmend auch zu Entscheidungen über Bilder und Symbole werden. Da die ersten Wahlkämpfe noch vor dem Aufstieg des Fernsehens stattfanden, galt das Plakat zunächst als der „Königsweg hinein in das Langzeitgedächtnis der Wähler“ (Thomas Mergel). Gegenüber der Zeit von Weimar erlaubte der Siebdruck nun die Herstellung größerer Bildformate, die so nicht mehr auf Augenhöhe geklebt werden mussten, um wahrgenommen zu werden. In Typografie und Gestaltung verwiesen die Plakate ästhetisch oftmals zurück auf die Gebrauchsgrafik des Bauhauses. Während die Parteien unmittelbar nach 1945 stärker auf themenbezogene Bilder gesetzt hatten, auf denen Politiker nur selten erschienen, sowie auf vergleichsweise lange Texte, die allenfalls grafisch aufgelockert waren, änderten sich Ästhetik und Ikonografie der Plakate schon mit der ersten Bundestagswahl von 1949. Wenn es auch grundsätzlich richtig ist, dass die Politik im Nachkriegsdeutschland darum bemüht war, sich sowohl von amerikanischen als auch von nationalsozialistischen Wahlkampfformen abzusetzen, und auf Sachlichkeit beharrte, so galt dies doch nur eingegrenzt für die ersten Bundestagswahlkämpfe. Diese nämlich wurden teilweise noch deutlich im Propagandamodus des untergegangenen ‚Dritten Reiches‘ geführt. ‚Negative Campaigning‘ – die Diffamierung und Erniedrigung des politischen Gegners im Bild – galt zunächst durchaus als Mittel der politischen Kommunikation. Angst- und Bedrohungsszenarien prägten die Anschlagflächen und Litfaßsäulen. Wie später nie wieder verdichtete sich die Bedrohungssituation des beginnenden Kalten Krieges in geradezu paranoid anmutenden Bilderwelten. Auf den Plakaten von CDU und CSU bedrohten bewaffnete Rotarmisten den Kölner Dom oder gleich das gesamte Ruhrgebiet. Oft erschien die kommunistische Gefahr aus dem Osten – wie einst zur NS-Zeit – in Gestaltungen des Todes. Typisch waren (I/45) das CDU-Plakat Die Rettung: CDU und das (I/46) Hitlers Reichsbeauftragtem für künstlerische Formgebung, Hans Schweitzer, zugeschriebene FDP-

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Blatt Wo ­Ollenhauer pflügt, sät Moskau! Darum wählt FDP, auf dem der Tod in Gestalt eines Rotarmisten lauert. Das erste Plakat stammt aus dem Wahlkampf von 1949, das zweite aus dem Wahlkampf von 1953. (I/47) Auch die SPD bediente sich 1957 des ‚Negative Campaigning‘ als Mittel der Wählermobilisierung, wie in ihrem Plakat Schluss damit, darum SPD, das vor den Gefahren einer atomaren Aufrüstung warnte. Das Blatt zeigt eine atomare Explosionswolke, mit der die SPD die zeitgenössische Angst vor einem Atomkrieg aufgriff, wie sie mit der Diskussion um eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr in weiten Teilen der Bevölkerung grassierte. In den 1960er Jahren wurden solche Strategien indes immer seltener. Das Modell des ‚Negative Campaigning‘ schien ausgedient zu haben.

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Angstmacher-Plakate [I/45] CDU-Plakat, Bundestagswahl (1949); [I/46] FDP-Plakat, Bundestagswahl (1953); [I/47] SPD-Plakat, Bundestagswahl (1957)

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[I/48] CDU-Wahlplakat, Bundestagswahlkampf (1953)

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Wahlplakat: Der Bolschewik Das Plakat Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau fügt sich ein in eine lange Tradition der Feindbildpropaganda. Es adaptiert in Bildaufbau und Komposition zwei gegen Deutschland gerichtete Poster aus den USA: das Gräuelplakat Beat back the Huns with Liberty Bonds von 1918, auf dem ein am Horizont lauernder deutscher Soldat die freie Welt bedroht, sowie das Plakat He’s watching you von Glenn Ernest Grohe von 1942. (I/49a) Zugleich erinnert das CDU-Blatt fatal an ein Plakat der deutschen Besatzungsmacht 1944 aus der Ukraine. Dieses zeigte einen mit einem Trommelrevolver bewaffneten Sowjetkommissar auf der Spitze eines Leichenberges. Das CDU-Plakat soll auf einen Entwurf von Rudolf Fust für den antikommunistischen ‚Volksbund für Frieden und Freiheit‘ um den ehemaligen Referenten in Goebbels’ Propagandaministerium Eberhard Taubert zurückgehen. Wie kein anderes Bild übersetzt das CDU-Plakat das antikommunistische Feindbild in eine zeitgenössische Bildsprache, indem es dieses mit dem Bild einer strukturelltotalitären Bedrohung verkoppelt. Ähnlich wie bei dem Foto vom Torhaus des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ( I/155) er-

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zeugt es einen energetischen Kraftraum, der sich sowohl aus der zentralperspektivischen Anordnung seiner Bildelemente als auch aus dem hypnotischen Blick des bolschewistischen Funktionärs ergibt. Dieser hat die Funktion, die mit dem Sowjetsystem assoziierten Überwachungs- und Bespitzelungsängste zu aktivieren. Der formale Aufbau des Blattes teilt den Bildraum in ein Verhältnis zwei zu einem Drittel auf – eine Aufteilung, die der diesseitigen potenziellen Bedrohung und der jenseitigen bereits etablierten Gewaltherrschaft entsprach. Vor allem durch die auf das Gesicht des Sowjetfunktionärs zulaufenden Konvergenzlinien wird der Betrachter in das Bild hineingezogen. Er scheint auf diese Weise die von dem Kommunismus ausgehende Gewalt unmittelbar sinnlich zu spüren. In der Imagination lassen sich die Konvergenzlinien über den Horizont hinaus in das sowjetische Jenseits verlängern, wodurch der ganze Raum okkupiert erscheint – die ästhetisch-räumliche Entsprechung des auf totale Beherrschung des Innen- wie des Außenraumes angelegten politischen Programms des tota­ litären Kommunismus. Die Gefahr scheint somit gleichermaßen von dem sowjetischen

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[I/49a] NS-Plakat für die Ukraine zum Massaker von Winnyzja, Deutsches Propaganda Atelier, Berlin (1943/44); [I/49b] NPD-Plakat gegen die Ratifizierung der Ostverträge (1972); [I/49c] Titelblatt DER SPIEGEL 10/2007; [I/49d] satirisches Online-Plakat von Alf Miron (o. D.)

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Kommissar auszugehen wie von der visuellen Konstruktion der Linien und ihrer ästhetischen Sogwirkung. Das Plakat lässt sich damit doppelt deuten: Die Politik des ‚Marxismus‘ führt unweigerlich in die Despotie des Bolschewismus; andererseits können die Linien auch als Bannstrahlen gesehen werden, die von dem hypnotischen Blick des Kommissars ausgehen. Lediglich der horizontale Schriftzug Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau! Darum CDU scheint sich wie ein querstehender Riegel – ein Damm ( I/164a-d) – dem zentralperspektivisch-diagonalen Sog entgegenzustellen und die sinnliche Kraft des Bildes zu brechen: die CDU als einziger Hoffnungsträger gegen die kommunistische Bedrohung.

Kein Wahlplakat wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten so oft zitiert wie das CDU-Blatt von 1953. So diente es als Vorbild für das von der NPD herausgegebene Blatt (I/49b) „Verzicht ist Verrat – Wehrt Euch gegen die rote Gefahr“ von 1972 gegen die Ostpolitik der Regierung Brandt. 2007 zitierte der SPIEGEL das Motiv (I/49c) auf einer in Rottönen gehaltenen Titelseite zur vermeintlich neuen Bedrohung durch Putins EnergieImperium Gasprom. Unter der Pelzmütze des kommunistischen Funktionärs hatte das Magazin Putins Gesichtszüge montiert und damit dem Angstbild vor der „roten Gefahr“ einen neuen Inhalt verpasst. (I/49e) Zuletzt trat der arabische Migrant an die Stelle des Bolschewiken.

Neue Tendenzen im ästhetischen Stil der Plakate kündigten sich bereits zu Beginn der 1950er Jahre an. Das bisherige politische Farbspektrum entideologisierte sich. Das Motivdesign reduzierte sich auf wenige Elemente wie den Kopf des Kandidaten, einen Slogan, ein symbolisches Bild. Die SPD etwa beschränkte sich auf einer Plakatserie von 1953 auf den Schriftzug ihrer Partei vor wechselnden pastellfarbenen Hintergründen. Auf einem anderen Blatt war lediglich ein gelbes Dreieck auf schwarzem Grund sowie der Schriftzug Jetzt brauchen wir Sozialdemokraten zu sehen. (I/50) Typisch für den neuen reduzierten Stil waren Blätter wie das Plakat FDP – die goldene Mitte zwischen Schwarz und Rot, das ausschließlich ein schwarzes und ein rotes Rechteck verwendet, zwischen denen ein goldfarbenes Dreieck die ‚goldene Mitte‘ symbolisiert, oder das SPD-Plakat zum Godesberger Parteitag, das nur aus drei farbigen Flächen und einem knappen Text besteht. (I/51) Zum Teil kamen auch reine typografische Plakate zum Einsatz. Hier wie in den pfeilartigen Dreiecken auf Fortschrittsplakaten der CSU spiegelte sich ansatzweise die zeitgenössische Reputation der gemäßigten Abstraktion und der ‚subjektiven fotografie‘ wider. Signalfarben waren wichtiger als ideologische Bedeutungen geworden. Die CDU bemächtigte sich des Farbtons Rot, während die sich als Volkspartei profilierende SPD zunehmend auf Rot verzichtete und sich für ein weniger aggressiv wirkendes Hellblau oder Gelb entschied. Mit dem Wahlkampf von 1957 und der Hinzuziehung von externen Beratern aus Werbeagenturen und der Wirtschaftswerbung begannen sich die politischen Bildsprachen weiter zu entideologisieren und folgerichtig zu entallegorisieren. Das Plakat wurde nun zunehmend als Werbemittel für ein Produkt betrachtet, das einen Käufer zu finden hatte. Wie in der kommerziellen Warenwerbung sprach man Wäh-

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ler nun primär als Konsumenten an. Der Lebensweltbezug und die Wahrnehmungsweisen der Betrachter rückten in den Mittelpunkt von Inhalt und Gestaltung. Diese erschienen wichtiger als eine zu vermittelnde Weltanschauung. Die Bundestagswahl von 1957 wurde zum ersten Wahlkampf der Republik, der nicht mehr im alten Propagandamodus geführt wurde. Er leitete die Phase der bis in die Gegenwart anhaltenden ‚Waschmittelwahlkämpfe‘ ein. (I/52) Ikonografisch prägten ab jetzt vor allem positiv konnotierte Wiederaufbau- und Fortschrittsmetaphern sowie lebensweltbezogene Bilder, die auf den Lebensstandard und das Konsumniveau der Bürger rekurrierten, die Anschläge: Bilder von Richtfesten und modernen Hochhausfassaden, von rauchenden Fabrikschloten und gefüllten Einkaufswagen, von glücklichen Kleinfamilien vor Einfamilienhäusern und fröhlichen Alten, von Symbolen der automobilen Gesellschaft und ( I/191) der D-Mark als zentralem Symbol des ‚Wirtschaftswunders‘. Zum Teil adaptierten diese Blätter unmittelbar Appelle der Wirtschaftswerbung. Deren reduzierte Ästhetik entsprach dem Zeitgefühl der Menschen, die sich mehrheitlich als nüchtern, funktional und sachlich verstanden. Wohlstand und Sicherheit erschienen als lebensweltliche Synonyme von Demokratie. Die allgemeine Entideologisierung der Bildsprachen ergriff auch die Parteien der Rechten. Die von Hans Schweitzer, ehedem ‚Mjölnir‘, entworfenen Blätter für den Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten kamen nun in Grün, Weiß und Schwarz daher. ( I/11) Auch Schweitzers Plakate argumentierten mit den neuen Symbolen der sich abzeichnenden Wirtschaftswunderzeit. Sie zeigten Motorradfahrer, die sich auf dem Weg zur Arbeit von ihren Frauen verabschiedeten, oder Kleinfamilien, die zufrieden vor ihrem Siedlerhäuschen im Grünen posierten. Aus dem Arbeiter-Prometheus von einst war ein biederer Familienvater geworden. Die bun-

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Abstraktion und neue Sachlichkeit im Plakat [I/50] FDP-Plakat (1957); [I/51] SPD-Plakat (1953); [I/52] SPDPlakat zur Kommunalwahl Niedersachsen (1968)

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desdeutsche Rest-Nation erschien als Kleinfamilie. Der Rechtsradikalismus hatte ­ästhetisch abgerüstet. Eine weitere Tendenz, die sich seit 1953 abzuzeichnen begann und die Wahlkämpfe der Republik fortan prägen sollte, war die Fokussierung auf das Gesicht der Spitzenkandidaten der Parteien. Am konsequentesten hatte die FDP bereits 1953 ihr Personal den Wählern auf einheitlich gestalteten Plakaten in Porträtfotografien präsentiert. Im optischen Zentrum der Wahlkämpfe seit 1953 allerdings standen die Kopfplakate des Bundeskanzlers. Auf mindestens sechs Blättern warb die CDU mit Zeichnungen und Fotografien des Kanzlers um die Wählergunst. Dessen Gesicht geriet zur Metapher für Sicherheit und Vertrauen. Während Adenauer auf den Plakaten von 1953 noch als greiser Kanzler in Szene gesetzt war, ( I/19) zeigte ihn das Plakat Keine Experimente! Konrad Adenauer CDU von 1957 als fast noch jugend­ lichen Typ mit blondem Haar und gestraffter brauner Haut, dessen Mimik einerseits Distanz schaffte, dessen Close-up aber andererseits zugleich Nähe s­ uggerierte. Die ­gemalte Darstellung knüpfte zudem an Darstellungsgewohnheiten der Zeit an, wie sie in Produkt- und Kinowerbung üblich waren. Keine demokratische Partei hatte ein Plakat zuvor in derartig hoher Auflage verbreitet wie die CDU. Über Nacht hing es an Litfaßsäulen, Baustellenzäunen und eigens errichteten Plakatwänden, so dass Spötter vom ‚Big Brother‘ sprachen. Wie kein anderes Wahlplakat stand das CDU-Blatt für eine Personalisierung des Politischen. Verstärkt wurde dessen Wirkung durch einen gleichnamigen Zeichentrickfilm, der den klugen Staatslenker in den Mittelpunkt stellte. Entwurf und Slogan der CDU-Plakate stammten von namhaften Grafikern und Werbefachleuten wie Paul Aigner und Hubert Strauf, der sich als Urheber bekannter Slogans wie „Mach mal Pause – trink Coca-Cola“ oder „Pril entspannt das Wasser“ einen Namen gemacht hatte. Obwohl namhafte Sozialdemokraten die Personalisierung des Wahlkampfes kritisierten, konnten auch sie sich der Fokussierung auf das Politikergesicht nicht entziehen. Bereits 1953 tobte ein regelrechter Kampf der Gesichter, in dem die SPD dem Bildnis des Kanzlers das Konterfei ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer entgegenstellte. 1957 kamen erstmals Fotoplakate der SPD von ihren Spitzenkandidaten zum Einsatz. 1961 erreichte die visuelle Personalisierung des Wahlkampfes mit einheitlich gestalteten Plakaten der Spitzenkandidaten der CDU ihren ersten Höhepunkt. Nun präsentierte die CDU den Kanzler und dessen Wirtschaftsminister auf fotografischen Großplakaten. Die SPD ihrerseits begegnete dem mit Fotoplakaten des Gesichtes ihres neuen Kanzlerkandidaten Willy Brandt, die gleichermaßen Seriosität wie Jugendlichkeit ausstrahlen sollten. Eine neue Qualität fanden die Personalisierung der Wahlkämpfe und die Fokussierung auf das Gesicht der Kandidaten mit dem emotional aufgeladenen ‚Willy, Willy‘-Wahlkampf von 1972. ( I/28a) Das Bild des Kanzlers wurde Kult. Bei Demonstrationen wurde es wie eine Reliquie mitgeführt. Brandt-Anhänger gaben sich mit Autoaufklebern und Buttons mit dem Bildnis ihres Idols öffentlich zu erkennen. Andy Warhol machte Brandt 1976 zum Gegenstand einer Porträtserie. Mit der Bundestagswahl von 1976 wurde die Bildsprache der großen Parteien vorübergehend wieder differenzierter, fantasievoller und verhalten aggressiver.

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Die SPD warb mit den Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold und mit dem Slogan vom ‚­Modell Deutschland‘. Die CDU attackierte den politischen Gegner mit Plakaten wie Wir sehen rot … deshalb CDU und Komm aus Deiner linken Ecke. Die frühen Kopf-Plakate der CDU spiegelten zugleich eine Besonderheit der frühen Bundesrepublik wider. Die Tatsache nämlich, dass die Partei und mit ihr der Adenauer-Staat auf eine selbst zerfleischende Vergangenheitsaufarbeitung verzichteten, indem sie bewusst personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit in Polizei und Justiz, in Medien, Bildung und Wissenschaft in Kauf nahm und Belasteten damit eine ‚zweite Chance‘ offerierten, zurück in berufliche Karriere und damit zurück zur Demokratie zu finden. Das zeigten immer wieder auch Plakate und Fotografien mit den Gesichtern von vormals ‚Belasteten‘. NS-Ideologen und -Richter wie Theodor Oberländer – Rassist, Putschist von 1923, Verfechter ethnischer ‚Säuberungen‘ und seit 1953 Bundesvertriebenenminister – kandidierten auf CDU-Plakaten oder rückten wie Hans Globke  – Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze und seit 1949 führender Beamter im Kanzleramt und ‚rechte Hand‘ von Konrad Adenauer – in die Spitzen des neuen Staatsapparates auf, mit denen sich der Kanzler ohne Scheu ablichten und abbilden ließ bzw. die CDU Wahlkampf machte. Ähnliches geschah auf Landesebene. Der Marinerichter Hans Filbinger brachte es zum oft fotografierten und plakatierten Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg. Helmut Lemke (CDU) war 1963 zum Ministerpräsidenten in Schleswig-Holstein gewählt worden, obwohl er der NSDAP angehört hatte und nach 1933 Bürgermeister von Eckernförde und Schleswig gewesen war. (I/53,54) Indes blieben solche Kontinuitäten auch künstlerisch nicht unwidersprochen und unkommentiert.

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[I/53] Lithografie von Klaus Staeck (1975); [I/54] Fotomontage von Ernst Volland (1978)

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Neue Impulse erhielt das politische Plakat seit Ende der 1960er Jahre durch die zeitgenössische Kunst sowie durch die neuen sozialen Bewegungen: die Studenten-, die Frauen-, die Friedens- und die Solidaritätsbewegung mit der Dritten Welt. Dabei wurden – inspiriert von der Pop Art, die Werbe- und Medienikonen verwendet und zugleich entfremdet hatte – zeitgenössische Fotografien und Werbebilder in neue Kontexte gestellt. Mit ( I/89) Jürgen Henschels Fotografie des sterbenden Benno Ohnesorg demonstrierten so etwa 1967 Berliner Studenten für die Enteignung des Springer-Konzerns. Ronald Haeberles Foto vom Massaker der US-Army im vietnamesischen My˜ Lai fand 1969 in einem Protestplakat der Art Workers Coalition gegen den Vietnamkrieg Verwendung, das auch in Deutschland zum Einsatz kam. (I/55b) Regelrechten Kultstatus hatte schon 1968 das von zwei Studenten entworfene Poster Alle reden vom Wetter. Wir nicht des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) erhalten, das in kritisch-ironischer Weise (I/55a) ein Plakat der Deutschen Bahn zitierte und in neue Bild-/Text-Zusammenhänge stellte. Das Poster wurde so populär, dass der SDS durch seinen Verkauf die rechtliche Vertretung in Prozessen im Gefolge der Protestaktionen gegen die Notstandsgesetze finanzieren konnte. (I/55c) 1981 adaptierte Klaus Staeck das populäre Blatt durch seinen aufrüstungskritischen Entwurf Alle reden vom Frieden. Wir nicht. (I/55d) Und 2019 schließlich entwarf eine Tübinger Künstlerin ein den Slogan und das Motiv des SDS aufnehmendes Plakat für die ‚Fridays for Future‘-Bewegung. Klaus Staeck nahm sich immer wieder vorhandener Bilder, Metaphern und Parolen in den Köpfen der Bundesbürger an, um diese in neue Kontexte zu stellen und damit die Betrachter in ihren eingefahrenen Denkmustern zu provozieren, so als er 1971 Albrecht Dürers Kohlezeichnung Die Mutter des Künstlers von 1514 zitierte und den Betrachter fragte „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“, oder als er ein Jahr später (I/56) zur Fotografie einer Villa titelte „Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Staecks Plakate und Postkarten wur[I/55a]

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Variationen eines Werbeslogans [I/55a] Werbeplakat Deutsche Bundesbahn (1966); [I/55b] SDS-Plakat (1968); [I/55c] Plakat Klaus Staeck (1981); [I/55d] Künstler-Plakat von Anne-Christine Klarmann (2019)

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den in Massenauflagen vertrieben. Wie sehr seine [I/56] Bildrhetorik provozierte, zeigte sich im März 1976, als aufgebrachte Unions-Abgeordnete anlässlich einer Ausstellung in Bonn einige seiner Plakate von den Wänden rissen, was wiederum Staeck zu dem Blatt Auf Eigentum kommt es hier nicht an veranlasste. Ähnliches musste auch Ernst Volland erleben, dessen satirisch-subversive Fotomontagen Polizei und Staatsanwaltschaft auf den Plan riefen. 1981 zerstörte die Berliner Polizei durch Übermalung eine Plakatausstellung Vollands. Ihre Aktion begründete sie mit angeblichen Anrufen besorgter jüdischer Bürger, die auf Vollands Bildern – ( I/54) speziell in seinem Blatt NSDAP-Mitglied als Bundespräsident!? mit dem Kopf des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens – verbotene Hakenkreuze zu sehen geglaubt hatten. (I/57) Mit Joseph Beuys schließlich entwarf einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartskünstler ein Plakat für die soeben erst gegründete Partei DIE GRÜNEN. Einflüsse von Beuys [I/56] Lithografie Klaus Staeck (1972) zeigten sich auch in dem Plakat Wir sind die Zukunft unserer Kinder. Die Grünen der Grafikwerkstatt Bielefeld zum Landtagswahlkampf 1980 in Nordrhein-Westfalen, das eine stilisierte Wabe und eine Biene abbildete. Durch die GRÜNEN erlebte das Medium politisches Plakat einen kräftigen Schub. Die Plakate wurden abwechslungsreicher und bunter und wieder stärker motiv- und symbolorientiert. Eine neue und deutlich identifizierbare Plakatsprache kündigte sich an, die mit Farben und Bildern des Lebens arbeitete. Zum zentralen Symbol der GRÜNEN wurden die lachende Sonne und die Sonnenblume – eine Pflanze, die bereits der Bauhaus-Künstler Herbert Bayer erfolgreich für ein Werbeplakat der NS-Kampagne ‚Schönheit der Arbeit‘ verwendet hatte. (I/58) Im Europawahlkampf von 1979 warb die neue Partei für ihr Programm mit einem Plakat, das ganz im Zeichen anti-traditioneller Politästhetik stand. Es zeigte eine Kinderzeichnung mit Blumenwiese, Bäumen, einer lachenden Sonne, einem Vogel und einem Haus. Dies war – so die Hamburger Medienwissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach – „das klassische Setting einer naiv-kindlichen Weltdarstellung, in der Mensch und Natur in flächigem und proportionalem Einklang und beide gleichwertig nebeneinanderstehen. In Verbindung mit dem sprachlichen Motto des Plakates (‚Wir haben die Welt von unseren Kindern nur geborgt.‘) wird das Bild zu einer emblematischen Bildformel mit moralischem Appell. Es erinnert den einzelnen Bildbetrachter an das eigene kindliche Idealbild einer ‚heilen Welt‘, in der ­Zivilisation und Natur noch eine Einheit bildeten. Als ‚Kinderzeichnung‘ ist es zudem Zeugnis eines frühmenschlichen Blicks auf die Welt, der noch nicht von

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Unkonventionell, grün, bunt – Wahlplakate der GRÜNEN [I/57] Plakat DIE GRÜNEN, Bundestagswahl (1980), Entwurf Joseph Beuys; [I/58] Plakat DIE GRÜNEN, Europawahl (1979); [I/59] Plakat DIE GRÜNEN, Europawahl (1989); [I/60] Plakat DIE GRÜNEN, Entwurf Michael Schirner, Bundestagswahl (1998)

Skepsis, Ängsten und Machtkalkül geprägt ist, die für die Modernisierung in der postindustriellen Gesellschaft kennzeichnend sind. Damit weist die Zeichnung auf dem Plakat bereits visuell eine moralische Appellstruktur auf, die durch das sprachliche Motto zusätzlich unterstützt wird.“23 In einer Art Kunstaktion sollte das Plakat an Häuserwänden und Bauzäunen aneinandergeklebt in den Köpfen der Betrachter das Bild einer Wiese entstehen lassen. Mit ihrer Kinderzeichnung setzten die GRÜNEN der professionalisierten Wahlkampfkommunikation der etablierten Parteien eine neue Bildersprache entgegen, deren ‚Unprofessionalität‘ und ‚Authentizität‘ als Ausweis politischer Glaubwürdigkeit und moralischer Integrität gedeutet wurde. Ihre Werte und Ziele visualisierten die GRÜNEN in ihren Anfangsjahren zugleich im Rekurs auf die in den unterschiedlichen sozialen Bewegungen bereits etablierten Protestzeichen. Hierzu zählten gleichermaßen die weiße Friedenstaube und das Peace-Zeichen der Friedensbewegung, der mehrfarbige Regenbogen wie das Zeichen der Frauenbewegung, dessen Ursprung bis hin zum Anch-Symbol der alt-ägyptischen Mythologie zurückreichte. Zum Teil inszenierten sich die GRÜNEN auf ihren Plakaten ikonografisch selbstreferenziell als Protestbewegung, indem sie mit Transparenten ausgestattet ins Bild gerieten. Programmatische Bedeutung hatte auch das farbliche Symbolspektrum. „Grün als Namen gebende Symbolfarbe der Partei ist eingebunden in ein Farbenspektrum, in dem Buntheit Programm ist: Die Buntheit des Regenbogens ist nicht nur Ausdruck von Naturverbundenheit, sondern auch von Vielfalt. Dabei steht das Grün der Ökologiebewegung gleichberechtigt neben dem Rot der Neuen Linken und dem Lila der Frauenbewegung.“ 24 Vor allem diese Buntheit ließ die GRÜNEN als Protest- und Bewegungspartei erscheinen. Und schließlich reduzierte die neue Partei die komplexe politisch-ökologische Realität der 1980er Jahre auf wenige einprägsame Bildsymbole und Piktogramme, (I/59) mustergültig vorgeführt in dem Plakat Keine Geduld mehr! Europa braucht grün von 1989. Plakate wie dieses visualisierten mit grellen Farben auf dunklem Fond und einfachen Bildformeln zentrale Gefahren der Zeit wie die Atomkraft, die Gentechnik, die Datenüberwachung sowie die Abholzung des Regenwaldes. Mit der Beteiligung der GRÜNEN an der Macht begann sich deren Bildersprache zu ändern. Waren bis Ende der 1980er Jahre Unkonventionalität, Authentizität und Originalität zentrale Aspekte ihrer Wahlplakatgestaltung gewesen, dominierten ab Beginn der 1990er Jahre (I/60) Porträts von Joschka Fischer die Wahlplakate, die diesen in herkömmlicher Weise als Leitfigur und Spitzenkandidaten seiner Partei anpriesen.

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Von dekorativer Abstraktion zum Stammheim-Zyklus Die bildende Kunst

Bildende Kunst und Kunstfotografie begleiteten von Beginn an die ‚Bonner Republik‘. Sie kommentierten und konterkarierten mit künstlerischen Mitteln deren Geschichte. Teilweise zogen sie sich von der politischen Entwicklung zurück und konzentrierten sich ganz auf sich selbst und das künstlerische Experiment. Bildende Kunst, Kunstfotografie und Medien bezogen sich dabei zum Teil wechselseitig aufeinander. Neue kulturelle Formen entstanden, die in das Leben der Bundesbürger eingriffen und deren Alltag überformten. Anders als mit der Allegorie des Ikarus im östlichen Teil Deutschlands gab es im Westen kein durchgängiges Motiv, das bildende Kunst und künstlerische Fotografie über Jahrzehnte verfolgten. Wie in der offiziellen Architektur und der Repräsentation der Politik stand auch in der Kunst das ‚Zurück zu Weimar‘ am Anfang. Dass die Bundesrepublik, speziell in Gestalt der Kasseler documenta, schon bald zu einem Mekka der zeitgenössischen Kunst werden sollte, war zunächst nicht absehbar gewesen. Sich ein Bild vom vergangenen Schrecken zu machen, dem Unfassbaren eine Gestalt zu geben, war keineswegs ein Anliegen der Künstler der jungen Republik – im Gegenteil. Der künstlerische Konservatismus, dem die schweigende Bevölkerungsmehrheit zugetan war, war eher geprägt von einem Bedürfnis nach politischer Sicherheit, einfachen Wahrheiten und positiven Werten. Die Menschen, so glaubte man, verlangten mehr als je zuvor nach dem ‚Wahren, Guten und Schönen‘, wie es etwa Arno Breker in seinen Skulpturen gestaltet hatte. Die Kunst der Moderne galt den meisten Deutschen nach wie vor als Verfallserscheinung. Demgegenüber wähnte die moderne, von den Nationalsozialisten als ‚entartet‘ geächtete und verbannte Kunst das historische Recht auf ihrer Seite. Ähnlich wie in Fotografie und Politik lautete ihre Devise: Zurück zu den Gestaltungsideen des Bauhauses! Eine Auseinandersetzung mit den Bilderwelten des Nationalsozialismus galt indes auch ihr nicht als erstrebenswert. Vielmehr faszinierte die Möglichkeit, alles neu zu erfinden und ‚schön‘ zu gestalten. Für diese Kunst standen Namen wie Georg Meistermann und Hann Trier, ( III/1) Ernst Wilhelm Nay und Fritz Winter, (I/62) vor allem aber Willi Baumeister. Die gemäßigte, dekorative Abstraktion, gefördert durch die alliierte Kunstpolitik der ausgehenden 40er Jahre, wurde schon bald die Kunst der Zeit.

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1955 hatte die Bundesrepublik mit den Pariser Verträgen einen Großteil ihrer nationalen Souveränität zurückerlangt. Aus Deutschland-West sollte ein kulturelles Signal in die Welt gehen, dass der neue Staat in der Demokratie angekommen sei. Dieses Signal setzte 1955 die documenta in Kassel. Dort präsentierte man größtenteils jene Kunst, die 1937 in München als ‚entartet‘ diffamiert worden war. Von den 58 deutschen Künstlern, deren Werke auf der d1 zu sehen waren, waren 31 nur knapp der ikonoklastischen Gewalt der Nationalsozialisten entkommen. (I/61) Im Treppenhaus der notdürftig ausgebesserten Ruine des Fridericianeums begrüßte Die Kniende von Wilhelm Lehmbruck die Besucher: eine der wegweisenden Skulpturen des 20. Jahrhunderts, die 1937 in der Femeschau ‚Entartete Kunst‘ zu sehen gewesen war und deren Rückkehr nun als Triumph über den NS-Bildersturm gefeiert wurde. Die documenta sollte einen Bruch mit der Vergangenheit vollziehen und einen Beitrag zur ästhetischen Re-Education der jungen Bundesrepublik leisten. Zu sehen war daher fast ausschließlich abstrakte Kunst, die als neue Weltsprache der Kunst galt und in der Lage schien, alle Grenzen zu überwinden. Heute wissen wir, dass sich das Narrativ von der documenta als einem radikalen Neuanfang der Kunst so nicht halten lässt. Tatsächlich war die Kunstschau in Kassel in ihren Anfängen ein gigantisches Entschuldungsprogramm der westdeutschen Kunst und keineswegs ein Beitrag zur visuellen Entnazifizierung der Köpfe. Gleichwohl: Spätestens mit der documenta von 1955 galt die einst verfemte Moderne als Ausdruck der Demokratie. Im Unterschied zum Osten Deutschlands setzten sich in der Kunst der jungen Bundesrepublik künstlerische Ausdrucksformen durch, die das Inhaltlich-Thematische eher verweigerten. Die Kunst der Abstraktion verstand sich als thematisch freie Kunst, die – da sie nichts vermitteln wolle – glaubte, politisch auch nicht dienstbar gemacht werden zu können. Mit dem künstlerischen Konservatismus war sich die Kunstauffassung der Moderne in der Ablehnung jeder Bezugnahme auf den vorangegangenen Krieg und das ‚Dritte Reich‘ und damit auf die Erfahrungen von Vernichtungskrieg und Völkermord einig. Alles Aggressive und Utopische lag dieser Kunst fern. Vielmehr war sie bestrebt, an der Ausgestaltung des Hier und Jetzt zu arbeiten. Diese Kunst gab sich daher eher heiter als melancholisch, eher repräsentativ als elitär, eher dekorativ als tiefgründig. In großer Zahl vergaben Kirchen und öffentliche Hand Aufträge für dekorative Arbeiten. Drucke von Willi Baumeister zogen in manches Wohnzimmer ein. Die gemäßigte Moderne wurde sichtbarer Ausdruck des ‚Wirtschaftswunders‘, die Nierentischform zum Signum der 1950er Jahre. Sie fand sich in Gemälden und Plastiken, in der Architektur und im Alltagsdesign, auf Dekorationsstoffen und in der Gestalt von Swimming Pools, sogar als PKW-Außenspiegel. Seit Mitte der 1950er Jahre begannen sich Farbe und grafische Elemente unabhängig voneinander zu entwickeln. Das Zeichenhafte, Verweisende und Sinnbildliche rückte fast vollständig in den Hintergrund, während formale Kompositionen zu dominieren begannen. Viele der Bilder besaßen keinen Bezugspunkt mehr außer sich selbst. Gleichsam als Widerpart zur gemäßigten Abstraktion entstanden die informelle Malerei und der Tachismus: der endgültige Sieg des Abstrakten, der subjektiven,

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Dekorative Abstraktion – Expressionismus – Informell – Hyperrealismus [I/61] Wilhelm Lehmbruck, Die Knieende, documenta 1, Kassel (1955); [I/62] Willi Baumeister, Kessua-Aru, Öl auf Platte (1955); [I/63] Konrad Klapheck, Die Macht des Vergessens, Öl auf ­Leinwand (1968); [I/64] Otto Greis, Ohne Titel, Öl auf Reispapier auf Karton (1953)

gegenstandslosen, individualistischen Kunst über das Reale. Die grundlegende Idee des ‚Informel‘ war es, sich vom bildnerischen Zwang der Formen zu befreien. Allein die Hand des Malers, verstanden als die Antenne des empfindungsbegabten Malkörpers, sollte ihre Spur auf der Leinwand hinterlassen. Aller Ausdruck, so die Überzeugung der Maler, läge in der unmittelbaren Malaktion, in der Sinnlichkeit der bewusstseinsreinen Gestik. (I/64) Die bildnerischen Ausdrucksformen von Künstlern wie K.R.H. Sonderborg, Otto Greis und Karl Otto Götz hielten sich an keine Begrenzungen. Sie schotteten sich auch nicht gegen Nicht-Kunst ab. Vielmehr

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betonten sie das Ungeformte, das noch nicht Entschiedene, das Einzigartige und Nichtwiederholbare oder sie öffneten sich wie in Emil Schumachers Tastobjekten hin zum Raum. Diese mit absoluter Freiheit gleichgesetzte Kunst war explizit um Gegenstandslosigkeit bemüht. Ihre Farblandschaften sollten einzig Subjektivität und Spontaneität ausdrücken. Während für die Vertreter der dekorativen Abstraktion die Kunst des Informel eine beispiellose Provokation bedeutete und sie diese als ‚Schmuddelkunst‘ verspotteten, machte die II. documenta von 1959 die informelle Malerei und den Tachismus salonfähig. Durch die mit dem Signum eines Alleinvertretungsanspruchs ausgestattete Kunst des Informel, so schien es, hatte die westdeutsche Kunst Anschluss an die Weltkunst gefunden. Die Kunst der 1960er Jahre wiederum war geprägt von einer Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen jenseits des ‚sozialistischen Realismus‘ des Ostens sowie der informellen und tachistischen Strömungen des Westens. Als Gegenbewegung zur Vorherrschaft der abstrakten Kunst der 1950er Jahre war sie wieder stärker zeitbezogen und wertevermittelnd. (I/63) Das Figurative kehrte zurück, wie in den Arbeiten von Konrad Klapheck, Horst Antes und Markus Lüpertz. In dem Maße, wie sich Fotografie und Plakat, Comic und Werbung, Film und Fernsehen zu einer zweiten visuellen Realität formierten, wurden sie zum Gegenstand und zur Inspirationsquelle auch von deutschen Künstlern. Die Auseinandersetzung mit dem technisch-massenhaft verbreiteten Bild avancierte zu einem zentralen Thema der Kunst im Allgemeinen wie der Malerei im Besonderen. Künstler wie Wolf Vostell wiederbelebten das schwittersche Collageprinzip, indem sie Plakate von Wänden und Litfaßsäulen rissen, Bilderschichten der Vergangenheit freilegten und die Schnipsel zu neuen Kompositionen zusammenfügten. Durch die Konfrontation mit der neu inszenierten Realität hofften sie, die Betrachter zu neuen Einsichten zu bewegen. Gemeinsamer Nenner der neuen Kunstströmungen war die Entauratisierung des Kunstwerks, die Infragestellung der traditionellen Präsentationsformen wie Rahmen und Sockel, die Aufhebung des klassischen Status des Bildes durch die Einbeziehung realer Gegenstände sowie das bewusste Überschreiten der Grenzen hin zu Musik, Film, Tanz und Theater – zusammengefasst in der Formel vom ‚Ausstieg aus dem Bild‘. Intermedialität avancierte zum Kunstprinzip der Zeit. Performative Kunstformen, die die traditionellen Orte der Kunst wie das Museum und die Galerie verließen und mit elektronischer Musik und Videotechnik experimentierten, provozierten als Aktionskunst. Amerikanische Pop-Art-Künstler hoben das Happening aus der Taufe. Mit diesem verließ die Kunst endgültig Tafelbild und Ausstellungshalle. Der Straßenalltag begann sich in Bewegung zu setzen. Zuschauer wurden zu Mitwirkenden, die Instruktionen zu folgen hatten. Die 1960er Jahre markierten daher in vielerlei Hinsicht einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung der jüngeren Kunst, „insofern das Modell der Abgeschlossenheit und Selbstbezüglichkeit der Kunst abgelöst wurde durch Positionen expliziter Öffnung auf die Gesellschaft und andere Künste hin sowie die Integration von vormals Kunstfremdem“.25 Es entstanden Neue Mischformen der bildenden mit der darstellenden Kunst.

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Pop Art und Fluxus [I/65] Sigmar Polke, Junge mit Zahnbürste, Dispersionsfarbe auf Leinwand (1964); [I/66] Gertrude Degenhardt, Sgt. Pepper’s lonely hearts club band, Lithografie (1968); [I/67] Wolf Vostell, Der Flugplatz als Konzertsaal, Happening In Ulm und um Ulm herum, Fotografie (1964); [I/68] Wolf Vostell, Miss America, Lasurfarbe auf Print auf Leinwand (1968); [I/69] Joseph Beuys, Das Rudel, Installation (1969)

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Es war vor allem die amerikanische Pop Art, die frischen Wind auch in die westdeutsche Kulturszene brachte. Das zeigte die 4. documenta von 1968, die später als die amerikanischste aller Kasseler Ausstellungen oder auch als ‚Pop-Documenta‘ bezeichnet wurde. Mit der Pop Art fanden Konsumartikel und Produkte der Massenkultur bzw. deren bildliche Referenzen in Werbung und Massenmedien Eingang in die Kunst. Diese nahm zunehmend das Erscheinungsbild ihrer Gegenstände an. Die Künstler der Pop Art betrachteten die Welt als Bild. Sie ließen sich daher bewusst auf die visuellen Scheinwelten und Oberflächen der politischen wie der kommerziellen Reklame ein, so auch Roy Lichtenstein, der auf die Bilderwelt des Comics Bezug nahm und mit seinen Rasterbildern – (I/65) wie zur gleichen Zeit Sigmar Polke in Deutschland – eine drucktechnische Verfahrensweise des 19. Jahrhunderts zitierte, die die sichtbare Welt in Punkte zerlegte, Robert Rauschenberg, der per Fotosiebdruck und Collage eine aus Zeitungsausschnitten und Fernsehbildern bestehende Medienwelt ins Bild holte, oder Andy Warhol, den nicht so sehr das originäre Ereignis interessierte als vielmehr dessen mediale Formatierung, das Medienereignis. „Auf den Ausstieg aus dem Bild folgte der Einstieg in die Bilder“, so der Kunsthistoriker Michael Diers.26 In Deutschland spielte die Pop Art anders als in Amerika weniger eine Rolle als hochkulturelles Produkt. Ihr Einfluss machte sich eher in Werbegrafik und Alternativkultur bemerkbar, etwa in den Mappen, Postern und Plattenhüllen der Mainzer Künstlerin Gertrude Degenhardt oder in den bunten Papiermaché-‚Nanas‘ einer Niki de Saint Phalle, wie sie seit 1974 im öffentlichen Raum etwa in Hannover aufgestellt waren. In kritischer Distanz und als Gegenpol zur fortschrittseuphorischen Kunst der Pop Art sowie zugleich als Rebellion gegen die abstrakte Malerei etablierte sich ‚Fluxus‘ als neue Kunstbewegung in Deutschland-West. Fluxus war ein Sammelbegriff, unter dem sich verschiedene Kunstströmungen der Zeit zusammenfanden. Nach dem Dadaismus war Fluxus „der zweite elementare Angriff auf das Kunstwerk“ im 20. Jahrhundert. „Das Werk im herkömmlichen Sinn erschien als fixe Idee und bürgerlicher Fetisch, folglich galt es nichts mehr. Was einzig zählte, war die schöpferische Idee. In der Kunst wie im Leben.“27 Fluxus war eine neodadaistische Kunstströmung, die den Kult der Abstraktion und den tradierten Werkbegriff ablöste. Unter Rückgriff auf dadaistische Vorstellungen erschien ihr das Leben als simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und Ideen, das nicht mehr allein mit den Mitteln der bildenden Kunst zu erfassen war. Im Zentrum von Fluxus stand die Aktion. Events und Happenings sollten das Publikum sensibilisieren, die Realität insbesondere in den urbanen Räumen anders wahrzunehmen  – ein Gedanke, an den die Studentenbewegung der 1960er Jahre anknüpfen sollte. Wolf Vostell war der Pionier der Happening-Idee in Deutschland und bedeutendster Repräsentant der Fluxus-Bewegung. Sein erstes ‚Happening‘ habe er in den Bombennächten des Weltkrieges erlebt, bekannte er. (I/67) Im Unterschied zu den amerikanischen Happening-Künstlern verlegte er seine Aktionen in die freie Umgebung, wie 1964 bei seinem Happening In Ulm und um Ulm herum. FluxusKunst, so die Idee, könne nicht vermarktet werden, weil sie nicht gegenständlich

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sei. Sie sei vielmehr situativ und müsse erfahren werden. Zunehmend zielten die Aktionen der Happening-Aktivisten auf gesellschaftspolitische Themen wie die Konsum- und die Mediengesellschaft sowie auf (I/68) den Vietnamkrieg. 1963 trat Joseph Beuys dem Kreis der Fluxus-Künstler bei. (I/69) Auch er, inspiriert u. a. von der Konzeptkunst eines Marcel Duchamps, ging von einem erweiterten Kunstbegriff aus, der Kunst, Gesellschaft und Individuum als Einheit betrachtete. Wie kein anderer suchte er die Öffentlichkeit, erläuterte seine Kunstauffassungen in öffentlichen Aktionen und inszenierte sich in spektakulären Aktionen selbst als Kunst produzierendes Medium. Sein Credo: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Intermedialität, die ständige Variierung der Bildträger und das beständige Überschreiten der traditionellen Begrenzungen der Kunstgattungen wurden zum Prinzip. Durch Künstler wie Sigmar Polke, Gerhard Richter und Wolf Vostell wurden der Umgang mit den zeitgenössischen Massenmedien und das Nachdenken über die Wahrnehmungsweisen der Zeitgenossen zu einer eigenen Kunstgattung erhoben. Versatzstücke der Massenkultur wie Zeitungen, Pressebilder, Fotografien aus Urlaubskatalogen, selbst das unpolitische Fotoalbum und das abstrakte Gemälde gerieten ihnen zu Bildträgern bzw. zum Material ihrer Kunst. Zu Schlüsselbildern der neuen Kunstauffassung des ‚kapitalistischen Realismus‘ avancierten Sigmar Polkes Werk Moderne Kunst von 1968 und die Bemalung von Zeitungsseiten durch Joseph Beuys. Beide Künstler malten oder deuteten nicht die physische Wirklichkeit, sondern deren Abbilder, Signets und Klischees. „Nicht der Gang vor die Tür oder der Blick aus dem Fenster“, so Michael Diers, „sondern der Blick in die Tageszeitung oder den Fernseher“ liefere der Kunst ihr Anschauungsund Ausgangsmaterial.28 Zu Gegenständen des neuen künstlerischen Diskurses wurden auch die Medienikonen der Zeit: die fotorealistischen Propagandabilder des chinesischen Parteiführers Mao Zsedong bei Thomas Bayrle oder ( I/67) Pressefotos wie das von der Erschießung eines Vietcong-Anhängers auf offener Straße 1968 in Saigon bei Wolf Vostell. Andere Künstler wie Peter Nagel, Werner Nöfer, Rolf-Gunter Dienst und Peter Brüning wiederum nutzten massenhaft verbreitete Formen, Bilder, Symbole und Zeichen in Gestalt von Stadt- und U-Bahnplänen, um sich mitzuteilen. Sie bedienten sich der Zeichensysteme und Medien aus der Welt der urbanen Kommunikation. Ihr Thema: die Wahrnehmungs- und Orientierungsweisen der gegenwärtigen Menschen. Parallel zum Einzug von Fernsehapparat und Videorecorder in die Wohnzimmer der Bundesbürger wurden schließlich auch Fernsehbilder und Videoaufnahmen zu Bestandteilen einer neuen künstlerischen Gattung: der Videokunst. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter wurde Nam June Paik. Der in Deutschland lebende Koreaner widersetzte sich dem Kommunikationsmodell des Fernsehens und versuchte insbesondere das künstlerische Potenzial der Videotechnik auszuloten. Paik entwickelte den ersten Video-Synthesizier, der in der Lage war, künstliche Fernsehbilder zu produzieren. (I/74) Sein TV-Buddha von 1974, der sich auf dem Bildschirm selbst projiziert und kontemplativ betrachtend wiederfindet, geriet zu einem der „großartigsten Kunstwerke der letzten Jahrzehnte“ (Horst Bredekamp).

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Historiengemälde 1.0: Herr Heyde und Tante Marianne [I/70a]

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[I/70a] Gerhard Richter, Herr Heyde, Öl auf Leinwand (1965); [I/70b] Tante Marianne, Öl auf Leinwand (1965)

Ein Pressefoto einer Agentur sowie ein Privatfoto aus dem Familienalbum dienten Gerhard Richter, dem bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart, als Vorlagen für (I/70a,b) seine beiden Gemälde Herr Heyde und Tante Marianne. Beide Gemälde aus dem Jahr 1965 sind Schlüsselbilder zur Geschichte der Bundesrepublik. Zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik ist Richter 19 Jahre alt. Der gebürtige Dresdner hat soeben die Schu-

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le mit der Mittleren Reife beendet und eine Ausbildung zum Schriften- und Bühnen- bzw. Werbemaler begonnen. Seit 1951 folgt ein Studium an der Dresdner Kunstakademie, das er 1956 mit einem Wandbild für das dortige Hygienemuseum abschließt. Noch vor dem Bau der Mauer flieht Richter mit seiner Frau nach Westdeutschland, wo er bis 1964 sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf fortsetzt. Die beiden Gemälde aus dem Jahr 1965 fallen in die Zeit von Richters Düsseldorfer Studienjahren. Es ist die Zeit der Frankfurter Auschwitzprozesse, in denen erstmals ein Blick auch auf die einfachen Täter, die normalen Männer der NS-Massenverbrechen, und deren Opfer gewagt wird. Im ersten Bild beschäftigt sich Richter mit dem Skandal um den in Flensburg untergetauchten Psychiater und Neurologieprofessor Werner Heyde, der als ehemaliger Obergutachter von Hitlers ‚Euthanasie‘-Programm nach 1945 im Raum Flensburg unter dem falschen Namen ‚Sawade‘ abgetaucht war und dort eine neue Karriere als Gutachter u. a. in Entschädigungsangelegenheiten von Euthanasie-Opfern begonnen hatte. Ende der 1950er Jahre wird Heydes wahre Identität bekannt. Erneut taucht Heyde ab, um sich dann aber doch den Behörden zu stellen. Einer drohenden Verurteilung entzieht er sich 1964 durch Selbstmord. Die Geschichte des Falles Heyde-Sawade macht Schlagzeilen und offenbart erstmals einer breiten Öffentlichkeit, wie und in welchem Umfang ehemalige NSTäter in der Bundesrepublik nach 1945 lebten und sich dabei der Unterstützung offizieller Stellen sicher sein konnten. Das AP-Foto von der Festnahme Heydes am 12. November 1959 geht durch die

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Presse und wird auch Richter bekannt. Ob diesem damals bewusst war, welche Beziehung der Mann auf dem Foto zu seiner eigenen Familiengeschichte besitzt, wissen wir nicht. Das zweite Bild geht zurück auf ein privates Foto von Richter. Es zeigt eine adrett gekleidete Schülerin im Alter von 14 Jahren, die mit einem Säugling, ihrem Neffen – dem späteren Maler – Anfang der 1930er Jahre für den Fotografen posiert. Das Mädchen heißt Marianne Schönfelder. Sie ist die namensgebende Tante Marianne des Werkes – die Tante von Gerhard Richter. Mit 21 Jahren hat man Marianne Schönfelder wegen einer Erkrankung, mutmaßlich handelte es sich um eine Schizophrenie, in die Landesanstalt Arnsdorf im sächsischen Landkreis Bautzen eingewiesen und zwangssterilisiert. Am 16. Februar 1945 – in den Tagen unmittelbar nach den schweren alliierten Luftangriffen auf Dresden – stirbt Marianne Schönfelder in der Tötungsanstalt Großschweidnitz an den Folgen von Medikamentenüberdosierung, systematischer Mangelernährung und unzureichender Pflege. Ob Richter beim Anfertigen des Gemäldes bewusst ist, dass seine Tante in ebenjener Klinik zwangssterilisiert wurde, die damals sein späterer Schwiegervater leitete, ist ebenfalls unbekannt. Allerdings ist dies auch nicht Thema seines Gemäldes. In einem SPIEGEL-Interview bekennt Richter 2005, dass es ihm bei den beiden Bildern nicht um seine Familiengeschichte geht, sondern um die spezifische Sprache der bildlichen Vorlagen: „Ich wollte doch, dass man die Bilder sieht und nicht den Maler und seine Verwandten, da wäre ich doch irgendwie abgestempelt, vorschnell erklärt gewesen. Tatsächlich hat mich das Faktische – Namen oder Daten – auch gar nicht so interessiert. Das alles ist wie eine andere Sprache, die die Sprache des Bildes eher stört oder sogar verhindert. Man kann das mit den Träumen vergleichen: Sie haben eine ganz spezifische, eigenwillige Bildsprache, auf die man sich einlassen oder die man vor-

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schnell und falsch übersetzen kann. Natürlich kann man Träume auch ignorieren, nur wäre das schade, sie sind ja nützlich.“29 Künstlerisch stehen beide Bilder am Beginn einer besonderen Form des Kunstschaffens von Richter, seiner Unschärfebilder. Richter experimentiert damals mit den komplexen Übergängen von Malerei und Fotografie. Dabei übermalt er Fotografien der Zeitgeschichte, einschließlich privater Fotografien, und lässt sie dadurch unscharf werden. Nach Bernd Hüppauf hat das unscharfe Bild „mehr Leben und Unvorhersagbarkeit als das scharfe Bild. Aber dieses Leben hat es nur als Potenzialität und es ist auf das aktive Eingreifen der Imagination und den Transfer in Sprache angewiesen. Unschärfe öffnet das Bild für das Eindringen der Einbildungskraft, die für die Erinnerung konstitutiv ist.“30 Richters Unschärfebilder sind daher keine einfachen 1:1-Reproduktionen der fotografischen Vorlagen, sondern eher Schattenbilder der Geschichte, die es zu entschlüsseln gilt. So wie die visuelle Erinnerung unscharf und gerade bei einer älteren Generation zumeist in Grautönen eingefärbt daherkommt, sind auch Richters Werke Unschärfebilder in den Farben Schwarz, Weiß und Grau gehalten – Farben, die ursprünglich dem Bildmedium Fotografie und dem Druckmedium Zeitung reserviert waren. Wie der Kunsthistoriker Michael Diers hervorhob, reagierte Richter auf das Farbspektakel der Konsumund Alltagswelt mit dem „Auszug der Farbe aus der bildenden Kunst“. In Pressefotografien sowie Amateuraufnahmen findet Richter auch später immer wieder Material für seine Arbeiten. Wie kein anderer Künstler misstraut er allerdings dem Zeugnischarakter der Fotografie. Mit seinen Unschärfebildern lotet er die Möglichkeiten dessen aus, was Malerei im Medienzeitalter kann und darf. Die Farben Schwarz, Weiß und Grau suggerieren auch in Richters Zyklus 18. Oktober 1977 ( I/262) aus dem Jahr 1988 Aktualität, Authentizität und Sachlichkeit, wiewohl er diese Eigenschaften zugleich im Bildträ-

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ger des Tafelbildes wieder infrage stellt. Als Richters Zyklus erstmals 1989 in Frankfurt am Main ausgestellt wird, wird dies als Tabubruch wahrgenommen. Viele Bürger und Bürgerinnen verweigern sich dem Besuch. Ein Skandal ist die Folge. Die Ausstellung wird vom Bundesnachrichtendienst beobachtet. Herr Heyde und Tante Marianne ­machen vielfältig Geschichte. Sie zeigen, wie ­Bilder im 20. Jahrhundert ihre medialen Träger wechseln und in die Kunst und Erinnerungskultur eingehen. Das Farbspektrum von Schwarz, Weiß und Grau findet als Zitat und Gestaltungsmittel Einzug in die Malerei von zumeist jungen Künstlern und Fotografen wie Ernst Volland, Michael Wesely, Thomas Ruff usf. Sie werden zu Bestandteilen einer internationalen Fotoästhetik.

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An das Schicksal von Marianne Schönfelder erinnert seit 2012 ein Stolperstein in der Köpckestraße 1 in Dresden. Das Gemälde Tante Marianne befindet sich seit 2007 als Dauerleihgabe in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Es avancierte zum Antlitz der Opfer der NS-‚Euthanasie‘. Das Foto seiner Tante Marianne übergab Richter 2017 der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße für die Opfer der NS-Rassenhygiene für eine Ausstellung. Die Geschichte von Gerhard Richter und seiner Tante Marianne machte Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck 2018 zum Gegenstand seines Filmes Werk ohne Autor, der allerdings nicht die Zustimmung Richters fand.

Alle diese Künstler verstanden ihre Arbeiten auch als Kampfansage gegen die Manipulationen der Massenmedien und die Verlockungen der spätkapitalistischen Konsumindustrie. Da die erlebte Wirklichkeit alle Schrecken auf den Bildern übertreffe, hieß es im Manifest der Kritischen Realisten von 1968, könne Wirklichkeit nicht einfach nur abgebildet, sondern müsse „optisch und gedanklich auseinandergenommen“ werden. Bilder sollten helfen, die Gegenwart zu erkennen. Anders als die Kunst der 1960er ließ sich die der 1970er Jahre auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Neben Malerei und Plastik traten immer neue künstlerische Ausformungen. Alle zur Bilderproduktion und -bearbeitung verwendeten Mittel, einschließlich der technischen Medien, fanden Verwendung. Malerei und Plastik erlebten einen regelrechten Realismus-Boom. Der Kritische Realismus (I/71), dem etwa die Gesellschaftsbilder des Kieler Malers Harald Duwe zuzurechnen sind, avancierte zu einer Kunstform der Zeit. In Fortsetzung der 1960er Jahre richtete sich das Interesse der Künstler zunehmend auf die Welt der Bilder selbst. Das machte auch die documenta 5 von 1972 und deren Motto ‚Befragung der Realität. Bildwelten heute‘ deutlich. Die documenta 6 setzte diese Entwicklung fort, indem sie Fotografie, Film und Video als künstlerische Ausdrucksformen in den Mittelpunkt rückte. Sie ist daher auch als ‚Mediendocumenta‘ bezeichnet worden. Erstmals wurden in einer eigenen Ausstellung die Arbeiten von Fotografen in den Zusammenhang zur zeitgenössischen Kunst gesetzt. Die Anerkennung der Fotografie als eigenständiger Kunstform hatte weitreichende Folgen für die bildende Kunst. Störungen, Verfremdungen und Entstellun-

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

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Kunst der 1970er Jahre [I/71] Harald Duwe, Kind am Strand mit Mercedes, Öl auf Leinwand (1972); [I/72] Jörg Immendorf, Café Deutschland I, Acyrl auf Leinwand (1977); [I/73] Wolf Vostell, Endogene Depression, Rauminstallation (1980); [I/74] Nam June Paik, TV-Buddha, Installation 1974

gen dokumentarischer Fotografien wurden zu typischen Zeitzeichen. Zu denken ist an Wolf Vostells ‚Säureattentate‘ gegen Fotografien oder an die Fotoverwischungen eines Gerhard Richter. Häufig erwiesen sich diese Bildschöpfungen inspiriert von der Polizeifotografie, wie von den Fahndungsbildern des Bundeskriminalamtes oder von Fernsehsendungen wie Aktenzeichen XY … ungelöst. Hierzu zählte etwa Arnulf Rainers Bildzyklus face farces von 1968 oder Richters Beitrag 48 Porträts namhafter Wissenschaftler, Politiker und Künstler zur Biennale von 1972 im Stile von zeitgenössischen Fahndungsplakaten. Noch eine andere Neuerung brachte die documenta von 1977. Erstmals fand dort eine offene Auseinandersetzung mit dem ‚sozialistischen Realismus‘ in der bildenden Kunst der DDR statt. Die Teilnahme von sechs ‚offiziellen‘ Künstlern der DDR – von Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Jo Jastram

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und Fritz Cremer – war umstritten und führte zu heftigen Diskussionen im Vorfeld und während der documenta bis hin zum Ausstieg bereits berufener Ausstellungsteilnehmer wie Georg Baselitz und Markus Lüpertz. Mit ihrem DDR-Bezug fügte sich die documenta 6 ein in eine allgemeine Politisierung der Kunst der 1970/80er Jahre, für die Künstler wie Klaus Staeck oder ( I/235) Johannes Grützke standen, der sich in seinem Werk Unser Fortschritt ist unaufhörlich von 1973 mit dem Fortschrittsbegriff auseinandersetzte, dessen Grenzen in den 1970er Jahren erstmals sichtbar geworden waren. Zu einem großen Thema der bildenden Kunst der 1970/80er Jahre geriet das lange verdrängte Thema Erinnerung. Etwa zeitgleich mit der Renaissance der Erinnerung in den Werken des US-Künstlers Edward Kienholz, der sich 1968 mit seiner Installation A portable war memorial mit dem Pazifikkrieg und dessen Erinnerungsspuren im amerikanischen Kollektivgedächtnis auseinandergesetzt hatte, sowie den erinnerungspolitischen Werken von DDR-Künstlern wie Bernhard Heisig und Werner Tübke begannen auch westdeutsche Künstler, sich dem Verdrängten und Nicht-Aufgearbeiteten zu nähern und die malerischen Möglichkeiten der Erprobung der Darstellbarkeit von nicht aufgearbeiteter Geschichte auszuloten. Erinnerungsarbeit geriet zu einem wesentlichen Antriebsmoment von Künstlern, wobei nun erstmals auch die Bilder und Symbole der Vergangenheit selbst Thema wurden, (I/75) so 1966 bei Thomas Bayrle in dessen kinetischem Objekt Nürnberger Orgie, das sich als ein zeitgenössischer Kommentar zu den Reichsparteitagsgemälden des NSMalers Ernst Vollbehr deuten lässt. Explizit mit der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust befassten sich die ‚Neuen Wilden‘ wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz und (I/76) Anselm Kiefer, aber auch Künstler wie Jochen Gerz, Hans Haacke und Christian Boltanski. So schuf Kiefer seit Anfang der 1980er Jahre leere, monumentale, an NS-Entwürfe angelehnte Kulträume, die die Gefühle der Betrachter ansprechen und die Nutzung dieser Räume durch den Nationalsozialismus im Bild nachvollziehbar machen sollten. Andere Künstler setzten sich mit malerischen Mitteln mit den Propaganda- und Architekturproduktionen des Nationalsozialismus auseinander, so etwa (I/77) Volker Tannert 1982 mit Albert Speers ‚Lichtdomen‘ und (I/78) Albert Oehlen im gleichen Jahr mit Hitlers Führerhauptquartier. Stärker als zuvor gerieten nun auch die unmittelbare Vergangenheit, die Symbolsprache des ‚Wirtschaftswunders‘ und die der deutschen Teilung in den Fokus bildender Künstler, wie der Volkswagen in einer Serie von Thomas Bayrle, die deutsche Teilung und die Berliner Mauer in ( I/72) Jörg Immendorfs Café Deutschland (1977/78) oder in Rainer Fettings Mauer am Südstern (1988). Vor allem jedoch der Terrorismus der Roten Armee Fraktion und die staatlichen Reaktionen darauf waren in den 1970/80er Jahren ein ständiger Quell der zeitgenössischen Kunst. Die Arbeiten von Joseph Beuys, Gerhard Richter, Johannes Kahrs oder von André Korpys, Markus Löffler und Sigmar Polke hierzu stellten immer auch „Auseinandersetzungen mit den massenmedialen Techniken der (Re-)Präsentation und dem Status der RAF als Bild-Ereignis dar“.31 ( I/262) Zum vielleicht „bedeutendsten deutschen Historienzyklus des 20. Jahrhunderts“ – so später selbst

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

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Nationalsozialismus als ­Thema der bildenden Kunst [I/75] Thomas Bayrle, Nürnberger Orgie, kinetisches Objekt (1966); [I/76] Volker Tannert, Unsere Wünsche wollen Kathedralen bauen, Öl auf Papier (1982); [I/77] Anselm Kiefer, Innenraum, Hitlers Reichskanzlei, Aquarell, Kreide (1981); [I/78] Albert Oehlen, Führerhauptquartier, Öl und Lack auf Nessel (1982)

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die konservative Welt – avancierte 1988 Richters Stammheim-Zyklus. Wie sehr diese Bilder schmerzten, machte 2005 die RAF-Ausstellung in den Berliner Kunstwerken deutlich, die Politikern aller Couleur, allen voran Kanzler Gerhard Schröder, Gelegenheit gab, sich als politische Sittenwächter zu profilieren. Bildpraktiken der Überwachung und die Bedrohung des Bürgers durch den Überwachungsstaat waren Themen westdeutscher Künstler in den ausgehenden 1980er und beginnenden 1990er Jahren. Dies zeigte die documenta 8 von 1987, die ihren Besuchern Einblicke in zukünftige digitale Bilderwelten gewährte. Ob es gerechtfertigt ist, die Kunst seit Ende der 1970er Jahre als „schöne Kunst des Untergangs“ bzw. als „Zitadellenkultur“ (Karl Otto Werckmeister) zu charakterisieren, die ein permanentes Krisen- und Katastrophenbewusstsein kultiviert und zur Schau gestellt habe, ohne aber gesellschaftliche Fiktionen und ästhetische ­Illusionen bieten zu können, sei dahingestellt. Fakt ist, dass sich die bildende Kunst der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren nicht nur den Themen Erinnerung und Bildwelten der Vergangenheit öffnete, sondern auch Bedrohungsszenarien und Bildpraktiken der Gegenwart auf breiter Front thematisierte. Da die ‚alte‘ Bundesrepublik von Beginn an über einen weitgehenden Verfassungskonsens verfügte, blieb sie im Unterschied zur Republik von Weimar und der DDR von ikonoklastischen Aktionen verschont, sieht man einmal von dem publizistisch hochgespielten ‚Bonner Bildersturm‘ ab. Am 30. März 1976 hatten aufgebrachte Unions-Abgeordnete unter Führung von Philipp Jenninger anlässlich einer Ausstellung von Staeck-Plakaten in der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn einige Plakate von den Wänden gerissen. Der Vorgang wurde in über 1500 Presseberichten kommentiert und von dem SPD-Politiker Holger Börner zum „Angriff auf die Freiheit der Kunst“ aufgewertet. Bar jeder Realität stilisierte auch Staeck selbst die Attacke zum „Bonner Bildersturm“ und zu „einem der großen öffent­lichen ­Skandale“ der Republik – der er nicht war.

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Das fotografische Gesicht der Republik Von der Dokumentations- zur ‚Knipserfotografie‘

Nie zuvor wurde so viel, so unterschiedlich und so frei fotografiert wie in den 1950/60er Jahren. Die Fotografie stieg gewissermaßen zum Medium der Demokratie auf. Bevor das Fernsehen die Wohnstuben eroberte, waren es vor allem Fotografien, die die Bundesbürger mit den wichtigsten visuellen Informationen versorgten. Mit deren Hilfe orientierten sich diese in ihrem Alltag und in der Welt. In den fotografischen Bilderwelten definierten sie ihr Verhältnis zur Vergangenheit. Im Medium der Fotografie entwickelten sie neue Identitäten. Mit Fotografien fanden sie zurück in eine nicht-kriegerische Identität und darüber hinaus in die Welt. Die „trockene, ikonoklastische Demokratie“ (Rolf Sachsse) kam grobkörnig und in Schwarz-Weiß daher. Und so ging sie auch in das kollektive Bildgedächtnis der Bundesbürger ein.

Fotografen und Fotografinnen der ‚Bonner Republik‘

Eine ihrer Ursprünge hatte die Fotografie der jungen Republik in den provisorischlokalen Bedingungen einer spezifischen Bonner Bildproduktion, die sowohl Einflüsse der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens bei den älteren Fotografen als auch der ‚subjektiven fotografie‘ und des humanistischen Dokumentarismus bei jüngeren Fotografen erkennen ließ. Da war zunächst die ältere, noch vom Geiste der Neuen Sachlichkeit und der Neuen Fotografie geprägte Generation. Zu ihr zählten der 1897 geborene Architekturfotograf Albert Renger-Patzsch, der das neu gestaltete Bundeshaus fotografisch als Musterbeispiel der modernen demokratischen Architektur des 20. Jahrhunderts ins Bild setzte. ( I/1) Zu den Fotografen der Gründungszeit der Republik gehörte auch die schon erwähnte Erna Wagner-Hehmke, die ebenfalls aus der Industriefotografie kam und im offiziellen Auftrag nicht nur fotografisch Schwipperts Bonner Parlamentsbauarbeiten begleitete, sondern auch den Gründungsakt der Republik selbst und deren Akteure sowie die Bildung des ersten Bundeskabinetts in nüchtern zurückhaltender, geradezu an-ikonischer Manier dokumentierte. Und schließlich sind auch die Weltkriegs- und PK-Fotografen Hilmar Pabel, Benno Wundshammer sowie Hanns Hubmann zur Gruppe der ‚Älteren‘ hinzuzuzählen, die die Bonner Politikprominenz auf ihren Reisen begleiteten und ins Bild setzten. Eine weitere Gruppe bildeten die erst nach dem Ersten Weltkrieg geborenen Fotografen wie Carl-Heinz Hargesheimer alias Chargesheimer und Robert Lebeck.

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Charges­heimer, Jahrgang 1924 und wie Adenauer aus Köln stammend, war inspiriert von der ‚subjektiven fotografie‘ Otto Steinerts. ( I/22) Bekannt wurde er 1957 durch sein Porträt Adenauers für einen SPIEGEL-Titel, das den Kanzler völlig im Unterschied zu den ‚aufgehübschten‘ Wahlplakaten der CDU mit kräftigen Schlagschatten als Greis mit Tränensäcken und eingefallenem Gesicht zeigte. ( I/87) Robert Lebeck, Jahrgang 1929, ab 1955 Leiter des Frankfurter Revue-Büros und seit 1960 für Kristall tätig, galt demgegenüber als Vertreter eines an klassischen Vorbildern der Reportage­fotografie geschulten unpathetischen Fotojournalismus, wie ihn W. ­Eugene Smith und Alfred Eisenstaedt repräsentierten. Später arbeitete er für den Stern und für GEO. Seine Aufnahmen waren von geradezu irritierender Nüchternheit. ( I/159) ­Seine Repor­tage für die Revue über Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1955 ließ zugleich den Einfluss des humanistischen Doku­ rkennen. mentarismus e Zur Gruppe der jüngeren ‚Bonner‘-Fotografen zählten Vertragsfotografen wie Will McBride, Barbara Klemm und Michael Ruetz, die wiederum die Zeit des studentischen Aufbruchs und die Ära Brandt ins Bild rückten. McBride, 1931 in St. Louis geboren, war nach seinem Militärdienst in der US-Army in Deutschland geblieben und hatte hier u. a. als Bildreporter für Quick, Brigitte, Twen und den Stern, aber auch für ausländische Magazine wie Look und den Playboy gearbeitet. Sein Interesse galt vor allem dem Aufbruch in den Sixties und immer wieder dem nackten menschlichen Körper, auch und gerade dem von Kindern und Jugendlichen. Zu seinen bekanntesten Fotografien, die ikonischen Status erlangten, zählten seine Aufnahme des greisen Kanzlers neben dem geradezu jugendlich wirkenden Willy Brandt und dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy während dessen Berlin-Besuchs 1963 sowie seine Aufnahme der nackten Darsteller des Musicals Hair in großen, aufeinandergestellten Pappkartons von 1968. Barbara Klemm, Jahrgang 1939, „die Nestorin des bundesdeutschen Bildjournalismus“ (Rolf Sachsse), arbeitete seit 1967 als Redaktionsfotografin der FAZ. Sie zeichnete ein geradezu ikonischer Blick aus: das Gespür für den besonderen Augenblick und für das Symbolische in den Bildern, die besondere Perspektive und das Besondere der Situation. Wie keine andere machte sie Bilder, die zu Schlüsselbildern der ‚Bonner Republik‘ und zu Ikonen ihrer Zeit wurden, wie das Porträt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen NS-Marinerichters Hans Filbinger, das Foto vom Gespräch Willy Brandts mit Leonid Breschnew 1973 in Bonn, das Bild von Wolf Biermann bei seinem Kölner Konzert 1976 oder ( I/274) die Aufnahmen vom Fall der Mauer 1989. Demgegenüber machte der Steinert-Schüler Michael Ruetz, der ein Jahr jünger als Klemm ist und u. a. für Life, den Stern und die ZEIT arbeitete, vor allem als Chronist der studentischen Protestbewegung der 1960/70er Jahre, des Prager Frühlings und der Militärdiktatur in Chile von sich reden. Charakteristisch für alle diese Fotografen war das körnige Schwarz-Weiß der Kleinbildfotografie „mit dem existentialistisch angehauchten Duktus der Grauwerte zugunsten harter Kontraste“,32 das die Geschichte der Republik distanziert und unpathetisch in Schwarz-Weiß festhielt und exakt deren Selbstverständnis entsprach.

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

( I/179) Eine Ausnahme vom Bonner Schwarz-Weiß waren die pastellfarbenen Aufnahmen von Josef Heinrich Darchinger, Jahrgang 1925. Sein Werk wurde und wird häufig mit der ‚Bonner Republik‘ gleichgesetzt. Für die ZEIT und den SPIEGEL war er „das Auge von Bonn“, für die Wirtschaftswoche der „berühmteste Fotograf der ‚Bonner Republik‘“. Seit 1960 illustrierte er für den SPIEGEL dessen Interviews. Er hatte dort die Riege der NS-Bildberichter beerbt. Von Anfang an arbeitete er im unmittelbaren Umfeld der SPD. Alle wichtigen SPD-Politiker – von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis zu Gerhard Schröder und Peer Steinbrück – wurden von ihm porträtiert und erhielten durch ihn „eine Art von Corporate Design des populären, aber auch distanziert entrückten Menschen“.33 Seine pastellfarbenen Aufnahmen vom Alltag der ‚Bonner Republik‘, selbst noch von Menschen am Rande der Gesellschaft, überzogen die Realität mit einem anheimelnden Glanz.

Kunstfotografie

Mit ihrer Funktionalisierung als Propagandawaffe des totalen Krieges hatte die Fotografie ihre Unschuld verloren. Dennoch machte man sich nach 1945 nur langsam von der Vorstellung frei, dass die Fotografie ein rein mechanisches Abbildungsverfahren sei. Die Wendung der zeitgenössischen Kunst, die sich der Fesseln gegenständlicher und geometrischer Gestaltung entledigt hatte und stattdessen die Inspirationen spontaner Einfälle und subjektiver Befindlichkeiten kultivierte, motivierte nur langsam auch die Fotografie der jungen Republik, neue Wege zu gehen. Eine dieser neuen Wege war die ‚subjektive fotografie‘. (I/79) Als ihr bedeutendster Repräsentant und Vordenker gilt Otto Steinert. Unter explizitem Rekurs auf das Neue Sehen der 1920er Jahre und der Befreiung von einer Vorstellung, die Fotografie als „Abklatsch der Natur“ verstand, machte Steinert den Versuch, mit experimentellen Techniken wie Solarisation, Doppelbelichtung und Negativabzug die Fotografie als Medium der individuellen künstlerischen Gestaltung zu profilieren. Nach den Jahren von Totalitarismus und Massenhysterie entsprach der Anspruch auf Originalität, Individualität und Subjektivität durchaus dem Zeitgeist, wie die photokina 1951 in Köln zeigte. Neben Steinert waren es Fotografen wie Toni Schneiders und Lotti Jacobs sowie (I/80) Peter Keetman, dessen fotografische Lichtpendel-Schwingungen in vereinfachter Form zum Vorbild des ( I/115) ARD-Signets der 1950er Jahre werden sollten und dessen Aufnahmen aus dem Volkswagenwerk eine damals revolutionäre Sicht auf die Fließbandarbeit zeigten. Während die meisten Fotografen der Neuen Fotografie lediglich die ästhetischen Standards des Neuen Sehens der 1920er Jahre variierten, waren es nur wenige, die wie Keetman zu „einem unverwechselbaren Bildstil“ (Klaus Honnef ) fanden. Ähnlich wie die Gemälde eines Willi Baumeister und Fritz Winter können auch die Aufnahmen von Steinert und Keetman als eine Art Flucht vor den Schatten der Vergangenheit gedeutet werden. Und wie diese verstanden sich die ‚subjektiven fotografen‘ als Anhänger einer ‚freien‘, d. h. politisch ‚unbrauchbaren‘ Kunst. Bereits Mitte der 1950er Jahre begann der Stern der ‚subjektiven fotografie‘ allerdings schon wieder zu sinken. Grund hierfür war nicht zuletzt der zunehmende Einfluss der durch US-Magazine wie Life beförderten dokumentierenden Fotografie.

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Kunst-Fotografen der ‚Bonner Republik‘ – Steinert – Keetman – die Bechers [I/79] Otto Steinert, ohne Titel, Fotografie (1952); [I/80] Peter Keetman, Plastische Raumschwingungen, Print (1949–51); [I/81] Bernd u. Hilla Becher, Fördertürme, Fotografien (1965–1997) [I/81]

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

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[I/82] Andreas Gursky, Bundestag, Bonn, Kompositfotografie, 2,37 X 1,64 m (1998)

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Kompositfotografie: Andreas Gursky, Bundestag, Bonn Gurksys Bild – so Michael Diers – ist eines „jener raren Dokumente, die der Demokratie in ebenso programmatischer wie paradigmatischer Weise ein Denkmal setzen“34 – vergleichbar einzig mit Gerhard Richters Hinterglasbild der deutschen Nationalfahne. Gurskys Bild ist ein Kompositbild, das mehrere Aufnahmen des aktives Bundestages in einem Bild zusammenfügt. Nicht die ­Architektur, wie in den Aufnahmen von ( I/1) Erna Wagner-Hehmke oder Albert RengerPatzsch, ist Gurskys Thema, sondern die lebendige Institution Bundestag als höchstes Organ der Demokratie – aufgenommen von außen nach innen durch die gläsernen Fensterfronten. Zwischen 1996 und 1998 und damit noch vor dem Umzug des Bundestages nach Berlin hat Gursky zahlreiche Aufnahmen des Bonner Plenarsaals angefertigt – vom erhöhten Standpunkt einer Hebebühne aus durch die den Saal umfassenden Scheiben hindurch. Die für sein Bild entscheidenden Aufnahmen stammen vom April 1998. Sie zeigen eine Abstimmung mit Stimmkarten. Der Künstler hat den Moment herausgegriffen, als viele Abgeordnete ihre Plätze verlassen haben und sich um die Abstimmungsurnen drängen. Bei genauem Hinsehen erkennt man, das das Bild aus vielen Einzelaufnahmen komponiert ist. Einige Motive überlagern sich oder brechen plötzlich ab. Spiegelungen und Architekturelemente tauchen auf, die in der Realität so nicht vorhanden sind. Gurskys Bild ist also keine fotografische Dokumentation einer Plenarsitzung und schon gar keine Abbildung eines herausragenden feierlichen Staatsakts. Der Künstler zeigt vielmehr einen für die Demokratie typischen und entscheidenden Moment, wie er für die alltägliche Arbeit im Parlament charakteristisch ist: Abgeordnete drängen nach einer Debatte mit ihren Stimmkarten zur Urne, einige haben ihre Plätze bereits wie-

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der eingenommen, andere verharren stehend und diskutieren. Gegliedert wird die Szenerie, einem Kirchenfenster vergleichbar, einzig durch das Raster der Glasfenster. Auf diese Weise hat Gursky ein dezidiert zeitgenössisches fotografisches Historienbild geschaffen. Es ist eine historische Reminiszenz an die geschichtliche Bedeutung Bonns und beleuchtet zugleich einen bedeutenden Vorgang demokratischen ­Handelns. In diesem Sinne präsentiert sich Gurskys Bild heute im Empfangs- und Besucherraum der Bundestagspräsidentin im Berliner Reichstagsgebäude als eine Ikone demokratisch verfasster Staatlichkeit, als ein „Denkmal in Bildgestalt“, wie es Michael Diers nennt. Mit dem Ort der Hängung von Gurskys Kunstwerk – zur Linken geht der Blick der Betrachter durch ein Fenster auf das Bundeskanzleramt, zur Rechten auf das Paul-Löbe-Haus mit den Sitzungssälen der Ausschüsse des Parlaments – schlägt Gurkys Bild nicht nur eine Brücke zwischen Bonn und Berlin, sondern verdeutlicht auch die Kontinuität eines souverän-unaufgeregten bürgerlich-demokratischen Selbstverständnisses von der ‚Bonner‘ zur ‚Berliner Republik‘.

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Als Absetzbewegung von der ‚subjektiven fotografie‘ formierte sich in den 1960er Jahren eine neu-sachliche Fotografie, deren Ziel es war, den Gegenstand und hier vor allem das architektonische Objekt selbst ‚zum Sprechen‘ zu bringen. (I/81) Wichtigste Vertreter des sogenannten ‚visuellen Verismus‘ und dessen emotionsloser Sicht auf die Wirklichkeit waren die Begründer der Düsseldorfer Fotoschule, das Ehepaar Bernd und Hilla Becher, die wiederum Lehrer von später so bedeutenden Fotokünstlern wie ( II/81) Thomas Ruff und (I/82;  II/82) Andreas Gursky wurden. Wie ihre großen Vorbilder aus der Weimarer Republik ordneten sie Fotografien zu Serien gleicher Motive, zu Blöcken und Tableaus und ermöglichten damit einen neuen Blick auf die Wirklichkeit von Hochöfen, Bunkern und Gasometern und deren von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene ästhetische Qualität. Die 1960er Jahre waren für die Fotografie insofern bedeutsam, als diese nun auch Einzug in die bildende Kunst fand: als physisches Element in den Assemblagen und (Dé-)Collagen eines Wolf Vostell, als Stilform in den Gemälden und Drucken von Gerhard Richter, als Abbild und Werkzeug der Spurensicherung bei Hans Haacke und Christian Boltanski sowie als Medium der Konservierung in den Happenings und Kunstaktionen von Fluxus. Wie nie zuvor begannen die Grenzen zwischen Fotografie und bildender Kunst zu verschwimmen. Ausdruck, dass die Fotografie als künstlerisches Mittel salonfähig geworden war, war ihr Einzug in die ‚Tempel‘ der bildenden Kunst. Das Kölner Museum Ludwig, das Essener Folkwang-Museum und das Münchner Stadtmuseum richteten seit Ende der 1970er Jahre eigenständige fotografische Abteilungen ein. Damit holte man in Deutschland nach, was in den USA etwa im Museum of Modern Art (MoMA) bereits vor 1939 geschehen war. Bedeutsam für die Eingliederung der Fotografie in die Kunst war vor allem die ‚Mediendocumenta‘ von 1977, die erstmals den Versuch unternommen hatte, das Verhältnis der Kunst zu den technischen Bildmedien zu befragen. Damit hatte die Fotografie nach fast 140 Jahren den offiziellen Segen der Kunst erhalten. Aus der dienenden Aufgabe, die sie der Malerei gegenüber anfangs innegehabt hatte, wurde sie befreit und in der malerischen Übersetzung selbst „als vollgültiges Medium“ anerkannt (Uwe Schneede). In den 1990er Jahren schließlich wurden die Grenzen der Kunstfotografie hin zur Malerei immer durchlässiger. „Je mehr die Fotografie bei den Massenmedien verlor“, so Fotografie-Experte Klaus Honnef, „desto gewichtiger wurde ihre Funktion in der Sphäre der Kunst. […] Sei es, daß die Künstler die überlieferten Gattungen der Fotografie wie die ‚klassischen Genres‘ von Porträt, Landschaft und Stilleben […] mit neuen, künstlerischen Akzenten versehen, sei es, daß spezifisch fotografische Disziplinen wie die soziale Dokumentation, der journalistische Report und die systematische Analyse in Form von Reihen, Serien und Sequenzen ästhetisch fortentwickelt und ausgestaltet werden, sei es, daß die Künstler die Fotografie als ein Massenphänomen zum Gegenstand einer anschaulich operierenden Kritik erheben.“35 (I/82) Zu dem Historienbild der ‚Bonner Republik‘ wurde kein Gemälde, sondern mit Andreas Gurskys Kompositbild Bundestag, Bonn von 1998 eine Kunstfotografie. Sie zählt zu den wenigen über das politische Tagesgeschäft hinausweisenden, die pluralistische Demokratie auf den Begriff bringenden Bildzeugnissen. Der 1955 in

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Leipzig geborene Künstler gilt als einer der führenden zeitgenössischen Fotokünstler aus der Schule der Düsseldorfer Akademieprofessoren Bernd und Hilla Becher. Seine monumentalen Bildformate entstehen durch digitale Zusammenfügung zahlreicher Einzelaufnahmen, die dasselbe Motiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln oder zu unterschiedlichen Tageszeiten zeigen. Aus diesen Fotoversatzstücken resultieren eigenständige Kunstwerke, die ähnlich frei komponiert sind wie ein klassisches Gemälde. Zahlreiche Bilder von Gursky entstammen der Vogelperspektive auf Häuser und Landschaften. Andere zeigen den Blick auf Menschenansammlungen in Fabriken, Einkaufszentren oder an der Börse aus großer Ferne. Die Menschen und die Strukturen ihrer Umgebung fügen sich in Gurskys Fotoarbeiten zu einem mosaikähnlichen Gesamtbild zusammen, sie bilden Muster, sie zeigen übereinstimmende Verhaltensmuster der vielen, aber auch das Abweichen und das Ausbrechen Einzelner aus der Menge.

Pressefotografie

Ähnlich wie um 1900 markierten die 1950er Jahre eine neue bild- und medienhistorische Sattelzeit. Der illustrierte Blättermarkt boomte. Der Zeitschriftenkonsum wuchs weltweit. Die drucktechnische Qualität konnte enorm gesteigert werden. Von ihrer Startauflage von 110.000 Exemplaren im Jahr 1948 hatte es etwa (I/83) die Quick 1955 bereits auf mehr als eine Million Exemplare gebracht – eine Zeitschrift, die maßgeblich das publizierte Bild der jungen Bundesrepublik prägen sollte. Zugleich diversifizierte sich das Angebot der Illustriertenlandschaft. Die bereits 1946 als Rundfunkillustrierte gegründete Hörzu entwickelte sich zu der Fernsehzeitschrift der Republik schlechthin. Inhaltlich gab in den Illustrierten der ‚menschliche Faktor‘ den Ton an. Ästhetisch waren sie allenfalls „Mittellage“ und huldigten einem „sentimental angehauchten Realismus“ (Klaus Honnef ). Zum bisherigen publizistischen Angebot gesellten sich seit 1956 Zielgruppenblätter wie Bravo, konkret und Jasmin mit völlig neuen visuellen Ausstattungen. Um sich auf dem umkämpften Illustriertenmarkt zu behaupten, experimentierten die Redaktionen mit neuen Formen der Aufmerksamkeitsmobilisierung. Prototypisch für neue Vermarktungsstrategien wurden die Titelbilder der Quick und des Stern mit den Fotos junger attraktiver Filmschauspielerinnen wie (I/84) Hildegard Knef, Elizabeth Taylor oder Marilyn Monroe als Blickfang. Begründet war damit eine Jahrzehnte währende Erfolgsallianz von Illustrierten- und Filmwirtschaft. Der Film bedurfte der illustrierten Blätter, um seine Produktionen und Stars bekannt zu machen; die Magazine wiederum bedurften der Filmstars und -sternchen als attraktiver Blickfänger auf ihren Titelseiten. Nach und nach rückte mit Robert Lebeck, Ernst Haas, Thomas Höpker, F.  C. Gundlach und Will McBride eine neue Fotografengeneration nach, die das Bild der Blätter veränderte. Stilbildend auch für deutsche Blätter wurde etwa Ernst Haas’ farbiger Fotoessay über New York 1953 für Life. „Unschärfen, Anschnitte, Spiegelungen, reduzierte Bildausschnitte und scharfe Hell-Dunkel-Kontraste waren die Stilmittel dieser mit verwegenen Abstraktionen spielenden, fast textlosen Bildergeschichte“,36 die assoziativ ‚gelesen‘ werden konnte. In Bildergeschichten wie der

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Bilder-Zeitungen [I/83] Quick 16/1950; [I/84] Der Stern 45/1956; [I/85] BILD-Zeitung 1/1952; [I/86] BRAVO 1/1956

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von Haas wirkte die Konzeption der Fotografie als neuer universeller Weltsprache mit moralischem Anspruch nach, wie sie die seit 1955 von Edward Steichen um den Erdball tourende Ausstellung The Family of Man – heute Bestandteil des UNESCOWeltdokumentenerbes – propagiert hatte. In der Bundesrepublik war es der Stern, der sich am deutlichsten am amerikanischen Vorbild orientierte und seinen Lesern in Bildberichten, wie etwa Rolf Gillhausens Bildreportage über „Das unheimliche China“ von 1959, die Teilhabe am Weltgeschehen ermöglichte. Der Boom der Bildreportage in den Zeitschriften der 1950er und 1960er Jahre wirkte sich auch auf die Tageszeitungen aus, die zunehmend erkannten, dass qualitativ hochwertige Bilder ebenso als Träger von Informationen fungieren können. Bilder waren nun auch aus der Tagespresse nicht mehr wegzudenken. Mindestens eine Abbildung pro Seite wurde Durchschnitt. Zugleich zeigte sich „ein Abgehen von einem anfänglich eher dokumentarischen, ‚objektiven‘ Modus hin zu einer ‚Subjektivierung‘, zur Verwendung expressiver, auch synkretistischer Bilder“.37 Und schließlich entwickelten sich mit dem Kalten Krieg auch die Bilderwelten der Illustrierten in Ost und West immer weiter auseinander. Sie wurden zu eigenständigen Waffen im Kampf der Blöcke. Die Fotografie stellte dabei die visuellen Argumente bereit, um die eigene Gesellschaft ins bessere Licht zu setzen und andere Gesellschaften zu diskreditieren. (I/85) Zweifellos ein Höhepunkt der ersten Phase des bundesdeutschen Bildjournalismus, der diese Entwicklung am deutlichsten widerspiegelte, war 1952 die Gründung der BILD-Zeitung. Ihre ganze Erscheinung war auf Visualität ausgerichtet, angefangen von den Aufmachern über die großen Lettern der Schlagzeilen und die Farbigkeit bis hin zu ihrem plakativen Umbruch. Bevor sich die Titelseite auf nur eine einzige Fotografie beschränkte, hatte die Seite eins aus mehreren Fotografien bzw. einer ganzen Bildstrecke bestanden. Fotografien, besonders solche von Unglücken, Katastrophen und Verbrechen, von menschlich bewegenden Szenen oder von emotionalen Momenten im Sport fungierten nun erstmals auch in einer Tageszeitung als Blickfang und nicht primär als Informationsträger, weshalb sich das Blatt gerade in seiner Anfangszeit den Vorwurf gefallen lassen musste, eine Zeitung für Analphabeten zu sein. „BILD-Fotos sind ‚expressionsexpressiv‘ vor allem in Mimik und Gestik der abgebildeten Personen, die entweder Freude, Glück, Heiterkeit oder Leid, Trauer, Schmerz erleben. Gern verwendet werden zumal Bilder, die Paarbeziehungen illustrieren. Gelegentlich bedeckt(e) ein Großfoto die ganze erste Zeitungsseite.“38 Bei der Bildbeschaffung setzte die Springer-Zeitung sowohl auf die Bildofferten der Agenturen als auch auf eigene Fotografen, die sich oftmals als hartnäckige ‚Paparazzi‘ erwiesen. Dieser Begriff wurde nicht zufällig zu Beginn der 1960er Jahre durch Fellinis Film La Dolce Vita geprägt, wenn es auch den Typus vereinzelt schon in den 1920er Jahren und zuvor gegeben hatte. Wegen Verletzungen der Persönlichkeitsrechte von abgebildeten Personen wurde mehrfach Beschwerde beim Deutschen Presserat erhoben. Um auf dem umkämpften Zeitungsmarkt zu bestehen, ließ BILD nun immer öfter die Hüllen fallen. Erst ab den 1970er Jahren korrespondierte dies mit veränderten Einstellungen zur Sexualität in der Gesamtbevölkerung. Insgesamt fungierten Themenbereiche wie ‚Gewalt und ihre Opfer‘ sowie die Präsentation von

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attraktiven Frauenkörpern als fotografische Mittel der Leseraktivierung und damit der Aufmerksamkeitsökonomie. Während in der ‚normalen‘ Abonnementzeitung der Inhalt bzw. die politische ‚Richtung‘ der Zeitung bei der Leseraktivierung den Ausschlag gab, regierte bei BILD die Form, die den Inhalt inszenierte. Um 1960 kam es zu einer neuerlichen Neukonfiguration der visuellen Öffentlichkeit, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst formal: die Qualität der Abbildungen in den Illustrierten besserte sich weiter. Die Layouts wurden moderner und ähnelten nun immer öfter dem Stil des Life-Fotojournalismus. Das Stilmittel [I/87]

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Ikonen der bundesdeutschen Pressefotografie [I/87] Wolfgang Albrecht, Berlin-Leipziger Platz, Fotografie vom 17.6.1953; [I/88] Kristall-Cover 16/1961 mit einer Aufnahme von Robert Lebeck aus Léopoldville vom 29.6.1960; [I/89] Peter Leibing, Flucht des NVA-Soldaten Conrad Schumann nach West-Berlin, Fotografie vom 15.8.1961; [I/90] Jürgen Henschel, der von einer Polizeikugel getroffene Benno Ohnesorg und die Studentin Friederike Dollinger, Berlin, Fotografie vom 2.6.1967

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der Unschärfe und das grobe Korn zogen nun auch in den bundesdeutschen Fotojournalismus ein. Die Titelbilder und die Anzeigen der Illustrierten wurden farbig. Lange Anzeigentexte gingen deutlich zurück, während der Anteil der Anzeigen, die nur aus Bild und Headline bestanden, stark anstieg. Vor allem aber nahm der Bildanteil in den Illustrierten zu. Parallele Entwicklungen gab es innerhalb der Tagespresse. Um den Nachrichtenwert zu erhöhen, wurden Ereignisse nun zunehmend auch hier visualisiert. Eine Untersuchung über die Saarbrücker Zeitung und die FAZ im Zeitraum zwischen 1955 und 2005 ergab einen stetigen Anstieg von Bildern in beiden Zeitungen. Während in der Saarbrücker Zeitung gestellte Fotos überwogen, machten situative Bilder wie die von Barbara Klemm einen Großteil der Pressefotos in der FAZ aus. In beiden Zeitungen hatten Bilder indes vor allem gestalterische und illustrierende Funktionen. Sie dienten meist nicht als eigenständige Informationsträger von Nachrichten, sondern sollten die schriftlich dargebotenen Informationen lediglich optisch unterstützen. Die zunehmende Favorisierung des Bildhaften wurde zeitgenössisch durchaus kritisch beobachtet. Ganz im Sinne von Bertolt Brecht und Siegfried Kracauer notierte ein Literaturwissenschaftler: „Das Bild kann […] allenfalls gewisse äußerliche Resultate vorführen. Zum Wesentlichen dringt es nicht vor. […] Die wesentlichen Bereiche sind meist die differenziertesten, abstraktesten, die am wenigsten abbildbaren. Ihr Bildeffekt ist nahe bei Null. Hielten die Illustrierten sich also strikt an ihr illustratives Prinzip, die wesentlichen Bereiche der Gesellschaft, die das Leben bestimmenden Phänomene blieben draußen.“39 Mithilfe von Fotoreportagen gewährten Zeitschriften neue Einblicke in geografisch entfernte Räume wie in die (post-)kolonialen Konfliktherde der 1950er Jahre oder in den Vietnamkrieg ab Mitte der 1960er Jahre. Die „Hochzeit der Bildreportage“ (Bodo von Dewitz) brach an. Mit Großformaten, Farbseiten und Dramatisierungen begehrten die Illustrierten gegen die Konkurrenz des Fernsehens auf. ­Larry Burrows Reportage „With a brave crew in a deadly flight“ von 1965 und Ronald ­Haeberles Bildbericht über das Massaker der US-Army 1969 in My˜ Lai – beide in Life publiziert – avancierten zu ‚Klassikern‘ der Bildreportage, die auch in Deutschland große Aufmerksamkeit erhielten. Gegenüber den flüchtigen Gebrauchsbildern beförderten solche Reportagen eine Bildsprache, die „erheblich zur Fokussierung des öffentlichen Bildgedächtnisses auf einzelne Aufnahmen beitrug“.40 Wie die Fotografien des Pulitzer-­Preises seit 1959 deutlich machten, handelte es sich dabei insbesondere um Aufnahmen der Gewalt. Solche Aufnahmen entstanden auch in der Bundesrepublik bzw. von bundesdeutschen Fotografen in den 1960er Jahren zuhauf. Zu ihnen gehörten (I/87) Wolfgang Albrechts Foto der beiden Steinewerfer vom 17. Juni 1953 in Ostberlin, (I/88) Robert Lebecks Aufnahme des Degendiebs von Léopoldville vom Juni 1960, das zum „Schlüsselbild der Dekolonisation Afrikas“ (Jörn Glasenapp) werden sollte, (I/89) die Aufnahme eines flüchtenden Volksarmisten von Peter Leibing vom August 1961, die zu einer Ikone der deutschen Teilung avancierte, sowie (I/90) das Foto des sterbenden Studenten Benno Ohnesorg von Jürgen Henschel vom Juni 1967 aus West-Berlin, das die Radikalisierung der Studentenbewegung beförderte.

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Nicht zuletzt als Folge des Aufstiegs des Fernsehens als Unterhaltungs- und Informationsmedium gingen die Auflagezahlen der illustrierten Massenpresse seit Ende der 1960er Jahre international wie national kontinuierlich zurück. Zugleich setzte sich die Sexualisierung der Titelblätter fort. Noch vor dem Andruck geriet 1978 das Juni-Heft des Stern zum öffentlichen Skandal, das ein Plakat eines Hamburger Nachtclubs abbilden sollte, auf dem eine Frau mit roten Strapsen und zurückgeworfenem Kopf rittlings auf dem Schoss eines Mannes sitzt. Das Coverbild wurde zurückgezogen. Mit barbusigen Models auf ihren Titelseiten warb konkret – ein Blatt, das zeitweise als publizistische Speerspitze der Außerparlamentarischen Opposition fungierte. Nach der Depression der 1960er und beginnenden 1970er Jahre, in denen sich die Zahl der Allgemeinillustrierten in der Bundesrepublik stark dezimiert hatte, setzte nach 1975 eine neue Gründungswelle von Zielgruppen- und Spezialzeitschriften ein – eine Phase, die als zweite Modernisierung der Publikumszeitschriften bezeichnet worden ist. Begleitet wurde die Entwicklung des bundesdeutschen Bildjournalismus von Prozessen der Konzentration und Kartellbildung auf dem Bildermarkt. Diese verstärkten internationale Einflüsse und ließen die Bilderwelten interkultureller werden. Als Hochburg der Illustriertenpresse galt die Bundesrepublik als lukrativer Markt. Zwar war es noch im Gründungsjahr der Republik 1949 zur Bildung der dpa durch Zusammenlegung der drei Westzonenagenturen Deutsche Nachrichtenagentur (DENA), Deutscher Pressedienst (dpd) und Südwestdeutsche Nachrichtenagentur (­Südena) gekommen, deren Bilderdienst hatte zunächst aber technische Startschwierigkeiten, so dass Fotos noch mit Post und Bahnexpress versandt werden mussten, wodurch die schnelleren internationalen Bildagenturen deutliche Vorteile besaßen. Technologische Innovationen erhöhten zugleich die Zirkulationsgeschwindigkeit der Bilder. 1959 führte dpa den Bildfunk ein, der eine telegrafische Übertragung von Fotografien ermöglichte. Seit 1980 begann AP, seine Wort- und Bilddienste über Satelliten zu vertreiben. 1983 folgte der Eintritt in das digitale Zeitalter, der die elektronische Bildbearbeitung ermöglichte. Seit Beginn der 1990er Jahre wurden digitalisierte Aufnahmen um den Erdball gesandt. Kennzeichnend für die Entwicklung der Bildagenturen war ihre zunehmende Kartellbildung. dpa und UPI etwa schlossen sich zu einem einheitlichen Dienst zusammen, so dass 1969 von einem ‚Nachrichten-Kartell‘ auf dem Bildsektor gesprochen wurde. Neben dpa, die seit 2002 mit ihrer Tochtergesellschaft picture alliance eine Online-Plattform der sechs großen Bildagenturen akg-images, Bildagentur Huber, dpa-Bilderdienste, kpa photo archive, Okapia und Picture Press aufbaute, deckte vor allem der AP-Bilderdienst die Nachfrage nach tagesaktuellen Pressefotografien ab. Eine Folge der Kartellbildung war, dass sich das Bildangebot jenseits der Lokalberichterstattung tendenziell annäherte. Der weltweite Bildaustausch via Internet war schließlich die entscheidende Voraussetzung für die Herausbildung der ‚global player‘ auf dem Sektor der Bilderdienste wie Corbis und Getty Images, wodurch die Globalisierung, aber auch die Konzentration des Bildermarktes eine nie zuvor geahnte Dimension annahm. Neben den Bilderdiensten der großen Agenturen existierten Ende der 1990er Jahre in Deutschland darüber hinaus schätzungsweise wei-

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[I/91] Heinrich Kuhn, Innenaufnahme einer Wohnküche in den Sanierungsgebieten in West-Berlin (Wedding oder Neukölln), um 1963. An der Wand ein Porträtbild von John F. Kennedy

tere 1200 selbstständige Bildagenturen und -archive sowie 4700 Bildanbieter. Die Bundesrepublik war damit der zweitgrößte Bildermarkt der Welt mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten.

Sozialfotografie

Einen schweren Stand nach 1945 hatte die dokumentarische Sozialfotografie. Dass Fortschritt und Wohlstand keine Selbstläufer waren und nicht alle Bürger und Bürgerinnen von ihnen profitierten, passte nicht ins Selbstbild der Republik. Menschen am Rande der Gesellschaft kamen in der Mainstreamfotografie der Illustrierten und Magazine so gut wie nicht vor. (I/91) Erst 2014 erblickte so etwa eine Auswahl von Aufnahmen des Berliner Fotografen Heinrich Kuhn das Licht der Öffentlichkeit, die dieser um 1963 im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung gemacht hatte, um das Wohnungselend der in jenen Berliner Mietskasernen hausenden Menschen zu dokumentieren, die zum Abriss bestimmt waren und durch helle, moderne Wohnun-

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Arbeitsmigranten, Obdachlose, Massenquartiere – Schattenseiten der Wohlstandswunderwelt [I/92] Erika Sulzer-Kleinemeier, ‚Gastarbeiter‘ beim Tunnelbau der Frankfurter U-Bahn (1972); [I/93] Timm Rautert, Obdachlosenunterkunft, aus: ZEITmagazin 26.7.1975; [I/94] Dirk Reinartz, Sonnenring Frankfurt am Main (o. D.), aus: ders.: Kein schöner Land (o. S.)

gen ersetzt werden sollten. Viele dieser Aufnahmen erinnern an Bilder von Heinrich Zille vom Beginn des Jahrhunderts und von Walter Ballhause aus den 1930er Jahren, gerieten da nicht Gegenstände wie das Foto von John F. Kennedy in einer Wohnküche ins Bild, die auf die Gegenwart verwiesen. „Um dem Mitleidseffekt vorzubeugen, bekam Heinrich Kuhn den Auftrag, das Elend in den Sanierungsgebieten fotografisch zu dokumentieren“, schrieb Alan Posener. Es handele sich also um „Propagandafotos“. Dennoch: „Sie verweigern sich selbst da, wo es möglich wäre, jedem sentimentalen Blick; jedes Foto ist Anklage.“41 Völlig aus dem fotografischen Blick geriet lange auch die Gruppe der Arbeitsmigranten, deren Zahl von 330.000 im Jahr 1960 auf über 1,2 Millionen 1965 angewachsen war und 1973, im Jahr des Anwerbestopps, einen Höhepunkt von 2,6 Millionen erreichte. Ihr Leben war, sieht man einmal von öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie der Begrüßung des einmillionsten Gastarbeiters durch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände auf dem Bahnhof Köln-Deutz ab, kaum einer Fotografie wert. Eine Ausnahme machte die 1935 in Rostock geborene Bildjournalistin Erika Sulzer-Kleinemeier, die sich auf Themen und Menschen am Rande der Wohlstandsgesellschaft, speziell auf Arbeitsmigranten, konzentriert hatte. Aufsehen erregte 1972 ihre Fotoserie über türkische Gastarbeiterfamilien, die unter dem Titel „Malochen für Deutschland“ großformatig auf Litfaßsäulen in der Frankfurter Innenstadt plakatiert wurde und auf die prekäre Lebens- und Arbeitssituation ausländischer Arbeiter in der Bundesrepublik aufmerksam machte. (I/92) Abnehmer für ihre Aufnahmen fand Sulzer-Kleinemeier indes kaum. Anklagende Aufnahmen vom Leben ausländischer Arbeitnehmer galten als nicht opportun. Erika Sulzer-Kleinemeier repräsentierte einen neuen Typus von Fotografen bzw. Fotografinnen, die sich bewusst ins Getümmel der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stürzten, wie im September 1968 bei den Demonstrationen in Frankfurt gegen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Léopold S. Senghor, wo sie an ihrer Arbeit gehindert und von der Polizei festgenommen wurde. Auch Timm Rautert – 1941 in Tuchel in Westpreußen geboren und Schüler von Otto Steinert an der Folkwangschule – (I/93) machte sich in den 1970er Jahren durch Bildreportagen über Menschen am Rande der Gesellschaft einen Namen. Für das ZEITmagazin fertigte er Bildreportagen u. a. über Contergan-Kinder, über die ­Ethnie der Roma, über Obdachlose und entlassene Bergarbeiter, über jugendliche

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Ausreißer und farbige Menschen in der Bundesrepublik, über politische Flüchtlinge aus Chile und Arbeitsmigranten aus Südeuropa sowie über Insassen psychiatrischer Anstalten an. Seit den 1980er Jahren widmete sich Rautert dem fortschreitenden Wandel der Arbeitswelt im Zuge der industriellen Automatisierung. Seine Arbeiten sind in zahlreichen öffentlichen Sammlungen im In- und Ausland vertreten, so auch im Paul Getty Museum in Los Angeles und im Centre Georges Pompidou in Paris. Wie Rautert war auch Dirk Reinartz – 1947 in Aachen geboren und jüngster Redaktionsfotograf des Stern – Schüler von Otto Steinert. (I/94) In seinen Aufnahmen dokumentierte er nüchtern und gesellschaftskritisch die Hinterzimmer der Republik und die trostlosen Ecken der seit den 1970er Jahren brüchig gewordenen Wohlstandswunderwelt. Weder seine Aufnahmen noch die von Erika Sulzer-Kleinemeier und Timm Rautert fanden Eingang in die großen zeitgeschichtlichen Museen der Republik oder in deren Geschichtsbücher, so wie überhaupt Bilder zur Geschichte der Armut und der Arbeitsmigration nicht zur Geschichte der Republik zu gehören schienen. Gegen die bunten Bilder der ‚Wohlstandswunder‘-Presse formierte sich seit Beginn der 1970er Jahre eine an die Traditionen der Arbeiterfotografenbewegung der Weimarer Republik anknüpfende sozialdokumentarische, ‚zweite Arbeiterfotografie‘. Deren Akteure gaben seit 1973 die Zeitschrift Arbeiterfotografie heraus, begleiteten Bürgerinitiativen und Arbeitskämpfe mit dem Fotoapparat, fotografierten im ‚Gastarbeiter‘-Milieu, widmeten sich prekären Arbeits- und Lebensbedingungen, die in aller Regel nicht den Weg in die kommerziellen Bildmedien fanden, oder setzten sich kritisch mit den Bildstrategien der Mainstreammedien auseinander. Diesen warf man Verschleierung der Wahrheit vor. Ihrer Bilderflut sollte daher eine „realistische Fotografie“ entgegengesetzt werden. Die Kamera fungierte dabei als Medium der Anklage und der Herstellung von Gegenöffentlichkeit für ansonsten ‚unterbelichtete‘ Themen.

‚Knipserfotografie‘

Für Fotofreunde waren die 1950er Jahre ein goldenes Zeitalter. Zwar hatte es bereits zur Zeit der Weimarer Republik einen ersten Fotoapparate-Boom gegeben, doch bekamen nun Leica und Contax immer mehr Konkurrenz von Fotoapparaten mit mehr oder weniger aufwendiger Feinmechanik und einfacher, komplikationsloser Handhabung, und dies zu erschwinglichen Preisen. Gleich mehrere Kamerasysteme nahmen für sich in Anspruch, die ‚Leica des kleinen Mannes‘ zu sein. (I/95) Als neue Zielgruppe entdeckte die Fotoindustrie seit Mitte der 1950er Jahre Frauen, die bislang nur im Ausnahmefall zur Gruppe der ‚Knipser‘ gehört hatten. Um diesen die angebliche oder tatsächliche Scheu vor der Fototechnik zu nehmen und das Vorurteil abzubauen, Fotografieren sei ein typisch männliches Hobby, bewarben Industrie und Handel die neuen Kameramodelle als bedienungsfreundlich, elegant und ‚kinderleicht‘. Mit dem Slogan „Wer photographiert, hat mehr vom Leben“ warb Photo-Porst in den 1950er Jahren für seine Produkte. Das Nürnberger Unternehmen war für clevere Geschäftsideen bekannt. Aus einem Ladengeschäft hatte es sich zu einem führenden Versandhandel von fototechnischen Produkten entwickelt. Früh hatte es begonnen,

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bei Bezug von Fotoapparaten mit der DDR zu kooperieren. Vor allem gelang es ihm, mit einem Teilzahlungsmodell neue Käuferschichten zu erschließen. Mit dem Angebot einer kleinen Anzahlung oder der Inzahlungnahme eines Gebrauchtapparates sowie der Restzahlung in zwölf Monatsraten konnte es dem Publikum Kameras offerieren, die damals noch als Luxusgüter galten und sich ‚Otto Normalverbraucher‘ im Regelfall nicht leisten konnte. Mit Fotoapparaten von Photo-Porst hielten die Deutschen-West in den 1950er/60er Jahren ihre wiedergewonnene Normalität fest. Der Katalog von Photo Porst galt ein Jahrzehnt lang als die ‚Bibel‘ der ‚Knipser‘. Fotografieren wurde zum Volkssport. Seit Mitte der 1950er Jahre sprach man auch von einer ‚Fotografierwut‘, die die Deutschen erfasst habe. Allein zwischen 1963 und 1970 stieg die Zahl der gemachten Aufnahmen von 900 Millionen auf 1,5 Milliarden pro Jahr und damit um mehr als ein Drittel an. Etwa 60 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte verfügte um 1965 über mindestens einen Fotoapparat. Und zwei Drittel aller ‚Knipser‘ fotografierte zu diesem Zeitpunkt bereits in Farbe, wodurch auch der private Alltag einen anheimelnd-pastellfarbenen Anstrich erhielt. Während der Berufsfotograf die Anforderungen seines Auftraggebers zu erfüllen hatte, der Porträtfotograf sich an den Imperativen der Mode und des allgemeinen Geschmacks orientieren musste, vom Pressefotografen erwartet wurde, dass [I/95]

[I/95] Agfa-Anzeige, um 1960

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er möglichst genau das aktuelle Geschehen dokumentierte, brauchte der ‚Knipser‘ keinen externen Forderungen zu folgen. Er oder sie hatte die Freiheit, viele Versuche von ein und demselben Motiv aufzunehmen und dann auszuwählen. Ihrer Experimentierfreude waren allenfalls noch finanzielle Grenzen gesetzt. Gleichwohl blieben die meisten Aufnahmen konventioneller Art, wagten kaum einmal Grenzen zu überspringen und beschränkten sich auf einen überschaubaren Kreis von Motiven. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnete die Amateurfotografen denn auch etwas abschätzig als „Saisonkonformisten“, die den Apparat hervorholten, wenn es in die Ferien ging oder ein Sonntagsausflug bevorstand. Die 1962 geborene Schriftstellerin Nadine Olonetzky hat anschaulich die Fotopraxis ihres Vaters beschrieben, wie sie damals üblich war. „Und Vater fotografierte das alles: Mein Bruder und ich in Wanderhosen, unsere Mutter mit Kopftuch und Sonnenbrille, mein Bruder mit Teddybär im Rucksack, ich beim Löwenzahn Wegpusten, meine Mutter beim Lippenschminken. Und manchmal ist auch mein Vater mit im Bild, das entstand dann per Selbstauslöser. Die Kamera war die Begleiterin aller Ausflüge, aller Geburtstage, Weihnachtsessen, aller Ferienreisen und Schulbesuche. Mein Vater fotografierte uns, er fotografierte das Haus, das Auto, den Strand, die Stadt, die wir besuchten, das Schiff, auf dem wir fuhren. Er fotografierte den Kuchen, die Vase mit den Blumen. Er fotografierte den Sandkasten und wie wir spielten, den Lehrer und wie wir lernten. Er fotografierte das Picknick und die Aussicht. Und er fotografierte die Verwandtschaft, die schweizerische und diejenige, die aus Israel angereist kam, meinen Onkel zum Beispiel, der Fotograf war und auch alles fotografierte. Die Kamera war Teil der Familie, der Sonntage und Feierabende. Sie schaute zu – und damit auch er. Mein Vater nahm nicht nur teil, er beobachtete zugleich. Durch das Objektiv sah er, was er sich erworben hatte, was jetzt leibhaftig und gegenständlich um ihn herum vorhanden war. Und nicht nur das: Über die Fotografie konnte er allem ein zweites Mal habhaft werden, indem er die Szene in ein Bild verwandelte …“42 Wie für den Vater von Nadine Olonetzky fungierte der Fotoapparat auch für die große Mehrheit der Deutschen-West als Mittel der Selbstvergewisserung. Im Medium der Fotografie spiegelte man sich die wiedererlangte Normalität und den erreichten sozialen Status wider. Festgehalten wurden fast ausschließlich die schönen und außergewöhnlichen Augenblicke des Familienlebens. Kaum einmal rückten die häuslichen und schon gar nicht die außerhäuslichen Arbeitszusammenhänge ins Visier oder die großen Veränderungen der Zeit wie die zunehmende Arbeitsmigration oder die Politisierung der Nachkriegsjugend. Und allenfalls zufällig gerieten die Überbleibsel der Vergangenheit in den Blick der ‚Knipser‘, wie die noch lange die Städte prägenden Ruinen des vergangenen Krieges, vor allem dessen menschliche Opfer, die Kriegsversehrten. ( I/160) Stattdessen breitete man vor der Kamera das aus, was man sich mit zunehmendem Wohlstand wieder leisten konnte: das neue Rundfunkgerät, später den Fernsehapparat, das Häuschen im Grünen, die Hollywoodschaukel, (I/96) den Urlaub an der Ostsee oder schon am Mittelmeer. Stets ins rechte Licht gesetzt wurde das erste Auto. Es war das Statussymbol, dessen Bild in keinem Fotoalbum fehlen durfte. Ent-

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[I/96] Urlaub an der Ostsee: Seite aus einem privaten Fotoalbum des Autors (1958)

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[I/97] Familienglück 1941, aus einem privaten Fotoalbum. Der obere Bildteil mit dem Porträt Hitlers wurde nach 1945 einfach abgeschnitten.

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weder ließ sich der Besitzer von seiner Frau vor dem neuen Auto ablichten, oder aber der Fotograf kombinierte für das Foto selbst seine beiden wichtigsten ‚Besitztümer‘: sein Auto und seine Frau oder seine Freundin. All das machte vergangene Entbehrungen vergessen. Man hielt fest, was man besaß und nicht wieder hergeben wollte. Fast schien es, als ob man ein Ding oder ein Erlebnis erst dann sein Eigen nennen konnte, wenn man es auch bildlich in Besitz genommen hatte. Ähnlich war es mit den Ferien. Statt individuell die Umgebung des Reiseziels zu erkunden, dokumentierte man möglichst lückenlos und in stereotypen Bildformeln alle Etappen des Urlaubs, um den Daheimgebliebenen und sich selbst zu beweisen, was man sich wieder leisten konnte. Ein Aufenthalt am Meer galt als Inbegriff für Urlaubsglück. Zahlreiche Strandfotos in den Familienalben zeugen davon. Ferienfotos waren die neuen Siegestrophäen der Bundesbürger. So war es kein Zufall, dass sich der Amateurfotomarkt exakt zu dem Zeitpunkt ausweitete, als der Massentourismus die Bundesbürger erfasste. Die Fotografien begannen sich immer mehr zu ähneln. Die Differenzen zur Bilderwelt der Kataloge der Reiseveranstalter ebneten sich ein. Die meisten Aufnahmen wurden für das Familienalbum arrangiert. In diesen Arrangements spiegelten sich nur selten die durch den Krieg zeitweise infrage gestellten konventionellen Geschlechterrollen und Arbeitsteilungen wider. Bei alledem ging es nicht primär darum, wie wirklichkeitsnah und typisch die Aufnahmen waren, sondern ob sie ihre Funktionen bei der Fantasieproduktion und der Erinnerungskonstruktion erfüllten, d. h. ob sie zu den imaginären Bildern führten, die man von sich und seiner Vergangenheit hatte bzw. haben wollte. So wie die Fotografien des Technikhypes der 1920er Jahre die ‚nationale Schmach‘ von 1918/20 überschrieben hatten, überlagerten nun Bilder einer heilen Wirtschaftswunderwelt die Bilder von Krieg und Holocaust. Sie signalisierten eine wiedergewonnene Normalität und oftmals erst damit mental den Wiederaufstieg Westdeutschlands zu einer normalen Industrie- und Konsumnation im Bund der Völker. Ort der Aufbewahrung der gemachten Bilder war zumindest in der bürgerlichen Mittelschicht das Fotoalbum. Bis in die 1980/90er Jahre war es in vielen Familien üblich, für jedes neu geborene Kind ein eigenes Fotoalbum anzulegen und darin die Lebensetappen  – meistens bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter  – fotografisch zu dokumentieren. Das Fotoalbum war das selbst kuratierte Familienmuseum. Durch Auswahl, Art der Arrangements und Betextung der Fotografien erhielt das eigene Leben eine Ordnungsstruktur, die es de facto nicht besaß. In den Fotoalben zeigte man sich und der Nachwelt nicht, wie das eigene Leben war, sondern wie es den gesellschaftlichen Normen und Wunschvorstellungen entsprechend sein sollte. Bereits existierende Fotoalben wurden nach 1945 nicht einfach weitergeführt, sondern von den Relikten der braunen Vergangenheit ‚gesäubert‘, privat entnazifiziert. Aufnahmen, die Familienmitglieder in Nazi-Uniformen oder bei NS-Kundgebungen zeigten, wurden entweder aus den Alben herausgerissen und die entstandenen Leerstellen mit bunten Abziehbildchen überklebt. (I/97) Oder man griff, wie in meiner Familie, einfach zur Schere und entfernte mit einem Schnitt das, was einem jetzt peinlich war und nicht mehr in die neue Zeit passte.

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Ähnlich wie die bildende Kunst setzte sich auch der bundesdeutsche Film erst spät und dann auch nur zögerlich mit den Bilderwelten der jüngsten Vergangenheit und der unmittelbaren Gegenwart sowie selbstreflexiv mit denen des eigenen Mediums auseinander. Weite Bereiche der Vergangenheit wie der Gegenwart blieben im Film der jungen Republik unsichtbar oder wurden allenfalls zaghaft angedeutet. Die spezifischen ästhetischen Möglichkeiten des Films, vergangene und gegenwärtige Bilderwelten auch in den Köpfen seiner Zuschauer zu befragen, Verbrechen schonungslos sichtbar zu machen, ästhetische Verkrustungen aufzubrechen und neue Blicke zu wagen, war nicht unbedingt seine Sache. Im Gegenteil: Der Produzentenfilm der 1950er Jahre setzte zunächst ganz auf Kontinuität im Programmangebot wie in den Bildern. Entsprechend den Bedürfnissen seines Publikums bot er vor ­allem Ablenkung und Zerstreuung, Harmonie und Orientierung, insbesondere Eskapismus an. Er generierte künstliche Traumwelten, in denen sich die Bundesbürger vorübergehend bewegen konnten. Kommerziell war er damit erfolgreich. Pro Jahr besuchten während der 1950er Jahre im Durchschnitt etwa 800 Millionen ­Zuschauer die Kinos in Westdeutschland. Zu Recht ist die Zeit als Kinoblüte bezeichnet worden. Kino in den 1950er Jahren war mehr als nur ein Leinwanderlebnis. Es war Erlebniskino. Durch den Aufstieg des Fernsehens war das Kino gezwungen, attraktiver zu werden, was es durch Verbesserungen der Ton- und Bildqualität, die Vergrößerung der Leinwand und die Anschaffung bequemer Kinosessel zu bewerkstelligen versuchte. Wie im Theater wurde der Gast von Garderobierinnen in Empfang genommen und von Platzanweiserinnen zu seinem Platz begleitet. Vor Beginn der Filmvorführung gab es in etlichen Großstadtkinos farbig angestrahlte Wasserspiele zum Klang von Kinoorgeln. Szenenapplaus, Lacher und das Gespräch mit dem Sitznachbarn während der Vorführungen zählten noch ganz zum Kinovergnügen. Bis 1955 erreichte das bundesdeutsche Filmangebot eine mit der Filmproduktion vor 1945 fast identische Ausdifferenzierung im Angebot des sogenannten ‚unpolitischen Unterhaltungsfilms‘. Wie ehedem dominierten Heimat- und Historienfilme, Musik- und Operettenfilme, Melodramen und Militärfilme, Filmkomödien und Aufstiegsmärchen. Oft handelte es sich dabei um Remakes erfolgreicher Filme wie

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[I/98] Fassadenplakat Die Sünderin von Kinoplakatmaler Kurt Wendt an einem Haus am Hamburger Gänsemarkt (1951)

Die drei von der Tankstelle (1930/1955), Der Kongress tanzt (1931/1955) oder Im weißen Rössl (1935/1952). Und oftmals war es auch dasselbe Personal wie vor 1945, das die Filme produzierte und realisierte. Wegen des hohen Maßes an personeller und inhaltlicher Kontinuität unterschieden sich viele Kinofilme der frühen 1950er Jahre daher kaum von jenen der Zwischenkriegszeit: „80 bis 90 Prozent der Regisseure und Drehbuchautoren waren alte Bekannte.“43 Anders als zeitweise zwischen 1945 und 1949 dominierte in diesen Filmen i­ ndes nicht länger der Opferdiskurs. Vielmehr wurde dieser abgelöst durch Filme, die zumeist im Hier und Heute spielten und Neuorientierung und Stabilität in ­traditionell

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sicheren Milieus der Gegenwart offerierten. In den Musikfilmen schließlich herrschte pure Lebenslust, die die Deutschen lange vermisst hatten. (I/99) Mit Schwarzwaldmädel kam 1950 der erste bundesdeutsche Nachkriegsfilm in Farbe in die Kinos – ebenfalls ein Remake, das etwa 16 Millionen Zuschauer in die Kinos zog. (I/101) Zu Kassenschlagern wurde die Sissi-Trilogie (1955/57) um die frühen Jahre der österreichischen Kaiserin, die den Weltruhm der jungen Romy Schneider begründete, vor allem aber die (I/100) in zartem Agfa-Color gedrehte Immenhof-Trilogie um die Schwestern Dick und Dalli. In Filmen wie diesen ging es gesittet und anständig zu. Geltende Zeigbarkeitsregeln wurden kaum einmal verletzt. Dem Auge boten die projizierten Bilder nur selten Widerstand. Darüber wachte die 1949 gegründete Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), deren Zensurquote in den 1950er Jahren bei etwa fünf Prozent lag. Zu einem Eklat kam es einzig 1951 bei dem Nachkriegsdrama (I/98) Die Sünderin mit Hildegard Knef, das neben Szenen aus der Welt der Prostitution und der wilden Ehe u. a. eine kurze Nacktszene enthielt, die Politik und Kirchen auf den Plan rief. 1954 entschied das Bundesverfassungsgericht letztinstanzlich gegen geforderte Aufführungsverbote und beschied, dass Die Sünderin entgegen der Auffassung der Kirchen als Kunstwerk gelte und daher durch das Grundgesetz geschützt sei. „Moralische, religiöse und weltanschauliche Auffassungen einzelner Bevölkerungskreise“ habe das Grundgesetz „nicht unter den besonderen Schutz der staatlichen Grundordnung gestellt.“ Die Freiheit der Kunst nach Grundgesetz-Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 unterliege nicht den Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Artikels 5, besonders nicht der polizeilichen Ermächtigung. Gemessen am Publikums- und Kassenerfolg bildete der Heimatfilm mit 24 Prozent der westdeutschen Gesamtproduktion zwischen 1949 und 1964 das erfolgreichste Genre. Prototypen des Genres waren Produktionen wie Schwarzwaldmädel (1950) und Grün ist die Heide (1951). Sie wurden zum Auslöser eines regelrechten Booms von Heimatfilmen. Die gezeigten Heimatidyllen waren Inszenierungen einer Wunschwelt. „Hier erscheint alles idyllisch, geordnet und schmuck – kein Wunder, wenn man weiß, daß zu den Dreharbeiten Heimatkunst aus dem ganzen Schwarzwald in das kleine Dorf importiert wurde und auch die Landschaftsaufnahmen aus verschiedenen Teilen des Schwarzwaldes stammten.“44 Der Verdrängungswunsch und der Fortschrittsglaube der Kriegsgeneration fanden in den Scheinproblemen der Heimatfilme ihren Ausdruck: „Der bewußte Rückgriff auf die heile Welt des ländlichen Lebens, auf Naturidylle und Schicksalhaftigkeit, das elementare Streben nach Liebe und einfachem Glück, die Schönheit der natürlichen Landschaft und der edlen Menschen oder das schön-traurige Leben der fürstlichen und kaiserlichen Hoheiten aus der S ­ chlüssellochperspektive, die rauschenden Bälle und schneidigen Offiziere kamen unmittelbar dem Bedürfnis nach Vergessen und nostalgischen Sehnsüchten entgegen.“45 Die Bilder dieser ­Filme führten eine verkitschte Pseudoheimat vor, die zu den Bilderwelten von Krieg, Vertreibung und Trümmerzeit kontrastierte und gerade deshalb so beliebt war. Was das Publikum zu sehen bekam, waren heile und eindeutige Welten. Es wäre indes verkürzt, diese Filme nur auf ihre Verdrängungsfunktionen und die

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Heimatfilme – Historienschnulzen [I/99] Schwarzwaldmädel, Kinoplakat (1950); [I/100] Die Mädels vom Immenhof, Kinoplakat (1955); [I/101] Sissi, Kinoplakat (1955)

­ ermittlung konservativer Verhaltensmuster zu reduzieren. Vielmehr bedienten V sie immer auch individuelle Fluchtträume. Sie verhalfen damit zur Eingewöhnung in die friedliche Moderne der Gegenwart. Gleichwohl spiegelten sich die Entwicklungen und Stimmungslagen der Zeit, speziell die des Kalten Krieges, auch im Kino und seinen Bilderwelten wider. Das Klima des gegenseitigen Belauerns und Misstrauens, reale oder vermutete Geheimoperationen sowie eine grelle Feindpropaganda bildeten einen idealen Nährboden für Agenten- und Spionagefilme, in denen häufig die Feindbilder der jüngsten Vergangenheit fortwirkten. Vor allem in den aus den USA importierten Science-Fiction-Filmen wie Invasion vom Mars (1953) oder Die Fliege (1958) spiegelten sich der Kalte Krieg und die mit ihm verbundenen Bedrohungsängste wider. In den 1960er Jahren kamen die britisch-amerikanischen James-Bond-Filme nach den Vorlagen von Ian Fleming hinzu, die durch ihre Spezialeffekte und actionreichen Inszenierungen beeindruckten. Die deutsch-französische Antwort auf James Bond waren die Jerry-Cotton-Filme mit George Nader in der Rolle des gleichnamigen FBI-Agenten. Zu den Agenten- und Spionagethrillern gesellten sich Filme, die Fluchtgeschichten und die Symbolik der deutschen Teilung aufgriffen wie Menschen im Netz (1959) oder Durchbruch LOK 234 (1963). Der Kalte Krieg selbst fungierte in diesen Filmen allenfalls als Hintergrundfolie und Rezeptionsrahmen. Er war kaum einmal explizit Thema, so auch nicht in Die Spur führt nach Berlin von 1952 – ein Film, der in einem Showdown in den Ruinen des Reichstags mit seinen Einschusslöchern, Schuttbergen und Graffitis gipfelte. Der Kritiker Friedrich Luft schrieb 1960 mit Befremden: „Der Film sieht weg, wo es um das heute Wichtigste geht. Er rührt das Grundthema der deutschen Gegenwart nicht an.

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Kriegsfilme – der vergangene Krieg im Spielfilm [I/102] Canaris, Kinoplakat (1954); [I/103] 08–15, Kinoplakat (1955); [I/104] Des Teufels General, Kinoplakat (1955); [I/105] Die Brücke, Kinoplakat (1959)

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Es ist, als läge ein Tabu über diesem ganzen Bereich. Seit der Spaltung sind, sage und schreibe, drei ganze Filme gemacht worden, in die dies Thema hineinspielt. Postlagernd Turteltaube, Weg ohne Umkehr, Himmel ohne Sterne. Und der letzte von ihnen ist auch schon wieder an die fünf Jahre alt.“46 Der Antikommunismus der Zeit spielte allenfalls in latenter Form in die Filme hinein. Der Arzt von Stalingrad (1958) etwa verband die zeittypisch deutsche Opferstilisierung mit einem zum Teil rassistische Züge tragenden antikommunistischen Feindbild. „Die Russen, besonders die stummen Wachmannschaften, entsprechen dem Typus des Asiaten mit mongolischen Gesichtszügen. Neu an diesem an sich alten, auch im Faschismus benutzten Bild ist die Verbindung mit einer Projektion: Das Lager bei Stalingrad erinnert mit Stacheldraht, Hunden und Wachtürmen, mit der Beschreibung von Krankheitsquoten und ‚Vernichtung durch Arbeit‘ an deutsche Konzentrationslager. Die Assoziation wird dadurch verstärkt, daß die russische Ärztin sie ausdrücklich zurückweist.“47 Bei dem Casting zu dem Film habe man die Wachmannschaften explizit nach ‚asiatisch‘ erscheinenden Gesichtszügen ausgesucht. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt des Nachkriegsfilms bildete der vergangene Krieg. (I/102) Zu ihm zählten Filme wie Canaris (1954) und Der Stern von Afrika (1956), beides Filme von NS-Regisseur Alfred Weidenmann, Hunde, wollt ihr ewig leben (1958) von Frank Wisbar und (I/103) die Trilogie 08/15 (1954/55) von Paul May nach dem Drehbuch von Ernst von Salomon. Zwischen 1945 und 1960 sollen insgesamt 275 Kriegsfilme in bundesdeutschen Kinos zur Aufführung gekommen sein; andere Quellen sprechen für die Zeit zwischen 1953 und 1958 ­sogar von 600 Kriegs- und Militärfilmen vorwiegend amerikanischer Provenienz. Dies entsprach einem Anteil von knapp 10 Prozent des gesamten Filmangebots der Zeit. Filme wie 08/15 wurden von bis zu 20 Millionen Zuschauern gesehen. Nichts schien die Menschen trotz oder gerade wegen der vorangegangenen Erfahrungen mehr zu faszinieren als der Krieg. Um den fiktiven Handlungen einen authentischen Charakter zu verleihen, kopierte man in Filme wie Hunde, wollt ihr ewig l­eben? zeitgenössisches Bildmaterial hinein. Auch auf diese Weise blieb die fi ­ lmische Ästhetik der NS-Kriegspropaganda erhalten und verlängerte sich in die Gegenwart. Oftmals erschien der Krieg als Abenteuer, in dem sich harte Männer zu bewähren hatten. Insgesamt war der bundesdeutsche Kriegsfilm eine „­Mischung aus nostalgischem Kriegsabenteuer, durchaus realistischer Schilderung des Kasernendrills, der Grausamkeit des Krieges und menschlich-besinnlicher Momente“. 48 Während die Schurken und Drahtzieher stereotyp bei SS, SD und Gestapo angesiedelt waren, wurde der deutsche Soldat durchweg als tapfer, gehorsam, ritterlich, im Kern unpolitisch, als ein ausgezeichneter Kämpfer dargestellt, der eigentlich immer ‚dagegen‘ war. (I/104) Mustergültig geschah dies in Helmut Käutners Verfilmung von Carl Zuckmayers Theaterstück Des Teufels General 1954 – dem großen Entschuldungsstück der Deutschen-West mit Curd Jürgens in der Titelrolle des schmucken Fliegergenerals Harras. Stets war der tragische Held korrekt gekleidet und hatte immer eine spitze Bemerkung gegen Gestapo und SS auf den Lippen. Wie in 08/15 blieben das Kriegsgeschehen selbst und der Vernichtungskrieg auch hier ausgeblendet. Eher kreisten

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die Filme elliptisch um das Thema. Auf diese Weise verstärkten sie die visuelle Amnesie der bundesdeutschen Gesellschaft. Tatsächlich schien Mitte der 1950er Jahre niemand wirklich an der Thematisierung des Krieges mit seinem Grauen und Entsetzen interessiert zu sein. Die Kriegsthematik diente anderen Zwecken: der Entkräftung der Schuldfrage, der Rehabilitierung der Wehrmacht und ihrer Offiziere, der Stärkung des ‚Wehrwillens‘ in der Bevölkerung. Zum Teil überschrieben die Bilder dieser Filme die originären Eindrücke der ehemaligen Soldaten bzw. substituierten diese. Sie offerierten Deutungsangebote und füllten Leerstellen in der Erinnerung auf oder fügten die eigenen Bilder im Kopf in Bildgeschichten ein, mit denen sich leben ließ. Die Filme fungierten als „Drehbücher für das Leben“.49 Auf diese Weise erfüllten sie psychologische Entlastungsfunktionen bei der Rückkehr der Kriegsgeneration in eine nicht-kriegerische Gegenwart. Entlastungs- wie Orientierungsfunktionen besaßen auch die Filmkomödien mit Heinz Erhardt und die Verfilmungen der Karl-May-Geschichten, die seit Ende der 1950er bzw. zu Beginn der 1960er Jahre in der Gunst des Publikums schrittweise die Heimat- und Kriegsfilme ablösten. Im Besuch von Filmen wie Der Haustyrann (1959), Der letzte Fußgänger (1960) und Mein Mann, das Wirtschaftswunder (1960) mit Heinz Erhardt vergewisserten sich die Bundesbürger der Symbole ihrer Sehnsucht und des wieder erreichten wirtschaftlichen Standards. Diese Filme präsentierten eine von Trümmern und den Überresten des Krieges freie Welt. Die realiter sichtbaren Schatten der Vergangenheit, die die Städte noch allenthalben kennzeichneten, kamen in ihnen nicht vor. Durch geschickte Kameraschwenks und Schnitte konnte Erhardt im Cabrio durch eine vom Krieg stark heimgesuchte Stadt wie Kassel fahren, ohne dass auch nur eine einzige Ruine den Blick störte. Trotz der Zuschauermengen, die die Heimat-, Soldaten- und Kalten-KriegsFilme mobilisierten, befand sich das bundesdeutsche Kino in seiner Gesamtheit um 1960 kommerziell und künstlerisch in einer Krise. Seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war die Zahl der Filmproduktionen deutlich zurückgegangen. Dies war nicht nur dem Aufstieg des Fernsehens geschuldet, sondern weitgehend hausgemacht. Die Kinos fungierten immer weniger als fiktive Erfahrungs- und Erlebnisräume; man hatte sie zu Abspielstätten degradiert. Ästhetisch waren die meisten Nachkriegsproduktionen wenig anspruchsvoll. Sie nutzten die Möglichkeiten des eigenen Mediums nur begrenzt. Sie waren – wie es ein Kritiker formulierte  – „eine Verschwörung gegen das Kino an sich […], gegen jede Art von Filmen, die nach dem Krieg möglich und notwendig gewesen wären, kritisch, realistisch, der eigenen Möglichkeiten und Geschichte bewußt“.50 Zugleich waren es aber genau diese Filme mit ihren heilen Bilderwelten, ihren Heroen, ihren Wiederaufstiegsvisionen und visuellen Ausblendungen, die ersehnt wurden und die Anpassung der Bundesbürger an die Nachkriegszeit beförderten. Der allgemeine Niedergang des Kinos spiegelte sich auch im Niedergang der Vorprogramme wider, der Wahlfilme und Wochenschauen. Im Vorprogramm der 1950/60er Jahre waren parteipolitische Wahlfilme noch durchaus üblich gewesen, erst seit Ende der 1960er Jahre wurden sie von den Wahlspots des Fernsehens verdrängt. In der Regel handelte es sich dabei um kurze farbige Zeichentrickfilme der

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zur Wahl stehenden großen Parteien. Diese bestanden aus einfachen kontrastpublizistischen Gegenüberstellungen im Stil des ‚Negative Campaigning‘. Stilistisch knüpften sie an die Zeichentrickfilme der kommerziellen Werbung wie die des HBMännchens an. In einem Filmwerbespot der CDU von Ende der 1950er Jahre wurden hellen Schaufensterfassaden, vollen Ladenregale, bunten Werbeflächen und blinkenden Personenkraftwagen als Zeichen des ‚Wirtschaftswunders‘ Wachturm und Stacheldraht, Chaos und leere Schaufenster als Zeichen des anderen Deutschlands entgegengestellt. Die Wahlwerbung der SPD, die nie die formale Qualität der CDU-Spots erreichte, kam deutlich schwerfälliger und oberlehrerhafter daher. Anknüpfend an die NS-Propagandafiguren Tran und Helle warben mit ‚Plietsch und Plemm‘ zwei Zeichentrickfiguren für die Partei Ollenhauers. Erst in den 1960er Jahren machten sie realen Menschen Platz. Noch war es üblich, den politischen Gegner mithilfe von Bildern lächerlich zu machen. Wie den Wahlwerbefilmen der Parteien erging es auch den Wochenschauen, die in den 1950er Jahren oft die einzigen audio-visuellen Informationen enthielten, über die die Bundesbürger verfügten. Die 1949 gegründete Neue Deutsche Wochenschau (NDW), zu der sich u. a. die Ufa-Wochenschau, Blick in die Welt und die Fox Tönende Wochenschau gesellten, musste 1977 ihren Betrieb einstellen. Der Grund: Als die Filmbilder die Kinos erreichten, waren sie immer schon mehrere Tage alt und damit in ihrem Neuigkeitswert überholt. Mit den schnelleren Bildern der Fernsehnachrichten vermochten sie nicht mehr zu konkurrieren. Nicht nur mit neuen Filmgenres versuchte sich das Kino seiner televisuellen Konkurrenz zu erwehren, sondern ebenso mit technischen Innovationen wie dem Cinemascope-Bildformat sowie 3D-Filmen, die in den 1950er Jahren eine erste Blüte erfuhren und zum Teil an die 3D-Experimente der NS-Zeit anknüpften. Noch vor der amerikanischen 3D-Welle hatte der Volkswagen-Konzern 1953 erste Werbefilme im Raumfilm-Verfahren Zeiss Ikon produziert, die auf der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt und im Vorprogramm im Kino aufgeführt wurden. Die ZEIT jubelte und blickte nach vorn: Inzwischen habe Zeiss Ikon „im Vorsprung gegen das Ausland ein Prinzip entwickelt, daß die beiden erforderlichen Bilder für jedes Auge des Zuschauers auf nur ein Filmband aufnimmt und also auch nur eine gewöhnliche Projektionsmaschine mit einem speziellen Stereo-Objektiv braucht, um die Bilder auf die Leinwand zu werfen. Der Zuschauer selbst muß dann nur noch mit einer Polarisationsbrille die ‚Lichtweichen‘ stellen – so genannt nach dem Prinzip der Weichen bei der Eisenbahn –, sodaß die Bilder richtig ankommen und in seinem Kopf die Illusion der dritten Dimension erzeugen. – Seit Jahrzehnten bemüht man sich aber auch schon darum, die Polarisation im Kinoraum selbst durchzuführen, und das einzige in Moskau bestehende, mit großen Kosten erbaute Raumfilmtheater erspart dem Zuschauer das Aufsetzen einer Brille. Erfinder und Technik also haben wieder Neuland erobert. Schon wird angedeutet, daß bald auch das plastische Fernsehen kommt, worüber die schwerringende Filmkonkurrenz in USA, die gerade für sich aus der Raumfilmsensation neue Hoffnung schöpfte, nicht sonderlich glücklich ist.“51 Und bezogen auf das Publikumsverhalten und die Schwächen der neuen Filme notierte die ZEIT: „Diese Filme sind auch nicht nur

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farbig sehr nuanciert und leuchtend und besonders schön […], sie werden auch von besonderer Werbekraft sein, weil sie durch ihre Gags im Gedächtnis bleiben werden: der fahrende Volkswagen, der aus dem Bilderrahmen heraus auf uns zurollt, so überraschend nahe, daß ängstliche Zuschauer sich ducken; Schneebälle, die uns an den Kopf fliegen; die riesige Hand, die uns packen will …“ Als dritte Revolution auf dem Gebiet des Films wurde die Einführung des Cinemascope-Verfahrens auf der breiten Leinwand gefeiert. Mit dem Monumentalfilm The Robe mit Richard Burton in der Hauptrolle über das Leben Jesu kam 1953 erstmals in New York ein in Cinemascope gedrehter Film auf der neuen, überbreiten und leicht gebogenen Leinwand in die Kinos. Der Film sollte jenseits der 3D-Technik einen neuen Raumeindruck suggerieren. Mit der Zeile „Plastische Wirkung – ohne Brillen“ bewarben die Kinos auch in Deutschland den Streifen. In der Kinosaison 1955/56 kamen mit Filmen wie Krach um Jolanthe, Der Kongreß tanzt, Königswalzer, Ja, die Liebe in Tirol, Lola Montez und Waldwinter die ersten in Deutschland gedrehten Cinemascope-Filme in die Kinos. Durch ein neues Verfahren konnten mit einer Speziallinse die Bilder bei der Aufnahme auf dem 35mm-Standardmaterial horizontal gestaucht und bei der Projektion auf das Doppelte der regulären Größe gestreckt werden. Die neuen Filme verlangten indes auch eine völlig neue Ästhetik, auf die die meisten Regisseure nicht vorbereitet waren. Ähnlich wie in der zeitgenössischen Kunstfotografie zeichnete sich seit Mitte der 1950er Jahre im bundesdeutschen Film ein „eigentümlicher Realismus“ (Fritz Göttler) bzw. ein „poetischer Verismus“ (Knut Hickethier) ab. Dies zeigte sich in der Wahl von Drehorten wie Tankstellen, Bars, Bahnhöfen, Bordellen usw., in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten, in Alltagsmotiven sowie in der Übernahme von Stilelementen der amerikanischen Pop Art in Mode, Musik und Gestik der zumeist jugendlichen Protagonisten. Erste sozialkritische Filme wie Die Halbstarken (1956) und Das Mädchen Rosemarie (1958) über den Mord an einer Edelprostituierten kamen in die Kinos. Zeitgenössische Kommentare lobten den Realismus. Und erstmals begannen Regisseure sich mit der NS-Zeit und deren Auswirkungen in der Gegenwart auseinanderzusetzen, wie in Wir Kellerkinder (1958) von und mit Wolfgang Neuss, Rosen für den Staatsanwalt (1959) und Kirmes (1960) mit dem jungen Götz George in der Hauptrolle – beides Filme von Wolfgang Staudte. Zumeist geschah dies in ironisch-satirischer Form. Das deutsche Publikum schien „eine unmittelbar-realistische Auseinandersetzung mit der schuldbeladenen Vergangenheit in den fünfziger Jahren offenbar noch nicht [zu] ertragen. Die Filmproduzenten und -regisseure berücksichtigten dieses Bedürfnis nach einer distanzierenden Sicht auf die Zeitgeschichte in ihren Filmen und rührten nicht [mit ganz wenigen Ausnahmen – wie Wolfgang Staudte in Kirmes] an jenem Tabu.“52 ( I/105) 1959 realisierte Bernhard Wicki mit Die Brücke den ersten und einzigen wirklichen Antikriegsfilm der Zeit, der allerdings geltende Zeigbarkeitsregeln in der Darstellung des Krieges nicht überschritt. Die Brücke war ein Film des Übergangs von den Genrefilmen der 1950er zu den neuen Filmen der 1960er Jahre. Die Süddeutsche Zeitung lobte ihn überschwänglich als einen der „härtesten, bittersten Antikriegsfilme, die je über eine Leinwand liefen“.53 Für andere Filmkritiker ging

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Kritisch, provozierend, gegenwartsorientiert – der ‚Neue Deutsche Film‘ [I/106] Die verlorene Ehre der Katharina Blum, Kinoplakat (1975); [I/107] Liebe ist kälter als der Tod, Kinoplakat (1969); [I/108] Die Blechtrommel, Kinoplakat (1979); [I/109] Die bleierne Zeit, Kinoplakat (1981)

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Die Brücke im Vergleich zu den zeitgenössischen Kriegsfilmen am weitesten in der Diskreditierung des Krieges. Drastische Gewaltszenen demontierten realistisch die Vorstellung vom heroischen Soldatentod. Mit seiner kargen Bildästhetik und klaren Formsprache sei Wickis Film ein „aufrüttelnder Appell, der Vernunft und der Menschlichkeit zu folgen, anstatt dem blinden Wahn einer rücksichtslosen Ideologie“, so Frankfurts Kulturdezernent Hilmar Hoffmann.54 Mit Filmen wie diesen signalisierte der bundesdeutsche Film ab Ende der 1950er Jahre sowohl inhaltlich als auch ästhetisch seine Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Die 1960er Jahre waren daher „eine Epoche des Übergangs zwischen der Routine des Produzenten- und Genrekinos der fünfziger und der kreativen Blütezeit des Neuen Deutschen Films in den siebziger Jahren“.55 Begünstigt wurde diese Entwicklung durch einen Generationswechsel der Filmemacher, die wie Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Werner Herzog, Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder entweder der Kriegsjugend- oder der Nachkriegsjugendgeneration angehörten und künstlerisch eher der Filmkunst eines Friedrich Wilhelm Murnau, eines Ernst Lubitsch und Fritz Lang nahestanden bzw. sich am französischen ‚cinéma des auteurs‘ orientierten. Die Krise des deutschen Kinos begriffen diese Filmemacher als Chance eines Neuanfangs. Öffentlichen Ausdruck fand das Bestreben, einen „neuen deutschen Film zu schaffen“ und die unpersönlichen Fließbandproduktionen des Produzentenfilms durch den Autorenfilm mit inhaltlich wie ästhetisch individualisierten Aussagen abzulösen, im Oberhausener Manifest von 1962. Insgesamt fügte sich die Entwicklung eines neuen Films in Westdeutschland ein in den Trend des europäischen, insbesondere des französischen Films um Regisseure wie François Truffaut, Jean-Luc Godard und Claude Chabrol, neue Wege in der Filmkunst zu beschreiten. Die kritische Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart, die Umsetzung der subjektiven Weltsicht des Autors und die Aktivierung des Zuschauers durch die Dekonstruktion klassischer Konstruktionsprinzipien wie Linearität, Narrativität und Geschlossenheit wurden zu gemeinsamen Nennern des ‚Neuen Deutschen Films‘. Statt um das Sichhineinfühlen ging es um ästhetische Partizipation, um die Öffnung des Zuschauers gegenüber dem Gesehenen und um Gedankenarbeit. „Das Ideal dieser Filme war weniger […] das glatte Gemälde, sondern das vom Unebenen und Kantigen lebende Relief.“56 Zu Klassikern des ‚Neuen Deutschen Films‘ wurden Produktionen wie Der junge Törless (1966) von Volker Schlöndorff, Die Artisten unter der Zirkuskuppel: ratlos (1967) von Alexander Kluge und Katzelmacher (1969) von Rainer Werner Fassbinder. Thematisch behandelten diese Filme die Brüche und Widersprüche der vermeintlich heilen Wirtschaftswunderwelt, das Dasein der Menschen im Schatten der grellen Leuchtreklamen, Vorurteile gegen gesellschaftliche Gruppen am Rande der Gesellschaft sowie die alltägliche Gewalt unter der Decke bürgerlicher Anständigkeit. In Filmen wie Jagdszenen aus Niederbayern (1968) von Peter Fleischmann, Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach (1971) von Volker Schlöndorff und der Heimat-Tetralogie von Edgar Reitz (ab 1981) entwickelte sich ein neuer deutscher Heimatfilm. Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse in (Liebes-)Beziehungen sowie die Situationen von Schwulen

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und Lesben bestimmten die Filme von Rainer Werner Fassbinder wie (I/107) Liebe ist kälter als der Tod (1969), Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972), Angst essen Seele auf (1973). Am ehesten noch fanden hier Form und Inhalt sowie Bildsprache und erzählerische Kreativität zueinander. Ebenfalls dem ‚Neuen Deutschen Film‘ zuzuordnen ist May Spils’ im Januar 1968 uraufgeführte Filmkomödie Zur Sache, Schätzchen mit der jungen Uschi Glas in der weiblichen Hauptrolle. (I/112) Kein Film brachte mehr das Lebensgefühl der nachwachsenden, zur Rebellion und Leistungsverweigerung bereiten Generation zum Ausdruck als er. Zugleich setzte er sich in seiner Bildsprache ab von der puristischen Ernsthaftigkeit eines Werner Herzog und Alexander Kluge. Der Film erlangte Kultstatus. Mit mehr als 6,5 Millionen Zuschauern allein in der Bundesrepublik wurde er ein kommerzieller Erfolg. Der SPIEGEL jubelte: „Wieder da: Der deutsche Film“. In der Titelgeschichte war zu lesen: „Preise auf Festivals, hymnische Huldigungen von Kritikern und Cineasten: Der neue deutsche Film gilt wieder was im Ausland. Filmemacher wie Fassbinder, Schlöndorff, Sinkel und Herzog knüpfen an die ‚goldene Filmzeit‘ der 20er Jahre an. Der Binnenmarkt-Absatz allerdings ist durch US-Filme begrenzt. Für die Welt, soweit sie ihn überhaupt zu sehen bekam, bot er jahrelang ein tristes Bild: Der deutsche Film, das waren Schmalz und Schmutz, Lümmel und Pauker, masturbierende Schulmädchen und der trottlige Thomalla. Jetzt reißt die Welt die Augen auf. ‚Cinema’s New Wunderkinder‘, des Kinos neue Wunderkinder, wurden die ‚brillanten jungen Deutschen‘ in den USA getauft. Der deutsche Film, meldet das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek, ‚beginnt nach einem langen Schlaf zu erwachen‘. Im ‚wundervollen Gesicht‘ der ‚Katharina Blum‘-­Darstellerin Angela Winkler sah das Magazin ‚die ganze Geschichte des einstmals großen deutschen Films‘ widergespiegelt. Offensichtlich seien es jetzt die Deutschen, so der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni, ‚die in Neuland vorstoßen‘. Und der englische Guardian: ‚Westdeutschland ist für viele jetzt der Ort, wo es passiert.‘“57 Die Chance, neue visuelle Erfahrungen zu vermitteln, wurde in den 1960/70er Jahren allerdings nur begrenzt genutzt, zu sehr verstanden sich die Autoren des ‚Neuen Deutschen Films‘ als eine kritische Avantgarde, die Überzeugungsarbeit leisten wollte. Typisch waren ‚Arbeiterfilme‘ wie Liebe Mutter, mir geht es gut (1971), Rote Fahnen sieht man besser (1971) oder Das Brot des Bäckers (1976), in denen sich ein „soziologisches Kino“ (Claudia Lenssen) artikulierte. Diese Filme billigten den Bildern keinen Eigenwert zu, sondern funktionalisierten diese vielmehr als Transportmittel von Aufklärung und politischer Botschaft. Dies traf auch für jene Filme zu, die sich mit dem großen Thema der 1970er Jahre – mit Terroristenjagd und Bespitzelungsklima – auseinandersetzten, wie (I/106) Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) von Margarethe von Trotta nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll, Messer im Kopf (1978) von Reinhard Hauff nach dem Drehbuch von Peter Schneider, die Collage Deutscher Herbst (1977/78), über die Zeit zwischen Schleyer-Entführung und Terroristen-Tod in Stammheim. Die spezifischen Bildproduktionen des Staates und die der RAF-Terroristen waren allenfalls Thema am Rande. (I/109) Eine Ausnahme machte Margarethe von Trottas

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Film Die bleierne Zeit (1981), der sich am Beispiel von Gudrun Ensslin auch mit den Bildern in den Köpfen der Terroristen befasste. Die spezifischen Möglichkeiten des Kinos als „Zeitmaschine“ und „Gedächtnisraum“ nutzten Literaturverfilmungen wie (I/108) Die Blechtrommel (1979) von Volker Schlöndorff nach dem gleichnamigen Roman von Günter Grass und Mephisto (1981) von István Szabó nach dem Roman von Klaus Mann – beides Filme, die 1980 bzw. 1982 den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film erhielten. Vor allem bei Schlöndorffs Film handelt es sich um keine einfache Literaturverfilmung, sondern um den Versuch, den Bildern ihr eigenes Recht zu geben und die Zuschauer immer wieder durch neue Kameraperspektiven in die Handlung einzubeziehen. Darüber hinaus aber waren es vor allem die visuellen Essays von Hans Jürgen Syberberg über Bayernkönig Ludwig II. (1972) und Adolf Hitler (1976/77), die sich mit den mythischen Bildwelten und Traumsphären der deutschen Geschichte auseinandersetzten und bewusst den Aufklärungs-Impetus der 68er negierten. Susan Sontag hat Syberbergs Hitler-Film 1980 überschwänglich als „das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk“ des 20. Jahrhunderts gefeiert.58 Die neuen Bildkulturen, die sich wie eine Folie über die Realität spannten, sowie der bunte Strom der Medienereignisse, waren kaum einmal Gegenstand des ‚Neuen Deutschen Films‘. Auch der bereits angekratzte Bilderglaube machte kaum einmal einer subtileren Bildkultur im Medium Film Platz. Die Bildproduktionen der Gegenwart wurden weder zerlegt noch kritisch befragt. Das wechselseitige Verhältnis von Realität und Medienrealität blieb weitestgehend unreflektiert. Zu den zeitgenössischen Bilderwelten hielt man Distanz. Die kommerziell erfolgreichsten deutschen Filme der 1960er und 1970er Jahre waren indes nicht die ‚Neuen Deutschen Filme‘, sondern die in den USA hochgelobten (I/110) Karl-May-Adaptionen von Rialto-Film. Mit den fiktiven Figuren des deutschstämmigen Landvermessers Old Shatterhand, verkörpert durch Lex Barker, und seinem indianischen Freund Winnetou, gespielt von Pierre Brice, verfügte die Nachkriegsgeneration über zwei neue und gutaussehende Superhelden, die eindeutige Rechts- und Moralvorstellungen verkörperten, die in der Vätergeneration so sehr gelitten hatten. Zugleich offerierten sie auch visuell einen neuen Männertypus, der sich ebenso von den zunehmend anachronistischen Soldatenbildern der Kriegsfilme wie von den Fotografien der depressiv wirkenden, zutiefst gedemütigten Männergeneration der Spätheimkehrer unterschied. Auch (I/111) die von der Bundesregierung geförderten ‚Aufklärungsfilme‘ der Helga-Trilogie (1967–1969) und die acht Oswald-Kolle-Filme (1968–1972), die die ‚sexuelle Revolution‘ der ausgehenden 60er Jahre begleiteten, machten Kasse. Eingebettet waren sie in einen allgemeinen Trend zu Erotik und Sexualität im Film der westlichen Industrienationen sowie in den Medien insgesamt. Neben den banalen Soft-Pornos des bundesdeutschen Kinos etablierte sich Sexualität im Kino in drei thematischen Großgruppen: in der „bewußte[n] Tabu-Negation im Sinne der Entmoralisierung und Entmystifizierung der Sexualität“; in der oft „schwülstige[n] Ausbeutung von Sexualität im Stil der modernen Warenästhetik“ sowie drittens in „der bewußt künstlerischen Verwendung von Sexualität“, d. h. ihrem Einsatz als

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Kassenschlager und Kultfilme [I/110] Winnetou, 3. Teil, Kinoplakat (1965); [I/111] Helga und die Männer, Kinoplakat (1969); [I/112] Zur Sache, Schätzchen, Kinoplakat (1968); [I/113] The Rocky Horror Picture Show, Kinoplakat (1974)

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­ edeutungsgenerierendem Moment.59 Auf Videokassetten kopiert, zogen etliche b dieser Filme später in die Wohn- und Schlafzimmer der Bundesbürger ein. Die Pop Art und die neuen popkulturellen Bilderwelten der Jugendkultur begünstigten allenfalls vereinzelt neue Bildersprachen des Kinos. Ein Klassiker der Popkultur der 1970er Jahre, der nicht nur die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch, sondern auch zwischen Leinwand und Publikum aufhob und dadurch partiell dem Kino seinen Charakter als Erlebnisraum zurückgab, wurde 1974 The Rocky Horror Picture Show. Der Film parodierte unterschiedliche Genres wie den Vampir-, den Monster-, den Science-Fiction- und den Musikfilm. Er gehörte zu den wenigen Produktionen, die sich auch der Bildsprache des Films und der anderer Bildmedien annahmen. In seiner bizarren Ästhetik stellte er bürgerliche Moralvorstellungen und Geschlechterbilder an den Pranger, bekannte sich zum Verbotenen und Perversen und setzte erotische Utopien in Bilder um. Zu sehen waren „geschminkte Männer mit Strapsen und Reizwäsche; Inzestbeziehungen; ein moderner Frankenstein ‚Rocky Horror‘; ein musikalischer Motorrad-Freak Eddie, der mit einem Eispickel erschlagen wird; die sexuelle Verführung Brads durch den Transvestiten Frank, während Janet am Monitor zusehen muss; Nekrophilie; ein UFO-Forscher usf.“60 Die etablierte Gesellschaft erschien als Karikatur. Begeisterte Fans, die selbst in die Rollen und Kostüme ihrer Leinwandhelden schlüpften, vor der Kinoleinwand tanzten und Reis oder Wasser über den Köpfen der Zuschauer auskippten, feierten den Film im Zuschauerraum als multimediales Happening. (I/113) Die Rocky Horror Picture Show avancierte auch in Deutschland zu einem der größten Kultfilme aller Zeiten.

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Vom Zuschauer zum Teleflaneur Der Aufstieg des Fernsehens

Kein Medium verkörperte den Siegeszug des Bildes im 20. Jahrhundert so sehr wie das Fernsehen mit seinen schnellen elektronischen Bildern. In den 1960/70er Jahren stieg es auch in Deutschland endgültig zum Leitmedium der gesellschaftlichen Kommunikation auf. Nicht zu Unrecht ist das beginnende Fernsehzeitalter als „eine kulturelle Revolution im tiefsten Frieden“ (Schildt/Siegfried) bezeichnet worden. War das kollektive Sehen, wie es im ‚Dritten Reich‘ praktiziert worden war, mit dem Odium des Totalitären behaftet gewesen, so stand der private Empfang nun für das Fern-Sehen der sozialen Marktwirtschaft. Mit dem neuen Medium begann Marshall McLuhans Vision eines mediengestützten globalen Dorfes Realität zu werden. Zu Ikonen des neuen Fernsehzeitalters und der damit verbundenen gesellschaftlichen Modernisierung wurden (I/115) das statische Fernsehauge von 1955 (I/116) sowie vor allem das bewegte Tagesschau-­Intro mit den stilisierten Fernsehantennen von 1956, das ab 1970 schrittweise von der Weltkarte abgelöst wurde. Das Fernsehen etablierte eine elektronische Einrichtung, ein sogenanntes Dispositiv, im privaten Raum. Im Unterschied zum Kinogänger trafen die Bildinformationen jetzt im vertrauten Alltag auf die Zuschauer. Anders als im Kino befanden sich diese nicht mehr eingekeilt zwischen anderen, sondern konnten sich frei im Raum bewegen oder den Apparat ausschalten, was gänzlich andere Formen der Mobilisierung von Aufmerksamkeit erforderlich machte als noch beim Kinofilm. Mit dem Fernsehen wurden daher neue Formen der Ansprache der Betrachter notwendig. Durch emotionalisierende und spektakuläre Bilder mit hohem Aufmerksamkeitswert versuchte das neue Medium, den mobilen Zuschauer im Raum und damit am Bildschirm zu halten. Wie einst dem Film ging es auch dem Fernsehen um die Suggestion von Teilhabe. In der aktuellen Berichterstattung wie in der Sportberichterstattung war es ausdrückliches Ziel der Fernsehverantwortlichen, „den Zuschauer in das Geschehen der Zeit hineinzustellen und ihm das Gefühl zu geben, dabei sein zu können, wenn sich besondere Ereignisse abspielen“.61 Ziel des neuen Mediums sei es, so der NWDR-Intendant anlässlich des Startschusses des deutschen Fernsehens, „dabei zu sein mit Auge und Ohr, wenn wir Ihnen das große Geschehen der Welt, die kleinen Dinge des Alltags, die Feste der Kunst und das heitere Lächeln der guten Laune in Ihre Wohnungen bringen“.62

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Das Fernsehauge [I/114] Plakat zur Sonderausstellung Fernsehen des Deutschen Museums München, Entwurf Eugen M. Cordier (1937); [I/115] Logo des Deutschen Fernsehens (1955); [I/116] Logo der Tagesschau aus den 1960er Jahren

Das Gefühl, einem Ereignis möglichst zeitnah beizuwohnen, wurde mit der Zeit wichtiger als der Inhalt des Gezeigten. Die geringe Bildgröße tat dem Realitätseffekt keinen Abbruch. Vielmehr wurde dieser durch den Live-Charakter des neuen Mediums noch gesteigert, zumal dieses den Eindruck erweckte, keine Manipulationen des Gezeigten mehr zu ermöglichen. Zum Dispositiv Fernsehen gehörte es außerdem, dass das neue Medium einen Polstereffekt besaß, indem es etwa den Schrecken von Katastrophen und Kriegen ins Symbolische transformierte und damit abschwächte. Die neue Fernsehtechnik beschleunigte und entmaterialisierte die Bildkommunikation. Physikalisch abgespeicherte Daten wurden fortan elektronisch beschleunigt auf die Reise geschickt. Dabei lösten sie sich zwangsläufig von ihren materiellen Trägern. Die an Materialität gebundene Erscheinung des Bildes ging in eine virtuelle Realität über. Anders als fotografische und filmische Aufnahmen waren ausgestrahlte Bilder nicht mehr fixierbar. Feste Bildstrukturen wurden vielmehr in elektronische Bildpunkte zerlegt, wodurch eine neue Bildstruktur entstand. Was als Fernsehbild wahrgenommen wurde, war eine unüberschaubare Menge von Einzelinformationen, die mit Lichtgeschwindigkeit Punkt für Punkt direkt durch das menschliche Auge in das Gehirn geschossen wurden, das die einzelnen Informationen speicherte und in bildhafte Vorstellungen übersetzte. Die Folge: Die

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materielle Realität wurde durch völlig neuartige Realitäten der elektronischen Medien ergänzt und überlagert. Sie hörte auf, ein fester Bezugspunkt für Sehen, Wahrnehmen und Erleben zu sein. Insgesamt generierte das Fernsehen eine eigenständige televisuelle Realität, und dies sowohl in seinen Unterhaltungs- als auch in seinen Nachrichten- und Sportformaten. Mit seinen Sichtbarkeitszwängen veränderte es zudem das bisherige Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Öffentliches drang zunehmend in den Privatbereich hinein ein; Privates wurde tendenziell öffentlich. Das Fernsehen trat indes nicht nur, wie häufig beklagt wurde, als neuer Konkurrent von Fotografie und Film auf den Bildermärkten in Erscheinung. Es fungierte auch als deren Popularisierungs- und Verstärkungsmedium, und es gab den ‚alten‘ Bildmedien neue Impulse, die sich entweder auf ihre spezifischen Möglichkeiten zurückbesannen oder die neuen televisuellen Bilderwelten mit den Mitteln der Kunst befragten und verarbeiteten.

„Fenster zur Welt“ Vom Bildungsfernsehen zum Entertainment Für die Geschichte der ‚alten‘ Bundesrepublik lassen sich fünf Phasen in der Entwicklung des Fernsehens unterscheiden: die Anfänge bis zum Beginn der Ausstrahlung eines regelmäßigen Fernsehprogramms und der ersten großen Fernsehereignisse 1953/54, die Industrialisierung der Fernsehproduktion und die Etablierung des Fernsehens als Massenmedium zwischen 1954 und 1962, die Verankerung des Fernsehens in den Lebensgewohnheiten seiner Zuschauer zwischen 1963 und 1973, die zunehmende Unterhaltungsorientierung und der Ausbau fiktionaler Formate zwischen 1973 und 1983 mit der Entstehung neuer privater Anbieter sowie der Übergang vom Beginn des kommerziellen Fernsehens 1983/84 hin zur Digitalisierung der Übertragungs- und Produktionstechnik zu Beginn der 1990er Jahre. Das Fernsehen in Deutschland war ein Produkt der NS-Zeit und des vergangenen Krieges, und dies in mehrfacher Hinsicht. Der Neuaufbau des öffentlichen Fernsehens nach 1948 basierte nämlich sowohl auf den Erfahrungen mit der Fernsehtechnik der Gleitbomben als auch auf dem Fernsehpersonal, das den Krieg überlebt hatte. Wie sehr es an den Erfahrungen des ‚Dritten Reiches‘ anknüpfte, machte sein (I/115) zum Logo stilisiertes Fernsehauge deutlich, (I/114) wie es ähnlich bereits 1937 Eugen M. Cordier für eine Fernsehausstellung im Deutschen Museum in München entworfen hatte, ( I/80) nur dass es nun in der zeitgemäßen Variante der ‚subjektiven fotografie‘ daherkam. Programmpolitisch indes standen volkspädagogische Erwägungen und damit implizit die vergangenen Jahre von Diktatur und Krieg 1952 bei der Gründung Pate. Am Neujahrstag 1953 hatte der Bundespostminister seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, das neue Medium möge „zur Gesundung der deutschen Seele beitragen“. Geplant war ein Programm, das Hoffnung machen, Freude bereiten und dem Leben wieder Tiefe geben sollte. „Neue Quellen der Freude werden sich uns im Anblick von Spiel und Tanz erschließen“, so NWDR-Generaldirektor Adolf Grimme hoff-

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nungsfroh, „verschlossene Tore zum Reich des Geistes werden aufgestoßen, und unser Leben kann dadurch nicht nur reicher, es kann dadurch auch tiefer werden“.63 Das offizielle Fernsehprogramm begann zu Weihnachten 1952. Bereits damals bildeten sich jene Programmsparten heraus, die sich in der Folge immer weiter ausdifferenzierten, z. T. aber auch überlagerten: Studiosendungen, die die Welt ins Fernsehstudio holten und von dort aus den Zuschauern vermittelten; Berichte vor Ort, die die Welt ‚draußen‘ in die Wohnzimmer übertrugen, sowie fiktionale Formate, die den Zuschauern eine ausgedachte Welt vorgaukelten. Wie sehr die neuen televisuellen Bilder faszinierten, zeigte sich daran, dass in etlichen frühen Kommentaren die ‚Fernsehwirklichkeit‘ dem originären Erlebnis vorgezogen wurde, da sie vermeintlich komplexer und übersichtlicher schien. Der Stolz des neuen Mediums waren – ähnlich wie vor 1945 – Direktübertragungen. Sie ließen, so der SPIEGEL, „den Zuschauer ein Ereignis miterleben und nicht – wie im Film – nacherleben“.64 Erstmals nahm das Fernsehpublikum am 2. Juni 1953 anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten in London zeitgleich an einem weltweit Aufmerksamkeit erregenden Ereignis teil. Die Faszination darüber kleidete der SPIEGEL in die Sätze: „Die Sendung war ein Hohn auf alle, die nach überholten Begriffen dabei sein wollten, sich am Dienstag vergangener Woche vor der Westminster-Abtei und in den Straßen von London drängten, knufften und stießen, um einen Schimmer vom Glanz der Krönung zu sehen. Während sich die übernächtigten Massen unter klatschenden Regenböen duckten, rekelten sich in bequemen Stühlen vor ihren Empfangsgeräten rund 20 Millionen Fernseher in England, Holland, Belgien, Frankreich und Deutschland. Von 10.30 Uhr bis 17 Uhr flimmerten die Ereignisse der englischen Krönung milchig über die Bildschirme ihrer Heimempfänger. Zum ersten Mal in der Geschichte sahen Millionen Menschen in ihrer guten Stube den mittelalterlichen Pomp und Prunk einer Krönung.“65 Und auf noch einen Vorteil machte der SPIEGEL aufmerksam: auf die schnellere und bequemere Berichterstattung für die Vertreter von Presse und Rundfunk mit weitreichenden Folgen. „In der Zentrale der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg verfolgten die Nachrichten-Redakteure vor dem Bildschirm jede Phase der stundenlangen Zeremonie. Sie konnten den pünktlichen Beginn und vorgeschriebenen Ablauf der Krönung schneller an die deutschen Rundfunkstationen und Zeitungsredaktionen melden als deren Londoner Korrespondenten, die weit hinten in der Westminster-Abtei saßen oder durchnäßt in den Zuschauermassen auf den Straßen eingekeilt waren.“ Einen Vorgeschmack darauf, was das neue Medium leisten konnte, nämlich Menschen an den Brennpunkten des Weltgeschehens per Augenschein teilhaben zu lassen, demonstrierten bereits 14 Tage später die Filmberichte von den Ereignissen am 17. Juni 1953 in Berlin durch einen Filmtrupp des NWDR. Das neue Bildmedium besaß eine gemeinschaftsstiftende, integrative Funktion, indem es heterogene Gesellschaften und unterschiedliche Nationen zumindest zeitweise vor dem Bildschirm zu virtuellen Gemeinschaften zusammenschloss, so etwa 1954 im Angesicht der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz. Erstmals nach dem Krieg versammelten sich die Deutschen-West vor den noch wenigen Übertragungs-

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apparaten zu einer neuen Gemeinschaft und jubelten den später als ‚Helden von Bern‘ bezeichneten Akteuren zu. Fernsehen war indes nicht nur ein nationales Ereignis, es begründete auch neue über-nationale Gemeinsamkeiten. Bereits 1953 hatte die FAZ angesichts der Übertragung der Krönungsfeierlichkeiten notiert: „Ein wesentlicher Teil der Welt war am 2. Juni zu einem Gesamterleben vereint.“66 ( I/122) Spätere Fernsehshows wie Einer wird gewinnen mit Kandidaten aus acht verschiedenen europäischen Ländern trugen zur Bildung eines europäischen Gemeinsamkeitsgefühls bei. ( I/131–134) Die Satellitenübertragung vom Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy 1963 in Deutschland stiftete transatlantische Gemeinsamkeiten. Und schließlich offerierte das Fernsehen den Bundesbürgern zunehmend gemeinsame Themen und emotionale Erlebnisse, über die am kommenden Tag bei der Arbeit gesprochen wurde. (I/117) Beworben wurde das neue Medium als „Fenster zur Welt“, wie es in einem Werbeslogan von Telefunken 1955 hieß, als „Die Welt in Deinem Heim“ oder als „Wunder der Wirklichkeit“ wie auf der Funkausstellung 1953. Man feierte das Fernsehen als die „politische Weltmacht der Zukunft“.67 Im Unterschied zum Kino zeige es unverfälschtes, „echtes Leben“. Und ähnlich wie in den Kindertagen der Fotografie hieß es nun, Fernsehen sei keine Traumfabrik wie der Film, sondern ein „Spiegel der Wirklichkeit“. Die Suggestion des Authentischen und Objektiven der Fotografie übertrug sich unvermindert auf das Fernsehen. „Die Metaphern und Vergleiche der fünfziger Jahre unterstellen allesamt eine Nähe der technisierten, medial vermittelten zur ‚natürlichen‘, alltagsweltlichen Realitätswahrnehmung und -konstitution; sie gehen so weit, ‚fernsehen‘ suggestiv gleichzusetzen mit aktiver Sehleistung bei eigener Selektion (Augen- und Fenstermetaphern).“68

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[I/117] Zeitschriftenanzeige 1955; [I/118] Fernsehprospekt 1955

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Fernsehen galt als etwas Außergewöhnliches, geradezu Feierliches, das zelebriert wurde. Auf frühen Werbeanzeigen versammelte sich die Fernsehgemeinde noch in Abendgarderobe vor dem Apparat oder platzierte sich ähnlich wie im Kino vor dem Bildschirm. Wo 100 Jahre zuvor in vielen Wohnstuben noch der Hausaltar seinen Platz hatte, stand nun das neue Fernsehmöbel, das bewundert, sogar fotografiert wurde. Es war vor allem die Suggestion, die Ereignisse in der Welt zeitnah am Bildschirm in den eigenen vier Wänden verfolgen oder gar live miterleben zu können, die die Menschen faszinierte. (I/118) „Fernsehen heißt miterleben!“ – etwa von Sportereignissen –, verkündeten Anzeigen. „Der erste Eindruck ist verblüffend genug. Man ist dabei. Da gibt es gar keinen Zweifel. Das Spiel beginnt. Man verfolgt es so, als ob man selber auf irgendeinem der Ränge sitzt“, notierte die Frankfurter Neue Presse 1953. Fernsehzuschauer empfanden sich als Augenzeugen des Weltgeschehens. Zum frühen Fernsehen gehörte es auch, die Zuschauer auf die neue Form des Sehens vorzubereiten. Showserien wie Ich seh etwas, was du nicht siehst (1953) dienten als ‚Sehschule‘ für die Nutzer des neuen Mediums. In der Sendung galt es, „optische Rätsel“ zu lösen, die sich in Bildern und Filmen verbargen. Die NWDR-Hauspostille Die Ansage kündigte an, die Sendung verlange vom Zuschauer hohe Aufmerksamkeit. Man müsse auf „kleinste Kleinigkeiten“ achten, um mitspielen zu können.69 Die Zuschauer lernten auf diese Weise „unterschiedliche und wechselnde Anforderungen an die Wahrnehmung kennen. Zum Beispiel war gleichzeitig auf den Tagesschau-Sprecher und daneben auf Standbilder zu achten, danach kam ein Wechsel zu einem Filmbericht, dessen laufenden Bildern man folgen können musste. Sprach ein Reporter direkt in die Kamera, konnten sich die Zuschauer auch direkt angesprochen fühlen.“ 70 Zu Beginn des offiziellen Fernsehprogramms am 1. November 1954 verfügten die Bundesbürger gerade einmal über 11.700 Empfangsgeräte. Bereits vier Jahre später war deren Zahl auf 1,2 und 1963 gar auf 7,2 Millionen Apparate angestiegen. Damit besaßen 35 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte ein Fernsehgerät. Während US-Amerikaner 1957 bereits vier bis fünf Stunden täglich vor dem Bildschirm verbrachten, waren es in Deutschland-West 1964 mit 118 Minuten nicht einmal zwei Stunden. Begleitet wurde die Zunahme der Fernsehdichte von einem Ausbau neuer Formate. Dazu gehörten mehrteilige Fernsehspielproduktionen wie der WDR-Sechsteiler 1959 Soweit die Füße tragen, ein Film über die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus russischer Gefangenschaft, 1960 der Zweiteiler Am grünen Strand der Spree, in dem erstmals der Holocaust im Bild thematisiert wurde, sowie 1962 die Verfilmung des autobiografischen Bestsellers von Wolfgang Leonhard Die Revolution entläßt ihre Kinder über die Geschichte der Kommunisten in der sowjetischen Besatzungszone. Zu regelrechten ‚Straßenfegern‘ gerieten mehrteilige Kriminalfilme wie 1962 das Halstuch oder (I/119) Krimireihen wie Stahlnetz. Mit politischen Magazinsendungen wie Panorama und Monitor setzte sich ab 1961 bzw. 1964 ein neuer Realismus in den televisuellen Darstellungen von Welt durch. Das medienpolitisch bedeutsamste Ereignis dieser Phase war die Etablierung (I/120) der Tagesschau als regelmäßiger Nachrichtensendung. Von Beginn an trat die

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neue Sendung mit dem Anspruch auf, „‚Wirklichkeit‘ in einer exakten elektronischen Abtastung erfassen und Punkt für Punkt auf einem Schirm wieder abbilden zu können.“ 71 Als die Tagesschau am 25./26. Dezember 1952 erstmals in Hamburg auf Sendung ging, bestand sie noch aus einer Montage von Resten der ebenfalls in Hamburg produzierten Neuen Deutschen Wochenschau. Die Filmkamera auf dem ersten Logo der Tagesschau verwies noch auf den Zusammenhang mit der filmischen Wochenschau; erst 1956 wurde sie durch ( I/116) den Antennenwald abgelöst. Entscheidend für die Entstehung der neuen Nachrichtensendung war die Entwicklung des Pilottonverfahrens, durch das die Tonspur der Magnettonbänder direkt mit den Bildaufnahmen verkoppelt werden konnte, so dass die Abgebildeten lippensynchron zu sehen und zu hören waren. Diese scheinbare Direktheit des dokumentarischen Fernsehbildes setzte sich deutlich von den bisherigen Wochenschau-Bildern ab. Das Fernsehbild erzeugte „den Schein von Unmittelbarkeit, der den filmischen Charakter der Bilder vergessen ließ“, befand der Medienhistoriker Knut Hickethier.72 Das pilottongestützte Fernsehbild ähnelte bereits dem elektronisch hergestellten Fernsehbild, das von einer elektronischen Kamera aufgenommen die Bilder sofort in elektrische Impulse umsetzte und sendete. Mithilfe der Magnetaufzeichnung konnten Bilder ab Ende der 1950er Jahre elektronisch gespeichert und immer wieder neu abgerufen werden. Die Tatsache, dass die im Bewegtbild gezeigten Ereignisse nicht wie die der Wochenschau etwa eine Woche alt waren, sondern oft sogar aus der gleichen Stunde stammten, führte zu einem neuen Typus des Bewegtbildes. Zwar sahen die Bilder von der Live-Übertragung von Ereignissen genauso aus wie die Wochenschaubilder, nur kamen sie eben fast gleichzeitig zum Geschehen, das sie zeigten, zu den Zuschauern. Durch die Beschleunigung der Bildkommunikation rückte die Welt in ihrer medialen Repräsentation enger zusammen. Zeiten und Distanzen schienen nicht mehr zu existieren. Zugleich traten die Bilder der Nachrichtensendungen mit dem Gestus auf, „in ihrem Kern authentisch und so weit es überhaupt möglich ist, neutral und unparteiisch zu sein und damit die Basisinformationen zum Leben in der Demokratie zu liefern“.73 (I/120) In den Anfängen des Fernsehens besaßen die auf dem Bildschirm erscheinenden, durchweg männlichen Nachrichtensprecher und Korrespondenten eine wichtige Beglaubigungsfunktion. Die Sprecher bürgten mit ihrer Erscheinung für die Seriosität der gesendeten Meldungen. Zum Teil hatten sie wie der langjährige Tagesschau-Sprecher Karl-Heinz Köpcke einen höheren Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung als der Bundeskanzler. Frauen wie Irene Koss – die erste Fernsehansagerin des Deutschen Fernsehen – galten als nicht seriös genug, um Nachrichten und damit gegebenenfalls auch Schreckensmeldungen zu verlesen. Sie fungierten allenfalls als Ansagerinnen für das Programm oder als Lottofeen, die die Lottozahlen verkünden durften. Es dauerte bis 1971, bis mit Wibke Bruhns erstmals eine Frau als Nachrichtensprecherin auf dem Bildschirm zu sehen war. Mit der Zeit verliehen die ausgestrahlten Bilder selbst den Nachrichten Authentizität. Sie schienen die Realität ungefiltert widerzuspiegeln und keiner Beglaubigungsinstanz mehr zu bedürfen. Die Kamera, die den Eindruck erzeugte, sich selbst

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Kulenkampff & Co. – das männliche Gesicht des Fernsehens [I/119] Stahlnetz, Intro (nach 1958) (NDR); [I/120] Nachrichtensprecher Karl-Heinz Köpcke beim Verlesen der Tagesschau (1959) (NDR); [I/121] Standbild Der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer (Bildmitte) (um 1960) (WDR); [I/122] Hans-­ Joachim Kulenkampff in Einer wird gewinnen (Oktober 1979) (HR)

vor Ort umschauen zu können, begründete die hohe Glaubwürdigkeit des Fernsehens im Vergleich zu anderen Medien. Obwohl das televisuelle Nachrichtenbild die Suggestion hochgradiger Realitätshaltigkeit vermittelte und den Zuschauern glauben machte, direkt und unmittelbar an einem Ereignis teilzuhaben, handelte es sich bei den gesendeten Bildern häufig um Aufnahmen von inszenierten Anlässen. Mit den neuen Fernsehnachrichten ging schrittweise die Vorherrschaft der Sprache und des Wortes bei der Nachrichtenübermittlung zurück. Brachte in den ersten Jahrzehnten noch überwiegend der Sprecher im Studio das Archaische und Erschreckende der Bilder in eine Fassung, so wurde der Großteil der Meldungen in der Folge immer häufiger durch Filmberichte präsentiert. Visuelle Hintergrundelemente

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wie Fotos, Landkarten, Grafiken, Logos reicherten die Wortmeldungen an. All dies begünstigte eine fortschreitende Ikonisierung der Anschauung von Welt. (I/121) Das frühe Fernsehen der Bundesrepublik hatte ein männliches Gesicht. Das zeigte etwa Werner Höfers zwischen 1953 und 1987 jeweils sonntags ausgestrahlte Talkrunde Der internationale Frühschoppen, bei der internationale Journalisten aus jeweils verschiedenen Ländern aktuelle Themen der Politik und des Weltgeschehens diskutierten, Weißwein tranken und unbekümmert rauchten.  Mit durchweg hohen Einschaltquoten war der Frühschoppen eine der erfolgreichsten Sendungen des frühen bundesdeutschen Fernsehens. Journalistinnen blieben unter Höfers Gästen die Ausnahme. Ihr Anteil lag noch 1969 bei knapp unter fünf Prozent der geladenen Gäste. Ähnlich sah dies bei den beliebten Quizsendungen und Spieleshows aus wie (I/122) Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Vergißmeinnicht mit Peter Frankenfeld, Der goldene Schuß mit Lou van Burg oder Am laufenden Band mit Rudi Carrell, die durchweg von Männern moderiert wurden, denen hübsche Assistentinnen zur Seite standen. Bei Wünsch Dir was durfte die Sängerin Vivi Bach erstmals 1969 an der Seite ihres Ehemannes Dietmar Schönherr mit moderieren. Zwischen 1963 und 1973 verdreifachte sich die Zahl der Empfangsgeräte auf 18 Millionen. Ende der 1960er war damit die Fernsehdichte auf 84 Prozent angestiegen. Mit 125 Minuten lag die Nutzungsdauer des Fernsehens pro Tag 1974 bereits deutlich über der des Radios, das zudem nur noch etwa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichte. Es wäre indes verkürzt, den parallelen Niedergang des Kinos einseitig dem Fernsehen anzulasten. Dieser hatte auch hausgemachte Gründe. Im Gegenteil nämlich förderte das Fernsehen eher das Kino, indem es zunehmend Filme in sein Programm aufnahm und damit für das Kino warb. Im Jahr 1972 strahlten ARD und ZDF beispielsweise 341 Kinofilme aus. Wichtigste fernsehtechnische Innovation der Zeit war die Einführung des Farbfernsehens, zu dem Vizekanzler Willy Brandt 1967 per Knopfdruck den Startschuss gab. In seiner Rede hatte Brandt in geradezu naiver Bildgläubigkeit seinem Wunsch Ausdruck gegeben, dass das Fernsehen nun endlich die Welt erscheinen lasse, „wie sie ist“. Die 1960er Jahre waren auch im Fernsehen die Hochzeit des kritischen politischen Journalismus. Passend zum nüchternen, neu-sachlichen Selbstverständnis der ‚Bonner Republik‘ strahlte das ZDF seit 1963 die Interviewsendung Zur Person mit Günter Gaus aus, die später in anderen Sendern der ARD unter dem Titel Zu Protokoll weitergeführt wurde. Dazu interviewte Gaus Prominente wie Hannah Arendt und Wolf Biermann, insbesondere aber Politiker wie Konrad Adenauer und Henry Kissinger. Legendär wurde 1967 sein Gespräch mit dem Studentenführer Rudi Dutschke. Gaus, der selbst im Bild nicht zu sehen war, konzentrierte sich 45 Minuten lang auf einen einzigen Gast. „Unabhängig davon, wie ‚kritisch‘ dieser Journalismus im Einzelnen war“, so der Historiker Jörg Requate, „zielte sein Selbstverständnis in einem umfassenderen Sinne darauf ab, politische Hintergründe offenzulegen sowie die handelnden Personen und ihre Motivationen stärker erkennbar werden zu lassen. In diesen Kontext gehört auch Gaus’ Interviewreihe, die in der Betonung von Distanz und Nüchternheit durchaus zeittypische Züge trug.“ 74

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Zugleich machten sich unverkennbar auch andere Tendenzen bemerkbar. Vom ehedem volkspädagogischen Ansatz weg entwickelten sich die Programme ab Mitte der 1960er Jahre immer stärker hin zu unterhaltungsorientierten Formaten. Zu ihnen zählten Familienserien wie Familie Schölermann (NWDR 1954–1960), die erste Familienserie überhaupt im deutschen Fernsehen, Die Familie Hesselbach (HR 1960–1967) und (I/123) Ein Herz und eine Seele (WDR 1973–1976), ab 1985 dann (I/125) die Lindenstraße (WDR 1985–2020) – allesamt Serien mit hohen Einschaltquoten. Während die beiden ersten Serien die großen und kleinen Sorgen einer deutschen Durchschnittsfamilie im eher kleinbürgerlichen Milieu der Wirtschaftswunderzeit thematisierten, deren Welt in Bildern einzufangen versuchten und deren patriarchalische Rollenmuster reproduzierten, ging es in Ein Herz und eine Seele neben den üblichen Alltagsthemen um das Aufeinanderprallen der kleinbürgerlich-konservativen Einstellung der Elterngeneration mit den idealistischen Ansätzen der 68er-Bewegung sowie um die Infragestellung von konventionellen Geschlechtervorstellungen. Die Zeit bis 1973 war eine Ära der großen Fernseh-Ereignisse. Zu ihnen gehörten seit 1965 der Vietnamkrieg, internationale Großsportveranstaltungen wie der Boxkampf von Cassius Clay gegen Sonny Liston, ( I/139) die Beerdigung Konrad Adenauers 1967, ( I/140–142) die Mondlandung 1969 sowie ( I/143–146) die Olympischen Sommerspiele in München 1972. Der Krieg in Vietnam wurde zur ersten militärischen Auseinandersetzung, die die Zuschauer am Bildschirm verfolgen konnten: der erste „Living-room War“ (Michael J. Arlen) der Geschichte. Der Krieg mit seinem ganzen Schrecken war in den Wohnzimmern angekommen. Jeder Fernsehzuschauer, der regelmäßig die Fernsehberichte aus Vietnam sah, glaubte, „that he saw scenes of real-life violence, death, and horror on his screen [that] would have been unthinkable before Vietnam“.75 Für die Wahrnehmung des Krieges hatte dies insofern Bedeutung, als dieser nun zum Bestandteil des Alltags und in vertraute Rezeptionsmuster eingefügt wurde. Die Distanz zum Ereignis Krieg hatte sich auf wenige Meter reduziert. Die Unmittelbarkeit der nun plötzlich im Wohnzimmer stattfindenden Kriege begann tendenziell den Gegensatz von nah und fern, von privat und öffentlich, von Realität und Bildereignis aufzulösen und die Zuschauer an den Bildschirmen in einer bis dato nicht gekannten Weise zu Kombattanten im Fernsehsessel zu machen. Wenn auch die Bilder aus den Krisenregionen der Welt oftmals noch in konventionelle politische Kommentare eingebunden blieben, waren es doch vor allem die Bilder, die politische Botschaften transportierten. Sie wirkten noch nach, als die Kommentare längst verhallt waren; zudem ließen sie immer auch andere als die offiziellen Interpretationen zu. Zwar greift es zu kurz, den Fernsehbildern des Vietnamkrieges eine Initialfunktion für den weltweiten Protest gegen den Krieg zuzuschreiben, gleichwohl lieferten sie den Akteuren stets neues Anschauungsmaterial. „Die mediale Bilderwelt entwickelte damit eine eigene Dynamik, eine eigene Sprengkraft, die sich in ihren Wirkungen nicht mehr in jedem Fall durch vorgefaßte Absichten und kommentierende Rahmen bändigen ließ.“ 76 Zu Neuerungen kam es Ende der 1960er Jahre auch bei der Präsentation und Vermittlung von Politik. Das Fernsehen avancierte nun auch zum wichtigsten

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Frech, farbig, unterhaltsam, sexy – das neue Fernsehen [I/123] Ein Herz und eine Seele (1973) (WDR); [I/124] Talkshow Je später der Abend mit Ex-Kanzler Willy Brandt als Gast, 12.2.1975 (WDR); [I/125] Die Lindenstraße (o. D.) (WDR); [I/126] Stripshow Tutti Frutti mit Hugo Egon Balder (o. D.) (RTL)

­ edium der Politikvermittlung und der Mobilisierung bei Wahlkämpfen. ZuM nächst hatte sich das neue Medium bei der politischen Wahlwerbung zurückgehalten, da die Politik nach den Erfahrungen der NS-Zeit bewegten Bildern eine hohe Manipulationskraft zuschrieb. Außerdem war der Glaube verbreitet, dass Fernsehen politische Beteiligung behindere und Wähler verdumme. Wahlspots waren daher primär um sachpolitische Erörterung bemüht. Im Vordergrund standen Argument und Belehrung. Erst in den 1960er Jahren rückten ähnlich wie auf den Plakaten die Bürger und deren Lebenswelt stärker in den Fokus. Wahlspots begannen Plakate als wichtigstes Wahlkampfmedium abzulösen. Wie auf den Anschlagflächen näherten sich die televisuellen Bildersprachen der Parteien an. Die Bundestagswahl 1969 wurde zur ersten Wahl, bei der das Fernsehen pünktlich mit der Schließung der Wahllokale um 18.00 Uhr seine Sondersendung begann, diese durch Hochrechnungen dramatisierte und die Wahlergebnisse in der Art von Sportereignissen verkündete.

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Eine weitere Neuerung im deutschen Fernsehen waren seit den 1970er Jahren sogenannte Talkshows. Die erste Talkshow nach heutigem Verständnis startete am 18. März 1973 im  Dritten Programm  des WDR mit  Dietmar Schönherr  unter dem Titel Je später der Abend. Sie wurde ab Jahresende 1973 bis Juli 1978 vom Ersten Programm ausgestrahlt und avancierte damit zum Prototyp der Talkshow. Die Sendereihe sorgte immer wieder für Aufsehen. In den Feuilletons wurde sie als „Seelenstriptease“ verspottet. Tatsächlich aber brachte sie Spontaneität ins ansonsten straff durchgeplante Fernsehen. Populär wurden die Auftritte von  Inge Meysel,  Romy Schneider und Klaus Kinski. Andere prominente Gäste der Sendung waren u. a. Valeska Gert, ‚Bubi‘ Scholz, Nina Hagen, Manfred Krug und Leni Riefenstahl. (I/124) Eine kleine Sensation gelang Moderator Rosenbauer am 12. Februar 1975, als er ExBundeskanzler Willy Brandt in die Sendung holte. Eine zunehmende Unterhaltungsorientierung und der Ausbau fiktionaler Formate waren charakteristisch für die Phase bis 1983. Motor dieser Entwicklung war das ZDF, das sich als erster Sender vom volkspädagogischen Verständnis des Fernsehens der Anfangsjahre verabschiedete und aus dem bisherigen „VolkshochschulGefängnis“ (Ulrich Clauß) ausbrach. Unterhaltsamkeit, Verständlichkeit und Zuschauerorientierung wurden zentrale Begriffe, an denen sich die Programmmacher fortan orientierten. Durch den Ausbau fiktionaler Formate glaubten die Programmmacher die mutmaßlichen Wünsche der Zuschauer nach Entspannung und Regeneration zu bedienen. Mit der amerikanischen Erfolgsserie Dallas über das fiktive Leben der Ölmilliardärsfamilie Ewing auf der Southfork Ranch ab 1978 und dem bundesdeutschen Dauerbrenner (I/125) Lindenstraße um Mutter Beimer ab 1985, deren Intros zu I­ konen des televisuellen Zeitalters wurden, bauten ZDF und ARD die seriellen Formate aus. Die Ausstrahlung von Kinofilmen durch die beiden öffentlichen Fernsehprogramme am späten Abend erhöhte sich von 341 im Jahr 1973 auf 561 zehn Jahre später. Zunehmend produzierten einzelne Fernsehanstalten in Kooperation mit nationalen und internationalen Filmgesellschaften nun zudem eigene Spielfilme, die sowohl im Fernsehen als auch im Kino zu sehen waren und wie ( I/106) Volker Schlöndorffs Verfilmung von Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum von 1975 zu Filmklassikern wurden. Auch schwierige historische Themen wie der Mord an den Juden Europas wurden dem Fernsehpublikum nun in unterhaltsamen fiktionalen Mehrteilern zugemutet. Der in den USA produzierte Mehrteiler Holocaust avancierte zum Modellfall, wie das Fernsehen der kommenden Dekade aussehen würde: „emotional, mit den klassischen Dramaturgien arbeitend, personalisierend, vereinfachend, zugleich mit großen Themen und im großen Format“.77 Mit Filmen wie Holocaust gerierte sich das Speichermedium Fernsehen selbst als zeithistorische Quelle. Im Gefolge von Holocaust begann der unaufhaltsame Aufstieg des Guido Knopp, der wie kein anderer Fernsehmacher die Entertainisierung von Geschichte und das ‚Dokutainment‘ zum Programm und zum Verkaufsschlager machte. 1980 übernahm er die wöchentliche Sendereihe Fragen zur Zeit; ab 1984 leitete er die ZDF-Redaktion

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‚Zeitgeschichte‘. Knopps zeithistorische Produktionen traten mit dem Gestus auf, auch in ihren Bildern Geschichte so zu zeigen, ‚wie sie war‘. Dabei setzte sich Knopp immer wieder selbst in der Attitüde des Oberlehrers der Nation ins Bild, der die von ihm produzierten, oftmals schlecht recherchierten Geschichten beglaubigte. Kein anderer prägte in den kommenden 30 Jahren mit seinen Produktionen das kollektive Bildgedächtnis der Bundesbürger so sehr wie der ZDF-Mann; zugleich verhalf er etlichen Einzelbildern und Bildsequenzen durch Wiederholungen und von ihm herausgegebene Bücher zu ikonischem Status. Der allgemeine Trend zur Entertainisierung des Fernsehens machte vor den Informations- und Nachrichtensendungen nicht halt. Mit der verstärkten Verwendung von grafischen Symbolen, Piktogrammen, Diagrammen usf. nahm die Visualisierung von Nachrichten neue Formen an. Eine Schattenseite der stärkeren Nutzung des Fernsehens als Unterhaltungsmedium war, dass fernsehkritische Sendungen eingestellt wurden. Kritische Rezipienten waren nicht mehr gefragt. Zu den technischen Innovationen der Zeit zählte der Einsatz neuer elektronischer Kameras bei der Herstellung von Fernsehfilmen und -reportagen. Dadurch entfielen zeitaufwendige Entwicklungs-, Kopier- und Bearbeitungszeiten und die Produktionszeiten ließen sich weiter verkürzen. Hierzu gehörte auch die Verbreitung des Videorecorders, der den Zuschauern nun erstmals die Möglichkeit bot, sich vom Programm- und Zeitdiktat des Fernsehens unabhängig zu machen und eigene Filme herzustellen. 1983 besaß fast jeder bundesdeutsche Haushalt mindestens ein Fernsehgerät. Hatte der durchschnittliche Fernsehkonsum pro Tag 1980 noch 125 Minuten betragen, so lag er zehn Jahre später bereits bei 147 Minuten. Im Zeitraum zwischen 1964 und 1990 hatte damit die Dauer des Fernsehkonsums um 25 Prozent zugenommen. Der weitere Anstieg der Sehdauer war aufseiten des Mediums doppelt begründet. Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens mussten sich Angebote am (Werbe-) Markt durchsetzen, die deshalb noch stärker auf die Bedürfnisse der Zuschauer zugeschnitten wurden. Zudem waren in den Haushalten jetzt deutlich mehr Fernsehprogramme verfügbar als noch in den 1960er Jahren. Fernsehen erreichte nun immer häufiger auch per Kabel und Satellit die Wohnzimmer. Bei der Produktions- und Übertragungstechnik kamen vermehrt digitale Technologien zum Einsatz. Die Vergrößerung des Bildschirms und der Flachbildschirm machten eine ‚kinoähnliche‘ Wiedergabe von Filmen möglich. Die Nutzung des Computers als Spielmaschine begann dem Fernsehen Konkurrenz zu machen. Vor allem aber bedeutete der Beginn des kommerziellen Fernsehens in Deutschland zum Jahreswechsel 1983/84 eine tiefgreifende Zäsur für das Medium. Die Programme vermehrten sich. 1986 wurde erstmals ein Programm rund um die Uhr gesendet. Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens wandelte sich zugleich das Grundverständnis des Mediums, das sich bislang weitgehend auf einen Kulturauftrag berufen hatte, zu einem Medium, das nun „als Marktgeschehen verstanden wurde, in dem verschiedene Anbieter um Marktpositionen kämpfen. Die Orientierung an den Einschaltquoten setzte sich als neues (und oft einziges) Bewertungskriterium

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durch. ‚Marktdurchdringung‘ und ‚Marktanteil‘ wurden zu neuen Kategorien im Fernsehen.“ 78 Die televisuellen Bilder waren nun mehr als je zuvor den Gesetzen des Marktes unterworfen. In der Folge entstanden neue Programmformate wie erotische Spielshows und Reality-Sendungen, die zunehmend bisher gültige Zeigbarkeitsregeln übertraten. (I/126) Mit Tutti Frutti – der deutschen Version der italienischen Erotikshow Colpo Grosso, die zwischen 1990 und 1993 durch RTL plus zur Ausstrahlung kam – hatte der Privatsender die erste erotische Fernsehshow im deutschen Fernsehen platziert. Anders als noch 40 Jahre zuvor im Film führte der Umgang mit nackten Tatsachen indes zu keinem Sittenskandal mehr. Er vollzog auf dem Bildschirm nur nach, was die bundesdeutsche Boulevardpresse seit Langem praktizierte: den Einsatz weiblicher Nacktheit als wirksames Werbemittel. Während in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in den 1980er Jahren große, zum Teil mehrteilige Geschichtsfilme wie ( I/148–150) Heimat (1984) von Edgar Reitz, Das Boot (1985) von Wolfgang Petersen, Die Bertinis (1988) von Egon Monk und Die Staatskanzlei (1989) über die Affäre Barschel von Heinrich Breloer den Anspruch des Qualitätsfernsehens aufrechterhielten, setzten die Privaten zunehmend auf Reality-Formate, in denen vorgeblich oder tatsächlich versucht wurde, Wirklichkeit abzubilden. Die Sendungen hatten zumeist spektakuläre Formen, befriedigten den Voyeurismus der Zuschauer und machten so Quote. Zudem waren sie meist einfach, schnell und billig produziert. Die Fernsehkamera drang nun immer öfter in bislang geschützte Privatbereiche ein, filmte Menschen in den großen und kleinen Katastrophen ihres Alltags oder nahm in Operationssälen an Schönheitsoperationen und Geschlechtsumwandlungen teil. Totale Sichtbarkeit war zum Prinzip von Fernsehunterhaltung geworden. Auch dies verletzte bisherige Zeigbarkeitsregeln und tarierte das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit neu aus. Sendungen wie Explosiv – Der heiße Stuhl oder Notruf veränderten zugleich den Charakter der Repräsentation von Realität. Die im Fernsehen vermittelte Welt gewann mehr und mehr „den Charakter einer spektakelhaften Inszenierung, sie wurde zur großen Show“.79 Immer häufiger generierten Privatsender eigene fiktive Realitäten, in denen Menschen unter zum Teil schwierigen Bedingungen agierten, sich exhibitionierten und Entscheidungen zu treffen hatten, mit denen sie nicht zurechtkamen. Personen zerbrachen bei der Rückkehr ins außertelevisuelle Leben oder mussten unter Polizeischutz gestellt werden, weil auch den Zuschauern die Verhaltenszumutungen und Arrangements der Sendungen verborgen blieben und diese mit dem ‚richtigen Leben‘ verwechselt wurden. Spektakulär übertreten wurden bisherige Zeigbarkeitsregeln auch ( I/245) 1988 bei der Teilnahme von Fotografen und Kameraleuten am Gladbecker Geiseldrama, bei dem sich Journalisten wie der spätere BILD-Chef Udo Röbel „wie im Rausch“ und „in einer Art Trance“ befanden.80 Das Kidnapping, bei dem Reporter „als mediale Komplizen der Bankräuber Verlautbarungsjournalismus betrieben“ und in die realen Ereignisse eingriffen, geriet zur Live-Show. Auf der anderen Seite bildeten sich Ereignisse und Kriege, von denen es keine spektakulären Bilder gab, kaum einmal ab, wie ab 1979 die sowjetische Interven-

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tion in Afghanistan, im Dezember 1989 die US-Invasion in Panama oder 1994 der Völkermord in Ruanda. Ein weithin unsichtbareres Ereignis blieb auch der Reaktorunfall von Tschernobyl vom 26. April 1986, u. a. deshalb, weil die atomare Gefahr unterhalb der Schwelle menschlicher Wahrnehmbarkeit geschah und sich den Oberflächenbildern des Fernsehens entzog, bzw. weil die wenigen Bilder, die es aus der Unglückszone gab, durch die sowjetische Zensur konfisziert oder retuschiert waren. Die Havarie manifestierte sich so zunächst allein in bilderlosen Meldungen. Drei Tage nach dem Unglück, am 29. April 1986, berichteten die deutschen Medien erstmals ausführlicher über die Katastrophe, so die Tagesschau mit dem Insert „Nuklearbrand nicht unter Kontrolle“. Da es noch immer kein Filmmaterial vom Unglücksort gab, begnügte man sich mit einem Schwarz-Weiß-Bild des Reaktors und sprachlichen Beschreibungen. Zudem entsprachen die Meldungen und die wenigen Bilder aus Tschernobyl so gar nicht der televisuellen Vorstellung eines katastrophischen Ereignisses, das plötzlich, schockartig und spektakulär zu sein hatte.

Parallelwelten „Fernsehwirklichkeit“ und Leben aus zweiter Hand Mit immer neuen Sendungen und Formaten diversifizierte sich das televisuelle Schauen: „Fernsehen als Informationserhalt, als Mittel der Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen, als Teilhabe an weltbewegenden Ereignissen, als kulturelle Erbauung, als Unterhaltung und Zerstreuung, als psychische Regeneration; Fernsehen in der Form eines Schaurausches, der gezielten Sichtung, des rituellen Erlebnisses, der Wahrnehmung im Kontext der Alltagsroutine.“81 Wie kein anderes Bildmedium zuvor beförderte das Fernsehen die Entstehung einer medialen Parallelwelt, in der immer mehr Menschen mit kontinuierlich steigendem Zeitaufwand ihre freie Zeit verbrachten. Die Fernsehbilder generierten ein „Paralleluniversum“ (Helmut Lethen) bzw. ein „Zwischenreich der Zeichen und Symbole“ (Götz Großklaus), das sich als Medienrealität etablierte, den Inszenierungscharakter dieser Realität aber zugleich immer wieder vergessen machte. Mit den Nachrichtensendungen entstand eine neue elektronische Bilderwelt, die tendenziell das bisherige fotografische und filmische Bild der Welt ablöste, die zu einem neuen Verständnis von Authentizität führte und das Verhältnis der Betrachter zur Welt und ihren medialen Repräsentationen neu definierte. Sind politische und gesellschaftliche Institutionen in der modernen Mediengesellschaft grundsätzlich gezwungen, Politik in mediale Produkte und Logiken zu transformieren, die eigenen Gesetzen folgen, so traf und trifft dies in besonderer Weise für das Fernsehen zu. Selbst die Nachricht folgte fortan nicht mehr unbedingt den realen Ereignissen, sondern denen der eigenen Produktionslogiken. Diese wiederum führten dazu, dass Realität nicht einfach abgebildet, sondern modelliert wurde. Das zu Vermeldende musste ein möglichst abgeschlossenes Ereignis darstellen und Neuigkeitswert besitzen. Es musste komprimiert, verständlich und anschaulich darstellbar sein. Vereinfachungen, die Schematisierung in polaren Gegensätzen, die Personalisierung von Sachverhalten und die Dramatisierung des Geschehens waren zwangs-

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läufig die Folgen. Die Verweigerung der Anpassung an die medialen Bedingungen wiederum hatte in aller Regel Nichtthematisierung zur Folge. All dies erzeugte ein völlig neues Bild von Wirklichkeit. Häufig produzierte das Fernsehen überhaupt erst das, worüber es berichtete. Dass es sich bei den allabendlich gesendeten Bildern oft um Standardnachrichtenbilder handelte, wie den ritualisierten Bildern von Staatsbesuchen, vom obligatorischen Händeschütteln vor den Kameras oder den immergleichen Katastrophenbildern, kam hinzu. Durch den Anpassungszwang an die medialen Logiken erhöhte sich der Druck auf die Akteure der Politik, vor den Kameras ‚ein gutes Bild‘ abzugeben, ‚telegen‘ zu wirken. Hatte zuvor die Stimme und die Redefähigkeit die Wahrnehmung eines Politikers bestimmt, stand nun dessen ganze Persönlichkeit im Rampenlicht. Der gesamte Körper des Politikers musste foto- und fernsehtauglich arrangiert werden. Dieser Wandel zeigte sich im televisuellen Starkult. Bedeutungen wurden zu Funktionen von Sichtbarkeit. Je öfter eine Person Augenkontakte mit Zuschauern mobilisieren konnte, was durch äußerliche Attribute des Aussehens, durch die Art des Auftretens oder auch durch provokantes Verhalten geschehen konnte, umso bedeutender schien sie zu sein. Sichtbarkeit erzeugte Bedeutsamkeit. In den Talkshows tummelten sich daher keine Forscher und Nobelpreisträger, sondern Schauspieler zweiter Klasse und Sternchen, die Augenkontakte bedienten. „Telegenität entwickelte sich zu einem entscheidenden Faktor für Karrieren.“82 Wie weit die neuen medialen Verhaltenszumutungen gingen, macht ein Blick in die zeitgenössische Presse und Literatur deutlich. Diese empfahlen etwa Frauen vor Fernsehaufnahmen, Augentropfen zu benutzen, da die Augen dann besser strahlen würden. Broschüren wie der Kleine Knigge für Funk und Fernsehen gaben Ratschläge für das Verhalten vor den Fernsehkameras. Die medialen Logiken beeinflussten selbst große Gerichtsprozesse wie den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. Für die Anklage kam es auch auf die Medientauglichkeit der Zeugen an. Vor Prozessbeginn soll ein ‚echtes Casting‘ mit ihnen veranstaltet worden sein. Das Fernsehen potenzierte nicht nur die Möglichkeit, öffentlich sichtbar zu werden und ein Millionenpublikum zu erreichen. Es vergrößerte auch das grundlegende Risiko der Sichtbarkeitspolitik, kein ‚gutes Bild‘ abzugeben und zu versagen. „Die audiovisuellen Medien schienen gerade durch die Möglichkeit, Handlungen nahezu zeitgleich in Bilder umzusetzen und zu verbreiten, die Kontrollbarkeit der Images stärker denn je gefährdet zu haben – zumal das Kameraauge nicht nur einen Blick in die Parlamente, sondern auch in das Privatleben der Politiker werfen konnte. Die Sorge um das Bild beziehungsweise um das Misslingen des Bildes wurde zum Motor für tiefgreifende Veränderungen im politischen Feld.“83 Infolge der ständigen massenmedialen Präsenz und des damit verbundenen Risikos bildete sich eine neue Berufsgruppe von Medienberatern heraus, die die medialen Arrangements und Atmosphären im Hinblick auf die affektive Betroffenheit des Betrachters organisierten und Bilder für die massenmediale Berichterstattung offerierten. Ihre Arbeit war der Versuch, „den Tücken und Risiken der Performanz durch absicherndes Planen zu begegnen. Sie legten fest, was gezeigt werden sollte und was gezeigt werden durfte.“84

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Die Beschleunigung der televisuellen Bilder hatte zudem eine immer kürzere Verweildauer einer Einstellung auf den Bildschirmen zur Folge, wodurch sich die Zeit der Verarbeitung der gesendeten Bilder weiter verkürzte. Wahrnehmung und Bewertung blieben zumeist stehen „bei rasch abrufbaren emotionalen, valuativen oder appellativen Bild-Inhalten: Erschrecken, Angst, Trauer, Ekel, Wut, Freude, Befriedigung, Inhalte, die dann ‚magisch‘ zugeordnet werden können entlang der Nachrichten-‚Achse‘ gut vs. böse, Heil vs. Unheil, Ordnung vs. Chaos, Freund vs. Feind etc.“85 In diesem Sinne waren die Bilder der Fernsehnachrichten nicht einfach bloß illustrativ, sie vermittelten vielmehr immer auch emotionale Bewertungen. Der hohe Verschleißcharakter des aktuellen Nachrichtenbildes bedingte einen raschen Bilderverbrauch und damit täglich neue flüchtige Bilder, die sich anders als etwa die Bilder in den Illustrierten kaum einmal in den Köpfen der Zuschauer zu Ikonen verfestigten. Wie kein Bildmedium zuvor wurde das Fernsehen räumlich und mental in den Alltag der Zeitgenossen integriert. Sendungen wie ( I/120) die Tagesschau oder ( I/121) Höfers Der Internationale Frühschoppen gerieten geradezu zu rituellen Veranstaltungen, zu denen sich allabendlich bzw. allsonntäglich Millionen von Menschen versammelten. Allwöchentlich nahmen die Zuschauer Anteil am Leben ihrer Fernsehfamilien. Das elektronische Medium begann, den Lebensrhythmus seiner Zuschauer zu strukturieren und sich in deren Lebensgewohnheiten einzunisten. Wie tief dies geschehen konnte, zeigte sich schließlich daran, dass das gesamte Wohnzimmer innenarchitektonisch nach dem Bildschirm ausgerichtet wurde. Die Implementierung des Fernsehapparates im privaten Raum erwies sich als ein gesellschaftlicher Modernisierungsfaktor mit weitreichenden Folgen. Dieser öffnete scheinbar ein ‚Fenster zur Welt‘ und erweiterte mit seinen Bildern die Wahrnehmung der Zuschauer über den nationalen Tellerrand hinaus. Der Blick in die Welt – in zahlreichen Intros eindrucksvoll in Szene gesetzt – geriet zum alltäglichen Habitus. Die neuen ‚Fernseherfahrungen‘ wiederum wurden in die vorhandenen Bilder der Welt integriert. Zugleich rückte man durch das Betrachten von Reportagen mit Menschen in anderen Teilen der Welt virtuell näher zusammen. Die Bilder des Fernsehens begannen die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie einzuebnen. Mit der Verbreitung der Fernbedienung wurde der Fernsehzuschauer zum „Teleflaneur“,86 der sich auf der Suche nach Neuem und Spektakulärem durch die Programme switchte. Das Switchen zerstörte zugleich die geschlossenen Sinneinheiten einzelner Sendungen und Programme. Die Fernsehrealität zerfiel in zusammenhanglose Bildsequenzen. Cross-Watching geriet zu einer neuen Wahrnehmungsform. Bei alledem überraschte es nicht, dass der Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium der Zeit von kulturkritischen Kommentaren begleitet wurde. Etliche sahen mit ihm das „Ende der Aufklärung“ gekommen. Andere diagnostizierten den Typus eines Illiteraten, der nicht zu lesen und dementsprechend nicht zu sprechen und zu denken vermochte. Der Medientheoretiker Jean Baudrillard beklagte 1978 die Verdrängung der Wirklichkeit durch eine Welt der Simulationen: ein Leben aus zweiter Hand.

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Die Verankerung des Fernsehens in Alltagskultur, Interieur und Werbung sowie die parallel sich entwickelnden fernsehkritischen Diskurse in Literatur und Kunst lassen es gerechtfertigt erscheinen, von einer eigenständigen ‚TV-Kultur‘ zu sprechen. Möbelfirmen produzierten utopisch anmutende Fernsehmöbel wie die TVTruhe ‚Kuba-Komet‘. Bereits 1954 hatte ein ehemaliger Bauhaus-Lehrer die Tapete ‚bauhaus 54‘ entworfen. Er hatte sich von der Form des Bildschirms und dem damals noch üblichen ‚Schnee‘ während der Sendepausen inspirieren lassen. Kein anderes Medium provozierte Künstler so sehr wie das neue elektronische Medium und kein Medium war so oft Gegenstand kritischer künstlerischer Diskurse wie das Fernsehen. Es waren vor allem die Künstler der Pop Art ( I/74) wie der aus Südkorea stammende Komponist und Künstler Nam June Paik, aber auch deutsche Künstler wie Günther Uecker und ( I/73) Wolf Vostell, für die der Fernsehapparat in ganz unterschiedlichen Formen immer wieder Objekt und Material künstlerischer Arbeiten war.

Vom Mauerbau zu den Spielen von München Fernsehereignisse der ‚Bonner Republik‘ Seit den 1920er Jahren bestimmten Medien immer stärker den Blick und die Haltung der Zeitgenossen auf und zu politischen Ereignissen. Waren es zunächst die illustrierte Presse und das Radio gewesen, mit denen Menschen an der großen Politik teilnahmen, so kam seit dem NS-Regime die Film-Wochenschau hinzu, die den Aspekt des Erlebens und der Teilhabe verstärkte. Für die ‚Bonner Republik‘ war es dann vor allem der Fernsehapparat, mit dem die Bundesbürger in die Welt schauten. An den großen Ereignissen der Zeit wie dem Mauerbau, dem Unglück von Lengede, der Beisetzung des ersten Kanzlers, der Mondlandung und den Olympischen Spielen von München nahmen nur wenige Deutsche physisch teil. Die weit überwiegende Zahl der Menschen erlebte die Ereignisse aus der Perspektive des Bildschirms. Die dort zu sehenden Bilder indes waren nie nur einfache Spiegelungen von stattgefundenen Ereignissen, sondern verdichtete, dramatisierte und mediengerecht aufbereitete Ereignisse, die einer eigenen Logik folgten. Indem die Zuschauer aus der gemeinsamen Perspektive des Bildschirms auf ein- und dasselbe Ereignis schauten, entstanden temporär nationale wie übernationale Sehgemeinschaften mit ähnlichen Wahrnehmungsweisen. Nicht wie erhofft in der Kunst oder der Fotografie, sondern im Medium Fernsehen begann sich eine neue visuelle Weltsprache herauszubilden. Ein Charakteristikum solcher frühen Fernsehereignisse war es, dass das Medium selbstreferenziell über seine technischen Leistungen berichtete und Fernsehereignisse später nicht selten in Doku-Dramen, Spielfilmen und selbst in der bildenden Kunst reinszeniert und bearbeitet wurden. Aus der Geschichte der ‚Bonner Republik‘ ragen einige Fernsehereignisse heraus, die zu Schlüsselereignissen der gesellschaftlichen Kommunikation wurden. Zum tatsächlich ersten Großereignis des neuen Fernsehzeitalters, das von einer

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Mehrheit der Bundesdeutschen am Bildschirm verfolgt wurde, geriet der Bau der Berliner Mauer im August 1961 – die ‚Operation Rose‘, wie er von der DDR-Regierung offiziell genannt wurde. Es war das erste politische Ereignis in der Geschichte der jungen Republik, über das umfassend und zeitnah – noch nicht indes live – berichtet wurde. In der Nacht vom 12. zum 13. August hatten die Nationale Volksarmee (NVA), die Grenz- und die Schutzpolizei der DDR sowie Angehörige der Betriebskampfgruppen damit begonnen, die Straßen und Schienenwege nach West-Berlin abzuriegeln. Zu diesem Zweck wurden an einigen Stellen erste gemauerte Barrieren errichtet, an anderen Zäune aufgestellt und Stacheldrahtverhaue installiert. Bereits in den ersten Tagen nach der Abriegelung der Sektorengrenze kam es zu etlichen Fluchtversuchen, die die DDR später durch das Zumauern von Fenstern, die direkt an der Grenze zu West-Berlin lagen, und den weiteren Ausbau der Grenzanlagen zu verhindern versuchte. Die Fernsehgemeinde hörte von diesen Aktivitäten erstmals in Werner Höfers sonntäglichem Internationalen Frühschoppen am Mittag des 13. August. Der SPIEGEL notierte: „Wäre nicht Werner Höfers Journalisten-Umtrunk gewesen  – die Bundesöffentlichkeit hätte noch einen geruhsamen Nachmittag verbracht. So aber erfuhr sie vom Frühschoppen-Gastgeber, was passiert war. Und von Jens Feddersen (‚Neue Ruhr Zeitung‘), daß der Westen nun aber energische Schritte zu unternehmen habe. Und von Wolfgang Leonhard (‚Die Zeit‘), daß der Gegenschlag der freien Welt darin bestehen müsse, Chruschtschow mit einem geharnischten Verhandlungsangebot zu überrumpeln.“87 Hörfunk und Fernsehen waren von den Ereignissen in Berlin völlig überrascht worden. Erste Bildberichte sendete die Abendschau des Sender Freies Berlin (SFB) am Abend des 13. August. Die Berichte wirkten gerade durch ihren improvisierten Charakter authentisch. Bis zum 19. August strahlte allein der SFB 70 Sondersendungen und Berichte aus, darunter einen scharfen Kommentar von Chefredakteur Matthias Walden vom Grenzübergang Invalidenstraße in der Abendschau vom 14. August über die aufgeheizte politische Stimmung in Berlin und die unmittelbaren Folgen der Grenzschließung für die Menschen in der Stadt. Die Fernsehberichte, über die die Westdeutschen und auch die Fernsehzuschauer in der DDR, die Westfernsehen empfangen konnten, in den ersten Tagen informiert wurden, folgten alle einem ähnlichen Schema. Zunächst sah man Bilder von der aktuellen Situation der Abriegelung an neuralgischen Punkten der Sektorengrenze wie dem Kontrollpunkt Checkpoint Charlie, dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz. Zu sehen waren Aufnahmen von Bauarbeitern, die begannen, Fundamente für eine Mauer vorzubereiten, Soldaten, die Stacheldraht verlegten und schwere Betonpfähle transportierten. Ein weiterer Schwerpunkt waren Aufnahmen von weinenden und verzweifelten Menschen hinter Stacheldraht sowie von Menschen, die versuchten, noch im letzten Augenblick der Abriegelung zu entkommen. Dabei fokussierten die Aufnahmen schon bald auf die Bernauer Straße, wo man begonnen hatte, Fenster und Türen zuzumauern. ( I/89) Eine kurze Filmsequenz zeigte die Flucht des DDR-Grenzpolizisten Conrad Schumann, als dieser am 15. August eben-

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falls an der Bernauer Straße einen Stacheldrahtverhau übersprang. Wiederkehrende Sujets der Berichte waren auch Einstellungen, bei denen die Kameras amerikanischen Soldaten über die Schulter auf die Grenzbefestigungen schauten, (I/130) sowie DDR-Bauarbeiter, die sich einzumauern schienen. Das verbindende Narrativ aller Berichte war die menschliche Tragödie, die Mauer und Stacheldraht auslösten, für die Moskau und der Kommunismus verantwortlich gemacht wurden. Der Antikommunismus hatte in den Berichten seine visuellen Belege gefunden. Das Polit-Magazin Panorama sendete am 17. August eine erste Zusammenfassung der Aufnahmen von den Ereignissen der vergangenen Tage. Die Bilder zeigten aufgefahrene sowjetische Panzer und patrouillierende NVA-Soldaten, Ost-Berliner Passanten, die ungläubig die Bauarbeiten beobachten, geschlossene U-Bahnhöfe, das noch offene Brandenburger Tor, (I/129) den Regierenden Bürgermeister Willy

Der Mauerbau  [I/127–130] Standbilder aus Berliner Abendschau, August 1961 [I/127]

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Brandt und seinen Innensenator Heinrich Albertz während eines Inspektionsgangs zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, DDR-Bausoldaten, die Betonpfähle an die Grenze tragen, die Kontrolle von PKWs, die bislang ungehindert die Sektorengrenze passieren konnten, durch Volkspolizisten, und Stacheldrahtsperren, die Wohnbezirke durchtrennten. Der SPIEGEL war voll des Lobes über die Fernsehberichterstattung der ersten Tage: „Sodann zeigte der Sender Freies Berlin, was seine Kameraleute an der Sektorengrenze gefilmt hatten; mit angenehm knappen Begleitworten, ohne Selbstmitleid, das man verziehen, ohne Frontstadt-Pathos, das man an diesem Tag hingenommen hätte. Und im Abendprogramm erschien eine vorverlegte ‚politische Reportage‘ von Matthias Walden (‚Berlin, 21.37 Uhr‘), frisch kommentiert, so daß sie fast fugenlos in die Situation paßte. Auch der Norddeutsche Rundfunk besaß genügend Geistesgegenwart, um seine ,Panorama‘-Sendung (Zweites Programm) ganz auf das Tagesereignis abzustellen. […] Kurzum, an diesem 13. August wie auch an den folgenden Tagen erwies sich das Fernsehen als Zufluchtsstätte all derer, die sich vom Gebelfer der Bild-Zeitung erholen wollten.“88 Das Fernsehen habe sich gerade in diesen Tagen „als sehr nützlich“ erwiesen. Zwei größere SFB-Dokumentationen vom 27. August und vom 17. Dezember  – ebenfalls von Matthias Walden  – stellten den Mauerbau und die neuen Grenzbefestigungen zur Bundesrepublik in einen größeren Zusammenhang. Sein Film Die Mauer zeigte in eindrücklichen Einstellungen die Situation an verschiedenen Mauerabschnitten, die Flucht eines jungen Grenzsoldaten, Proteste von West-Berliner Bürgern, die Ankunft zusätzlicher US-Einheiten usw. Außerdem beobachtete er die Propagandaaktivitäten im Ostsektor der Stadt und berichtete über die Auswirkungen des Mauerbaus auf den Arbeitsmarkt und den Einzelhandel von Berlin. Waldens Berichte zeigten bislang unbekannte Aufnahmen von dramatischen Fluchtgeschichten und ersten Opfern des Mauerbaus. Beide SFB-Berichte wurden in 15 weiteren Ländern ausgestrahlt, so auch von CBS und NBS in den USA, wo sie von etwa 20 Millionen Amerikanern verfolgt wurden. Das Jahr 1963 war gleich von mehreren Fernsehgroßereignissen geprägt: vom Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Juni in Deutschland, vom Grubenunglück von Lengede im Oktober/November sowie vom Mordanschlag auf Kennedy im November des Jahres. (I/131) Anders als noch 1961 beim Bau der Mauer zeigte sich das deutsche Fernsehen auf den Besuch des US-Präsidenten bestens vorbereitet. Der ‚Zirkus K ­ ennedy‘, wie das Ereignis bei Insidern genannt wurde, erschien den Verantwortlichen schon im Vorfeld so bedeutsam, dass sie Berichte über die organisatorischen Vorbereitungen und den enormen technischen Aufwand in Auftrag gaben. So berichtete die Abendschau des Bayerischen Rundfunks in einem Vorbericht ausführlich über den Tribünen- und Kameraaufbau am Flughafen Köln-Bonn sowie über den Einsatz von Technikern im Raum Köln. Allein am Ankunftstag seien mehr als 200 Ingenieure, Kameramänner und Techniker mit 27 elektronischen Kameras, einer fahrbaren Kamera, einem Hubschrauber sowie fünf großen und zwei kleinen Übertragungswagen im Einsatz. 13 europäische Rundfunkanstalten und die drei großen ­amerikanischen

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‚Zirkus Kennedy‘ [I/131] Berlin, Flughafen Tegel, 26.6.1963, 9.30 Uhr: Die internationale Presse begrüßt zusammen mit dem Kommandanten des Französischen Sektors von Berlin Kennedy; [I/132] Fahrt Kennedys durch West-Berlin; [I/133] Demonstranten am Straßenrand in West-Berlin; [I/134] Kennedy wird auf dem Frankfurter Römer von verkleideten Indianern begrüßt, 25.6.1963 [I/131]

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Networks seien an den Übertragungen beteiligt. Eine transatlantische Direkt­über­ tragung via Satellit sei aus technischen Gründen nur am 24. Juni möglich. Der SFB als federführende Anstalt stand dem Bericht aus München in nichts nach. Am Vorabend des Kennedy-Besuchs in Berlin strahlte er einen ausführlichen Bericht über die letzte Ablaufprobe für die Fernsehübertragung aus. Mit Selbstlob hielt man sich dabei nicht zurück. Die bevorstehende Übertragung aus Berlin sei „der größte Einsatz des Fernsehens, den es in Deutschland und wahrscheinlich in Europa bisher gegeben hat“, hieß es. Die Berichterstattung habe man ‚generalstabsmäßig‘ in engster Absprache mit dem Protokoll des US-Präsidenten vorbereitet. Zum Einsatz ­kämen 34 Außenkameras an 17 Übertragungsorten sowie 3 drahtlose Kameras, die auf Kränen, Hausdächern und Autos montiert seien. Ein besonderer technischer Gag sei ein 20 Meter hoher Kran mit einer Satellitenkamera am Blücherplatz in Kreuzberg, mit der man nahtlos den Weg des Präsidenten von der Friedrichsstraße bis zum Mehringdamm verfolgen könne. Herz des gesamten Unternehmens seien die Studios des SFB, auf dessen Dächern man Dutzende von Parabolspiegeln für die eingerichteten Richtfunkstrecken installiert habe. Für die Sprecher der Berichte sei eigens beim WDR in Köln eine Zentrale mit 39 nationalen und internationalen Übertragungswagen eingerichtet worden. An neuartigen Monitoren könnten die 1.200 Korrespondenten aus aller Welt jeden Schritt des US-Präsidenten verfolgen, dem zu diesem Zweck eigens ein Spezialwagen für Fernseh- und Bildreporter folge. Höhepunkt der Berichterstattung war der achtstündige Aufenthalt Kennedys am 26. Juni in Berlin, die letzte Etappe seines Deutschlandbesuchs. ARD und ZDF berichteten in einer sechsstündigen Direktübertragung, so auch vom Höhepunkt des Besuchs mit Kennedys Bekenntnis vor dem Schöneberger Rathaus: „Ich bin ein Berliner.“ Zusammen mit der Sonderberichterstattung kam man auf eine Sendezeit von 15 Stunden. Durch die Fokussierung auf den Aufenthalt in der geteilten Stadt erhielt der ­Berlin-Besuch eine herausragende Aufmerksamkeit, was dazu führte, dass andere ­ illy Besuchsaktivitäten Kennedys verblassten und der Regierende Bürgermeister W Brandt, (I/132) der Kennedy zusammen mit dem Bundeskanzler begleitete, überhaupt erst der Weltöffentlichkeit bekannt wurde. Das Narrativ der Berichte: Kennedy steht zu Berlin und Berlin steht zu Kennedy. Mauer und Stacheldraht können die Menschen auf Dauer nicht auseinanderdividieren. Der Kennedy-Besuch trieb am Rande auch einige merkwürdige Blüten. (I/134) In Frankfurt am Main begrüßten mit Indianerkostümen verkleidete Bürger den Präsidenten. (I/133) In Berlin kam es am Rande der Fahrstrecke zu Demonstrationen gegen die ausgebliebenen Reak­tionen der Westmächte auf den Mauerbau. Demonstranten fragten auf Transparenten „Wann fällt die Mauer?“ Bemerkenswert ist, dass der ‚Medienzirkus‘ von Berlin auch in der bildenden Kunst einen Niederschlag fand. Wie viele andere Deutsche hatte auch Thomas Bayrle die Rede Kennedys vom Balkon des Schöneberger Rathauses im Fernsehen verfolgt und die unterschiedlichen Perspektiven auf das Ereignis, die Architektur des Platzes und die vor dem Rathaus versammelte Menschenmenge in einem ­mosaikartigen Bild festgehalten.

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Das zweite große Medien- und Fernsehereignis des Jahres 1963 war das Grubenunglück von Lengede westlich von Braunschweig am 24. Oktober 1963. Dort war ein zur Grube gehörender Klärteich eingebrochen und hatte die Grube überflutet. In einer mehrtägigen dramatischen Rettungsaktion gelang es, 11 in einem Hohlraum eingeschlossene Bergleute mithilfe einer Sonde zu retten. (I/135) Für 29 Bergleute kam jede Hilfe zu spät. Ähnlich wie der Kennedy-Besuch geriet auch das Unglück von Lengede zum Live-Fernsehspektakel, dessen Plot einem Thriller hätte entnommen sein können und Menschen überall vor die Bildschirme zog und nicht wieder losließ. Selbst Bundeskanzler Ludwig Erhard reiste an und sprach den Eingeschlossenen Mut zu. Erstmals bei einer solchen Rettungsaktion war das Fernsehen, vertreten durch den NDR und das ZDF, mit 80 Mitarbeitern vor Ort. Insgesamt berichteten 449 Journalisten aus aller Welt aus Lengede. 48 Pressekonferenzen fanden statt. Der NDR half

Das ‚Wunder von Lengede‘ 1963 [I/135] Der Unglücksort in Lengede; [I/136] Der Bergmann Fritz Leder auf einer unter Tage gemachten Aufnahme sowie zwei Standbilder aus der [I/137] NDR-Nordschau vom 29.10.1963 und aus einer [I/138] Zusammenfassung in der Sendung Norddeutsche Geschichte vom 7.11.1963 [I/135]

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mit Scheinwerfern, Mikrofonen und einer Gegensprechanlage aus und ermöglichte auf diese Weise die Kommunikation mit den Eingeschlossenen. Die Rettung der 11 eingeschlossenen Bergleute am 7. November wurde live in einer Sondersendung übertragen. Sie hätte spannender nicht sein können. (I/135) Die Werksleitung hatte eigens Holztürme errichten lassen, damit die Kameramänner aus aller Welt einen unverstellten Blick auf das Geschehen hatten, was den Nervenkitzel noch steigerte. Neuartig an der Berichterstattung war außerdem, dass die Medien versuchten, auch die Perspektive der eingeschlossenen Bergleute im Bild einzufangen. (I/136) Zu diesem Zweck erhielten drei Männer, zu denen mittels einer Versorgungsbombe eine Verbindung bestand, von Fotoreportern eine Kamera in die Tiefe geschickt, um Aufnahmen von sich und dem Hohlraum zu machen, in dem sie gefangen waren. Die Aufnahmen vermittelten den Fachleuten wertvolle Hinweise über den Zustand unter Tage. „Diese Aufnahmen“, so AP-Bildreporter Kurt Strumpf später, „waren eine Sensation. Sie waren für die Angehörigen und die Millionen bangender Menschen aber auch Trost und Hoffnung. Von unserem Standpunkt aus aber war es eine Sensation, daß eine Werksleitung so viel Courage und Entgegenkommen zeigte.“89 Die Kieler Nachrichten berichteten anerkennend über die Berichterstattung des Fernsehens und das Gefühl der Zuschauer, live an dem Ereignis teilgenommen zu haben: „Wohl alle Sendungen des Sonntags traten in ihrer Wichtigkeit in den Hintergrund; die Fernsehbesitzer wie die Rundfunkhörer hingen über Stunden hinweg mit Auge und Ohr an ihren Geräten, auf gute Nachrichten hoffend. Die Reportagen, die direkt aus Lengede kamen, waren ein wirkliches Dabeisein. Kaum jemals ist das Fernsehen in den letzten zehn Jahren seiner Aufgabe so gerecht geworden wie am letzten Sonntag. Was es brachte, bedurfte keiner Regie, nur einer Handvoll Männer, die zu den Bildern – trotz aller eignen inneren Erregung – die rechten Worte fanden. Und auch das verdient hervorgehoben zu werden: Aus der Sensation wurde kein Kapital geschlagen. Die Kameras suchten nicht das Leid im menschlichen Antlitz der nahen Angehörigen, sie befleißigten sich jener Zurückhaltung, die die Stunde und sauberer Journalismus geboten. Diese Anerkennung soll den Fernsehleuten nicht versagt werden.“90 Die dramatische Rettungsaktion und die große mediale Resonanz hatten zur Folge, dass die Ereignisse von 1963 gleich mehrfach verfilmt wurden und als ‚Wunder von Lengede‘ in die Annalen eingingen. Zum bis dato größten Fernsehereignis der deutschen Geschichte wurde 1967 die Live-Übertragung vom Staatsbegräbnis des ersten Kanzlers der Republik, Konrad Adenauer, der am 19. April 1967 im Alter von 91 Jahren in Rhöndorf bei Bonn verstorben war. Seine Beerdigung geriet zum prunkvollsten und pompösesten Staatsbegräbnis seiner Zeit. Es glich eher der Beisetzung eines Monorachen als der eines ehemaligen demokratischen Staatschefs. Angeblich soll es sogar die Beerdigung von Papst Johannes XXIII. vier Jahre zuvor in den Schatten gestellt haben. Alle Glocken läuteten, als acht Generäle der Bundeswehr den mit einer schwarzrot-goldenen Fahne umhüllten Sarg aus dem Kölner Dom trugen, wo der Tote zunächst aufgebahrt worden war. (I/139) Nach einem militärischen Ritual setzte sich eine lange Trauerprozession in Richtung Rheinufer in Bewegung, um den Leichnam in Adenauers Heimatort Rhöndorf zu überführen. Um Punkt 16 Uhr legte mehr

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[I/139] Standbild von der Live-Übertragung der Überführung des Leichnams von Alt-Kanzler Adenauer vom Kölner Dom nach Bad Honnef vom 25.4.1967 (WDR)

als ein Dutzend Schiffe in Köln ab. Ein Schnellboot der Bundesmarine mit dem Sarg Adenauers fuhr in der Flussmitte rheinaufwärts. Zwölf Starfighter überflogen den Trauerkonvoi in 1.000 Meter Höhe. Tausende Menschen säumten die Rheinufer, Feldhaubitzen feuerten 91 Schuss Salut – einen Schuss für jedes Lebensjahr des Verstorbenen. ARD und ZDF übertrugen die Feierlichkeiten live in einer Gemeinschaftssendung. Laut SPIEGEL hatten 800 Redakteure, Regisseure, Techniker und Hilfskräfte in einer mit 17 Monitoren ausgestatteten Regiezentrale des Kölner WDR-Funkhauses und längs der Leichenprozession Position bezogen. 57 elektronische Kameras kamen zum Einsatz, um jede Phase der Trauerfeierlichkeiten – angefangen von der Überführung des Sarges in das Palais Schaumburg über den Staatsakt im Plenarsaal des Bundestages über das Pontifikalrequiem im Kölner Dom bis hin zum Schiffskonvoi auf dem Rhein – zu verfolgen. Die Fernsehberichte wurden von 23 ausländischen Fernsehstationen übernommen. Auch US-amerikanische Sender berichteten live vom Rhein. In der Bundesrepublik verfolgten 80 Prozent der Bevölkerung die Übertragung. Weltweit schätzte man die Zahl der Zuschauer auf über 400 Millionen. Organisator des Staatsbegräbnisses war Adenauers langjähriger, wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittener Staatssekretär Globke. Zu Lebzeiten hatte ihn Adenauer genau instruiert, wie er sich seine eigene Bestattung vorstellte. Inspirieren lassen hatte sich Globke bei seinen Planungen von einem Film über die pompöse Beisetzung des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchill zwei Jahre zuvor. Zum Weltfernsehereignis der 1960er Jahre indes gerieten die Landung der Mondfähre ‚Eagle‘ im Rahmen der Apollo-11-Mission und die ersten Schritte eines Menschen auf dem Mond am 21. Juli 1969. Mit nur wenigen Sekunden Verzögerung wurde das Ereignis in alle Welt übertragen. Der Astronaut Neil Armstrong hatte zu diesem Zweck gleich nach der Landung eine Kamera auf dem Erdtrabanten installiert, deren Objektiv er so eingerichtet hatte, dass ihn und seinen Kollegen Buzz Aldrin die Kontrollstation und die Zuschauer bei der Arbeit beobachten konnten. Auf diese Weise wurde etwa eine halbe Milliarde Menschen weltweit Augenzeuge der

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Ereignisse. „More people were watching us than ever watched two humans before in history“, so Aldrin später über die bis dato größte Resonanz einer Live-Übertragung. Zur perfekten Medieninszenierung gehörte das Einrammen des Sternenbanners in den Mondboden als sichtbar-symbolischer Beleg der Inbesitznahme des Mondes und der technologischen Überlegenheit der USA. Die BILD-Zeitung frohlockte: „Der Mond ist jetzt ein Ami.“ Während es in Houston in Texas noch Sonntagabend war, war es in Europa mitten in der Nacht und in Australien bereits Montagmittag. Da die Technik der NASA und die des Fernsehens nicht kompatibel waren, mussten die vom Mond empfangenen Bilder zunächst abgefilmt werden, bevor sie in die Welt gesendet werden konnten. (I/140) Nur in schlechter Qualität ließen sie das Geschehen erkennen, was der Faszination der Zuschauer indes keinen Abbruch tat. (I/141) Kompensiert wurde der faktische Bildermangel vom Mond durch Live-Sendungen aus den Studios wie denen des ARD-Sonderstudios Apollo 11, die aus Experteninterviews, vorproduzierten Filmen, Infografiken und einem Nachbau der Apollo-Kapsel und der Mondfähre bestanden. Mit den Aufnahmen vom Mond dokumentierte das Fernsehen nicht nur eine außergewöhnliche wissenschaftlich-technische Leistung der USA, es präsentierte zugleich auch seinen eigenen Erfolg. Nach Ansicht von Experten waren die Fernsehbilder des Ereignisses „mindestens so wichtig wie das Ereignis selbst“,91 belegten sie doch gleich in doppelter Weise die Überlegenheit der USA im Kalten Krieg: in der Raumfahrt wie in der Fernsehtechnik. Wie andere große Fernsehereignisse hinterließen auch die Bilder der Mondlandung Spuren in der Kunst, so in etlichen Lithografien von Andy Warhol, in den bilderlosen ‚Digigraphien‘ eines Michael Schirner und noch in jüngster Zeit in den fotografischen Reenactments der beiden Künstler Cortis und Sonderegger. Zu einem Weltfernsehereignis der Superlative gerieten drei Jahre später auch die Olympischen Sommerspiele in München. Deren Eröffnungsfeier am 26. August 1972 verfolgten noch einmal doppelt so viele Zuschauer wie die Mondlandung, schätzungsweise eine Milliarde Menschen in mehr als 100 Ländern. (I/143) „Das ist Houston auf dem Oberwiesenfeld“, jubelte der SPIEGEL, der vom „totalen Fernsehen“ sprach und damit auf Goebbels’ Formel vom „totalen Krieg“

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Die Mondlandung 1969 [I/140] Der erste Mensch betritt den Mond: Standbild von der ARD-Live-Sendung der Mondlandung am 21.7.1969; [I/141] das Apollo-Sonderstudio des WDR, rechts ein Modell der Mondfähre ‚Eagle‘; [I/142] Beschäftigte der Firma Haas & Sohn in Sinn im Dillkreis verfolgen die Sonderberichterstattung über den Raumflug von Apollo 11 und die Landung auf dem Mond, 21.7.1969. Die Firma hatte extra 20 Fernsehgeräte aufstellen lassen.

und das Ineinandergreifen von Politik, Sport und Fernsehen im ‚Dritten Reich‘ ­anspielte92 – ein Zusammenspiel, das sich seit den Sommerspielen 1936 von Berlin abgezeichnet hatte und das auch die (I/144) von Otl Aicher entworfenen offiziellen Plakate deutlich machten, auf denen ein Fernsehturm die olympischen Sportstätten überstrahlte. Das Titelbild des SPIEGEL zeigte eine Fotomontage einer leeren Tribüne mit schier endlos hintereinander gereihten Monitoren. Das Stadion selbst ist ebenfalls leer: Weder sind Zuschauer vor Ort, noch findet auf dem Platz ein Wettkampf statt. „Die leeren und medial ausgestatteten Zuschauerplätze“, so eine Kommunikationswissenschaftlerin, „symbolisieren die nicht sichtbaren Fernsehzuschauer, die von zu Hause aus das Geschehen verfolgen. Die eingeschalteten Fernsehgeräte übertragen Nahaufnahmen der Wettkampfteilnehmer und zeigen die unterschiedlichen Wettkampfszenen verschiedener Disziplinen damit aus allernächster Nähe. Hierdurch werden die herkömmlichen Vorstellungen von Nähe und Ferne umgekehrt: Nur der Fern-Seher ist wirklich dabei und sieht das Sportereignis im Detail und in allen seinen Facetten. Die Zuschauerschaft der Spiele wird so mit dem Fernsehgerät identifiziert. Die Schlagzeile unterstreicht, dass die Olympischen Spiele zu einem Fernsehereignis geworden sind: sie finden gewissermaßen für und durch die Fernsehübertragung statt.“93 Eine argentinische Zeitung formulierte euphorisch, „daß es trotz aller Verschiedenheit und Interessengebundenheit der Rassen und Nationen im Grunde doch eine universale Brüderschaft der Menschen“ gebe.94 Reportage und Cover feierten das Fernsehen als das Medium, das Menschen aus aller Welt gemeinsam an einem Ereignis teilhaben lässt und diese zu einem globalen Publikum verschmelze. Ausführlich heißt es in dem SPIEGEL-Bericht: „Rund um den Erdball, rund um die Uhr läuft 16 Tage lang die längste Show der Fernsehgeschichte für das größte TV-Publikum, das es je gab: fast eine Milliarde Menschen. Ob der bundesdeutsche Versandhausmillionär Josef Neckermann sattelt oder der sowjetische Sportstudent Walerij Borsow spurtet, ob irgendein Boxer aus Ghana irgendeinen Favoriten aus Polen ausknockt oder irgendein Marathonläufer aus Senegal bereits bei Kilometer 24 aufgibt – jeder kommt ins Buntbild, alle sollen es sehen können: Keine Pflicht, keine Kür, die nicht im Fokus wäre; kein Sprung, kein Schuß;

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kein Wurf, kein Vor-, Hoffnungs-, Zwischen- oder Endlauf, der nicht live übertragen oder wenigstens auf Film konserviert würde – die erste totale optische Ausbeutung eines internationalen Athleten-Treffens. Olympia total: Das ist Houston auf dem Oberwiesenfeld, wo über Koaxial-Kabel und Multitrack-Maschinen, in Off-tubeund Dispatcher-Räumen ‚das größte elektronische Spektakel aller Zeiten‘ (Die Welt) inszeniert wird […] Der Zuschauer zu Hause aber, vielleicht in Canberra, 25 Flugstunden entfernt, sieht im selben Augenblick alles fast so detailliert und gestochen scharf, als stünde er neben dem Athleten. Und oft noch mehr: Unterwasserkameras etwa zeigen ihm schier hautnah die Unterwasserwende der Wettschwimmer – der leibhaftig anwesende Zuschauer im Schwimmstadion dagegen wird in diesem Augenblick nur Geplätscher sehen.“95 Die Kampfstätten  – so der SPIEGEL weiter  – seien eigens nach den Wünschen des Fernsehens errichtet worden.96 Nicht nur das: Erstmals war eine Olympiade mit dem Bewusstsein konzipiert worden, dass auch Millionen Menschen an den Bildschirmen das Geschehen vor Ort verfolgen konnten. Dies führte mitunter zu kuriosen Startzeiten. Selbst einzelne Teile des olympischen Zeremoniells mussten im Hinblick auf die spezifischen Bedürfnisse der Fernsehtechnik verändert werden. Das Flutlicht war eigens auf die Notwendigkeiten der Farbfernsehkameras ausgerichtet, aber für das Auge der in den Stadien anwesenden Zuschauer deutlich zu hell.97 „Die Fernsehkameras erhielten somit Vorzug vor den Stadionbesuchern und beeinflussten dadurch wiederum die Wahrnehmung des Ereignisses selbst.“98 ­Realität wurde eigens für die Bedürfnisse des Fernsehpublikums modelliert. Bei keinen anderen olympischen Spielen zuvor gab es mehr Medienpräsenz als 1972 in München. Dies war einerseits dem fernsehtechnischen Fortschritt geschuldet, andererseits erklärte es sich aus den besonderen Interessen der Bundesrepublik, die sich mit ‚heiteren Spielen‘ vier Jahrzehnte nach der zur Propagandaschau umfunktionierten Olympiade in Berlin als geläuterte Nation der Welt präsentieren wollte. Mindestens 4.000 Pressevertreter berichteten aus München, unter ihnen 358 Fotografen wie die ‚wiederauferstandene‘ Leni Riefenstahl, die die Spiele für das Magazin der Londoner Sunday Times ablichtete. Hinzu kamen 2.000 Fernsehjournalisten und Kameraleute von 60 Fernsehstationen. 150 hochmoderne Farbkameras fingen das Geschehen in den Sportstätten ein. Erstmals zum Einsatz kamen tragbare Kameras, mit denen sich die Kameraleute unter die Akteure und Zuschauer mischen und damit in subjektiver Perspektive Personen und Ereignisse einfangen konnten. Außerdem wurden 25 Farbkamera-Übertragungswagen und sieben MAZ-Wagen eingesetzt. Die Weltregie befand sich in der HochschulSportanlage auf dem Oberwiesenfeld. Zu ihr gehörten 90 Monitore, an denen rund um die Uhr ein aktuelles Programm von allen Wettkampfstätten ausgewählt und den Fernsehsendern in aller Welt offeriert werden konnte. Zusätzlich standen den Korrespondenten zwölf Fernsehstudios mit kompletter Regieeinrichtung zur Verfügung. Insgesamt wurden 1.200 Stunden Sportgeschehen auf Magnetband gezeichnet, von dem jedes Land nach seinen individuellen Interessen auswählen konnte. Anders als die Zuschauer in den verschiedenen Stadien bekamen die Fernsehzuschauer das Geschehen strukturiert, zum Teil in Zeitlupe verlangsamt, in Stand-

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„Totales Fernsehen“ – die Olympischen Medienspiele von München ‘72 [I/143] Titelseite des SPIEGEL, 36/1972; [I/144] offizielles Olympia-Plakat, Entwurf Otl Aicher (1972); [I/145] Bildreporter richten ihre Kameras auf das Apartment im Olympischen Dorf, in dem sich die Terroristen mit ihren Geiseln verschanzt haben, 5.9.1972; [I/146] ein palästinensischer Terrorist auf einem Balkon des israelischen Quartiers; Aufnahme von Kurt Strumpf, die zur Ikone wurde

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bilder zerlegt und in bester Bildqualität angeboten. Sie waren immer nah am Geschehen dran. Es schien, als sei das medialisierte Sehen dem unmittelbaren Sehen vor Ort überlegen. Die mediale Reproduktion schien die Aura des Live-Erlebnisses zu überbieten. Die Olympischen Spiele von 1972 bedeuteten so nicht nur eine mediale Zäsur. Sie waren auch eine Zäsur in der Repräsentation der Republik. Nicht mehr nüchtern und sachlich wollte man sich der Welt präsentieren, sondern farbig, weltoffen, freundlich, demokratisch und pazifistisch. Dadurch hoffte man, sich sowohl von den militarisierten Spielen 1936 in Berlin als auch von dem nüchternen neu-sachlichen Präsentationsstil der frühen Bundesrepublik abzusetzen. Die ästhetische Ausgestaltung der Spiele war nicht weniger als der Versuch, die Bilder und Schatten der NS-Vergangenheit zu überschreiben. Der Sydney Sun Herald titelte in einem Bericht über die Vorbereitungen denn auch: „Munich 72 wants to forget the past.“ Explizit geplant waren heitere Spiele. Das sollten auch die Olympiabauten durch Leichtigkeit und Bescheidenheit widerspiegeln. Sie sollten eine Atmosphäre der „Offenheit, Transparenz und Überschaubarkeit“ vermitteln. Als Ausdruck von Innovation, Zurückhaltung und Selbstbewusstsein war vor allem das Olympiastadion konzipiert. Die Planung eines neuen deutschen Images ging bis zur Farbwahl, die eine bewusst als aggressiv geltende Kolorierung vermied. Zugleich wollte man ein neues Männerbild vermitteln. Bilder von kampfbereiten Soldaten und wachsamen Polizisten sollte es nicht geben. Die Polizei sollte allenfalls im Hintergrund als Ordnungskraft in Erscheinung treten. „Statt auf die bewaffneten männlichen Körper als ‚the most emblematic of all representations of the body politic‘ konzentrierten sich die Organisatoren auf den pazifistischen Wesenszug des ‚Neuen Mannes‘, der auch menschliche, ja gar weibliche Züge besaß. Enge körperbetonte Hosen, die modernen Schnittmustern folgten, auch teilweise der Mode entsprechende Langhaarfrisuren symbolisierten ein neues Männerbild der 1970er Jahre.“99 Die starke Medienpräsenz und das Bestreben der Organisatoren, Sicherheitsmaßnahmen möglichst diskret erscheinen zu lassen, hatten zur Folge, dass sich Terroristenkommandos geradezu eingeladen fühlen mussten. Am frühen Morgen des 5. September startete denn auch eine palästinensische Gruppe, die sich ‚Schwarzer September‘ nannte, einen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München, bei dem es erste Tote gegeben hatte. Aus den ‚heiteren‘ Spielen war über Nacht die ‚Stunde null‘ des internationalen Terrorismus geworden. Mit ihrer Aktion wollten die Terroristen mithilfe des Fernsehens die Aufmerksamkeit Hunderter Millionen Menschen auf den Nahostkonflikt und die Situation der Palästinenser richten. (I/145) Mediengerecht präsentierten sie sich mit ihren Maschinenpistolen auf einem Balkon des olympischen Dorfes, wo sie sich mit Geiseln verschanzt hatten, den Fernsehkameras und Bildreportern aus aller Welt. (I/146) Zur Ikone des Anschlags geriet keine Fernsehsequenz, sondern ein stilles Foto des AP-Reporters Kurt Strumpf, das einen der Attentäter auf dem Balkon mit Strumpfmütze zeigte. Während die Einsatzkräfte überfordert und planlos agierten, beobachteten die Geiselnehmer in aller Ruhe das Polizeiaufgebot und den Aufzug von Scharfschützen auf den Dächern der benachbarten Häuser auf den Bildschirmen. Nur wenige Stunden,

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nachdem Strumpf sein ikonisches Foto geschossen hatte, wurden die israelischen Sportler während eines desaströs verlaufenden Befreiungsversuchs der Polizei von den Terroristen brutal ermordet. Jedes der Fernsehereignisse der ‚Bonner Republik‘ wies eine Besonderheit auf. Der Mauerbau 1961 hatte das Medium Fernsehen noch unvorbereitet getroffen, dennoch gelang es in wenigen Tagen, einen dramaturgischen Faden sowie Bildfolgen zu entwickeln, die das Narrativ eines barbarischen Kommunismus unterfütterten. Der fernsehmäßig bereits generalstabsmäßig geplante Kennedy-Besuch 1963 visualisierte die große Verbundenheit der Deutschen-West mit den USA und schuf damit ein Gefühl von Sicherheit, das mit dem Mauerbau zeitweise verloren gegangen war. Die Aufnahmen vom ‚Wunder von Lengede‘, ebenfalls 1963, fesselten in einer Art Live-Thriller die Menschen an die Bildschirme. Zeitgeschichte hatte Eventcharakter bekommen. Die Mondlandung 1969 zeigte erstmals eindrucksvoll, dass das Fernsehen auch ein Ereignis, von dem es nur wenige Bilder gab, mit seinen Möglichkeiten zu einem Fernsehereignis aufblasen konnte. Die Olympischen Sommerspiele 1972 von München und der Überfall eines palästinensischen Terrorkommandos ließen erkennen, dass sich auch Terroristen erfolgreich des Mediums Fernsehen zu bedienen wussten.

Holocaust und Heimat Großereignisse des fiktionalen Fernsehens Zu den geschilderten Fernsehereignissen von herausragender Bedeutung gesellten sich zwei fiktionale Fernseh- bzw. Filmproduktionen: die Ausstrahlung der vierteiligen US-amerikanischen Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss, so der deutsche Titel, von Marvin J. Chomsky 1979 und die Serie Heimat – Eine deutsche Chronik von Edgar Reitz 1984. Was die Ausstrahlung des sechsteiligen Fernsehfilms So weit die Füße tragen 1959 über die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus einem sowjetischen Gefangenenlager  – dem ersten ‚Straßenfeger‘ des deutschen Fernsehens – und die Verfilmung von Walter Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff über eine bürgerliche Familie in Rostock 1975 durch Eberhard Fechner für die Endfünfziger und die 1970er Jahre waren, waren Holocaust und Heimat für die späten 1970er und die -80er Jahre. Während Chomsky in seinem Film die fiktive Geschichte der im Holocaust endenden jüdischen Berliner Arztfamilie ‚Weiss‘ ins Bild setzte, schilderte Reitz die ebenfalls fiktive Geschichte der ‚Maria Simon‘ und ihrer Familie aus dem fiktiven Dorf ‚Schabbach‘ im Hunsrück zwischen 1919 und 1982. Beide Filmwerke hatten gemeinsam, dass sie sich selbstreflexiv auch mit den Medien und den fotografischen und filmischen Bildern ihrer Geschichten auseinandersetzten. Die Bilder beider Filmwerke schrieben sich nachhaltig in den kollektiven Bilderschatz der Deutschen ein. Und beide Filme waren Medienereignisse, die, was allein die Zuschauerzahlen betraf, alles Bisherige in den Schatten stellten. Die Filme der Holocaust-Serie sahen mehr als 20 Millionen Deutsche oder jeder zweite Erwachsene, was einer Sehbeteiligung zwischen 43 und 48 Prozent entsprach. Die Auftaktfolge von Heimat erreichte eine sensationelle Einschaltquote von 50 Prozent. Insgesamt sahen 25 Millionen Deutsche eine oder mehrere Folgen von Heimat.

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[I/147] Standbild aus dem Intro des 3. Teils der US-Sendereihe Holocaust, Sreenshot ARD (1978)

In seinem Film Holocaust setzte Regisseur Chomsky auf das vertraute Kompendium der Holocaust-Ikonografie, indem er die bei den Zuschauern abgespeicherten Bilder und oft kontextlosen „Ikonen der Vernichtung“ (Cornelia Brink) abrief und in einen neuen Gesamtzusammenhang setzte. Leitmotivisch ordnete der Film die Opfer wie die Täter bekannten Symbolen zu: dem Judenstern als der symbolischen Repräsentation der Opfer und dem Hakenkreuz und den SS-Runen an den Uniformen der SS-Männer als Symbolen der Täter. Auf diese Weise entstand eine konträre Symbolwelt, in der die Akteure unabhängig von ihrem Willen agierten. Als stärkstes Einzelmotiv nutzten Regisseur und Drehbuchautor Signifikanten des Transports wie Schienen, Bahnhöfe, Güterwagen und Dampflokomotiven. Der Zug erschien stellvertretend für Deportation und Moderne. Neben den dampfenden Lokomotiven und den überfüllten Waggons, aus denen die Deportierten Hilfe suchend ihre Arme streckten, waren es gewöhnliche Orte wie der Bahnhof und außergewöhnliche Orte wie die ‚Rampe‘ des Lagerbahnhofs Birkenau, die eine eigene Ikonografie begründeten. Die Welt des Holocaust erschien zugleich als eine durch Stacheldrahtverhaue separierte Welt. Eingezäunt waren neben dem Lager auch Bahnhöfe, Gettos und Exekutionsorte. Der Stacheldraht symbolisierte die Grenze zwischen innen und außen, zwischen ‚Volksgenossen‘ und ‚Volksfeinden‘, zwischen sichtbarer und nicht sichtbarer Welt. Er war die Metapher für politische Gewalt schlechthin und anschlussfähig für ( I/162–164) die Ikonografie und Bildpraxis des Kalten Krieges. Vor allem stand er für Tod. Der Genozid selbst erschien als Akt der industriellen Moderne und nicht primär als deutsche Tat. Die zentralen Vernichtungsmittel der Täter waren das Maschinengewehr sowie das industriell hergestellte Gas Zyklon B – beides ‚Errungenschaften‘ der Moderne. Vertraute Orte und Produkte der Zeit wurden auf diese Weise zu neuen, den Zuschauer immer wieder irritierenden Ikonen. Sie ließen den Genozid als potenzielle Tat der Moderne und weniger als Produkt eines ‚deutschen Sonderweges‘ oder gar eines ‚eliminatorischen‘ Antisemitismus erscheinen. Die vorhandenen Bilder des Holocaust erhielten auf diese Weise einen konsistenten Deutungsrahmen.

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Anders als ältere Fernsehdokumentationen und Spielfilme, die davon ausgingen, dass der Holocaust nicht visualisierbar sei, schreckten die Macher der amerikanischen Serie nicht davor zurück, Aspekte des vermeintlich nicht Darstellbaren zu zeigen, ohne dabei jedoch grundsätzlich die gesellschaftlich akzeptierten Zeigbarkeitsregeln der Gewaltrepräsentation im Medium Fernsehen zu überschreiten. Wie in älteren Darstellungen bedienten sich Regisseur und Autor einer „Ästhetik des Zeigens durch Nichtzeigen“ (Knut Hickethier). Die Tat wurde zwar minutiös eingeleitet und die Tatumstände konkret bebildert, der mörderische Akt selbst aber blieb der Vorstellungwelt der Zuschauer überlassen, die die dramaturgische Leerstelle durch vorhandene Bilder auszufüllen hatten. Holocaust zeigte zudem konsequent im Bild, dass der Judenmord in aller Öffentlichkeit stattfand und auf allen Ebenen fotografisch und filmisch festgehalten wurde. Immer wieder waren gaffende Wehrmachtssoldaten und ukrainische Landbevölkerung zu sehen, die als Zuschauer Erschießungen beiwohnten. Dass auch die politisch Verantwortlichen genau wussten, was sie zu verantworten hatten, zeigte eine ‚Schauexekution‘, zu der eigens wie in einem Kinosaal Stuhlreihen aufgestellt waren, um den Zuschauern einen bequemen Blick auf das Grauen zu ermöglichen. Durchgängig reflektierte Holocaust – auch das war neu – die Bildproduktion des NSRegimes, die Entstehung und Funktion der Täterbilder und den letztlich nicht gelingenden Versuch der SS, die Bilder des Genozids geheim zu halten und die Bilddistribution zu kontrollieren. Fotografien und Filmsequenzen erschienen nicht einfach nur als Spiegelungen eines Geschehens, sondern als genuine Täterproduktionen, in die der spezifische Täterblick eingeschrieben war, sowie als strategische Kommunikationsebenen zwischen Front und Berlin, mit denen eine Systematisierung des Mordens begründet werden sollte. Holocaust beförderte wie kein anderer Film die Medialisierung der Zeitgeschichte. Er löste einen regelrechten Visualisierungsschub in der weiteren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus, hinter den kein Medienakteur mehr zurückkonnte. Mit der Medialisierung historischer Themen unterlagen diese fortan dem strukturellen Zwang der mediatisierten Öffentlichkeit, sich entsprechend der Gesetze der Mediengesellschaft zu präsentieren. In einer von Kapital und Markt organisierten Gesellschaft entschieden damit zunehmend Marktmechanismen und Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie über das, was und wie öffentlich erinnert wurde. Wesentliche Techniken waren dabei die Visualisierung und Ästhetisierung eines Geschehens, seine Emotionalisierung durch Betroffenheits- und Personalisierungsstrategien sowie seine Dramatisierung durch schockierende Bilder und ­Narrative. Komplexe Ursachen und Hintergründe ließen sich in diesen Formaten nur schwer vermitteln. Bemängelt wurde daher auch an Holocaust, dass der Film die Ursachen der Judenverfolgung nur ungenügend aufgeklärt habe. In der Fokussierung auf Oberflächenphänomene, so die Kritik, bliebe verborgen, was für historische Erkenntnis unabdingbar sei: Begriffe, Kategorien, Kriterienbildung, komplexe Erklärungen. Geschichte werde auf diese Weise zur ‚Geschichte light‘, zur ‚History‘, wie die entsprechende Abteilung im ZDF fortan hieß.

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Kultfilm: Heimat – Eine deutsche Chronik [I/148]

[I/148] Szenenbild aus Heimat, Teil 1: Die Dorfbewohner von ‚Schabbach‘ bei der Einweihung ihres neuen Kriegerdenkmals

Die von WDR und SFB produzierte Familiensaga Heimat von Edgar Reitz basiert auf 28 Kilometern Filmmaterial. An ihr arbeiteten mehr als 30 Haupt- und 5.000 Laiendarsteller mit. Die Gesamtsendezeit betrug etwa 16 Stunden. In den 1980er Jahren war es politisch noch durchaus ein Wagnis, einen Film Heimat zu nennen, da dieser Begriff vorherrschend negativ besetzt war und vor allem von Rechtsparteien benutzt wurde. Anders als im Heimatfilm der unmittelbaren Nachkriegsjahre, wurde der Begriff bei Reitz jedoch nicht verkitscht ins Märchenhafte oder ins Utopische entrückt, sondern realistisch in Szene gesetzt. Heimat ist hier jener Ort, dem keiner entrinnen kann, sondern verbunden bleibt, selbst wenn er ihm zu entfliehen versucht.

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Anders als bei Holocaust ist Reitz’ Perspektive nicht die der Großstadt und die der Opfer der Geschichte, sondern die des Dorfes und die der Mitläufer, der Befehlsempfänger, der kleinen Nazis, der unauffälligen Widerständler, der Baumeister der Restauration. Sie alle werden nicht, wie oft geschehen, denunziatorisch vorgeführt, sondern in ihren konkreten Lebenszusammenhängen gezeigt, von denen sie geprägt sind und die sie selbst wiederum prägen. (II/148) Präzise und in authentischer Kulisse wird das dörfliche Leben jenseits von Kitsch und romantischer Idylle in Szene gesetzt. Einfühlsam werden die Hoffnungen, Sorgen und Enttäuschungen der Bewohner in beeindruckenden Szenen geschildert. Im Mittelpunkt der filmischen Erzählung, die von 1919 bis 1982 reicht, steht das Leben der ‚Maria Simon‘, gespielt von der Schauspielerin Marita Breuer, und ihren Kindern. Der Film zeigt, wie die große Geschichte im kleinen überschaubaren Leben ankommt und dieses kaum merklich in ihren Bann zieht: wie Nationalsozialismus und Weltkrieg in die dörfliche Idylle einbrechen und diese von der Modernisierung und ihren Agenturen – dem Rundfunk und mit diesem der Musik, dem PKW, dem Telefon, dem Flugzeug – nachhaltig verändert wird. Er zeigt die Suche nach dem Glück im Kleinen und dem Umgang mit Außenseitern vor der eigenen Haustür. In allen Einzelepisoden geht es immer auch um das Eindringen der modernen visuellen Medien in den Alltag der Dorfbewohner: zunächst der Fotografie, dann des Kinos und schließlich der Wochenschau bis hin zur Inszenierung einer Erschießung für die Kamera der Deutschen Wochenschau. Dabei fällt der bemerkenswerte Satz „Die Kriegswochenschau ist die wahre Kunst des 20. Jahrhunderts“. Genau diese selbstreflexive Thematisierung des Films als Medium der Gewalt verbindet Heimat mit Holocaust und macht beide Filme damit zu Ausnahmeproduktionen.

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[I/149] Szenenbild aus Heimat, Teil 5: ‚Der Amerikaner‘; [I/150] Szenenbild aus Heimat, Teil 6: ‚Hermännche‘

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Zentrum des Mehrteilers indes ist die Fotografie. Zu Beginn einer jeden Episode stehen Aufnahmen aus Familienalben, in denen sich die Geschichte scheinbar wie von selbst für die Nachgeborenen verdichtet. Privatfotografien sind für Reitz das unverwechselbare Medium, mit dem sich die Protagonisten seines Filmes stellvertretend für die Zuschauer und Zuschauerinnen erinnern, was zur unverwechselbaren Bildsprache seines Films beiträgt – ein Ansatz, der in dieser Konsequenz nie wieder aufgegriffen wurde. Die Premiere des Films fand am 30. Juni 1984 in einem Kino in München statt. Im Fernsehen waren die elf Teile erstmals vom 16. September 1984 bis 24. Oktober 1984 zu bester Sendezeit in der ARD zu sehen. 1987 erfolgte die Ausstrahlung des Filmepos in Großbritannien an elf aufeinanderfolgenden Abenden auf BBC Two, wo Heimat zur Kultserie wurde. 2005 stellte Reitz aufgrund einer Anfrage aus Italien fest, dass die letzte erhaltene Kinokopie seines Werkes nicht mehr abspielbar war. Die Digitalisierung und die Bearbeitung der Filmnegative zogen sich über fünf Jahre hin. Reitz schnitt dabei die Filme so um, dass die Serie nun aus sieben Teilen in kinogerechter Länge besteht. Im Februar 2015 fand die Premiere der aufwendig digital restaurierten Kinofassung statt. Mit Heimat, so Eckhard Fuhr in Die Welt, brachte Reitz dem Fernsehen das historische Erzählen bei.100 Sein Epos sei „nicht nur deshalb epochal, weil es das ‚deutsche‘ 20. Jahrhundert in einer bis dahin nicht gekannten Weise ins Bild setzte, sondern auch, weil es eine diffuse kulturelle Tendenz mit unglaublicher Kraft und Entschiedenheit nicht auf den Begriff, sondern zur Anschauung brachte“. Mit Heimat sei das Fernsehen „zum ernst zu nehmenden Medium des historischen Erzählens geworden“. Heimat sei ein „Fernsehwunder“. Reitz selbst bezeichnete seinen Film als „ein Schlachtfeld der Gefühle“. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Würde ein Lebewesen von einem fernen Planeten uns die Frage stellen, welche F ­ ilme man sehen müsste, um Auskunft zu bekom-

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men über Deutschland im 20. Jahrhundert, so würde der Heimat-Zyklus von Edgar Reitz wohl zu den wichtigsten Empfehlungen gehören.“ 101 Film, Regisseur und Darsteller wurden national und international mehrfach ausgezeichnet. Mit Heimat fand der ‚Neue Deutsche Film‘ seinen Abschluss und seine Krönung. Mit seinem Film habe Reitz „Filmgeschichte geschrieben“, notierte Dagens Nyheter aus Stockholm. Heimat – so mutmaßte der Rezensent der Süddeutschen Zeitung – „dürfte für den Neuen Deutschen Film das werden, was die Blechtrommel für die deutsche Nachkriegsliteratur geworden ist“. Filmkollegen wie Werner Herzog, Alexander Kluge und Wim Wenders lobten das Epos „als europäisches Requiem der kleinen Leute“. Auch im Ausland wurde Heimat überaus positiv rezipiert. The Economist aus London schrieb: „Heimat ist der wichtigste Film, der in Westdeutschland seit dem 2. Weltkrieg gedreht wurde.“ Die Sonntagszeitung aus Zürich gar hielt Heimat für „den besten Film der Welt“. Hollywood hatte im Hunsrück Konkurrenz erhalten. Später ergänzte Reitz seinen Film von 1984 durch zwei weitere Heimat-Filme: 1992 Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend und 2004 Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende, die jedoch in Erzählung und Bildsprache nicht an den Erfolg von 1984 anzuknüpfen vermochten. Eng verbunden mit dieser Trilogie ist schließlich der 2012 gedrehte Film Die andere Heimat, der die Auswanderung von Hunsrück-Bewohnern nach Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert.

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Eichmänner, Wohlstandssymbole, neue Geschlechterbilder Zur Ikonografie der Bilderwelten der ‚Bonner Republik‘

Plakate, illustrierte Zeitungen, der Film und das Fernsehen erzeugten einen besonderen Bilderkosmos, in dem sich die Bundesbürger bewegten, in dem sie Vergangenheit und Gegenwart deuteten und neue Identitäten entwickelten. Mithilfe von Bildern orientierten sie sich in einer immer komplexer werdenden Informations- und Wissenschaftsgesellschaft. Dieser Bilderkosmos setzte sich aus gleichzeitigen und ungleichzeitigen Bildern, aus technisch-apparativ erzeugten Abbildungen und aus visuellen Zukunftsversprechungen zusammen. Die bundesdeutschen Bilderwelten bestanden gleichermaßen aus den Bildern der Vergangenheit, aus Fortschritts- und Wohlstandsikonen der Wirtschaftswunderwelt wie aus den Bildern des Kalten Krieges, aus popkulturellen Bilderwelten und neuen Geschlechterbildern. Zum Teil überlagerten sie sich, zum Teil beeinflussten sie sich gegenseitig. Mehr als je zuvor avancierten Bilder auf Kosten von Wort und Schrift zu Kurzformeln der Deutung, der Orientierung und der Identitätsbildung. Anders jedoch als vor 1945 und zum Teil auch in der DDR trafen diese Bilder in einer pluralistischen Gesellschaft beständig auf Kritik und Widerspruch. Sie wurden nicht einfach hingenommen, sondern mit Eigensinn angeeignet und mit Gegenbildern und alternativen Deutungen beantwortet. Die Struktur dieser Bilderwelten und deren Verhältnis zu den Gegenbildern, das Vorhandensein von gleichzeitigen und ungleichzeitigen Bildern machte die besondere ästhetische Kennung der ‚Bonner Republik‘ aus.

Täter und Taten Der Holocaust in der visuellen Erinnerung Die Beschäftigung mit dem Holocaust und seinen Tätern war in den 1950er Jahren kein vorrangiges Thema von Öffentlichkeit und Gesellschaft. Wenn man sich dennoch einmal mit ihnen befasste, so beruhten die Diskurse hierüber zumeist auf Projektionen und Unterstellungen. Danach galten die Täter entweder als dämonische Persönlichkeiten, als Psychopathen oder als Gewalt- und Exzesstäter, die über die Deutschen hereingebrochen waren, gleichsam als exterrestrische Wesen, mit denen die deutsche Gesellschaft nichts gemein hatte und nichts zu tun haben wollte.

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[I/151a] Rudolf Höß, 1946 in britischem Gewahrsam in Heide; [I/151b] Prof. Dr. Werner Heyde, Agenturfoto vom 11.4.1961; [I/151c] Titelseite Revue 14/1952

Sichtbaren Ausdruck fanden diese Deutungsmuster zunächst in Pressebildern von Zeitungen und Illustrierten der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese gingen oftmals von der irrigen Annahme aus, dass sich der Charakter einer Persönlichkeit im Bild offenbare. Tatsächlich aber waren die publizierten Fotografien Ausdruck von Sondersituationen, deren Setting sich in die Bilder eingebrannt hatte. Sie zeigten die Festgenommenen zumeist in Häftlingskleidung und in Extremsituationen im Gewahrsam ihrer alliierten Verfolger. (I/151a) Von dem Auschwitz-Kommandanten und Massenmörder Rudolf Höß ging seit 1946 ein Bild um die Welt, auf dem noch die Verletzungen in seinem Gesicht zu sehen waren, die ihm zuvor in britischem Gewahrsam beigebracht worden waren. (I/151b) Professor Werner Heyde, Leiter der medizinischen Abteilung der ‚Euthanasie‘-Zentrale und Obergutachter der Aktion T4, wurde von Pressefotografen aus leichter Untersicht mit Schlagseiten und damit in einer Perspektive aufgenommen, die das Dämonische seiner Persönlichkeit zu unterstreichen schien. Für Veröffentlichungen wurde das Bild zusätzlich nachgedunkelt, was den Effekt noch verstärkte. Für die Nachkriegsgesellschaft hatten solche Visualisierungen eine wichtige Exkulpationsfunktion: Sie führten Menschen vor, mit denen die deutsche Gesellschaft angeblich nichts gemein hatte. Komplementär erschienen die Soldaten der Wehrmacht in den Publikationen der westdeutschen Illustrierten oder in Filmen ( I/104) wie Des Teufels General sauber und adrett oder wie (I/151c) auf einem Cover der Revue als typische ‚Landser‘ oder Kameraden, nicht indes als Komplizen der SS-Vernichtungspolitik. Grundlage der Publikationen waren zumeist fotografische Selbstbilder aus den Beständen der Propagandakompanien. Der weitere Diskurs ab den 1960er Jahren, ob in den Magazinsendungen des Fernsehens oder in den Berichten der illustrierten Presse, zeigte dann, gleichsam

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als Gegenbewegung, die einfachen Täter, die ‚ganz normalen Männer‘, die aussahen wie die eigenen Väter, die Nachbarn von nebenan, die Kollegen auf der Arbeit und im Büro. Zunächst war es die Berichterstattung über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann – den verantwortlichen Judenreferenten im Berliner Reichssicherheitshauptamt  – 1961, die eine Wegscheide im bisherigen Täterdiskurs markierte und ein Medienereignis erster Güte war. Erstmals wurde eine Gerichtsverhandlung auf Magnetband aufgezeichnet und zeitversetzt im Fernsehen ausgestrahlt. Neben täglichen Kurzberichten in der Tagesschau berichtete das deutsche Fernsehen unter dem Titel Eine Epoche vor Gericht in mehreren halbstündigen Sondersendungen unmittelbar nach der Tagesschau über den Prozess. Was folgte, war ein buntes Gemisch aus Aufzeichnungen aus dem Gerichtssaal, von Experteninterviews, Kommentaren von Prozessbeobachtern und Interviews mit Straßenpassanten. (I/152) Erstmals bekam in diesen Berichten die Tat jetzt ein konkretes Gesicht und einen Körper, dessen Mimik und Gestik authentischer Ausdruck der Persönlichkeit des Angeklagten zu sein schien und im Jerusalemer Glaskasten wie unter einer Lupe beobachtet werden konnte. De facto war der Glaskasten die kleine Privatbühne des Angeklagten auf der größeren Bühne des Gerichts, auf der Eichmann als Schauspieler dem Publikum seine eigene Deutung des Holocaust vortrug. Eichmann war ein durchaus begabter Laiendarsteller, der es verstand, sich sowohl für das Gericht als auch für die Kameras und damit für die Weltöffentlichkeit in Szene zu setzen, eine Show abzuziehen. Gekonnt inszenierte er sich in der Rolle des eifrigen und gehorsamen Bürokraten, indem er sich Notizen anfertigte, in Unterlagen ­blätterte, einen Berg von Akten vor sich auftürmte und unterwürfig Fragen beantwortete. Er habe sich im Laufe des Verfahrens mit seinen Aktenbündeln und Notizblöcken in dem Glaskasten ein „kleines gemütliches Büro“ eingerichtet, befanden Beobachter.102 In diesem gläsernen Büro agierte er als gewöhnlicher Bürokrat, als bieder und beflissen, manchmal unsicher und arrogant, aber keineswegs als der kri[I/152] Adolf Eichmann vor Gericht, Jerusalem 1961, Foto Micha Bar-Am minelle Gewalt- und Exzesstäter, den man erwartet hatte. Vor allem das Fernsehen betonte immer wieder [I/152] seine rätselhafte Gewöhnlichkeit. Die im Bild eingeschriebene Spannung  – der Biedermann im Käfig, dessen Erscheinung und Auftreten scheinbar so gar nicht passten zu seinen Taten – lenkte die Aufmerksamkeit der Bildberichterstatter automatisch auf den Mann im Glaskasten. Die Folge: eine Aufmerksamkeitsverschiebung des medialen Interesses weg vom Genozid und seinen Opfern hin auf den Einzeltäter und sein Auftreten vor Gericht, zeitweise sogar auf dessen Leben als Häftling. Dieses Bild des biederen ‚Schreibtischtäters‘ ging in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs über die Täter des Holocaust ein, der lange von

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Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen beherrscht wurde. In ihm widersprach Arendt, die den Prozess größtenteils am Bildschirm und nicht vor Ort verfolgt hatte, der bisherigen Diabolisierung der Täter. Für Arendt erschien Eichmann als mechanisches Glied in einer perfekt funktionierenden Vernichtungsmaschinerie, als subalterner, motivloser und folgsamer Bürokrat am Schreibtisch, der mit wenigen Ausnahmen keine eigene Initiative entfaltet hatte, dem ein diabolischer Charakter ebenso abging wie ein fanatischer Antisemitismus. Bei allen seinen Handlungen sei er eher von persönlichem Ehrgeiz und bürokratischem Kadavergehorsam als von antisemitischen Ressentiments motiviert gewesen. Die Aufnahmen des Biedermannes im Glaskäfig grundierten Arendts Deutung und die sich anschließende Rezeption. Beide beglaubigten sich gegenseitig: Der visuelle Diskurs über Eichmann in Presse und Fernsehen bestätigte das von Arendt gezeichnete Bild. Der literarische Diskurs Arendts und ihre zum geflügelten Wort avancierte Formulierung von der ‚Banalität des Bösen‘ gaben dem Foto Eichmanns Deutung und Namen. Vor allem die Coverseiten von Arendts Buch machten Eichmanns Bild in der Glaskabine zu einer Ikone des Jahrhunderts. Der SPIEGEL popularisierte das Bild des beflissenen Schreibtischtäters mit einem Titelbild, auf dem ein Porträt Eichmanns als gewöhnlicher Deutscher abgebildet war. Der Zeichner A. Paul Weber widmete dem Schreibtischtäter, dem der Tod die Feder zur Unterschrift reicht, 1965 eine Lithografie. In Erwin Leisers Kompilationsfilm Eichmann und das Dritte Reich erschien Himmlers Judenreferent 1961 als Repräsentant des logistischen Systems der Judenverfolgung. Ähnlich sah dies 1982 Heinar Kipphardt in seinem Theaterstück Bruder Eichmann, einer als Entdämonisierung Eichmanns konzipierten „Topographie eines bürgerlichen Pflichtmenschen“. Medial populär wurde Eichmann in Deutschland einmal mehr durch Guido Knopp, der in diversen Sendungen die Bilder Eichmanns – ob Reproduktionen von Fotografien, Standbilder und Passagen aus zeitgenössischen Filmen, Abklammerungen aus älteren Fernsehdokumentationen oder selbst in Auftrag gegebene Spielszenen – gleich mehrfach vermarktete und damit die weitere Ikonisierung des Mannes im Glaskasten beförderte. Etwas Ähnliches wie bei Eichmann zeigte auch der Diskurs über den AuschwitzKommandanten Rudolf Höß. Auch ihm gingen Historikerzunft und Medien auf den Leim und übernahmen zum Teil naiv dessen Selbstdeutungen. Höß, so etliche Historiker, sei ein eher durchschnittlicher, kleinbürgerlicher, keineswegs bösartiger Mann gewesen, ausgestattet mit Sekundärtugenden wie Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein und Naturverbundenheit. Diese Eigenschaften hätten ihn indes nicht vor Inhumanität, Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern und einer totalen Ausblendung jeglicher Moral und Ethik bewahrt. (I/153) Massenmediale Breitenwirkung fand diese Deutung 1977 durch Theodor Kotullas semidokumentarischen Spielfilm Aus einem deutschen Leben mit Götz George in der Hauptrolle des Rudolf Höß nach dem Roman Der Tod ist mein Beruf von Robert Merle. Der Kommandant von Auschwitz erschien als völlig gewöhnlicher Mann und Familienvater, dessen Biografie sich kaum von der von anderen Deutschen seiner Zeit unterschied.

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[I/153] Aus einem deutschen Leben, Kinoplakat (1977)

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Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zwischen 1963 und 1968 brachen insofern mit diesem Bild, als ‚Befehl und Gehorsam‘ nun erstmals als Entschuldungsgrund ausgeschlossen wurden und nachgewiesen werden konnte, dass kein einziger SSMann mit dem Tode bestraft worden war, der sich Vernichtungsbefehlen verweigert hatte. (I/154) Zudem zeigten die Prozesse einmal mehr ‚ganz normale Männer‘, wie sie jeder kannte. Die Prozesse markierten auch insofern eine Zäsur, als nun erstmals die überlebenden Opfer selbst ausführlich zu Wort kamen und im Bild sichtbar wurden. (I/155) Typisch und geradezu stilbildend für den weiteren Täterdiskurs seit den 1970er Jahren wurde das in unzähligen Schulbüchern und Magazinen abgedruckte sowie in Museen und Ausstellungen oft gezeigte Foto des polnischen Fotografen Stanislaw Mucha nach der Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Das Bild von der Rampe des Vernichtungslagers Birkenau mit dem [I/154]

[I/154] Polizeifoto von Oswald Kaduk, Angeklagter im Frankfurter Auschwitz-Prozess, Kripo Frankfurt/M. 1960

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[I/155] Titelblatt DER SPIEGEL, 6/1979; nach einem Foto von Stanislaw Mucha

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Torhaus im Hintergrund zeigte weder Täter noch Opfer noch die Tat. Vielmehr suggerierte es entsprechend der strukturalistischen Deutung des Holocaust als Ausdruck der Moderne eine hochindustrialisierte, gleichsam selbsttätige Tat auf der Basis einer ganz Europa überspannenden Logistik, deren Gleise in Birkenau endeten. Die Entortung des Verbrechens, die sich in dem Bild zeigte, war die Ergänzung zum deutschen Leidens- und Opferdiskurs. War der Mord an den europäischen Juden, die konkrete Tat, im Fernsehen Anfang der 1950er Jahre noch eine Leerstelle gewesen, so änderte sich dies seit der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Einen ersten Wendepunkt in der visuellen Erinnerungskultur bildete 1955 der französische Dokumentarfilm Nacht und Nebel (Nuit et Brouillard) von Alain Resnais, der erstmals den Ort des Genozids, das Lager, und die Ergebnisse des Tötens, die Leichenberge und sonstigen Hinterlassenschaften der Ermordeten, auch optisch in den Fokus nahm. Hatte die Bundesregierung noch 1956 gegen die Aufführung des Filmes bei den Filmfestspielen in Cannes interveniert, wurde er seit 1957 gleich mehrfach im deutschen Fernsehen gezeigt, erstmals am Gründonnerstag 1957 durch den Bayerischen Rundfunk. Für etliche der um 1940 bzw. 1950 Geborenen wie der späteren Terroristin Gudrun Ensslin wurden die Bildsequenzen des Films zu einschneidenden biografischen Erlebnissen, gleichsam zu Schlüsselbildsequenzen. ( I/109) In ihrem Film Die bleierne Zeit von 1981 ließ Margarethe von Trotta die Vorführung von Resnais’ Film 1958 – selbst minutenlang in Bild und Ton zitiert – bei einem evangelischen Jugendabend zum politischen Erweckungserlebnis der Schwestern Ensslin werden. Einen weiteren Bruch mit der frühen Visualisierungspraxis des Holocaust bedeutete 1960 Fritz Umgelters Verfilmung des Romans von Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree, für das deutsche Fernsehen, in dessen erstem Teil der Regisseur in langen Einstellungen eine konkret stattgefundene Massenerschießung von Juden durch die SS mit Unterstützung von deutschen Ordnungspolizisten sowie lettischen Hilfswilligen in Szene setzte und von einem Wehrmachtssoldaten beobachten und in Tagebucheintragungen und Fotografien festhalten ließ. Erstmals deutete ein Regisseur auch in Bildern an, dass die Wehrmacht strukturell in die Vernichtungspolitik des NS-Regimes involviert gewesen war. In der, was den Holocaust betraf, weitgehend bilderlosen Adenauerzeit bedeutete Umgelters Film einen Tabubruch. Für viele Zuschauer war er ein schockierendes Fernseh-Erlebnis. Dementsprechend heftig und kontrovers wurde über ihn diskutiert. Die zeitgenössische Kritik lobte Umgelter vor allem wegen seiner „einprägsamen Bilder“. Der Tagesspiegel konstatierte: „Die entsetzliche, die furchtbare, zu schnell vergessene Wahrheit sprang die Menschen vor dem Bildschirm an.“ Für den Kritiker des Telegraf war die Darstellung des Mordens so stark, „daß der Schlaf nicht kommen wollte“. Die Süddeutsche Zeitung wertete den Film als die „furchtbarste Anklage […], die es je auf einer Leinwand oder einem Bildschirm gegeben“ habe. In der Sparte Fotografie war es vor allem Gerhard Schoenberners Bilddokumentation Der gelbe Stern von 1960, die erstmals Fotografien der Tat und der Opfer in den Mittelpunkt einer Printpublikation rückte, darunter ebenfalls etliche der

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­ ekannten Ikonen wie das erwähnte Foto des Torhauses von Birkenau, die Aufb nahme eines entkleideten jüdischen Mädchens im Rinnstein in Lemberg, die Bild­sequenz der Frauen vor der Massenexekution in Libau, die Bilder von der Erhängung von jungen Partisanen in der Sowjetunion, Fotos von der öffentlichen Erschlagung von Juden in Kowno, die Bilderfolge eines Angehörigen des Sonderkommandos Auschwitz-Birkenau von Leichenverbrennungen usw. Schoenberners Absicht war es, den Betrachtern die Fotografien „als Selbstbild der Täter und als Abbild der Tat zu zeigen“ (Habbo Knoch) und sie zum Hinsehen und Mitfühlen zu zwingen. Trotz aller Kritik, die das Buch später erfuhr, stellte es nach den Jahren der visuellen Amnesie ein Bilderreservoir bereit, das die Tat erstmals umfassend veranschaulichte. Versucht man den über Print- und Bildmedien erzeugten Bilderhaushalt zum Holocaust am Vorabend der Ausstrahlung des US-Mehrteilers Holocaust 1979 zu beschreiben, so ergibt sich das Bild eines lückenhaften Mosaiks, bestehend aus vielen Einzelbildern und einigen wenigen ikonischen Bildern, die optisch hervortreten. Oft handelte es sich um abstrakte, menschenleere Sachbilder, zumeist Ansichten von Konzentrationslagern, und Synonymbilder wie die Fotografien der Krematoriumsöfen und Leichenberge, in denen die eigentliche Tat einschließlich der Täter und Opfer ausgespart blieb. Der Entstehungskontext sowie der innere Zusammenhang dieser Bilder waren nicht erkennbar, vor allem waren sie nicht mit den handelnden Menschen verbunden. Andere Ereigniskomplexe der Gesamttat wie die ‚Euthanasie‘- Verbrechen und die Zwangsarbeit kamen in diesen Bildproduktionen nicht vor. Vor allem aber: Die publizierten Bilder fügten sich zu keinem Gesamtbild des Holocaust zusammen. Eine „erinnerungskulturelle Wende“ (Harald Schmid) bzw. eine „medien- und erinnerungsgeschichtliche Zäsur“ (Frank Bösch) bedeuteten dann erst die Fernsehbilder des fiktionalen Vierteilers Holocaust. Schaut man sich die Vielzahl der in der Bundesrepublik seit 1945 publizierten Spielfilme sowie die Bild- und Fernsehdokumentationen in ihrer Gesamtheit an, lässt sich feststellen, dass trotz aller Unzulänglichkeiten und Verspätungen kein ­Genozid in der Geschichte visuell so umfassend thematisiert worden ist wie der Massenmord an den Juden Europas. Seine Bilder schrieben sich so tief in das ­visuelle Kollektivgedächtnis der Deutschen ein, dass sie 1999 gar als Legitimation für den ersten Kampfeinsatz einer rot-grünen Bundesregierung in einem Krieg herhalten mussten.

Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsheimkehrer Die Ästhetik von Verlust und Opfer Noch vor der Gründung der Bundesrepublik hatte sich eine eigenständige „Ästhe­ tik des Verlusts“ (Elisabeth Fendl) und des Opfers herauszubilden begonnen, die die Schreckensbilder des Holocaust überschrieb und einen deutschen Opfer­ diskurs begründete, der die Geschichte der Bundesrepublik bis in die Gegenwart begleitet. Zu Ikonen des kollektiven Bildgedächtnisses gerieten dabei vor allem Bilder von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, Fotografien und Skulpturen der

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­ chmerzens-Mutter, die auf der Flucht ihre Kinder beschützt, das Bild des FlüchtS lingstrecks sowie die im Lager Friedland ankommenden Spätheimkehrer aus ­sowjetischer Kriegsgefangenschaft. (I/156) Prototypen des Bildes des Flüchtlings und des Heimatvertriebenen waren zwei von der Deutschen Bundespost in einer Gesamtauflage von jeweils 50 Millionen Exemplaren 1955 bzw. 1965 gedruckte Briefmarken. Sie zeigen auf rötlich-braunem bzw. grauen Untergrund im Stil der gemäßigten Moderne eine Gruppe von fünf sich gegen starken Wind stemmende Personen mit Rucksäcken, darunter ein Kind. Ihre Fluchtbewegung strebt aus dem Off am rechten Bildrand in eine offene Zukunft am linken Bildrand. Damit symbolisierte sie eine Bewegung aus dem Osten in Richtung Westen. Aus der Flut der Briefmarken ragte das Motiv des Trecks und des gewaltsam erzwungenen Fußmarsches auch insofern heraus, als es eine der ­seltenen Visualisierungen eines politischen Themas auf bundesdeutschen Briefmarken darstellte. [I/156]

[I/157]

Flucht und Vertreibung [I/156] 20-Pfennig-Briefmarken, Deutsche Bundespost (1955 u.1965); [I/157] Erich Jaeckel, Mutter der Vertriebenen, Skulptur Königstein i.Ts. (1952); [I/158] Flüchtlingstreck auf verschneiter Straße in der Lausitz, Aufnahme von Arthur Grimm vom Februar 1945 [I/158]

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Die Briefmarke von 1965 löste einen ‚Postkrieg‘ zwischen der Bundesrepublik und verschiedenen Ostblock-Staaten sowie der DDR aus. Obwohl es im Bild selbst hierfür keinen Anlass gab, galt die Marke in den Ländern des Ostblocks als ‚revanchistisch‘. „Die Sowjet-Union und die Tschechoslowakei schicken Briefe mit der Vertriebenenmarke zurück, Polen beschlagnahmt solche Sendungen, die DDR überpinselt die Marke mit Farbe, stellt die Briefe aber zu, und selbst Rotchina reiht sich solidarisch in die Front der Briefmarken-Verfolger ein und verweigert per Stempel die Annahme der ‚timbre-poste réactionnaire‘“, notierte der SPIEGEL.103 Anlehnend an Bildmuster der christlichen Kunst, wurde das Thema Flucht und Vertreibung immer wieder auch anthropologisierend in Bildern des Leidens-Menschen und der Schmerzens-Mutter visualisiert, oftmals gekoppelt mit einer christlichen Büßersymbolik, so etwa in einer 1945 von Hilmar Pabel aufgenommenen und oft reproduzierten Fotografie einer Flüchtlingsfrau mit ihren Kindern oder in Skulpturen wie (I/157) der ‚Mutter der Vertriebenen‘ aus dem Jahr 1952 – der sogenannten Schutzmantelmadonna – des Bildbauers Erich Jaeckel. Unübersehbar war bei Pabel wie bei Jaeckel das sakralisierende Moment, welches das zeitgenössische Motiv mit dem seit dem 12. Jahrhundert verbreiteten Bild der das Jesuskind auf dem Arm tragenden und sich ihm liebevoll zuwendenden Maria verknüpfte. Die schützende Mutter, die zugleich als Symbol der Heiligkeit, der Unschuld und Verletzbarkeit galt, schien sich der verunsicherten Nation zu erbarmen. (I/158) Zu fotografischen Ikonen der Vertreibung gerieten Bilder von Vertriebenen und Flüchtlingen mit Leiterwagen, Karren und Pferdewagen, oft in Schnee und Eis, sowie von Menschen mit Rucksäcken und Koffern auf der Flucht, d. h. Bilder von Flüchtlingstrecks. Zu diesen gesellten sich Bilder von Kriegsgefangenen und Heimkehrern. Gerade „Kriegsgefangene boten als Repräsentanten eines verlorenen, aber sauberen deutschen Krieges ein vielfältig besetzbares Bild, das Kriegsleiden, heroisches Aushalten und antikommunistische Selbstrechtfertigung beinhaltete“.104 Die visuelle Umdeutung des geschlagenen Wehrmachtssoldaten in den heroischen, kulturell überlegenen deutschen Kriegsgefangenen bediente neben den ‚gelben Blättern‘ vor allem der 1959 vom WDR ausgestrahlte sechsteilige Fernsehroman So weit die Füße tragen über die mehrjährige Flucht eines deutschen Soldaten aus sowjetischer Gefangenschaft – im Film verkörpert durch den Schauspieler und späteren Traumschiff-Kapitän Heinz Weiss. Der Film brachte in vielerlei Hinsicht die vorherrschenden Werte und Wahrnehmungen der Zeit zum Ausdruck: „So erscheinen als eigentliche Opfer des Krieges die gefangenen deutschen Soldaten, deren moralische und kulturelle Überlegenheit sich freilich gerade unter den brutalen Bedingungen der sowjetischen Lagerherrschaft erweist. Überkommene nationale und ethnische Stereotype werden auf den Frontverlauf des Kalten Krieges übertragen, so dass nicht nur an der ‚politisch korrekten‘ antikommunistischen Botschaft kein Zweifel aufkommt, sondern zugleich ein nationaler Mythos inszeniert wird, der den Wiederaufstieg Deutschlands durch den Rekurs auf vermeintliche nationale Tugenden wie Stolz, Zähigkeit und Disziplin in Aussicht stellt.“105

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[I/159]

[I/159] Robert Lebeck, Heimkehrer Willi Aderholt mit Mutter und Sohn, Friedland 1955

Neben das Bild des Kriegsgefangenen trat seit 1955 das Bild des Heimkehrers, der primär in seiner zivilen Rolle als Ehemann, Vater oder Sohn und erst sekundär als geschlagener Soldat dargestellt war. Zu Ikonen des Heimkehrerdiskurses wurden die Aufnahmen von Robert Lebeck 1955 aus Friedland wie die aus leichter Obersicht aufgenommene Fotografie hagerer, ernster Männer, denen die Qualen der jahrelangen Gefangenschaft in sowjetischen Lagern förmlich am Gesicht abzulesen sind, (I/159) sowie das stimmungsvolle Bild einer Mutter, die ihren sichtlich gealterten Sohn in die Arme nimmt, ohne dass bei beiden Freude aufzukommen vermag. In Bildern wie diesen konnten sich die Deutschen-West kollektiv als Opfer des Krieges fühlen. Durch die radikale Abstraktion von all dem, was diese Männer zu verantworten hatten, wurden die Bilder zugleich zu Medien der Verdrängung. Im Schatten dieses Bilderkorpus von Flüchtlingen und Vertriebenen, von Kriegsgefangenen und Spätheimkehrern blieben – ganz im Unterschied zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – Aufnahmen von Versehrten des vergangenen Krieges (I/160) wie jenes Bild von Heinz Hering, einem Fotografen der Münchner Illustrierten, aus den frühen 1950er Jahren. Bilder von sogenannten ‚Gesichtsversehrten‘, wie sie Ernst

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[I/160] Heinz Hering, Kriegsversehrter mit Tochter (1951)

Friedrich in seinem erschütternden Anti-Kriegsbuch Krieg dem Kriege nach dem Ersten Weltkrieg gesammelt und publiziert hatte und die es auch nach 1945 gab, bekam die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht zu sehen. Sie stießen mehrheitlich auf eine Front aus Ekel, Grusel und Ablehnung. Die Schilderung ihres Schicksals blieb der Literatur wie dem 1962 veröffentlichten Roman Das geschenkte Gesicht von Heinz G. Konsalik vorbehalten.

Stacheldraht, Mauern, Durchlässe Zur Ikonografie des Totalitarismus Der Kalte Krieg war auch ein Kampf der Bilder. Zu Recht ist daher vom „Kalten Krieg der Mauer-Bilder“ (Elena Demke) gesprochen worden. In diesem Bilderkrieg, in dessen Kern es um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ging, kommunizierten die Bilder-Ost regelrecht mit den Bildern-West. Zur visuellen Auseinandersetzung um Mauer und Stacheldraht zählte auch die Tatsache, dass den Bildern und Symbolen der Teilung von Anbeginn an solche der Überwindung der Teilung und der Wiederherstellung von Einheit entgegengesetzt waren. Stacheldraht, Wachturm und Mauer waren mehr als Sperranlagen, mit denen die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ihre Lagerkomplexe im Inneren wie ihre Grenzen nach außen markierten und sicherten. Sie waren mehr als Instrumente der Exklusion und Inklusion sowie der Beobachtung und Kontrolle. Im Kalten Krieg fungierten sie ähnlich wie die Bilder der Atompilzwolken zugleich als Symbole, Metaphern und Ikonen einer antitotalitären Publizistik, die imaginäre Grenzen und Räume in den Köpfen der Menschen erzeugten sowie Sichtweisen auf Gegenwart und Vergangenheit beeinflussten und sich z. T. tief ins Bildgedächtnis der Zeitgenossen eingruben.

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Realiter bezeichneten Stacheldraht, Wachturm und Mauer Grenzen: Grenzen von Lagern im Inneren sowie Stadt- und Staatsgrenzen gegenüber potenziell feindlichen Nachbarn nach außen. Damit Grenzen ihre Funktionen erfüllen können, bedurften sie neben materieller Sicherung immer auch visueller Programme der Sichtbarkeit. Zu diesen zählten zur Zeit des Kalten Krieges die Bilder und Symbole von Stacheldraht, Wachturm und Mauer. Zunächst fungierten diese ganz real als Abschreckungs- und Drohmittel gegen die Menschen in der abgeriegelten DDR. Alle diejenigen, die nicht entlang der Sperranlagen lebten bzw. sie als Flüchtlinge real überwunden hatten, kannten Stacheldraht und Mauer nur als Bilder aus den Medien, somit als visuelle Konstruktionen. Stacheldraht, Wachturm und Mauer konturierten Raum-Bilder im Kopf, die horizontal wie vertikal einen imaginären politischen Raum erzeugten. Als mit hoher Assoziationskraft ausgestattete Symbole der Teilung und der Kontrolle fungierten sie als Weg- und Ortsmarkierungen, als Grenz- und Höhenlinien auf der „mentalen Landkarte“ (Leo Schmidt) der Wahrnehmung. Sie waren Markierungen von Gut und Böse, von Demokratie und Unterdrückung, von Leben und Tod. (I/162) Zum Teil bedienten sich die Visualisierungsstrategen dabei wie schon vor 1945 konkreter Karten. Wie auf diesen blieben die realen Bewohner dieser imaginären Räume schemenhaft und gesichtslos. Nur wenige Repräsentanten der Repression sowie Opfer der Teilung ragten mit Namen und Bild aus der kulturellen Topografie der Teilung heraus. Aus der Perspektive der Visual History war vor allem der Stacheldraht ein zentrales Symbol des Kalten Krieges. Zu den Bestandteilen der visuellen Topografie des totalitären Zeitalters gehörten aber auch die Wachtürme, von denen aus Lager und Grenze überwacht wurden. Ikonografisch waren Stacheldraht, Wachturm und Mauer „Massensymbole“ (Klaus Theweleit), die bereits lange vor der deutschen Teilung existierten und das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Gewalt und der Extreme konnotierten. Lange bevor sie zu Bestandteilen der bildpropagandistischen Auseinandersetzung um die innerdeutsche Grenze wurden, waren sie Ausdruck der Realerfahrungen von Frontsoldaten, KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen gewesen. Dementsprechend handelte es sich bei ihnen auch später nie nur um wertneutrale Darstellungselemente, sondern immer schon um Bilder mit spezifischen Emotionen und einer eigenständigen Aura. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bildete der Stacheldrahtzaun, hinter dem ausgemergelte Menschen auf die Befreiung warten oder dem Tode entgegensehen, eines der häufigsten verwendeten Motive in Fotografie, Film, Malerei und politischer Grafik. Zahlreiche Aufnahmen aus der Zeit der Befreiung der Lager zeigten Gefangene hinter Stacheldraht. Zu regelrechten Ikonen der Befreiung gerieten einzelne Sequenzen und Standbilder aus dem Film der sowjetischen Befreier des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, die Kinder in Häftlingskleidern hinter Stacheldraht zeigten. Verlage verwendeten das Stacheldrahtmotiv als Symbol des NS-Terrors auf Umschlägen von Erinnerungsberichten von KZ-Überlebenden. Zum Gedenktag für die Opfer des Faschismus erschien 1946 das Plakat Nie vergessen, in dessen optischem Zentrum ein tot im Stacheldraht hängender Gefangener zu sehen war.

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Im Kampf um Wählerstimmen führten die politischen Plakate der Nachkriegszeit das Motiv des Stacheldrahts parteiübergreifend in die Bildsprache ein und nahmen damit eine Visualisierungspraxis der NS-Propaganda wieder auf. (I/161) Auf etlichen der von CDU/CSU und SPD plakatierten Blätter erschien die Sowjetunion bzw. der Kommunismus als durch Hammer und Sichel gekennzeichnete bzw. als durch Wachturm und Stacheldraht vom Rest der Welt abgeschirmte Fläche oder als riesiges Gefangenenlager. In diese Ikonografie bezog man seit 1947 die Darstellung der Zonengrenze bzw. der gesamten SBZ ein (I/162), wie auf dem Plakat Stalins Opfer mahnen des ‚Befreiungskomitees für die Opfer totalitärer Willkür‘, auf dem die DDR als dunkle, durch Stacheldraht strukturierte Fläche und damit als riesiges Lager dargestellt ist, in dem der Tod – als Skelett am rechten Bildrand aus dem Bild blickend – lauert. (I/163) In stilisierter Form fand das Stacheldrahtmotiv in einer von Nandor Glid für die KZ-Gedenkstätte Dachau gefertigten Skulptur 1968 Eingang in die offizielle Gedenkkultur der Bundesrepublik. Durch Bildauswahl und Inszenierung der Sperrelemente in Fotografie und Film wurde einerseits das Bild der Grenze mit der Vorstellung des Kriegsgefangenenlagers assoziiert, andererseits interpretierte die zeitgenössische Bildpublizistik den Grenzzaun in Analogie zu den NS-Konzentrationslagern. Für die Angehörigen der Tätergesellschaft repräsentierte der Stacheldraht anders als für die Verfolgten des NS-Regimes indes weniger das Schicksal der Juden und anderer NS-Verfolgter, sondern die Erinnerung an Kriegsgefangenschaft und alliierte Internierung. Außerdem bot das Motiv die Möglichkeit, die NS-Vergangenheit zu externalisieren und die Täterschaft auf die SED zu übertragen. Wachturm und Stacheldraht fügten sich sprachlich und bildlich im Begriff des ‚Eisernen Vorhangs‘ zusammen  – ein Begriff, der seit 1920 die noch imaginäre Grenzlinie zum bolschewistischen Russland bezeichnete und 1945 auch von Goebbels benutzt worden war, der vor einem ‚Eisernen Vorhang‘ warnte, der nach einer militärischen Niederlage des Deutschen Reiches über Europa niedergehen werde. Bilder der westdeutschen Grenzinformationen stellten den ‚Eisernen Vorhang‘ in den 1950er Jahren gern als ein System von Wachturm und Stacheldraht dar, um Assoziationen mit Kriegsgefangenen- oder Konzentrationslagern zu wecken. Durch farbige Bildpostkarten wurde die Vorstellung eines Deutschland und Mitteleuropa teilenden ‚Eisernen Vorhangs‘ im kollektiven Bildgedächtnis verankert. Das Lagerdenken des Kalten Krieges liebäugelte auf beiden Seiten des ‚Eisernen Vorhangs‘ mit Mauer und Stacheldraht, hinter denen das Fremde und das Nichtdazugehörige ‚ausgesondert‘ wurde. Niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, hatte Walter Ulbricht auf der viel zitierten Pressekonferenz am 15. Juni 1961 verkündet und die Mauer um Berlin zwei Monate später dann doch bauen lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Strategen des Kalten Krieges in der Bundesrepublik die Mauer in ihren Köpfen zumindest visuell längst errichtet: als steinernen Damm gegen die drohende ‚rote Flut‘ – (I/164a) ein Motiv, das bereits aus der frühen Republik von Weimar stammte und von der katholischen Zentrumspartei benutzt worden war. (I/164b) Bereits zur Wahl des ersten deutschen Bundestages 1949 warb die CDU mit einem Plakat, das die Partei Adenauers als mächtigen Damm gegen die aus dem

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Stacheldraht und Tod [I/161] CDU-Plakat, Bundestagswahl (1953); [I/162] Plakat des ‚Befreiungskomitees für die Opfer totalitärer Willkür‘ (1951/52); [I/163] Skulptur von Nandor Glid für die KZ-Gedenkstätte Dachau (o. D.)

Osten anrollende, durch Hammer und Sichel identifizierte ‚rote Flut‘ visualisierte. Während die Flut vom linken Bildrand und geografisch damit unkorrekt aus dem Westen drohte, hatte ein anderes CDU-Plakat zur selben Wahl die CDU als „Bollwerk der Heimat“ gegen die ‚rote Gefahr‘ aus dem Osten optisch richtig ins Bild gesetzt. Die Gefahr kam fortan immer vom rechten Bildrand her. (I/164c) Im Vorfeld der Pariser Verträge über den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO war es das Komitee ‚Sichert Heimat und Freiheit‘, das einen gemeinsamen europäischen Damm

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Dämme gegen rote Flut [I/164a] Zentrumspartei, Wahlplakat (1920); [I/164b] CDU-Wahlplakat, Bundestagswahl (1949); [I/164c] Plakat des ‚Komitees Sichert Heimat und Freiheit‘ (1952); [I/164d] Plakat des ‚Deutschen Wahlblocks‘ zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein (1950)

gegen die anschwellende ‚Flut‘ aus dem Osten forderte. Auf einem Plakat erschien die Bundesrepublik als der letzte und entscheidende Stein, der den Damm gegen die Flut des Kommunismus schloss. (I/164d) Und auch regionale Wählerbündnisse wie der Deutsche Wahlblock in Schleswig-Holstein bedienten sich des Motivs. Bildpublizistisch hatte auch die Wehrmachtspropaganda 1941 einen Damm gegen den Bolschewismus errichtet. Auf einem für den Einsatz in der Ukraine werbenden Plakat im Rahmen der ‚Aktion Blutmauer‘ waren es Wehrmachtssoldaten, die  – wie es die Propaganda nannte – eine ‚Blutmauer‘ zur Verteidigung Osteuropas gebildet hatten. Das Blatt zeigte zwei deutsche Soldaten, die mit Maschinengewehr und bajonettbepflanzter Waffe eine Mauer verteidigen, die sich von Leningrad im Norden bis nach Stalingrad im Süden zieht. Hinter dieser Linie türmten sich Berge erschossener sowjetischer Soldaten auf. Das Bild vom Damm gegen die ‚rote Flut‘ als Sicherungseinrichtung gegen den Bolschewismus war somit keine Erfindung des Kalten Krieges; es wurzelte vielmehr in älteren Ängsten. Die Berliner Mauer war somit nicht einfach nur eine ostdeutsche Gefängnismauer, sondern – wie bereits Klaus Theweleit betont hat  – „eine tiefgemeinsame ost/westdeutsche Co-Produktion, notwendig für beide Seiten zur Abspaltung des jeweils tief Verdrängten“.106 Bevor die Mauer real gebaut wurde, war sie mental auf westdeutscher Seite in den Köpfen längst errichtet worden. Der Bau der Berliner Mauer machte diese dann auch real zu einem Bauwerk des Kalten Krieges. Materialiter bestand diese neben einer zunächst noch mit Stacheldraht bekrönten Vorderland- und einer Hinterlandmauer aus Gräben, Selbstschussanlagen sowie einem breiten, von Wachtürmen einsehbaren Schussfeld: dem ‚Todesstreifen‘. Aber auch die Berliner Mauer war mehr als nur ein materielles Sperrwerk. Sie war immer auch „ein weltweit präsentes Bild, eine Metapher, sogar eine Ikone“.107 Aus östlicher Perspektive war sie ein Bild der Entschlossen-

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heit und der Abschreckung und ein politisches Statement. Anders die bundesdeutsche Perspektive: Mit den Bildern von Mauer und Grenze sollte den Bundesbürgern vor allem die Überlegenheit des eigenen politischen Systems demonstriert werden. Wie schon in den Stacheldrahtbildern blieben die Menschen jenseits der Mauer eigentümlich konturlos. Wenn sie überhaupt einmal ins Bild gerieten, erschienen sie allenfalls als gesichtslose Masse oder als Schattenrisse, kaum einmal als konkrete Menschen. Eine durchdachte, gar einheitliche Bildpolitik der Bundesregierung war nach dem 13. August 1961 zunächst nicht zu erkennen. Der Berliner Senat und die private Initiative ‚Arbeitsgemeinschaft 13. August‘ (später: Haus am Checkpoint Charlie) um Rainer Hildebrandt favorisierten schon früh eine Kommunikationsstrategie der Sichtbarmachung nach dem Motto ‚Die Mauer spricht für sich selbst‘. Diese setzte im Wesentlichen auf Bilder von Mauertoten und auf dramatische Fluchtschicksale. Sie rückte die Mauer als „Bauwerk der Unmenschlichkeit“ in Szene. Um dieser Botschaft sinnfälligen Ausdruck zu verschaffen, waren Bilddokumente gefragt, die Menschen in schicksalhaftem Kontakt mit der Mauer zeigten, z. B. Menschen, die tragisch an ihr scheiterten, wie (I/165) Peter Fechter, oder sie wie ( I/89) Conrad Schumann heldenhaft überwanden. Als Stellvertreter aller gelungenen bzw. misslungenen Fluchten prägten beide Fotografien jahrzehntelang das kollektive Bildgedächtnis zu Stacheldraht und Mauer. In der politischen Grafik löste die Berliner Mauer sukzessive Stacheldraht und Wachturm ab, so auf dem Plakat der FDP Deutschland ohne Mauern zur Bundestagswahl 1961, auf dem sich die DDR nun vollständig eingemauert hatte. In dem Maße, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden Europas das öffentliche Bewusstsein der Deutschen-West erreichten, wurde die DDR nun mit der SS-Herrschaft verknüpft. Seit August 1961 bezeichnete die Springer-Presse den anderen deutschen Staat als ‚KZ DDR‘, die Grenzpolizisten als ‚Ulbrichts SS‘ und die Mauer als ‚Ulbrichts KZ-Mauer‘. Bildassoziationen fundierten visuell die schiefe Gleichung DDR = KZ = Judenmord und damit implizit auch die Relativierung des Holocaust als singuläres historisches Ereignis. Im Frühjahr 1963 stellte so etwa die Illustrierte Berliner Zeitung Fotos von der Niederschlagung des Warschauer Gettoaufstandes von 1943 Aufnahmen einer Flucht an der Mauer gegenüber, bei der ein Flüchtling schwer verletzt wurde. Der Tagesspiegel druckte zum dritten Jahrestag des Mauerbaus auf seinem Titelbild eine Fotografie ab, die Straßenbahnschienen zeigte, die vom Potsdamer Platz zur Mauer führten. Unweigerlich evozierte das Bild beim Betrachter das berühmte Foto von Stanislaw Mucha vom Torhaus AuschwitzBirkenau ( I/155). Die visuellen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus besaßen erinnerungspolitisch eine doppelte Funktion. Einerseits bildeten sie einen „visuell-ikonographischen Subtext der Diskussionen um das Grundgesetz und des Bemühens um eine öffentliche Akzeptanz einer Demokratie, die sich besonders auf die Freiheitssicherung gegenüber totalitärer Gewalt stützte“,108 andererseits implizierten sie das Angebot, in der Abgrenzung zum anderen Teil Deutschlands die eigene Vergangenheit zu exterritorialisieren.

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Ikone der deutschen Teilung: Tod an der Mauer [I/165]

[I/165] Wolfgang Bera, Aufnahme vom 17.8.1962, so publiziert am 18.8.1962 auf der Titelseite der Berliner Morgenpost

Am frühen Nachmittag des 17. August 1962 macht der junge Springer-Reporter Wolfgang Bera einige Aufnahmen, die zu Ikonen der deutschen Teilung werden sollten. Diese zeigen den angeschossenen, schwer verletzten 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter aus Berlin-Weißensee unmittelbar hinter der Mauer an der Ecke Zimmerstraße/Charlottenstraße, unweit der für Alliierte zuständigen Grenzübergangsstelle Friedrichstraße, des ‚Checkpoint Charlie‘. Wie für einen Reporter üblich, macht Bera gleich mehrere Aufnahmen des Sterbenden. Zur Entstehung seiner Aufnahmen hat sich Bera 1997 so geäußert: „Ich wollte damals zur BILD-Redaktion an der Kochstraße. Plötzlich peitschten Schüsse. Ich rannte zum Ruinengrundstück an der Zimmerstraße. Nichts zu sehen.

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Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich im 4. Stock im Haus gleich auf der Ostseite eine alte Frau. Sie zeigte mit dem Finger auf die Mauer neben mir. Zog die Gardine schnell wieder zu. Ich verstand sofort. Da musste einer liegen. Ich kletterte an der Mauer hoch. Die war damals noch aus Ziegeln gemauert. Obendrauf Moniereisen mit Stacheldraht. Da sah ich ihn: Ein junger Mann, direkt unter mir. Er fiel von der Seite auf den Rücken. Mit einer Hand hielt ich meine Leica M2 hoch und drückte ab. Ich rannte zu den Amis am Checkpoint Charlie, bat um Hilfe: Auf Alliierte durfte ja nicht geschossen werden. Doch der GI sagte: ‚Nicht unser Bier.‘ Scheinbar endlos viel Zeit verging. Ich holte eine Leiter, ein Teleobjektiv. Konnte noch fotografieren, wie die vier Grenzer den Toten ­wegschleppten.“109 Beras Aufnahmen sind aus zwei Perspektiven gemacht: aus der unmittelbaren Nähe, bei der der Fotograf den Sterbenden in seinem Todeskampf ablichtet, einmal auf dem Rücken liegend, ein anderes Mal in Seitenlage, sowie etwa 50 Minuten später zusammen mit vier Grenzpolizisten. (I/166) Eine der Nahaufnahmen lässt erkennen, wie Bera seine Bilder ‚schoss‘ und wie nah er Fechter war. Auf ihr ist Beras rechte Hand zu sehen, mit der er sich zur Mauerkrone hochzieht, während er mit der anderen Hand den Auslöser seiner Kamera betätigt. Beras Aufnahmen sind nicht die einzigen vom Sterben an der Mauer. Vielmehr ist Fechters Tod ein Medienereignis, an dem mindestens fünf Medienakteure beteiligt sind, die sich zum Teil gegenseitig ins Bild geraten. ( I/89) Wie bei Conrad Schumanns spektakulärem Sprung in die Freiheit ein Jahr zuvor sind neben Bera weitere ­Fotografen und ein Kameramann beteiligt. Ein Fernsehteam der Nachrichtenagentur German Television News mit dem Kameramann Herbert Ernst dreht aus Anlass des Jahrestags des Mauerbaus unweit des Geschehens gerade eine Reportage über die Grenze. Schwaden einer Nebelgranate verraten ihm, dass ganz in der Nähe

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etwas Unvorhergesehenes passiert. Er eilt zu einem Beobachtungspodest und macht seine 16mm-Arriflex-Kamera bereit. Sekunden später schleifen vier Ost-Uniformierte den Sterbenden durch den ‚Todesstreifen‘ zum Grenzzaun. (I/167) Für etwa 40 Sekunden ist zu sehen, wie zwei Grenzpolizisten den leblosen Körper über den Stacheldraht des Grenzzauns heben, wie anschließend ein Volkspolizist, zu erkennen an dem Tschako, den leblosen Körper übernimmt und mit ihm die Charlottenstraße entlang, dem Kameramann den Rücken zugewendet, in Richtung Schützenstraße rennt, während Passanten auf der Ostseite der Mauer das Geschehen beobachten. Erstmals ist es einem Kameramann gelungen, den Tod an der Mauer in bewegten Bildern einzufangen. Der Tod von elf anderen bereits erschossenen Maueropfern nach dem 13. August 1961 ist bilderlos geblieben. Ernsts Aufnahmen gehen um die Welt. Sie werden ständig wiederholt. Sie sind heute – allerdings ohne Nennung des Autors – Teil der Dokumente über den Bau und den Fall der Berliner Mauer, die im UNESCO-Weltdokumentenerbe ‚Memory of the World‘ neben der Gutenberg-Bibel, Goethes literarischem Nachlass, Beethovens Neunter Sinfonie, den Hausmärchen der Brüder Grimm, dem Nibelungen-Lied, der Himmelsscheibe von Nebra usf. verzeichnet sind. Bei einem weiteren Fotografen, der von einem Beobachtungspodest an der Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße das Geschehen fotografiert, handelt es sich um den am

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‚Checkpoint Charlie‘ stationierten US-Soldaten Donald Mitchell, der privat fotografiert und die Abzüge später in sein Fotoalbum einklebt. Und schließlich fotografiert auch ein Angehöriger der Berliner Polizei aus fast derselben Perspektive wie Bera die Geschehnisse. Auch auf Ost-Berliner Seite wird fotografiert, so von Dieter Breitenborn, einem Redaktionsfotografen der Zeitschrift Neue Zeit, die im Union-Verlagshaus unmittelbar an der Mauer produziert wird. Breitenborn macht einige Aufnahmen aus dem 3. Stock des Gebäudes vom Abtransport des Sterbenden und den Medienakteuren auf der Westseite der Mauer, deren Abzüge ihm allerdings wenig später bereits von Stasi-Mitarbeitern abgenommen werden und erst nach 1989 das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Zeitgenössisch gelangen nur die Aufnahmen von Wolfgang Bera – (I/168) so die beschnittenen Nahaufnahmen des sterbenden Flüchtlings gleich am nächsten Tag in der BILD-Zeitung sowie die ebenfalls leicht beschnittene (I/165) Aufnahme vom Abtransport des Sterbenden in der ebenfalls zum Springer-Konzern gehörenden Berliner Morgenpost – zur Veröffentlichung. Dass ausgerechnet diese beiden Bilder Karrieren machten, hatte verschiedene Gründe. Zunächst waren es die einzigen Nahaufnahmen des Geschehens. Dann erinnerte die Aufnahme von der Bergung eines bewusstlosen Männerkörpers an einen in der christlichen Ikonografie feststehenden

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[I/166] Wolfgang Bera, Der schwer verletzte Peter Fechter, rechts die Hand des Fotografen

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Topos. Darüber hinaus schien besonders die Nahaufnahme des Sterbenden voyeuristische Bedürfnisse zu bedienen. Entsprach der Blick über die Mauer bis dato eher der Teichoskopie des antiken Dramas, bei dem über den Schrecken jenseits der Mauer berichtet wurde, ohne dass dieses aber selbst sichtbar war, so machte die Nahaufnahme von Bera nun erstmals einen unverstellten Blick auf den Schrecken jenseits von Mauer und Stacheldraht möglich. Im sicheren Sessel des Zeitungslesers und der Zeitungsleserin konnte man am Schrecken teilhaben, den man ja schon immer geahnt hatte. Gleichsam zur Natur von starken Ikonen der Zeitgeschichte gehört es, dass diese in unterschiedlichen Zusammenhängen zitiert und reproduziert werden, so auch in diesem Fall. Beras Aufnahmen wurden als Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum und in der Gedenkstättenkultur reproduziert, zweidimensional auf Buchdeckeln und dreidimensional als Skulptur, oder als öffentliches Reenactment verarbeitet, wie in der Performance The death of Peter Fechter des walisischen Künstlers Marc Gubb 2007. Der Fall des erschossenen Peter Fechter war kein besonderer Todesfall an der innerdeutschen Grenze. Zu diesem wurde er erst durch die veröffentlichten Bilder. Ein ähnlicher Fall wie der des Studenten Dieter Wohlfahrt, der am 9. Dezember 1961 in den Grenzanlagen in Berlin-Staaken angeschossen wurde und dort verblutete, blieb nur deshalb unbekannt, weil er bilderlos geblieben war. Angeheizt durch die Springer-Presse, lösten die Bildberichte des sterbenden Peter Fechter einen Sturm der Empörung und des Protests in West-Berlin aus, der sich gegen die DDR und ihr Mauerregime, aber auch gegen die untätigen West-Alliierten richtete und (I/169) sich zum Teil in Auseinandersetzungen auf der Straße und in Anschlägen Luft machte. [I/167] Standbild aus dem Film von Herbert Ernst; [I/168] BILD-Zeitung, 18.8.1962; [I/169] BZ, 20.8.1962

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Die Bildpolitik der Sichtbarmachung von Mauer und Stacheldraht barg indes immer auch Risiken, da sie potenziell die Teilung verstärkte, statt sie abzubauen. Mit der sich seit Ende der 1960er Jahre abzeichnenden Politik der Entspannung erwies sich die Darstellung der DDR als KZ und Todeslager zunehmend als dysfunktional. Zusätzlich ließ auch das mediale Interesse am Thema Mauer nach. Gefragt waren nun vielmehr Zeichen der Hoffnung und Überwindung. Mit der Großen Koalition und der Übernahme von Ministerämtern durch die SPD setzte eine optische Abrüstung in der Bildersprache des Kalten Krieges ein. Das herkömmliche Motiv des Stacheldrahts erschien als nicht mehr zeitgemäß. Die Befürchtung, die Skandalisierung der Mauer durch das beständige Zeigen von Bildern mit Mauertoten, die über das Westfernsehen ja auch in weiten Teilen der DDR zu sehen waren, könne die Abschreckungsfunktion der Mauer und ihren Propagandawert noch erhöhen, ließ andere Bilddiskurse ratsam erscheinen. Mit Beginn der 1970er Jahre verabschiedete sich die Bonner Bildpolitik vom Motiv des Stacheldrahts sowie insgesamt von offensichtlichen DDR-feindlichen Diskursen. Die Bilder und Symbole des Kalten Krieges hatten weitgehend ausgedient. Mit den nun möglichen Tagesfahrten in die DDR waren Bilder und Metaphern der Teilung weitgehend obsolet geworden. Mauer und Grenze sollten vielmehr als durchlässig erscheinen. Politisch waren jetzt Bilder der symbolischen Überwindung und der Begegnung angesagt. Die Mehrheit der Bundesbürger hatte zu dieser Zeit ihren Frieden mit Grenze und Mauer gemacht. Dies spiegelte der private fotografische Blick auf die Grenze wider. Waren in den 1960er Jahren vor allem Sperranlagen, Warnschilder, Beobachtungstürme und der Blick ‚nach drüben‘ bevorzugte Fotomotive gewesen, so rückte ab den 1970er Jahren verstärkt das Selbstporträt vor Stacheldraht und Mauer in den Fokus. Der Blickwechsel bedeutete auch eine Veränderung der Grenzwahrnehmung. Die Grenze war zur Kulisse und zur Sehenswürdigkeit geworden. Sie wurde „mehr oder minder als etabliertes Element deutscher Geschichte wahr­ genommen“.110 Auf die bisherige ‚Auratisierung‘ reagierten Organisationen, später auch Künstler und einfache Bürger mit einer visuellen Politik der „Grenzprofanisierung“. Durch sie verlor das gottgleiche Bild der Grenze zunehmend seine Aura. Den Bildern und Symbolen von Teilung und Trennung, von Überwachung und Abriegelung wurden nun verstärkt Bilder und Symbole sowie Bildpraxen der Verbundenheit und der Öffnung entgegengestellt, die z. T. selbst Ikonenstatus erhielten. Mit der seit 1975 errichteten vierten Mauergeneration, der ‚Grenzmauer 75‘, die zumeist aus weiß grundierten Betonsegmenten bestand und damit einen idealen Bilduntergrund lieferte, begannen Künstler und Normalbürger die dem Westen zugewandten Mauerteile zu bemalen. Einzelne bunte Graffitis hatte es bereits zuvor gegeben. Aber erst jetzt wurde die Mauer zur „Pop-Art-Mauer“ und zur „längsten Leinwand der Welt“. Unter dem Titel „Überwindung der MAUER durch Bemalung der MAUER“ fand 1983/84 ein vom ‚Haus am Checkpoint Charlie‘ organisierter Malwettbewerb unter Beteiligung internationaler Künstler statt. Mit genuin künstlerischen Mitteln setzten sich die Akteure dabei mit der Mauer als raumtrennender Herrschaftsarchitektur auseinander – so auch in der Malerei.

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( I/72) Auf dem Auftaktbild von Jörg Immendorfs Serie Café Deutschland von 1977

streckt der Künstler seine Hand durch die Mauer seinen Kollegen in der DDR entgegen, (I/170) ähnlich wie auf einem gleichsam prophetischen Gemälde von Matthias Koeppel aus dem Jahr 1979 mit dem Titel Niederreißung der Berliner Mauer. Beide Künstler verwenden das Motiv des Handschlags, der zentralen Pathosformel der SED-/DDR-Ikonografie, als Metapher der Überwindung. Auf der Westseite der Mauer entstanden optische Durchbrüche und illusionistische Aufsichten, die als Symbole der gedanklichen Überwindung der Mauer gedeutet werden können, als Versuche jedenfalls, sich nicht mit dem Gedanken einer ewig trennenden Mauer abzufinden. In der Tradition der Trompe-l’œil-Gemälde, jener illusionistischen Gemälde, die die Illusion eines Raumes erzeugten, entstanden Graffitis von imaginären Löchern und Durchbrüchen. (I/171) Ein solcher ‚Durchbruch‘ in der Bernauer Straße etwa machte den Blick auf die hinter der Mauer liegenden Sichtblenden und den Todesstreifen sowie auf ein weiteres Loch frei, das den Zugang nach Ost-Berlin öffnete. Neben dem imaginären Loch forderte seit 1973 eine Inschrift: „Erich rück den Schlüssel raus!“ Ähnliche Durchblicke durch die Vorderlandmauer auf die ebenfalls bereits zerbrechende Hinterlandmauer entstanden in der Niederkirchnerstraße und am Bethaniendamm. Imaginäre Türen wie die Installation Liberty Gate am Potsdamer Platz forderten die Betrachter auf, die Tür nach Osten aufzustoßen. (I/172) Berühmtheit erlangten 1986 die von Yadiga Azizy und Bernhard Strecker gestalteten Mauersegmente am Bethanienplatz. Die Wandmalerei der beiden Künstler zeigte einen Abschnitt der Hauptfassade der St.-Michael-Kirche am Heinrich-Heine-Platz im Bezirk Mitte. Im Trompe-l’œil des Bildes war der Unterbau der auf Ost-Berliner Seite liegenden Kirche zu sehen, der dem Blick des Westbetrachters in der Realität durch die Mauer entzogen war. Der über die Mauer ragende tatsächliche Kirch-

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Die Profanisierung der Grenze [I/170] Matthias Koeppel, Die Niederreißung der Berliner Mauer, Öl auf Leinwand (1979); [I/171] Mauer-Graffito Niederkirchnerstraße, Foto (1983); [I/172] Blick auf die Mauer mit einer Wand­malerei von Yadiga Azizy u. Bernhard Strecker, Fotografie (o. D.)

turm in der Ferne komplettierte den Unterbau der Kirche. Zumindest optisch war die trennende Mauer beseitigt. Als Mauersegment 75 steht der Mittelteil der Wandmalerei heute im Vatikan in Rom.

Rauchende Schlote, Fortschrittseier und harte Mark Ikonen des ‚Wirtschaftswunders‘ Den Bildern der braunen Vergangenheit, des Kalten Krieges und der deutschen Teilung standen von Anbeginn an positive Bilder gegenüber, die den Wiederaufstieg aus den Trümmern der Nachkriegszeit symbolisierten und den DeutschenWest das Gefühl vermittelten: ‚Es geht wieder aufwärts‘. ‚Wir sind wieder wer‘. Als ­Ikonen der Wirtschaftswunderwelt überschrieben sie die Bilder der Vergangenheit und machten die Bedrohungen des Kalten Krieges vergessen. Diesen positiv konnotierten Bildern wiederum standen spätestens seit Beginn der 1970er Jahre Bilder entgegen, die die Bildersprache der Wachstumseuphorie konterkarierten. Waren es im Kaiserreich Bilder nationaler Denkmäler und Heroen und in der Weimarer Republik Fotografien des technisch-mobilen Fortschritts gewesen, die kollektive Identitäten begründeten, so waren es nun vor allem Bilder wirtschaftlicher Prosperität, die den Bundesbürgern Identität und das Gefühl von wiedererlangter Normalität vermittelten. Wie zur Zeit der ersten Republik avancierten auch in der frühen Bundesrepublik zunächst vor allem Bilder des technisch-industriellen Wie-

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deraufbaus und Fortschritts zu Ikonen des kollektiven Bewusstseins. (I/174, 176, 177) Auf frühen Wahlplakaten von SPD, CDU und FDP, auf Broschüren und Kalendern oder in Werbefotografien waren es ganz konventionell rauchende Fabrikschlote, die von der beginnenden wirtschaftlichen Normalisierung kündeten. Rauchschwaden, die den Himmel über Ruhr und Saar verdunkelten, und Hochöfen, aus denen gelbe Abgase aufstiegen, galten wie im 19. Jahrhundert und zur gleichen Zeit in der DDR als sichtbare Zeichen industriellen Fortschritts und wiedererlangter wirtschaftlicher Potenz. Der Deutsche Bundesbahn-Kalender von 1950 symbolisierte so etwa mit

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Rauchende Schlote – Symbole des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs [I/173] Josef Heinrich Darchinger, Abgaswolke aus einem Stahlwerk in Duisburg, Fotografie (1958); [I/174] CDU-Plakat zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz (1951); [I/175] FDP-Plakat, ­Bundestagswahl (1951); [I/176] Josef Heinrich Darchinger, Völklinger Hütte, Fotografie (1960); [I/177] Heinrich Heidersberger, Kraftwerk der Volkswagen AG, Wolfsburg (1971); [I/178] SPD-­ Plakat, Bayern (1946)

dampfenden Güterzuglokomotiven und einer Hochofenkulisse, aus deren Kühltürmen gelbe, schwarze und weiße Rauchschwaden aufstiegen, dass es wirtschaftlich aufwärts ging. Großkonzerne warben mit Gegenlichtaufnahmen von Industriekulissen für ihre Unternehmen. Ökologie und Industrie schienen in allen diesen Bildern in harmonischem Einklang zu existieren. (I/178) Zum Teil wurden die Fabrikschlote wie auf einem SPD-Plakat direkt in wogende Kornfelder hinein platziert. (I/173, 176) Gleichsam zu industriellen Vorzeigestädten, die man immer wieder in Bildern präsentierte, entwickelten sich Duisburg am Rhein und Völklingen an der Saar, wo Industrieanlagen und Fördertürme unmittelbar aus den Innenstädten und Wohnvierteln herauswuchsen. Nach der ersten Rezession von 1966/67, die der wirtschaftlichen Entwicklung einen Dämpfer verpasste, und ersten Diskussionen über die Grenzen des Wachstums suggerierten Fotografien von Industriekulissen seit Beginn der 1970er Jahre nicht mehr einfach nur ungebremste Dynamik. Die Bilder erstarrten. Wenige Monate nach dem Erscheinen des berühmten Berichts des ‚Club of Rome‘ begegneten sich so etwa (I/177) in einer Aufnahme des Kraftwerks des Volkswagenwerks in Wolfsburg 1971 vom deutsch-österreichischen Industrie- und Architekturfotografen Heinrich Heidersberger – zur Zeit des ‚Dritten Reiches‘ Leiter der Bildstelle der ‚Reichswerke

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Hermann Göring‘ in Salzgitter und später Ehrenbürger der Stadt Wolfsburg  – die Utopie des industriellen Fortschritts und die sichtbar gewordene Dystopie des Stillstands. Neben Industriekulissen gehörten Bilder der neuen mobilen (Freizeit-)Gesellschaft zum Interieur der ‚Wirtschaftswunder‘-Welt. Zum Symbol individueller Mobilität und Freiheit wurden zunächst der in Deutschland in Lizenz gebaute Vespa-Roller, der als ‚Königin der Motorroller‘ beworben und zumeist von jungen rockoder bikinitragenden Frauen gefahren wurde, sowie der BMW-Kabinenroller Isetta, den der Volksmund liebevoll ‚Asphaltblase‘ oder ‚Knutschkugel‘ nannte.

Der ‚Käfer‘ in Fotografie, Kunst, Werbung [I/179] Josef Heinrich Darchinger, Sonntagsausflug in die Eifel, Fotografie (1957); [I/180] Christo, Wrapped Volkswagen (1963/2013); [I/181] VW-Werbeplakat (1955); [I/182] Heinrich Heidersberger, Käferzug, Wolfsburg, Fotografie (1961); [I/183] VW-Werbeplakat, Entwurf Donald Brun (1955); [I/184] VW-Werbung zum 50-jährigen VW-Jubiläum, Foto Charles Wilp (1985) [I/179]

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Die „Ikone des Wirtschaftswunders“ (Erhard Schütz) jedoch war der ‚Käfer‘, der Volkswagen aus Wolfsburg. Bildbände, Spielfilme und Heerscharen von ‚Knipsern‘ nahmen sich des Erfolgsautos an. Bereits 1949 war im Burda-Verlag der populäre Bildband Kleiner Wagen in großer Fahrt erschienen. (I/179) In Fotografien von Josef Heinrich Darchinger zum ‚Wirtschaftswunder‘ war der Volkswagen ein unverzichtbares Motiv. In Spielfilmen wie Natürlich die Autofahrer und Die Landärztin – beide von 1958 – fungierte der ‚Käfer‘ als das Symbol des ‚Wirtschaftswunders‘. 1969 produzierte Walt Disney mit The Love Bug (Dt.: Ein toller Käfer) einen Film über den Wagen aus Wolfsburg. Fotografien vom VW auf Reisen, die das Gefährt mit positiven Begriffen wie Urlaub und Abenteuer verknüpften, erlangten ikonischen Status. Bücher über den ‚Käfer‘ wurden zu Bestsellern. International bekannte Künstler wie (I/180) Christo, Don Eddy und Andy Warhol machten den Volkswagen zu Ikonen der Kunst. Mit Werbesprüchen wie ‚Er läuft und läuft und läuft‘ wurde der Wagen aus Wolfsburg nicht nur als grandiose Ingenieursleistung, sondern ebenso als nationales Prestigeprojekt, als wichtigster Botschafter der neuen Republik, beworben. (I/181) In aller Welt zieht man den Hut … titelte ein Plakat von 1955 und zeigte dabei eine Erdkugel, die aus Anerkennung vor dem Qualitätsprodukt aus Germany den Zylinder zieht. (I/183) Zu einem Klassiker der VW-Werbung avancierte Anfang der 1950er Jahre eine farbenfrohe Plakatserie des Schweizer Grafikers Donald Brun, die eine junge Frau mit ihrem Pudel vor und in ihrem neuen ‚Käfer‘ präsentierte, sowie (I/184) zu Beginn der 1960er Jahre das ‚Ei des Kolumbus‘ des Düsseldorfer Werbegenies Charles Wilp, der der Form des Volkswagens ein Denkmal setzte. (I/182) Ein beliebtes Motiv, das auch als Poster vertrieben wurde, war der sogenannte ‚Käferzug‘, der Transportzug mit neuen Wagen, die das VW-Werk in die Welt verlassen und in deren Dächern sich milde die Sonne spiegelt – hier fotografiert von dem Wolfsburger Fotografen Heidersberger. Ergänzt wurden die Ikonen des automobilen Zeitalters durch Bilder freier Autobahnen und überdimensionierter Verkehrsknotenpunkte wie dem Frankfurter Kreuz oder dem ‚Verkehrskreuz des Westens‘ bei Köln. Solche Bilder suggerierten Freiheit und Wohlstand. Vor allem aber schien das Erfolgsprodukt aus Germany sichtbar für jeden die internationale Anerkennung zu beglaubigen, die sich die Bundesbürger zehn Jahre nach Kriegsende wieder erworben hatten. (I/185) Zu Ikonen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts der frühen ­Republik gerieten seit 1957 die Bilder des ersten deutschen Kernkraftwerkes, des Forschungsreaktors München (FRM) – so sein offizieller Name – in Garching bei München. Im selben Jahr legte die Bundesrepublik das erste Atomprogramm auf. Zu den Bildern, die belegten, dass es wieder ‚aufwärts‘ ging und man sich etwas leisten konnte, gehörten schließlich auch Fotos vom sonnigen Dolce Vita unter italienischer Sonne in den oft noch eher an Schulbücher erinnernden Katalogen der großen Reiseveranstalter. „Wein und Sonne traten zunehmend an die Stelle von malerischen Ruinen und Zitronenblüten als Symbole des Südens. Als Kontrast zum arbeitsamen Alltag des ‚Wirtschaftswunders‘ versprach das Sehnsuchtsland Italien süßes Nichtstun und rauschende Feste.“ 111

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Fortschrittsikone: Das Atom-Ei von Garching Wegen seines auffälligen architektonischen Designs – einer weithin sichtbaren, 30 Meter hohen, silbrig schimmernden Kuppel in Form eines Eis – erhält der Garchinger Reaktor im Volksmund den Namen ‚Atom-Ei‘. Architekt der Anlage ist mit Gerhard Weber – von 1955 bis zu seiner Emeritierung 1974 Lehrstuhlinhaber für Entwerfen und Gebäudekunde an der TH München – ein bedeutender Industriearchitekt seiner Zeit, von dem das Verwaltungsgebäude der Farbwerke Hoechst in Frankfurt, die August-Thyssen-Hütte in Duisburg, aber auch die neue Staatsoper in Hamburg und das Funkhaus des Deutschlandfunks in Köln stammen. Mit ihrem klaren, sachlichen und funktionalen Design fügen sich Webers Bauten nahtlos in die architektonische Formensprache der jungen Republik ein. Fotograf der Aufnahme ist mit Gerhard Gronefeld ein ehemaliger Fotograf einer Propagandaeinheit der Wehrmacht, dessen Aufnahmen von der Erschießung von Geiseln im serbischen Pancevo noch von sich reden machen sollen.

In Deutschland-West existiert Mitte der 1950er Jahre die Hoffnung, mithilfe der Atomtechnik in ein neues Zeitalter vorzustoßen. Diese Vorstellung ist Parteien übergreifend. Wie groß die Erwartungen an die Atomenergie sind, lässt sich an den Aussagen von Franz Josef Strauß (CSU) ablesen, dem Chef des Ende 1955 eingerichteten ‚Bundesministeriums für Atomfragen‘. Strauß hält die Nutzung der Atomenergie für einen vergleichbar wichtigen Einschnitt in die Menschheitsgeschichte wie die „Erfindung des Feuers für den primitiven Menschen“. Die SPD will dem nicht hintanstehen und stellt 1956 einen eigenen Atomplan vor. Auch arbeitsmarktpolitisch ist die Hoffnung auf die Atomtechnik groß. Experten rechnen damit, in 25 Jahren werde jeder zweite westdeutsche Erwerbstätige in irgendeiner Form mit Atomenergie zu tun haben. Eine Informierung der Bevölkerung oder gar kritische Diskussionen im Vorfeld des Bauvorhabens unter den Bewohnern von Garching gibt es nicht. Niemals später wird

[I/185] Gerhard Gronefeld, Das ‚Atom-Ei‘ von Garching, Fotografie 1958 (beschnitten) [I/185]

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[I/186] Bayerns SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner mit Brennelement im Reaktor in Garching, Aufnahme vom 9.9.1957; [I/187] SPD-Plakat mit dem Konterfei Hoegners und dem ‚Atom-Ei‘ zur Landtagswahl in Bayern (1958)

ein Atomreaktor so schnell und unkompliziert geplant und in Betrieb genommen wie der Reaktor in Garching. Im Bund wie in Bayern herrscht in Atomfragen Parteienkonsens. In Bayern regiert mit Wilhelm Hoegner ein Ministerpräsident mit SPD-Parteibuch, der das Projekt in kürzester Zeit in seinem Kabinett durchboxt und später damit wirbt. Innerhalb eines knappen Jahres wird das markante Gebäude rund zwei Kilometer vom damaligen Ortsrand entfernt in die Landschaft gebaut. Im Januar 1957 ist bereits Richtfest. Das ‚Atom-Ei‘ ruft keine negativen Gefühle hervor. Es wird weder hinterfragt noch gar zu verhindern versucht. Skepsis gegenüber der Anlage gibt es nicht. Vielmehr überwiegt die Freude über die Standortentscheidung und die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Ortspfarrer sieht in der Atomenergie „ein Geschenk Gottes“. Das ‚Atom-Ei‘ besitzt einen symbolhaften Charakter für den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Das liegt nicht zuletzt an der markanten architektonischen Form des Eis. Dieses gilt traditionell als Lebenssymbol, das die Vorstellung von Wiedergeburt und Verjüngung im Lebenskreis zum Ausdruck bringt. Das Christentum übernimmt

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das Ei als Sinnbild von Fruchtbarkeit, Auferstehung und ewigem Leben. Von außen wirkt es kalt, doch seinem Inneren entwächst junges Leben. Das ‚Atom-Ei‘ passt damit gut in das katholische Umfeld des Reaktors; seine symbolische Bedeutung begünstigt seine Durchsetzung und Akzeptanz. Garching, das mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Krieg seine Einwohnerzahl verdoppelt hat und 1956 gut 2.800 Einwohner zählt, wächst durch den Zuzug von Wissenschaftlern und anderen Beschäftigten unaufhörlich weiter. Aus dem beschaulichen Bauerndorf wird eine Kleinstadt mit heute 18.000 Einwohnern. Innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich das ‚Atom-Ei‘ zu einem Wahrzeichen der Kernforschung, von dem aus bahnbrechende Forschungen in Physik, Chemie und Biologie ihren Ausgang nehmen. Garching wird zu einem Standort für Spitzenforschung und zur Keimzelle eines der größten naturwissenschaftlichen Forschungszentren Europas. Schnell avanciert der Forschungsreaktor zu einem Fortschrittssymbol und zu einem leuchtenden Bild vom Neubeginn in DeutschlandWest nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits die Fotografien der Baustelle besitzen Sensationscharakter und werden bun-

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[I/188] Der Bauer Joseph Leinthaler bestellt sein Feld vor dem Bau des Reaktors in Garching (1957); [I/189] Regina Relang, Model in Mantel von ‚Jobis‘ vor dem ‚Atom-Ei‘ (1963)

desweit veröffentlicht. (I/186) Strahlend hält Ministerpräsident Wilhelm Hoegner beim Eintreffen der ersten Brennelemente einen solchen Stab mit seinen Händen in die Kameras. (I/187) Bei der bayerischen Landtagswahl 1958 platziert die SPD das Bild des ‚Atom-Eis‘ neben das Porträt ihres Spitzenkandidaten Hoegner und gibt sich damit als Atompartei und Zukunftspartei zu erkennen. Mit Bildern wie diesen hofft man in Bayern, München zum deutschen Silicon Valley zu machen. Politiker lassen sich daher gerne und ohne Scheu vor der Kulisse des Werkes fotografieren. Werbefilme der Atomindustrie preisen den hohen technischen Standard des Werks. (I/190) Welche hohe Akzeptanz die Symbole und Bilder des Atomreaktors in der Öffentlichkeit besitzen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Gemeinde Garching das ‚Atom-Ei‘ zum Bestandteil ihres Wappens macht. Ähnliches geschieht später auch an anderen Standorten von Atomkraftwerken wie in Eggenstein-Leopoldshafen bei Karlsruhe und im bayerischen Gundremmingen. Kraftwerksbaustellen gelten allenthalben als Symbole des Fortschritts und werden auch als solche ins Bild gesetzt. (I/188) So auch in einer Fotografie, die den Landwirt Josef Leinthaler mit zwei einge-

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spannten Rössern vor dem Hintergrund des Atomkraftwerks auf seinem Feld zeigt. Das Bild erscheint symbolträchtig 1957 auf dem Titelblatt einer landwirtschaftlichen Zeitung mit dem Text: „Zeichen der neuen und der alten Zeit“. (I/189) Ganz ähnlich nutzt sechs Jahre später auch die bekannte Modefotografin Regina Relang das ‚Atom-Ei‘ für ihr Shooting für eine Mantelkollektion. Nicht ohne Ironie trifft futuristische Architektur, technische Innovation auf eine ebenso puristisch interpretierte weibliche Form und damenhafte Attitüde. Der elegante, zweireihig geknöpfte Mantel gleicht einem Gehäuse, dessen wollene Oberfläche mit der glänzenden, metallenen Hülle der Architektur kontrastreich in Szene gesetzt ist. Der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 verändert nachhaltig die Sichtweise der Bevölkerung auf die zivile Nutzung der Atomenergie. Widerstand formiert sich jetzt auch in Garching. Als Reaktion auf die Katastrophe gründen sich zwei Bürgerbewegungen gegen den Reaktor. Das einstige Prestigeobjekt wird zum Politikum. Als Ende der 1980er Jahre Pläne bekannt werden, wonach der alte Reaktor durch ein moderneres Modell ersetzt werden soll, ist der Protest der Atomgegner groß. Er hat zur Folge, dass sich

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die Planungs- und Genehmigungsphase des Forschungsreaktors München II anders als bei seinem Vorgänger über zwei Jahrzehnte hinzieht. Von der Errichtungsgenehmigung bis zur Fertigstellung fechten die Gegner, letztlich erfolglos, jede einzelne Genehmigung an. Auch ein Bürgerentscheid, mit dem eine knappe Mehrheit der Garchinger Bürger ihre Stadtverwaltung auffordert, gegen den Reaktor anzutreten, findet keine Wirkung. 2004 geht der neue Reaktor als Nachfolger des Garchinger ‚Atom-Eis‘ in Betrieb. Hauptkritikpunkt ist bis heute die Verwendung von hochangereichertem Uran, das als waffenfähig gilt. Der Reaktor in Garching wird Ende Juli 2000 außer Betrieb genommen, da er damaligen technischen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird. Seitdem befindet sich das ‚Atom-Ei‘ im Rückbau. Die äußere Form ist

[I/190] Wappen der Gemeinde Garching von 1967 [I/190]

davon allerdings ausgenommen. Auf d ­ iese Weise bleibt das ‚Atom-Ei‘ als Industriedenkmal und Mahnmal und damit als symbolischer Ort bzw. Erinnerungsort erhalten, der den Wandel in der Fortschrittsvorstellung im Allgemeinen und der Atompolitik in Deutschland im Besonderen repräsentiert.

Neben die Bilder einer wiedererstarkenden Industrie, des automobilen und des atomaren Fortschritts sowie einer neuen Reiselust gesellten sich seit den 1960er Jahren vermehrt Bilder massenmedialer Errungenschaften, die zum Teil ebenfalls Ikonenstatus erhielten. Zu ihnen zählte das ‚Kofferradio‘ als neuer tragbarer Alltagsbegleiter, der die nachwachsende Generation vom Musikgeschmack der Elterngeneration unabhängig machte, vor allem aber der Fernsehapparat. Wie kein anderer Gegenstand stand er für den vollzogenen Übergang vom Versorgungs- hin zum Wohlstands- und Erlebniskonsum und für den Beginn der postmodernen Mediengesellschaft. Kein Symbol stand mehr für Neuanfang und ‚Wirtschaftswunder‘, für Sicherheit und Wohlstand als die Deutsche Mark. Sie versinnbildlichte für viele Deutsche ein Land, das sich nach 1945 erfolgreich neu erfunden hatte. Anders als die abstrakte Formel von der Sozialen Marktwirtschaft war sie ein „Symbol zum Anfassen“ (­Guido Kiell), das jeder Deutsche jeden Tag in der Tasche hatte. Auch die Politik bediente sich dieses Symbols. Ikonografisch knüpften die D-Mark-Plakate an ein Reichsmark-Plakat der NSOrganisation ‚Kraft durch Freude‘ an, auf dem die Reichsmark der Sonne ähnlich über einer Landschaft aufsteigt und als Garant für den neuen Wohlstand in Gestalt des KdF-Wagens, des Volkswagens, steht. (I/191a) So warb die SPD zur Bundestagswahl 1957 um Wählerstimmen mit der Vorderseite einer 1-DM-Münze und dem Slogan „… sie muß stabil bleiben“. Ähnliches machte die CDU 1972. (I/191b) Bundes-

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kanzler Ludwig Erhard, der mit seiner ganzen Körperfülle, mit pausbäckigen Wangen und Zigarre das ‚Wirtschaftswunder‘ in persona verkörperte, ließ sich 1965 mit einer lebensgroßen D-Mark-Münze fotografieren, hinter der er Zigarre rauchend hervorlugte. Runde Geburtstage der D-Mark wurden mit öffentlichen Feierstunden begangen. (I/192) Der D-Mark schrieb man geradezu erotische Qualitäten zu, so als 1968 eine Stripteasetänzerin in einem Nachtclub splitternackt mit D-Mark-Münzen für den Fotografen posierte. [I/191a]

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Die DM als Erfolgssymbol [I/191a] SPD-Plakat, Bundestagswahl (1957); [I/191b] CDU-Plakat (1965); [I/192] Tänzerin in einem Striptease-Lokal, Aufnahme vom 20.12.1968

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Zwischen HB-Männchen und Afri-Cola-Rausch Bilderwelten der Werbung Zur Bilderwelt des ‚Wirtschaftswunders‘ gehörten auch die Bilder der Warenwerbung, die zum Kauf animierten und neue Identitäten offerierten. Hohe Wachstumsraten und ein großer Nachholbedarf der Menschen nach dem Krieg hatten differenzierte Werbeformen zunächst nicht notwendig erscheinen lassen. Es wurde gekauft, was man benötigte und was es gab. Das ästhetische Niveau der Wirtschaftswerbung in den 1950er Jahren war daher eher bescheiden. „Vieles wirkte epigonal, einiges schülerhaft, manches geradezu infantil.“ 112 Während die Printwerbung einerseits ähnlich wie in Architektur und Design auf die Bauhaus-Ästhetik zurückgriff und mit der Ulmer Hochschule für Gestaltung kooperierte, lebten in der Werbung andererseits Traditionen und Figuren wie der Lurchi von Salamander oder der Sarotti-Mohr aus der NS-Zeit fort. Kunden wurden oft noch belehrend wie Kinder behandelt. Ein Beispiel waren die Asbach-Uralt-Kampagnen, die auf klassische Stiche setzten, von deutschtümelnd-gotischen Schrifttypen geprägt waren und ihre Werbebotschaften über Reime und Merkverse in die Welt sandten. Neue wirtschaftliche und mediale Rahmenbedingungen sowie eine zunehmende Marktsättigung bei Gebrauchsgütern machten seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre neue Bildsprachen und -strategien auch in der Werbung notwendig. Nach amerikanischem Vorbild begannen sich Selbstbedienungsläden durchzusetzen. 1956 war die Geburtsstunde der kommerziellen Fernsehwerbung. Farbige Illustrationen und Fotografien zogen in Illustriertenwerbung und Versandhauskataloge ein und lösten Zeichnungen und einfache Grafiken ab. Neue Zielgruppen wie junge Erwachsene gerieten ins Fadenkreuz der Werbestrategen. In der Produktwerbung vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Im Zeitalter der neuen Supermärkte und vollen Ladenregale ging es nicht mehr nur darum, durch Plakate und Anzeigen Aufmerksamkeit für ein Produkt zu erzielen. Vielmehr mussten die Produkte nun für sich selbst sprechen und selbst ihre Botschaften kommunizieren. Das Produkt in den Regalen sollte in dem Moment, in dem es vom Käufer erblickt wurde, so viel Aufmerksamkeit und Vertrauen evozieren, dass es im besten Fall zur sofortigen Kaufhandlung kam. Produkte entwickelten sich daher selbst zu Medien. Sie lösten einen „produktkommunikativen Schub“ (Rainer Gries) aus, der um das Produkt herum Inszenierungen baute. (I/193) In den Katalogen des Versandhandels, die wie kein anderes Medium das Interieur des ‚Wirtschaftswunders‘ ausbreiteten und den Übergang vom Versorgungs- hin zum Wohlstands- und Erlebniskonsum markierten, trat das inszenierte fotografische Bild an die Stelle der Ware. Produktinszenierungen begannen seit Mitte der 1950er Jahre einfache Illustrationen zu ersetzen. Die zu bewerbenden Waren wurden auf ganzseitigen Fotografien in spezifischen Kontexten inszeniert. „Noch aber standen die Waren für sich, wurden im Tableau gezeigt, als zöge man eine Schublade auf, um das Angebot zu sehen – Schuh an Schuh, Hemd an Hemd, Wecker an Wecker, Fernsehtruhe an Fernsehtruhe. Nur selten sieht man Arrangements wie das Camping-Ensemble aus Hollywood-Schaukel, Liegestühlen, Tisch,

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[I/193] Cover des Neckermann-­ Katalogs Frühjahr/ Sommer 1965

Grill und Sonnenschirm mit einem jungen Paar, das sich zulächelt, aber dennoch etwas verloren und deplatziert in dieser Inszenierung wirkt.“ 113 Die Kataloge des Versandhandels wurden zu Ikonen der Konsumgesellschaft: vor allem der Quelleund der Neckermann-Katalog – der Letztere für den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ein Symbol für die „kleinbürgerliche Hölle“. Neue Formen der Werbung brachte das Fernsehen. In seinen Anfängen war dieses noch stark vom Kinofilm geprägt. Werbespots arrangierten kleine Geschichten um das Produkt oder betteten es in Pseudo-Spielfilmhandlungen ein. In der Tradition der Werbung der 1920er Jahre standen im Zentrum dieser Geschichten zumeist Werbefiguren, die das Produkt mit einer Figur bzw. einer Symbolperson verknüpften. Viele dieser Werbefiguren stiegen zu Galions-Figuren der Fernsehwerbung auf; einige wie das HB-Männchen ‚Bruno‘ bekamen regelrechten Kultstatus, bevor sie in den 1970er Jahren im Rahmen der neuen Emotions- und Lifestyle-Werbung wieder vom Bildschirm verschwanden.

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[I/194] Roland Töpfer, HB-Männchen ‚Bruno‘ in der Episode ‚Bildstörung‘ (1960er Jahre)

Werbeikone: Das HB-Männchen Das HB-Männchen ‚Bruno‘ ist seit 1958 eine der bekanntesten und erfolgreichsten Werbefiguren der bundesdeutschen Werbegeschichte. Erfinder von ‚Bruno‘ ist der Zeichner Roland Töpfer, der die Figur im Auftrag der Düsseldorfer Werbeagentur ‚WerbeGramm‘ für eine neue Werbekampagne des Zigarettenkonzerns British American Tobacco (BAT) für das neue Medium Fernsehen entworfen hat. Mithilfe der neuen Werbefigur, des Zeichentrickfilms und des noch jungen Mediums Fernsehen fällt die HB-Werbung schnell aus der Fülle der Werbeinformationen heraus. Wöchentlich warten Hunderttausende auf die Ausstrahlung der neuesten Wutausbrüche von ‚Bruno‘. Man tauscht sich über ihn aus und erzählt sich gegenseitig seine Lieblingsgeschichten. ‚Bruno‘ ist in aller Munde. Seine Werbeagentur und seine Produktionsfirma

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werden mit Fan-Post überschüttet. Zuschauer liefern immer neue Pannenideen aus ihrem Alltag. Die Werbezeile „Wer wird denn gleich in Luft gehen“ geht als geflügeltes Wort in die Alltagssprache ein. Werbegeschichtlich agiert ‚Bruno‘ zwischen zwei sehr männlichen Raucher-Figuren. Während vor ihm Rauchen eher ein Privileg von Soldaten, von Herrschern und Stars gewesen war, folgt ihm in den 1970/80er Jahren der rauchende Macho in Gestalt (I/195a, b) des Marlboro- und des Camel-Mannes, mit dem er schließlich nicht mehr mithalten kann. ‚Bruno‘ selbst – das ist ein Novum in der Werbegeschichte – ist ein Antiheld. Ihm geht immer etwas schief, bis er zur rettenden Zigarette greift, die dann alles zum Guten wendet. In jeder Hinsicht ist ‚Bruno‘ ein Kind des Fernsehzeitalters. Wie keine andere Wer-

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[I/195a] Camel- und [I/195b] Marlboro-Werbeposter 1980er Jahre

befigur thematisiert er die Ende der 1950er Jahre begonnene kulturgeschichtliche Veränderung des Alltags durch das Fernsehen. Wie die Bundesbürger richtet auch er sein Wohnzimmer auf das Fernsehgerät hin aus und schafft sich einen Fernsehsessel an, in dem er einen großen Teil seiner Freizeit verbringt. Noch allerdings besitzt die neue Technik erhebliche Anfangsschwierigkeiten. Hierzu zählen die begrenzten Empfangsmöglichkeiten und die oft noch schlechte Bildqualität. Ständig kämpft Bruno mit Bildstörungen und Empfangsproblemen, so dass das Fernsehbild immer dann zusammenbricht, wenn es gerade spannend wird. Schon die Installation seines neuen Fernsehgerätes und der Zimmerantenne, deren Kabel quer durch seine Wohnung läuft und ständig neue Stolperfallen bildet, überfordert ihn, so dass die Fernsehansagerin plötzlich auf dem Kopf steht und ‚Bruno‘ an die Decke gehen lässt. ‚Bruno‘ ist ein Aufsteiger und daher auch ein Vorbild. Er ist seiner Zeit immer ein

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Stück voraus. Er besitzt einen PKW, als die meisten Bundesbürger noch darauf sparen. Er lebt in einem Einfamilienhaus, das sich die Mehrzahl der Deutschen in den 1960er Jahren noch keineswegs leisten können. Er unternimmt Reisen an die See und in die Alpen, die für die meisten noch zu teuer sind, später sogar eine Kreuzfahrt. Er repräsentiert die kleinen Träume der Deutschen vom Wohlstandsglück. In der Aufbruchsgesellschaft der 1960/ 70er Jahre und der neuen Werbewelt des Marlboro- bzw. Camel-Mannes kann sich der Anti-Held der späten 1950er J­ahre nicht mehr behaupten. Hatte ‚Bruno‘ in den ersten zehn Jahren zunächst für Aufstieg und bescheidenen Wohlstand gestanden, verliert er mit dem Erreichen eben dieses ­ aszinationskraft. (I/195) Wohlstandes an F Bilder aus der W ­ erbewelt des Peter Stuy­ve­ sant und des Marlboro und Camel Man lö­ eiten sen ‚Bruno‘ ab. Der Duft der großen w Welt ist nun gefragt.

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Seit den 1960er Jahren entwickelte sich die Werbung immer weiter weg von Produkt und Marke hin zur Lebenswelt der Konsumenten, zum Lifestyle. Sie begann imaginäre Welten zu schaffen, in denen um die Produkte herum alltägliche Geschichten erzählt wurden. Marken erhielten ein Image. Nicht mehr die Produkte standen im Vordergrund. Vielmehr wurden diese mit einem Lebensstil und einem Gefühl in Verbindung gesetzt. Insbesondere die Zigarettenwerbung begann, Bilder des ‚modern way of life‘ um ihre Produkte herumzubauen. Konsumenten-Typen und Situationen wurden wichtiger gegenüber der Darstellung des Rohproduktes. Die Bilderwelt der Werbung sexualisierte sich. Hatte der Reifenhersteller VeithPirelli seine Produkte bereits seit 1963 von langen schlanken Frauenbeinen präsentieren lassen, was zunächst noch als ‚anstößig‘ und ‚entwürdigend‘ empfunden worden war und Empörung ausgelöst hatte, so war bereits wenige Jahre später der Bann gebrochen. Die Werbung begann, in den jugendlichen Subkulturen nach neuen ästhetischen Mustern zu suchen, die sie u. a. in der Pop Art, im Protestgestus der 68er und in freieren sexuellen Ausdrucksformen fand. (I/196) Werbung wandelte sich zeitweise zur Provokation und zum „psychodelische[n] Pop-Happening“, wie der SPIEGEL über die Afri-Cola-Werbung von Charles Wilp befand.114 Auf dessen Anzeigen und Werbespots erschienen Models unverhüllt oder nur leicht bekleidet hinter einer von Eiskristallen überzogenen Glasscheibe. Emotionalisierung, die Betonung von

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[I/196a] und [I/196b] Afri-Cola-Werbeposter von Charles Wilp (1968)

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­ örperlichkeit und Individualität sowie zaghafte Tabubrüche begannen die BilderK welt der Werbung zu prägen. Werbung, ob für die Seife FA oder für den Tampon von OB, bedienten sich unverhohlen nackter Weiblichkeit als Eye-Catcher. Werbung und Populärkultur waren sich nie näher als in den 1960/70er Jahren. Andy Warhol und Roy Lichtenstein inszenierten Markenprodukte als Kunst. Auch deutsche Künstler wie Sigmar Polke, Gerhard Richter und Wolf Vostell verwendeten Werbemittel und Markenartikel in ihren Bildern. Thomas Bayrle etwa thematisierte Markenartikel wie die Zahncreme Super-Colgate, das Reinigungsmittel Ajax und die Kondensmilch Glücksklee in beweglichen Holzobjekten und Siebdrucken. Die Coca-Cola-Flasche zog als Werbeikone in Museen ein. Umgekehrt ließ sich die Werbung direkt wie indirekt von der Pop Art inspirieren. „Die Übernahme von Stilelementen der als jugendlich, provokant und unterhaltsam bewerteten Kunstrichtung Pop Art in die Werbemittelgestaltung bot eine Möglichkeit, größere Aufmerksamkeit und Sympathie für das beworbene Produkt zu erreichen.“ 115 Der Zigarettenkonzern BAT baute Motive von Roy Lichtenstein in seine Anzeigen ein. Die Sprechblase, der Comic und die gezeichnete Headline zogen in die Werbung ein. Die Grenzen zwischen Kunst und Werbung begannen zu verschwimmen, so dass der deutsche ‚Werbepapst‘ Michael Schirner erklärte, die Werbung sei die Kunst der Zeit. Die halluzinogene Inszenierung soziokultureller Erlebniswelten brachte Charles Wilp nicht nur den Ruf eines revolutionären Erneuerers der Produktwerbung ein, sondern 1972 auch eine Einladung zur documenta 5 nach Kassel, die sich erstmals dem Verhältnis von Kunst und Werbung widmete. Formale Grenzüberschreitungen und Anleihen aus Malerei, Film und Literatur prägten die Werbeästhetik der 1980er Jahre. Schnelle Schnitte und chaotische Bildmontagen, wie sie bei Videoclips üblich waren, Computeranimationen und Trickgrafik wirkten sich stilbildend nun auch auf Werbespots aus. Die visuellen Oberflächen der Bildmedien wurden bis hin zum völligen Verzicht auf Texte optimiert. Mit der Einführung der City-Light-Poster 1986 bekamen die Städte beleuchtete Werbeträger. War in den vorangegangenen Jahrzehnten die Werbebotschaft immer noch an das Gebrauchswertversprechen des beworbenen Produkts gebunden gewesen, so wurde das Produkt nun mit einem Distinktions- oder Erlebniswert gekoppelt, um ein Image oder eine Markenaura zu erzeugen. Das Design der Produkte und damit die Optimierung der visuellen Oberfläche rückten in den Mittelpunkt. Nützlichkeit und Funktionalität waren allenfalls noch Accessoire. Die 1980er Jahren vollendeten den Übergang vom Versorgungs- zum Erlebnis­ konsum. Dies entsprach dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel hin zur Erlebnisgesellschaft sowie der Diversifikation von Lebensstilen und Konsumbedürfnissen. Der Camel- und der Marlboro-Mann verkörperten neue Erlebniswelten. Mit den ‚Camel Trophys‘ und den Aktionen des ‚Marlboro Teams‘, deren Teilnehmer im Schlauchboot durch das Wildwasser des Grand Canyon rasten, mit Motocross-­ Maschinen durch zerklüftete Felslandschaften jagten, sich auf Mountainbikes durchs Gelände kämpften oder sich aus 50 Meter Höhe von einem Felsbogen abseilten, wurden die fiktiven Werbewelten Realität und persönlich gelebt. ‚Reality ­Advertising‘ stieg zeitweise zur höchsten Form der Werbung auf.

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„A Star is Born“ Popkulturelle Bilderwelten Pop Art und Pop Musik öffneten und diversifizierten seit etwa Mitte der 1960er Jahre die Bilderwelten der Bundesbürger in einem bislang unbekannten Ausmaß über den nationalen Rahmen hinaus. Eine neue Bildkultur mit neuen Körperbildern entstand, die den Konventionen der Mode, der Körpersprache und der Wohlanständigkeit der Erwachsenengeneration widersprachen. Während biedere Plattencover von Friedl Hensch & den Cypries, die immergleichen Fernsehbilder der Rosenmontagsumzüge aus Mainz und Düsseldorf oder schwarz-weiße Pressefotografien von Staatsbesuchen des Bundespräsidenten in Afrika die Bilderwelt der Erwachsenengeneration dominierten, begann sich eine neue schrill-bunte Bilderwelt der nachwachsenden Generation herauszubilden, die für Lebensfreude, Aufbruch und Überwindung der bisherigen Geschlechterbilder und ethnischen Grenzen stand. Den Anfang machte der Rock ’n’ Roll. Sein Rhythmus veränderte nicht nur die Unterhaltungsmusik, er brachte auch eine eigene Bilderkultur, neue Medienformate und neue Formen des Starkults hervor. Zur Faszination der Musik kam das äußere Erscheinen und das Gebaren der Akteure, das nicht unwesentlich deren Erfolg begründete. Im Unterschied zu den Big Bands à la Max Greger und James Last nämlich setzten die Musiker des Rock ’n’ Roll zunehmend auf Kleidung und Frisur, auf Gesten und Mimik. Das rief die stets bilderhungrigen Medien auf den Plan und inspirierte schließlich auch die kommerzielle Warenwerbung. Einem großen Publikum bekannt wurden die neuen Musikstars durch die Titelseiten der illustrierten Zeitschriften, durch Plakate, durch Auftritte in Fernsehsendungen sowie durch Abbildungen auf Plattenhüllen. Beeinflusst waren diese sowohl durch ältere künstlerische Stilmittel wie die Collage als auch durch die zeitgenössische Pop Art eines Robert Rauschenberg, eines Richard Hamilton oder eines Peter Blake. Zugleich griffen Künstler wie Roy Lichtenstein und Andy Warhol die Bilder der neuen Stars auf und modellierten diese auf ihre Weise zu transkulturellen Ikonen der Populärkultur. Eine die 1950/60er Jahre geradezu charakterisierende Synthese von Musik, bildender Kunst und Starkult bildete sich heraus. In den 1950er und frühen 1960er Jahren war es zunächst die Fotografie, die den Rock ’n’ Roll popularisierte. Die Aufnahmen der Auftritte von Elvis Presley von Alfred Wertheimer, die Fotos von Little Richard und Chuck Berry von David Redfern, die provozierenden Fotografien der Rolling Stones und von Jimi Hendrix von Gered Mankowitz, die farbigen Pop-Art-Bilder von Frank Zappa und seiner Band The Mothers of Invention von Jerry Schatzberg vermittelten einem breiteren Publikum oft die ersten Eindrücke der neuen Stars. Viele dieser Fotografien überschritten ähnlich wie das Auftreten der ‚Heroes‘ der neuen Musik geltende Zeigbarkeitsregeln. Die Aufnahmen des Modefotografen Donald Silverstein von Jimi Hendrix zeigten den Musiker mit geöffnetem Hemd und gaben den Blick auf dessen Oberkörper frei. Die gesamte Körperhaltung sowie die laszive Gestik der Hände fügten sich zu einer aufreizenden femininen Pose, die an frühe Pin-up-Bilder erinnerte.

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Die Fotografien erschienen auf den Titelseiten von Jugendzeitschriften wie Bravo und Twen oder in Musikzeitschriften wie Rolling Stone, auf Plakaten, Plattencovern und T-Shirts. Durch diese Medien erreichten die neuen Stars das private Umfeld ihrer Fans. Darüber hinaus waren es schnell herstellbare, zumeist von der Pop Art beeinflusste Kino- und Veranstaltungsplakate von Kinoikonen wie Marilyn Monroe oder Politikonen wie Che Guevara, über die die neuen Bilder Eingang in die häuslichen vier Wände fanden. Die Plakate und Fotografien transportierten gleichermaßen neue Kunstformen wie neue Körperbilder. Konflikte mit der Elterngeneration waren vorprogrammiert. Während im elterlichen Wohnzimmer noch Nierentisch und ‚Gelsenkirchener Barock‘ vorherrschten, hingen in den Jugendzimmern bunte polnische Jazzplakate, barbusige Covergirls oder Che-Guevara-Porträts. Nicht selten wurden die Konflikte um die häusliche Bilderhoheit mit elterlicher Gewalt gelöst und die Plakate von den Wänden gerissen: der private Ikonoklasmus der 1960er Jahre! (I/198) Eine Sonderform des Plakats und ein neues Medienformat war der Starschnitt. Über ihn drang der Starkult tief in den privaten Raum ein. Der Starschnitt war das optische Pendant zu Kofferradio und Plattenspieler. Mit ihm hatte die Jugendzeitschrift Bravo eine spezifische Form der Leseraktivierung kreiert, die auf die Gestaltung des privaten Raums abzielte und Impulse des Pin-up wie der Glamourfotografie aufnahm. „Damit stand“, so der Zeithistoriker Detlef Siegfried, „für die eben erst verfügbaren Jugendzimmer ein generationell spezifiziertes Gestaltungsmittel zur Verfügung, das mit den sozialen Praktiken Jugendlicher korrespondierte. Bravo-Prominentenporträts für den privaten Raum bahnten der Posterwelle der späten 1960er Jahre den Weg, die von Humphrey Bogart bis Che Guevara Medienstars der unterschiedlichsten Provenienz an die Wände deutscher Wohnzimmer schwemmte, wo sie, häufig aufgeladen mit ethisch-moralischen Konnotationen, der hochkulturellen Konkurrenz von Malerei und Grafik standhielten.“116 Bereits der Titel des ersten Bravo-Heftes deutete an, dass es beim Starschnitt nicht um die reale Person ging, sondern um die ikonografische Gestaltung eines Star-Images, das sich als Identifikationsobjekt eignete. Kein anderes Medium der 1950/60er Jahre brach so konsequent die Konventionen der Privatdekoration auf wie der Starschnitt. „Die Herstellungsweise, die einen erheblichen Anteil an Eigenleistung beinhaltete, die Unmittelbarkeit und das an den Körperkonturen orientierte Format, das jede rechteckige Form sprengte, bildeten einen Kontrapunkt zur naturalistischen oder abstrakten Kunst, die über den Sofas und Ehebetten der Eltern hing. Während bemalte Leinwand oder Kunstdruck im Kontext von Sofa und Fernseher Geschmacksempfinden beim Erwachsenenwohnen ausstellte, verwiesen ausgeschnittene Illustriertenfotos und Plakate minderer Qualität im Kontext von Schlafcouch und Plattenspieler auf jugendliches Separatleben.“ 117 Der Starschnitt reduzierte komplexe Zusammenhänge auf seine zentralen Merkmale, indem er auf Schrift und geometrische Formen verzichtete und nur auf das Abbild eines Körpers fokussierte. Dabei ging es nie um die reale Person, sondern einzig um die ikonografische Gestaltung eines Star-Images, das sich als Identifikationsobjekt eignete.

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Bunt, haarig, feminin – neue Männerbilder der Popszene [I/197] Jimi Hendrix-Konzertplakat, Entwurf Günther Kieser (1969); [I/198] BRAVO-Starschnitt Mick Jagger (1971); [I/199] Titelseite des Programms der Internationalen Essener Songtage mit einer Zeichnung von Gertrude Degenhardt, gestaltet nach einer Fotografie von Frank Zappa von Robert Davidson (1968)

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Der Starschnitt wurde selbst Teil der Kunst. Die Darstellung von Marilyn etwa erschien geradezu wie eine Blaupause für Andy Warhols in verschiedenen Farbvarianten interpretierte Marilyn von 1964, deren wesentliches Merkmal die durch Kolorierung gezielt herausgehobenen Lippen waren. Ausstellungen und Museen widmeten sich später der Geschichte des Starschnitts, so 2017 in der ‚Kultur Bäckerei‘ in Lüneburg. Geradezu eine ‚Revolution‘ in der Geschichte der Fotografie und der Gestaltung bedeuteten auch die Plattenhüllen. Bahnbrechend für die Präsentation populärer Musik wurden die Plattencover der Beatles. Das Cover With the Beatles von Robert Freeman von 1963 etwa zeigte die Gesichter der vier Musiker aus Liverpool vor schwarzem Hintergrund auf grobkörnigem Papier. Durch eine geschickte Ausleuchtung war jeweils nur eine Gesichtshälfte der ‚Pilzköpfe‘ zu erkennen. In die Musik- wie in die Kunstgeschichte Eingang fand vor allem das Cover des Albums Sgt. ­Pepper’s Lonely Hearts Club Band von 1967, das lange Zeit „vielleicht das bekannteste unbekannte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts“ (Walter Grasskamp) war. In Deutschland waren es u. a. Künstler wie Gertrude Degenhardt und Günther Kieser, die die Bildsprache der Pop Art in den Alltag der deutschen Populärkultur übersetzten. Während sich Kieser als Designer von Jazz- und Rockplakaten für den Konzertveranstalter Lippmann und Rau einen Namen gemacht hatte und auf der documenta von 1964 vertreten gewesen war – von ihm stammte (I/197) das legendäre Kopfplakat für die Deutschlandtournee von Jimmy Hendrix –, begleitete Degenhardt mit ihren Zeichnungen und Radierungen vor allem die Liedermacher- und Folkszene. (I/199) Neben zahlreichen selbstständigen Werken, Buchillustrationen und Mappen zu Chansons von Wolf Biermann, Dieter Süverkrüp und Georges Brassens schuf sie im Stil der Pop Art gestaltete Plattencover für ihren Schwager Franz Josef Degenhardt. Ihre Blätter zu der Mappe Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von 1968 ergänzten jeden der einzelnen Beatles-Songs um „eine optische Spur“ (Detlef Siegfried). Wie der Verlag betonte, sollten sie anregen, „stundenlang hinzuschauen und auf die Platte zu hören“. Neben den Titelseiten der Zeitschriften, neben Plakat und Starschnitt agierte das Fernsehen seit Mitte der 1960er Jahre als weiterer Transmissionsriemen des neuen Starkults und der popkulturellen Bilderwelten in das Leben der Nachkriegsgeneration. Für die Verschränkung von Starkult, Pop und Fernsehen stand vor allem der 1965 gegründete, von Radio Bremen ausgestrahlte Beat-Club mit Moderatorin Uschi Nerke – die damals beliebteste Jugendsendung, die auch von Jugendlichen aus der DDR mit großem Zuspruch gesehen wurde. (I/200) Schon das Logo der Sendung, das dem Londoner U-Bahn-Emblem nachempfunden war, signalisierte die Absicht der Programmmacher, die Lebenswelt der jugendlichen Zuschauer in Deutschland den kulturellen Veränderungen im anglo-amerikanischen Kulturraum zu öffnen. Die Studio-Dekoration der Sendung griff bewusst die aus Starschnitten und Postern geprägte Bilderwelt ihrer Zuschauer auf. Das Konzept der Sendung hatte der Sexualwissenschaftler und Medienmanager Ernest Bornemann entworfen, der ehedem als Produktionschef von Adenauers Privatfernsehen vorgesehen gewesen war.

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[I/200] Beat-Club mit Moderatorin Uschi Nerke, Radio Bremen (o. D.)

Die Faszination des Beat-Clubs bestand vor allem in seinem Live-Charakter. Anders als Printbilder und Schallplatte bot das Fernsehen die Möglichkeit, die Stars in ­facettenreichen Variationen erleben zu können. Der Bildschirm war eine Art Schlüsselloch, das einen Einblick in einen pulsierenden Jugendclub mit tanzendem Publikum offerierte. Der Beat-Club bot akustische Informationen zur aktuellen Musik sowie optische Informationen über die neuesten Haar- und Kleidermoden, über Bewegungsformen und Tanzschritte. Zugleich war er der Versuch, die Destruktionsästhetik von Gruppen wie The Who und den Rolling Stones sowie die traumhaftpsychedelischen Formen der Poster und Underground-Zeitschriften in die bewegte Bilderwelt des elektronischen Mediums Fernsehen zu übertragen. „Der Regisseur, der sich als ‚Rebell gegen den deutschen Mattscheiben-Lug‘ fühlt“, kommentierte der SPIEGEL, „begann die Form der Musik-Shows im Fernsehen zu zertrümmern. Von den Beat-Rhythmen zu psychedelischer Tätigkeit am Mischpult hingerissen, verwandelt er mit Hilfe der Ampex-Elektronik Positiv in Negativ, Weiße in Schwarze, er bietet Trunkenheitsperspektiven und verwischt die Beat-Szene so radikal, als gelte es, den Betrachtern Reise-Eindrücke von traumhaften LSD-Trips zu übermitteln. Die Realität wackelt, blubbert, huscht und quillt in phantasmagorischen Zuckungen, doch niemals willkürlich, über den Bildschirm. Denn durch seine Exzesse mit Collagen und Elektronik-Schocks will der Regisseur den akustischen Reiz optisch potenzieren und auf diese Weise die Augen der Zuschauer endlich für neue Möglichkeiten des Fernsehens öffnen.“118 Ältere Zuschauer fühlten sich bei den Auftritten von Musikern wie Jimi Hendrix u. a. an die Ureinwohner Australiens erinnert. Andere empfanden die bunte, mit

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ornamentalen Mustern übersäte Uniformjacke von Hendrix als Verhöhnung der Staatsautorität. Massenhaft empörten sich Zuschauer über die sexuell aufgeladene Symbolik seiner Performance. Mehr noch als die Miniröcke schockierten junge Männer mit langen Haaren und ihre Absage an Kriegsdienst und traditionelle Geschlechterrollen die kleinbürgerliche Öffentlichkeit. Beim Durchbruch der Beatles zur internationalen Kultband stand das Medium Fernsehen Pate. Es ist fraglich, ob die ‚Fab Four‘, wie sie auch genannt wurden, ohne das Fernsehen überhaupt internationale Bekanntheit erhalten hätten. Ihren [I/201]

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Die Beatles – Bilder im Medienverbund [I/201] Die Beatles bei ihrem ‚BRAVO-Blitzkonzert‘ am 24.06.1966 im Münchner Circus Krone-Bau; [I/202] Plakat zur BRAVO-Blitztournee (1966); [I/203] Empfang der Beatles auf dem Flughafen HH-Fuhlsbüttel am 26.6.1966; [I/204] Aufnahme vom Konzert am 26.6.1966 in der Ernst-Merck-Halle in Hamburg

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ersten Auftritt in der berühmten Ed Sullivan Show im amerikanischen Fernsehen am 9.  Februar 1964 verfolgten schätzungsweise 75 Millionen Zuschauer an ihren Apparaten. Der Auftritt geriet zum bis dato meistgesehenen Ereignis aller Zeiten. Wem die Band vorher kein Begriff gewesen war, wusste spätestens jetzt Bescheid. Zeitgenossen beschrieben die Fernsehübertragung als ‚iconic debut‘ und als jenen Moment, mit dem die neue Zeitrechnung der Pop-Kultur begann. (I/201) Am 5. Juli 1966 waren die Beatles erstmals auch im deutschen Fernsehen zu sehen. Das ZDF strahlte an diesem Tag die Aufzeichnung eines nur 15 Minuten andauernden ‚Blitzkonzertes‘ aus, das es einige Tage zuvor, am 24. Juni, anlässlich eines Auftritts im Circus Krone in München aufgenommen hatte. Zu sehen waren auch die vielen Ordner in weißen Hemden, die die Fans in Schach hielten. (I/203, 204) Zum Abschluss ihres kurzen Deutschland-Trips gaben die Beatles am

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26. Juni noch zwei ‚BRAVO-Blitzkonzerte‘ in Hamburg mit jeweils etwa 5700 Zuschauern bzw. Zuhörern. Es war allerdings nicht allein das Fernsehen, das den Weltruhm der ‚Fab Four‘ begründete. Letztlich war ihr Aufstieg das Produkt eines Zusammenwirkens von Fernseh- und Rundfunksendern, (Jugend-)Zeitschriften, von illustrierten Zeitungen und Konzertagenturen, die mit Plakatkampagnen für die Auftritte ihrer Stars warben. In Deutschland war es vor allem die Bravo, die den Bekanntheitsgrad der Jungen aus Liverpool befeuerte. Waren die Pilzköpfe 1964 gerade einmal fünfmal auf einem ihrer Cover abgebildet gewesen, so waren es 1965 bereits achtmal und 1966 schließlich zwölfmal. Zusätzlich gab es die ‚Fab Four‘ 1966 noch als StarSchnitt. (I/205) Der Aufstieg der bunten Bilder der Pop-Art-Künstler und die der Pop-­ Musiker in den Massenmedien bezog den privaten Raum immer stärker in das Universum der Bilder ein. Für die Fans bedeuteten Poster, Starschnitte und Plattencover die Möglichkeit, sich ihre Stars als Bild nach Hause zu holen, sie dort zu betrachten und auf ihre Weise anzueignen, nachzuahmen, zu kopieren. Für die Musik- und die Medienindustrie multiplizierten sie ihre Einflussmöglichkeiten in den privaten ­Lebenszusammenhängen. Der Pop Art wiederum öffneten sie Bereiche jenseits der Museen und Galerien, etwa in Kantinen (I/206) wie der des

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Knallig und grell – Popkultur im Alltag [I/205] Jugendzimmer 1960er Jahre; [I/206] Kantine des SPIEGEL, wiederaufgebaut im Hamburger Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (2018); [I/207] Bobbycar Classic

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SPIEGEL in Hamburg und in der Innendekoration. (I/207) Selbst Kinderspielzeug wie der 1972 erstmals auf den Markt gekommene Bobbycar verdankten sich der neuen Kunst. Nie zuvor hatte eine Kunstrichtung einen so unmittelbaren Einfluss auf das Leben Heranwachsender. Pop Musik und Pop Art fanden im häuslichen Rahmen zur Synthese, so dass sich ihre Wirkung gegenseitig verstärkte. Zugleich fungierten die popkulturellen Bilderwelten als eine gigantische Bildermaschine der transkulturellen Annäherung und Angleichung. War die Pop Art entstehungsgeschichtlich eine Reaktion auf die Veränderungen in Massenkultur und Medienlandschaft gewesen, so veränderte sie nun selbst die Massenkultur über Grenzen und Kulturräume hinweg.

Von der Heiligen Elisabeth zur Emma Wandel der Geschlechterbilder und -praxen Parallel zur Ausbreitung der Popkultur und durch diese befördert, begannen sich in den 1960er Jahren auch die Geschlechterbilder der Bundesdeutschen zu ändern und zu diversifizieren. Diese waren zwar schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren vielgestaltiger gewesen, als es auf den ersten Blick den Anschein macht. Jetzt aber drängten Frauen erstmals selbstbewusst an die Öffentlichkeit und gaben sich mit den ihnen zugewiesenen Rollenzuschreibungen nicht mehr zufrieden. Bilder drückten dies aus und beförderten dies zugleich. So wie in der Werbewelt von HB-Männchen ‚Bruno‘ Frauen nicht existierten, spielten sie auch in der Politik des Adenauer-Staates praktisch keine Rolle. Sie waren öffentlich nicht präsent. Waren unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz ausgearbeitet hatten, immerhin noch 6,3 Prozent Frauen gewesen, so gab es unter den Angehörigen des Bundeskabinetts bis 1961 keine einzige Frau, (I/208) obwohl CDU-Frauen seit 1957 immer wieder gegen diese Ausgrenzung protestiert hatten. Die erste Frau, die seit 1961 – gegen den ausdrücklichen Willen des Bundeskanzlers  – ein Ministeramt bekleidete, war die bereits 60-jährige promovierte Juristin und stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Elisabeth Schwarzhaupt. (I/210) Pressefotos zeigen sie bei ihrer Vereidigung im Bundestag inmitten ihrer zum Teil grimmig schauenden bzw. den Blick demonstrativ gesenkten oder abgewendeten Kollegen, einschließlich des Bundeskanzlers. Erst ein Sitzstreik von CDU-Frauen vor Adenauers Büro hatte den Kanzler gezwungen, die Politikerin als Bundesgesundheitsministerin in sein viertes Kabinett aufzunehmen. Nichtsdestotrotz begrüßte dieser seine Kabinettsrunde ignorant weiterhin mit „Guten Morgen, meine Herren“. Seine neue Ministerin nannte er verächtlich „Fräulein Schwarzhaupt“. Die Verhältnisse in der SPD sahen kaum besser aus. Auch hier herrschte die Meinung vor, Politik sei Männersache. Auf SPD-Plakaten und -Fotografien tauchten Frauen allenfalls als Adressaten oder Staffage auf. Ein personalisiertes Plakat mit dem Konterfei der späteren Bundestagspräsidentin Annemarie Renger gab es erstmals im Bundestagswahlkampf 1957 in Schleswig-Holstein. (I/209) Die Illustrierte

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[I/208] Karikatur aus dem Bundestagswahlkampf 1957; [I/209] Titelblatt Kristall, Nr. 7/1961, mit einem Foto von Annemarie Renger; [I/210] Vereidigung von Elisabeth Schwarzhaupt im Deutschen Bundestag durch Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier am 14.11.1961

Kristall kürte die ehemalige Sekretärin des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher 1961 auf einem ihrer Titelblätter zur „Miss Bundestag“, wie die SPD-Politikerin in Bonn angeblich genannt wurde. Noch ganz gefangen im Geiste damaliger Vorstellungen schrieb das Blatt: „Sie ist der seltsame Typ einer intelligenten Frau, die in der Politik eine interessante Beschäftigung für ihren flotten Verstand gefunden hat, ohne ihre femininen Bedürfnisse als Frau und Mutter zu unterdrücken.“ Anschaulich spiegeln die vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebenen Briefmarken das offizielle Frauenbild der ‚Bonner Republik‘ wider. Unter den

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bis 1959 aufgelegten Marken mit Bildern von Persönlichkeiten oder Berufen befanden sich lediglich 17 Prozent Frauen bzw. Frauenberufe. Die erste Frau, die 1949 auf einer Briefmarke der eben gegründeten Bundesrepublik abgebildet war, war die Heilige Elisabeth von Thüringen. Es waren zumeist Frauen in ‚helfenden‘ Berufen, die man auf Briefmarken ehrte, wie 1951 Elsa Brandström, 1952 Elisabeth Fry, 1954 Bertha Pappenheim oder 1955 Florence Nightingale. Eine Ausnahme blieb 1954 eine Marke mit dem Konterfei der Künstlerin Käthe Kollwitz. Andere Briefmarken huldigten unpersönlich Frauenberufen wie der Hebamme, der Kinderkrankenschwester, der Sennerin oder (I/211) der Mutter. In den 1960er Jahren ging der Frauenanteil auf Briefmarken weiter zurück. Allerdings tauchte mit Sophie Scholl 1964 erstmals eine Widerstandskämpferin auf einer Marke auf. Es dauerte bis 1969 und damit bis zur Bildung der sozial-liberalen Koalition, bis erstmals mit Marie Juchacz, Marie-Elisabeth Lüders und Helene Weigel aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Frauenwahlrechts in Deutschland Frauenrechtlerinnen und andere bedeutende Frauenpersönlichkeiten auf Briefmarken der Deutschen Bundespost abgebildet waren. Als besonders resistent gegenüber einem modernen Frauenbild erwies sich das Fernsehen. In ihm kamen bis 1970 Frauen allenfalls als Ansagerinnen, LottoFeen und Assistentinnen vor. Ein Paradebeispiel für die frühe Frauenfeindlichkeit im Fernsehen war die vom WDR ausgestrahlte Ratgebersendung Der siebte Sinn, die in ihren Episoden sämtliche Vorurteile gegen Frauen am Autosteuer mobilisierte. So hieß es noch in der Sendung vom 12. September 1969: „Frauen fahren oft vorsichtiger als Männer. Viele Frauen scheuen das Anlegen des Sicherheitsgurts, weil sie Angst um ihren Busen haben. [...] Bei Frauen gibt es überdurchschnittlich viele Unfälle beim Öffnen der Türen. Wenn Frauen am Steuer im Straßenverkehr zu Verkehrshindernissen werden, so liegt dies meistens am mangelnden technischen Verständnis und fehlender Übung.“ 119 Auch die Werbung reproduzierte zunächst überlieferte Geschlechterverhältnisse. Sie versprach den Frauen allenfalls vereinfachte Formen der Haushaltsführung durch neue Produkte oder setzte die moderne Frau wie in der Persil-Werbung als junge und attraktive Zeitgenossin ins Bild. Diesen Bildern standen Fotografien von Filmstars – zum Teil nur knapp bekleidet oder ganz hüllenlos – auf den Titelseiten der illustrierten Magazine entgegen. Zum deutschen ‚Fräuleinwunder‘ – ein in den USA geprägter Begriff für den Frauentyp des deutschen ‚Wirtschaftswunders‘  – avancierten zwei in den USA erfolgreiche junge deutsche Frauen: (I/212) das Mannequin Susanne Erichsen, die 1950 in BadenBaden die erste ‚Miss Germany‘-Wahl gewonnen hatte, sowie (I/213) die Filmschauspielerin Elke Sommer, der Anfang der 1960er Jahre der Sprung nach Hollywood gelungen war. Beide Frauen waren u. a. deshalb so populär, weil sie so gar nicht dem gerade im Ausland verbreiteten Klischee der drallen, blonden BdM-Angehörigen oder der zerzausten Trümmerfrau entsprachen, sondern Souveränität, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit verkörperten. Es ist daher zu einfach, die Frauenbilder der frühen Bundesrepublik nur auf die Frau als Inkarnation von Fürsorge und Hüterin der häuslichen Sphäre einzugren-

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zen. Das machte auch die Karriere der Comicfigur Lilli in der BILD-Zeitung deutlich  – gleichsam das ‚Fräuleinwunder‘ im alltäglichen Printformat. Heute nahezu vergessen, war sie der weibliche Superstar der 1950er Jahre. Lilli – ständig ihre medialen Träger wechselnd – wurde zum Vorbild einer ganzen Generation von jungen Frauen und Mädchen sowie schließlich zur Vorlage der berühmtesten Puppe des 20. Jahrhunderts: der Barbie.

Mutter – Miss – Model – Frauenbilder der jungen Republik

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[I/211] Wohlfahrtsbriefmarke Deutsche Bundespost, Motiv Die Mutter aus der Serie ‚Helfer der Menschheit‘ (1956); [I/212] Susanne Erichsen als erste ‚Miss Germany‘, Baden-Baden (1950); [I/213] Elke Sommer (1976) [I/213]

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Comicfigur: Die BILD-Lilli [I/214]

[I/214] Reinhard Beuthien, Lilli, BILD-Zeitung, 24.6.1952, S. 2.

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Die erste Ausgabe der im Springer-Konzern erscheinenden BILD-Zeitung am 24. Juni 1952 ist auch die Geburtsstunde von Lilli – einer kessen Comicfigur, die über Jahre die Leser und Leserinnen der Zeitung unterhält. Entstanden ist Lilli aus einer Verlegenheit heraus, weil auf Seite 2 der Zeitung eine Lücke gefüllt werden musste. Daher hatte man den Zeichner Reinhard Beuthien beauftragt, diese mit einer Zeichnung zu füllen. Bereits am folgenden Tag können die Leser und Leserinnen der neuen Zeitung eine schlanke, blonde junge Frau mit keckem Pferdeschwanz bestaunen, die bei einer Wahrsagerin Rat sucht: „Können Sie mir nicht Namen und Adresse dieses großen, schönen, reichen Mannes sagen?“ Über die Zeichnung hat Beuthien den Namen Lilli geschrieben. Aus der Verlegenheitslösung wird für die kommenden achteinhalb Jahre eine Dauereinrichtung. Mit jeder neuen Zeichnung wächst die Popularität von Lilli weiter. Dies ist gleichermaßen den sexualisierten Zeichnungen von Beuthien zu verdanken wie den oft kessen Sprüchen unter den Karikaturen. Manche Zeichnung wird am kommenden Tag Gesprächsthema. Lilli schlüpft in die Rolle einer typischen Vertreterin der Nachkriegsgeneration zur Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders. Sie ist schlagfertig, modebewusst, respektlos und als Selbstverdienerin auch selbstständig. Mit ihren weiblichen Rundungen, mit Schmollmund und schwarzen Wimpern entspricht sie so ganz dem weiblichen Schönheitsideal der Zeit. Zugleich setzt sie selbst modische Trends und bringt die neu gewonnene Freiheit und Lebensfreude ihrer Generation zum Ausdruck. 1953 beschließt die BILD-Zeitung Lillis Popularität stärker zu Werbezwecken zu nutzen. Die Comicfigur wird zum Leben erweckt. Lilli wechselt fortan beständig ihre medialen Träger. 1954 dreht sie einen Werbespot. 1957 ist sie Hauptdarstellerin in

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[I/215] BILD-Lilli mit BILD-Zeitung als Puppe (o. D.); [I/216] Werbung für die neuen Lilli-Puppen auf S. 1 der BILD-Zeitung vom 13.8.1955; [I/217] Lilli als Werbefigur auf dem Dach eines Zeitungskiosks am Potsdamer Platz in Berlin (1955)

dem Spielfilm Lilli – ein Mädchen aus der Großstadt, wo sie von der dänischen Schauspielerin Ann Smyrner verkörpert wird. (I/217) Auch als lebensgroße Werbefigur ist Lilli aktiv, wenn sie etwa auf einem Kiosk für die Springer-Zeitung wirbt. Der ‚Renner‘ jedoch entsteht 1955, als nach Lillis Vorbild eine Spielzeugfabrik eine Puppe produziert. Bis 1964 entstehen rund 130.000 Puppen mit blonden, dunklen oder roten Haaren in zwei Größen von 19 und 30 Zentimetern zu damals stolzen Preisen von 7,50 und 12 DM. Dazu gibt es im Laufe der Zeit 150 verschiedene Outfits vom Bikini bis zum Pelzmantel, einschließlich einer BILD-Zeitung im Miniformat, (I/215) die wiederum von der BILDZeitung beworben werden. Die Puppe ist der Liebling von Kindern wie Erwachsenen. Mitte der 1950er Jahre wird Lilli während eines Europa-Trips von Ruth Handler entdeckt, einer amerikanischen Unternehmerin, die zusammen mit ihrem Mann eine Spielzeugfirma betreibt. Beide erkennen so-

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fort Lillis Potenzial. Anders als bei anderen Puppen ist die Lilli-Puppe kein Kleinkind, sondern eine bereits erwachsene Frau mit einer entsprechenden Figur. Außerdem lassen sich ihre Arme, ihre Beine und ihr Kopf bewegen. 1959 präsentiert die Unternehmerin auf einer Spielwarenmesse in New York ihre eigene Puppe, die Lilli aufs Haar gleicht. Ihr Name: ‚Barbie‘. Unter diesem Namen wird sie ein internationaler Verkaufsschlager. Als man schließlich in Deutschland die Kopie bemerkt, traut man sich angeblich nicht mehr, gegen einen inzwischen großen amerikanischen Konzern zu klagen. Mit der Markteinführung der ‚Barbie‘Puppe zeichnet sich das Ende der deutschen Lilli ab. Der letzte Comic mit ihr erscheint am 5. Januar 1961. Drei Jahre später erwirbt die amerikanische Firma alle ­Rechte an der BILD-Lilli. Ihre Produktion in Deutschland wird eingestellt. Heute ist die Lilli-Puppe nur mehr ein nostalgisches, t­ euer gehandeltes Sammlerstück.­

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[I/218] Beate Uhse-Ladengeschäft Hamburg (um 1965); [I/219] Beate Uhse-Katalog, Ausgabe März 1990

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Neuen Schwung in die Geschlechterbeziehungen brachte seit den 1950er Jahren die Flensburger Unternehmerin Beate Uhse. 1951 hatte sie in Deutschlands nördlichster Stadt einen ‚Spezialhandel für Ehe- und Sexualliteratur‘ gegründet, der sich in den kommenden Jahrzehnten zu einem Seximperium ausweitete und schließlich sogar an die Börse ging. Zum Sortiment des Versandhandels zählten Verhütungsmittel, Stimulationsartikel, Dessous, erotische Bücher und Magazine. (I/218) 1962 eröffnete Uhse ebenfalls in Flensburg den ersten Sexshop der Welt. In den nächsten Jahren kamen 25 weitere Läden in der gesamten Bundesrepublik dazu. 1989 dehnte Uhse ihre Geschäftsaktivitäten auf die noch bestehende DDR aus. (I/219) Vor allem mit ihren bis 2016 erscheinenden Hochglanzkatalogen holte die Sexualpionierin die Sexualität aus der Tabuzone heraus und zeigte den Deutschen, dass diese nicht alleine der Fortpflanzung dienen musste. Mit der Sexwelle Ende der 1960er Jahre und der Legalisierung der Pornografie 1975 brachen alle Dämme. Uhse stieg ins Filmgeschäft ein und wurde nun vollends zum Hassobjekt von Feministinnen wie Alice Schwarzer, die ihr vorwarfen, aus der „erniedrigenden Darstellung“ von Frauen auch noch Profit zu schlagen. In einer Reportage stellte Schwarzers Zeitschrift EMMA Beate Uhse in diskriminierender Absicht als „Bomberpilotin und Pornoproduzentin“ dar.

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Die Wirkungen der Flensburger Sexualunternehmerin waren ambivalent. Mit ihren Aktivitäten beförderte Uhse zwar einerseits die Kommerzialisierung von Sexualität, andererseits war sie aber auch eine Pionierin für Aufklärung und liberale Sexualität, eine ‚Mutter Courage des Tabubruchs‘, wie sie von ihren Anhängern genannt wurde. Mit ihren Katalogen und Angeboten beförderte sie eine neue Einstellung der Bundesbürger zur Sexualität, die vielen nun mehr und mehr als etwas Selbstverständliches erschien und nicht mehr versteckt werden musste. Seit Mitte der 1960er Jahre zeichneten sich in den popkulturellen Bilderwelten, in den Bildern der Werbung wie in denen der neuen sozialen Bewegungen neue Geschlechterentwürfe ab. Diese wurden von den Massenmedien transportiert, verstärkt und modifiziert. Bereits Elvis Presley und Little Richard waren bei ihren Auftritten durch glamouröse Kleidung, außergewöhnliche Frisuren und einen sexualisierten Habitus aufgefallen, der dem vorherrschenden Bild von Männlichkeit widersprach. In den 1960er Jahren waren es dann die Fotografien und Fernsehaufnahmen der Beatles, der Stones und von Jimi Hendrix sowie später vor allem die Auftritte von Madonna und Michael Jackson, die die klassischen Geschlechterbilder verwischten. Zum Teil überschritten diese Popstars in ihrem Outfit und in ihren Bewegungen bewusst existierende Zeigbarkeitsregeln bei der Präsentation von Körperlichkeit. In den von den Massenmedien verbreiteten Bildern begannen sich die starren Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit aufzulösen. Feminine Posen auch bei Männern waren kein Tabu mehr. Eine visuelle Androgynität wurde sichtbar, die immer weitere Bevölkerungsgruppen erfasste. In diesem Sinne bedeutete die Popkultur der 1950/60er Jahre auch den Beginn einer umfassenden Neukonstruktion von Männlichkeit, die schließlich auch die Väterrolle veränderte. Hatten in den 1950er Jahren viele Männer das Schieben eines Kinderwagens noch als Schwäche empfunden, so ließen sie sich seit den 1970er Jahren nun selbstbewusst damit fotografieren, (I/220) wie jene drei Väter in Frankfurt am Main, die Barbara Klemm 1979 in einer Fotografie einfing. Parallel zur Neudefinition von Geschlechterrollen veränderten sich auch bislang gültige Erziehungskonzeptionen. (I/221) Geradezu als Provokation wirkte 1969 auf weite Teile der Bevölkerung das Buch und der Fernsehfilm Erziehung zum Ungehorsam von NDR-Redakteur Gerhard Bott über antiautoritäre Kinderläden mit zum Teil nackt spielenden Kindern. Viele Zuschauer empfanden die Bilder als „anarchistisch, ekelerregend und pornografisch“. Die antiautoritäre Erziehung, so fürchteten die CDU, der Caritasverband und der Kinderschutzbund, führe zur „systematischen Bolschewisierung“ der Kinder und zu „sexueller Libertinage“. Seit Ende der 1960er Jahre – auch das war neu – wurde der nackte bzw. teilentblößte weibliche Körper immer häufiger als Medium des Protests gegen überkommene Verhältnisse eingesetzt. ( I/253) Am Beginn der Politisierung der Nacktheit stand 1967 die Performance des kollektiven Rückenakts durch die Kommune 1. Eine Protestform des öffentlichen Entblößens entwickelte sich, die von verschiedenen Gruppen als Medium der Aufmerksamkeitsmobilisierung eingesetzt wurde. (I/222) Im Dezember 1968 demonstrierten so etwa in Hamburg barbusige SDSAktivistinnen in einem Gerichtssaal gegen ein Verfahren, in dem sich Genossen,

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[I/220] Barbara Klemm, Die neuen Väter, Frankfurt a.M. (1969); [I/221] Volker Rüdel, Antiautoritärer Kinderladen, Kiel 1970

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( I/255) die das örtliche Wissmann-Denkmal vom Sockel gestürzt hatten, wegen Landfriedensbruch zu verantworten hatten. (I/223) Am 22. April 1969 provozierte der Frankfurter ‚Weiberrat‘ mit dem sogenannten ‚Busenattentat‘ auf Theodor W. Adorno die Öffentlichkeit – festgehalten in einer unscharfen, weil verwackelten Fotografie. Mit ihrer Aktion protestierten die Frauen gegen einen der Väter der ‚Kritischen Theorie‘, der kurz zuvor zur Beendigung einer studentischen Besetzung seines Instituts Polizei angefordert hatte. 1981 entblößten deutsche Kernkraftgegner beiderlei Geschlechts publikumswirksam ihre Hinterteile vor der französischen Polizei, nachdem ihnen die Einreise nach Frankreich verweigert worden war. Im Schatten der studentischen Protestbewegung formierte sich seit 1968 eine neue Frauenbewegung, die ihren Protest gegen männliche Unterdrückung und frauenfeindliche Paragrafen in provozierenden Bildern umzusetzen verstand. Der Frankfurter ‚Weiberrat‘ verteilte auf einer SDS-Konferenz ein Flugblatt mit dem Motto „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen“. Das Bild zeigte eine mit einem Beil bewaffnete hüllenlose Frau, über deren Diwan makabre Jagdtrophäen hingen, die namentlich ihren einstigen Besitzern zugeordnet waren. Buttons mit dem abgeknickten phallischen Männersymbol forderten „Runter mit dem Männlichkeitswahn“ ( I/256d). 1971 machte die neue Frauenbewegung mit einer spektakulären Aktion gegen den ‚Abtreibungsparagrafen‘ 218 von sich reden. (I/224) Im Stern bekannten 374 Frauen unterschiedlicher Altersgruppen, abgetrieben zu haben. Das Titelblatt zeigte 28 Frauen im Porträt, darunter so prominente Gesichter wie Romy Schneider, Sabine Sinjen und Senta Berger. Die Porträtgalerie löste einen Skandal aus, der die Diskussion um den Paragraphen 218 neu entfachte. Plakate und Fotografien brachen seit Mitte der 1970er Jahre immer öfter mit den verbreiteten Klischees passiver Weiblichkeit. (I/225) „Wir sind Frauen. Wir sind viele. Wir haben die Schnauze voll“ hieß es 1975 auf einem Poster anlässlich einer Veranstaltung gegen den Paragraphen 218 in München. (I/226) Geradezu ikonischen Status erhielt 1977 das Cover der Erstausgabe der Zeitschrift Emma, das mit verbreiteten Weiblichkeitscodes von Unterlegenheit und Unterwerfung brach. Die Fotografie zeigt vier Mitarbeiterinnen des Blattes, die dem Betrachter frontal entgegenkommen und mit ihrem Blick fixieren. Die Körperhaltung der Aktivistinnen unter Führung der Emma-Gründerin Alice Schwarzer war bewusst konfrontativ. Statt eines strahlenden weiblichen Lächelns waren die Mienen der Frauen eher ernst. In Anlehnung an die Ikonografie kämpferischer und zielstrebiger Frauen der ersten Frauenbewegung verkörperten die Frauen weibliche Energie, Selbstsicherheit und Befreiung. Wie sehr sich die Rolle der Frauen und ihr Bild in den 1970er Jahren gewandelt hatte, machte die französische Modezeitschrift Vogue 1982 auf einer Doppelseite mit dem Titel ‚Beauté  – Silhouette 82‘ deutlich. Das von Helmut Newton inszenierte Diptychon zeigte eine Gruppe von vier Models in einem ­Studio – einmal unbekleidet, einmal bekleidet. Die Fotografien erschienen wie Kommentare zu dem Emma-Cover von 1977. Vor dem neutralen Fond hoben sich die Körper der Frauen wie Statuen ab.

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Provozierend, offen, selbstbewusst – Bilder der neuen Frauenbewegung [I/222] SDS-Protestaktion in einem Hamburger Gericht, Dezember 1968; [I/223] ‚Busenattentat‘ auf Theodor W. Adorno am 22.4.1969 in der Frankfurter Universität, Foto Alfred von Meysenburg; [I/224] Stern-Cover vom 6.6.1971; [I/225] Plakat für eine Veranstaltung gegen den § 218 im Schwabinger Bräu in München (1975); [I/226] Emma-Cover, 26.1.1977 mit Alice Schwarzer (2.v.l.); [I/227] Plakat DIE GRÜNEN (1986)

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Nicht so sehr der ernste, sondern eher der spielerisch-ironische Umgang mit den traditionellen Geschlechterbildern prägte 1986 den Wahlkampf der Hamburger GAL, die erstmals mit einer reinen Frauenliste kandidiert hatte. (I/227) Ihr satirisches Wahlplakat Einbruch in die Männerwelt spielte mit überkommenen Bildvokabeln, indem es nun Männer auf einen kopflosen Körper reduzierte und die kopflos abgebildete David-Statue von Michelangelo als Inbegriff männlicher Attraktivität und Stein gewordene Pathosformel von zwei Frauenhänden umgreifen ließ, die das männliche Geschlechtsteil mit einer Karnevalslarve bedeckten. Die Maske, so die Absicht, sollte den wahren Sitz des männlichen ‚Denkens‘ verhüllen. Zu sichtbaren Symbolen der neuen Frauenbewegung wurde das Venussymbol, zum Teil ergänzt und politisch aufgeladen mit einer geballten Faust als Zeichen für Tatkraft und Entschlossenheit, sowie der Farbe lila – einer Mischfarbe aus dem als ‚männlich‘ verstandenen Blau und dem ‚weiblichen‘ Rot. Beide prägten über Jahre hinweg auf Plakaten und Buchumschlägen, auf Buttons und T-Shirts das öffentliche Bild der Frauenbewegung. Es greift zu kurz, die neuen Bilder und Symbole des Geschlechterwandels als Ausdruck einer Massenbewegung und eines allgemeinen Kulturwandels zu deuten. De facto betrafen sie immer nur eine Minderheit von Frauen und Männern, vor allem in den Metropolen. Durch die Bildmedien erhielten sie jedoch eine Aufmerksamkeit, die nicht ihrer realen Verbreitung entsprach – ein Phänomen, das sich vier Jahrzehnte später wiederholen sollte. Als Türöffner für den weiteren Geschlechterdiskurs und für neue Protestformen waren sie aber gleichwohl von Bedeutung. ­Wirkungen entfalteten sie eher langfristig.

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Krisen, Affären, Skandale Risse im Bild des ‚Wirtschaftswunders‘

In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erhielt das bisherige Bild der Bundesrepublik und das des ungebremsten Wachstums erste Risse. Seit der Rezession von 1966/67 war erkennbar, dass Fortschritt und Wohlstand nicht unbegrenzt waren und die wirtschaftliche Prosperität das Land nicht gleichmäßig und überall erreichte. Es gab Gegenden auch in der Bundesrepublik, in denen der Wohlstand nie oder allenfalls verspätet ankam, und Bevölkerungsgruppen wie Hunderttausende von Arbeitsmi­ granten, die in prekären Verhältnissen lebten. Die Bilder der Ölkrise von 1973 kündigten das Ende der Überflussgesellschaft und der totalen Mobilität an. Zunehmend gerieten auch die Bilder der Fortschrittsund Wachstumsikonografie der Wirtschaftswunderzeit zum Gegenstand kritischer Diskurse in Publizistik und Kunst. Dunkle Schatten auf das System der parlamentarischen Demokratie und die Macht der Medien als vierter Gewalt, auf deren Machenschaften, Abgründe und Intrigen warfen in den 1980er Jahren die sogenannte ‚Barschel-Affäre‘ und der Medienskandal von Gladbeck, bei dem sich Fernsehjournalisten und Bildreporter zu willfährigen Komplizen von Terroristen gemacht hatten. Einen ersten ‚Knacks‘ hatte die bundesdeutsche Fortschrittseuphorie bereits 1957 durch die Aufnahmen der Hündin Laika, des ersten Lebewesens, das ein sowjetischer Sputnik in eine Erdumlaufbahn befördert hatte, erhalten. Während Laika in der DDR und in Osteuropa zur ‚Fortschrittsikone des Kommunismus‘ im System-

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Stillstand und Fantasie – Bilder der Ölkrise [I/228] An einem autofreien Sonntag im Sommer 1973 nutzen Camper eine leere Autobahn; [I/229] autofreier Sonntag in Habach in Bayern; [I/230] Auto mit Holzvergaser

wettbewerb des Kalten Krieges aufstieg, löste sie im Westen einen regelrechten Schock aus, der als ‚Sputnik-Schock‘ in die Geschichtsbücher einging und erstmals die wissenschaftlich-technische Überlegenheit des Westens infrage stellte.

Die Ölkrise von 1973 Bilder der Stille Einen ähnlichen Schock löste 1973 auch die sogenannte ‚Ölkrise‘ aus. Im Herbst 1973 hatten arabische Staaten infolge der westlichen Unterstützung Israels im JomKippur-Krieg die Ölförderung gedrosselt und ein Embargo verhängt. Der Ölpreis stieg um das Vierfache. Eine gespenstige Stimmung breitete sich aus. Den Bundesbürgern wurde deutlich, dass ihr Wohlstand erbarmungslos von ausländischen Rohstofflieferungen abhängig war. Für Sonntag, den 25. November 1973, sowie für drei weitere Sonntage verfügte die Bundesregierung auf der Grundlage ihres Energiesicherungsgesetzes ein allgemeines Fahrverbot sowie eine Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und 80 Stundenkilometern auf Landstraßen. Für einige Zeit gehörten die Straßen Spaziergängern, Kindern und Radfahrern. Die Autos, der Bundesdeutschen liebstes Spielzeug, blieben in den Garagen. Anders als zunächst befürchtet, nahmen die Menschen die Zwangspause gelassen hin. Dennoch machte sich ein Gefühl des Unbehagens breit. Ein Bewusstsein für die Endlichkeit fossiler Brennstoffe entwickelte sich. ( I/233) Sichtbarer Ausdruck hierfür war das SPIEGEL-Cover vom 19. November 1973, auf dem die bunten nächtlichen Leuchtreklamen einer Großstadt einer grauen Fläche weichen, die das „Ende der Überflussgesellschaft“ ankündigt. Indes beließ es die Bildberichterstattung der großen Zeitschriften und Magazine nicht beim Lamentieren über die neue Situation sowie bei Bildern von verwaisten

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Autobahnen und geschlossenen Tankstellen, sondern fokussierte in ihren Bildstrecken immer auch auf den fantasievollen und kreativen Umgang der Bundesbürger mit dem Fahrverbot. Zu sehen waren Aufnahmen von Fahrradkorsos, von freundlichen Spaziergängern wie der Familie des Bundeskanzlers auf dem Venusberg in Bonn, von Rollschuhfahrern und (I/228) Campingfreunden auf der Autobahn. Es waren Bilder der Ruhe und der Stille. Die hektisch-betriebsame Wohlstandsgesellschaft hielt für einen Augenblick inne. (I/229) Fast schon eine Ikone der Ölkrise, weil auch später immer wieder reproduziert, wurde jenes Foto einer Gastwirtsfamilie aus dem bayerischen Habach vom 25. November, die ihre Gäste mit einem VW-Bulli vom Bahnhof abholen lässt, der von zwei Pferden gezogen wird. (I/230) Andere Berichte widmeten sich alternativen Antriebstechniken wie dem Auto eines Erfinders, das mit einem Holzvergaser betrieben wurde. Alle diese Bilder zeigten anschaulich, dass sich die Bundesdeutschen nicht passiv in die Situation einfügten, sondern ihr mit Fantasie und Kreativität begegneten. Und so war es sicherlich auch kein Zufall, dass sich gerade im Gefolge der Ölkrise neue soziale Bewegungen zu formieren begannen und es 1980 zur Gründung einer ersten grünen Partei kam.

Saurer Regen – mörderisches Atom Anfänge der ‚Öko-Ikonografie‘ Zu einem Vorreiter in Sachen „Öko-Ikonografie“ (Joachim Radkau) wurden die Titelbilder des SPIEGEL. Zunächst waren es die Bilder der ungebremst rauchenden Industrieschlote, denen widersprochen wurde. (I/231) Der SPIEGEL-Titel „Blauer Himmel über der Ruhr“ vom 9. August 1961 griff einen Satz aus dem Programm des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt auf, der einen „Blauen Himmel über dem Ruhrgebiet“ gefordert hatte. Das Cover zeigte das düstere SchwarzWeiß-Bild einer Industrielandschaft und eines verdunkelten Himmels, aus dem in weißen Lettern der Brandt-Satz heraussticht. In einer Vielzahl von Titelbildern konterkarierte das Hamburger Magazin auch in den folgenden Jahren immer wieder die Industrialisierungsikonen der rauchenden Schlote, so auf dem Titel vom 5. Oktober 1970, der neben Müllbergen, einem ausgetrockneten Gewässer und den Abgasen einer Autoschlange auch gewaltige rötliche Rauchschwaden über einer Industriekulisse zeigte. (I/232) Am bekanntesten wurde das Cover vom 16. November 1981 „Saurer Regen über Deutschland – Der Wald stirbt“, das aus einer Bildmontage dunkel rauchender Fabrikschlote und eines frischen grünen Waldes bestand, der in den Wipfeln zu verdorren begann. Der Titel markierte den medialen Start des großen ‚Waldsterben‘-Alarms. „Die Waldklage, die alte romantische Traditionen reaktivierte, […] ließ gerade auch konservative Geister nicht ungerührt und übte eine integrative Wirkung aus, die bis zu der neuen Regierung Kohl reichte.“ 120 Die Problematik der Luftverschmutzung und ihrer Auswirkungen auf das Ökosystem Wald versetzte Medien und Wissenschaft, offizielle Politik und Umweltschützer nun gleichermaßen in Alarmstimmung. Hatten bereits 1969/70 verschiedene SPIEGEL-Cover auf den drohenden Verkehrsinfarkt und das Sterben der Städte verwiesen, (I/233) so markierte die Ölkrise

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Untergangsszenarien – Anfänge der ‚Öko-Ikonografie‘ im SPIEGEL [I/231] SPIEGEL-Cover Nr. 33/1961; [I/232] 47/1981; [I/233] 47/1973; [I/234] 33/1986

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von 1973 den nächsten größeren Einschnitt, der den Glauben an ein ungebremstes Wachstum infrage stellte. (I/234) Mit einer Fotomontage des in Fluten versinkenden Kölner Doms beschwor der SPIEGEL am 11. August 1986 schließlich die „Klima-Katastrophe“. Im Gefolge des sozialen Aufbruchs der 1970er Jahre wurden die bunten Bilder der Wirtschaftswunderwelt auch in Kunst und Grafik immer öfter kritisch kommentiert. Zum Teil bedienten sich Künstler dabei ikonografischer Metaphern und Motive aus der Kunstgeschichte wie des fallenden Ikarus und des Totentanzes. (I/235) Die Männerfiguren auf Johannes Grützkes Gemälde Unser Fortschritt ist unaufhörlich von 1973, die sich krampfhaft an ein Flugmodell klammern, weckten Assoziationen an den Fall des Ikarus. (I/236) Anknüpfend an die Ikonografie des spätmittelalterlichen Totentanzes, in der der Tod u. a. als Musikant auftritt und als Sinnbild für Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen steht, spielte der Tod auf einem Fotomontageplakat von Ernst Volland von 1976 über der Kulisse eines Kernreaktors mit seiner Fiedel auf. (I/237) Klaus Staeck fühlte sich von dem SPIEGEL-Cover „Der Wald stirbt“ von 1981 zu seinem Plakat Lasst uns nicht im Regen stehen inspiriert, das anders als das SPIEGEL-Bild die Fotografie eines bereits abgestorbenen Kiefernwaldes verwendet. Spätestens seit 1975 erschienen vermehrt Plakate und Collagen, die das Abschalten alter bzw. den Verzicht auf den Bau neuer Atomkraftwerke forderten. Dabei standen die Kritiker vor dem grundsätzlichen Problem, die unsichtbaren Risiken der Radioaktivität in Bilder umzusetzen. (I/239a) Am 21. Juli 1975 machte der SPIEGEL erstmals mit einem Titelbild auf, das einen strahlenden Atomreaktor zeigte und die Frage stellte: „Todesstrahlen aus dem Atom-Kraftwerk?“ In den folgenden Jahren bürgerten sich Todesmotive als Synonyme für die Gefahren der Atomkraft in der Ikonografie der Anti-AKW-Bewegung ein. (I/239b) Nach dem Reaktorunglück von Harrisburg 1979 brachte der SPIEGEL einen Titel „Alptraum Atomkraft“ mit einem riesigen geisterhaften Totenschädel, der über den Kühltürmen des Kernkraftwerks zu schweben scheint, heraus. Der SPIEGEL und ähnlich auch der Stern zeigten in den 1970er Jahren auf ihren Titelseiten eine regelrechte Vorliebe für Motive des Todes. In den 1980er Jahren entkoppelte sich zunehmend der Zusammenhang zwischen Bild und Story. Die Bilder verselbstständigten sich zu einer allzeit verwendbaren Ikonografie des Alarmismus, die zu den unterschiedlichsten Anlässen abgerufen werden konnte und sich zu einer negativen, geradezu paranoiden Grundhaltung einer Generation verfestigte. Weitestgehend bilderlos blieb 1986 die Katastrophe von Tschernobyl. Die sowjetische Regierung und ihre Geheimdienste hatten ein Bilderverbot über den GAU verhängt bzw. nur retuschierte und entdramatisierte Fotografien passieren lassen, die von der tatsächlichen Dimension der Reaktorkatastrophe keine Vorstellung gaben. Erst im Nachhinein sickerten einzelne Aufnahmen der Katastrophe durch, die allerdings die reale Gefahr kaum einmal auszudrücken vermochten. Magazine wie der SPIEGEL und Time Magazine druckten ein wenig aussagekräftiges und zudem retuschiertes Foto des geborstenen Reaktors auf ihren Titelblättern ab. Um dem Bild eine dem Ereignis angemessene Bedeutung zu verleihen und die tödliche Strahlung zu symbolisieren, ließ man es grafisch bearbeiten und gelb einfärben. (I/239c) Eine

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Todesvisionen – der „Tunnelblick auf das Katastrophische“ [I/235] Johannes Grützke, Unser Fortschritt ist unaufhörlich, Gemälde (1973); [I/236] Ernst Volland, Lied vom Tod, Fotomontage (1976); [I/237] Klaus Staeck, Lasst uns nicht im Regen stehen, Postkarte (1983); [I/238] Sigmar Polke, Neid und Habgier I, Acryl, Lack und Blattgold auf Leinwand (1984); [I/239] SPIEGEL-Cover 30/1975, 15/1979, 19/1986

zusätzliche Aufladung erhielt das Bild durch das über dem Reaktordach montierte Strahlungs-Symbol und die Bildunterschrift „Mörderisches Atom“. Andere Zeitschriften versuchten mit Fotografien von abgedeckten Sandkästen, von verlassenen Spielplätzen und protestierenden Müttern das reale Bilderdefizit zu kompensieren. (I/238) Erstmals geriet jetzt auch die bislang populäre D-Mark in Werken der bildenden Kunst zum Gegenstand der Kritik, so in Sigmar Polkes Gemälde Neid und Habgier I von 1984. Der Kölner Künstler hatte Ähren als Symbole für Ernte und Reichtum aus D-Mark-Stücken geformt. Aus dem Boden gelöst und entwurzelt, schwebten sie über einem schlammigen Grund. Das Getreide war zu Münzen mutiert, die man nicht essen konnte und die folglich keinen Hunger stillten. Es war nur mehr Ware, die den Marktgesetzen gehorchte: die D-Mark als Symbol für Bereicherungssucht und Zerstörung. Neben der zum Teil apokalyptischen bzw. alarmistischen Ikonografie begann sich eine eigenständige Protestikonografie der sozialen Bewegungen herauszubilden, die sich deutlich von den bisherigen publizistischen und künstlerischen

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Arbeiten unterschied. (I/240) Zumindest in ihren Anfängen war diese weniger professionell, oft ‚handmade‘ und stärker auf lokale und regionale Proteste der Umweltschutzbewegung gegen konkrete Projekte bezogen. Ende der 1970er Jahre ( I/58) wurden diese Plakate zu Vorbildern der Politwerbung der neuen Partei DIE GRÜNEN. (I/240a, b) Erstmals hatte es solche Plakate Mitte der 1970er Jahre aus Anlass von Protestaktionen gegen den Bau eines geplanten Atomkraftwerkes im badischen Wyhl gegeben, die mit einfachen bildnerischen Mitteln zu Aktionen im Dreiländereck aufforderten. (I/240c) Mit Protesten gegen eine geplante Atommüllfabrik im wendländischen Gorleben wurden die Plakate professioneller. Statt nur auf die Umweltgefahren der als unbeherrschbar betrachteten Kernenergie hinzuweisen, arbeiteten die Plakate nun auch mit lebensbejahenden Symbolen wie dem Baum, der Sonne und der Menschenkette sowie mit den Farben grün, orange und rot und damit mit Farben, die Hoffnung und Widerstand symbolisierten. (I/240d) Spätestens mit den Protesten gegen die Atomkraftwerke an der Elbe hatte sich eine Corporate Identity der Anti-AKW-Bewegung herausgebildet. Die Plakate waren schnell und einfach identifizierbar und besaßen einen hohen Wiedererkennungswert. Dass die Atomkraft gesellschaftlich kaum mehr durchsetzbar war, zeigten 1981 die dramatischen Bilder von den Protestkundgebungen von 100.000 Menschen in der Wilstermarsch gegen den Bau und die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Brokdorf an der Elbe. (I/241) Die Proteste lösten einen der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik mit teils bürgerkriegsähnlichen Szenen aus. Die Bildberichterstattung in Presse und Fernsehen fokussierte vor allem auf den übermächtigen, von dem damaligen schleswig-holsteinischen Innenminister Uwe Barschel zu verantwortenden Polizeieinsatz gegen die Demonstranten. Während Übergriffe der Polizei zumeist groß ins Bild gesetzt wurden, blieben Bilder und Berichte über gezielte Angriffe von Demonstranten auf Polizisten in der Regel unveröffentlicht oder wurden wie in Sendungen des NDR oder im SPIEGEL kleingeredet und heruntergespielt. So auch die Fotografie des Hamburger Fotografen Tobias Heldt, auf der zu sehen war, wie zwei Demonstranten mit Spaten und Knüppel

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Anti-AKW-Plakate [I/240a] 1983, [I/240b] 1983, [I/240c] 1979, [I/240d] 2010

auf einen im Eis eingebrochenen und dadurch hilflosen Polizeibeamten einschlugen, während andere Demonstranten die Szene beobachteten. Nur das Hamburger Abendblatt und der Stern veröffentlichten das Foto – der Stern sogar großformatig auf einer Doppelseite. Unter Androhung einer sechsmonatigen Beugehaft wurde Heldt später gezwungen, sein Filmmaterial der Staatsanwaltschaft zur Verfügung zu stellen, das diese für Fahndungszwecke benötige. Mithilfe des Fotos, das in 200 Tageszeitungen veröffentlicht wurde, konnten die Gewalttäter identifiziert, festgenommen und wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch zu Freiheitsstrafen von drei und fünfeinhalb Jahren verurteilt werden. Wie der SPIEGEL berichtete, galt der Fotograf in Anti-AKW-Kreisen fortan als ‚Denunziant‘ und wurde auch körperlich attackiert. Er war mit seiner Aufnahme zwischen die Fronten geraten.

Genf und Gladbeck Bilder einer Politikaffäre und eines Medienskandals In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erregten zwei Ereignisse die Öffentlichkeit, die Politik und Medien in einem negativen Licht erscheinen ließen: die sogenannte ‚Barschel-Affäre‘ und die Geisel-Affäre von Gladbeck, die beide in erster Linie Medienskandale waren. Es sei das „bekannteste Paparazzi-Foto“, das je in Deutschland veröffentlicht wurde, schrieb Jungle World, unter Bezug auf den Focus-Chef Helmut Markwort. Sein Informationswert sei null, befand Bettina Gaus in der taz, dennoch werde es beständig reproduziert und sei so zu einem „Symbol für den Verfall der Sitten“ in der Mediengesellschaft geworden. Kaum ein anderes Bild durchlebte einen ähnlichen Wandlungsprozess wie das des toten schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU) in einer Hotelbadewanne in Genf. Entstanden als Pressefoto, wurde das Bild zum Skandal, das eine heftig geführte Debatte um die Moral der Medien entfachte. Später fungierte es als Beweisfoto der Staatsan-

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[I/241] Transporthubschrauber gegen Demonstranten, Anti-Brokdorf-Demonstration 28.2.1981 [I/242]

[I/242] Zwei Demonstranten schlagen mit Spaten und Knüppel auf einen Polizeibeamten ein; Aufnahme von Tobias Heldt vom 28.2.1981

waltschaft. Schließlich avancierte es zum Symbolbild der Skandalgeschichte der Bundesrepublik, das ikonischen Status erhielt und Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses wurde. Seine große Wirkung konnte das Foto u. a. deshalb entfalten, weil andere Bilder, die Barschel mit eindeutigen Kopfverletzungen zeigten, unter Verschluss gehalten wurden und das Bild selbst letztlich mehrdeutig war. Es schien etwas zu beweisen und ließ doch alles im Dunkeln. Gerade dadurch beflügelte es die Fantasie der Betrachter und wurde in Medien, Kunst und Satire immer wieder zitiert und reinszeniert.

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Titelbild: Der Tote in der Badewanne Am 11. Oktober 1987 findet der Stern-Reporter Sebastian Knauer die Leiche des kurz zuvor zurückgetretenen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel in der Badewanne des Zimmers 317 in dem Genfer Nobelhotel ‚Beau Rivage‘. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ist Knauer in das Zimmer, dessen Tür nicht abgeschlossen war, eingedrungen und fand dieses leer vor. Er habe daraufhin alle im Zimmer liegenden persönlichen Gegenstände, einschließlich einiger handschriftlicher Notizen, an sich genommen, diese in seinem eigenen Hotelzimmer abfotografiert und dann in das Zimmer 317 zurückgebracht.

[I/243] Titelseite Stern, Nr. 44/1987, mit einer Aufnahme von Sebastian Knauer [I/243]

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Zwischendurch habe er noch mehrere Telefonate mit seiner Redaktion in Hamburg und mit dem zuständigen Ressortchef geführt, mit dem er das weitere Vorgehen abgestimmt habe. Erst bei einem zufälligen Blick in den separaten Toilettenraum habe er dann die Leiche Barschels bemerkt und anschließend den Hoteldirektor informiert und gebeten, Polizei und Rettungsdienst zu informieren. Danach sei Knauer dann noch einmal in das Hotelzimmer gegangen, um (I/243) jenes Foto zu schießen, das später zum Symbol des ganzen Skandals werden sollte. Insgesamt habe Knauer 51 Aufnahmen vom Tatort, von den Notizen Barschels sowie vom Toten selbst gemacht. Etwa eine Stunde nach Benachrichtigung der Polizei trifft die Genfer Kriminalpolizei im ‚Beau Rivage‘ ein. Um 15.29 Uhr meldet Associated Press: „Eilt – Barschel tot aufgefunden.“ In den ersten Radiomeldungen heißt es unter Berufung auf die BILD-Zeitung, Barschel habe sich erschossen. Damit liegt bereits frühzeitig ein Deutungspassepartout fest, in dem das Foto künftig betrachtet werden sollte. Knauer und ein Kollege sowie weitere Reporter waren Barschel auf der Spur, nachdem dieser am 25. September erklärt hatte, am 2. Oktober von seinem Amt zurücktreten zu wollen, und anschließend mit seiner Frau Deutschland verlassen hatte. Hintergrund des Rücktritts waren Anschuldigungen des SPIEGEL, Barschel habe seinen Medienreferenten Pfeiffer beauftragt, den SPD-Spitzenkandidaten um das Amt des Ministerpräsidenten, Björn Engholm, privat beschatten zu lassen, belastendes Material über dessen Privatleben zu recherchieren und Gerüchte über eine angebliche AIDS-Erkrankung Engholms zu lancieren. Wie sich später herausstellen sollte, hatte die SPD-Führung in Kiel und auch Engholm selbst schon seit Längerem von den Machenschaften in der Staatskanzlei Barschel gewusst, Beziehungen zu Pfeiffer unterhalten, diesem auch Geld zu-

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kommen lassen und ansonsten nur den richtigen Zeitpunkt der Enthüllungen abgewartet, die dann am 7. September, eine Woche vor den Landtagswahlen in Deutschlands hohem Norden, im SPIEGEL unter der Überschrift ‚Waterkantgate‘ erfolgte. Auf einer Pressekonferenz am 18. September – der sogenannten ‚Ehrenwortpressekonferenz‘ – hat Barschel in einer eidesstaatlichen Erklärung alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bestritten. Nachdem als Todesursache Barschels schnell eine Medikamentenvergiftung ermittelt ist, setzt eine bis in die Gegenwart reichende Auseinandersetzung um die Frage ein, ob Barschel – gleichsam als Schuldeingeständnis  – Selbstmord begangen habe oder ermordet worden sei. Zweifel am Selbstmord Barschels hegt nicht nur dessen Familie, sondern auch die in Deutschland ermittelnde Staatsanwaltschaft in Lübeck, die ein „Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Verdacht des Mordes an Dr. Dr. Uwe Barschel“ einleitet und die Stern-Fotos als einzige brauchbare Tatort-Fotos anfordert. Ende der 1990er Jahre erklären die Behörden die Ermittlungen für abgeschlossen, obwohl der ermittelnde Oberstaatsanwalt einen Anfangsverdacht für Mord weiterhin bejaht. In der Folge tauchen nie widerlegte Vermutungen auf, Barschel sei das Opfer von professionellen Killern geworden, weil er von einem Waffengeschäft zwischen Israel und dem Iran erfahren habe, das logistisch über einen Hafen in Schleswig-Holstein abgewickelt werden sollte, dem Barschel nicht zugestimmt habe. Der Fotograf des Toten in der Badewanne äußerte sich wenige Tage nach der Aufnahme gegenüber dpa. Insgesamt habe er etwa 15 Minuten in dem Hotelzimmer Barschels verbracht. Nachdem er die Leiche entdeckt habe, habe er „unter Schock“ „nur reflexartig auf die Kamera gedrückt und sofort den Raum verlassen, dort nichts angerührt“. Der Stern selbst lässt verlauten, das Verhalten seines Reporters sei das „Ergebnis normaler journalistischer Arbeit, business as usal,

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sozusagen“. „Begrenzte Regelverstöße“ seien manchmal „unvermeidlich, aber auch gerechtfertigt, um Mißstände, Skandale und ungeklärte Affären aufzuhellen“. Der Reporter habe letztlich die „Funktion einer freien Presse“ wahrgenommen.121 Die starke Wirkung des Badewannen-Fotos lag u. a. darin begründet, dass die Publikation des Bildes eines toten Prominenten auf der Titelseite einer Illustrierten ein Tabubruch in der bundesdeutschen Mediengeschichte bedeutete, der voyeuristische Bedürfnisse der Betrachter bediente, und zugleich andere Fotos des Toten von seiner späteren Obduktion, die Verletzungen und Hämatome im Gesicht erkennen ließen und eine andere Todesursache suggerierten, erst Jahre später zur Veröffentlichung gelangten. Die Fokussierung der Medien auf das Badewannen-Foto und damit auf die Person Barschel hatte zur Folge, dass die komplexen Hintergründe und auch die Verstrickung der SPD und ihres Spitzenkandidaten in den Fall ausgeblendet blieben. Mit der Veröffentlichung des Badewannen-Fotos und dem Bekanntwerden der Methoden des Stern begann eine heftig geführte Debatte über das journalistische Gewerbe und die journalistische Ethik. Aus dem politischen Skandal wurde ein Medienskandal. Der Deutsche Presserat verurteilte zwar das Eindringen des Reporters in das Hotelzimmer als Verstoß gegen den Pressekodex und unlautere Methode der Informationsbeschaffung, bejahte aber grundsätzlich das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer Veröffentlichung des Bildes als „zeitgeschichtliches Dokument“. Als der Stern das Bild eine Woche später abermals abdruckte, erteilte der Presserat der Zeitschrift allerdings eine Rüge. Die erneute Veröffentlichung habe keinen Informationswert, vielmehr hätte man die Interessen der Hinterbliebenen jetzt schützen müssen. Wie kaum ein anderes zeitgeschichtliches Bild avancierte das Foto des toten Barschel zu einer zeitgeschichtlichen Ikone, die beständig zitiert und reinszeniert wurde, so in

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[I/244a] Plakat Theater Heidelberg, Entwurf Gottfried Helnwein (1988); [I/244b] Thomas Demand, Badezimmer (Beau Rivage), Fotografie (1997); [I/244c] Titanic-Cover 2/1995; [I/244d] Ernst Volland, aus der Serie Eingebrannte Bilder

Fernsehdokumentationen wie in dem mit dem ‚Prix Europe‘ ausgezeichneten Dokumentarfilm Die Erben des Dr. Barschel in der ARDSendereihe Unter deutschen Dächern aus dem Jahr 1990 oder Heinrich Breloers Dokudrama Die Staatskanzlei von 1990. Immer wieder tischte auch ZDF-History-Produzent Guido Knopp dem Publikum in seinen Filmen und Büchern die Geschichte des berühmten Toten und des ebenso berühmten Fotos auf. Selbst auf der Theaterbühne fand sich das Foto als Reenactment wieder. Der Ehrgeiz und das Machtstreben Barschels drängten Assoziationen zu Shakespeares Macbeth geradezu auf, so 1988 in der Skandal-Inszenierung MacBarsh im Hamburger Schauspielhaus und im selben Jahr in der Macbeth-Choreografie von Johann Kresnik am Heidelberger Theater, zu der der Wiener Künstler Gottfried Helnwein Bühnenbild und (I/244a) Plakat entworfen hatte.

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Die ikonische Kraft des Fotos war schließlich so groß, dass es des Originalfotos gar nicht mehr bedurfte, um die Erinnerung an den Fall Barschel zu aktivieren. (I/244b) Nur mehr die bloße Darstellung der Badewanne wie 1997 in einer Installation von Thomas Demand oder in einem (I/244d) Unschärfebild von Ernst Volland genügte, um die Erinnerung in Gang zu setzen. Auch in Satire und Comic wurde das Foto immer wieder aufgegriffen, wobei sich die Satire oft zum reinen Klamauk verselbstständigte, (I/244c) wie etwa gleich in mehreren Titelbildern der Zeitschrift Titanic. Aus Anlass des 10. Jahrestages der Ehrenwortpressekonferenz lud ein Kieler Verlag 1997 sechs Karikaturisten ein, sich Gedanken über die verschiedenen Erklärungsmodelle zu Barschels Tod zu machen und diese in einem Heft mit dem Titel „Wege in die Wanne. 6 Thesen, wie es wirklich war“ zu illustrieren.

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Zum Medienereignis bzw. -skandal, der ein grelles Licht auf die Methoden der bundesdeutschen Medien warf, geriet auch das Gladbecker Geiseldrama. Es hatte am 16. August 1988 begonnen, als sich zwei vorbestrafte, vermummte und bewaffnete Bankräuber Zugang zu einer Filiale der Deutschen Bank im Gladbecker Stadtteil Rentfort verschafften. Bereits im Bankgebäude gaben sie einem Rundfunksender ein Telefoninterview und stellten damit öffentliche Aufmerksamkeit her. „Die Bankräuber entdeckten die Macht der Medien, so wie umgekehrt die Reporter auf ein brutales Duo stießen, das dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums nachkam“, analysierte der Kommunikationswissenschaftler Steffen Burkhardt.122 Der Überfall geriet zum Entertainment, in dem Medien mit dramaturgischem Geschick das Publikum über die Fortsetzung des Geschehens unterrichteten und an den Bildschirmen hielten. Verfolgt von Polizisten und Reportern, fuhren die Bankräuber mit zwei Geiseln über die Autobahn in Richtung Bremen, wo sie einen Linienbus mit 32 Fahrgästen kaperten und damit dem medialen Drama einen weiteren Spannungsbogen zufüg-

[I/245] Spontan-‚Pressekonferenz‘ des Geiselnehmers Rösner am 18.8.1988 in der Kölner Innenstadt, mit Udo Röbel, damals Reporter beim Kölner Express, später Chefredakteur der BILD-Zeitung

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ten. Während sich die Polizei aus Furcht vor einem Blutbad zurückhielt, stürzte sich der Medientross auf die Geiselnehmer. Bereitwillig ließen sich diese interviewen bzw. posierten im Gestus von Revolverhelden für die Bildreporter. Als schließlich einer der beiden Kriminellen eine junge Frau mit an die Kehle gehaltener Pistole zwang, auf die Fragen der Reporter zu antworten, fand der TV-Krimi einen weiteren Höhepunkt. Nachdem die Geisel und die Geiselnehmer den Journalisten Rede und Antwort gestanden und fünf Geiseln freigelassen worden waren, setzten sie ihre Fahrt im Bus über die Autobahn fort. Während eines Stopps an einer Autobahnraststätte forderte einer der Bankräuber: „Ich will jetzt durch die Medien sprechen!“ Wieder waren Reporter vor Ort und mit diesen das Live-Publikum. War das Geiseldrama bislang unblutig verlaufen, wurden die Menschen an den Bildschirmen und an den Radiogeräten nun Augen- und Ohrenzeugen der Tötung eines 15-jährigen Jungen. Reporter filmten, wie der nach dem Kopfschuss blutüberströmte Junge aus dem Bus gezogen wurde. Am Mittag des 18. August steuerte das Spektakel in der Kölner Innenstadt seinem Höhepunkt zu. Inmitten von Passanten umlagerten Reporter und Kameramänner das Fluchtauto und führten Interviews mit den Kriminellen. Auf zahlreichen Fotografien sind die Szenen festgehalten: (I/245) Reporter klebten mit ihren Mikrofonen, Kameras, Fotoapparaten und Diktiergeräten förmlich an dem Fluchtauto, um das Drama aus nächster Nähe zu verfolgen. Ein Reporter bot sich an, Geiselnehmer und Geiseln aus der Innenstadt zur nächsten Autobahnauffahrt zu lotsen. Wenige Minuten später endete das Geiseldrama mit einem Schusswechsel zwischen den Geiselnehmern und der Polizei. Eine der beiden Geiseln wurde dabei von einem der Bankräuber durch einen Schuss getötet. Mit seiner Live-Berichterstattung hatte das Fernsehen das Genre des RealityFernsehens begründet, bei dem die Realität immer stärker nach medialen Gesetzen modelliert wurde, so dass viele Zuschauer und selbst die Geiseln schließlich nicht mehr wussten, ob das, was sie sahen und erlebten, Realität oder Fiktion war. Realität und Fernsehwirklichkeit hatten zu einer kaum mehr entwirrbaren Synthese zusammengefunden, in der Kriminelle und Geiseln zeitweise wie Medienstars und Regisseure einer Reality-Show agierten. Öffentlichkeit und Wissenschaft diskutierten in der Folge neben Einsatzfehlern der Polizei vor allem die Verantwortungslosigkeit der beteiligten Reporter. Ein Kritiker schrieb später: „Die Komplizenschaft der Bildmedien ließ das Geiseldrama wie einen Film erscheinen: Opfer, Täter, Polizisten agierten wie die Figuren einer TV-Inszenierung […] Der Illusion, sich eher bei einem Filmdreh zu befinden als einem ‚echten‘ Verbrechen, schien zeitweise nicht nur das Publikum zu erliegen.“ Eine der Geiseln glaubte zunächst selbst, sich in der Sendung Versteckte Kamera zu befinden, und ein beteiligter Zuschauer fragte ungläubig: „Ist das ein Film?“123 Wie andere Medienereignisse fand auch das Gladbecker Geiseldrama ein mediales Nachspiel. (I/246) Die Hardcore-Punk-Band ‚Hammerhead‘ verwendete 1994 ein auch von Illustrierten oft reproduziertes Agenturfoto aus Köln, das den Bankräuber Degowski mit der später erschossenen Geisel Silke Bischoff zeigt, zur Gestaltung der Hülle ihrer LP Stay Where The Pepper Grows. Außer in mehreren Fernsehdokumenta-

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tionen wurde die Geiselnahme auch künstlerisch verarbeitet, so 1992 in Christoph Schlingensiefs Film Terror 2000 – Intensivstation Deutschland. Der Film erzählt nicht einfach die Ereignisse nach, sondern reflektiert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Medienskandals. In Anlehnung an die Ereignisse in Gladbeck und Köln und deren Bilder sind es bei Schlingensief zwei flüchtige Gangster, die in einer ostdeutschen Kleinstadt Asylanten peinigen, dabei von zwei dilettantischen Kriminalbeamten verfolgt und von einer sensationsgierigen Medienschar hofiert werden. (I/247) Das zentrale Pressefoto des Medienskandals  – die mit der Pistole am Kopf bedrohte Geisel im Auto  – war auch das Schlüsselmotiv von Schlingensiefs Film. Das Bonner ‚Haus der Geschichte‘ zählte das Medienspektakel von 1988 zu den 20 bedeutsamsten Skandalen der deutschen Nachkriegsgeschichte und arbeitete es in seiner Ausstellung ‚Skandale in Deutschland nach 1945‘ museal auf.

‚Karriere‘ eines Bildmotivs

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[I/246] Plattencover Stay Where The Pepper Grows der Gruppe ‚Hammerhead‘ (1994); [I/247] Standbild aus dem Film Terror 2000 von Christoph Schlingensief (1992)

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Körper als Medium Die visuelle Protestkultur der 68er

Mit der Entstehung neuer Bilderwelten einher gingen neue Bilderpraxen in den Protestbewegungen der 1960er sowie im Terrorismus der 1970er Jahre. Wie keine politische Bewegung zuvor, abgesehen von den Nazis, waren sich die Akteure der sozialen Protestbewegungen dieser Jahre der aktiven Potenziale von Bildern bewusst. Bilder fungierten bei ihnen sowohl als Medien der Popularisierung der eigenen Bewegung, als auch als ‚Waffe‘ im Meinungskampf und als Mittel der politischen Anklage. Durch die internationale Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg erhielten Pressefotografien zunehmend die Funktion als Anklagemedien. Illustrierte Magazine und Fernsehsender trugen Bilder von Gewalt und Leid auch in deutsche Wohnzimmer und machten diese damit zu einem ikonografischen Resonanzraum, der Fotografien zu Faktoren der Veränderung der politischen Kultur bzw. sogar zur Begründung terroristischer Aktionen gegen die USA werden ließ. Der ehemalige RAF-Verteidiger und Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) etwa sah in dem Foto des nackten ‚Napalmmädchens‘ Kim Phuc aus dem Vietnamkrieg – einer fotografischen Superikone des 20. Jahrhunderts  – einen Beleg für einen von den USA mit bundesdeutscher Unterstützung betriebenen „Völkermord“, der die Terroristen der RAF motiviert habe. Im Stammheim-Prozess führte er 1976 aus: „Vielleicht ist es notwendig, einmal an die Bilder zu erinnern, die hier über das Fernsehen gegangen sind, von den durch Napalm verbrannten Kindern, um auch sinnlich wahrnehmbar zu machen, um was es geht. Das sind die gleichen Bilder: das jüdische Kind im Ghetto, das mit erhobenen Händen auf SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die schreiend, napalmverbrannt dem Fotografen entgegenlaufen nach den Flächenbombardements.“124 Bilder besaßen in den neuen sozialen Bewegungen darüber hinaus gemeinschaftsbildende Funktionen. (I/250) Die Fotos des chinesischen Partei- und Staatsführers Mao Zsedong, des Präsidenten der Demokratischen Republik Vietnam Ho Chi Minh sowie des aus Argentinien stammenden Rebellenführers Che Guevara wurden als Sinn- und Vorbilder der Revolte bei Demonstrationen mitgeführt oder zierten ganz kleinbürgerlich Kaffeetassen. Che-Guevara- und Mao-Poster hingen in so manchen Wohngemeinschaften und Kommunen. (I/248) Paul Breitner, 22-jähriger Spitzenspieler beim FC Bayern-München und bekennender Maoist, sorgte 1974 für einigen Wirbel, als er in seinem Arbeitszimmer mit zwei Postern mit Che ­Guevara

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[I/248] Paul Breitner 1974 in seinem Arbeitszimmer, Aufnahme von Peter Thomann/Stern

und Mao Zedong für den Fotografen posierte; ganz geschäftstüchtig hatte er im Vordergrund selbst verfasste Bücher zur Weltmeisterschaft 1974 platziert. In ihrer Außendarstellung knüpften die neuen sozialen Bewegungen der 1960er und beginnenden 1970er Jahre an die Bild-, Kunst- und Medienpraktiken der zeitgenössischen Kunst an, ( I/67) wie sie die Fluxus-Künstler mit ihren Happenings kreiert hatten und wie sie für den Paradigmenwechsel vom Objekt zur Handlung als Ausdruck der Kunst insgesamt typisch waren. Ihre Akteure wie die ‚Provos‘ in den Niederlanden und die Kommune 1 in Berlin nutzten die Formen der neuen Aktionskünste, „ihren Witz, ihre Überraschungseffekte und ihren dosierten Ungehorsam, um ihre eigenen Protestformen wie Streik und Demonstration […] zu ergänzen und ihnen zu einer stärkeren Aufmerksamkeit in den Medien zu verhelfen“.125 Im Zentrum der neuen Bewegungen stand das Détournement: das Umkehren von Situationen, das Gewohnheiten und Rituale durchbrechen und Reflexionen auslösen sollte. Wie sehr sich Aktionskünste und Studentenbewegung angenähert hatten, dokumentierte 1970 die Anthologie Aktionen, Happenings und Demonstrationen seit 1965 von Wolf Vostell, die nicht zufällig die Fotografie des Rückenaktes der Berliner Kommune 1 – kurz K1 – ( I/253) auf ihrem Umschlag trug. Für Vostell gab es in den neuen Demonstrationsformen „keinen Unterschied mehr zwischen Leben und Kunst“. Seiner Meinung nach hatten künstlerische und politische Aktionen zueinander gefunden. Die Protestkultur der 68er war bestimmt von einer „symbolischen Expressivität“ (Thomas Balistier), die den Individualkörper einschließlich Kleidung, Frisur, Gestik und Mimik als Medium des Protests inszenierte und mit diesem seine Botschaften transportierte. „Die Straße ist unser Massenmedium“, hatte der Schriftsteller

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Komplizen – die Studenten­ bewegung und die Bildmedien [I/249] SDS-Demonstration gegen den Vietnam-Krieg auf dem Kurfürstendamm in Berlin, 18.2.1968; [I/250] Studentendemonstration München 1968; [I/251] SPIEGEL-Cover, 24.6.1968; [I/252] Doppelseite aus dem Stern H. 46, 9.11.1969, S. 26/27: „Das ist die Liebe der Kommune“ mit einem Foto von Werner Bokelberg

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­ eter Weiß im Februar 1968 in Westberlin vor einer großen Vietnamdemonstration P ausgerufen. Wo keine anderen Möglichkeiten der medialen Selbstdarstellung existierten, wurde der Körper selbst zum Zeichen- und Informationsträger. Er geriet in Demonstrationen und Sit-ins zum Argument, der zum Teil allein durch seine Präsenz provozierte. Auch die Protestformen selbst waren häufig symbolischer Natur. Die Besetzung von öffentlichen Räumen wurde „als Fortsetzung der Argumentation mit anderen Mitteln“ (Kathrin Fahlenbrach) begriffen. Immer wieder nutzte die Studentenbewegung darüber hinaus Symbolelemente der als revolutionär angesehenen Teile der historischen Arbeiterbewegung sowie der nationalen Befreiungsbewegungen der ‚Dritten Welt‘. Der öffentliche Raum wurde folglich nicht nur als physischer Ort von Protestaktionen verstanden, sondern ebenso als Medienraum. (I/249) Eine Symbiose von Protestbewegung und (visuellen) Medien bildete sich heraus, bei der sich die Akteure der vorhandenen Medien bedienten und das öffentliche Interesse an den 68ern und ihren Protestformen für ihre Botschaften nutzten. Der damalige Studentenführer Daniel Cohn-Bendit beschrieb das zunehmende Medien-Bewusstsein der Demonstranten so: „Wir bedienten uns der Medien, die – aller Abgrenzung in den Kommentarteilen zum Trotz – wie eine riesige, die letzten Winkel des Landes erreichende Maschine zur Verbreitung unserer Flugblätter, unserer Ideen und vor allem unserer Aktionsformen funktionierten. Wir hatten einfach die beste action und die beste Botschaft zu liefern und wir wussten das. Es schien, als stünden für uns nicht Argumente im Vordergrund, sondern Aktionen und Bilder. In Demonstrationen – unserer wirksamsten, weil medienwirksamsten ‚Waffe‘  – arrangierten wir uns gewissermaßen selbst, machten uns zum sozialen Körper, setzten uns ins Bild.“126 Wie sehr die 68er zunehmend selbst über Medienkompetenzen verfügten, zeigte sich nicht nur daran, dass sie mit den modernen (Bild-)Medien kooperierten, sich deren Logiken anpassten und sich kameragerecht in Szene setzten, sondern auch daran, dass sie sich der kommerziellen Aufmerksamskeitsökonomien ihrer Zeit zu bedienen wussten. Man nutzte mediale Großereignisse wie den Besuch des Schahs 1967, um die Aufmerksamkeit von Medienereignissen auf die eigenen Ziele umzulenken, ein Muster, das später als ‚hijacked events‘ bezeichnet wurde. Darüber hinaus plante man gezielte Regelverletzungen und Provokationen wie das Puddingattentat der K1 auf den US-Vizepräsidenten, um sich in der Öffentlichkeit zu platzieren. All das kam den Bedürfnissen und der Ästhetik etwa des Fernsehens entgegen, was dazu führte, dass die Aktionen der 68er regelmäßig den Weg auf den Bildschirm fanden. (I/250) Expressive Protestaktionen, neue visuelle Stile und die Überschreitung bisheriger Thematisierungsschwellen und Zeigbarkeitsregeln trafen auf einen aufgeheizten medialen Resonanzboden. (I/251) Durch die Re-Inszenierung der Proteste in Titelbildern und Bildberichten wurden die Medien ihrerseits zu Akteuren auf dem Feld der politischen und kulturellen Konflikte. Sie verstärkten und personalisierten diese und verknüpften die einzelnen Aktionen oftmals erst überhaupt zu einer Bewegung. (I/252) Wie erfolgreich Protestakteure und Massenmedien interagierten, zeigte die K 1, die Fotografen und Reporter einlud und gegen Honorare

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jene Bilder von sich machen ließ, von denen die Medienleute glaubten, dass sie sich gut vermarkten ließen. Zu einem Schlüsselbild der Revolte wurde das Foto der nackten Kommunarden der K1 vom Sommer 1967, das lange Zeit als Beleg für ein neues Verhältnis der 68er zu Sexualität und Nacktheit und als Symbolbild der sexuellen Revolution galt – es aber nicht war.

Inszenierung einer Ikone: Der Rückenakt der K1 [I/253]

[I/253] Thomas Hesterberg, Rückenakt K1, Aufnahme vom Juni 1967; nicht retuschiert

Die Medienkarriere der K1 Mitte ­b eginnt im Juni 1967  – zwischen dem 9. und dem 11. Juni – mit einem Fotoshooting in der K1Wohnung in der Kaiser-Friedrich-­S traße 54a am Stuttgarter Platz in Berlin. Es sind die Tage nach den Demonstrationen gegen den Besuch des persischen Schahs und dem Mordanschlag auf den Studen­ iner ten Benno Ohnesorg. Fritz Teufel  – e der Kommunarden – ist während der AntiSchah-­D emonstration am 2.  Juni wegen

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„schweren Landfriedensbruchs“ festgenommen w ­ orden. Mit der Herausgabe einer Broschüre wollen die Kommunarden gegen seine Festnahme protestieren. Dazu benötigt man einen publizitätswirksamen Aufmacher. Zu diesem Zweck laden die Kommunarden den Fotografen Thomas Hesterberg ein, um ein Nacktfoto der K1 aufzunehmen, das man sowohl dem SPIEGEL anbieten als auch für das Cover einer Broschüre verwenden will. Dagmar

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[I/254] Titelblatt der K1-Broschüre „Kommune I – Gesammelte Werke gegen uns“, DIN A4 Format quer, unter Verwendung der Fotografie von Thomas Hesterberg, Eigendruck 1967

Seehuber, eine Kommunardin der K1, sagt später: „Im Sommer 1967 wurde ich darüber informiert, dass ein Fotograf kommt und wir uns alle ausziehen sollten, um ein Nacktfoto zu machen.“127 Hesterberg schießt gleich eine ganze Serie der nackten Kommunarden – allerdings ausschließlich von hinten. Auf dem Bild des Rückenaktes sind von links nach rechts zu sehen: Dieter Kunzelmann, Gertrud Hemmer von der K 2, die wie Dagmar Seehuber eher zufällig anwesend ist, Volker Gebbert, Dagmar Seehuber, ­R ainer Langhans, Dorothea Ridder, Ulrich Enzensberger – der Bruder von Hans ­Magnus Enzensberger – und Nessim, der dreijährige Sohn von Gertrud Hemmer. Nicht dabei ist Uschi Obermaier, die erst später zur K1 stößt. Für eine Veröffentlichung wählt Hesterberg die Aufnahme aus, die die K1-Mitglieder

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in voller Körpergröße von hinten zeigt, während der kleine Nessim als Einziger den Blick des Fotografen sucht und damit den Betrachter ins Bild holt. (I/254) Erstmals erscheint das Bild auf dem rosa getönten Deckblatt der Mitte Juni 1967 im Eigendruck hergestellten Broschüre Kommune I. Am 26. Juni 1967 folgt die Veröffentlichung im SPIEGEL, mit der die eigentliche Karriere des Bildes beginnt. Zur Bildunterschrift „Kahle Maoisten vor einer kahlen Wand“ heißt es dort: „Mit ihrer Schrift will die sogenannte ‚Horrorkommune‘, deren Mitglieder in einer gemeinsamen Wohnung in Lebens- und Liebesgemeinschaft hausen (und dort auch für das Wandbild posierten) […] gegen disziplinarische und strafrechtliche Verfahren protestieren, mit denen Universitäts- und städtische Behörden gegen die Maoisten vorgehen.“ Aus Angst vor presserechtlichen Konsequenzen hat der SPIEGEL

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die Geschlechtsteile der männlichen Kommunarden wegretuschiert. Dasselbe geschieht in der Zeitschrift konkret, die das Foto mit der Zeile „Gestelltes Horrorfoto aus der Zeit vor dem Ende“ zu einem diffamierenden Kommentar von Herausgeber Klaus-Rainer Röhl nachdruckt. Hesterbergs Foto begründet und transportiert in mehrfacher Hinsicht einen Mythos. Zunächst zeichnet es das Bild einer Gemeinschaft und einer sexuellen Freizügigkeit, die es de facto so nie gegeben hat. „Die Kommune drohte in diesen Tagen zu zerfallen“, erinnert sich Ulrich Enzensberger später. „Die Gerichtsverfahren, unser bevorstehender Rausschmiß aus der Uni, der Haftbefehl gegen Fritz, die Hetze, der an Ohnesorg begangene Totschlag oder Mord, an dem man uns die Schuld gab, all das tat seine Wirkung.“128 Auch mit der von dem Foto suggerierten sexuellen Freizügigkeit sei es nicht weit her gewesen, bekundet später auch Dagmar Seehuber. Die geschlechtlichen Beziehungen und das Verhältnis zum eigenen Körper seien eher „verklemmt“ gewesen. Bei der Aufnahme des kanonischen Fotos habe sie „die anderen das erste Mal unbekleidet gesehen, danach nie wieder!“ Die K1 sei ein „ziemlich verklemmter Haufen“ gewesen.129 Schließlich suggeriert das Foto eine geschlechtliche Gleichberechtigung, die es ebenfalls nicht gab. Nach Seehuber ist ganz im Gegenteil die patriarchalische Struktur der Gesellschaft in der K1 „verstärkt zum Ausdruck gekommen, obwohl man sich etwas ganz anderes aufs Banner geschrieben hatte. Denn die Männer haben es weit von sich gewiesen, an sich selbst etwas ändern zu müssen.“ 130 Während die männlichen Kommunarden verschiedene Sexualpartnerinnen hatten, seien die Frauen auf die Männer fixiert gewesen und von diesen wie Eigentum behandelt worden. In der aufgeregten Medienöffentlichkeit nach dem Tod Benno Ohnesorgs kann sich das Foto einer öffentlichen Resonanz sicher sein. Dabei fallen zwei Muster auf. Von den einen wird das Foto als authentisches Abbild einer stattfindenden sexuellen Revolu-

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tion gedeutet; bei anderen aktiviert es Bilder des Holocaust. Berichte wie die des SPIEGEL vom 10. Juni 1967 über die angebliche Institutionalisierung des „häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs“ in der K1 oder von Röhl in konkret tragen in der linken Leserschaft dazu bei, dass die medialen Inszenierungen der K1 für bare Münze genommen werden. Bei anderen aktiviert das Foto des kollektiven Rückenakts die Erinnerung an Bilder der nackten jüdischen Opfer vor ihrer Ermordung in den Gaskammern von Auschwitz. 14 Tage nach Erscheinen des Fotos macht Rudi Dutschke in einem SPIEGEL-Interview den Anfang: „Das Bild reproduziert das Gaskammer-Milieu des Dritten Reiches; denn hinter diesem Exhibitionismus verbirgt sich Hilflosigkeit, Angst und Schrecken.“ Für Dutschke haben die K1-Mitglieder die Rolle der jüdischen Opfer angenommen. Mit dem Einzug der später zum Topmodel stilisierten Uschi Obermaier steigen die Kommunarden der K1 endgültig zu Popstars der Medien auf. Ein Fotoshooting jagt das andere. Starfotograf Guido Mangold lichtet Uschi Obermaier für eine Cover­seite der Jugendzeitschrift Twen ab. Im Juni 1969 schiebt die Zeitschrift einen Bericht über die „Miss Kommune und ihr Leben zu acht“ nach. Der Stern steht dem in nichts nach. (I/252) Am 9. November 1969 erscheint dort die Reportage Das ist die Liebe der Kommune mit einer Fotostrecke der halbnackten Kommunarden von Werner Bokelberg sowie von Uschi Obermaier als barbusigem Covergirl. Kommunarde Kunzelmann behauptet später, mehr mit den Medien gespielt und sie benutzt zu haben „als umgekehrt“. Die Honorare der Zeitungen und Magazine habe man als Einnahmequelle zum Bestreiten des Lebensunterhalts benötigt. Über der Eingangstür zur K1 sei zu lesen gewesen: „Erst blechen, dann reden“, so u. a. Gerd Koenen. Im November 1969 holt der Ruhm der Popstars der linken Szene die Rest-Kommune ein. Rocker aus dem Märkischen Viertel verprügeln die Kommunarden und zertrümmern ihre Wohnung.

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[I/255] Studenten beim Sturz des Wissmann-Denkmals 1967 in Hamburg; beschnittenes Standbild aus dem NDR-Film Landfriedensbruch von Theo Gallehr, der allerdings erst 20 Jahre nach dem Denkmalssturz ausgestrahlt wurde

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( I/90) Zu einem weiteren Schlüsselbild des Protests, das selbst wiederum auf Flugblättern zum Widerstand aufforderte, wurde die Aufnahme des von einer Polizeikugel tödlich getroffenen Studenten Benno Ohnesorg vom 2. Juni 1967 von Jürgen Henschel. Das Motiv erinnerte an die christliche Pietà: die Beweinung des toten Jesus durch Maria. Die Kombination einer nach Hilfe suchenden Frau und des hilflosen jungen Mannes am Boden evozierte geradezu Interpretationsmuster, die tief in der europäischen Kultur verwurzelt waren. Mit der Assoziation von Christus-Motiven erfuhr der Sterbende eine symbolische Aufladung als Märtyrer der Revolte. Die Nahsicht der Fotografie führte die Betrachter zudem nicht nur nah an die Gefühle der abgebildeten jungen Frau heran, sie schloss auch jede Ambivalenz hinsichtlich des dokumentierten Geschehens aus. Benno Ohnesorg, so die Botschaft, war das „Opfer von Polizeigewalt und weder Polizei noch Rettungskräfte, sondern eine Kommilitonin ist an Ort und Stelle, um zu helfen“.131 Das medial verbreitete und auf Demonstrationen gegen die Springer-Presse auf Plakaten mitgeführte Bild löste indes nicht nur Empörung und Empathie aus; bei einigen führte die spontane Reaktion geradewegs in den politischen Extremismus. Die Fotografie und ihre Deutung hatten die neue Realität eines seine Gegner unbarmherzig verfolgenden Staatsapparates generiert. Das Bild geriet zur Medienikone, die nicht mehr befragt wurde, sowie zur „Initialzündung einer politischen Bewegung“ (Marion G. Müller), die schließlich im Terrorismus endete. Nur vereinzelt kam es im Kontext der 68er-Bewegung zu denkmalstürzlerischen Aktivitäten. (I/255) Diese richteten sich vor allem gegen Relikte des deutschen Kolonialismus, wie 1967/69 in Hamburg gegen Denkmäler zu Ehren des Gouverneurs der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika bzw. eines Schutztruppenoffiziers, der zu Beginn des Jahrhunderts mit brutaler Gewalt gegen Aufständische in Kamerun vorgegangen war. Das Gouverneurs-Denkmal galt als „das allgemeine Kolonialdenkmal Deutschlands, das die Erinnerung an das Verlorene wachhalten und an das Streben nach dem Wiedererwerb des überseeischen Kolonialgebietes mahnen“ sollte, so die Hamburger Nachrichten im Jahr der Denkmalsgründung 1922. Beide Denkmäler wurden von Studenten gestürzt. Ebenfalls in Hamburg kam es 1977 zur Demontage der Bronzebüste des ehemaligen Bürgermeisters Werner von Melle, dem koloniales Gedankengut vorgehalten wurde. 1978 schließlich montierten Mitglieder des Kommunistischen Bundes Westdeutschland in einer ‚antiimperialistischen‘ Aktion in Göttingen einen Bronzeadler von dem sogenannten ‚Südwestafrika-Denkmal‘ ab, das 1910 zu Ehren von vier im Krieg gegen Herero und Nama ‚für Kaiser und Reich‘ gefallene deutsche Kolonialsoldaten errichtet worden war. Zur visuellen Protestkultur der studentischen Bewegung nach 1967/68 gehörte zentral auch die Adaption amerikanischer Praktiken der Sichtbarmachung der eigenen Gesinnung auf den Körpern der Akteure. Dies geschah durch die Verwendung sogenannter Buttons, d. h. kleiner, zumeist kreisförmiger Ansteckplaketten aus Blech oder Kunststoff mit kurzen politischen Aussagen und/oder einprägsamen Bildsymbolen. Die Buttons wurden offen sichtbar an der Kleidung befestigt. Dadurch wirkten sie als Körpermedien, die Ansichten, Vorlieben, Abneigungen

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i­hres Trägers in die Öffentlichkeit transportierten. Zumeist wurden sie am linken Revers oder auf der linken Brustseite, also über dem Herzen, getragen. Sie symbolisierten damit, dass es sich bei dem Inhalt des öffentlichen Bekenntnisses für den Träger um eine ‚Herzenssache‘ handelte. Eine solche Form der Selbststigmatisierung des eigenen Körpers für politische Angelegenheiten hatte es in Deutschland zuvor nur ausnahmsweise gegeben. Die Zurschaustellung politischer Gesinnungen und Zugehörigkeiten galt bis dato als mit der politischen Nachkriegskultur unvereinbar, zumal die Nationalsozialisten ihre Gegner zwangsweise mit sichtbaren Zeichen stigmatisiert ­hatten. Ursprünglich stammten die Buttons aus der Französischen Revolution bzw. aus der amerikanischen Geschichte. Dort war es üblich, sich öffentlich für eine politische Sache oder einen politischen Kandidaten zu engagieren. Erstmals scheinen politische Buttons in den USA im Wahlkampf 1789 zur Unterstützung von George Washington verwendet worden zu sein. Allerdings wurden diese Buttons noch nicht angesteckt, sondern wie die Kokarden der französischen Revolutionäre als Bekenntniszeichen auf die Kleidung bzw. den Hut genäht. Kokarden und Buttons waren darüber hinaus immer auch Medien zur Stiftung politischer Gemeinschaften. Diese Tradition setzte sich bis hin zum Wahlkampf 1960/61 fort, in dem eine Vielzahl von Organisationen mit Buttons mit dem Konterfei John F. Kennedys für den Politiker warb. In der Bundesrepublik knüpfte die SPD im Bundestagswahlkampf 1972 an diese Sichtbarkeitspraktiken an, um Willy Brandt die Wiederwahl zu sichern. (I/256a) Brandts Wahlkampfmanager Albrecht Müller schrieb hierzu: „Neu und bemerkenswert war, wie viele Menschen sich, ihre Autos oder Fahrräder mit Aufklebern und Buttons schmückten und sich damit öffentlich zu ihrer politischen Meinung bekannten. Die politische Meinung und das Wahlverhalten waren nicht länger Privatsache. […] Die Buttons lösten Gespräche mit Andersdenkenden aus, sie erlaubten auch, Gleichgesinnte zu erkennen und sich mit ihnen auszutauschen. Sie waren, wie schon 1969 die orangefarbene Nadel, ein Erkennungszeichen. Die kleinen Plastikteile waren also sowohl Auslöser von Kommunikation als auch Verstärker der eigenen politischen Meinung.“ 132 Damit hatte sich die SPD politische Sichtbarkeitspraktiken zu eigen gemacht,

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[I/257] Rote-Punkt-Aktion in Hannover, Aufnahme von Wilhelm Hauschild, Juni 1969

wie sie auch in den außerparlamentarischen Bewegungen Europas und den USA seit Beginn der 1960er Jahre üblich geworden waren. (I/256b) Mit dem Friedenszeichen verfügten die internationalen Protestbewegungen gegen die atomare Aufrüstung bereits seit 1958 über ein Superzeichen, das über Grenzen und Kulturen hinweg funktionierte. Entstanden war das Symbol aus der Zeichensprache des seemännischen Flaggenalphabets. In Deutschland tauchte es erstmals 1960 auf Plakaten und Transparenten des ersten Ostermarsches auf, die ‚Kampf dem Atomtod‘ forderten. Mit den internationalen Protesten gegen den Vietnamkrieg kamen die kleinen runden Ansteckplaketten verstärkt nach Deutschland. (I/256c) 1967/68 forderten Berliner Studenten auf ihnen: „Enteignet Springer“. Auch die sich formierende Frauenbewegung bemächtigte sich des Mediums. (I/256d) Buttons mit einem abgeknickten phallischen Männlichkeitssymbol propagierten „Runter mit dem Männlichkeitswahn“. Eine klar erkennbare und eigenständige Ikonografie entwickelten die Buttons der Bewegung gegen die Nachrüstung zu Beginn der 1980er Jahre. Auf gelben Plaketten wurde zum gemeinsamen Kampf gegen eine neue atomare Bedrohung und zu zentralen Demonstrationen aufgerufen.

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[I/258] Marieluise Beck (r.) und Petra Kelly mit Blumen auf dem Pult während der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn am 29.3.1983. Neben ihnen die SPD-Politiker Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel; [I/259] Joschka Fischer wird 1985 als erster grüner Minister von Holger Börner im Hessischen Landtag vereidigt.

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(I/256e) Zu der Ikone des Protests in Westdeutschland wie in der gesamten westlichen Welt indes geriet die kleine gelbe Plakette mit der lachenden Sonne und der Aufschrift Atomkraft?  – nein danke, die auf den Entwurf einer dänischen Studentin aus dem Jahr 1975 zurückging. Wie eine moderne Medienikone durchlebte die Plakette einen ständigen Wandel. Sie zierte die Poster von Protestkundgebungen gegen Atomkraftwerke und die PKWs von Kernkraftgegnern. Sie wurde als Button am Körper getragen, auf Fahnen mitgeführt, als Postkartenmotiv versandt und als Cappuccino-Schablone verwendet. Das Logo, das bei der Europäischen Union als Gemeinschaftsbildmarke eingetragen ist, gilt heute als das weltweit bekannteste Protestlogo überhaupt. Ein Button der besonderen Art und zugleich ein Beleg für das kreativ- künstlerische Potenzial der neuen sozialen Bewegungen war der Rote Punkt, wie er im Juni 1969 erstmals bei Protestaktionen in Hannover gegen Fahrpreiserhöhungen der dortigen Verkehrsbetriebe zum Einsatz kam. Mit einem roten Punkt auf weißem Grund, den man sowohl aus Flugblättern als auch aus der Tageszeitung ausschneiden konnte, boykottierten Schüler und Studenten elf Tage lang Busse und Straßenbahnen eines örtlichen Verkehrsunternehmens. Als Alternative boten sie einen Ersatzfahrdienst an. (I/257) Autofahrer, die bereit waren, Passanten mitzunehmen, machten dies mit einem roten Punkt an der Windschutzscheibe kenntlich. Mit dem roten Punkt hatten die Akteure eines der grafisch prägnantesten Embleme zu ihrem Erkennungszeichen erkoren. Mit dem Einzug der GRÜNEN 1983 in den Bundestag zog auch ein Teil der visuellen Protestkultur der neuen sozialen Bewegungen in das Parlament ein. Der neue Politikstil drückte sich auch hier in Kleidung, Haartracht und Habitus aus. (I/258) Petra Kelly und Marieluise Beck trugen Pullover mit Sonnenblumen-Buttons statt elegantem und damenhaftem Kleid. Ihre Abgeordnetenbank zierten frische Blumen. (I/259) Joschka Fischer ließ sich 1984 im Wiesbadener Landtag ganz unkonventionell in hellen Turnschuhen und schlipslosem lässigem Sakko zum ersten grünen Minister einer bundesdeutschen Landesregierung vereidigen.

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Der Anschlag eines palästinensischen Terrorkommandos während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München markierte den Durchbruch des Bildes zur Waffe im internationalen Terrorismus. Erstmals hatte eine terroristische Attacke unmittelbar vor den geöffneten Kameraaugen und damit vor der Weltöffentlichkeit stattgefunden. Und erstmals in der Geschichte des Fernsehens war ein terroristischer Anschlag weltweit, zum Teil bereits live, übertragen worden. Bis hin zu ihrer Kleidung hatten die Terroristen ihr Auftreten mediengerecht geplant. Begreift man Terrorismus als Kommunikationsstrategie, handelte es sich um eine gelungene Selbstinszenierung im Medium Bild. Mit einem Schlage und mit vergleichsweise geringem Aufwand hatte man ein Publikum von schätzungsweise einer Milliarde Fernsehzuschauern erreicht. „Die Propaganda der Tat hatte sich globalisiert.“133 Die Erfahrungen von München sollten die weiteren Praxen terroristischer Gewalttäter nachhaltig beeinflussen. Der Terroranschlag von München im September 1972 hatte 1970 ein Vorspiel in der Entführung gleich mehrerer Flugzeuge durch die ‚Volksfront für die Befreiung Palästinas‘ in die jordanische Wüste gehabt. Auch hier war die Aktion, die in der Sprengung von drei Maschinen vor laufenden Kameras gipfelte, als Medienereignis geplant gewesen. Wie keine Flugzeugentführung zuvor war sie im Bild festgehalten worden und hatte deren Macht unter Beweis gestellt. Bei politisch motivierten Entführungen spielten Bilder als Medium der Beglaubigung und Verstärkung der Tat künftig eine zentrale Rolle. Die Tatsache der Entführung und der Verweis in Wort und Schrift darauf allein reichten nicht mehr aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen. In der modernen Mediengesellschaft brauchte es Bilder, um das Verbrechen sichtbar zu machen und zu verifizieren. Zum Höhepunkt der neuen terroristischen Bildstrategie geriet 1977 die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die selbst wiederum drei Vorläufer besaß: den Umgang mit den Bildern der Festnahme der Terroristen Andreas Baader und Holger Meins 1972 und die Aufnahmen des während seines Hungerstreiks verstorbenen Meins 1974, die Verwendung von Fotografien im italienischen Terrorismus seit 1972 sowie die Bilder des 1975 entführten Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz ( I/264). Seit den ersten Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe, die sich selbst als ‚Rote Armee Fraktion‘ bezeichnete, war sich der Terrorismus in Deutschland medialer

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Tote Terroristen – Bildermaschine RAF (I) [I/260] Der aufgebahrte Leichnam von Holger Meins nach dessen Tod am 9.11.1974 in Stuttgart-Stammheim, Aufnahme von Dirk Reinartz; [I/261] Demonstration nach dem Tod von Holger Meins gegen die Bundesregierung am 31.8.1977 in Frankfurt/M.; [I/262] Gerhard Richter, Tote, Öl auf Leinwand (1988)

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Die Ermordeten und Entführten – Bildermaschine RAF (II) [I/263] Mordanschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen Begleiter, Aufnahme vom Tatort in Karlsruhe, 7.4.1977; [I/264] Peter Lorenz, Fotografie der Entführer vom 28.2.1975; [I/265] Hanns Martin Schleyer, Fotografie der Entführer vom 25.9.1977

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Aufmerksamkeit sicher. Über Bombenanschläge oder Festnahmen prominenter Terroristen berichteten die Magazine oftmals unmittelbar vom Tatort und in großen, zum Teil doppelseitigen Fotografien. Auf der anderen Seite war auch die RAF eine gewaltige Bildermaschine, deren Produktionen zum Teil wochenlang die bundesdeutschen Medien beherrschten. Dem medialen Interesse kamen die RAF-Anwälte insofern entgegen, als sie 1974 ein Bild des während eines Hungerstreiks verstorbenen Terroristen Holger Meins an die Presse lancierten. Das Foto spielte bewusst mit den im kollektiven Gedächtnis abgespeicherten Bildern aus Hitlers Konzentrationslagern. Es wurde von Betrachtern reflexartig mit Bildern ermordeter KZ-Opfer assoziiert. „Das ist doch ein Bild wie aus dem KZ. Und wenn ich jetzt von Sonderbehandlung spreche, dann ist das schon ein Wort, das in den Zusammenhang paßt“, erklärte etwa RAFAnwalt Kurt Groenewold. Analogien zwischen den ‚Ikonen der Vernichtung‘ und dem Bild des nackten und obduzierten Meins bemühte auch die Terroristin Inge Viett. „In Buchenwald, Auschwitz, Ravensbrück, Sachsenhausen und den anderen KZs sahen die Toten so aus.“ 134 (I/260) Fotografien, wie die des aufgebahrten Holger Meins von Stern-Reporter Dirk Reinartz, erinnerten zugleich an den von der CIA getöteten Revolutionär Che Guevara. Fotografien des Verstorbenen sollen Terroristen bei sich getragen haben, um ihren Hass auf den Staat nicht abflauen zu lassen. (I/261) Das Bild nutzten schließlich auch linke Organisationen auf Plakaten, um für ihre Kundgebungen zu mobilisieren. Wie in Frankfurt am Main wurde das Bild des nackten Meins neben dem Foto eines abgemagerten und gleichfalls unbekleideten KZ-Häftlings bei Demonstrationen mitgeführt. Die Botschaften, die in das Bild und seinen Gebrauch eingeschrieben waren, lauteten: Die Bundesrepublik ist ein faschistischer Staat! Holger Meins ist ein Opfer staatlichen Terrors! Widerstand tut Not! (I/262) In mehreren Unschärfe-Gemälden hat sich auch Gerhard Richter 1988 mit den Medienbildern der RAF-Toten auseinandergesetzt. Charakteristisch für den zukünftigen terroristischen Bildgebrauch sollten jedoch nicht die Fotos der eigenen ‚Märtyrer‘, sondern die Bilder von prominenten Persönlichkeiten werden, die terroristische Gruppen in ihre Gewalt gebracht hatten. Bei den Roten Brigaden in Italien waren Entführungen und die Verbreitung von Fotografien ihrer Opfer seit 1972 üblich. Am 3. März 1972 hatten Mitglieder der Gruppe in Mailand einen Siemens-Direktor entführt und ihr Opfer mit einem Pappschild um den Hals und zwei Pistolenläufen, die auf seinen Kopf gerichtet waren, fotografiert und die Aufnahme anschließend einer Nachrichtenagentur zugespielt. Inspiriert worden waren sie dabei von lateinamerikanischen Tupamaros, die ihre Opfer allerdings in eher harmlosen Alltagsposen – beim Schreiben, Lesen oder Essen oder vor dem Logo ihrer Organisationen – aufgenommen hatten. Die erste politisch motivierte Entführung in der Geschichte der Bundesrepublik war am 27. Februar 1975 die des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch die ‚Bewegung 2. Juni‘. (I/264) Bereits am Tag nach der Entführung wurde eine Fotografie von Lorenz verbreitet. Sie zeigte den einst selbstbewussten Politiker, seiner Freiheit und Würde beraubt, verstört in die Kamera blickend im Unterhemd. Das Kalkül der Entführer ging auf. Sie erreichten die Freilassung von fünf inhaftierten Terroris-

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[I/266] BKA-Fahndungsplakat, Mai 1972

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ten, worauf diese den Entführten freigaben. Die Lorenz-Entführung war die erste terroristische Aktion in der Bundesrepublik, bei der die elektronischen Medien Hörfunk und Fernsehen als Vermittler von Botschaften in die Kommunikationsstrategie der Terroristen einbezogen worden waren. „Auch wenn nur ein Foto geschossen und keine Waffe abgefeuert worden war, verdichtete sich in diesem ‚Bildakt‘ […] das von den Möchtegern-Revolutionären ausgehende Bedrohungs- und Gewaltpotenzial.“135 Das Bild schuf eine Realität sui generis. Es war zur Waffe geworden. (I/263) Am 7. April 1977 schockierten die Bilder vom Mordanschlag auf Generalbundesanwalt Siegried Buback die Öffentlichkeit. Ein Kommando der RAF hatte in der Karlsruher Innenstadt das Feuer auf den Dienstwagen mit Buback, seinen Fahrer und einen Polizisten eröffnet und alle drei getötet. Auch solche Bilder gehörten zum Kalkül der Terroristen. (I/265) Höhepunkt der visuellen Kommunikationsstrategie der RAF-Terroristen indes waren die Aufnahmen des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer vom September/Oktober 1977. Mit Polaroid- und Videokameras waren ab Ende der 1960er Jahre Technologien verfügbar, die es ermöglichten, Bilder mühelos auch für Zwecke der politischen Erpressung zu produzieren. Beide waren leicht zu handhaben und Sofort-Medien, die nicht erst entwickelt und bearbeitet werden mussten und dabei Spuren hinterlassen hätten. Von Schleyer hatten die Entführer mindestens vier Aufnahmen gemacht, darunter drei, die den Entführten hinter einem Pappschild mit Text und vor dem RAF-Logo zeigten. Das chronologisch erste der Bilder stammte von einer Polaroidkamera und zeigt Schleyer in einer weinroten Sportjacke, unter der er ein dunkles Unterhemd trägt. In seinen Händen hält er eine Papptafel mit dem Text „6.9.1977 GEFANGENER DER R.A.F.“ Augenscheinlich sitzt Schleyer vor einer weißen Wand, an der ein größeres Plakat mit dem gedruckten Logo der RAF angebracht ist. Die drei anderen Bilder waren Varianten desselben Arrangements einige Tage später. Zusätzlich zu diesen Aufnahmen hatten die Terroristen mindestens zwei Videoaufzeichnungen gemacht, die sie in Ausschnitten und Standbildern der Presse und der Polizei zugespielt hatten. Da es sich bei den Tätern durchweg um junge Menschen mit Medienerfahrung und einer Affinität zur Popkultur der 60er Jahre handelte, war die Bildinszenierung mehrfach codiert. Sie erinnerte zunächst an die erkennungsdienstliche Behandlung von Tatverdächtigen, bei der Namens- oder Nummernschilder vor dem Porträt des Fotografierten platziert wurden. Das RAF-Logo im Bildhintergrund wiederum erinnerte an das Logo der lateinamerikanischen Tupamaros, das aus einem fünfzackigen Stern, einem Pentagramm, bestand, in das mittig in der Gestalt eines Hammers das Kürzel MLN für Movimiento de Liberación Nacional montiert war. Die gleichsam theologische Wirkung des Bildes beruhte auf einem weiteren Detail. Wie in Christentum und Islam schien das Logo über dem Kopf des Opfers das sehende und zugleich strafende Auge Gottes zu symbolisieren. Einen Quantensprung in der Geschichte der terroristischen Kommunikation bedeuteten neben den farbigen Polaroidfotos die bewegten Videobilder, die erstmals auch die Stimme der Geisel festhielten. Wie in den Bildpraxen der nationalsozialistischen Judenverfolgungen waren Kameras hier nicht nur Teil der medialen Kommunikation der Terroristen

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mit Staat und Gesellschaft. Als Mittel der Demütigung und Zermürbung des zum Gegner erklärten Opfers waren sie zugleich Elemente des terroristischen Gewaltaktes selbst und damit Akteure. Gleichwohl ging es nicht primär um die Demütigung des Gefangenen im Bild. Ziel war das Bild an sich, das hergestellt wurde und als Medium diente, um den Staat unter Handlungsdruck zu setzen und zur Freilassung von inhaftierten RAFMitgliedern zu erpressen. Zu Recht ist daher vom „Herausschießen des Bildes aus dem Rahmen“ (Herbert Kremp) als wichtigster Gemeinsamkeit der Entführung Schleyers und des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro wenige Monate später gesprochen worden. Die Wirkungen der Fotos und Videos waren enorm. Sie schlugen ein wie eine Bombe und führten den Staat an den Rand einer schweren Krise. Trotz der Bitte der Bundesregierung um Zurückhaltung bei der Veröffentlichung wurden die Fotografien und Videobänder, wenn auch nicht vollständig und unbearbeitet, publiziert, so auf dem Cover der BILD-Zeitung vom 10. September 1977, im SPIEGEL, der eine Aufnahme Schleyers auf seinem Cover vom 12. September in beschnittener Form ohne Schrifttafel publizierte, und der Tagesschau, die am 15. Oktober 1977 Videoausschnitte der Entführer zeigte. Mit der Publikation der Bilder war eine neue Qualität der Symbiose von Terrorismus und Massenbildmedien erreicht. Sehr viel genauer als noch in München 1972 hatten sich diese als Transmissionsriemen für die terroristischen Forderungen funktionalisieren lassen. Die Lehre von 1972 und 1977 lautete: Mit vergleichsweise geringem technischem Aufwand sind Terrorvereinigungen in der Lage, maximale Störeffekte zu erzielen. Allerdings mussten die Entführer in ihrer Bildpolitik auch die Erfahrung machen, dass sich Bilder nicht einfach wie militärische Waffen in ein Ziel lenken ließen. Die Fotos und Videos nämlich lösten das Gegenteil von dem aus, was die Täter hinter den Kameras erhofft hatten. „Ein Bild, bei dem man weinen möchte“ titelte die BILD-Zeitung am 10. September 1977. Die Ohnmacht vor dem Terror habe aus dem „dynamischen Hanns-Martin Schleyer (kl. Foto) ein Wrack gemacht. Zusammengesunken sitzt der sonst so energiegeladene Mann in seinem ‚Gefängnis‘. Müde, offenbar ohne Hoffnung  – erschütternd.“ 136 Nicht nur bei den politischen Verantwortlichen und den Lesern der BILD-Zeitung verfehlte die Inszenierung der RAF ihr Ziel. Die Bilder des hilflosen Schleyer brachten den Terroristen selbst in der linken Szene wenig Sympathien ein. Viele erinnerte dessen Zurschaustellung an die Diffamierungspraktiken der Nazis. Wie sehr die Schleyer-Bilder schmerzten, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sie anders als manche andere NachBilder der RAF, die um die Jahrtausendwende RAF-Angehörige zu Widergängern von Bonnie & Clyde verklärten, nur selten Thema der zeitgenössischen Kunst wurden. Mehr noch: Die Bilder führten zu einem Ansehenszuwachs des Entführten, den dieser zu Lebzeiten nie besessen hatte. „Terror nach deutscher Art“ titelte der SPIEGEL im Frühjahr 1978, nachdem ein Kommando der Brigate Rosse den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro in seine Gewalt gebracht hatte. Vor dem Hintergrund der Schleyer-Ent-

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führung schien sich für viele Beobachter die Geschichte zu wiederholen – ein Eindruck, der nicht zuletzt aus der frappierenden Parallelität der Bilder resultierte. ( I/263) Zu sehr glichen sich die Pressefotografien der Tatorte in Karlsruhe, Köln und Rom mit den demolierten Fahrzeugen und den niedergestreckten Leibwächtern unter den Leichentüchern. „Gespenstisch ähnlich“ – so der Tagesspiegel – sahen einander aber vor allem die Bilder der Verschleppten aus, die die jeweiligen Entführer an die Medien weitergegeben hatten und die in deutschen Zeitungen nun nebeneinander abgedruckt wurden. Die Fotografien von Hanns Martin Schleyer und Aldo Moro gingen als „Ikonen der ,bleiernen Zeit‘“ (Petra Terhoeven) in die Geschichte ein. Die Bilder beider Entführungen standen indes nur am Anfang eines Bilderterrors, der mit den Anschlägen 2001 in New York und dem Irakkrieg 2003 weiter eskalieren sollte. In diesem Sinne zählte die RAF „zu den dubiosen Begründern des modernen Bildterrorismus“ (Charlotte Klonk). Ihre Aufnahmen waren Vor-Bilder des islamistischen Bilderterrors, wie er sich 25 Jahre später im Irak und in Afghanistan entfaltete, deren Videobilder denen der Schleyer-Entführung in vielem ähnelten: „eine frontale, leicht aufsichtige und statische Kameraposition, eine auffallend schlechte Bildqualität und das unregelmäßige Einzoomen auf ein verunsichertes Opfer“.137 Der Staatsapparat reagierte auf die terroristische Herausforderung mit der größten fotografischen Steckbrief-Aktion in der deutschen Geschichte. Die Polizeibilder und polizeilichen Bildpraxen, (I/266) wie sie etwa in den Fahndungsplakaten des Bundeskriminalamts zum Ausdruck kamen, indes waren nicht einfach nur extreme Beispiele für den zeittypischen Glauben an die Autorität der Fotografie. Sie waren auch Teil einer staatlichen Bildstrategie, die allgemeine Stimmung gegen die Terroristen und ihr mutmaßliches Umfeld zu lenken und zugleich eine durch den Staat suggerierte Sicherheit zu beglaubigen: Sicherheit durch Visibilität. Die auf den Plakaten durchgestrichenen Fahndungsfotos bzw. erkennungsdienstlichen Fotografien von Festgenommenen wie Andreas Baader oder das Bild der sich sträubenden Ulrike Meinhof in den Händen der Verfolgungsbehörden fungierten auch als Trophäen einer erfolgreichen Polizeiarbeit. Anders als die Schleyer-Bilder inspirierten und provozierten die staatlichen Bildproduktionen  – die Fahndungsplakate, die Pressefotos von Festnahmen und polizeilichen Vorführungsritualen – immer wieder namhafte zeitgenössische Künstler wie Gerhard Richter, Wolf Vostell, Thomas Ruff und Sigmar Polke zu künstlerischen Kommentaren. Die ikonisch gewordenen Fahndungsbilder der RAF-Angehörigen waren auch „die Wendemarke eines gewandelten Bewusstseins für die Relativität des technischen Bildes“.138 Obwohl aus psychologischen Gründen bis in die 1990er Jahre weiterhin mit Fahndungsplakaten operiert wurde, mussten sich die Behörden eingestehen, dass sie bei der Verfolgung der RAF häufig einem Phantom nachgejagt waren und ihre Erfolge vor allem auf Hinweisen aus der Bevölkerung beruhten. Neue computergestützte Formen der Überwachung und Fahndung begannen daher schon bald, die bisherigen Bildtechniken abzulösen.

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Im Osten Europas, vor allem in der DDR, sei das Fernsehen ein „Schlüsselfaktor des politischen Umbruchs“ gewesen, bilanzierte ZDF-Intendant Thomas Bellut 25 Jahre nach dem Fall der Mauer. Es habe „aktiv wie niemals sonst in seiner Geschichte die Umwälzungen zwar nicht ausgelöst, aber verstärkt und damit vorangebracht. Es hat der Stimme des Volkes Öffentlichkeit verschafft und so der Revolution zum friedlichen Sieg verholfen.“139 Die Wirkungen des Fernsehens als Mauerbrecher waren sowohl langfristigstruktureller wie kurzfristig-situativer Art. Anders als die Bilderwelten des Nationalsozialismus waren die des DDR-Sozialismus beständig durch Gegenbilder des Westens, besonders durch die des Fernsehens, bedroht. Das Westfernsehen konnte seit den 1960er Jahren mit Ausnahme einiger Landstriche im Süd- und Nordosten der DDR – von DDR-Bürgern als ‚Tal der Ahnungslosen‘ belächelt – überall im anderen Teil Deutschlands empfangen werden, weshalb auch von einer ‚offenen Mediengrenze‘ gesprochen wurde, die ständig überschritten worden sei. Mithilfe des Westfernsehens vermochten sich die Menschen in der DDR im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild vom Westen in seiner ganzen Differenziertheit und Widersprüchlichkeit zu machen. Mit Sendungen wie Kennzeichen D und dem ZDFMagazin gab es im Zweiten Deutschen Fernsehen spezielle Programmangebote für DDR-Bürger. Wo immer dies technisch möglich war, waren die Antennen in der DDR nach Westen gerichtet. Die staatliche Jugendorganisation FDJ veranlasste daher wiederholt Aktionen gegen den Empfang des Westfernsehens und dies mit der Begründung, dass schon die Ausrichtung der Antennen geistiges „Grenzgängertum“ erkennen lasse, das es zu verhindern gelte. Besonders nach dem Mauerbau war das Westfernsehen eine Art Schlüsselloch in die Welt jenseits von Mauer und Stacheldraht. Durch dieses Loch konnten die DDR-Bürger die Einmann-Konzerte von Wolf Biermann aus dessen Ost-Berliner Wohnung in der Chausseestraße 131 verfolgen, von denen Videoaufzeichnungen mehrfach im Westfernsehen ausgestrahlt wurden. Durch dieses Schlüsselloch wurden sie aber auch mit der bunten Warenwelt des Westens konfrontiert, deren Angebote sich indes auch dort nicht jeder leisten konnte.

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[I/267] ‚Antennenwald‘ mit nach Westen ausgerichteten Antennen an einer Hausfassade in Augsdorf im Mansfelder Land (DDR), 1978

Langfristig – darin ist sich die Medienforschung einig – untergruben die Sendungen aus dem Westen das Informations- und Bildermonopol der SED und destabilisierten auf diese Weise die SED-Diktatur. (I/267) Zum Schlüsselbild für den Wunsch der DDR-Menschen nach Informationsfreiheit wurde der ‚Antennenwald‘ auf den Dächern der DDR. Vor allem im Jahr der Wende spielte das Fernsehen eine wichtige Rolle. Über das Westfernsehen erfuhren die DDR-Zuschauer von den Ideen der Perestroika in der Sowjetunion und konnten die in Osteuropa stattfindende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verfolgen. Die Verhandlungen am Runden Tisch in Polen, die ersten (halb)freien Wahlen zum polnischen Sejm, die Hinwendung der Reformkommunisten in Ungarn zu Demokratie und Marktwirtschaft, vor allem aber die Bilder der sich zu Massenkundgebungen zusammenschließenden Menschen überall in Osteuropa wurden dem Fernsehpublikum in der DDR über die Filmberichte der Korrespondenten von ARD, ZDF und RTL bekannt. Nachrichten- und Magazinsendungen wie die Tagesschau und Heute, Kontraste und Panorama erfüllten seit März 1989 in der DDR immer stärker Aufgaben einer Ersatzöffentlichkeit. Zwar wäre es zu einfach, die Friedliche Revolution in der DDR als eine ‚Fernsehrevolution‘ zu bezeichnen, gleichwohl „beschleunigte und verstärkte“ das Fernsehen diese Prozesse, „indem die Programme der Bundesrepublik schnell und ‚flächendeckend‘ über die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze, die Flucht der DDR-Bürger in die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau sowie über die großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin berichteten.

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Das Fernsehen erzeugte damit einen emotionalen Druck und verbreitete das entstehende Klima der Veränderung.“ 140 Man konnte mit eigenen Augen sehen, wie die bislang als starr betrachteten Verhältnisse brüchig wurden und sich aufzulösen begannen. Es waren vor allem drei Filmsequenzen, die im Vorfeld des Mauerfalls zeigten, was man bislang nicht für möglich gehalten hatte: Die Grenzen und Mauern des ‚Eisernen Vorhangs‘ waren überwindbar geworden. Die über fast drei Jahrzehnte medial betriebene Auratisierung der Grenze war dahin. Zu diesen Bildsequenzen gehören zunächst die Filmbilder der Demontage des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich. Am 27. Juni 1989 wiederholten die Außenminister beider Länder die Zeremonie der Grenzöffnung vom 2. Mai und durchtrennten mit Bolzenschneidern symbolisch und unter großer Pressebeteiligung den Grenzzaun. Die Bilder gingen als Pressefotografien und Fernsehberichte um die Welt. Sie wurden zu Schlüsselbildern für das beginnende Ende der Teilung. Allerdings vermittelten sie zugleich den trügerischen Eindruck, dass es möglich sei, den Ostblock bereits problemlos zu verlassen. Fernsehbilder von freudestrahlenden Menschen, die es nach Österreich geschafft hatten, heizten in den folgenden Wochen die Stimmung weiter auf. Das Ministerium für Staatssicherheit konstatierte: „Die politische Meinungsbildung der DDR-Bürger werde in erheblichem Maße von westlichen elektronischen Medien bestimmt.“141 (I/268) Zur ‚Fernsehfluchthilfe‘ zählen auch die Bilder aus der Budapester und vor allem aus der Prager Botschaft der Bundesrepublik im September und die Bekanntgabe der Ausreisegenehmigung durch Bundesaußenminister Genscher vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft am Abend des 30. September in Prag sowie die Freudenbilder von der Ankunft der überglücklichen Menschen in den folgenden Tagen in der Bundesrepublik. Eine dritte Bildergruppe sind die Aufnahmen von den Leipziger Montagsdemonstrationen. Erstmals war über sie am Abend des 4. September berichtet worden. (I/269) Vor allem die unscharfen Videoaufnahmen von zwei Bürgerrechtlern vom Turm der Reformierten Kirche am Leipziger Ring vom Abend des 9. Oktober, die der Stasi unbemerkt geblieben waren, sollten sich in das Gedächtnis einbrennen. Mithilfe von Westjournalisten gelangte das Videomaterial aus der DDR nach West-Berlin, um am kommenden Abend in der Tagesschau und anschließend weltweit ausgestrahlt zu werden. Die Bilder aus Leipzig waren zugleich Gegenbilder zu den bekannten Bildern vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ein halbes Jahr zuvor und auch von daher in ihrer Wirkkraft nicht zu unterschätzen. Aufnahmen wie diese waren für die Menschen in der DDR in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Sie ließen die Kundgebungen und Demonstrationen als legitime Ausdrucksformen des Protests erscheinen. Und sie zeigten, wie einfach es war, sich den Demonstranten anzuschließen. Zugleich entlarvten sie das Bild der DDR-Medien von den republikfeindlichen ‚Randalierern‘. Und sie machten Mut zu eigenem Handeln, weil man annehmen durfte, dass es die Sicherheitsorgane der DDR nicht wagen würden, im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zuzuschlagen. Zusätz-

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lich zu diesen Bildern trugen die Fernsehbilder der von Volkspolizei und Stasi Anfang Oktober gewaltsam unterdrückten Protestdemonstrationen in Dresden, Leipzig und Berlin zur weiteren Delegitimierung der SED-Herrschaft bei. Immer wieder begegnete man in diesen Tagen des Umbruchs der Forderung nach einem Ende der ‚Volksverdummung‘. „Die Leute sind wütend über die anhaltende Schönfärberei, über die billige Informationsmanipulation“, schrieb ein Leipziger Schriftsteller am 3. Oktober 1989 in sein Tagebuch. „Sie fühlen sich behandelt wie Leute, denen man einreden will, die Kinder bringt der Klapperstorch, nachdem sie gerade einen großartigen Orgasmus hatten.“ 142 Und am 8. November notierte er: „Im TV Bilder von der letzten Nacht in Berlin, Männer in Zivil schlagen auf einen am Boden Liegenden ein, blutende Nasen, erhobene Fäuste, die heilige Fünf aus Zeigefinger und Mittelfinger gebildet vor der Kamera. Bilder aus dem Westfernsehen. Bilder, wie die Polizisten die Straße vor dem Hauptbahnhof entlang stürmen, schwarzweiß, wahrscheinlich von einem Hotel aus aufgenommen. Eine Frau mit einer Handtasche wird zu einem Mannschaftswagen geführt. Ein Jugendlicher rennt gegen ein erhobenes Schild, wird zurückgestoßen, taumelt, ein Polizist schlägt ihm den Knüppel über den Ansatz der Wirbelsäule.“ 143 (I/270) Indes trug auch das Fernsehen der DDR selbst mit zur Veränderung bei, als es am 9. November live die Pressekonferenz mit der Bemerkung des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski übertrug, dass ab sofort die Westgrenze der DDR für Ausreisende offen sei. Viele DDR-Bürger trauten zu diesem Zeitpunkt indes nicht mehr den Nachrichtensprechern und machten sich daher unmittelbar nach Ende der Pressekonferenz auf den Weg zur Mauer, um sich mit eigenen Augen ein Bild der Lage zu verschaffen. „Aus zögerlichen Worten werden im Handumdrehen Taten und Fakten: Ganze Trabi-Karawanen setzten sich gen Westen in Gang. Derweil werden in Berlin immer größere Löcher in die langjährige Trennwand unseres Landes geschlagen. Und die neuen Bilder schaffen weitere Taten: Die Fluchtströme schwappen vom Bildschirm auf die Straße und wachsen unaufhaltsam an. Das Fernsehen wird, über seine Rolle als Medium hinaus, zu einem beschleunigenden Faktor der Revolution“, so Bellut.144 „Das Medium des Mauerfalls war eigentlich das Fernsehen“, so auch ein Chronist der Ereignisse.145 Aus ungewissen Äußerungen ließ es in kürzester Zeit eine Realität werden, die in Windeseile Massen mobilisierte. (I/271) Exakt um 22.42 Uhr meldete ARD-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs in den Tagesthemen: „Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ Seine Aussage eilte den realen Ereignissen allerdings ein wenig voraus, da zu diesem Zeitpunkt an den Grenzübergängen noch überall Ruhe herrschte. Die Meldung setzte gleichwohl eine Eigendynamik in Gang, die nicht mehr zu stoppen war. Der Druck von Zehntausenden von DDR-Bürgern an der Grenze erzwang schließlich auch ganz real die Öffnung der Mauer – (I/272) festgehalten in beeindruckenden Bildern und Bildsequenzen vor allem von den Ereignissen am Grenzübergang Bornholmer Brücke, dem ersten geöffneten Übergang – eine Sequenz, die mittlerweile von der UNESCO zusammen mit der Filmsequenz vom ‚Sprung in die Freiheit‘ des

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Mauerbrecher-Bilder [I/268]: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft der BRD in Prag, 30.9.1989; [I/269] Standbild aus der Videoaufnahme vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig, 9.10.1989; [I/270] Standbild von der Übertragung der Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum am 9.11.1989 in Ost-Berlin, auf der Günter Schabowski die neuen Besuchsregelungen bekannt gibt; [I/271] ARD-Tagesthemen-Sprecher Hans Joachim Friedrichs berichtet am 9.11.1989, 22.42 Uhr, erstmals über die Öffnung der Mauer; [I/272] Grenzübergang Bornholmer Brücke in der Nacht vom 9. zum 10.11.1989; [I/273] Feiernde Menschen auf der Mauerkrone vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. zum 10.11.1989; [I/274] Titelblatt des SPIEGEL vom 13.11.1989; [I/275] Barbara Klemm, Blick hinter die Mauer, Berlin, Foto vom 10.11.1989

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Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989)

Conrad Schumann und den Aufnahmen des an der Mauer verbluteten Peter Fechter in das Weltdokumentenerbe ‚Memory of the World‘ aufgenommen wurde. (I/273) Zu den eigentlichen Medienikonen des Umbruchs und zu Bestandteilen des europäischen Bildgedächtnisses gerieten die Bilder der Besetzung der Mauer in der Nacht der Maueröffnung, wie das Bildcluster der tanzenden Menschen auf der Mauerkrone vor dem Brandenburger Tor in Aufnahmen des dpa-Fotografen Wolfgang Kumm oder die der ‚Mauerspechte‘, die sich noch in der Nacht zum 10. November daranmachten, die Mauer auch rein physisch zu Fall zu bringen. Wie für Medienikonen typisch, wurden Einzelbilder dieser Sequenzen in unterschiedlichen Kontexten und auf diversen Bildträgern reproduziert. Diese bereits synchron zu Medienikonen gewordenen Aufnahmen folgten einer durchdachten Bilddramaturgie. Die Fotografen und Kameramänner nutzten die räumliche Situation des Platzes vor dem Brandenburger Tor, indem sie ihre Kameras über die Köpfe der vor der Mauer versammelten Menschen geradewegs auf die Mauerkrone und auf das Tor richteten, das im Zentrum des Bildfeldes lag. Die Bilder vom Mauersturm konnten exakt 200 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille in Paris auf einen die Geschichte Europas ähnlich prägenden Bildakt rekurrieren. Zudem verschränkte die von den Fotografen und Kameraleuten gewählte Perspektive in geschickter dramaturgischer Steigerung das drei Jahrzehnte lang verinnerlichte Bild der Mauer als Grenze mit dem Akteur der Grenzöffnung, dem Volk, und dem Brandenburger Tor als nationaler Hoffnungsmetapher. In einer optischen Aufwärtsbewegung führte sie den Blick weiter auf die Quadriga und die schwarz-rot-goldene Fahne, auf der noch die Hoheitszeichen der gerade untergehenden DDR zu erkennen waren. In dieser Komposition ähnelten die Bilder einer grandiosen Verdi-Oper, in der der Massenchor zum abschließenden Triumphgesang anhebt. Die „Eroberung der Absperranlagen an diesem symbolisch aufgeladenen Ort“, so der Kunsthistoriker Godehard Janzing, „setzte die historische Zäsur am nachdrücklichsten ins Bild. Keine Zeitung und kein Fernsehsender verzichteten auf die Wiedergabe dieser Szenen. Schon bald entstand ein hochgradig standardisiertes Ereignisbild, das unmittelbar Eingang in die Geschichtsbücher fand.“146 (I/274) Auch die Bilder der ‚Mauerspechte‘ mit ihren Hämmern, Meißeln und Spitzhacken, die in den nächsten Tagen um die Welt gingen – so auf einem Cover des SPIEGEL vom 13. November 1989 – besaßen in den Gouachen vom Abriss der Bastille durch das Volk von Paris 1789 konkrete historische Vor-Bilder, was den Akteuren in dieser Nacht allerdings kaum bewusst gewesen sein dürfte. Selten einmal gerieten in dieser Nacht oder am folgenden Morgen die Menschen hinter der Mauer ins Bild. (I/275) Aus der Perspektive der am Tag nach der Maueröffnung auf der Mauerkrone vor dem Brandenburger Tor feiernden Menschen nahm so etwa Barbara Klemm die Situation jenseits der Mauer in den Blick. Eine ihrer Aufnahmen zeigt junge fröhliche Mauerbesetzer im Gespräch mit zum Teil entspannten DDR-Grenzschützern, die hinter der Mauer die funktionslos und damit anachronistisch gewordenen Grenzanlagen bewachen. Wie viele andere große historische Ereignisse haben auch der Fall der Mauer und das Ende der Ost-West-Teilung zeitnah Spuren in der zeitgenössischen Kunst hin-

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Die Maueröffnung, die Bilder und das Ende einer Epoche

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terlassen, so in Wolf Vostells Zyklus Der Fall der Berliner Mauer von 1990, in Matthias Koeppels Triptychon Öffnung der Berliner Mauer für das Casino des Berliner Abgeordnetenhauses von 1996/97, in Hans Haackes temporärer Installation Die Freiheit wird jetzt einfach gesponsert – aus der Portokasse, die einen DDR-Wachturm am früheren Todesstreifen in einen Werbeturm des Kapitalismus umwandelt, diesen mit einem Mercedes-Stern bekrönt und mit Aufschriften wie „Kunst bleibt Kunst“ und „Bereit sein ist alles“ versieht, oder in der Skulptur Die versinkende Mauer des französischen Landschaftsarchitekten Christophe Giro im Ost-Berliner Invalidenpark. Fast alle Bilder der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zeigten Perspektiven des Westens auf das historische Ereignis. Weit weniger bekannt sind die Perspektiven und Bilder jener Ereignisse, die sich in dieser Nacht jenseits der Mauer auf Ost-Berliner Seite, etwa am Pariser Platz, abspielten. Auch dort hatten sich Menschen versammelt, um einen Blick nach Westen zu wagen, wurden daran jedoch von DDR-Grenzschützern gehindert. Bärbel Reinke, eine Frau mittleren Alters aus Berlin-Mitte, bat einen Grenzschützer erregt und unter Tränen, ihr zu gestatten, einmal durch das Brandenburger Tor zu gehen, was ihr zunächst verwehrt wurde. Sie versicherte, nicht in den Westen zu wollen, nur einmal einen Blick nach drüben zu werfen. Nach einigen Minuten ließ sich ein Grenzschützer erweichen und begleitete die Frau unter dem Jubel der Anwesenden zum Tor  – ein kleiner Akt der Menschlichkeit in dieser großen ‚Nacht der Deutschen‘. Ein Kamerateam filmte den emotionalen Ausbruch. Als „Frau vom Brandenburger Tor“ wurde Bärbel Reinke Teil der Bildgeschichte vom Fall der Mauer und vom Ende der Nachkriegszeit.

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(II/1) Kein anders Bild bringt die Geschichte und das Selbstverständnis der ‚Berliner Republik‘ klarer zum Ausdruck als diese Fotografie. Es ist kein Bild des offiziellen Berlins, sondern eine Pressefotografie des Ost-Berliner Fotografen Rolf Zöllner vom 2. Mai 2005. Es ist eine mit viel Gespür für die deutsche Geschichte komponierte Aufnahme – kein spontaner Schnappschuss, wie er eher für Touristen typisch ist. Vielmehr handelt es sich um eine symbolisch aufgeladene Architekturfotografie, deren gestaffelte Raumkörper durch die Verwendung eines Teleobjektivs in einem Bild verdichtet sind. Die Aufnahme verbindet Tradition und Moderne: Symbole des preußischen Staates und des wilhelminischen Kaiserreichs mit den Betonquadern des Holocaust-Mahnmals und der Glaskuppel des Reichstagsgebäudes. Die Aufnahme ist, so wie sie hier abgebildet ist, überhaupt erst seit Kurzem machbar. Erst vor wenigen Monaten bzw. Jahren sind das Mahnmal und die Reichstagskuppel entstanden. Auch in diesem Sinne ist das Bild Ausdruck der neuen ‚Berliner Republik‘. ( I/1) Steht die Fotografie von Erna Wagner-Hehmke von der Unterzeichnung des Grundgesetzes für die ‚Bonner Republik‘, die sich immer als Provisorium verstanden hat und daher keinen vergleichbaren, unverrückbaren historischen Ort ihrer eigenen Identität geschaffen hat, so zeigt die Aufnahme von Zöllner einen symbolisch-politischen Ort, der die Identität des wiedervereinigten Deutschlands ausdrückt. Keine andere Hauptstadt vereint in ihrem Zentrum so viele architektonische Zeichen, die für ihre Geschichte stehen und seine Identität ausmachen, wie Berlin. Die in der Fotografie festgehaltenen Zeichen verbinden Vergangenheit und Gegenwart in einem Bild. Die Perspektive des Fotografen selbst hat

[II/1] Das Zentrum von Berlin, Aufnahme von Rolf Zöllner vom 2. Mai 2005 (epd-bild)

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historische Qualität. Zöllner befindet sich, als er die Aufnahme macht, an der südlichen Seite des Holocaust-Mahnmals, an der heutigen Hannah-Arendt-Straße, und damit nur wenige Meter von jenem Ort entfernt, an dem Hitler 1945 Selbstmord begangen hat. Er richtet seine Kamera über das Stelenfeld des Mahnmals und die Quadriga des Brandenburger Tores hinaus auf die Kuppel des Reichstagsgebäudes und die Bundesfahne. Die schwarz-grauen Betonstelen des Holocaust-Mahnmals, mit dem die ‚Berliner Republik‘ sichtbar und an markantem Ort ihre historische Verantwortung für den von den Nazis begangenen Genozid an den Juden Europas angenommen hat, im Vordergrund der Aufnahme erscheinen als unverrückbares Fundament der Szenerie und zugleich der neuen Republik. Zu verdanken sind sie dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Bürger und Bürgerinnen dieser Republik, zum Teil gegen massive Widerstände der Politik. Der von dem New Yorker Architekten Peter Eisenman entworfene Gedenkort für die ermordeten Juden Europas mit seinen 2.711 unterschiedlich hohen Betonstelen wurde exakt acht Tage, nachdem Zöllner seine Aufnahme gemacht hat, im Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schröder von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eingeweiht. Als architektonischer Erinnerungsort ist er eine Art „Stolperstein im Regierungsviertel“ (Claus Leggewie) und eine Touristenattraktion erster Güte ( II/19), die bis heute von Millionen Menschen besucht und auf ganz persönliche Weise angenommen wurde und wird. Hinter den dunklen Stelen des Mahnmals erscheint als heller Balken die neue amerikanische Botschaft, die nach 1992 an historischer Stelle wiedererrichtet wurde. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit stieß der Neubau vor allem wegen seines Festungscharakters auf heftige Kritik. In der Dachetage sollen sich Abhöreinrichtungen der NSA befinden, mit denen seit 2002 Mobilfunkgespräche im gesamten Regierungsviertel abgehört werden.

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Im Kontinuum des Bildes steht die USBotschaft indes für die transatlantische Freundschaft – eine weiterer Sockel der ‚Berliner Republik‘. Über der Botschaft und damit etwas oberhalb der Bildmitte ist die Quadriga des Brandenburger Tores zu erkennen, die die Gegenwart mit der preußischen Geschichte verbindet. Die Skulpturengruppe wurde 1793 auf dem früh-klassizistischen Triumphtor angebracht. Sie stellt die Siegesgöttin Viktoria im Streitwagen dar. 1806 hatte sie Napoleon als Zeichen seines Triumphes nach Paris ‚entführt‘, von wo aus sie später nach Berlin zurückkehrte. Die Figur – ursprünglich eine Friedensgöttin – wurde erst jetzt zur römischen Siegesgöttin Viktoria umgedeutet. Der Stab, den sie in ihrer rechten Hand hält und der an ein römisches Feldzeichen erinnert, zeigt ein Eisernes Kreuz in einem Lorbeerkranz an seiner Spitze. Auf dem Kranz thront ein Adler als Symbol für das preußische Königshaus und für preußische Stärke – der Urahn des Bundesadlers der Republik. Nach 1871 avancierte das Tor mit der Quadriga zum deutschen Nationalsymbol schlechthin. Nachdem die Skulpturengruppe im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört worden war, wurde sie in den 1950er Jahren gemeinsam von Ost- und West-Berlin wiederaufgebaut, wobei die DDR-Führung unmittelbar vor der Aufstellung Adler und Eisernes Kreuz wieder entfernen ließ, so dass nur der Lorbeerkranz übrig blieb. Erst nach einer neuerlichen Renovierung der Quadriga nach der Wiedervereinigung wurden beide wieder hinzugefügt. Hinter der Quadriga ragt einer der vier Ecktürme des von Paul Wallot entworfenen, 1894 eingeweihten Reichstagsgebäudes hervor, die für die vier Königreiche stehen, die die Reichsvereinigung von 1871 getragen haben. Konkret handelt es sich um den Südostturm, der mit seinen Figuren die Rechtspflege, die Staatskunst sowie die Wehrkraft zu Lande und zu Wasser symbolisiert. Es ist jener Turm, auf dem sowjetische Soldaten mit dem Hissen der roten Fahne am 2. Mai

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1945 jenes Siegesfoto inszenierten, das anschließend um die Welt ging. In der deutschen Geschichte steht das Gebäude gleich für mehrere Dinge: für den Beginn des Parlamentarismus in Deutschland, für die Ausrufung der Republik 1918 durch Philipp Scheidemann sowie für den Reichstagsbrand am 28. Februar 1933, der den zwölf Jahre andauernden Ausnahmezustand des ‚Dritten Reiches‘ begründete. Seit dem Umzug der Bundesregierung 1999 nach Berlin residiert in dem Gebäude der Deutsche Bundestag. Überragt wird der Reichstag von einer 23 Meter hohen und 40 Meter breiten Kuppel aus Stahl und Glas – den Baumaterialien der Moderne. ( II/11, 12) Mit ihrer Begehbarkeit und ihrer Verbindung zum unter der Kuppel liegenden Plenarsaal des Bundestages schuf der britische Architekt Norman Foster einen architektonischen Körper, der den neoklassizistischen Bau aus der Kaiserzeit mit dem Transparenzgebot einer mo-

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dernen Demokratie verknüpft. Kaum war die Kuppel für den Publikumsverkehr freigegeben, entfaltete sie ihre Anziehungskraft. In kürzester Zeit stieg sie zur Ikone und zum Symbol der ‚Berliner Republik‘ auf. Sie wird seitdem jährlich von etwa zwei Millionen Menschen aus aller Welt besucht. Über allem – dem Mahnmal, der US-Botschaft, der Quadriga und der Reichstagskuppel – ragt die schwarz-rot-goldene Fahne der deutschen Republik hervor. Rolf Zöllner, der Fotograf des Bildes – Jahrgang 1953, gebürtig in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz), ursprünglich von Beruf Elektronikfacharbeiter – war vor der Wende noch kurze Zeit als freier Filmfotograf für das Fernsehen der DDR tätig. Seit dem Fall der Mauer arbeitet er als freier Bildjournalist für verschiedene Medien. Das Ausgangsbild dieses Kapitels machte er 2005 im Auftrag des Evangelischen Pressedienstes epd. Zöllner lebt am Prenzlauer Berg in Berlin.

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Zwischen ‚neuer Prächtigkeit‘ und Spaßkultur Die Ästhetik der ‚Berliner Republik‘

Mit dem ‚Einigungsvertrag‘ vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der noch bestehenden DDR und damit noch vor der formalen Wiedervereinigung bekam Berlin den Status als Hauptstadt des Landes zurück. Damit erhielt Deutschland die einmalige Chance, an der einstigen Schnittstelle von Ost und West sowie auf den Trümmern von zwei Diktaturen ein neues politisches Machtzentrum zu gestalten. Architektur und Kunst waren dabei wichtige ästhetische Mittel, mit denen das idealisierte Selbstbild des Bonner Provisoriums in den kommenden Jahren in eine zeitgemäße Form des neuen Jahrtausends überführt werden sollte. Berlin wurde zur einzigartigen Bühne, auf der sich die Großen der Politik und des Showbiz aus aller Welt tummelten und die auch seine Bürger und Bürgerinnen offensiv für ihre Interessen und Bedürfnisse nutzten. Über Nacht war das ‚Raumschiff Bonn‘ in der Stadtbrache Berlin-Mitte gelandet. Mit dem Fall von Mauer und Stacheldraht hatten zugleich die identitätsstiftenden Bildsymbole der ‚Bonner Republik‘ – der ‚Käfer‘, die D-Mark, das Kernkraftwerk – ausgedient. Und auch Mauer und die bolschewistische Gefahr waren als Zeichen der Trennung sowie als Feindbild obsolet geworden. Das zeitweise entstandene ästhetische Vakuum füllten neuartige Massenevents sowie eine neue Form von politischer Beteiligung auf, für die der Begriff ‚Politainment‘ prägend wurde. Der öffentliche Raum von Straßen und Plätzen sowie neue Bildmedien und -formate wurden zu Verhandlungs- und Verständigungsräumen des Politischen. Der bislang eher steife Umgang mit den Staats- und Nationalsymbolen entkrampfte sich. Eine eigenständige weltoffene, selbstbewusste, zum Teil spielerische Ästhetik löste die eher zurückhaltende Ästhetik der ‚Bonner Republik‘ ab. Berlin avancierte ähnlich wie nach 1918/19 zum Symbol Deutschlands und zur Weltstadt. Noch während der sogenannten ‚Hauptstadtdebatte‘ führte der Publizist Johannes Gross zur Charakterisierung der neuen Verhältnisse den Begriff ‚Berliner Republik‘ ein. 1996 betitelte auch Time Magazine einen Special Report über das neue Deutschland mit „Die Berliner Republik kommt“. Das Cover zeigte Baukräne, die ein Hochhaus hochziehen, aus dem der Bundesadler hervorwächst. Die Normalität einer Berliner Republik nannte 1997 der Suhrkamp-Verlag einen Band mit Transkrip-

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ten von Interviews mit dem Philosophen Jürgen Habermas. Berliner Republik hieß schließlich auch das neue Debattenmagazin, das Bundestagsabgeordnete des rechten SPD-Flügels seit 1999 herausgaben.

Damnatio memoriae Der Ikonoklasmus der Wendezeit Im Prozess der neuen Identitätsbildung störten die Bilder und Symbole der implodierten DDR. Im Unterschied zu den ehemaligen Ostblock-Staaten kam es während des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 aber zu keiner exzessiven Bilderstürmerei und zu keinen prominenten Denkmalstürzen. Diese setzten erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung ein. Der Bilderkrieg, der bislang zwischen West und Ost getobt hatte, verlagerte sich in das Innere der neuen Bundesländer. Er betraf im Wesentlichen die im Stadtraum präsenten Bilder, Symbole und Reklametafeln sowie öffentliche Gebäude und Straßenschilder. Ziel der neuen Politik war das Auslöschen der visuellen Erinnerung an die untergegangene DDR – ein Ziel, das de facto nie erreicht wurde. Zum größten ikonoklastischen Akt der deutschen Geschichte nach der ‚Kristallnacht‘ von 1938 geriet der Abriss der Mauer. Mit schwerem Gerät, (II/2;  I/274) aber auch mit Hammer und Meißel rückten die Deutschen seit November 1989 dem bisherigen Beeindruckungs- und Drohbau zu Leibe, der immer auch Ikone und Kunstwerk gewesen war. Während zahlreiche Werke der Mauerkunst dabei unwiederbringlich zerstört wurden, wurden andere als Reliquien der Wende verkauft und an entfernten Orten im Vatikan oder mitten in Manhattan wiedererrichtet, wobei allerdings immer nur die bemalte Westseite der Mauersegmente interessierte. (II/3) Unspektakulär und eher beiläufig entsorgten die ehemaligen DDR-Bürger wie nach 1945 die visuellen Relikte der DDR-Vergangenheit aus ihren Haushalten. Nachdem der Ikonoklasmus der Wendezeit eher verhalten geblieben war und sich hauptsächlich auf die Entfernung von verhassten Symbolen wie Hammer, Zirkel und Ährenkranz beschränkt hatte, gingen Politik und Verwaltung der wiedervereinigten Republik seit 1990 umso radikaler gegen DDR-Überbleibsel vor. Zu Akten eines „Ikonoklasmus von oben“ (Arnold Baretzky) geriet das Schleifen zahlreicher DDR-Denkmäler als der bildmächtigsten Zeichen des Systemwechsels. Für Schlagzeilen und beeindruckende Bilder sorgte die Demontage der monumentalen, 15 Meter hohen Lenin-Statue durch die Berliner Stadtverwaltung. (II/5) Der Koloss erwies sich dabei als äußerst resistent. Er wurde in 125 Segmente zerlegt und anschließend in einer Kiesgrube im Köpenicker Forst verscharrt. Andere Städte folgten dem Ost-Berliner Entsorgungsmodell. Vorrangig verschwanden Denkmäler, die militärischen und politischen Propagandisten der einstigen sowjetischen Staatsmacht sowie getöteten DDR-Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze gehuldigt hatten. Auch Denkmäler für die ‚bewaffneten Organe‘ der DDR mussten der neuen Zeit weichen. In das große Reinemachen wurden auch Denkmäler einbezogen, die an die Geschichte der Arbeiterbewe-

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gung erinnerten, wie prominente Thälmann- und Marx-Engels-Denkmäler sowie Wandbilder zur Geschichte der DDR bzw. des Marxismus-Leninismus quer durch die ehemalige DDR. Zum Teil wanderten die zerlegten Denk- und Mahnmäler in Depots, zum Teil fanden sie sich als Werbeträger bei Schrott- und Autohändlern wieder, zum Teil wurden sie wie das Karl-Marx-Relief der Leipziger Universität an den Stadtrand verbannt. In einigen Fällen verdeckte man riesige Wandbilder durch Reklamewände, verhüllte sie mit Planen oder gab sie einfach dem Verfall preis. (II/4) Wandbilder wie Bernhard Heisigs Relief im Leipziger Gästehaus des DDR-Ministerrats wurden von Graffiti-Sprayern bis zur Unkenntlichkeit übersprüht. (II/7) Zum spektakulärsten Akt des Nachwende-Ikonoklasmus geriet der im offiziellen Sprachgebrauch euphemistisch als ‚selektiver Rückbau‘ bezeichnete Abriss des ‚Palastes des Republik‘ nach 2006. Denkmalsturz und Ikonoklasmus blieben nicht unwidersprochen. In Chemnitz etwa wehrte sich die Bevölkerung gegen den Abriss des dortigen Marx-Monuments. In Berlin überstand das Thälmann-Denkmal an der Greifswalder Straße das bereits gefällte Abrissurteil. Immer wieder kam es zu kontroversen Denkmals-Dialogen. Denkmäler wurden mit ironisierenden Aufschriften versehen, mit Inschriften und Transparenten zum ‚Sprechen‘ gebracht oder wie das Berliner Kampfgruppen-Denkmal mit Stacheldraht umzäunt oder mit Efeu begrünt. Die alten Symbole und Bilder gerieten auf diese Weise in neue Deutungskontexte. Gegen den Abriss von ‚Erichs Lampenladen‘ – den ‚Palast der Republik‘ – kam es wiederholt zu Protestdemonstrationen und künstlerischen Stellungnahmen. (II/6) Ein norwegischer Künstler ließ 2005 auf dem Dach des ‚Palastes‘ einen sechs Meter hohen neonbeleuchteten Schriftzug ‚ZWEIFEL‘ installieren. Junge Menschen protestierten vor den Trümmern, indem sie die Flaggenhissung von Iwo Jima reinszenierten und damit den Abriss in den Kontext einer kriegerischen Landnahme stellten. (II/5) Zum prominentesten Beispiel der ‚sprechenden‘ Denkmäler der Wendezeit wurde die Berliner Lenin-Statue. Vor ihrer Entfernung gelang es Demonstranten, ein Banner mit der Aufschrift ‚Keine Gewalt‘ über der Brust Lenins anzubringen. Eine anti-monumentale Neuinterpretation nahm 1990 der in Polen geborene Künstler Krysztof Wodiczko vor, der mit einer Projektion die Statue in einen Käufer mit Ringelpulli und einem Einkaufswagen voll billiger elektronischer Artikel verwandelte. Vielleicht waren solche Formen einer medialen und künstlerischen Ironisierung der Zeugnisse der Vergangenheit, wie sie auch Wolfgang Becker in seiner Filmsatire Good bye, Lenin! praktizierte, die adäquaten Formen der ‚Abrüstung‘ von DenkmäDer Ikonoklasmus der Wende- bzw. Nachwendezeit [II/2] ‚Mauerspechte‘, Berlin, Fotografie vom November 1989; [II/3] Die ‚Entsorgung der Vergangenheit‘, gestellte Aufnahme, Ost-Berlin 1990; [II/4] Zerstörtes bzw. übermaltes Gemälde von Bernhard Heisig im ehemaligen Gästehaus des DDR-Ministerrates in Leipzig, Aufnahme von Margret Hoppe aus dem Jahr 2006 aus der Fotoserie Verschwundene Bilder; [II/5] Lenin-Statue in Berlin-Friedrichshain kurz vor ihrer Demontage im November 1991; [II/6] Palast der Republik (2005); [II/7] Abriss des Palastes der Republik, Aufnahme vom Oktober 2008

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[II/8] Symbolische Bestattung der D-Mark in Gifhorn (2001); [II/9] Euro-Skulptur in Frankfurt a. M. (2013)

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lern. Schon der heiter-schmunzelnde Titel des Films verwies auf die Funktionsveränderung von Denkmälern, die längst nicht mehr mit jenem Bierernst betrachtet wurden wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit etwas größerer zeitlicher Entfernung zum Mauerfall ließ man einzelne erhaltene Denkmäler und Wandbilder als Zeugnisse der untergangenen DDR restaurieren und bewahrte sie damit vor Verfall und Vandalismus. Einzelne ikonoklastische Akte wurden rückgängig gemacht, wie etwa die Entfernung der Lenin-Statue von Tomski, deren Kopf bei Good bye, Lenin! eine prominente Rolle gespielt hatte. In einer spektakulären Aktion wurde der Granitschädel ‚exhumiert‘ und 2015 als Exponat einer Ausstellung in der Spandauer Zitadelle in Berlin gezeigt. Optisch blieb von der ehemaligen DDR im Alltag des wiedervereinigten Deutschlands nur wenig übrig. Zu deren bekanntesten Relikten zählten das Sandmännchen des DDR-Fernsehens und die Ampelmännchen an Fußgängerüberwegen. Um einen ikonoklastischen Akt der besonderen Art im Westen der Republik handelte es sich bei der Abschaffung der Deutschen Mark zum Jahresende 2001. Die D-Mark war immer mehr gewesen als nur reines Zahlungsmittel. ( I/191–193) Sie war auch eine Ikone, die tief im Alltag der Deutschen und in ihren Brief- und Handtaschen verankert war, die für wirtschaftliche Prosperität und politische Stabilität stand und für viele Menschen eine konkrete psychosoziale Funktion besaß. Ihre Einziehung hinterließ ein Vakuum, das durch den Euro als Zahlungsmittel nur notdürftig gefüllt werden konnte. Wie sehr die Wunde schmerzte, machten unzählige Karikaturen deutlich, die das Ende der D-Mark kommentierten. (II/8) Im niedersächsischen Gifhorn wurde die D-Mark symbolisch zu Grabe getragen und ihr ein Ehrenstein errichtet. In der Rückschau geriet die D-Mark zum Sehnsuchtsort vieler Deutscher. Nur selten allerdings fand der ‚Untergang‘ des Nationalsymbols der Deutschen nach 1949 einen Ausdruck in der zeitgenössischen bildenden Kunst, so etwa 2012 in einem Ölgemälde des Berliner Malers Matthias Koeppel. (II/9) Zur gleichen Zeit, als die D-Mark in Gifhorn zu Grabe getragen wurde, kam es in Frankfurt am Main neben dem Eurotower, in dem eine Zeit lang die Europäische Zentralbank ihren Sitz hatte, zur Enthüllung einer 15 Meter hohen und 50 Tonnen schweren Euro-Skulptur in Form einer monumentalen Leuchtreklame durch einen privaten Verein. Die Skulptur war außer bei Touristen nie wirklich beliebt. Die Stadt Frankfurt lehnte ihre Unterhaltung ab, so dass 2015 sogar über ihre Versteigerung nachgedacht wurde.

‚Neue Prächtigkeit‘ Die präsentativen Neubauten der ‚Berliner Republik‘ Als Folge des ‚Hauptstadtbeschlusses‘ erfolgte im Sommer 1999 die Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach Berlin. Deutlich stärker als in Bonn nutzte die Politik jetzt die Architektur als Mittel der Darstellung des wiedervereinigten Deutschlands, was allerdings schon bald einen Streit zwischen den Anhängern einer postmodernen Architektur und denen einer ‚kritischen Rekon­ struktion‘ entfachte. Nicht so sehr durch traditionelle Symbole, da war man sich

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einig, sondern durch erlebbare architektonische Räume sollten sich die Bürger und Bürgerinnen mit der neuen Republik identifizieren können. Anders als Bonn inszenierte sich das wiedervereinigte Deutschland gerade in Berlin von Anbeginn an selbstbewusst und auf Langfristigkeit angelegt. Ausgestattet mit einem „neuen Willen zur Staatsästhetik“ und einem „fast unbeschwerten Gefallen an der Repräsentation“,1 entstanden mit dem Kanzleramt und dem Umbau des Reichstagsgebäudes neue Staatsbauten, die auf historischem Gelände sichtbar für jeden sowohl das Ende der bisherigen architektonischen Bescheidenheit als auch den Wandel der Republik hin zur Mediendemokratie und damit den Stilwandel „von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie“ (Ulrich Sarcinelli) widerspiegelten. Sie füllten mit der Zeit das ästhetische Vakuum auf, das durch das Verschwinden der D-Mark und den Abriss des ‚Palastes der Republik‘ als zentraler Identifikationsmarken der Deutschen-West und der Deutschen-Ost entstanden war. Hatte ( I/16) das Bonner Kanzleramt, wie es Helmut Schmidt einmal gesagt hatte, noch den „Charme einer rheinischen Sparkasse“ besessen und damit dem ästhetischen Selbstverständnis der ‚Bonner Republik‘ entsprochen, (II/10) spiegelte das neue Kanzleramt in Berlin sowohl das Bedürfnis nach einer neuen Staatsästhetik als auch den Wandel im Selbstverständnis der bundesdeutschen Demokratie wider. Nach den Vorstellungen seines Auftraggebers Helmut Kohl, der sich selbst als großer Bauherr verstand, sollte die neue Regierungszentrale im Orchester der Berliner Bundesbauten sowohl stadträumlich als auch architektonisch eine herausragende Rolle spielen. Sie sollte die Visitenkarte der neuen Republik werden. Kohl wollte etwas Herausragendes errichten. Er „wünschte sich ein Zeichen für das neue, vereinte Deutschland, ein Nationalsymbol ersten Ranges“.2 Das neue, nach den Plänen der Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank entworfene Amt zeigte geradezu eine „Lust an barocker Fülle“ (Karin Wilhelm). Mit seinen Bogenfenstern, seinem Flügeldach und seiner Sky-Lobby strahlte es weithin sichtbar über den Tiergarten und die Spree hinaus aus. Es verfügte über eine prachtvolle Schauseite, die wie aus einem Kubus herausgeschnitten wirkte. Die seitlichen Begrenzungswände bildeten mit dem ausladenden, durchbrochenen Dach „eine Großform, die wie ein mächtiges Stadttor erscheint“.3 Das Kanzleramt geriet zugleich zum „erste(n) Bauwerk der Mediendemokratie“, wie dies der Architekturkritiker und ZEIT-Journalist Heinrich Wefing nannte. Kein anderes Staatsgehäuse sei „so sehr auf seine Kameratauglichkeit hin entworfen worden“ wie der neue Regierungssitz im Spreebogen. In seinem Innern gleiche das Amt „einem Fernsehstudio. Es ist verkabelt wie ein Sendesaal, im ganzen Haus sind Anschlüsse für TV-Übertragungen verlegt worden, fast überall sollten, so wünschten es die Bauherren, ‚spontane Pressebegegnungen‘ möglich sein. Den Journalisten stehen nicht nur der ‚Info-Saal‘, die Kabinettssäle und der sogenannte Bildpresseraum gleich neben dem Arbeitszimmer des Kanzlers offen.“ Auch die verschwenderisch dimensionierten Repräsentationsräume im Leitungsblock, die Hallen, Treppen und Höfe seien auf die Bedürfnisse der medialisierten Politik zugeschnitten.4 Diese glichen denn auch eher Bühnen und Showtreppen als einem funktionalen Verwaltungsgebäude. Eine Showfront am Ehrenhof sollte den Kameras eindrucksvolle Bilder

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etwa bei Staatsempfängen ermöglichen. Unübersehbar waren alle diese Elemente als Kulissen entworfen und auf die Repräsentationsbedürfnisse des Kanzlers zugeschnitten worden. Einer List der Geschichte kam es gleich, dass das neue Amt nicht von Helmut Kohl, sondern von Gerhard Schröder bezogen wurde, nachgerade dem idealen Staatsschauspieler auf der neuen Bühne der Macht. Kohls Kanzleramt war von Anbeginn an umstritten. Was den einen despektierlich als ‚Elefantenhaus‘, als Kohls ‚Waschmaschine‘, als ‚Palazzo Großklotz‘ oder als ‚Kohlosseum‘ galt, bezeichneten andere als ‚gebautes Wunderwerk‘ und ‚grandioses Baukunstwerk‘. Der SPIEGEL sprach vom „Kanzleramt ohne Seele“ und vom „Klotz am Bein der Republik“. Irritierend war für viele sowohl die Dimension des Baukörpers als auch dessen im Vergleich zu Bonn ungewöhnliche Lust am freien Formenspiel. Exkanzler Kohl selbst hielt die Dimensionen des Baus mit Blick auf die starke Stellung des Kanzlers in der Verfassung indes für angemessen. Um der von Helmut Kohl geforderten Symbolik gerecht zu werden, hatte man sowohl städtebauliche als auch architektonische Raumformationen geschaffen,

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Politische Architekturen der ‚neuen Prächtigkeit‘ [II/10] Kanzleramt mit Ehrenhof (2010); [II/11] Westfassade des Reichstagsgebäudes (2006); [II/12] Reichstagskuppel von Norman Foster (o. D.); [II/13] Deutscher Bundestag, Paul-LöbeHaus, Spree-Seite (o. D.); [II/14] Zentrale des Bundesnachrichtendienstes an der Chausseestraße, Berlin (2017)

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„die als unverwechselbare, prägnante Zeichen des vereinten Deutschlands in der Mitte Europas lesbar sein sollten  […]. Nicht nur, dass mit dieser stadträumlichen Figur die gewünschte Ost-West-Erschließung als Anbindung von Ost- und Westberlin gelungen ist, vielmehr durchkreuzt dieses Bebauungsband mit dem Kanzleramt, der Schweizer Botschaft, dem geplanten Bürgerforum und den Gebäudekomplexen der Abgeordnetenbüros die auf den Spreebogen ausgerichtete ehemalige Speer-Planung und konstituiert sich selbst als Achse, parallel zur Magistrale des 17. Juni [...]“5 Der Bau schuf zudem eine optische Distanz zwischen Regierung, Parlament und Regierten sowie zur Geschichte. Erinnerungspolitisch kam das neue Kanzleramt unhistorisch daher, d. h. ohne jeden sichtbaren Bezug zum historischen Ort im Spreebogen, wo NS-Architekt Albert Speer geplant hatte, seine gigantomanische ‚Halle des Volkes‘ zu errichten sowie zu seinem rheinischen Vorgängerbau. Weder erwiesen seine Formen den Bonner Glaspavillons Respekt, noch knüpften sie an die steinernen Traditionen der klassischen Staatsrepräsentation an. Mit dem Bau hatten die Architekten einen Neuanfang gewagt. Der Bau geriet zum Symbol, zur „gebauten Regierungserklärung“, zum „Monument der Berliner Republik“ (Hanno Rauterberg). Im Inneren des Amtes verortete man sich in den künstlerischen Traditionen der (west-)deutschen Geschichte, indem man sich neben den Werken zeitgenössischer Künstler wie Markus Lüpertz und Rainer Kriester sowohl auf die von den Nazis verfemte klassische Moderne bezog, wie sie etwa Ernst Ludwig Kirchner und August Macke repräsentierten, als auch auf die Gemälde der gemäßigten Abstraktion, wie ( III/1) die Augenbilder eines Ernst Wilhelm Nay. (II/11) Das zweite Gebäude, welches das Selbstverständnis der neuen Republik spiegelte, war das vollständig renovierte und sanierte Reichstagsgebäude. Mit dem Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin stellte sich die Frage, wie sich die Berliner Demokratie in einem Gebäude einer autoritär-staatlichen Vergangenheit sichtbar für seine Bürger repräsentieren sollte bzw. wie in einem monumentalen Neorenaissance-Bau der Kaiserzeit Sichtbarkeit und Transparenz als Staatsziele eines demokratischen Landes visualisiert werden konnten. (II/12) Zum sichtbaren Zeichen der Verbindung von Tradition und Moderne und zum beliebtesten Publikumsmagneten der Hauptstadt wurde die von dem britischen Architekten Sir Norman Foster entworfene gläserne Kuppel auf dem Dach des Reichstages. Diese war ein „Symbol der Demokratie wider Willen“ (Horst Bredekamp), weil Foster zunächst eine andere Dachkonstruktion favorisiert hatte, die allerdings von den Berlinern als ‚Tankstelle‘ verspottet worden war. Erst auf Intervention des Bundesbauministers und der Bundestagsfraktion von CDU/CSU hatte Foster einen Kuppel-Entwurf nachgereicht. Mit einer begehbaren Kuppel machte Foster aus der Not eine Tugend. Bei keiner anderen begehbaren Kuppel nämlich sind den Besuchern ähnliche Ausblicke möglich. Beim Aufstieg können diese den Blick nach innen wie nach außen richten, so dass der sichtbare Sektor des Plenarsaals größer wirkt und sich die Aussicht nach außen erweitert. „Nirgends sonst“, so der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, „blicken die Besucher eines Parlamentsge-

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bäudes wie hier aus distanzierter Höhe auf zumindest Teile des Plenarsaales herab, um beim Blick nach außen die Sicht des von oben betrachtenden Herrschers einzunehmen.“ Fosters Kuppel vermittle „das Bild einer Demokratie, wie sie sein sollte“.6 Ergänzt wurde das renovierte neoklassizistische Bauwerk durch das im postmodernen Stil errichtete, von Stephan Braunfels entworfene Paul-Löbe-Haus und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus mit seinen verglasten Fassaden, in denen sich das Kanzleramt und der Reichstag spiegeln. (II/13) Zusammen mit diesen bilden sie das ‚Band des Bundes‘. Nirgends anders als in den beiden Gebäuden spiegele sich das demokratische Selbstverständnis der ‚Berliner Republik‘ überzeugender wider, so der damalige Präsident des Bundestages Norbert Lammert 2009: „Die Bauten atmen ein gelassenes Selbstbewusstsein, ohne auftrumpfend zu wirken, sie sind offen, der Stadt und den Menschen zugewandt.“ 7 Die Rechnung von Planern und Politikern ging auf. Bereits 2005 feierte die Welt am Sonntag – vielleicht etwas vorschnell – Berlin als neue „Welthauptstadt der Architektur“.8 Und schnell waren die Neubauten auch im realen wie im virtuellen Alltag der Bundesbürger präsent. Sie dienten als Hintergrund für Live-Schalten des Fernsehens, als Kulissen für politische Demonstrationen, ( II/55) als Kulissendekoration von Talkshows sowie als Hintergrundbild für Touristengruppen. Zu der Ikone der ‚Berliner Republik‘ indes stieg die Reichstagskuppel auf. Sie war ebenso auf Kaffeetassen wie auf Bierkrügen zu finden. Sie wurde zum Logo von Fernsehsendungen und der FDP-Bundestagsfraktion. Nach der Berliner Zeitung löste sie den Bundesadler ab. Dieser bleibe „zwar offizielles Logo des Parlaments, aber in dessen politischen Souvenirshops ziert die Basecaps, Krawatten und Bierseidel nicht länger der strenge Vogel, sondern ein stilisiertes Logo der Kuppel“.9 Ähnliches hatte die ‚Bonner Republik‘ nie vorzuweisen. Dass der Bauwahn der ‚Berliner Republik‘ finanziell zulasten der Bundesländer ging, Kommunen aus Geldmangel Kultur- und Sporteinrichtungen schließen mussten, Schulen wegen Baufälligkeit nicht mehr nutzbar waren und Städte wie Duisburg-Meiderich zunehmend verslumten, gehört auch zum Repräsentationskult der neuen Republik.

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Ikone der Demokratie: Der verhüllte Reichstag [II/15]

[II/15] Christo u. Jeanne-Claude, Verhüllter Reichstag, Foto Wolfgang Völzner, 1995

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(II/15) Noch vor Fertigstellung der Kuppel hatte das Reichstagsgebäude auch in anderer Hinsicht Schlagzeilen gemacht und eine Grenzen überschreitende Sympathie mobilisiert. Nachdem die Mehrheit des noch in Bonn residierenden Bundestages gegen das Votum von Kanzler Kohl und von CDU/CSUFraktionschef Schäuble im Februar 1994 grünes Licht gegeben hatte, verhüllte im Sommer 1995 das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude für 14 Tage den Reichstag mit einem silberglänzenden, feuerfesten Gewebe, das sie mit blauen Seilen verschnürten. Die Aktion nahm rasch den Charakter eines Volksfestes an, zu dem mehr als fünf Millionen Menschen aus vielen Ländern anreisten. Die Resonanz in den internationalen Medien machte das Reichstagsgebäude zu einem temporären Kunstwerk und weltweit populär. Für Horst Bredekamp war Christos und Jeanne-Claudes Verhüllungsaktion „ein Beitrag zur Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft“.10 Die Kunst der Verhüllung überführe einen Gegenstand „aus der Semantik des Alltäglichen in eine Zone der Aura, des Festes und der Zeremonie“. „Der sakralste Bildstoff, ein Tuch, legt sich über alltägliche oder landschaftliche Gebilde, um sie in eine neue Form zu bringen und mit jener auratischen Verfremdung zu versehen,

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die in der gesamten christlichen Bildtradition zur Erhöhung der religiösen Heilsmittel eingesetzt worden war.“ Wie schon andere Verhüllungsobjekte von Christo und Jeanne-Claude begann auch die Verhüllung des Reichstages als reproduziertes Kunstobjekt ein Eigenleben zu führen, indem es als Zeichnung, Fotografie, Skizze usf. massenhaft verbreitet und angeeignet wurde. Mit der spektakulären Verhüllungsaktion war der Reichstag des wiedervereinigten Deutschlands endgültig zum sichtbaren Identifikationsobjekt geworden. Die ‚Berliner Republik‘ hatte zu einem eigenständigen künstlerischen Ausdruck gefunden  – ebenfalls eine Tatsache, die der ‚Bonner Republik‘ nie gelungen war und den diese auch nie angestrebt hatte. Und wie nie zuvor hatte ein politisches Symbol im positiven Sinne Eingang in den Alltag seiner Bürger gefunden. Schließlich war die Verhüllungsaktion auch in dem Sinne ein Symbol von gelebter Demokratie, dass sie gegen das ausdrückliche Votum des Kanzlers und der stärksten Fraktion im Bundestag zustande gekommen war. Durch die Aktion von Christo und Jeanne-Claude wie durch die Begehung von Fosters Kuppel durch die Bürger war das steinerne Nationalsymbol zum Ausdruck einer lebendigen Eventdemokratie geworden.

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Kultbauten der neuen Republik [II/16] Humboldt-Forum (September 2021); [II/17] James-Simon-Galerie, Entwurf: David Chipperfield (2019); [II/18] Freiheits- und Einheitsdenkmal, Nachtansicht vom Schinkelplatz aus, Entwurf Johannes Milla und Sasha Waltz, Stand 2014, im Hintergrund das Humboldt-Forum

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Neben den spektakulären Neu- und Umbauten wurden auch ehemals repräsentative Gebäude des NS-Regimes für Zwecke der ‚Berliner Republik‘ durch ‚kritische Rekonstruktion‘ neu genutzt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zog so etwa in das vom Krieg verschont gebliebene, nun kostenaufwendig sanierte Gebäude von Goebbels’ Propagandaministerium ein – ein ehemaliges Barockpalais in der Wilhelm- und Mauerstraße. Das Auswärtige Amt übernahm das von den Nationalsozialisten errichtete Gebäude der Reichsbank, das es mit hohem Kostenaufwand um einen Neubau am Werderschen Markt erweitern ließ. In Zusammenarbeit mit dem Künstler Gerhard Merz entwickelte der Architekt ein in den Umbau integriertes Kunstkonzept, das durch die Anbringung monochromer Farbflächen dem Bau zu zeitgemäßer Frische und Farbigkeit verhalf. Größensucht, die der ‚Bonner Republik‘ stets fremd gewesen war, zeichnete den 2019 fertiggestellten Neubau der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes an der Chausseestraße aus. ( II/14) Dieser geriet zum größten Bauprojekt der Republik seit ihrem Bestehen. Und er stellte in seinen Ausmaßen noch die Zentrale der CIA in den USA in den Schatten. Die Gesamtkosten für das dreiflügelige Bauwerk mit einer Länge von 270 Metern, einer Breite von 160 Metern und einer Höhe von 30 Metern beliefen sich auf 1,085 Milliarden Euro. Zur Architektur des Gebäudes mit 5.200 Räumen schrieb der Feuilletonist der FAZ: „[...] die Gebäudeteile sehen auch aus wie eine etwas ratlos Spalier stehende Versammlung überdimensionierter, riesenhafter PC-Gehäuse, in deren gigantischen Laufwerken alles gespeichert ist, was überhaupt speicherbar ist.“11 (II/16) Preußenkult und hauptstädtischer Größenwahn waren schließlich auch für den Wiederaufbau des im Krieg schwer beschädigten und 1950 vom SED-Staat geschleiften Berliner Stadtschlosses verantwortlich. Das einst von Preußenkönig Friedrich I. nach Plänen von Andreas Schlüter errichtete barocke Hohenzollernschloss der preußischen Könige und deutschen Kaiser war immer ein Ort der Macht

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und der Mächtigen gewesen, die das Gebäude über Jahrhunderte als politisches Symbol und als Bühne für ihre Inszenierungen genutzt hatten. Hier hatte bis zum erzwungenen Gang ins Exil der letzte deutsche Kaiser mit seiner Familie residiert. Von hier rief – parallel zur Proklamation der Republik durch Philipp Scheidemann vom Reichstag aus – Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus. Als eines der größten Bauwerke prägte das Schloss mit seiner 70 Meter hohen Kuppel lange Zeit das Stadtbild von Berlin. Nach kontroversen Diskussionen beschloss 2002 der Deutsche Bundestag, das Schloss wieder errichten zu lassen. Gemäß Empfehlung einer internationalen Expertenkommission sollte der Bau von außen ein Nachbau des als Hauptwerk des norddeutschen Barocks geltenden Hohenzollernschlosses sein, innen demgegenüber ein weitgehend moderner Bau nach Plänen des italienischen Architekten Franco Stella. Das Gebäude sollte in erster Linie ein Gebäude der Kultur werden. Nach der Deutschen Bauzeitung geriet der Wiederaufbau zum teuersten Kulturbau Deutschlands. Mit der Unterbringung von Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin und der Berliner Humboldt-Universität wollte man an die kulturelle Tradition des Hohenzollernschlosses anknüpfen, in dem sich ursprünglich die BrandenburgischPreußische Kunstkammer befunden hatte, die als Keimzelle der Berliner Museen gilt. Auch wenn die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt mit den ausgestellten Sammlungen nichts zu tun hatten, griffen die Entscheidungsträger den Namensvorschlag auf. Kritik geübt wurde vor allem an Elementen der Schlosskuppel: am Kreuz auf dem Reichsapfel sowie an der in goldenen Lettern gefassten Inschrift um die Kuppel ­herum, die – so die Kritiker – völlig unzeitgemäß den Machtanspruch des Christentums dokumentiere. Dies widerspreche dem offenen und modernen Anspruch des Humboldt-Forums, das zum Träger des rekonstruierten Schlosses bestimmt worden war. Auch die Architektur war immer wieder Gegenstand der Kritik. Den Architekturkritiker Niklas Maak erinnerte das Innere an ein großes Shopping-Center und an Flughäfen mit langen Rolltreppen. Die anschließende Querung ähnele dem Innenhof eines Hotels der Kette ‚Motel One‘.12 Die taz kritisierte den Neubau als „Zwingburg der falschen Gesten“.13 Die Replik einer einstigen Herrscherresidenz könne niemals Symbol einer demokratischen Republik sein. Schließlich gerieten auch die im Humboldt-Forum präsentierten Sammlungen unter den Generalverdacht von Raubkunst und Kolonialismus. Die einzigartige Chance, an geschichtsträchtigem Ort preußischer Macht und Herrlichkeit eine neues, der Demokratie des 21. Jahrhunderts ästhetisch angemessenes Gebäude zu errichten, das auch die besondere Geschichte des Ortes hätte reflektieren können, war grandios vertan worden. Zu den genannten Neubauten hinzu kamen einige spektakuläre Museumsneubauten sowie Denk- und Mahnmäler, die das Image Berlins als „Welthauptstadt der Architektur“ weiter befeuerten. Zu nennen sind der von dem chinesisch-amerikanischen Stararchitekten Ieoh Min Pei – einem Großmeister der klassischen Moderne, von dem auch die Glaspyramide vor dem Pariser Louvre stammt – entworfene, 2003 eröffnete Ausstellungsanbau des Deutschen Historischen Museums und der

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Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Neuen Museums nach den Plänen des britischen Architekten David Chipperfield auf der Museumsinsel. (II/17) Zusammen mit der 2019 eröffneten, ebenfalls von Chipperfield entworfenen James-Simon-Galerie als neues Besucher- und Empfangszentrum gehört der Pei-Bau heute zu einem Museumskomplex, dessen Vorbilder der Pariser Louvre, die Vatikanischen Museen in Rom, die Eremitage in Sankt Petersburg und das Britische Museum in London sind. Drei weitere Museums- und Mahnmals-Neugründungen widmeten sich im Herzen Berlins der jüngsten deutschen Geschichte. Zusammen bilden sie das unverrückbare, erinnerungspolitische Fundament der ‚Berliner Republik‘, wie es die Ausgangsfotografie dieses Kapitels zum Ausdruck bringt. (II/20) Das im Jahr 2001 eröffnete Jüdische Museum stieg zum bedeutendsten Bau einer neuen dekonstruktivistischen Architektur in Deutschland auf. War die Architektur der Moderne, wie man an den Bauten der ‚Bonner Republik‘ sehen konnte, der Versuch gewesen, die Spuren der Geschichte aus ihren Formen zu tilgen, sich als zeitlos zu präsentieren, so machte die postmoderne Architektur des ursprünglich aus Łódź stammenden US-Architekten Daniel Libeskind „die Spuren der Geschichte zu ihrer Infrastruktur, die voids der verlorenen Zivilisationen buchstäblich zum Teil eines Gebäudefundaments, das nun von der Geschichte verfolgt, ja, zu ihrem Emblem wird“.14 An mehreren Stellen schien das Gebäude wie von einem Blitz getroffen auseinanderzubrechen. An anderen Stellen erinnerte es an ein von gebrochenen Linien, Durchdringungen und Keilen gebildetes Labyrinth. Wie kein anderer Erinnerungsort gab der Museumsbau von Libeskind der Erinnerung eine sichtbare architektonische Form. Dieser bezog seine Kraft aus dem Fragmentarischen und Gebrochenen, aus den offenen Wunden und den gebrochenen Narrativen. Er stellte Gewissheiten infrage und verweigerte die Beherbergung einer kontinuierlichen, homogenen Geschichte. Libeskinds Museum thematisierte vielmehr das Spannungsverhältnis von Rationalität und Irrationalität in der Moderne und damit die ‚Dialektik der Aufklärung‘ als Kernproblem der modernen Gesellschaft an ihrem neuralgischsten Punkt: der Judenverfolgung im ‚Dritten Reich‘. (II/19) Ähnlich wie das Jüdische Museum versuchte auch das 2005 nach langem und heftigem Streit eingeweihte Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman dem Erinnern an den Holocaust eine sichtbare architektonische Gestalt zu geben. Da sich Ausmaß und Qualität des Holocaust mit traditionellen Mitteln der Architektur nicht fassen ließen, sollte das Mahnmal nach Eisenman eine „neue Idee der Erinnerung“ entwickeln. Auf historischem Gelände zwischen Brandenburger Tor und den Ministergärten erzeugen seitdem 2.711 leicht geneigte, unterschiedlich hohe und eng nebeneinanderliegende Betonquader auf unebenem Gelände ein Gefühl von klaustrophobischer Enge und schwankendem Untergrund. (II/21) Nach jahrzehntelangen Debatten eröffnete im Jahr 2010 unweit des Holocaust-Mahnmals schließlich auch das gestalterisch von einer Berliner Architektengruppe entworfene Dokumentations- und Informationszentrum der ‚Stiftung Topographie des Terrors‘. An zentralem Ort – dort, wo sich während der NS-Zeit die Zentralen der Geheimen Staatspolizei, der SS und das Reichssicherheitshauptamt befunden hatten – informiert seitdem eine Dauerausstellung über Täter und Taten

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des Holocaust. Mit über einer Million Besuchern im Jahr gehört die ‚Topo‘ heute zu den am meisten besuchten Erinnerungsorten in Berlin. In unmittelbarer Nähe der ‚Topo‘ wurde schließlich 2021 im sanierten ‚Deutschlandhaus‘ am ehemaligen Anhalter Bahnhof das Dokumentationszentrum zum Thema Flucht, Vertreibung, Versöhnung der gleichnamigen Stiftung als weiterer Lern- und Erinnerungsort in der Mitte Berlins eröffnet. Während all diese Orte des Mahnens, des Gedenkens und der Dokumentation an die braune Vergangenheit Deutschlands erinnern, (II/18) soll das Einheits- und Freiheitsdenkmal  – genannt auch ‚Einheitswippe‘  – des Stuttgarter Szenografen Johannes Milla und der Berliner Choreografin Sasha Waltz auf dem Sockel des früheren Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals vor dem Hauptportal des HumboldtForums nach einem Beschluss des Bundestages an die Friedliche Revolution von 1989 und an die Zivilcourage seiner Akteure erinnern. Das spektakuläre, ebenfalls umstrittene Denkmal besteht aus einer 50 mal 18 Meter großen Konstruktion mit einer riesigen begehbaren Schale. Bewegen sich ausreichend viele Menschen zu einer Seite, soll sich die Waage entsprechend neigen. Wann mit der Fertigstellung des Denkmals zu rechnen ist, ist ungewiss. Mit allen diesen Orten hat sich die ‚Berliner Republik‘ an markanten Punkten der Hauptstadt ein sichtbares erinnerungspolitisches Fundament geschaffen, das Moderne mit Tradition und kritischem Erinnern verbindet. In dieser Kombination ist es einmalig in Europa – auch das ist dem ( II/1) Eingangsbild dieses Kapitels eingeschrieben. [II/19]

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Remember – „Stolpersteine im Regierungsviertel“ [II/19] Holocaust-Mahnmal, Berlin, Foto: Hermann Hillebrand (2005); [II/20] Jüdisches Museum Berlin (o. D.); [II/21] Topographie des Terrors (2010)

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High und Hossa Zur Ästhetik der ‚Bunten Republik Deutschland‘ Vier Wochen vor dem Fall der Mauer rief Udo Lindenberg die ‚Bunte Republik Deutschland‘ aus. Für den Rockmusiker war sie der Gegenpart zu der oft spießigen, schwarz-weißen ‚Bonner Republik‘ sowie einer sich auf die Oberschenkel klopfenden Unterhaltungskultur, wie sie sich mit Boulevardstücken aus dem Ohnesorgund dem Millowitsch-Theater, mit Fernsehsendungen wie Dalli, Dalli und Ein Herz und eine Seele, mit den Rosenmontagsumzügen vom Rhein sowie mit Alleinunterhaltern wie Mike Krüger und Gottfried Wendehals herausgebildet hatte. Tatsächlich entstand in den nächsten Jahren nicht zuletzt als Ausdruck der Freude über das Ende der gerade in Berlin als besonders schmerzlich empfundenen deutschen Teilung und das Ende des Kalten Krieges eine bunte Spaß- und Eventgesellschaft, die es so bis dato nicht gegeben hatte. Sie ließ die neue Republik zumindest in ihren Metropolen, wie dies Lindenberg gehofft hatte, zur ‚Bunten Republik Deutschland‘ werden. Der zumeist negativ konnotierte Begriff der Spaßkultur tauchte seit den 1990er Jahren immer öfter in den Feuilletons auf. Er beschrieb ein neues Lebensgefühl von Teilen der Gesellschaft sowie einen durch Hedonismus und Konsumlust geprägten neuen Lebensstil. Ausdruck fanden diese in Massenevents sowie im Boom von Comedy-Sendungen, zumeist bei den privaten Fernsehsendern. „Offensichtlich sind wir zu großen Teilen eine reine Spaßgesellschaft geworden“, diagnostizierte Friedrich Merz 2004.15 Die Akteure der neuen Spaßgesellschaft griffen Praktiken der Studentenbewegung der 1960er Jahre auf, in denen Körper bewusst als Medien fungiert hatten. Ihre Orte waren Straßen und Plätze, die als Event- und Bekenntnisraum dienten. In ihnen artikulierte sich eine neue hedonistische Lebensfreude sowie eine Vielfalt und Diversität, die der ‚Bonner Republik‘ fremd waren. Zugleich entstanden in der Spaßgesellschaft öffentlich und durch die Medien sichtbar gemacht neue Körperbilder und Geschlechterentwürfe, die die Ikonografie der neuen Republik für einige Jahre charakterisieren sollten. Das Spektrum der Massenevents reichte von der anarchistischen ‚Fuck‘- und der hedonistischen ‚Loveparade‘ bis hin zum patriotischen ‚Sommermärchen‘, in denen der öffentliche Raum, besonders der der Hauptstadt, zur Spielstätte von Kunst, Kultur und Lebensfreude umfunktioniert wurde. In den Inszenierungen und Symbolen der neuen Spaßkultur artikulierten sich ganz unterschiedliche Werte und Lebensstile wie Transnationalismus und Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdem und Neuem, Transgender, Lebensbejahung und Zivilität, freie Sexualität sowie ein spielerisch-despektierlicher Umgang mit den nationalen Symbolen. Bilder ungezwungener Gemeinschaftlichkeit sowie sexueller Freizügigkeit, bunte und schrille T-Shirts, die an die Zeit des Pop und der Hippie-Kultur erinnerten, Accessoires der Fetischkultur wie Brustgeschirr, Bodyketten, Bondage-Utensilien und Lack- und Ledermasken, knappe Bikini-Oberteile, Ganzkörperbemalung und völlig neue Symbole und Fahnen gingen durch die

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Presse. Die bislang graue Republik wandelte sich in Teilen tatsächlich zur farbenfrohen, bunten Republik. (II/22–24) Zum bekanntesten Symbol der neuen Spaßkultur, geradezu zu ihrem Inbegriff, avancierte die Loveparade in Berlin. Wie kein anderer Event war sie ein Kind der Wende und der spezifischen Infrastruktur der Hauptstadt mit ihren besonderen subkulturellen Frei- und Experimentierräumen. Unter dem anarchistischen Motto ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ fand sie erstmals am 1. Juli 1989 mit gerade einmal 150 Teilnehmern in West-Berlin statt. Im Laufe der 1990er Jahre wurde sie immer größer und schließlich auch vom Fernsehen live in die letzten Winkel der Republik übertragen. Was Woodstock für die Hippie-Kultur war, wurde die Loveparade für die Techno-Kultur. Gerade in den ersten Jahren wurde sie gerne als das größte und bedeutendste Kunstwerk des Jahres gefeiert. In ihrer Ästhetik reproduzierte sich die Love-and-Peace-Ikonografie der 1970er Jahre, die mit ihren T-Shirts und Buttons Toleranz gegenüber Abweichungen ausgedrückt und die Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit zu einem kollektiven Erlebnisbad gesteigert hatte. Der Kulturaktivist Wolfgang Sterneck brachte das Lebensgefühl der Akteure auf die Formel: „Spontan ist es insbesondere das Gefühl, auf den Straßen mit tausenden anderen Menschen zu einer mitreißenden Musik zu tanzen. So oberflächlich dies auch vielfach war, im Kern war es immer auch mit einem anderen Lebensgefühl verbunden: Die Fesseln des Alltages hinter sich lassen und in einer positiven Weise aus sich herausgehen. Und dies nicht nur in den abgeschlossenen Räumen eines Clubs, sondern mitten auf den zentralen Straßen einer Weltstadt.“ In der Loveparade habe sich „eine psychedelische Vision“ artikuliert, „aber auch das Bild eines sozialen Utopia, das zumindest in einigen Momenten zur Wirklichkeit wurde, ohne dass die Tanzenden sich dieses Potentials bewusst waren.“16 Geradezu euphorisch pries der Schriftsteller Rainald Goetz 1997 anlässlich der neunten Loveparade diese als „Demonstration der Glückserfahrung“. In ihr habe sich der Wunsch ausgedrückt, „nichts und niemanden auszuschließen, außer eines, den Ausschluss“. Die Loveparade sei ein „Augenblick, wo die Gesellschaft sich als Ganzes sinnlich wahrnehmbar zeigt, wahrnimmt, und – ohne all ihr Leid vergessen zu müssen – sich trotz allem, irgendwie, ganz diffus bejaht.“ 17 Das publizistische Bild der Loveparade indes hatte nur wenig mit den realen Verhältnissen zu tun. In die Medien fanden vor allem Bilder von tanzenden, zumeist leicht bekleideten oder barbusigen Frauen und Männern Verbreitung. Wolfgang Sterneck hat diese Bild zurechtgerückt: „Allerdings war der überwiegende Teil der TeilnehmerInnen zwar durchaus bunt, manchmal auch schrill im Party-Look gekleidet, aber durchaus den auch sonst gängigen Normen entsprechend. Solch ein gängiges Outfit verblasst jedoch gegenüber einer leichtbekleideten, sexy Schönheit – entsprechend wurden diese fotografiert und in den Medien präsentiert. Sex spielte im engeren Sinne zumeist keine Rolle.“ 18 Auf weite Teile der Öffentlichkeit wirkten die Bilder der Loveparade dennoch verstörend bis provokativ. Friedrich Merz sprach von „Dekadenz“, die sich da offenbare. ‚Skandalmoderatorin‘ Eva Hermann verglich die Loveparade mit Sodom und Gomorrha: „Wer sich die Bilder der Loveparade ansieht, glaubt, in der Verfilmung

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der letzten Tage gelandet zu sein, wie sie in der Bibel beschrieben werden. Viele der Partygäste wirkten auch in diesem Jahr [...] wie ferngesteuert. Betrunken oder voll gekifft.“ 19 Mochte die Loveparade auch noch so umstritten sein, ihre Bilder – so der Zeithistoriker Edgar Wolfrum – hatten eine wichtige Funktion. Gerade im Ausland hätten sie den Menschen „die Furcht vor den wiedervereinigten Deutschen“ genommen.20 Mit der Entwicklung der Loveparade zur Großveranstaltung mit eineinhalb Millionen Teilnehmern 1999 wandelte sich das optische Erscheinungsbild des Massenevents immer mehr zu einer von Werbeagenturen und Großsponsoren geprägten Kommerzveranstaltung. Auf den Wagen tanzten kaum noch Raver, sondern meistens professionelle Go-go-Girls. (II/24) Auf einem der Wagen schmetterte der Massenchorleiter Gotthilf Fischer – angeblich im Ecstasy-Rausch – „Hoch auf dem gelben Wagen“. Ein Teilnehmer der kommerzialisierten Loveparade hat den Wandel 2007 so beschrieben: „Ich sah mich um, die Leute schienen zu Sklaven ihres Spaßes geworden zu sein. Die Pille für davor, den Joint für danach, Kokain für dazwischen. ‚Jugendkultur‘ war zu einem Begriff geworden, mit dem man Turnschuhe verkaufen konnte, sie fand bei MTV statt, präsentiert von einem Telekommunikationsunternehmen. Sie wurde zu einem Ort der Individualisierung und löste die klassischen politischen Milieus so durchdringend auf, dass nur noch ein hedonistisches Zappeln übrig blieb.“21 2007 zog die Loveparade ins Ruhrgebiet um, wo es im Juli 2010 in Duisburg zu einer Massenpanik kam, bei der 21 Menschen den Tod fanden und mindestens 650 verletzt wurden. Die Loveparade war zur „Todesparade“ geworden, deren Opfer die BILD-Zeitung ihrer Leserschaft in Nahaufnahmen offerierte. Die Katastrophe von Duisburg bedeutete das vorläufige Ende des Massenhappenings Loveparade. (II/25) Eine einmalige Veranstaltung blieb 2001 der Carneval Erotica – ebenfalls in Berlin. Mit dem als politische Demonstration genehmigten Umzug demonstrierte der ‚Verein zur Förderung Hedonistischer Lebenskultur‘ für mehr sexuelle Freizügigkeit, Genussfreudigkeit und die Anerkennung der Sub- und Clubkultur. Die Demonstration bewegte sich mit etwa 100.000 Teilnehmern und Zuschauern über den Kurfürstendamm. Ein weiterer Carneval Erotica wurde von den Ordnungsbehörden nicht genehmigt. (II/26) Keine genuine Schöpfung der ‚Berliner Republik‘ war der Christopher Street Day (CSD), der seit 1979 alljährlich an einem Sommerwochenende zur Erinnerung an den Aufstand in der gleichnamigen New Yorker Straße stattfindet. Seine Akteure: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender-Personen sowie Intersexuelle. In den 1990er Jahren nahm „die kleine Schwester der Loveparade“, wie die Bunt, high und Hossa – die neue Spaß- und Eventkultur [II/22] Loveparade auf der Straße des 17. Juni in Berlin (2001); [II/23] Teilnehmerinnen der Berliner Loveparade vor dem Brandenburger Tor, Foto Daniel Biskup (o. D.); [II/24] Gotthilf Fischer auf der Loveparade in Berlin (2000); [II/25] Carneval Erotica, Berlin Kurfüstendamm (2001); [II/26] Teilnehmer des Christopher Street Days in Frankfurt a. M. in den Farben des Regenbogens (2012); [II/27] Teilnehmer des Schlagermoves in Hamburg (2018)

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[II/28] Jubelnde Fußball-Fans (2014)

taz den CSD einmal nannte, ebenfalls Ausmaße eines Massenevents an. Protestiert wurde ähnlich wie in den Anfängen der Loveparade gegen Diskriminierung und Ausgrenzung sowie für mehr Rechte für sexuelle Minderheiten. Neben den zentralen CSD-Paraden und den Abschlusskundgebungen gab es in vielen Städten Straßenfeste und Kulturwochen mit bekannten Künstlern, mit politischen Veranstaltungen, Vorträgen, Lesungen und Partys. Unter dem Motto „Verschiedenheit und Recht und Freiheit“ zogen zumeist bunt kostümierte Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch die Städte. Die größten CSD-Umzüge fanden alljährlich in Berlin sowie in Köln statt, wo der Umzug 2002 1,2 Millionen Beteiligte zählte und damit die Teilnehmerzahl der dortigen Rosenmontagsumzüge übertraf. Zum CSD 2006 in Berlin hieß es auf SPIEGEL ONLINE vom 22. Juli 2006: „Mit geschmückten Festwagen, wummernden Discobeats und schrill verkleideten Drag-Queens zog seit den Mittagsstunden eine bunte Karawane vom Kurfürstendamm zur Siegessäule. Dort findet am Abend die Abschlusskundgebung statt, bei der auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) eine Rede halten wird.“22  In Köln forderten Teilnehmer passend zur Fußballweltmeisterschaft mehr Toleranz für Schwule und Lesben im Sport  – mit dabei der wohl älteste schwule Sportverein Deutschlands und dessen bärtiger

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Cheerleader. Bis Ende der 2010er Jahre verbreitete sich die CSD-Bewegung in der gesamten Republik. Der kleinste CSD fand 2020 zum wiederholten Male im Rundlings-Dörfchen Salderatzen im Wendland statt, wo er wie jedes Jahr mit einem Handtaschen-Weitwurf-Wettbewerb am ‚Herrenhaus‘ ausklang. Zum Symbol des CSD gerieten wie zuvor in den USA die Regenbogenfarben. Sie fanden sich auf Fahnen und als Körperbemalung. Den Akteuren galten sie als Ausdruck von Vielfältigkeit und Diversität. Erstmals tauchten Regenbogenfahnen um die Jahrtausendwende beim CSD in Berlin auf, so dass der Tagesspiegel von der „Love Parade mit Regenbogenfahne“ schrieb. Die Farben symbolisierten: Pink für Sexualität, Rot für Leben, Orange für Gesundheit, Gelb für Sonnenlicht, Grün für Natur, Türkis für Kunst, Königsblau für Harmonie und Violett für Geist. Immer öfter trat die Regenbogenfahne in den großen Städten in Konkurrenz zu offiziellen Fahnen sowie schließlich zur Nationalflagge. ( III/22) Auf Vorschlag des Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg wurde sie etwa auf den Rathäusern von Schöneberg, Tiergarten und Kreuzberg gehisst, was auf den massiven Widerstand des damaligen Berliner Innensenators Schönbohm traf, so dass gar vom ‚Berliner Flaggenstreit‘ die Rede war. Mit dem Amtsantritt von Klaus Wowereit – selbst ein bekennender Schwuler – als Regierender Bürgermeister 2001 wurden Regenbogen-

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[II/29] Udo Lindenberg, Lithografie (um 2010)

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fahnen jährlich zum CSD am Roten Rathaus gehisst. Dem Vorbild von Berlin schlossen sich andere Städte an. Waren Loveparade und CSD zumindest in ihren Anfängen immer auch politische Demonstrationen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, für Vielfalt und Diversität gewesen, so geht es dem seit 1997 alljährlich in Hamburg-St. Pauli und in vielen anderen deutschen Städten stattfindenden (II/27) Schlagermove ausschließlich um Spaß und Lebensfreude. Der „Karneval des Nordens“, wie er gelegentlich genannt wird, ist ein Schlagerfestival, an dem jährlich im gesamten Bundesgebiet Hunderttausende Menschen teilnehmen. Dabei fahren Trucks mit großen Musikanlagen durch die Städte und beschallen diese mit Schlagermusik, wozu die Schlagergemeinde singt und tanzt. Viele Teilnehmer verkleiden sich – zum Teil anknüpfend an die Hippie-Bewegung – im Stil der 1960/70er Jahre. Sie tragen Schlaghosen, Platteauschuhe, bunte Kleider und überdimensionale Sonnenbrillen oder grelle Perücken. Der Schlagermove ist ein ausgelassenes Gemeinschaftsfest einer zumeist jüngeren und mittleren Generation jenseits von Technound Regenbogen-Kult. In diesen Jahren fand auch die Nationalflagge Einzug in die neue Eventkultur und damit in den Alltag der Deutschen. War Schwarz-Rot-Gold in der Weimarer Republik noch Gegenstand des Parteienzwists gewesen und hatte die ’68er Generation es tunlichst vermieden, mit dem bundesdeutschen Staatssymbol Flagge zu zeigen, so wurden die Farben der Republik spätestens mit dem ‚Sommermärchen‘ der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006 in Deutschland zu einem allgegenwärtigdemonstrativen Symbol eines Bekenntnisses zur Republik. Das schwarz-rot-goldene Spektakel wiederholte sich 2014, als Deutschland Fußball-Weltmeister wurde. Mehr als eine halbe Million Menschen feierten vor dem Brandenburger Tor die neuen Helden. „Es gibt viel Haut und viele Tattoos zu sehen“, hieß es auf SPIEGEL ONLINE. „Es riecht nach Schweiß, Zigaretten und Sonnencreme – die historische WM-Party vor dem Brandenburger Tor hat die Konsistenz eines Samstagnachmittags im Freibad. Unermüdlich tragen Werbeleute Rasseln und Fahnen in die Menge, malen schwarz-rot-goldene Streifen auf die erhitzten Gesichter.“23  Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Nationalflagge so offen und begeistert gezeigt und mitgeführt wie bei den Spielen und Feiern der Weltmeisterschaften 2006 und 2014. Unverkrampft und spielerisch, mit schwarz-rotgoldenen Fahnen, Aufklebern und Körperschmuck feierte das junge Deutschland seine Mannschaft, was von den einen als neuer Nationalismus beklagt, von anderen als eine eher harmlose Form eines Party-Patriotismus abgetan wurde. Die Deutschen hatten wie seinerzeit Kanzler Schröder mit dem stürzenden Adler von Baselitz ein neues, ein spielerisch-despektierliches Verhältnis zu den Symbolen ihres Landes gefunden. Der gemeinsame Nenner all dieser Events war ein Spaß, eine Ungezwungenheit, eine Buntheit und eine Lebensfreude, teilweise ein gemeinsamer Rausch sowie ein Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, das querstand zur zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft, wie sie die Bundesbürger alltäglich erlebten. Zugleich kam

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in ihnen eine Pluralisierung von Lebensstilen und ein Bekenntnis zu bislang randständigen bzw. ausgeschlossenen sexuellen Minderheiten zum Ausdruck. (II/29) 2010 setzte Udo Lindenberg die Metapher von der ‚Bunten Republik Deutschland‘ in einer Lithografie um. Die Diskurse und Events der ‚Bunten Republik‘ dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nie das ganze Deutschland repräsentierten. Das ‚flache Land‘, die Provinz, blieb hiervon weitestgehend abgekoppelt. Spätestens Corona und der Ukraine-Krieg besiegelten das Ende der Spaßgesellschaft. Die Neue Zürcher Zeitung hatte bereits am 28. Januar 2020 geschrieben: „Vielleicht erleben wir gerade einen Epochenwandel. Das Lustprinzip war gestern. Es ist zu befürchten, dass wir nun nicht etwa dem etwas rationaleren Realitätsprinzip folgen werden. Eher wird ein neues viktorianisches Zeitalter anbrechen, in dem ein rigider Moralismus und ein lustloser Dogmatismus sich zum Spießertum verbünden würden.“24

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Im Bilde sein Bilderpolitiken der präsentativen Demokratie

Bilder und Bildmedien trugen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem schleichenden Strukturwandel des Öffentlichen bei. Nicht so sehr der Diskurs über gute und richtige Politik stand im Zentrum der Politik, sondern ein Verhalten des Sich-in-Szene-Setzens, das Bemühen, ein gutes Bild von sich zu liefern und sich öffentlich positiv zu präsentieren. Zum Teil nahm dieses Verhalten zwanghafte, zum Teil lächerliche Züge an. Etliche Politiker scheiterten am ständigen Zwang zur Präsenz und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, wieder von der Bildfläche. Eine weitere Seite des Strukturwandels des Öffentlichen war ein Verhalten von Politikern, sich mithilfe der Bildmedien, besonders des Fernsehens, zu informieren und auf deren Informationen ihre Politik und ihre Entscheidungen zu gründen. Die ersten Informationen über Katastrophen bezogen Politiker in der Regel immer seltener durch eigene Anschauung vor Ort, sondern über den Umweg der Medien. Die technischen und narrativen Eigenschaften der Bildmedien schrieben sich auf diese Weise in ihr Verhalten ein und ‚machten‘ so Politik.

Kohl – Schröder – Merkel Zwei Medienkanzler und eine -kanzlerin Alle Kanzler seit 1989/90 waren wie vor ihnen schon Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt Medienkanzler mit jeweils einem besonderen Image: Helmut Kohl als ‚Kanzler der Einheit‘, Gerhard Schröder als Genussmensch und Rettertyp, Angela Merkel als sachlich-zurückhaltende erste Angestellte des Staates. Für alle drei Kanzler der ‚Berliner Republik‘ stehen besondere, im Bild festgehaltene Ereignisse und Szenen, die zeitgenössisch große Aufmerksamkeit erregten und bis heute mit ihnen verbunden werden: (II/30) das Treffen von Helmut Kohl mit Michail Gorbatschow vom 14. bis 16. Juli 1990 im Kaukasus, das die deutsche Einheit besiegelte und als „Wunder vom Kaukasus“ in die Geschichtsbücher einging; ( II/41) der Besuch von Gerhard Schröder bei den Opfern der Hochwasserkatastrophe 2002 im sächsischen Grimma, für den das Bildnis des „gestiefelten Kanzlers“ steht, sowie ( II/135) das Selfie eines irakischen Flüchtlings mit Angela Merkel beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin 2015, das das weltweite Image Merkels als „Mutter Teresa der Flüchtlinge“ begründete. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Temperamente und ihrer zum Teil jahrelangen Verhöhnung und Verspottung durch

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die Medien zeichnete alle drei Kanzler auch ein gewisser Humor beim Umgang mit der (bild-)journalistischen Zunft aus. Galt Helmut Kohl vor 1989 als eher medien- und fernsehscheu und besaß er in der Öffentlichkeit ein eher negatives, teilweise tragisch-komisches Image, so änderte sich dies mit der deutschen Wiedervereinigung. Kohl wandelte sich vom Provinzfürsten aus Rheinland-Pfalz zum Weltpolitiker, vom „Medientolpatsch zum Medienliebling“ (Ulrich Reitz). In den Tagen der ‚Friedlichen Revolution‘ avancierte er sogar zu einem international geachteten Staatsmann. (II/31) Time Magazine ehrte ihn auf einem Cover vom Juli 1990 als „Mr. Germany“. Wie sehr sein Image nun von seinen PR-Beratern gelenkt wurde und der Kanzler selbst Gefallen an seinen Inszenierungen fand, zeigte die Veröffentlichung und Deutung der Fotografie des AP-Fotografen Roberto Pfeil vom Treffen Helmut Kohls mit Michail Gorbatschow in dessen Datscha im Juli 1990 im Kaukasus. (II/30) Es zeigt den Bundeskanzler in dunkler Strickjacke in entspannter Atmosphäre zusammen mit dem sowjetischen Staatschef und Außenminister Hans-Dietrich Genscher während einer Rast um einen runden hölzernen Tisch versammelt. Die drei auf Baumstämmen sitzenden Politiker erscheinen geerdet. Akteur der Gesprächsrunde ist Helmut Kohl, der mit seinem rechten Arm etwas zu bekräftigen scheint. Er dominiert das Gespräch, dem weitere Personen wie Gorbatschows Ehefrau Raissa, Außenminister Eduard Schewardnadse, BRD-Finanzminister Theodor Waigel sowie der Chef des Bundespresseamtes sichtlich amüsiert folgen. Die Kleidung der abgebildeten Personen ist leger, die Stimmung fast familiär. Das Foto sollte der Welt zeigen, in welch entspannter Atmosphäre Gorbatschow und Kohl als Vertreter ehemals verfeindeter Staaten miteinander verkehren, ja dass ihre Männerfreundschaft der Schlüssel zum Erfolg der Gespräche über die deutsche Einheit war. Das Foto vermittelte den Eindruck, als ob das später unter dem Begriff ‚Strickjackendiplomatie‘ stattgefundene Treffen den Durchbruch bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit, über die Souveränität des vereinten Deutschlands und dessen Zugehörigkeit zur NATO – das sogenannte ‚Wunder vom Kaukasus‘ – gebracht habe. Tatsächlich aber war es weniger die ‚Strickjackendiplomatie‘, die den Durchbruch bewirkt hatte, als vielmehr ein handfester Milliardenkredit, den Kohl der wirtschaftlich angeschlagenen UdSSR bereits einige Tage zuvor in Moskau zugesagt hatte, also eher die klassische Scheckbuchdiplomatie. Außerdem hatte der Kanzler der UdSSR zugesichert, den Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR mit einem Hilfsprogramm zu unterstützen, das unter anderem den Wohnungsbau für heimgekehrte Soldaten erleichtern sollte. (II/33) Gerne präsentierte sich Kohl in den folgenden Jahren als heimatverbundener Politiker zusammen mit Spitzenpolitikern aus aller Welt in seinem pfälzischen Lieblingsrestaurant, dem ‚Deidesheimer Hof ‘. Aufnahmen zeigen ihn und Gattin Hannelore so im November 1990 mit den Gorbatschows, 1994 mit Boris Jelzin und ein Jahr später mit dem britischen Premier John Major im holzvertäfelten Wappenzimmer, Kohls ‚zweitem Wohnzimmer‘, wie es in Journalistenkreisen genannt wurde. Mit der zur Schau getragenen bodenständigen Gemütlichkeit seiner ‚Saumagen-Diplomatie‘, so darf vermutet werden, hoffte Kohl, Bedenken gegen das neue vereinte Deutschland zu zerstreuen. Diese Bilder indes kamen nicht überall gut an.

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Helmut Kohl (1990–1998) [II/30] Helmut Kohl mit Gorbatschow und Genscher am 15. Juli 1990 im Kaukasus, Foto Roberto Pfeil; [II/31] TIME-Cover, 30.7.1990; [II/32] Helmut Kohl im Januar 1990 in der ZDF-Live-Show Die 80er mit Günther Jauch u. Thomas Gottschalk; [II/33] die Ehepaare Kohl und Gorbatschow im November 1990 im Restaurant ‚Deidesheimer Hof‘ in Deidesheim; [II/34] Helmut Kohl im Rollstuhl auf dem Pariser Platz in Berlin, Foto Andreas Mühe (2015)

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Seine demonstrative Kleinbürgerlichkeit bei der Inszenierung seiner Staatsgeschäfte torpediere eine angemessene Machtrepräsentation, spottete der Publizist Karl Heinz Bohrer. Der behäbige Kanzler symbolisiere die „Herrschaft des Bauches über den Kopf “. Auch bei der weltzugewandten jüngeren Generation konnte Kohl mit seinen provinziell-biederen Inszenierungen nicht punkten. Zur zeitgenössischen Kunst fand Helmut Kohl weiterhin keinen Zugang. Die Verhüllung des Reichstages, die in seine späte Amtszeit fiel, war nicht sein Ding. Mit Kunst habe das alles herzlich wenig zu tun. Sympathie besaß er für Künstler wie Klaus Fußmann, der für ihn der „Maler der deutschen Landschaft“ war. 1996 veranlasste er eine Ausstellung mit Landschaftsbildern von Fußmann zu allen 16 Bundesländern im Kanzleramt. Kunst musste für Kohl anschaulich und vor allem nützlich sein. Nach der Wende veranlasste er Künstler, die „blühenden Landschaften“ im vereinten Deutschland zu malen, die – so glaubte Kohl – vor allem sein Verdienst seien. Nach 1990 legte Kohl seine Scheu vor Live-Auftritten in unpolitischen Unterhaltungs- und Talkformaten zunehmend ab, (II/32) so erstmals im Januar 1990 in der ZDF-Live-Show Die 80er mit Günther Jauch und Thomas Gottschalk, 1993 in der ZDF-Talkrunde Live in der Alten Oper in Frankfurt am Main und 1996 in einer ORF-Talkshow sowie im gleichen Jahr in der ARD-Sendung Boulevard Bio mit Alfred Biolek. Mit seinen TV-Auftritten habe Kohl, so Lars Rosumek, noch vor seinem Nachfolger Gerhard Schröder die „Boulevardisierung von Politik“ eingeläutet. Helmut Kohl besaß schließlich eine solche Popularität, dass die CDU-Bundesgeschäftsstelle glaubte, im Wahlkampf 1998 auf sein Porträt und den Schriftzug CDU völlig verzichten zu können. ( II/57) Auf ihrem Plakat Keep Kohl! war lediglich eine Tierallegorie abgebildet: ein mächtiger Elefant im blauen Wasser des Wolfgangsees – dem langjährigen Urlaubsdomizil der Kohls. Der Elefant, so die Plakatgestalter, stand für Ruhe, Klugheit und Stärke. Ob dieses fröhlich-freche, zugleich selbstironische Plakat der CDU und dem Kanzler neue Sympathie einbrachte, darf bezweifelt werden. Nach 16-jähriger Amtszeit war die Strahlkraft von Helmut Kohl verblasst. Die Darstellung seiner Lebensart mit deftigem pfälzischem Essen und Urlaub am Wolfgangsee passte nicht mehr in die Zeit. Zudem hatten diverse Affären sein Image als ‚Kanzler der Einheit‘ beschädigt. Im Osten ließen die von Kohl versprochenen ( II/119) „blühenden Landschaften“ auf sich warten. Der Dickhäuter Kohl stand nun plötzlich für Stillstand und Schwerfälligkeit. Die politischen Verhältnisse hatten sein Bildnis konterkariert. In den Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Amt wurde es still um Helmut Kohl. Noch einmal machte zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2015 ein Foto von sich reden, das den ‚Kanzler der Einheit‘ vor dem ‚Tor der Einheit‘ – dem Brandenburger Tor – zeigte. (II/35) Inszeniert hatte es im Auftrag von BILD der aus Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz stammende Fotograf Andreas Mühe, der Sohn des verstorbenen Schauspielers Ulrich Mühe. Das durchkomponierte Foto zeigte Helmut Kohl, bereits im Rollstuhl sitzend, lange und kalte Schlagschatten werfend, von hinten auf dem menschenleeren Pariser Platz durch das Brandenburger Tor in Richtung Westen blickend. „Die Berliner Republik beginnt mit Hollywood“, notierte der Journalist Hajo Schumacher zum laufenden Bundestagswahlkampf 1998. In einem „Eine Schlacht

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um Gefühle“ betitelten Text heißt es weiter, SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder zwinge Helmut Kohl „eine Kampagne nach amerikanischem Muster“ auf. „Wie nie zuvor wird es um Personen statt Parteien, um Images statt Inhalte, um Gefühle statt um Gewissen, um Händeschütteln statt um handfeste Programme gehen.“25 Tatsächlich entsprach der SPD-Wahlkampf einem veränderten Politikmodell, wonach nicht mehr so sehr ein Programm, sondern Auftreten und Sichtbarkeit entscheidend war. 38 Prozent der Wählerinnen und Wähler, so ermittelte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, gehörten zu einem Typus, der sich „in seinem Verhalten dem Zuschauer im Theater annähert: Er identifiziert den Wahlkampf bereitwillig als Inszenierung und belohnt den besten Darsteller mit seiner Stimme.“26 Entscheidend wurde das Image des Kandidaten, d. h. der Eindruck, den er machte, weniger wofür er politisch stand. Das hatte bereits der SPD-Wahlparteitag im Frühjahr 1998 in Leipzig, die sogenannte ‚Krönungsmesse‘, gezeigt, die mit einer ausgeklügelten Licht- und Farbchoreografie voll im Unterhaltungsformat konzipiert war. Zur triumphalen Filmmusik des Hollywood-Thrillers Airforce One ließ die Parteitagsregie Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine einmarschieren. Kanzlerkandidat Schröder erschien als hyperrealer Superheld mit geradezu messianischen Zügen. Die Rechnung ging auf. Die Deutschen schickten ‚Dauerkanzler‘ Kohl in den Ruhestand. Das Wahlergebnis war ein Triumph für Schröder. Dieser präsentierte sich als ‚Winner-Typ‘, als strahlender Sieger – (II/35) festgehalten in einem ikonisch gewordenen Bild der FAZ-Fotografin Barbara Klemm. Mit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung begann der Wandel von der bisherigen Kanzlerdemokratie hin zur neuen Mediendemokratie amerikanischer Prägung. Wie nie zuvor wurde Politik den Mechanismen und Bedürfnissen der Mediengesellschaft angepasst und sich auf den Nachrichten- und Bilderhunger der Medien eingestellt. Ein Markenzeichen Schröders, so Lars Rosumek, „war sein immer wieder sicherer Instinkt für die Umsetzung von Politik in mediengerechte Bilder und Symbole“.27 (II/36) Das zeigte exemplarisch sein Auftritt am 20. Februar 1999 in Thomas Gottschalks beliebter Samstagabendsendung Wetten dass …?, in der der amtierende Kanzler im noblen Brioni-Anzug als Wettpate neben bekannten Größen des Showbiz Platz nahm. Da die von ihm goutierte Wette misslang, sollte er die älteste Zuschauerin im Saal, eine 78-jährige Frau vom Niederrhein, persönlich in seiner Dienstlimousine nach Hause fahren, woraus – was die Zuschauer nicht mitbekamen – letztlich nichts wurde. Die Szene, die die Zuschauer am Fernsehapparat verfolgten und die als Standbild in den folgenden Tagen die Zeitungsseiten füllte, hätte symbolträchtiger nicht sein können. Dem Kanzler gelang es, seinen Wetteinsatz symbolisch als Dienst am Volk in Szene zu setzen. „Er fungiert als Chauffeur, als Bediensteter, der das Volk bewegt und schließlich sicher in den Hafen des heimischen Wohnzimmers bringt.“28 Ein weiteres Detail der Szene stach dabei ins Auge: der Dienstwagen des Kanzlers, mit dem Schröder sein „Image als Freund und Förderer der Autoindustrie“ (Andreas Dörner), als ‚Autokanzler‘, bekräftigte. Schröder, so Dörner, hätte kein symbolträchtigeres Gebilde wählen können als das Automobil.

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Gerhard Schröder (1998–2005) [II/35] Gerhard Schröder als Sieger der Bundestagswahl 1998, Aufnahme vom 27.9.1998, Foto: Barbara Klemm; [II/36] Auftritt von Kanzler Schröder in der ZDF-Sendung Wetten dass …? in Münster am 20.2.1999; [II/37] SPD-Wahlplakat, Bundestagswahl (2002); [II/38] Karikatur ‚Der Medienkanzler‘ von Gerhard Haderer (1999); [II/39] Gerhard Schröder an seinem Schreibtisch im Kanzleramt mit einem Gemälde von Georg Baselitz im Rücken; [II/40] Jörg Immendorf, Gerhard Schröder, Öl auf Leinwand (2006/07) [II/35]

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Von Anbeginn seiner Kanzlerschaft wusste sich Schröder der Imagepflege durch Inszenierungen und einer symbolischen Politik zu bedienen. Gerne ließ er sich in teuren italienischen Anzügen der Marke ‚Brioni‘ und mit kubanischen Cohiba-Zigarren ablichten, so dass die Zeitungen vom ‚Brioni‘- bzw. ‚Cohiba-Kanzler‘ schrieben. (II/37) Medienwirksam zelebrierte Schröder einen hedonistischen Lebensstil, indem er sich als Genussmensch und Angehöriger der ‚Toskana-Fraktion‘ in Szene setzte, der den Aufstieg aus kleinen Verhältnissen an die Spitze des Staates geschafft hatte. Zeitungen schrieben vom „Genossen Genießer“. Schröder trat hemdsärmelig, nahbar, manchmal frech und selbstironisch auf, was ihm anfangs durchaus Sympathien einbrachte. Der Tagesspiegel bewunderte das Medienphänomen Schröder ob seiner Auftritte und Inszenierungen und kürte ihn zum „Messias für Millionen“. 2001 erhielt Schröder folgerichtig wie zuvor schon Helmut Kohl und Bill Clinton den Deutschen Medienpreis verliehen. (II/38) Die andere Seite dieser Performance waren Karikaturen und Satiresendungen wie die Gerd Show, die die mediale Dauerpräsentation des Lifestyle-Kanzlers aufgriffen und karikierten. Das Spielen auf der Klaviatur der Spaß- und LifestyleGesellschaft fand schnell Grenzen. Probleme in der Sachpolitik, der ausbleibende Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Rücktritte von Regierungsmitgliedern machten Bilder zur unglaubwürdigen Fassade. Zwischen der Show-Welt und der außermedialen Welt klaffte ein zu großer Spalt. Selbst Springers Bild am

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Sonntag, die an der Inszenierung des Medienkanzlers nicht unwesentlich beteiligt gewesen war, fragte sich nur eine Woche nach dem spektakulären TV-Auftritt bei Gottschalk, ob dieser „neue Politikstil“ nicht möglicherweise die Würde des Amtes verletze. Schröders inszenierte Fröhlichkeit kam beim Wahlvolk nicht mehr an. Der Kanzler sagte daraufhin weitere Auftritte in Unterhaltungsshows ab. Die Räder der Unterhaltungsindustrie indes ließen sich nicht mehr stoppen. Je unglücklicher Schröder agierte, um so eifriger ging diese ans Werk. Im Herbst 1999 startete RTL eine Comedy-Serie mit dem Titel Wie war ich, Doris?, in der die Politik und das Privatleben des Kanzlers persifliert wurden. Moderatorin Nadja Abd el Farrag befragte im Rahmen des RTL-Erotik-Comedy-Magazins Peep eine Gummipuppe mit den Gesichtszügen Schröders nach ihren sexuellen Vorlieben, worauf sich der Regierungssprecher genötigt sah, die „publizistische Entgleisung“ als einen „fahrlässigen Umgang mit demokratischen Institutionen“ zu geißeln. Auch Christoph Schlingensief zog in seinem Boulevardstück Die Berliner Republik oder Der Ring in Afrika, das als eine Art Bestandsaufnahme der Nach-Kohl-Ära konzipiert war, Schröder durch den Kakao: Nach erlangter Kanzlerschaft verfällt Schröder dem Größenwahn und der Vision, in Afrika Wagners Der Ring des Nibelungen aufzuführen, um die einstigen Kolonialgebiete am deutschen Wesen genesen zu lassen. Schröder befand sich in einer Unterhaltungsfalle. Einerseits musste er, um seinem Image als Staatsmann zu entsprechen, deutliche Distanz zur Spaßkultur der Unterhaltungsmedien herstellen, andererseits führte dies jedoch zugleich zu einem Bruch mit dem öffentlichen Bild des Kanzlers. Schon nach einem Jahr rot-grüner Regierungsarbeit sanken Schröders Umfragewerte. Nach dem Motto ‚Zigarre und Rolex weg, mehr Staatstragendes‘ gelang Schröder in den folgenden Monaten der Imagewandel vom Spaß- und Lifestyle-Kanzler zum „volksnahen Retter in der Not“, wie der SPIEGEL schrieb. Seine Beliebtheitswerte habe der „Instinktpolitiker Schröder“, so SZ.de, „schon häufig mit Shownummern für taumelnde Unternehmen aufpoliert. Als im November 1999 der Baukonzern Holzmann vor dem Aus stand, ging Schröder in die Verhandlungen mit den Banken. Als nach langen Verhandlungen die  – zwischenzeitliche  – Rettung feststand, ließ sich der Kanzler frenetisch von Tausenden Holzmann-Mitarbeitern feiern. Daumen in die Höhe, Hände in den Himmel, das Schröder-Lachen und schließlich der Ausspruch: ‚Liebe Freunde, wir haben’s geschafft‘.“29 Nach der Hilfsaktion für Holzmann verließ Schröder den SPD-Parteitag in Berlin wenige Wochen später als strahlender Sieger. Vor allem Schröders Auftritte als Macher und Kümmerer bei der Hochwasserkatastrophe in Ostdeutschland im August 2002 und damit nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl verschafften Schröder zusätzliche Sympathien. (II/41) Fotografien zeigen ihn, wie er seine handgefertigten Lederschuhe gegen dunkle Gummistiefel und die Jacke seines Brioni-Anzuges gegen den grünen Anorak des Bundesgrenzschutzes tauscht. Klaus Hartung würdigte Schröders Auftreten in der ZEIT als „Leadership in Gummistiefeln“, womit sich der Kanzler einmal mehr als „begnadeter Populist“ erwiesen habe.30 Andere Zeitungen nannten ihn ob solcher

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[II/41] Gerhard Schröder besucht zusammen mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt am 14.8.2002 das vom Hochwasser heimgesuchte Grimma an der Mulde

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[II/42] Wladimir Putin und Gerhard Schröder umarmen sich bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Moskau

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Bilder weniger anerkennungsvoll den „gestiefelten Kanzler“. Ob der Imagewandel vom Spaß- und Lifestyle-Kanzler zum Retter und Krisenmanager und sein Auftreten bei der Hochwasserkatastrophe Schröder tatsächlich die zweite Amtszeit rettete, ist ungewiss. Der Vorsprung vor seinem Herausforderer von der CSU blieb denkbar knapp. Eine besondere Beziehung  – Medien werden später von einer ‚Männerfreundschaft‘ sprechen – verband Schröder mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, die sich in unzähligen Pressefotografien und Fernsehauftritten wie am 9.  April 2002 in einem gemeinsamen Auftritt in der Sendung Boulevard Bio ausdrückte, in der beide Männer gegenseitig ihre Freundschaft bekundeten. Seit 1998 fanden jährliche deutsch-russische Regierungskonsultationen unter dem Vorsitz der beiden Staatsmänner statt, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter zu vertiefen. Auch nach dem Ausscheiden Schröders aus dem Amt blieben die Beziehungen intensiv. (II/42) Ikonografisch kam dies in Bildern zum Ausdruck, in denen sich beide Politiker freundschaftlich begrüßten, die Hände schüttelten, sich zuprosteten oder umarmten, wie zuletzt bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Moskau. Mit dem Überfall Russlands 2022 auf die Ukraine sollten gerade diese Bilder für Schröder zum Problem werden, da sie ihn nun als Freund eines Despoten und Angriffskriegers erscheinen ließen und den Ruf nach Ausschluss Schröders aus der SPD zu begründen halfen. Ähnlich funktional und auf Vorteil bedacht wie Schröders Umgang mit den Medien war auch sein Verhältnis zur bildenden Kunst. Verschiedentlich ist er überschwänglich als „Kanzler der Künste“ bezeichnet worden. Tatsächlich umgab sich Schröder gerne mit namhaften Künstlern und mit moderner Kunst, um sich mit ihnen medienwirksam fotografieren zu lassen. Noch als niedersächsischer Ministerpräsident und Kanzlerkandidat setzte er ein deutliches Zeichen, als er sich 1998 für den SPIEGEL, eine dicke Zigarre rauchend, vor einem konstruktivistischen Gemälde des Braunschweiger Malers Lienhard von Monkiewitsch ablichten ließ, das in seinem Büro hing. Das in rot-schwarzen Formen gestaltete Bild besaß eine ähnliche Signalwirkung wie Politparolen als Hintergrundfolie auf Parteitagen, nur dass hier keine programmatischen Inhalte, sondern das Image eines neuen Politikertypus transportiert werden sollte. Mit den in der Fotografie festgehaltenen Elementen – dem Gemälde, der Zigarre, dem Bücherregal – sollten unterschiedliche Qualitäten und Botschaften kommuniziert werden: Die Zigarre stand in der Tradition von Aufnahmen des ebenfalls Zigarre rauchenden Kanzlers Ludwig Erhard und damit für Wirtschaftskompetenz, die Bücher suggerierten Bildung, wie sie Amtsvorvorgänger Helmut Schmidt nachgesagt wurde, das konstruktivistische Gemälde im Rücken des Kandidaten signalisierte Zukunft, Modernität und Aufbruch. Wer sich wie Schröder mit moderner Kunst umgab, galt zugleich – auch das suggerierte die Aufnahme – als energisch, dem Neuen aufgeschlossen und durchsetzungsfähig. Mit dem Foto empfahl sich Schröder als Manager der Nation. Für den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich repräsentieren solche Aufnahmen einen neuen Bildtypus, der seit Mitte der 1990er Jahre immer öfter auftauchte, wenn es um Aufnahmen aus den Schaltzentralen der Macht ging. Angeblich hätten

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um das Jahr 2000 rund 70 Prozent der Topmanager und 85 Prozent der Spitzenpolitiker in Deutschland ihren Arbeitsplatz mit modernen Kunstwerken als Hintergrunddekoration bestückt. Kunst gelte in diesen Kreisen als Statussymbol, das auf Charakter und Mentalität derer schließen lasse, die sich mit ihr umgeben. Moderne Kunst nehme innerhalb einer Typologie der Staatssymbole heute den Platz ein, den über Jahrhunderte hinweg das Pferd des Herrschers besessen habe. Sie sei in vielen Fällen zu einem Herrschaftszeichen geworden, das immer auch einen nicht auslotbaren Bedeutungsrest beinhalte und ihre Besitzer damit zugleich ein Stück fremd bleiben lasse. Der Siegeszug des neuen Herrscherbildes fiel zusammen mit der Konjunktur der ‚Neuen Wilden‘, für die Schröder eine besondere Sympathie empfand. Das zeigt ein weiteres Gemälde, mit dem sich Schröder gerne im neuen Kanzleramt fotografieren ließ ( II/39): Georg Baselitz’ Stürzender Adler von 1978 – das „Nationalgemälde der 68er“, wie es genannt wurde. Eckhard Fuhr schrieb auf Welt Online: „Der Regierungschef wählte sich das abstürzende Staatssymbol, das haltlose Hoheitszeichen, einen preußischen Ikarus als täglichen Begleiter seiner Regierungsgeschäfte im märkischen Sand und zeigte damit jedem, dass er die Macht und den Geist hat, mit Konventionen zu brechen, und dass er auch als Staatsmann die innere Distanz zum Staat nicht aufgibt. Und wenn man Baselitz’ Adlerbild als Zitat jenes Schießscheibenbildes von Adolph Menzel liest, das einen sich kopfüber auf eine Taube stürzenden Falken zeigt, dann kann man Schröders Bildauswahl sogar eine geschichtspolitische Botschaft entnehmen. Der Kanzler stellt sich in die preußische Tradition und biegt sie gleichzeitig um.“31 Dem baselitzschen Adler habe die Machtepisode im Kanzleramt einen ikonografischen Zugewinn gebracht. Er sei zu einem Emblem der ‚Berliner Republik‘ geworden, in deren rot-grüner Gründungsphase sich die Rebellen von einst in den Geschichtskulissen der alt-neuen Hauptstadt eingerichtet hätten. Der Zürcher Tages-Anzeiger ergänzte: Schröders „Vorliebe für große Formate, satte Farben und breite Striche passt zu seinem Regierungsstil: die vermeintlich provokative Geste zum Selbstverständnis eines Regelbrechers aus höherem Recht. Es ist kein Wunder, dass sich das neue deutsche Selbstbewusstsein der SchröderRegierung gerade in der Vorliebe für eine gewisse Protz-Ästhetik artikuliert.“32 Dass der stürzende Adler an den Sturz des Ikarus  – dem Symbolbild der implodierten DDR – erinnerte, sei nur nebenbei bemerkt. Anders als seine Vorgänger duldete Schröder nur zeitgenössische Kunst um sich herum. Neben Werken von Baselitz waren es Bilder und Skulpturen von Max Uhlig, Walter Stöhrer, Karl Horst Hödicke, A. R . Penck, Anselm Kiefer, Neo Rauch, Markus Lüpertz und Eduardo Chillida. 2005 ließ er im Garten des Kanzleramtes die Bronzeskulptur Non Violence des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd aufstellen. Diese zeigt einen übergroßen Revolver, dessen Lauf mit einem Knoten unbrauchbar gemacht ist und implizit an Schröders Weigerung erinnert, deutsche Soldaten in den Krieg im Irak zu schicken. Hatte sich Willy Brandt als Mann des Wortes gerne mit Schriftstellern umgeben, so suchte der Bildermensch Schröder die Nähe von bildenden Künstlern. Maler wie Baselitz, Lüpertz und Jörg Immendorf, der Schröder sogar auf einer China-Reise begleiten durfte und später das

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offizielle Kanzlerporträt malte, besuchte der Kanzler wiederholt in ihren Ateliers. Dabei wollte er von ihnen keinen Rat, ihm ging es um die Aura, die sich mit diesen Künstlern verband und von der er selbst ein Stück abhaben wollte. Seine Vorliebe für diese Künstler war so nicht unbedingt ein Bekenntnis zur Avantgarde, sondern zu denen, die es – wie er selbst – geschafft hatten. Weder seine Funktionalisierung der Medien noch die der Künste vermochten Schröders Abstieg in der Wählergunst zu verhindern. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 verloren Schröder und seine SPD 4,3 Prozentpunkte und landeten mit einem Wähleranteil von 34,2 Prozent dicht hinter CDU/ CSU auf Platz 2. Von Schröder blieb der Nachwelt vor allem sein rüpelhaftes Auftreten am Wahlabend in der legendären ‚Berliner Runde‘ in Erinnerung. Er beschimpfte dort „vermachtete Medien“ und Meinungsforscher, erklärte CDU/CSU kurzerhand zu Wahlverlierern und raunzte Merkel an, sie habe kein Recht, eine Regierung zu bilden. Von Anfang an war Schröder auf Krawall gebürstet – schon weil nicht ihm, sondern seiner Herausforderin die erste Frage gestellt worden war. Aufgeputscht redete er sich in Rage und drehte sich seine Wahrheit zurecht. Schröder sah sich als Wahlsieger und weiterhin als Kanzler. Den Moderatoren und Merkel gegenüber verhielt er sich überheblich und beleidigend. Später räumte er ein, mit seinem Auftritt übers Ziel hinausgeschossen zu sein. „Du warst etwas krawallig“, habe ihm seine Frau nach der ‚Elefantenrunde‘ gesagt. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt blieb die Aura des Medienkanzlers und Kunstfreundes lebendig. ( II/40) Mit großer Aufmerksamkeit und in seinem Beisein sowie dem seiner Nachfolgerin hängten Mitarbeiter des Kanzleramtes im Juli 2007 sein von Jörg Immendorf erstelltes Porträt in der Ahnengalerie des Kanzleramtes auf. Nach Stil und Ikonografie brach es mit den Darstellungen seiner Vorgänger, indem es ausschließlich auf den Kopf des Porträtierten fokussierte und diesen in voller Frontalität präsentierte, die Goldbüste weihevoll mit simuliertem Marmor umfasste und das Wappentier der Nation in Honorierung von Schröders Weigerung, in den Irakkrieg zu ziehen, zu einem antimilitaristischen Zeichen umdeutete. Waren die Kanzlerbildnisse von Schröders Vorgängern mit Ausnahme von Bernd Heisigs Schmidt-Porträt allesamt auch um die Dekonstruktion aller Anzeichen von Macht bemüht gewesen, provozierte das Porträt Immendorffs, indem es den demokratischen Kanzler „mit Motiven vormodernen Ruhmes“ ausstattete und ihn damit in eine augusteische Sphäre rückte.33 Mit seinem Porträt habe Immendorff Schröder fern jeder Ironie vermutlich genauso getroffen, wie dieser hoffte, wahrgenommen zu werden: „Als Herrscher, der den Frieden bewahrt, die Basis für eine ‚Goldene Zeit‘ des Wohlstands gelegt und die Künste gefördert hat. Er erscheint als neuer Augustus, mit dem Frieden, Reichtum und Kunst in einer aestas aurea verbunden waren.“34 Programm und Ikonografie des Kanzlerporträts stamme, so der Kunsthistoriker Bredekamp, „aus dem Arsenal des Fürstenlobes“. „Miss Germany“ titelte die BILD-Zeitung am Tage nach der Wahl von Angela Merkel zur ersten Frau im Amte des Kanzlers in der deutschen Geschichte. Alice Schwarzer jubelte im Stile von BILD: „Wir sind Kanzlerin!“ Erstmals habe eine

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„Frau in Deutschland die Hand zum Kanzlerschwur erhoben. 87 Jahre nach Erringung des Frauenwahlrechtes“. SAT.1 befand: Angela Merkel ist „die neue Ikone der Frauenpower-Bewegung“. Time Magazine kürte die Kanzlerin 2010 auf einem Cover zur „Frau Europa“ und fünf Jahre später zur „Person of the Year“. Sie sei seit 29 Jahren die erste Frau, die diese Auszeichnung erhalte. Im Forbes Magazine rangierte Angela Merkel 2020 zum neunten Mal in Folge auf Platz 1 der mächtigsten Frau der Welt. Vermutlich zierte keine andere Politikerin öfter die Titelseiten der Magazine als sie. Obwohl ihre öffentlichen Auftritte mitunter den Gesetzen des Medienzeitalters diametral zuwiderliefen, war sie beliebter, als es ihre Amtsvorgänger jemals waren. Trotz Verhöhnung und Verspottung durch einen Teil der Medien gelang ihr ein beispielloser Aufstieg in höchste Ämter. Bei keinem deutschen Politiker, geschweige denn einer Politikerin, lässt sich dieser Aufstieg deutlicher im Medium Bild nachvollziehen als bei ihr. Ihr ikonisches Erkennungszeichen: die zur Raute geformten Hände. ( II/52a-d) Der Aufstieg von „Kohls Mädchen aus dem Osten“ und der „Anti-Heldin der Mediengesellschaft“, wie sie oft genannt wurde, zur ersten Frau an der Spitze einer deutschen Regierung sowie zur mächtigsten Frau der Welt offenbart eine komplexe Wechselbeziehung von visueller Fremd- und Selbstzuschreibung. Das Anti-Image, das Angela Merkel lange Zeit anhaftete, war nicht nur das Ergebnis einer nur rudimentär beherrschten Technik des sogenannten ‚Impression Managements‘, es war auch Produkt einer gezielten, zum Teil bösartigen Verunglimpfung der Politikerin durch einen Teil der Medien – vor allem im Medium Bild. Vermutlich wurde kein anderer Politiker bzw. keine andere Politikerin der Bundesrepublik mit Ausnahme von Helmut Kohl mit so viel Spott und Häme überzogen wie sie. Und wie bei Kohl entzündeten sich diese in erster Linie am äußeren Erscheinungsbild der Politikerin und weniger an ihrer Politik. Insbesondere zu Beginn ihrer Karriere waren ihre Frisur, ihr Gesicht und ihre Kleidung, die so gar nicht dem Schönheitsideal des ‚Westens‘ entsprach, bevorzugte Objekte des Spottes. Das Verhalten der ausschließlich männlichen Karikaturisten und Parodisten spiegelte ein typisch maskulines Verhalten wider, das an Politikerinnen durchweg andere Maßstäbe anlegt als an deren männliche Kollegen, indem es Frauen eindimensional auf ihre Körperlichkeit reduziert. Websites offerierten Karikaturen und Fotomontagen, die Merkels Gesicht in fiktionale oder reale Kino- und Wahlplakate einmontierten oder einfach nur unkommentiert die hässlichsten Fotos der Politikerin präsentierten. Die der SPD nahestehenden Kabarettisten führten Merkel ebenso vor wie fast alle Karikaturisten der großen Blätter. Zahlreiche Karikaturen reproduzierten überdies traditionelle, schon immer gegen Gleichstellung und Emanzipation mobilisierte Bildklischees: die unansehnliche Schlampe, das Männer mordende Monster, die Dompteuse, das Flintenweib – so etwa in einer Karikatur von Dieter Hanitzsch, der Merkel als im Sessel sitzende Jägerin zeigt, die Flinte auf dem Schoss, hinter sich als Trophäen die abgeschlagenen Köpfe ihrer Widersacher Kohl, Schäuble und Merz. Vor allem in der Fokussierung auf Äußerlichkeiten wie Hängebacken, Augenlider, Mundwinkel,

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strähnige Haare gingen die Karikaturen zum Teil weit über das erträgliche Maß an Politiksatire hinaus. Mit der Wahl Merkels zur CDU-Generalsekretärin und zur CDU-Vorsitzenden im Jahr 2000 und damit zur politischen Macht repräsentierenden Politikerin begannen sich die Satiremagazine auf sie einzuschießen. An die Spitze der Spötter stellte sich die Titanic, indem sie in Heft 4 forderte: „Ein neues Gesicht für Angela Merkel“ und ihren Lesern gleich acht Varianten bis hin zu einem nackten Hinterteil offerierte. Einen Monat später stellte das Blatt zu dem Bild einer völlig übermüdeten Angela Merkel die rhetorisch gemeinte Frage: „Darf das Kanzler werden?“ In dieselbe Kerbe schlug 2002 auch ein Online-Satiremagazin mit dem Entwurf eines fiktiven SPD-Wahlplakats, das zu einem unvorteilhaften MerkelFoto textete „Keine Macht den Drogen! – Darum SPD“. Die zum Teil Züge einer Kampagne tragende Verunglimpfung erreichte ihren Höhepunkt im Bundestagswahlkampf 2005, als die von dem ehemaligen Titanic-Chefredakteur gegründete Wahlkampfparodie ‚Die Partei‘ mit der Parole „Mauer her – Merkel weg“ warb und mit dem Bild des Titanic-Titels von Heft 4/2000 in den Wahlkampf zog. Die taz schließlich vertrieb 2005 einen Button mit dem Merkel-Konterfei als Miss Piggy und der Forderung „Ferkel muss weg!“ Auf Gesicht bzw. Frisur der CDU-Politikerin zielte 2001 auch eine Werbekampagne der Leihwagenfirma SIXT. In dem aus der Diätwerbung bekannten VorherNachher-Format warb das Unternehmen für das Fahren im geleasten Cabrio. SIXT stellte dabei zwei Porträtfotos gegenüber: links Merkel mit Pagenschnitt und der Bildunterschrift „Lust auf eine neue Frisur?“ – rechts das am Computer generierte Bild der CDU-Politikerin mit wild nach oben stehenden Haaren und der Textzeile „Mieten Sie ein Cabrio“. Obwohl SIXT nur zwei Anzeigen mit dem StruwwelpeterBild geschaltet hatte, war die Anzeige überall präsent. Öffentlich reagierte Angela Merkel gelassen auf solche Verunglimpfungen und Darstellungen. Allenfalls indirekt kam sie hierauf zu sprechen, so anlässlich eines Journalistenpreises, als sie ausführte: „Politiker können von Journalisten keine Rücksicht und schon gar keine Nachsicht erwarten, aber die Wahrung seiner Würde und der Respekt seiner Persönlichkeit sind die vornehme Aufgabe des Journalisten.“35 Zum Teil nahm sie die visuellen Attacken gegen ihre Person erheitert hin und konterte schlagfertig. Befragt zur SIXT-Anzeige antwortete sie Journalisten, dies sei ein „interessanter Stylingvorschlag“. Einem Reporter teilte sie mit, das Foto sei just zu dem Zeitpunkt aufgenommen worden, als sie von den Rentenplänen der rot-grünen Bundesregierung erfahren habe.

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Fotografie: Allein unter Männern – Merkel und die Fischer von Lobbe [II/43]

[II/43] Angela Merkel auf Wahlkampftour bei den Fischern von Lobbe/Rügen, Aufnahme von Michael Ebner vom 2.11.1990 (Meldepress)

Kein anderes Bild vermag den Beginn der Karriere von Angela Merkel in der Mediendemokratie anschaulicher zu verdeutlichen als ein Foto aus dem Nachwendejahr 1990. Es zeige – so der SPIEGEL – „die Geburt der Wahlkämpferin Angela Merkel“.36 Der Ort: eine Fischerhütte bei Lobbe auf Rügen; der Zeitpunkt: der 2. November 1990, ein Monat vor der ersten gesamtdeutschen Wahl zum Bundestag; die Akteure: die 36 Jahre alte, letzte stellvertretende Regierungssprecherin der ‚freien DDR‘ und frisch gebackene Ministerialrätin im Bundespresse- und Informationsamt der Bundesregierung und die Fischer von Lobbe. Der jungen, noch mädchenhaft erscheinenden Frau in ihrem weiten lan-

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gen Rock sitzen fünf gestandene Ostsee-Fischer gegenüber. Von der jungen Frau, die für die CDU zum Bundestag kandidiert, scheinen sie ebenso wenig Notiz zu nehmen wie von dem 38-jährigen Bildreporter Michael Ebner – dem Parlamentsfotografen von Springers BILD-Zeitung. Dieser war von CDU-Leuten aus Berlin gebeten worden, „mal was zu tun für die Merkel“, das unbekannte Gesicht aus dem Osten. Kurz entschlossen packte Ebner die junge Politikerin in seinen Wagen und bereiste zwei Tage lang mit ihr deren Wahlkreis auf Rügen. „Auf gut Glück“, sagt Ebner, klopfen sie frühmorgens bei den Fischern in Lobbe im Südosten der Insel an. Drei Männer rauchen, einer dreht sich eine Zigarette. Alle tragen Mützen. Sie kom-

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men von der Arbeit und wärmen sich auf. Ein Fischer schaut demonstrativ aus dem Fenster. Im Hintergrund hängt das rot-orange Ölzeug der Männer, ihre Arbeitskleidung. Über der Eingangstür im Hintergrund ist noch eine rote Plakette der Aktion ‚Mach mit‘ mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz aus DDR-Zeiten zu erkennen, die die Männer verliehen bekommen haben. Aus dem Fenster am linken Bildrand fallen in einem 45-GradWinkel Sonnenstrahlen in die Hütte und in die Richtung der jungen Politikerin, die von der Sonne geküsst erscheint. Angela Merkel lächelt verhalten; sie scheint sich in der Umgebung fremd zu fühlen. Man schweigt. Ein Gespräch kommt nur mühsam zustande. Als der Kolonnenführer – der Mann mit der Zigarette rechts im Bild – zu reden beginnt, drückt der Fotograf ab. Die Männer erzählen ihr von ihren Sorgen. Fünf bis sechs Schnäpse habe sie wohl getrunken, erinnert sich einer der Fischer später. Alles wirkt wie von einem Maler arrangiert, wie ein Gemälde, das eine Genreszene des 19. Jahrhunderts beschreibt. „Ein Bild wie von Caspar David Friedrich gemalt“, notiert der SPIEGEL später. Vor dem Hintergrund durchgestylter Politikerinszenierungen von heute wirkt die Szene anachronistisch, geradezu surreal. Tatsächlich ist das, was wie eine Inszenierung aussieht, ein Schnappschuss, ein Glücksfall. Das Foto zeigt eine in Sachen Politikinszenierung noch unerfahrene Frau, die durch ihr sperriges Verhalten sowie eine ausgesprochene Abneigung, sich ablichten zu lassen, in den folgenden Jahren zur Anti-Heldin der Mediendemokratie aufsteigen wird. FAZ-Redakteur Nils Minkmar hat ihr Auftreten so beschrieben: „Sie ist ein Alptraum. Beim Gehen winkelt sie die Arme nach oben ab und wirkt trotz energischen Auftretens wie von einem Elektromotor angetrieben.

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Ihre optische Erscheinung ist ganz und gar der Laune der Fotografen anheimgestellt. Homestorys sind undenkbar. Hält sie eine wichtige Rede, verspricht sie sich. Geht sie zu einem festlichen Empfang, hat ihr Kleid einen Fleck. Kommt ihr ein Gegner in einer Debatte frech, verstummt sie.“37 Am Anfang habe sie es nicht einmal ausgehalten, Fernsehbilder von sich anzusehen, so ihre Biografin Evelyn Roll. Sie habe es nie gemocht, fotografiert zu werden, bekannte Merkel noch 2022 in einem Interview in der ZEIT. Kameraobjektive, die auf sie gerichtet seien, habe sie „wie Gewehrläufe“ empfunden. Das habe ihr das Gefühl gegeben: „Du bist transparent.“38 Merkels ‚Menschenfischerei‘ bei den Männern von Lobbe hatte dennoch Erfolg. Die Bürger im Wahlkreis 267 Stralsund-Rügen-Grimmen schickten sie mit einem Direktmandat in den Deutschen Bundestag. Bereits ein Jahr nach der Aufnahme in Rügen wurde Angela Merkel Bundesministerin für Frauen und Jugend im vierten Kabinett Kohl. In diesem Sinne steht die Fotografie von Michael Ebner für den Beginn einer in der deutschen Geschichte beispiellosen Karriere. Weniger Glück hatte Ebner, dessen Aufnahme es erst Jahre später zu einiger Berühmtheit brachte. Er hatte die Rechte an seinem Bild an eine Agentur verkauft, bevor das Foto Karriere machte. Und auch die Fischer von Lobbe waren nicht vom Glück verfolgt. Sie kamen nie wirklich in der Bundesrepublik an. Die Fischerhütte in Lobbe, in der alles begann, wurde 2017 abgerissen.

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Angela Merkel (2005–2021)

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[II/44] Angela Merkel, fotografiert von Herlinde Koelbl (1998); [II/45] CDU-Plakat, Bundestagswahl (2005); [II/46] AngelinaProject (2006); [II/ 47] „Wir schaffen das“Pressekonferenz am 31.8.2015, ­Phoenix; ; [II/48] Angela Merkel als Großbildprojektion auf dem CDU-Parteitag 2003 in ­Leipzig, zugleich als Titelbild auf DER SPIEGEL 43/2004, Foto Nicole Maskus

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Mit dem weiteren Aufstieg veränderte sich sukzessive auch Merkels eigene Darstellung sowie die der Medien. Hatte sie auf den ersten Fotografien in den 1990er Jahren oft noch scheu und von unten in die Kameras geschaut, so dominierte auf den Aufnahmen nun zunehmend ein vorgestrecktes Kinn, das schon immer als Merkmal von Durchsetzungskraft und Willensstärke galt. Mit Merkels Aufstieg änderte sich auch das Interieur, mit dem sie sich fotografieren ließ. Bilder zeigten sie nun mit den Großen der Welt, (II/48) als CDU-Vorsitzende überlebensgroß auf den Videoleinwänden von Parteitagen, als Rednerin auf internationalen Kongressen. Die Symbole und das Ambiente der Macht – vor allem der Bundesadler und die Nationalflagge, aber auch der Großbildschirm, der Mikrofonwald, der Kabinettstisch, das Kanzleramt – schienen auf die Person zurückzuwirken und auch den Blick der Fotografen und Kameramänner zu ändern. Hatte man Merkel zu Beginn der 1990er Jahre noch als unterwürfig, verhuscht und inkompetent fotografiert, so präsentierte man sie nun zunehmend als kompetent und strahlend. Mit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Merkel begann auch ihre Partei, zeitgemäßere Formen der Wähleransprache zu praktizieren. Neben Unterschriften und Telefonaktionen gehörten hierzu ein professioneller Internetauftritt, neuartige Formen der popkulturellen Kommunikation sowie selbstironische Anzeigen. In einem Werbemagazin erschien im Januar 2001 neben einem Foto von Merkel, auf dem diese mit zusammengepressten Lippen, strähniger Pagenkopffrisur und schlecht sitzender Jacke abgebildet war, der doppelsinnig gemeinte Satz „MACHEN SIE MEHR AUS IHREM TYP“. Dem personellen Neuanfang an der Spitze der CDU folgte ein kommunikativer Neubeginn und erstmals der Versuch, die CDU und ihre Vorsitzende als politische Marke zu kommunizieren. Die für Kohl seit 1976 tätige Werbeagentur wurde durch die Agentur McCann Erickson ersetzt. Diese begann seit 2002 systematisch damit, der CDU und ihrer Vorsitzenden nicht nur ein neues Erscheinungsbild zu verpassen, sondern auch Techniken der Warenwerbung auf das Produkt Politik anzuwenden. Die als Beraterin großer Unternehmen wie Coca-Cola, Siemens, Esso, UPS und die BILD-Zeitung tätige Agentur, von der Werbeslogans stammten wie „Alle reden vom Wetter, wir nicht“ und „Neckermann macht’s möglich“, empfahl der CDU-Wahlkampfführung, Merkels im Spendenskandal gewonnenes Profil als Modernisiererin zu nutzen und künftig ihr Bild als kompetente neue Hoffnungsträgerin zu kommunizieren. Als wichtigste Neuerung schlug die Agentur der CDU im Europa-Wahlkampf 2004 als neue Akzentfarbe den Farbton Orange als Synonym für Frische, Neuanfang und Energie vor – eine Farbe, die politisch nicht negativ besetzt war und zudem als Farbe der ‚Orangefarbenen Revolution‘ den Umsturz in der Ukraine begleitet hatte. Orange, so verkündete der CDU-Generalsekretär, sei eine „optimistische Farbe“, die für „Perspektive, Aufbruch und Zuversicht“ stehe. Organgefarben gestaltet waren denn auch die Zustimmungsinszenierung auf dem CDU-Parteitag sowie die Wahlkampfarena im Konrad-Adenauer-Haus. Der Bundestagswahlkampf 2005 zeigte Merkel, nun deutlich weiblicher, erstmals in einem gewandelten äußeren Erscheinungsbild mit klaren Konzessionen an

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die Bedürfnisse der Mediengesellschaft. Zwar hielt die Kandidatin an ihrer pragmatischen und unprätentiösen Art fest und ließ sich nicht auf das Spiel ein, wie ihr Vorgänger um die Gunst der Medien zu buhlen. Mit neuer Frisur, dezentem Make-up, klassischem Hosenanzug und Kameralächeln schien Merkel erstmals zu akzeptieren, dass Kleidersprache, Mimik, Gestik und Motorik zum Image einer Politikerin beitragen. (II/45) Auf dem zentralen Wahlplakat erschien sie in orangefarbener Kostümjacke vor blauem, Hoffnung symbolisierenden Hintergrund, den Kopf geringfügig nach oben gerichtet und dadurch leicht von der Realität abgerückt wirkend, während die Textzeile verkündete: „Deutschlands Chancen nutzen“. Dass bei der Präsentation der ‚neuen‘ Angela Merkel neben dem üblichen Retuschierpinsel auch Methoden der digitalen Bildbearbeitung zum Einsatz kamen, kann vermutet werden. Für Körpersprache-Experten hatte sich Merkels Erscheinungsbild „frappierend“ geändert. Sie trete distinguierter, femininer und eleganter auf. Genderforscherinnen bescheinigten ihr, sich von der burschikos auftretenden Wissenschaftlerin zur „gepflegten ‚Dame‘ im Kostüm“ entwickelt und sogar ein Mimiktraining absolviert zu haben, um dadurch dem zugeschriebenen Geschlecht Frau adäquater zu entsprechen. Seit ihrem Amtsantritt als Kanzlerin praktizierte Merkel eine Bildkommunikation, die nichts dem Zufall überließ. Sie nutzte die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation wie den Video-Podcast, in dem sie selbst die Regeln der Präsentation jenseits der Formate der Fernsehanstalten festlegte, und das Internet, in dem sie auf eigenen Websites jene Bilder kommunizierte, die sie selbst für aussagekräftig hielt. Zu sehen war Merkel nun als strahlende Parteivorsitzende vor hellblauem Hintergrund und Deutschlandfahne, als nachdenkliche Rednerin vor Wirtschaftsführern, lachend mit George W. Bush oder im Gespräch mit Wladimir Putin, als Gastgeberin im Kreise der mächtigsten Männer der Welt beim G8-Gipfeltreffen in Heiligendamm, zusammen mit Außenminister Gabriel beim Beobachten der Gletscherschmelze am Polarkreis oder beim Empfang des Dalai Lamas im Kanzleramt. 2013 brachte die CDU-Führung erstmals ein Großflächenplakat mit der ‚Merkel-App‘ zum Einsatz. Dabei wurde das Plakat zur interaktiven Leinwand für kurze Wahlkampfspots sowie für ein Statement der Kanzlerin. Passanten brauchten nur ihr Smartphone oder ihr Tablet auf das Plakat zu richten, und schon begann die Kanzlerin sie anzusprechen. taz.de spottete: „Für Angela Merkel ist die App Teil ihrer neuesten Badeübungen im Haifischbecken des Internets.“39 In ihrer PR-Arbeit verfolgte Angela Merkel eine Doppelstrategie. Einerseits benutzte sie die Medien, andererseits brach sie weiter mit den Gesetzen der Mediendemokratie. Während ihre Ministerinnen und Amtskolleginnen damenhaft und ausgestattet mit den entsprechenden Accessoires wie Handtasche und Hut auftraten, wichen ihre Auftritte hiervon ab. Der machohaften Caesarenpose ihres Amtsvorgängers und dessen Dominanzgebaren setzte sie keineswegs eine bewusste Inszenierung als Frau gegenüber. Im Unterschied zu Schröders zum Teil protzig zur Schau gestellten Männlichkeit blieb ihre mediale Konstruktion von Weiblichkeit eher diffus. Anders als ihre Vorgänger, die versucht hatten, sich auch als nahbare

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Privatpersonen oder als Familienmenschen zu präsentieren, bestand Merkel auf einer strikten Trennung von Privatleben und Politik. Sieht man einmal von wenigen Urlaubsaufnahmen ab, die sie mit ihrem Ehemann beim Wandern zeigen, oder vom Besuch der Bayreuther Festspiele, gibt es von ihr so gut wie keine Privataufnahmen. Es sei „eine sehr eigene Besonderheit der Bilderwelt dieser Kanzlerschaft, dass sie die Anbiederung über das Zeigen des Privaten verweigert“, so der Kunsthistoriker und gelegentliche Begleiter Merkels, Horst Bredekamp.40 Dieses auch als demonstrative „Inszenierung der Nichtinszenierung“ (Lars Rosumek) bezeichnete Verhalten gehörte zu einem festen Bestandteil von Merkels Darstellungskonzept. Merkel beherrsche die Ästhetik der inszenierten Nicht-Inszeniertheit derart gekonnt, „dass der Zuschauer die Inszenierung gar nicht merkt. Sie, die Kanzlerin, entzieht sich jeder Erwartung, bis die Nicht-mehr-Erwartung geradezu erwartet wird. Das ist bei aller vermeintlichen Kleinheit großes Theater – das Theater der Scheinbarkeit.“41 Auf fast allen Fotografien sowie bei ihren Auftritten im Fernsehen wirkte Merkel kontrolliert, rational, nüchtern. Nur selten ließ sie ihre Gefühle durchschimmern. Und doch gab es solche emotionalen Momente ihrer Kanzlerschaft, so 2012 beim Staatsakt zum Gedenken an die Opfer der NSU-Anschläge im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt, ihr unbändiger Torjubel, als die deutsche Nationalelf 2014 Fußballweltmeister wurde, ihre Entscheidung, syrischen Flüchtlingen 2015 die Grenzen zu öffnen und ( II/134, 135) sich gemeinsam mit ihnen in großer Nähe fotografieren zu lassen, (II/47) ihr „Wir schaffen das“ im selben Jahr, als sie die Deutschen ermutigte, die Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, ihr eindringlicher Appell in der Coronakrise auf Kontakte zu verzichten, um gefährdete Mitmenschen zu schützen, die Rührung, mit der sie ihren Amtskollegen Macron beim Abschiedsbesuch 2021 in Paris umarmte. Sichtlich unangenehm war ihr das machohafte Verhalten der mächtigsten Männer der Welt, (II/49) so als Wladimir Putin 2007 – wohlwissend um die Angst der Kanzlerin vor großen Hunden – seinen Labrador an ihr herumschnüffeln ließ, und 2017, als der neu gewählte US-Präsident Donald Trump ihr anlässlich ihres Besuchs im Weißen Haus den Begrüßungshandschlag verweigerte. Mit diesen von Fotografen im Bild festgehalten Einschüchterungs- und Distanzgesten versuchten beide Männer, Merkel in die Schranken zu weisen und sie auf Distanz zu halten: Symbolpolitik der widerlichen Art. Infolge der Abschottung des Privat- und Gefühlslebens der Kanzlerin rückten Rationalität, Sachbezug und Pragmatismus, vor allem die Arbeit, in den Vordergrund ihrer medialen Präsentation. Gerade in ihrer Darstellung als erste Angestellte des Staates und in der Absage an jedwede Zurschaustellung wirkte sie authentisch und vermittelte Kompetenz. Dies entsprach der medialen Selbstinszenierung eines Helmut Schmidt, dem ebenfalls ein Anti-Image anhaftete, der wie Merkel auf überhöhte Theatralik und Symbolik verzichtete und bewusst ein Macher-Image verkörperte. Rosumek hat den betont zurückhaltenden, sachorientierten Stil Merkels als visuelles Abbild eines demokratischen Machtanspruchs gedeutet, mit dem sie sich fundamental vom „absoluten persönlichen Machtanspruch“ Schröders unterschieden habe.

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[II/49] Angela Merkel zu Besuch bei Wladimir Putin in Sotschi, Foto eines russischen Fotografen vom 21.7.2007, das über die Website von Putin verbreitet wurde

Stattdessen gab sich die einstige „Ritterin von der traurigen Gestalt“, wie sie die FAZ einmal genannt hatte, als sachorientierte, pragmatische Politikerin wie auf (II/50) einem Foto von Daniel Biskup aus dem Jahr 2005. In der linken Bildhälfte ist die erst vor Kurzem ins Kanzleramt eingezogene Kanzlerin an ihrem Schreibtisch, den sie von ihrem Vorgänger übernommen hat, vertieft in Arbeit zu sehen, noch ohne das Oskar-Kokoschka-Gemälde von Konrad Adenauer im Hintergrund. Das Bei-der-Arbeit-Foto ist eine vor allem das Wählerklientel von CDU/CSU bedienende Bildformel, die Verlässlichkeit, Sicherheit und protestantische Arbeitsethik vermittelt. Nicht der Körper der Abgebildeten dominiert das Bild, sondern das Amt und die Arbeit. Die Atmosphäre ist sachlich-kühl. Der Blick der Kanzlerin geht in Richtung Reichstag als Symbol der Volkssouveränität. Hatte Amtsvorgänger Schröder den Blick ins Innere des Amtes gerichtet und damit dem Parlament den Rücken zugekehrt, schaute Merkel von ihrem Schreibtisch auf den Reichstag mit dem Ein-

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[II/50] Angela Merkel 2005 an ihrem Schreibtisch im Kanzleramt, rechts im Hintergrund der Reichstag, Aufnahme von Daniel Biskup; Aufnahme von Daniel Biskup; [II/51] Angela Merkel empfängt in ihrem Büro am 26.2.2013 US-Außenminister John Kerry, an der Wand im Hintergrund und damit im täglichen Blickfeld der Kanzlerin das Gemälde Brecher von Emil Nolde aus dem Jahr 1936

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[II/52a] CDU-Großplakat 2013 gegenüber dem Haupteingang des Berliner Hauptbahnhofs; [II/52b] Gegenreaktion im Netz; [II/52c] Plakat einer Bürgerinitiative gegen den Bau des Fehmarnbelt-Tunnels; [II/52d] Plakat der Jungen Union 2013 (v. l. n. r.)

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gangsfries „Dem deutschen Volk“. Das Bild von Biskup, so dürfen wir vermuten, entsprach wie kaum ein anderes dem Selbstverständnis der Kanzlerin. Unverkennbares Markenzeichen von Angela Merkel waren ihre zu einer Raute geformten Hände. ( II/44) Angeblich war diese Geste spontan 1998 bei einem Fotoshooting mit Herlinde Koelbl bei deren großem Langzeitprojekt über die Spuren der Macht bei Politikerinnen und Politikern entstanden. So unterschiedliche Medien wie der Guardian aus England und Al Jazeera aus der arabischen Welt bezeichneten die Raute als „eine der bekanntesten Handgesten der Welt“. Körpersprache-Experten und Soziologen haben viel in Merkels Geste hineininterpretiert. Die einen deuteten die Raute als Symbol für Brücke und Nachbarschaft, andere als nach vorne abgesenkte Pyramide oder als Keil, der Kritik und andere Meinungen abweise. Ein Soziologe gar meinte, die Geste sei „Gestalt und Metapher“ von Merkels politischem Selbstverständnis. Vermutlich war diese ursprünglich nichts anderes als eine Verlegenheitsgeste bei dem Shooting mit Koelbl, da die Kanzlerin nicht wusste, was sie, die Handtaschen – an der sie sich hätte festhalten können – verabscheute, mit ihren Händen machen sollte. Mit der Zeit verselbstständigte sich die Raute und löste sich von der Person. Sie avancierte zu einer Ikone der Macht. CDU-Strategen nutzten die Merkel-Raute im Bundestagswahlkampf 2013 (II/52a) auf einem 70 x 20 Meter großen Riesenplakat – angeblich dem größten Plakat, das jemals in einem Wahlkampf zum Aushang kam – direkt gegenüber dem Haupteingang des Berliner Hauptbahnhofes, wo es ankommende Gäste begrüßte. Das Mega-Motiv setzte sich aus 2.150 kleinen Händen von Merkel-Unterstützern zusammen, die gemeinsam die Raute performten. Kunsthistorisch Versierte erinnerte das Poster an die Darstellung des ‚Leviathan‘, des Urbildes des Staates, auf dem Titelkupfer zu Thomas Hobbes’ gleichnamigen Buch, dessen Gliedmaßen und andere Körperteile ebenfalls aus Hunderten von Einzelkörpern geformt sind. Kritiker der Aktion lästerten, die CDU treibe mit ihrem Mega-Plakat ihre „Strategie der Entpolitisierung des Wahlkampfs auf die Spitze“. Das Plakat sei „monströser inhaltsleerer Personenkult“. (II/52b) Im Netz kursierten Dutzende von ironischen Bildkommentaren. (II/52c, d) Bürgerinitiativen bedienten sich der MerkelRaute. Die Junge Union nutzte die von allem freigestellte Raute als Wahlplakat. Anders als ihr Vorgänger scheint Angela Merkel keine Vorliebe für irgendeine Kunstrichtung und einzelne Gemälde ausgezeichnet zu haben, außer den Gemälden in ihrem Büro: dem Adenauer-Gemälde von Oskar Kokoschka und zwei Bildern von Emil Nolde von 1936. Abgesehen von einigen großformatigen Werken von Horst Antes, Harald Metzkes, Walter Stöhrer und Rainer Fetting aus einer Privatsammlung für die Sky-Lobby des Kanzleramtes verhielt sich die Kanzlerin getreu dem CDU-Motto ‚Keine Experimente‘. Baselitz’ Stürzender Adler ging zurück an den Leihgeber, eine zierliche Willy-Brandt-Bronze von Rainer Fetting verschwand im Magazin. (II/51) Dass die Kanzlerin ähnlich wie Helmut Schmidt eine Vorliebe für das Werk des norddeutschen Expressionisten Emil Nolde hatte, wurde ihr 2019 zum Problem. Wie Schmidt und weite Teile der Nachkriegsgesellschaft war die Kanzlerin ein Opfer der von dem Maler und seinen Epigonen verbreiteten Legende geworden, bei

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dem um Hitlers Gunst buhlenden Judenhasser habe es sich eigentlich um einen Mann der ‚inneren Emigration‘ gehandelt. Noch vor der Berliner Doppelausstellung ( II/188) Emil Nolde. Eine deutsche Legende / Der Künstler im Nationalsozialismus, die erstmals mit großer Medienresonanz offenlegte, dass Nolde Rassist, Antisemit und Nationalsozialist gewesen war, ließ Merkel das Gemälde Noldes, unter dem sie bislang gerne Staatsgäste empfangen hatte, aus ihrem Büro entfernen und an die Nolde-Stiftung zurückgeben. Während Angela Merkel als ‚Miss Tschörmänie‘ – so der Titel eines Comics über sie – häufig Objekt von Karikaturisten war, blieb die mächtigste Frau der Welt für die bildende Kunst vergleichsweise uninteressant. Ausnahmen sind zwei Gemälde des irischen Künstlers Colin Davidson sowie der in Berlin lebenden US-Malerin Elizabeth Peyton, die 2015 als Vorlagen für die Titelseiten von Time Magazine und der US-Vogue dienten. Sehr viel öfter war das mediale Bild der Kanzlerin demgegenüber Gegenstand von medienkritischen Aktionen. ( II/46) So inspirierte das effeminierte Merkel-Image von 2005 zwei Fotografen zu ihrem ‚Angelina-Merkel-Project‘, bei dem sie mit den Mitteln der digitalen Bildbearbeitung Fotografien der Politikerin mit denen bekannter Models, Schauspielerinnen und Sängerinnen ‚kreuzten‘ und damit Merkels damaligen Imagewandel auf die Spitze trieben. In 60 Retuschen wurde aus Britney Spears ‚Angelina Spears‘ oder aus Jennifer Lopez ‚Angelina Lopez‘. Zu nennen ist auch eine Lithografie des Medienkünstlers Volker Hildebrandt von 2005, in der dieser ein Cover der BILD-Zeitung aufgriff, das Angela Merkel zur ‚Miss Germany‘ erklärt hatte. An die Stelle der sympathisch in die Kamera lächelnden Politikerin der Springer-Zeitung montierte der Künstler das Bild einer verkniffen blickenden Kanzleranwärterin in die Zeitungsseite. Auch zwei der bekanntesten deutschen Fotokünstler widmeten sich dem Bild der Kanzlerin. ( II/44) Herlinde Koelbl untersuchte in ihrer foto-biografischen Langzeitstudie Spuren der Macht zwischen 1991 und 1999 den Wandel, den politische Ämter sowie der Zwang, sich medial präsentieren zu müssen, in Mimik, Gestik, Körperhaltung bis hinein in die Physiognomie hinterlassen, an einer Reihe von Politikern – unter ihnen auch Angela Merkel, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht Kanzlerin war. Unbeeinflusst von sinnstiftenden Objekten im Hintergrund dokumentiert ihr visuelles Psychogramm den Wandel, den auch die spätere Kanzlerin bereits zu Beginn ihrer Karriere in Körpersprache, Gesichtsausdruck und Mode durchlebt hat. In Andreas Gurskys neuerem Werk kommt Angela Merkel gleich zwei Mal vor. Rückblick nannte Gursky 2015 seine digitale Fotocollage, der die vier Kanzler der Jahre 1994 bis 2015 – also Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel – sitzend vor einem abstrakten großformatigen Gemälde des Malers Barnett Newman aus dem Jahr 1951 zeigt. Mit dem Künstler blicken die Betrachter durch eine breite Fensterfront den vier Kanzlern über die Schulter auf das rote Gemälde Newmans. Allenfalls durch den gemeinsamen Blick scheinen die vier Kanzler miteinander verbunden zu sein, ansonsten haben sie sich nichts zu sagen. Entstanden ist so eine fiktive Rückschau auf vier Jahrzehnte rot eingefärbte deutsche Geschichte. Politik II von 2020 zeigt Merkel mittig in angeregtem Gespräch mit elf Abgeordneten des Bundestages sowie

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einigen Ministern, während eine Person abseitssteht und sich der Zeitungslektüre widmet. Gurkys Collage ist ein doppeltes Bildzitat. Einerseits erinnert es an da Vincis berühmte Abendmahl-Darstellung, andererseits zitiert es Ed Ruschas Gemälde Five Past Eleven von 1989. Ob die Kanzlerin in der angedeuteten Abendmahlszene die Rolle des Retters übernehmen wird, bleibt ungewiss. Mit Anton Hofreiter von den GRÜNEN scheint sie einen Widerpart gefunden zu haben, während Politiker der SPD – Andreas Nahles und Olaf Scholz – unbeteiligt am linken Bildrand stehen und einen eigenen Diskurs führen. Von ihnen scheint keine Rettung auszugehen.

Politainment Unterhaltende Politik – politische Unterhaltung Die Neubauten der ‚Berliner Republik‘ sowie die Inszenierungen eines Gerhard Schröder und einer Angela Merkel waren Teil eines umfassenden Strukturwandels des Öffentlichen, bei dem Sichtbarkeit zur zentralen Ressource von Politik avancierte und den Status der Wahlbevölkerung weitgehend auf den eines Publikums reduzierte. Politik hielt damit zugleich in einem bis dato unbekannten Ausmaß Einzug in die Wohnungen der Bundesdeutschen. Die in diesem Prozess zustande kommenden Bilder folgten einer eigenen Logik. Politik wurde zunehmend auf die Bedürfnisse und Gesetzmäßigkeiten der Medienwelt hin inszeniert und den Gesetzen der Medien im Allgemeinen wie denen der darstellenden und bildenden Künste im Besonderen angepasst. Nicht so sehr Information und Aufklärung standen dabei im Vordergrund, sondern der Unterhaltungswert von Bildern. Mit dem Zwang, sich öffentlich sichtbar zu präsentieren, waren zugleich immer auch Risiken verbunden, wenn Bilder nicht so gelangen, wie sie intendiert waren. Die Verkopplung von Politik und Unterhaltung, wie sie begrifflich in der Formulierung vom ‚Politainment‘ gefasst ist, avancierte seit den 1990er Jahren zu einem Kennzeichen des Politischen – allerdings keineswegs nur in Deutschland. Wie in der Warenwerbung ging es nun primär um die Mobilisierung von Aufmerksamkeit von unberechenbar gewordenen Wechsel- und Nichtwählern, mithin um ‚Aufmerksamkeitsökonomie‘. Showelemente zogen in die Politik ein, Politiker traten vermehrt in Showsendungen auf. Eine wichtige Rolle in diesem System des Politainments spielten und spielen Talkshows im Fernsehen, die mit dem Aufkommen der Privatsender ab Mitte der 1980er Jahre richtig Fahrt aufnahmen. Sendungen wie Boulevard Bio und Sabine Christiansen, die seit 1991 bzw. 1998 von der ARD ausgestrahlt wurden, die NDRTalkshow, die seit 1973 auf Sendung ist, oder live aus der Alten Oper in Frankfurt am Main im ZDF entwerteten in zunehmendem Maße den politischen Diskurs in den Parlamenten. Politische Debatten wurden verstärkt vor und für die Kameras geführt. Mit der Sendung Markus Lanz betrat 2009 eine Talkshow die mediale Bühne, die sich – so Sascha Lobo – „zur obersten Instanz der Politikerklärung“ aufschwang. Mit diesen Sendungen veränderte sich nachhaltig der politische Stil, so dass Kritiker von einer „Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem“ bzw. von einer

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„Mediokratie“ sprachen. Politik, so die These, werde nicht mehr in den demokratischen Gremien gemacht, sondern in und für die Bildschirmmedien mit deren eigenen Gesetzen. Dabei bediene sich die Politik zunehmend der Mechanismen der Produktwerbung, der es in der Regel darum geht, mit Bildern emotionale Anreize zu schaffen, um Produkte abzusetzen, also ‚zu verkaufen‘. In Gestalt symbolischer Scheinpolitik, mediengerechter Theatralisierung oder reiner Imagepolitik werde Politik dabei auf eine Inszenierungsoberfläche reduziert. Die Zunahme medialer Inszenierungen resultierte nicht zuletzt aus Erfahrungen misslungener (Selbst-)Darstellungen im Medium Bild bzw. aus den allgemeinen Risiken der medialen Performanz. Durch immer neue Bildangebote für die massenmediale Berichterstattung versuchten die Wahlkampfmanager der Parteien, diesen Risiken zu entgehen, was allerdings nicht immer gelang. ‚Medienberater‘ legten fortan fest, was wie gezeigt werden sollte und durfte. Da die Wahlbevölkerung zugleich Publikum und das Publikum zugleich Elektorat war, wurde Politik im Unterhaltungsformat zur zentralen Bestimmungsgröße einer neuen politischen Kultur. Diese bildete sich auf zwei Ebenen heraus: als ‚unterhaltende Politik‘ sowie als ‚politische Unterhaltung‘. Während sich bei der unterhaltenden Politik die Akteure der Stilmittel und Instrumente der Unterhaltungskultur bedienen, greift bei der politischen Unterhaltung die Unterhaltungsindustrie auf „politische Themen, Figuren und Geschehnisse zurück, um sie als Materialien bei der Konstruktion ihrer Bilderwelten zu verwenden“.42 Die Aktivitäten orientieren sich dabei sowohl am Markt, d. h. was produzierbar ist, als auch am Erwartungshorizont des Publikums. Vorherrschend wurde damit auch in der Politik ein Modus der Werbung. Ähnlich wie auf kommerziellen Warenmärkten warben die Parteien immer weniger mit Programmen und Argumenten, „sondern mit Lifestyle, mit Emotionen, mit ästhetischen Showeffekten, Geschichten und Pointen“.43 Zum Bereich der politischen Unterhaltung gehörten Auftritte in Unterhaltungssendungen des Fernsehens. Hatten sich Politiker wie Walter Scheel und Franz-Josef Strauß, vor allem aber Kanzler Kohl in Sendungen wie Boulevard Bio noch wenig medienfreundlich gezeigt, so änderte sich dies spätestens mit dem Wahlkampf 1998. (II/53) Kanzlerkandidat und Kohl-Herausforderer Gerhard Schröder spielte in Gute Zeiten, schlechte Zeiten – der erfolgreichsten Daily Soap im deutschen Fernsehen – einen Kandidaten auf Wahlkampftour. ( II/36) Im Februar 1999 gastierte er, nun bereits Kanzler, in Thomas Gottschalks Samstagabendshow Wetten, dass …, die er vier Jahre zuvor bereits mit seiner damaligen Frau besucht hatte. FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle glaubte, es Schröder gleichtun zu müssen. Im Jahr 2000 stattete er dem Big Brother-Container von RTL einen Besuch ab. Immer häufiger traten auch Ministerpräsidenten in den beliebten Tatort-Krimis der ARD als Statisten auf. Solche Politikerauftritte waren mediale Joint Ventures. Zum einen brachten sie den Sendern Quote, zum anderen ermöglichten sie Politikern, sich in die Reihe der Showprominenz einzureihen und sich zeitweise in fiktionale Medienfiguren zu verwandeln. „Er agiert als ‚Promi‘, als Akteur, der sich in einer Welt des schönen Scheins bewegt und dabei gute Laune verbreitet“, so der Medienwissenschaftler Andreas Dörner. „Er spielt gleichsam die Rolle in einer politischen Seifenoper,

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die den Politiker als Diener des Volkes inszeniert, und er spielt diese Rolle in einer fröhlichen, einfach strukturierten und auf jeden Fall gut endenden Erzählung, die professionell ausgeleuchtet und popmusikalisch gerahmt ist. Diese fiktionale Medienfigur Schröder ist intertextuell verknüpft mit Schröder, dem heroischen Kämpfer, der zur Musik des amerikanischen Präsidentenfilms auf dem Parteitag einmarschiert, und zu Schröder, dem gut aufgelegten Ministerpräsidenten, der in der Daily Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten einem Yuppie-Pärchen zur Hochzeit gratuliert.“44 (II/54) In Sendungen wie dem Politikgeplauder Sabine Christiansen waren es zumeist die Logiken der Bilder, die Regie führten, und nicht die Argumente. Und die Wirkung erwies sich durchaus als beachtlich, wie es Friedrich Merz einmal ausdrückte: „Diese Sendung bestimmt die politische Agenda in Deutschland mittlerweile mehr als der Bundestag.“45 Politische Kommunikation fand immer weniger zwischen Bürgern und Politikern statt, sondern zwischen Politikern und ihnen zumeist wohlgesonnenen Journalisten auf der Mattscheibe vor und für die Augen der Bürger. Nach einem Zwischenspiel mit der zunächst eher glücklosen Anne Will ze-

Politainment [II/53] Auftritt von Kanzlerkandidat Gerhard Schröder in der RTL-Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Fotografie 1998; [II/54] Sigmar Gabriel u. Roland Koch in der ARD-Talkshow Sabine Christiansen am 26.1.2003; [II/55] Glaskuppel der ARD-Sendung Günther Jauch auf dem Gasometer in Berlin-Schöneberg (o. D.); [II/56] Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg während eines Überraschungsbesuches in Afghanistan zu Gast in einer SAT.1-Talkrunde mit Johannes B. Kerner in Masar-i-Scharif (2010) [II/53]

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[II/57] CDU- und [II/58] SPD-Plakat, beide Bundestagswahlkampf 1998

lebrierte seit 2011 Günther Jauch den sonntäglichen Talk, bevor diesen dann wieder bis Jahresende 2023 Anne Will übernahm. (II/55) Auch symbolisch präsentierte sich die ARD-Sendung zeitweise als Ersatzparlament. Das Studio unter der Glaskuppel eines ehemaligen Gasometers in Berlin – die sogenannte ‚Jauch-Kuppel‘ – war bewusst der Foster-Kuppel des Reichstages nachgebildet – nur dass, anders als im Reichstag, das Publikum in seinen Sesseln ausschließlich auf die Rolle des Claqueurs reduziert war. Mit der Coronakrise verzichteten die Talkshows mit Anne Will und Maybrit Illner vorübergehend auf Publikumsbeteiligung. (II/56) Auch der Krieg musste als Bühne für Politikerinszenierungen herhalten. 2010 etwa organsierte SAT.1 während des Afghanistan-Krieges im Feldlager der Bundeswehr in Masar-i-Scharif in einem improvisierten Freiluft-Studio eine Talkshow mit Moderator Johannes B. Kerner und dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Im Hintergrund des Politgeplauders über den Militäreinsatz am Hindukusch waren militärisches Gerät und Soldaten in Kampfanzügen zu sehen, die als Publikum dienten. Begleitet wurde zu Guttenberg von Ehefrau Stephanie, die das besondere Interesse der Fotografen auf sich zog und dem Grafen zusätzlichen Glamour bescherte. Die Welt sprach von der „Afghanistan-Show“, die ZEIT von einer „Sternstunde des Betroffenheitsfernsehens“, die taz vom „Posenkrieg“: „Pose, Selbstdarstellung, Hubschrauber im Hintergrund, Gestus des Heldenhaften – das alles hilft der Diskussion über einen blutigen Kriegseinsatz in Afghanistan nicht. Einem half es sicher: der TV-Gestalt Guttenberg.“46 Politik sollte unterhaltsam sein – das war das Credo der Mediendemokratie. Dem folgten zunehmend auch die Wahlkämpfe der Parteien. Immer ausgefallenere Inszenierungen und Bildideen wurden aufgeboten, um Aufmerksamkeit zu mobilisieren. (II/57) In Anspielung auf die Körperfülle von Helmut Kohl und seinen Status als Dauerkanzler präsentierte die CDU im Bundestagswahlkampf 1998 auf einem Plakat einen mächtigen Elefanten im Wolfgangsee, dem jährlichen Urlaubsdomizil des Kanzlers, und dazu die Zeilen „keep Kohl“ und „Schöne Urlaubsgrüße vom Wolfgangsee“. (II/58) Die oppositionelle SPD ließ sich auf das Spiel ein, nutzte dasselbe

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Plakat, schrieb aber nun in Anspielung auf die CDU-Spendenaffäre des ehemaligen CDU-Schatzmeisters Walther Leisler Kiep: „Kiep Kohl! Elefanten vergessen nicht.“ Die GRÜNEN schließlich gingen in ihrem Plakat aus der Agentur von Werbepapst Michael Schirner noch einen Schritt weiter und verkündeten: „Der Dicke geht baden“. Statt des argumentativen Schlagabtauschs im Parlament hatten Wahlkampfplakate bzw. Bilder begonnen, im Kampf um Aufmerksamkeit miteinander zu kommunizieren. Auf SPD-Plakaten desselben Wahlkampfes gerieten Kanzler Kohl und dessen Finanzminister Waigel zu komischen Mediengestalten, deren Rollen das politische Scheitern prognostizierten. Im Stil von Filmplakaten hieß es: „Bereits 70 Millionen total frustrierte Zuschauer … denn sie wissen nicht, was sie tun“ oder „Mit Spannung von ganz Deutschland erwartet: Wem die Stunde schlägt.“ Den ‚Bock‘ indes schoss die CDU 2001 mit ihrem Plakat „Vorsicht Falle“ ab, das Kanzler Schröder im Stile eines polizeilichen Fahndungsplakates als „Rentenbetrüger“ präsentierte. Das Blatt löste allenthalben Empörung aus. SPD-Politiker verurteilten das Plakat als „geschmacklos“ und „unanständig“. Den politischen Gegner zu kriminalisieren, sei kein guter Stil, befand auch der FDP-Generalsekretär, worauf sich die Bundesgeschäftsstelle der CDU veranlasst sah, das Plakat gar nicht erst zum Aushang zu bringen. Wohin die Entleerung von Politik und die Fokussierung auf Outfit, Pose und Effekt führen konnten, demonstrierte der berühmte ‚Stinkefinger‘ von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück im Wahlkampf 2013. Mit einer Negativgeste hatte sich der Kandidat noch einmal in das für ihn aussichtslose Rennen bringen wollen. Politik war ganz auf die Mobilisierung von medialer Aufmerksamkeit degradiert. Indes: Der Coup misslang und Steinbrück verschwand von der politischen Bildfläche. Alle diese Änderungen in der Präsentation von Politik seit den 1980/90er Jahren sind Ausdruck von umfassenden Änderungen, die unter den Begriffen Erlebnisgesellschaft und Mediokratie beschrieben worden sind. Während sich die Gesellschaft zur „Erlebnisgesellschaft“ gewandelt habe, so eine These, sei die Demokratie zur „Mediokratie“ (Thomas Meyer) bzw. zur „Telekratie“ (Peter Weibel) mutiert. Mit dem Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium der Politikvermittlung – so der Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli – seien immer stärker das „stimmungsdemokratische Element quasi-plebiszitärer Legitimationsbeschaffung“ in den Vordergrund und die institutionell-verfassungsrechtliche Ordnung in den Hintergrund getreten. Politik habe sich – so auch Thomas Meyer – „immer mehr und immer gekonnter als eine Abfolge von Bildern, kameragerechten Schein-Ereignissen, Personifikationen und Images“ präsentiert, bei denen „Gesten und Symbole, Episoden und Szenen, Umgebungen, Kulissen und Requisiten, kurz Bildbotschaften aller Art zur Kernstruktur werden“.47 Ganz entgegen der Idee einer lebendigen Demokratie wurde das Wählervolk dadurch auf den Status von außenstehenden Betrachtern reduziert, während die tatsächlichen Entscheidungsprozesse weiterhin intransparent blieben. Die repräsentative Demokratie hatte sich zur „medial-präsentativen Demokratie“ (Ulrich Sarcinelli) gewandelt.

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Toxische Öffentlichkeit Die Bildunfälle der Herren Scharping und Laschet Politainment war schon zu Zeiten von Wilhelm II. eine zweischneidige Sache. Einerseits gestaltete es Politik ausgesprochen inklusiv, weil es aufgrund seiner ästhetischen Qualität und emotionalen Intensität auch eher politikferne und primär unterhaltungsorientierte Mediennutzer einbezog und diesen neue Erfahrungsräume offerierte, in denen Politik zugänglich war, andererseits war dieser Prozess mit erheblichen Kosten für eine lebendige Demokratie verbunden. Politik im Unterhaltungsformat nämlich stellte „immer eine personalisierte und auf einfache Grundkonstellationen reduzierte Wirklichkeit“ (Andreas Dörner) dar. Und schließlich bargen Personalisierung und Visualisierung des Politischen immer auch Risiken. „Dem Publikum als dem ‚Auge Gottes‘ entgeht nichts, was sich in diesem Panoptikum abspielt.“48 Für die Geschichte der ‚Berliner Republik‘ sind hierfür vor allem zwei ‚Fälle‘ beispielhaft: 2001 der Fall von SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping und exakt 20 Jahre später der Fall von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Der politische Untergang des Rudolf Scharping begann in einem Pool auf der Ferieninsel Mallorca. Während sich deutsche Soldaten auf einen gefährlichen Auslandseinsatz vorbereiteten und von ihrem Dienstherrn eine Urlaubssperre verordnet bekamen, plantschte dieser mit seiner Freundin, einer Gräfin, in einem Pool in Mallorca. (II/59) Im Rahmen einer Homestory der Klatschzeitschrift BUNTE hatte ein Fotograf Aufnahmen gemacht, die Scharping zeigen, wie er die Gräfin an den Hüften packt, sie hochhebt und von sich weg ins Wasser stößt. Am 23. August 2001 waren die Aufnahmen auf dem Cover der BUNTEN mit der Titelseite „Total verliebt auf Mallorca“ zu sehen. Eine Woche später erschien eine der Mallorca-Aufnahmen auch auf dem Cover des SPIEGEL. (II/60) Mit Bezugnahme auf den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr hatte man in Hamburg das im Wasser turtelnde Liebespaar in einen mit Wasser gefüllten Bundeswehrhelm gesetzt. Das politische Berlin war entsetzt. Man sprach vom „Badeunfall“ und nannte Scharping in Anspielung auf den gesuchten Topterroristen Osama bin Laden „Rudi bin Baden“. Die Story über den Bundesverteidigungsminister war ein Paradebeispiel für eine misslungene PR-Aktion. Eigentlich sollten Aufnahmen und Homestory in der BUNTEN helfen, Scharpings eher sprödes Image aufzupolieren, denn der Westerwälder galt medial als äußerst hölzern. Statt Imagepolitur brach eine Welle der Empörung über Scharping ein. Die Homestory entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zur Affäre Scharping, zumal nun auch weitere Eigentümlichkeiten ans Licht kamen. So hatte Scharping innerhalb weniger Monate die Flugbereitschaft der Bundeswehr 50-mal benutzt, um von Berlin zu seiner Gräfin nach Frankfurt zu düsen. Hatte Kanzler Schröder seinen Minister zunächst noch gedeckt, so kam im Juli 2002 das vorzeitige Ende der Amtszeit Scharpings. Der Kanzler bat den Bundespräsidenten, Scharping die Entlassungsurkunde auszuhändigen. Ein Grund, über den öffentlich nicht gesprochen wurde: der „Badeunfall“ von Mallorca.

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[II/59] Titelseite BUNTE vom 23.8.2001; [II/60] Titelseite DER SPIEGEL vom 27.8.2001 mit aus rechtlichen Gründen geschwärztem Liebespaar beim Planschen im Bundeswehrhelm; [II/61] Satirisches Plakat unter Verwendung einer Fotografie von Armin Laschet in einem Tweet von Martin Sonneborn (2021)

Wenig Gespür für die öffentliche Wahrnehmung seiner Auftritte etwa im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal bewies auch CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Mit Besuchen im Flutgebiet wollte das Wahlkampfteam des NRW-Ministerpräsidenten dessen Image und die lahmenden Umfragewerte aufbessern. Immer wieder entglitt Laschet, der so gerne den ‚gestiefelten Kanzler‘ à la Gerhard Schröder gegeben hätte, die Bildbotschaft. Hatte er bei seinem ersten Besuch in den Flutgebieten wie zuvor Schröder noch Gummistiefel getragen,

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so stolzierte er bei einem weiteren Besuch mit Lederschuhen und blütenweißem Hemd durch den Modder und Unrat in Euskirchen. Die Flut verhalf Laschet nicht zu den gewünschten Bildern, im Gegenteil. Während eines Besuchs des Bundespräsidenten am 17. Juli 2021 im nordrhein-westfälischen Erftstadt wartete Laschet in einer Gruppe von CDU-Politikern aus der betroffenen Region auf das Ende einer Ansprache des Bundespräsidenten. Da die Wartenden die Rede nicht verstanden, scherzten sie im Hintergrund über Banalitäten, nicht realisierend, dass Fotografen den Bundespräsidenten und mit diesem im Hintergrund auch den lachenden Kanzlerkandidaten im Visier hatten. Als das Video des Lachers auch in den sozialen Medien zu sehen war, reagierten viele Menschen und Medien empört. Karikaturisten machten sich über Laschet lustig. (II/61) Der Satiriker Martin Sonneborn wählte das Standbild des Laschet-Lachers zum Blickfang eines Plakates und forderte: „Wählt keine Spaßpolitiker!“ Die Süddeutsche Zeitung bescheinigte Laschet „würdeloses Verhalten“. Es sei ein „verstörendes Bild“, das der Kandidat da geliefert habe. Auf der Website hieß es: „Aber das Bild, das ein Politiker in einer schweren Krisen-Situation seines Landes abgibt, ist von großer Bedeutung – nicht in erster Linie wegen seines Ansehens, sondern für die Menschen in dieser schwierigen Lage. Deshalb sollte so ein Moment einem erfahrenen Spitzenpolitiker wie ihm nicht passieren, der als Bundeskanzler dieses Land führen will. Dem Christdemokraten Armin Laschet [...] sollte das bewusst sein – und das nicht nur, weil er doch längst wissen sollte, dass er an so einem Tag keinen Moment unbeobachtet ist, überall Kameras sind. Es gilt der einfache Satz: Das tut man nicht.“49 Und auf FOCUS online vom 1. Juli 2021 konnte man lesen: „Im Wahlkampf gilt: Wer die Bilder hat, hat die Macht. Das gilt im Guten wie im Bösen. Wer die falschen Bilder hat, verspielt seine Macht. So wie es derzeit Armin Laschet tut. Diese Szene ist abstoßend.“50 Die Umfragewerte der CDU brachen ein und erholten sich nicht wieder, obwohl sich Laschet umgehend entschuldigt und von einem Fehler gesprochen hatte. Als Kanzlerkandidat galt Laschet seit dem Bild aus dem Flutgebiet als ‚verbrannt‘. Und fast hätte es im Juli 2022 auf dem Höhepunkt der Multi-Krise auch noch Bundesfinanzminister Christian Lindner erwischt, der mit Pomp und Medienbegleitung seine Hochzeit mit einer Journalistin auf der ­Nobel-Insel Sylt glaubte feiern zu müssen.

BilderMacht Schockbilder in der Politik Heute gibt es mit ganz wenigen Ausnahmen keine großen Begebenheiten mehr ohne die dazugehörigen Bilder. Die Welt scheint zum Fotostudio geworden zu sein, in dem noch der letzte Winkel ausgeleuchtet ist und im Fokus von Fotografen und Kameraleuten liegt. Dabei verschwimmen oft Ereignisse und die Bilder dieser Ereignisse miteinander. Heutige Menschen können kaum mehr an Geschehnisse wie etwa die Angriffe auf die Twin Towers denken, ohne vor dem inneren Auge das Flugzeug zu sehen, wie es in einen der beiden Türme rast. Mit dieser Einheit von Ereignis und Bild sind zunehmend auch Politiker und Politikerinnen in ihrem Han-

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Schockbilder der Politik [II/62] Titelseite des Kölner Express vom 28.4.1999 mit Bildern der Pressekonferenz vom Vortag, auf der Verteidigungsminister Scharping die Intervention der Bundeswehr im Rahmen des NATO-Einsatzes mithilfe von Gräuelbildern aus Raçak begründet (Ausschnitt); [II/63] sky news/breaking news vom 12.3.2011 zum Reaktorunglück von Fukushima Daiicha; [II/64] der am 2.9.2015 angespülte Leichnam des syrischen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi am Strand von Bodrum, Foto Nilüfer Demir; [II/65] Militärkolonne in Bergamo, Handyaufnahme von Emanuele di Terlizzi, 18.3.2020

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und keineswegs um Opfer einer von langer Hand vorbereiteten Massenvertreibung durch die Serben, wie dies der sogenannte ‚Hufeisenplan‘ suggerierte. In seinem Buch Wir dürfen nicht wegsehen gab Scharping Auskunft, wie er sich über Pressebilder über den Konflikt im Kosovo informiert hatte und sich von ihnen emotional überwältigen ließ und wie er selbst wiederum Bilder benutzte, um den Kriegseintritt der Bundesrepublik in den Krieg der NATO vor der Öffentlichkeit zu legitimieren. Ob er wusste, woher die Bilder stammten, ist unbekannt. Am 14. April 1999 notierte er in seinen Aufzeichnungen: „Für die Debatte morgen im Bundestag will ich keinen Redetext vorbereiten, sondern frei sein in meinen Ausführungen; werde aber Bilder von den Flüchtlingstrecks und den zerstörten Dörfern mitnehmen.“52 Einen Tag später schrieb er: „Ich erinnere mich noch, wie ich auf der Regierungsbank Notizen machte, immer wieder an die zahlreichen Berichte und die schrecklichen Bilder denkend.“53 Scharping gestand, von der Kraft der Bilder emotional überwältigt worden zu sein. Am 25. April notierte er: „Auf dem Flug zum NATO-Gipfel in Washington hatten mir Mitarbeiter die Bilder von getöteten Kosovo-Albanern gezeigt, die deutsche OSZE-Beobachter im Januar gemacht hatten und von denen sie mir zum ersten Mal am 31. März bei unserem Gespräch in Bonn berichtet hatten. Ich hatte damals um Überlassung der Bilder gebeten. Beim Anschauen der Fotos: Übelkeit. Ist Entsetzen steigerbar? Später bitte ich meine Mitarbeiter, die Bilder für eine Pressekonferenz in der nächsten Woche vorzubereiten.“ (II/63) Als am 12. März 2011 infolge eines Erdbebens das Kernkraftwerk Fuku­ shima im fernen Japan explodierte, waren es einmal mehr Bilder, die in Windeseile um den Erdball gingen. Sie lösten zumindest in Deutschland ein politisches Beben aus, das die These von der Macht der Bilder ein weiteres Mal bestätigte und belegte, dass Bilder zu einer aktiven historischen Größe geworden waren. Das ist der „iconic turn“, schrieb Florian Illies – sichtlich beeindruckt von dem Ereignis – in der ZEIT. „Weil die Welt gesehen hat, wie ein Atomkraftwerk explodiert, ist der Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik zerstört. Das Bild im Kopf ist zu stark.“54 Und weiter heißt es: „Jene Bilder, die uns bis jetzt aus Fukushima erreicht haben, werden genau deshalb nicht wirkungslos bleiben, weil sie nicht mehr von der menschlichen Festplatte gelöscht werden können. Jeder Politiker und jeder Atomlobbyist, der ab dem heutigen Tag von der Sicherheit der Kernenergie sprechen wird und von einem geringen Restrisiko, weiß, dass in dieser Sekunde im Kopf seiner Zuhörer die Bilder aus Fukushima auftauchen und sich in seinem Kopf eine kleine Explosion ereignet. Der 12. März ist nicht deshalb das Ende des Atomzeitalters, weil die Menschheit vernünftig geworfen ist. Sondern weil die Wirkmacht der Bilder im Kopf so stark ist, dass sie nicht mehr verdrängt werden können. Wir können uns nicht mehr selbst unser Bild machen, wie es das 20. Jahrhundert noch für die Urkatastrophen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und des Untergangs der Titanic tun konnte. Wir können unser Selbstverständnis nicht mehr nachträglich illustrieren. Sondern wir sind den Bildern ausgesetzt – sie verstören uns, sie überwältigen uns –, weltweit und gleichzeitig. Wir können, siehe Fukushima, deshalb nicht mehr hinter sie zurück, weil die Menschheit zum Augenzeugen geworden ist.“

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Im Bilde sein

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Ähnlich wie Illies dürften auch Politiker wie die Kanzlerin die Bilder wahrgenommen haben. Angela Merkel, die sich in einem Interview selbst einmal als „Nachrichtenjunkie“ bezeichnet hatte, wurde auf dem Display ihres iPads über die Ereignisse aus Japan informiert. Sie betrachtete die Bilder der spektakulären Explosion während eines Gipfeltreffens in Brüssel. „Und weil sie an die Macht der Bilder glaubt, wusste sie, dass nun eine neue Zeitrechnung anbrach“, so Stefan Kornelius, damals Ressortleiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung. Sie habe persönlich nicht erwartet, dass das, was für sie bis dahin nur ein theoretisches und nur deshalb vertretbares Restrisiko gewesen sei, Realität werde, sagte Merkel in einem Interview. Die Kanzlerin, so Horst Bredekamp, besitze ein Gespür für ikonografische Momente. Sie verfüge über den besonderen Blick, den Coup d’œil, „die blitzartige Erfassung zukünftiger Entwicklungen aufgrund von Bildern der Plötzlichkeit“. Diesen Blick habe sie auch 2011 bei den Bildern aus Fukushima besessen, als sie das Ende der bisherigen Atompolitik entschieden habe.55 Bereits am 6. Juni 2011 beschloss das Kabinett Merkel den stufenweisen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022. Ähnlich agierte die Kanzlerin auch 2015 angesichts der Flüchtlingsströme auf dem Balkan. (II/64) Bei einer Wahlkampfveranstaltung am 4. September in Essen steckte ihr eine Besucherin das Foto des dreijährigen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi zu, der tot an den Strand von Bodrum in der Türkei gespült worden war. „Merkel haben die Bilder und Nachrichten jener Tage regelrecht fertig gemacht“, schrieb Margarete van Ackeren später auf FOCUS online unter Bezugnahme auf Merkels Umfeld.56 Noch in der Nacht zum 5. September traf die Kanzlerin ihre folgenschwere Entscheidung, die Grenzen der Bundesrepublik für die in Budapest wartenden Flüchtlinge zu öffnen. (II/65) Ein weiteres Beispiel, bei dem Bilder als Entscheidungs- und Legitimationsgrundlage der Politik fungierten, waren die beginnende Coronakrise 2020 und speziell das Handyfoto des italienischen Flugbegleiters Emanuele di Terlizzi aus Bergamo. Dieser hatte am 18. März 2020 von seiner Wohnung aus einen nächtlichen Militärkonvoi fotografiert, der Särge mit an Covid-19 verstorbenen Landsleuten transportierte. Nachdem er sein Bild über die sozialen Netzwerke geteilt hatte, war dessen Verbreitung auch in den Mainstreammedien nicht mehr zu stoppen. Das Bild entfaltete eine ikonische Suggestivkraft. Es ging in kürzester Zeit um den Erdball. Die italienische Zeitung Il Messaggero bezeichnete es schon am kommenden Morgen als „Symbolbild des Todes“. „Schockierende Bilder aus Italien“, titelte die BILD-Zeitung. „Dramatische Warnung aus Italien“ hieß es in der Berliner Morgenpost. Den Deutschen bescherte das Foto aus Bergamo einen anschaulichen Beleg für die Dramatik der Lage. Das Bild erreichte das deutsche Publikum just zu dem Zeitpunkt, als der erste Lockdown begann, aber noch nicht allen die Dramatik der Situation bewusst war. „Und dann, auf einmal“, so der Kunsthistoriker und Katastrophenforscher Jörg Trempler, „sieht man einfach einen Konvoi von Lastwagen, und man sieht in unmittelbarer Weise einen Ausnahmezustand, eine Gefahr, etwas, was man nicht haben möchte. Und damit ist diese Wirkkraft von diesem einzelnen Bild viel größer, weil es sozusagen auf alles andere draufsetzt. Das ist wie eine Interpretation der Lage.“57

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Deutsche Politiker und Journalisten bezogen sich in den folgenden Tagen in vielfältiger Weise auf das Foto aus Bergamo. Das Bild erzeugte eine eigene Realität. Wie die Bilder gefallener Soldaten im Vietnamkrieg machte es das Unsichtbare und Undenkbare sichtbar. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet verwies bei Anne Will immer wieder auf die Bilder aus Italien. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, betonte die abschreckende Wirkung der Bilder, die man gebraucht habe, um härtere Maßnahmen durchzusetzen. Die Akzeptanz von Regeln werde „erst dann stärker, wenn die Menschen schlimme Bilder sehen. Die Bilder aus Bergamo hatten eine abschreckende Wirkung.“58 Heute gelten die mantraartig wiederholten Bilder aus Bergamo als Zäsur in der Coronakrise. Erst solche ikonischen Bilder hätten die Krise begreifbar gemacht, notierte die Süddeutsche Zeitung in einer Rückschau: „Aber Europa glaubte und verstand das Ausmaß der Katastrophe erst, als das Bild der Militärlaster von Bergamo in allen Medien zu sehen war. [...] In der deutschen Politik wurden die ‚Bilder von Bergamo‘ schnell zum geflügelten Wort, sie waren das, was hierzulande unbedingt verhindert werden sollte, wie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet später einmal erklärte. Ohne die Aufnahmen von den italienischen Militärlastern wäre der Lockdown in der ersten Welle in Deutschland möglicherweise nicht noch einmal verschärft worden, die Leute wären länger nachlässig geblieben, und es wären auch hier schon im Frühjahr mehr Menschen gestorben. Eine Gefahr muss medial sichtbar sein, um verstanden und bekämpft zu werden.“59

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Digitalisierung und Diversifizierung Bilder und Bildermedien der ‚Berliner Republik‘

Ähnlich wie die Zeit um 1900 markieren die Jahre um 2000 eine Epochenwende hin zu einer „zweiten Moderne“ (Heinrich Klotz). Medienwissenschaftler machten eine „neue Medienrevolution“ bzw. das „Ende der Gutenberg-Galaxis“ aus. Der Kunsthistoriker Michael Diers sah den „Beginn einer neuen Epoche des Bildes“ angebrochen, die durch die Möglichkeit digitaler Bilderzeugung und -bearbeitung eingeläutet worden sei und die Ära des Bildes als Abbild nun endgültig hinter sich gelassen habe. Bereits 1984 hatte der Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel diagnostiziert, dass die digitale Bildrevolution „wahrscheinlich das wichtigste Ereignis seit der Erfindung des Bildes“ sein werde.60 Als Kriterium der Epochenwende werden der Aufstieg des Computers zur Basistechnologie sowie die Digitalisierung mit weitreichenden Folgen auch für die älteren Bildmedien wie Zeitungen und Magazine sowie Film und Fernsehen angeführt. Mit der digitalen Revolution standen den Menschen nun plötzlich völlig neue Ausdrucks-, Gestaltungs- und Kommunikationswege zur Verfügung. Hatten die bisherigen technischen und elektronischen Medien vor allem Wirklichkeit reproduziert, so ließen sich die neuen digitalen Medien verstärkt dazu nutzen, Wirklichkeit zu simulieren bzw. zu produzieren. Eckpunkte der Entwicklung, durch die der Punkt als Atom des analogen Zeitalters durch den Pixel als Atom des digitalen Zeitalters abgelöst wurde, waren die Marktreife des Mac-Computers von Apple 1984, der zunehmende Gebrauch von digitalen Kameras seit etwa 1989/90, die Möglichkeit, Bilder digital zu versenden und zu empfangen, sowie schließlich die rasante Verbreitung der Heim- und Personal Computer seit Beginn der 1990er Jahre. Verfügten zur Zeit der Wende 1989/90 gerade einmal 10 Prozent, 2005 bereits 54 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte über einen Computer, so waren es 2010 fast 75 Prozent. Fast die Hälfte der Haushalte besaß im Jahr 2002 zudem einen Zugang zum Internet. In kurzer Zeit war es möglich geworden, digitale Inhalte jeder Art einschließlich Bilder verlustfrei zu vervielfältigen und diese stationär wie mobil verfügbar zu halten. Die Grenzen zwischen Audio, Video und Schrift begannen sich aufzulösen. Praktisch jeder neue Computer und jedes neue Mobiltelefon war 2010 mit einem Kameraobjektiv ausgestattet. Dazu wurden im Jahr 2010 in Deutschland acht Millionen Digitalkameras verkauft. De facto verfügte nun jeder deutsche Haushalt über mehrere digitale Kameras, was in der Folge zu einer Potenzierung des Bilderfundus führte, die mit dem

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Begriff der ‚Bilderflut‘ nur unzureichend beschrieben ist. Das Videoportal YouTube wuchs 2013 in jeder Minute um 100 Stunden Filmmaterial. Facebook hatte zu diesem Zeitpunkt 240 Milliarden Fotografien gespeichert, zu denen täglich weltweit 350 Millionen bzw. pro Minute 243.000 neue Fotos hinzukamen. Vom ‚Bildertsunami‘ war die Rede. Mit mobilen Laptops, mit Tablets, vor allem aber mit Smart Phones etablierte sich ein neues Dispositiv im Alltag, das bisherige Medien wie das Buch, das Nachschlagewerk und den Brief, die Schreibmaschine und das Telefon, die Fotografie und das Fotoalbum, die Videokamera und das Kino, den Dia- und den Filmprojektor in einem Gerät zusammenfasste und dieses alles zugleich mit dem World Wide Web verband. Das Internet öffnete den Nutzern dieser Geräte den Zugang zu Billionen im Netz flottierender Bilder sowie zu in Portalen und Archiven gespeicherten Gemälden, Filmen und Fotografien jedweder Art. Zugleich waren diese Geräte auch Arbeits- und Kommunikationsinstrumente, mit denen sich Texte produzieren und reproduzieren, Filme aufnehmen, schneiden, archivieren und betrachten, Grafiken, Schaubilder und Präsentationen erstellen, Kunstwerke erschaffen und alle diese zugleich weltweit kommunizieren ließen. All dies potenzierte die Zugangsmöglichkeiten zur sichtbaren, digital erfassten Welt ins Unermessliche und entfesselte die bildnerische Produktivität von Menschen in völlig neuer Weise. Die digitale Revolution versetzte die Zeitgenossen potentiell wie nie zuvor in die Lage, sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen und ihre eigene (Bilder-)Welt erstehen zu lassen.

Pixel und Tafelbild Bildende Kunst – Aktionskunst – Kunstfotografie Der Mauerfall, die weitere Expansion der Konsumkultur und die fortschreitende Globalisierung waren Eckpunkte der Kunstentwicklung der 1990er und der 2000er Jahre. Diese präsentierte sich in einer unüberschaubaren Vielfalt der Sujets und Ausdrucksformen. Von ‚Schulen‘ oder Kunstrichtungen wie dem Bauhaus in den 1920er, der Pop Art oder Fluxus in den 1960er Jahren konnte keine Rede mehr sein. Wenn es auch schwerfällt, allgemeine Charakteristika der Kunstentwicklung zu benennen, so fallen für die Kunst von der beginnenden ‚Berliner Republik‘ bis in die Gegenwart doch einige charakteristische Entwicklungen auf. Hatte noch die documenta 11 von 2002 die Malerei als repräsentative Kunstform für verzichtbar gehalten und sich stattdessen den technisch basierten Künsten Fotografie, Film und Video zugewandt, so bezog sich die Malerei im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in ihren Sujets entschiedener als je zuvor auf die Welt medial vermittelter Bilder des Fernsehens, des Films und der Fotografie. Nicht mehr so sehr die Produktion von Dingen, sondern die Verarbeitung von Symbolen, Daten, Worten, Bildern rückte in den Vordergrund. Vor allem der in Umfang und Schnelligkeit atemberaubende Aufstieg des Internets zum alltäglichen Werk- und Spielzeug machte neue Formen der Bilderzeugung möglich, von denen die ‚alten‘ Künste nur geträumt hätten. Verstärkt kamen Com-

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putergrafik und Bildbearbeitungsprogramme zum Einsatz. Mit ihnen öffneten sich der Kunst vielfältige neue Möglichkeiten. Während Internet und digitale Technik Kommunikation und Produktion beschleunigten, schuf die Entwicklung innovativer Softwareprogramme und digitaler Herstellungsverfahren neue Gestaltungsund Produktionsmöglichkeiten. Auf der Grundlage dieser Möglichkeiten entstand eine neue Ästhetik in Kunst und Design, die sich u. a. durch eine computerbasierte Ornamentik auszeichnete. Pioniere dieser Kunst im deutschsprachigen Raum waren etwa (II/66) Manfred Mohr aus Pforzheim und (II/69) der Wiener Multimediakünstler Peter Kogler, der 1997 die große Halle der documenta in Kassel mit einem am Computer erzeugten Netzmuster auskleidete, was von der Kritik als „Visualisierung des Internet“ gedeutet wurde. Kogler gestaltete begehbare, illusionistische Raumlabyrinthe, die sich über Decken, Wände und Böden zogen, den gesamten Sichtkreis der Betrachter einnahmen und diesen jedwede Orientierung nahmen, sie gleichsam taumeln ließen. (II/67) Wie sich die scheinbar graue Pixelwelt beim Nähertreten in mehr als 16 Millionen farbige Bildpunkte auflöst, zeigte Adrian Sauer mit seinem digitalem C-Print 16.777.216 Farben – dem maximalen Umfang des Farbraums eines Computers. Immer öfter wurde die digitale Welt – einschließlich ihrer neuen Überwachungsmöglichkeiten – auch Thema von Kunstausstellungen, wie 2014 bei der ‚Smart New World‘ in Düsseldorf. Die Welt präsentierte sich dem Auge zunehmend als eine Fülle von nach strengen mathematischen Regeln generierten Pixeln, (II/68) so auch bei dem von Gerhard Richter gestalteten, heftig umstrittenen Kirchenfenster des Kölner Domes von 2007, das wie ein grob gepixeltes Computerbild daherkam. Das Fenster basiert auf 1974 entstandenen Gemälden Richters, in denen dieser die quadratischen Felder nach dem Zufallsprinzip mittels eines Computers auf die Leinwand übertragen hatte. Mit seinem Kirchenfenster hatte Richter dem Pixel gleichsam einen göttlichen Glanz verliehen. Durch die großformatigen Arbeiten von Gerhard Richter und Neo Rauch als den beiden international renommiertesten deutschen Maler-Protagonisten der Gegenwart erlebte das klassische Tafelbild eine Renaissance. Mit (II/70) Neo Rauch, Moritz Götze, Altmeister Bernhard Heisig oder (II/72) Jörg Immendorf kehrte nach 1990 das Figurative und Gegenständliche zurück in die Kunst. Vor allem die Maler der ‚Neuen Leipziger Schule‘ versetzten die bildende Kunst in Deutschland in einen regelrechten Innovationsrausch. Hauptmerkmale der neuen Bilder, die vor allem in den USA begeisterte Betrachter und Käufer fanden, waren großformatige Gemälde in betonter Malweise und gezielter Formlosigkeit, mit schwungvollem und heftigem Pinselstrich, mit kräftiger Farbigkeit und Farbwucht. Auf diese Weise entstanden gegenständliche, oft neongrelle, mit Graffiti-Elementen durchsetzte Bilder. Bekanntester und erfolgreichster Vertreter der ‚Leipziger Schule‘ wurde Neo Rauch, dessen Stil gleichermaßen durchdrungen erscheint vom sozialistischen Realismus des Ostens wie von der Pop Art und dem Comic des Westens, weshalb er auch durchaus als ‚gesamtdeutscher‘ Maler bezeichnet werden kann. Konzeptionell steht sein Werk dem Surrealismus nahe.

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Computeranimierte Kunst [II/66] Manfred Mohr, P-1611_4555, Tinte auf Leinwand (2012); [II/67] Adrian Sauer, 16.777.216 Farben, digitaler C-Print (2010) (Ausschnitt und Vergrößerung); [II/68] Gerhard Richter, Glasfenster des Kölner Domes (2007) (Aufnahme von 2015); [II/69] Arbeit von Peter Kogler im Café der documenta X (1997)

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Mit dem Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin zog bildende Kunst in den Tempel der Politik, den Deutschen Bundestag, ein. Bei der Restaurierung des Reichstagsgebäudes wie bei der Errichtung der Neubauten des Bundestages war es ausdrücklicher Wunsch der Verantwortlichen gewesen, namhafte bundesdeutsche Künstler wie Gerhard Richter, Georg Baselitz, Günther Uecker, Anselm Kiefer, Bernhard Heisig, (II/73) Markus Lüpertz, Emil Schumacher, Hans Haacke an der Gestaltung von Treppenhäusern, von Foyers, Innenhöfen und Sitzungssälen zu beteiligen. Diese begleiteten und kommentierten mit ihren Werken denn auch die Arbeit der Parlamentarier und nutzten das Parlament als Bühne zur Darstellung ihrer durchaus eigen-, oft auch widerständigen Positionen. Aus der Vielzahl der präsentierten Arbeiten ragten die Werke von Gerhard Richter und Sigmar Polke hervor, zweier Künstler, die sich in ihrem Œuvre vorrangig mit der Bedeutung und der Funktion von Bildern, ihrem Zeichen- und Symbolcharakter auseinandersetzten. Richters 20 Meter hohes, in der Tradition der Monumentalmalerei angefertigtes, aus sechs farbemaillierten Glasplatten bestehendes Wandbild Schwarz Rot Gold von 1999, im zentralen Eingangsbereich der Westlobby des Reichstagsgebäudes präsentiert, rückt bewusst von der Bildvorstellung der Nationalflagge ab. Das Material Glas fungiert als ikonologischer Bedeutungsträger, das zahlreiche Spiegelungen der umgebenden Architektur erlaubt und Distanzen zu den traditionellen Staatsallegorien und -symbolen schafft. Mit seinen unregelmäßig aufgetragenen Farben, die zudem nicht der genormten Farbigkeit der Flagge entsprechen, hatte Richter kein einfaches Abbild, sondern ein autonomes künstlerisches Werk geschaffen. Die als Spiegel konzipierten Bilder – hergestellt von derselben Manufaktur wie Fosters Glaskuppel und verstärkt durch reales Gold – reflektieren mit ihren Hochglanzoberflächen sowohl den Raum mit seinen Besuchern als auch die ihnen gegenüber installierten Birkenau-Bilder von Richter. Aus einer bestimmten Perspektive spiegelt sich in ihnen zugleich die vor dem Reichstagsgebäude befindliche reale Bundesflagge wider. Richters Arbeit blieb nicht unwidersprochen. Antje Vollmer – Vizepräsidenten des Bundestages von den GRÜNEN – hielt diese schlichtweg für „eine platte Idee“. Mit beleuchteten Schaukästen und unter Verwendung von heiter-ironischen Bildzitaten aus Politik und Geschichte thematisierte Sigmar ­Polke ebenfalls in der Westlobby den Medienalltag der Demokratie und die Symbolik deutscher Geschichte. In Bildern und Installationen gänzlich unterschiedlicher Kunstrichtungen machten weitere Künstler seit den 1990er Jahren die deutsche Vereinigung und die deutsche Geschichte sowie den Umgang mit zentralen identitätsstiftenden Symbolen der Republik zum Gegenstand ihrer Arbeiten, so der Berliner Maler Matthias ­Koeppel in seinen malerischen Persiflagen zum Vereinigungsprozess und der Konzeptkünstler Hans Haacke in seinem Biennale-Beitrag Bodenlos von 1993. Wie kein anderer Künstler hielt Koeppel in seinen Bildern die Veränderungen der Stadtlandschaft Berlin – den Mauerfall, den Aufstieg der Medien zur ‚vierten Gewalt‘, die baulichen Veränderungen der neuen Mitte sowie Großprojekte wie den Bau des Flughafens BER, die Verhüllung des Reichstages und die Hinterlassenschaften der Roten Armee in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung  – mit

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Die Renaissance des Tafelbildes [II/70] Neo Rauch, Handlauf, Öl auf Leinwand (2020); [II/71] Sigmar Polke, Ohne Titel, Acryl auf Stoff (1993); [II/72] Jörg Immendorf, ­Gebärende – mit dem Sehnsuchtsort Gyntiana im Bauch, Öl auf Leinwand (1992); [II/73] ­Markus Lüpertz, Die Krähe (1998)

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[II/74] Mathias Koeppel, Der erste Spatenstich, Öl auf Leinwand (1997)

kritisch-ironischem Unterton fest. (II/74) In seinem Gemälde Der erste Spatenstich von 1997 persiflierte er das Bauherrn-Image von Kanzler Kohl, den er als ungelenken dunklen Koloss im Tiergarten neben einem Mikrofon beim Spatenstich für das neue Kanzleramt situierte  – im Hintergrund beobachtet von der Berliner PolitikSchickeria. Auf ähnlich ironische Weise antizipierte er 1998 in seinem Gemälde Das Mahnmal die zu erwartende ausgelassen-fröhliche Aneignung des Berliner Holocaust-Mahnmals durch die Bevölkerung und dessen Umfunktionierung zur Kulisse für Touristenfotos. Verstärkt verließ die Kunst der ‚Berliner Republik‘ den Arkanbereich von Galerien und Ausstellungshallen und begab sich ins Getümmel der Öffentlichkeit – so immer wieder auch der Kölner Konzeptkünstler Hans Haacke. (II/75) Was unter dem Titel Bodenlos im zentralen Raum des deutschen Pavillons in Venedig zu sehen sei, so die ZEIT, sei „ein künstlerischer Akt der kühlen, brutalen Aufklärung, für den es weder in Haackes Werk noch auf der Biennale etwas Vergleichbares gibt. Dabei deutet die große, goldglänzende Mark über dem Eingang des Pavillons – sie nimmt die Stelle des längst nicht mehr vorhandenen Reichsadlers ein – zunächst eher auf eine gesellschaftskritische Plattitüde hin. Wenn man die Treppen des Pavillons heraufkommt, sieht man durch die Öffnung des Portals auf einer roten Fläche das zum schwarzgerahmten Bild vergrößerte Photo von Hitler bei seinem Besuch auf der Biennale 1934. Man geht in den Pavillon hinein, um die rote Stellwand herum.

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Und steht in einem Scherbenmeer, liest auf der rückseitigen Apsiswand das Wort GERMANIA. Hans Haacke hat der deutschen Geschichte den Boden unter den Füßen weggezogen, er hat ihn zerstört, die Marmorplatten herausbrechen lassen, und nun stehen wir auf den Trümmern. Kein guter Standort. Wackelig. Unsicher. Jeder Schritt kann ein Ausrutscher werden. Jeder Schritt ist begleitet von dumpfem Geklapper. Und wenn mehrere Menschen durch den Raum gehen oder ein paar Kinder über die zerborstenen Platten springen, dann schwillt das Geräusch an zum steinernen Gewitter. Und alle bleiben erschrocken stehen.“61 Einen völlig anderen Ansatz wählte seit Mitte der 1980 Jahre Michael Schirner, indem er die Technik der Kommunikation von Imaginärem in der Kunst in mehreren Ausstellungen sowie in Plakat- und Medienaktionen auf die Spitze trieb.

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[II/75] Hans Haacke, Bodenlos, Installation Biennale Venedig (1993)

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Kunstaktion: ‚BYE, BYE‘ – die Medien-Kunst-Aktion des Michael Schirner [II/76]

[II/76] Michael Schirner, BYE BYE, Großflächen­ plakat in Frankfurt am Main (2010)

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[II/77] Michael Schirner, BYE BYE, MUN72, Digigraphie by Epson

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In seinem ersten Projekt, dem er den Titel Pictures in our minds gab, nutzte Schirner allseits bekannte fotografische Ikonen des 20. Jahrhunderts als Vorlagen, aus denen er jedwede Referenzen auf äußere Realitäten entfernte. Konsequent bezog sich Schirner nur auf die Betrachter seiner Werke, auf deren Fantasie und Gedankenarbeit. Deren Gehirne waren seine Hardware, auf der die Bilder gespeichert waren, deren Imagination seine Software, die er provozierte. Die Besucher der von der Zeitschrift Stern organisierten Ausstellung, die erstmals 1985 in den Hamburger Messehallen zu sehen war, betraten eine Fotoausstellung ohne Fotos. Statt der gewohnten Bilder wurden sie mit schwarzen Tafeln konfrontiert, auf denen lediglich in weißer Schrift Kurzbeschreibungen zu lesen waren wie „Marilyn Monroe auf Subway-Luftschacht“ oder „Albert Einstein streckt die Zunge raus“. Das Bild und sein Autor mussten es aushalten, ganz in der Imagination der Betrachter zu verschwinden. Der Anblick der schwarzen Tafel und die Lektüre der knappen Texte forderten die Betrachter auf, das Schwarze aufzuhellen und neue Bilder in den Köpfen entstehen zu lassen. Mit seiner Ausstellung wollte Schirner exemplarisch die Kraft und Überlegenheit des gedruckten Mediums Bild unter Beweis stellen. In seiner Ausstellungs- und ­Plakataktion BYE BYE von 2010 führte Schirner seine Kommunikation des Imaginären weiter, allerdings nun in entgegengesetzter Richtung. Statt mit Bildbeschreibungen auf Tafeln konfrontierte er die Betrachter nun mit grob gerasterten Reproduktionen von Bildern, die irritierten, weil sie bekannt erschienen, tatsächlich aber nie zuvor gesehen wurden. (II/77) Schirners Arbeiten waren fotorealistische, digitale Gemälde, denen er den Namen ‚Digigraphien‘ gab. Aus seiner Reproduktion fotografischer Ikonen hatte er jeden Ras-

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terpunkt und jedes Detail entfernt, das an Bekanntes hätte erinnern können, und das Ganze dann mit dem Schleier eines Rasters wieder verdeckt, als wäre nichts passiert, gleichsam digital übermalt. Schirner interpretierte seine Arbeiten als Selbstabschaffung des Künstlers als Autor und Experte seiner Kunst. Schöpfer des Bildes war einzig der Betrachter, in dessen Kopf ein neues Bild entstand, das irritierte, faszinierte und gegebenenfalls zu eigenen Bildern inspirierte, indem eine Szene etwa durch Nachstellen aufgefüllt wurde. Zu seinem Verfahren erklärte Schirner: „Wir entfernen 100 Prozent von allem, was das ursprüngliche Foto bekannt gemacht hat: den Protagonisten, das zentrale Bildmotiv, Form und Inhalt der Geschichte. Das durch Entfernen des Bildvordergrundes entstandene ‚Loch‘ oder die Leerstelle wird in aufwendigen Verfahren durch digitales Neumalen des Hintergrundes gefüllt. So entstehen ein neues Bild und ein selbständiges Werk.“ Ziel der Unsichtbarmachung bzw. des Entfernens von ursprünglichen Inhalten und wesentlichen Elementen des Bildes sei es, „aus dem journalistischen Foto etwas kategorisch Anderes zu machen: ein Werk der bildenden Kunst, ein Bildkunstwerk, das vergrößert, gerahmt als Teil einer Serie von Digigraphien im Museum ausgestellt, im Katalog vorgestellt, zum Gegenstand der künstlerischen Betrachtung und Bewertung und zum Objekt der Kunstwelt“ werde. Die Entfernung des Inhalts aus dem Bild sei für ihn nur Mittel zum Zweck. Sein Ziel sei es, „aus journalistischer Fotografie digigraphische Malerei, aus Inhalt Form, aus Unsichtbarem Sichtbares zu machen, abstrakte Bilder zu erschaffen, die die Schönheit der Leere, der Abstinenz, der Stille, der Weite und des Verschwindens zeigen und die formalästhetische Qualität sehr guter Bilder haben“.62 Mit seiner Arbeit ignorierte Schirner nicht nur den prominenten Gegenstand im Foto, er rückte es bewusst aus dem Pressekontext heraus und fügte es in einen Kunst- und Theoriekontext ein.

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[II/78] FAZ, 15. April 2010

Die Bildkunstwerke der BYE BYE-Serie erschienen an unterschiedlichen Orten: im Museum, als Katalog, auf Plakatsäulen und City-Light-Postern wie in Hamburg, Berlin, Düsseldorf und (II/76) Frankfurt sowie in der Ausgabe der FAZ vom 15. April 2010 – dem Tag der Eröffnung der Ausstellung im Hamburger Haus der Photographie. (II/78) 17 Artikel der Ausgabe wurden mit Werken der Serie BYE BYE bebildert. Dabei nutzten die Redakteure die Bilder als Material für künstlerische Neuschöpfungen, indem sie redaktionelle Texte unter die Abbildungen setzten. Die ungewöhnlichen Bild-Text-Verbindungen forderten die Imagination und Fantasiearbeit der Betrachter heraus und machten diese zu Schöpfern von Geschichten, die nur in deren Kopf entstanden. Für FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher war die Serie eine eindrucksvolle Demonstration der Macht und Magie des Bildes in den gedruckten Medien. Zum 30-jährigen Jubiläum der Ausstellung Pictures in our minds von 1985 schließlich ließ der damalige BILD-Chefredakteur Kai Diekmann die Ausgabe vom 8. September 2015 ganz ohne Bilder drucken – womit Schirner zu seiner ursprünglichen Arbeit zurückgekehrt war.

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Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021)

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[II/79] ZPS-Aktion ‚Die Toten kommen‘ auf dem Friedhof Berlin-Gatow am 16.6.2015

Immer wieder für Schlagzeilen sorgte seit 2008 auch das Künstlerkollektiv ‚Zentrum für Politische Schönheit‘ (ZPS) um den Philosophen und Aktionskünstler Philipp Ruch mit spektakulären künstlerischen Aktionen. Eine erste Performance der Gruppe fand symbolträchtig am 8. Mai 2009 mit einem ‚Thesen-Anschlag auf den Deutschen Bundestag‘ statt. Absicht sei es, so die Künstler, „ein Bündnis der Künste [zu]schmieden, das den Politikern hilft, die höchste Form aller Künste ins Werk zu setzen: gute und schöne Politik“.63 Weitere Öffentlichkeitsaktionen des ZPS richteten sich gegen die westliche Mitverantwortung für das Massaker von Srebrenica, gegen deutsche Rüstungsunternehmen sowie gegen die Migrationspolitik der Europäischen Union und der Bundesrepublik. (II/79) Spektakulär war 2015 die Beerdigung eines syrischen Flüchtlings auf dem Landschaftsfriedhof in Gatow bei Berlin, zu der Mitglieder der Bundesregierung und des Innenministeriums symbolisch eingeladen worden waren.  Zu diesem Zweck hatte man an den EU-Außengrenzen verstorbene Flüchtlinge – darunter eine im Mittelmeer mit ihrem zweijährigen Kind ertrunkene Syrerin  – exhumiert und mit dem Einverständnis ihrer Familien nach Berlin überführt. Die Aktion fand eine breite Medienresonanz. Für seine Aktivitäten wurde das ZPS im Dezember 2015 mit dem erstmals verliehenen Amadeu Antonio Preis der Amadeu Antonio Stiftung ausgezeichnet. Vor allem jedoch das Projekt Deine Stele machte national und international Schlagzeilen. Am 22. November 2017 hatte das Künstlerkollektiv 24 Stelen, die zwei Meter aus dem Boden ragten und an (II/80) das Berliner Holocaust-Mahnmal er-

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innerten, auf einem gepachteten Nachbargrundstück in Sichtweite zu dem Wohnhaus des AfD-Politikers Björn Höcke im thüringischen Dorf Bornhagen errichten lassen. Mit der Kunstaktion protestierte das ZPS gegen Höcke, der in einer Rede im Januar zuvor „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert und gesagt hatte: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Das ZPS schlug Höcke ‚einen Deal‘ vor. Wenn sich der AfD-Rechtsaußen bereit erkläre, vor dem Mahnmal – in Berlin oder in Bornhagen – wie einst Bundeskanzler Brandt auf die Knie zu fallen, um für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs um Vergebung zu bitten, werde seine „zivilgesellschaftliche Überwachung vorerst eingestellt“. Die Aktion von Bornhagen hatte ein juristisches Nachspiel. 2019 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Gera seit November 2017 wegen des Verdachts auf ‚Bildung einer kriminellen Vereinigung‘ nach § 129 StGB gegen Ruch ermittelt hatte. Das Ermittlungsverfahren war eine Woche nach der ZPS-Aktion ‚Deine Stele‘ von einem der AfD nahestehenden Staatsanwalt eingeleitet worden. Strafverteidiger und Verfassungsrechtler äußerten sich bestürzt über die Ermittlungen. Nach Auffassung des Strafrechtsexperten Uwe Scheffler sei es bislang „noch nie passiert, dass Kunst im Zusammenhang mit der Bildung einer kriminellen Vereini-

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[II/80] ZPS-Aktion ‚Deine Stele‘ und Wohnhaus Höcke in Bornhagen/Thüringen, Aufnahme vom November 2017

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Kunstfotografie [II/81] Thomas Ruff, jpeg ny01 (2004); [II/82] Andreas Gursky, Pyongyang V, C-Print (2007); [II/83] Thomas Demand, Gate (2004) nach einer Aufnahme einer Überwachungskamera am Flughafen von Portland vom 11.9.2001

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gung eine Rolle gespielt hätte“64. In einer Petition protestierten namhafte Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Journalisten, Politiker, Musiker, Wissenschaftler usf. gegen das Verhalten der thüringischen Straf- und Ermittlungsbehörden, das sie als massiven Eingriff in die Grundrechte von Künstlerinnen und damit in einen Kernbereich der Kunstfreiheit betrachteten. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Ein weiteres Kennzeichen der Kunstentwicklung war das Crossover. Wie nie zuvor begannen sich die Grenzen zwischen bildender Kunst, Fotografie und Film bis hin zum Design und zur Architektur, gar zur Musik, aufzulösen bzw. sich aufeinander zu beziehen und sich gegenseitig zu inspirieren. Intermedialität und Interferenz avancierten zu eigenständigen Kunstformen. Wie nie zuvor verschwammen vor allem die Grenzen zwischen bildender Kunst und Fotografie. Der Anschlag von 9/11 geriet zum ersten weltgeschichtlichen Ereignis, das sich auch in der Kunst als Pixelkontinuum präsentierte (II/81), wie in der Bildserie jpeg ny 01 von Thomas Ruff. In dessen Bildern schien sich das tragische Ereignis in kleinste Bildteile aufzulösen und sich erst durch die Imagination des Betrachters wieder zu einem Bild zusammenzufügen. Anders waren die Bilder der beiden Foto- und Konzeptkünstler Thomas Demand und Andreas Gursky beschaffen. Diese waren keine Schnappschüsse, sondern Resultate von Ideen. (II/82) Kühl-distanziert und analytisch richtete so etwa Andreas Gursky seinen Blick auf die Welt. Seine Motive waren vor allem Massenszenen und deren Ornamentik wie Sportveranstaltungen, Autobahnen, Städte, Industrieanlagen, Börsen, Supermärkte. Etliche seiner Superformate wie Paris, Montparnasse von 1993 stehen in der kunstgeschichtlichen Tradition des Fensterund Panoramabildes. Um den Betrachtern Übersicht zu verschaffen, erhob sich Gursky wie einst die Künstler der ‚Aeropittura‘ oder des Bauhauses von der Bodenperspektive und spürte von erhöhtem Blickwinkel den Ornamenten von Natur und industriell-urbaner Moderne nach. Ähnlich wie in den Fotografien einer Riefenstahl von den Nürnberger Reichsparteitagen der NSDAP erschienen in Gurskys Arbeiten etwa zu den Massenkundgebungen in Nordkorea Individuen nur mehr als Auffüllmasse für ein Massenspektakel und das Symbol des roten Sterns. In seinen überdimensionalen Kompositbildern verdichtete Gursky die Wirklichkeit zu einer Welt, die es so nicht gab. Sichtbar wurden dabei wie schon in den Fotogrammen des Bauhauses Strukturen von Landschaften sowie Ornamente von Massen, sie sich dem Auge ansonsten entziehen. Das Ergebnis war eine höchst abstrakte Bildsprache. Ganz in der Tradition ( I/79) der ‚subjektiven fotografie‘ hielt Gursky Eingriffe in die Bildproduktion etwa durch digitale Bearbeitung für angemessen. Allerdings gingen diese bei ihm nicht so weit, dass sie den visuellen Charakter des Motivs beherrschten. Als digital generierte Bilder stehen Gurskys Arbeiten für den Beginn einer neuen Epoche des Bildes, die beständig neue Bilder erschafft. Mit Gursky hatte sich die Fotografie endgültig von ihren Vorläufern emanzipiert und zu einer eigenen Kunstform gefunden. Ausdrücklich versteht sich auch Thomas Demand als Grenzgänger zwischen Fotografie und bildender Kunst. Seine Arbeiten sind weder Fotografie noch Skulptur.

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Ihnen liegen zumeist Pressefotografien zugrunde, die Demand wie beim ( I/243) Foto des toten Ministerpräsidenten in der Badewanne oder (II/83) beim Foto des Abfluggates in Portland mit einem der Attentäter von 9/11 von seinen Akteuren befreite und als Papiermodelle reinszenierte, die so konkret und farbig waren, dass sie in ihrer Reproduktion eine Art Hyperrealität erzeugten. Geradezu einen Schock auch für die Kunst bedeuteten die Ereignisse vom 11. September 2001, deren global um den Erdball zirkulierende Echtzeit-Bilder der Komponist Karlheinz Stockhausen als das größte Kunstwerk aller Zeiten feierte. Für den Maler Anselm Kiefer hatte Osama bin Laden „das perfekteste Bild geschaffen, das wir seit den Schritten des ersten Mannes auf dem Mond gesehen haben“.65 Es sei von Anfang an um „eine neue Video- und Medienkunst auf der Ebene der Machtausübung und eines strategischen Spiels“ gegangen.66 Es überraschte daher nicht, dass sich auch deutsche Künstler wie ( II/102) Gerhard Richter mit den Ereignissen befassten. Das Jahrzehnt zwischen 2000 und 2010 war zugleich ein Jahrzehnt von großen Kunstausstellungen mit breiter Publikumsresonanz. Wie groß das Interesse der bundesdeutschen Öffentlichkeit war, zeigte exemplarisch die MoMa-Ausstellung 2004 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die 212 Kunstwerke aus dem Museum of Modern Art in New York präsentierte. Mit insgesamt 1,2 Millionen Besuchern war sie eine der erfolgreichsten Ausstellungen im deutschsprachigen Raum. Mit der Ernennung des nigerianischen Ausstellungsmachers Okul Enwezor zum künstlerischen Leiter der documenta 11 von 2002 kündigte sich ein Perspektivwechsel in der Ausstellungspraxis des Kunstbetriebs an. Enwezor setzte sich, damals noch ungewöhnlich, dafür ein, dass sich diese nicht allein auf den euro-amerikanischen Bereich beschränken, sondern auch die Kunst der damals noch ‚Dritten Welt‘ genannten Kulturen Afrikas und Asiens mit einbeziehen sollte. Seit den 2010er Jahren schloss die Kunst zunehmend zu den neueren Diskursen über Körper und Geschlecht sowie zur Reflexion des Postkolonialen auf.

Von Handys und Selfies Visuelles Kommunizieren in Alltag und Journalismus Seit der Jahrtausendwende eroberte  – von Japan kommend  – das Mobil- bzw. Smartphone auch Deutschland. Seit 1994 machte es die Versendung von kurzen Sprachnachrichten möglich. 1996 brachte Nokia das erste Multifunktionshandy auf den Markt, mit dem sich elektronisch Mails schreiben, versenden und empfangen ließen. Drei weitere Jahre dauerte es, bis Toshiba das erste Handy, wie das Mobiltelefon in Deutschland schon wenig später genannt wurde, mit integrierter Digitalkamera auf den Markt brachte, das neben ‚stehenden‘ Bildern auch kurze Videoaufnahmen möglich machte. Den faktischen Durchbruch auf dem internationalen Mobilfon-Markt schaffte 2007 das iPhone von Apple, mit dem sich nun auch Fotos bearbeiten ließen, man bequem im World Wide Web surfen konnte und das auch als Navigationshilfe funktionierte. Hatte es 2009 gerade einmal 6,3 Millionen Smartphone-Nutzer in Deutschland gegeben, so waren es sechs Jahre später bereits

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46 Millionen und 2021 sogar 62,6 Millionen Nutzer. Bei einer Einwohnerzahl von 83 Millionen Menschen entsprach das einem Anteil von etwa 80 Prozent. Neben dem Personal Computer stieg das Handy zu dem Medium der Digitalmoderne auf. Ursprünglich ein Gerät der mündlichen Kommunikation, revolutionierte es mit seinen zahlreichen Funktionen in kürzester Zeit die Kommunikationsverhältnisse der Bundesbürger, da es mündliche, schriftliche und visuelle Kommunikation miteinander verkoppelte und fast in Echtzeit ermöglichte. Da Bilder nicht länger an einen materiellen Körper gebunden waren, war es möglich, mit ihrer Hilfe alltäglich und jederzeit Nachrichten, Meinungen und Gefühle auszutauschen. Das Handy revolutionierte neben der professionellen auch die private Bildkommunikation. Es öffnete in einem bis dato unbekannten Ausmaß das private Leben und organisierte es zunehmend nach dessen Bildfähigkeit. Kein anderes technischen Gerät hat die Kommunikationsverhältnisse und das Verhältnis zu den Bildern umfassender und tiefgreifender verändert als das Smartphone. Bernd Ulrich – stellvertretender Chefredakteur der ZEIT – hat 2014 das gewandelte Verhältnis zu den Bildern so beschrieben: „Etwas ist geschehen mit den Bildern. Wir sehen sie uns nicht mehr an, sie sehen uns an. Wir nehmen sie nur selten zur Hand, vielmehr umgeben sie uns. ‚Fotos machen‘ kann man zu dem, was die meisten Menschen neuerdings tun, auch nicht mehr sagen, sie werden kaum mehr gemacht, sie unterlaufen einem eher, sie werden beinahe eingeatmet und ausgeatmet.“67 Schier unbegrenzte digitale Speichermöglichkeiten machten das Fotografieren und schließlich auch das Filmen zu einem Vergnügen. Weder musste man länger die Beschränkungen des konventionellen Rollfilms im Blick haben noch die Kosten der Filmentwicklung fürchten. Das Motiv musste nicht präzise ausgesucht oder in Szene gesetzt werden, vielmehr konnte jeder Nutzer nun mit Motiv und Perspektive, mit Licht und Farbe experimentieren und ‚sein‘ Bild ‚schießen‘. Aus der selbstproduzierten Bilderflut wurde später ausgewählt, was gefiel. Mithilfe diverser Bildbearbeitungsprogramme sammelten immer mehr Menschen Erfahrungen beim Bearbeiten von Bildern. Die Fähigkeit, selbst digitale Bilder zu produzieren und zu bearbeiten, vermittelte zugleich bildkritische Kompetenzen und beförderte letztlich auch eine generelle Skepsis in die Authentizität von Bildern. In nie gekanntem Maße geriet der private Alltag in den Blick der digitalen ‚Knipser‘. Via Smartphone und Tablet wurden die aufgenommenen Bilder und Videosequenzen weltweit verbreitet. Nach Vorlagen gestaltete Fotobücher lösten das bisherige Fotoalbum ab. Von 5,2 Millionen Fotobüchern im Jahr 2009 stieg die Zahl dieser immer aufwendiger gestalteten Alben 2013 auf 7,9 und 2020 auf 9 Millionen an. In immer stärkerem Maße wurden die digitalen Aufnahmen auch in die Ordner der sozialen Netzwerke eingebunden und dort betrachtet und kommentiert. Zudem erstellten Apple & Co. nach eigenen Algorithmen animierte Bilderstrecken zu besonderen Ereignissen, Daten, Personen usf., die auf den Smartphones betrachtet und versandt werden konnten. Die weit überwiegende Zahl der Aufnahmen indes verschwand auf Speicherkarten oder gleich im digitalen Papierkorb. Durch die digitale Aufrüstung des Bildes und dessen freies Flottieren im Netz entzogen sich Bildproduktion und -zirkulation nahezu allen bisherigen

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Formen der Kontrolle. Vielmehr beförderte die neue Technologie die allgemeine Tendenz, Privates – selbst Intimes – mitzuteilen. Nie zuvor waren Menschen transparenter als seit Beginn des 21. Jahrhunderts.

Selfies. Epochenbruch auf dem Gebiet des Visuellen

Dazu trug vor allem die Praxis des ‚Selfies‘ als einer völlig neuen Form der privaten gesichtsorientierten Bildkommunikation bei. Mit dem Selfie konnten sich Menschen erstmals ebenso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener und geschriebener Sprache. Dabei war und ist das Selfie mehr als ein Selbstporträt, wie es die Malerei kennt. Es ist vielmehr ein Akt, bei dem Menschen ein Bild von sich machen, wie sie sich gerade selbst zum Bild machen. Zugleich ist es eine Statusmitteilung des eigenen Lebens mit potenziell globaler Reichweite. Ein Selfie ist fast immer auf Austausch mit anderen ausgerichtet. Wer ein Selfie macht, stellt sich zur Schau, betritt eine Bühne, agiert wie ein Schauspieler und erwartet die Reaktion seines Publikums. Unter Zuhilfenahme von Apps kann die ästhetische Attraktivität der Bilder zusätzlich aufgewertet werden, indem etwa ein reales Gesicht in eine Emojis ähnliche Ästhetik verwandelt wird, indem Bilder beschnitten und gefärbt, indem Falten geglättet oder entfernt und Hintergründe hinzugefügt werden. Genauso schnell wie Selfies entstanden, konnten sie auch versendet werden. In der Regel antworteten die Adressaten mit eigenen Selfies. Kulturelle Unterschiede spielten dabei kaum mehr eine hemmende Rolle, so dass eine übergreifend gültige Art des Austauschs als Teil einer sich globalisierenden demokratischen Bildkommunikation entstand. „Mit Bildern (und Bildzeichen wie Emojis) lassen sich Dialoge führen, Komplimente machen, andere Leute beleidigen oder politische Botschaften platzieren.“68 Die neue Form des gesichtsorientierten Bildermachens bedeutete einen Epochenbruch auf dem Gebiet des Visuellen. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich hat den Zeitpunkt, als Millionen Menschen weltweit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, als „eine neue Phase der Kulturgeschichte“ bezeichnet.69 Im deutschen Sprachraum tauchte das Wort ‚Selfie‘ erstmals um 2011/12 auf. Bereits 2013 wurde es zum ‚Wort des Jahres‘ gekürt. Nach einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbandes Bitkom von 2021 nutzten 79 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer von Smartphones in Deutschland diese auch zur Produktion von Selfies. Für 74 Prozent der Befragten besaßen diese vor allem Erinnerungsfunktionen. Drei von fünf Selfie-Produzenten schickten diese per Messenger-Dienste weiter an Freunde und Bekannte. Über die Hälfte teilten sie in sozialen Netzwerken. Drei Viertel der 16- bis 29-Jährigen machten mindestens einmal pro Woche ein Foto von sich, mehr als ein Viertel, nämlich 28 Prozent, sogar täglich. Zwei Drittel der Menschen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren griff mindestens einmal pro Woche zur SmartphoneKamera sowie 61 Prozent der 50- bis 64-jährigen und 63 Prozent der über 65-jährigen. 52 Prozent der Befragten gaben an, ihre Selfies im Nachhinein zu bearbeiten. Knapp die Hälfte der Frauen beließ ihre Bilder im Ursprungszustand, bei Männern waren dies 43 Prozent. Als häufigste Bearbeitungsform erwies sich das Zuschneiden. 30 Prozent der Befragten änderten den Bildausschnitt oder das Format, um

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das Bild besser aussehen zu lasen. Ein Viertel derjenigen, die Selfies machten, nutzten vorgefertigte Filter für einen anderen Look. 23 Prozent bearbeiteten Helligkeit oder Kontrast. Männer benutzten Filter und Bearbeitungsprogramme signifikant häufiger als Frauen. Zur bewussten Retusche von störenden Merkmalen griffen mit 22 Prozent demgegenüber mehr Frauen als Männer. Selfies sind längst nicht mehr nur auf das private Leben begrenzt, sondern auch im öffentlichen Leben angekommen. Sie werden in der Kommunikation von Politikern ebenso benutzt wie von Medien bei der Katastrophen- und Terrorberichterstattung. (II/89) Bekanntheit erlangten 2005 einige Selfies über die terroristischen Anschläge auf die U-Bahn in London. Betroffene Fahrgäste hatten sie unmittelbar nach den Anschlägen noch in den U-Bahn-Stollen gemacht und in den sozialen Netzwerken verbreitet, von wo aus sie in kürzester Zeit den Weg in die Nachrichtensendungen in aller Welt fanden. ( II/134) Das berühmteste Selfie der ‚Berliner Republik‘ entstand 2015 während der sogenannten Flüchtlingskrise. Es zeigt Kanzlerin Angela Merkel und den Flüchtling Schakir Kedida am 10. September 2015 in der Erstaufnahmestelle der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Spandau. (II/87) Berühmt wurde auch das von der BILD-Zeitung als „Selfie der Macht“ bezeichnete Handy-Foto des späteren Bundesministers für Verkehr und Digitales, Volker Wissing (FDP), das dieser im September 2021 anlässlich der Sondierungsgespräche der künftigen Ampel-Koalitionäre von FDP und GRÜNEN schoss und via Instagram und Facebook in die Welt schickte. Es sei ein „Gegenbild zur Großen Koalition“, befand Deutschlandfunk Kultur, da es das Bild einer „neuen politischen Kultur“ kommuniziere. Demgegenüber kritisierte die Kolumnistin Jagoda Marinić die auf dem Selfie zur Schau gestellte Intimität. Das Selfie suggeriere Nähe, Unmittelbarkeit und Vertrautheit, die es in der Politik nicht gebe. (II/84) Auch in der Wahlkampfkommunikation der Parteien spielten Selfies eine Rolle. So warben die GRÜNEN im Landtagswahlkampf 2012 in Schleswig-Holstein mit einer Plakatserie, die ihren Spitzenkandidaten Robert Habeck vermeintlich dabei zeigte, wie er während einer Wahlkampftour durch das Land mit einem Smartphone Aufnahmen von sich machte. Ein Bild zeigt ihn in der typischen Haltung eines Selfie-Akteurs mit dem bedrohten Wattenmeer im Hintergrund, ein anderes in einer Schulklasse. Tatsächlich war der Akt des Selfie-Machens nur gespielt und sollte die Betrachter nur hautnah an das Geschehen und an den Kandidaten heranführen. Mit Plakaten wie diesen versuchten die GRÜNEN, sich einen jugendlichen Touch zu geben und besonders die jüngere Generation anzusprechen. Längst hat auch die Kunst begonnen, sich mit dem Phänomen Selfie und den Vorstellungen des Menschseins unter dem Einfluss digitaler Medien auseinanderzusetzen. So präsentierte das NRW-Forum in Düsseldorf 2015/16 die Ausstellung Ego update, in der 23 Künstler aus aller Welt Positionen aufzeigten, wie Künstler mit dem Massenphänomen Selfie umgehen oder das Selfie als eigenes visuelles Genre nutzen. (II/88) Zu bestaunen war so etwa eine von Erik Kessels konzipierte, aus Papierabzügen von Selfie-Aufnahmen beklebte Skateboard-Rampe, die Besucher zum ‚Surfen‘ einlud.

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Selfies – in Alltag, Politik und Kunst [II/84] Plakat DIE GRÜNEN, Landtagswahlkampf Schleswig-Holstein 6.5.2012; [II/85] Doing Selfie, 2021; [II/86] Supercandy Pop-Up Museum Köln (Pressefoto); [II/87] „Selfie der Macht“, Aufnahme vom 29.9.2021; [II/88] Erik Kessels, Installation My feet auf der Ausstellung Ego ­Update 2015/16 im NRW-Forum in Düsseldorf

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[II/89] BBC sky news 7.7.2005 mit einer Handyaufnahme von Adam Stacey vom Terroranschlag auf die Londoner U-Bahn

(II/85) Seit 2018 existiert in Köln mit dem ‚Supercandy Pop-Up Museum‘ das erste

Selfie-Museum der Republik. Mit über 90.000 Besuchern jährlich ist es nach eigenen Angaben das größte und erfolgreichste Museum dieser Art in Deutschland. Im Selfie-Museum werden Besucher selbst zur Kunst, indem sie sich in 30 Fantasiekulissen selbst inszenieren, dabei fotografieren und ihre Aufnahmen dann in alle Welt versenden können. Solche interaktiven Ausstellungen sind eine Mischung aus großen Photobooth-Stationen, Bühnenbild und Spielplatz, die als Hintergrund für das perfekte Instagram-Bild benutzt werden können. Ähnliche Museen gibt es derweil in Heidelberg, München und Hannover. Wie weit das Selfie in die Kulturlandschaft Bundesrepublik eingedrungen ist, zeigt sich schließlich auch daran, dass seit einigen Jahren auch hier – wie seit 2014 in den USA – jährlich am 21. Juni von der Social Media Community der ‚Internationale Selfie-Tag‘ begangen wird.

Bildjournalismus und Digitalisierung. Der Boom der schnellen Bilder

Die digitale Revolution veränderte nicht nur das private Fotografieren, seit Ende der 1980er Jahre trug sie auch zu einer der größten Veränderungen des Bildjournalismus bei. Einfachere Einsatz- und Bearbeitungstechniken sowie die Fülle der zur Verfügung stehenden Aufnahmen ließ Fotografien zu alltäglichen Komponenten

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bei der Gestaltung von Printmedien werden. Die Flut der gemachten Aufnahmen ermöglichte es den Redakteuren, das richtige Bild auszuwählen, was die Zuständigkeit von den Fotografen hin zu den Redaktionen verschob. Vereinfachte Zugänge zu den Bilddatenbanken der Welt sowie transnationale Produktionszwänge standardisierten und konventionalisierten die Bildproduktion mit der Folge einer stärkeren Globalisierung der Bildersprachen, die nun immer öfter über kulturelle Grenzen hinweg ‚gelesen‘ werden konnten. Ein Zugeständnis an die veränderten Sehgewohnheiten der Zeitgenossen war die Tatsache, dass sowohl Tageszeitungen als auch Magazine dem Seitenlayout eine immer größere Bedeutung beimaßen und Fotografien häufig nur mehr als reine Gestaltungselemente und weniger als journalistische Produkte betrachtet und behandelt wurden. Der Anteil von illustrativen Bildern, oftmals ohne Bezug zum Ereignis, über das berichtet wurde, nahm signifikant zu. Die Kehrseite der Medaille: aufwendige und kostenintensive Bildreportagen, wie sie die Illustrierten der Weimarer Republik und der 1950/60er Jahre geprägt hatten, wurden immer seltener, während ‚Stimmungsbilder‘ ohne analytische Schärfe als reine Lückenfüller zunahmen und mehr und mehr das Erscheinungsbild der Printmedien bestimmten. Vorherrschender Aufnahmewinkel blieb zwar die Augenhöhe, zugleich nahmen aber Aufnahmen aus der Vogelperspektive, u. a. mithilfe von Drohnen, signifikant zu. Journalistisch ließ das Handy völlig neue Formate entstehen, indem es Menschen in Echtzeit an Ereignisse heranführte. Deutlich machten dies erstmals die Anschläge auf die Twin Towers 2001 in New York, der Tsunami von 2004 im südlichen Asien und die Anschläge auf die Londoner U-Bahn 2005. In einer nie zuvor gekannten Schnelligkeit brachten Handy-Fotos die Katastrophen in die Wohnzimmer der Menschen. Mit eigenen Augen sahen auch die Bundesbürger die Türme in Manhattan zusammenbrechen und die Monsterwelle auf die Touristenstrände des Indischen Ozeans zurollen, so dass der Medienwissenschaftler Thomas Knieper von einer „Flut im Wohnzimmer“ sprach. Unscharfe und verwackelte Amateuraufnahmen vermittelten den Schrecken aus erster Hand, lange bevor die ersten Bildreporter vor Ort eintrafen. Erstmals rückte auch das Handyvideo als das wohl unmittelbarste und authentischste Zeugnis eines Geschehens in den Fokus der Öffentlichkeit. „Wenige Stunden nach der Katastrophe waren bereits Amateurbilder im Fernsehen zu sehen“, so Martin Hellmold. „Die großen Nachrichtenorganisationen richteten eigene Internetseiten ein, auf denen das privat aufgenommene Material eingereicht werden konnte.“ 70 Das Thema Tsunami beherrschte über Wochen die Berichterstattung auch auf den bundesdeutschen Bildschirmen, die die Amateuraufnahmen der auf die Küste zurollenden Flutwelle, der im Wasser ums Überleben kämpfenden Menschen, der hilflosen Angehörigen und später der unzähligen Leichen ständig wiederholten. Diese „visuelle Dokumentationswut einer menschlichen Katastrophe“ (Thomas Knieper) traf auf ein völlig unvorbereitetes Fernsehpublikum. Das bestätigten Befragungen der deutschen Bevölkerung drei Wochen nach der Katastrophe. 27,6 Prozent der Befragten stuften die Medienberichterstattung als „nicht mehr länger zu

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ertragen“ ein. 42,8 Prozent gaben an, dass ihnen immer wieder die Bilder der Tsunamiopfer vor dem inneren Auge erschienen, und 65,6 Prozent mussten immer wieder an die Verletzten und Toten denken. Ein Jahr nach dem Tsunami erschütterten die terroristischen Anschläge in der Londoner U-Bahn das Publikum. (II/89) Binnen einer Stunde nach dem ersten Anschlag waren bei der BBC und über diese bei den Fernsehanstalten auch in Deutschland bereits erste Aufnahmen vom Geschehen zu sehen, die Augenzeugen mit ihren Handys gemacht hatten. Bei dem Boom der schnellen Bilder ging es immer seltener um exakte journalistische Kontextualisierung und um genaue Herkunftsnachweise als um die Tatsache, das Publikum mit authentischen Bildern möglichst schnell an ein Ereignis heranzuführen und ihm das Gefühl zu vermitteln, an diesem teilzuhaben. Charakteristisch für den neuen Fotojournalismus wurden darüber hinaus die kontinuierliche Zunahme inszenierter Bilder sowie die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung. Mehr als je zuvor ging es um gewünschte Aufnahmen. Ende der 1990er Jahre machten diese etwa ein Sechstel des gesamten Bildangebots aus, bei großen Agenturen wie AP und Reuters sogar ein Fünftel. Insbesondere in der politischen Berichterstattung wurde kaum mehr etwas dem Zufall überlassen. Bei dpa und AP lag der Anteil inszenierter Aufnahmen etwa von Empfängen, Begrüßungen und Gratulationen bei 38 bzw. 37 Prozent, bei Reuters sogar bei 47 Prozent. Dies entsprach den Beobachtungen von Barbara Klemm, wonach „das Emotionale“ in der politischen Sphäre nicht mehr zu haben sei. Vielmehr gebe es fest arrangierte Pressetermine, wo Politiker nur noch „vormachten“, wie sie gesehen werden wollten.71 Da im digitalen Zeitalter Bilder wesentlich schneller und in immer besserer Qualität zu bearbeiten sind als früher, nahm die Bereitschaft weiter zu, Bilder zu verändern. Während dem geschulten Auge Veränderungen des analogen Bildes etwa durch den Retuschierpinsel erkennbar geblieben waren, bleiben dem Betrachter digitale Änderungen in der Regel unsichtbar. 1993 wies der Deutsche Presserat zwar darauf hin, dass bewusste Irreführungen eines Bildes durch elektronische Bildbearbeitungen wie Entfernen, Hinzufügen, Verschiebungen von Bildkomponenten, Veränderungen von wesentlichen Elementen von Bildern wie etwa von Farben gegen den Pressekodex verstießen, größere Konsequenzen scheint der Appell indes nicht bewirkt zu haben. Unerwünschte Bildelemente wurden auch weiterhin entfernt, Kontraste verstärkt oder Farben hinzugefügt, um Bilder dramatischer erscheinen zu lassen. So veröffentlichte der Bayerische Rundfunk 2005 auf seiner Homepage ein retuschiertes Foto von Angela Merkel anlässlich ihres Besuchs der Bayreuther Wagner-Festspiele, bei dem ein Mitarbeiter einen Schweißfleck auf dem Kleid der Kanzlerin wegretuschiert hatte. Der Deutsche Journalistenverband nahm den Vorfall zum Anlass für die Forderung, dass Pressefotos, die technisch bearbeitet und damit verändert werden, als solche zu kennzeichnen sind. Dass ein- und dasselbe Bild in verschiedenen Versionen veröffentlicht werde, schade „der Glaubwürdigkeit der Medien“.

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Von bewegten Männern und dem Leben der Anderen Das Kino der ‚Berliner Republik‘ Nach der Wiedervereinigung erlebte das Kino einen Boom. Die Besucherzahlen stiegen kontinuierlich an. In den 1.815 bundesdeutschen Spielstätten wurden im Jahr 2001 178 Millionen Eintrittskarten verkauft. Das waren statistisch mehr als zwei Kinobesuche pro Bundesbürger und Jahr. 1995 hatte dieser Wert noch bei 1,52 gelegen. Auch der Marktanteil deutscher Filme an allen in der Bundesrepublik gezeigten Filmen stieg in den 1990er Jahren auf einen Höchstwert von über 20 Prozent an. Kino war in! Sichtbarer Ausdruck des Kinobooms waren die neuen CinemaxX-Kinos quer durch die Republik. Dabei handelte es sich um Multiplex-Großkinos mit mehreren Sälen, großflächigen Leinwänden und einem arenaartigen Aufbau der Säle mit steiler Sitzplatzanordnung sowie etlichen weiteren Dienstleistungsangeboten. Kinos wurden zu „Tempeln der ‚Erlebnisgesellschaft‘“ (Axel Schildt/Detlef Siegfried). Mit Produktionen wie Spy Kids (USA 2001) und Angriff der Klonkrieger (USA 2002), der zweiten Episode der Star Wars-Serie von George Lucas, stieg das Kino in die Phase der Digitalisierung ein. „Die Filmindustrie erfindet das Filmtheater neu“, schrieb der SPIEGEL. „Im Kinosaal der Zukunft kommen Digitalprojektoren ohne Zelluloidstreifen aus, die Bilddateien werden direkt vom Satelliten empfangen. [...] Über hundert Jahre nach Erfindung des Kinos wird das Kino neu erfunden. Die Ära [...] kennt keinen Filmvorführer mehr, keine Filmrollen und keinen Bedarf an teuren Filmkopien. In der zelluloidlosen Kinowelt schießen Satelliten Spielfilme als Computerdateien auf riesige Festplatten in die Kinos. Von dort fließen die Bildinformationen in die Mikroprozessoren der Kinoprojektoren. Die Prozessoren steuern dann grelles Xenon-Licht durch Millionen von mikroskopisch kleinen Spiegeln – und auf der Leinwand formt sich dieses Licht auf magische Weise zum Lächeln von Cameron Diaz und zur ‚Titanic‘ im Abwärtssog.“ 72 Allerdings kam die rechnerbasierte Produktion, Postproduktion, Distribution und Präsentation nur schleppend in Gang, da dies sowohl eine aufwendige Umrüstung der Filmstudios als auch der Abspielstätten erforderlich machte. Die Digitalisierung des Kinos führte zu einer Renaissance von 3D-Filmen. Zu einem der kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten wurde 2009 die US-Produktion Avatar – Aufbruch nach Pandora von James Cameron, die als Technikrevolution des Kinos gefeiert wurde. (II/90) Mit der Literaturverfilmung Die Vermessung der Welt des gleichnamigen Romans von Daniel Kehlmann wagte sich 2012 auch ein Regisseur im deutschsprachigen Raum an die neue Technik. Die digitale Aufnahme- und Wiedergabetechnik beseitigte einige Schwachstellen der bisherigen filmbasierten 3D-Projektionen wie Bildstandsschwankungen, Verschmutzungen und Abnutzungserscheinungen des Filmmaterials. Die neuen Kamera- und Projektionstechnologien ermöglichten zugleich ein deutlich echter wirkendes 3D-Erlebnis. Effekte wie auf die Betrachter zufliegende Gegenstände wurden gezielt eingebaut, um deren räumliche Illusion zu verstärken und sie noch mehr in das Geschehen einzu-

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binden. Allerdings waren 2002 in Deutschland gerade einmal 20 Prozent aller Kinos überhaupt in der Lage, die neuen Filme abzuspielen. Noch immer am Anfang steht das 4D-Erlebniskino, bei dem ein computeranimierter 3D-Film die Betrachter durch Spezialeffekte wie bewegliche Kinositze sowie Wind und Nebel in die vierte Dimension versetzt. Mit der Digitalisierung begann das Kino erstmals auch klassische Fernseheffekte zu nutzen. Opernpremieren in der New Yorker Met oder der Mailänder Scala konnten die Bundesbürger in Echtzeit nun auch im Kino miterleben. Eine weitere Innovation bedeutete auch, dass aktuelle Kino-Hits nun bequem zu Hause mithilfe von Diensten wie Netflix über das Internet gestreamt werden konnten. Inhaltlich wie ästhetisch war das Kino der 1990er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts ein „Sammelsurium, in dem die Strömungen und Tendenzen, die inhaltlichen wie ästhetischen Richtungen und Autorenhaltungen der vorangegangenen Jahrzehnte isoliert nebeneinander standen“.73 Den neuen Traumwelten des amerikanischen Kinos mit seinen Avataren und Androiden stand auf deutscher Seite ein „neues Unterhaltungskino mit Anspruch“ (Axel Schildt/Detlef Siegried) und deutlich stärkerer Gegenwartsorientierung als in den vier Jahrzehnten zuvor gegenüber. In ihm spiegelten sich die Probleme der Wiedervereinigung ebenso wider wie die der multiethnischen Gesellschaft und der gewandelten Geschlechterbeziehungen. Mit Filmen wie (II/91) Der bewegte Mann (1994) von Sönke Wortmann und Der Schuh des Manitu (2001) von Bully Herbig, mit mehr als 12 Millionen Zuschauern der bis dato erfolgreichste deutsche Film nach 1945 überhaupt, wurde das Genre der Beziehungskomödie neu belebt. (II/92) Zum Symbol eines neuen deutschen Kinowunders indes wurde Lola rennt (1998) von Tom Tykwer mit Franka Potente in der Hauptrolle – ein Film, der ähnlich wie ( I/112) Zur Sache, Schätzchen von 1968 das Lebensgefühl der Zeit in Bilder übersetzte und durch seine Originalität und Experimentierfreude den deutschen Film auch für das Ausland wieder interessant machte. Den Alltag der multiethnischen Gegenwart thematisierte u. a. Faith Akin 2002 in Solino über eine italienische Familie, die von Süditalien nach Deutschland kommt, sowie (II/93) 2004 in seinem preisgekrönten Film Gegen die Wand. Der unmittelbaren deutsch-deutschen Vergangenheit nahmen sich Filme wie diese an: Go Trabi Go (1991) von Peter Timm; (II/94) das Roadmovie Wir können auch anders (1993) von Detlev Buck; Das Versprechen (1994) von Margarethe von Trotta; Andreas Dresens Stilles Land (1992); Andreas Dresens Helden wie wir (1999) und Leander Haußmanns Sonnenallee (1999) nach den Erfolgsromanen von Thomas Brussig; Good bye, Lenin! (2003) von Wolfgang Becker, der sich im Format der Komödie wie kein anderer Film mit den Bilder- und Symbolwelten der untergangenen DDR befasste; Gundermann (2018), ebenfalls von Andreas Dresen, über einen DDR-Liedermacher, der für die Stasi arbeitete; und (II/95) Das Leben der Anderen (2005) von Florian Henckel von Donnersmarck, der für diesen Film 2006 mit dem Europäischen Filmpreis und 2007 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet wurde. Wolf Biermann befand in der Welt staunend, überrascht und vorsichtig lobend: „Der politische Sound ist authentisch, der Plot hat mich be-

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Spielfilme der Nachwende-Zeit [II/90] Die Vermessung der Welt, Kinoplakat (2012); [II/91] Der bewegte Mann, Kinoplakat (1994); [II/92] Lola rennt, Kinoplakat (1998); [II/93] Gegen die Wand, Kinoplakat (2004)

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Deutsche Nachkriegsgeschichte im Film [II/94] Wir können auch anders …, Kinoplakat (1993); [II/95] Das Leben der Anderen, Kinoplakat (2005); [II/96] Das Wunder von Bern, Kinoplakat (2003); [II/97] Der Baader Meinhof Komplex, Kinoplakat (2008)

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wegt.  […] Manchmal hat das Kunstwerk mehr dokumentarische Beweiskraft als die Dokumente, deren Wahrheit angezweifelt wird  […] Ich komme aus dem Staunen gar nicht raus …“ 74 (II/96) Explizit mit der Mentalität und den Geschlechterverhältnissen der frühen ‚Bonner Republik‘ setzte sich 2003 Sönke Wortmann in seinem Film Das Wunder von Bern auseinander. Der Film wurde zum Kassenschlager und bereits in den ersten 18 Monaten von mehr als drei Millionen Menschen gesehen. (II/97) Der Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus ging Uli Edel in seinem Film Der Baader Meinhof Komplex nach dem Buch von Stefan Aust im Jahr 2008 auf den Grund. Und Helmut Dietl thematisierte in Schtonk! 1991 den größten publizistischen Skandal der 1980er Jahre: die Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher im Stern mit dem großartigen Götz George in der Hauptrolle. Unter den Dokumentarfilmen war es Harun Farocki, der sich mit den neuen technischen Bilderwelten und den subjektlosen Blicken von Aufklärungsflugzeugen und Raketen der ‚neuen Kriege‘ auseinandersetzte. Sein Interesse galt der Militarisierung des Blicks durch die modernen Waffentechnologien. In seinen Videoessays Auge/Maschine von 2001 bzw. 2003 beschrieb und analysierte er die Macht der modernen Bildtechnologien, wie sie erstmals im Golfkrieg von 1991 Aufsehen erregt hatten und zunehmend auch den zivilen Sektor eroberten. Farocki war neben Godard einer der wenigen Bildforscher unter den Filmemachern, den aus aufklärerischer Perspektive die Maschinisierung der neuen Bildtechnologien und deren Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben interessierte. Eine Klasse für sich waren

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wie schon in den 1980er Jahren die Dokumentarfilme des Ausnahmeregisseurs Wim Wenders, der mit nationalen und internationalen Preisen geradezu überhäuft wurde. Kein anderer deutscher Regisseur war so produktiv und kreativ wie er. Und kein anderer erhielt das Prädikat ‚Filmkunst‘ so oft wie er. Mit seinen Filmen Buena Vista Social Club (1999) über die kubanische Kult-Band, dem 3D-Dokumentarfilm Pina (2011) über das Tanztheater der Pina Bausch sowie dem Film (II/98) Das Salz der Erde (2014) über Leben und Werk des brasilianischen Fotografen und Umweltaktivisten Sebastião Salgado wurden Wenders-Filme gleich drei Mal für den Oscar nominiert. Mit der Eröffnung des Filmmuseums Berlin im Jahr 2000 am Potsdamer Platz, dem 2006 eine Ausstellung über das Fernsehen angegliedert wurde, sowie dem Einzug der Deutschen Film- und Fernsehakademie im selben Haus fand der deutsche Film verspätet die ihm gebührende Anerkennung als Teil der deutschen Kultur. All dies konnte jedoch nicht verbergen, dass der Kinobesuch seit der Jahrtausendwende wieder kontinuierlich sank. Im Vor-Coronajahr 2019 gab es nur mehr 113 Millionen Kinobesuche. Und auch die Zahl der Kinos nahm wieder leicht ab, um bei etwa 1.700 Spielstätten zu stagnieren.

Live, Reality, Doku Das neue Fernsehen Ähnlich wie der Kinobesuch stieg seit den 1990er Jahren auch der tägliche Fernsehkonsum zunächst weiter an. Hatten die Bundesbürger im Jahr der Wiedervereinigung durchschnittlich 147 Minuten oder zweieinhalb Stunden vor dem Fernsehgerät verbracht, so waren es im Jahr 2000 bereits 190 und 2011 sogar 225 Minuten und damit exakt dreidreiviertel Stunden. Gegenüber 1990 bedeutete dies eine Steigerung um 50 Prozent, gegenüber 1964 sogar um 90 Prozent. In den folgenden Jahren stagnierte die Sehdauer bzw. sank leicht ab. Erst während der Coronakrise nahm der Fernsehkonsum wieder zu. Im Jahr 2021 saßen die Bundesbürger im Durchschnitt 213 Minuten vor ihrem Fernsehapparat. Die Attraktivität des Fernsehens ließ vor allem bei Zuschauern unter 25 Jahren deutlich nach. „RTL war gestern, die ARD vorgestern: Eine Generation wendet sich vom Fernsehen ab“, schrieb die ZEIT. „Sie findet ihre neuen Bildschirmhelden im Netz; und die verbreiten ihre Clips für Millionen.“ 75 Das Handelsblatt machte gar eine „ausgesprochene Sinnkrise“ des Fernsehens aus. „Immer mehr Menschen sahen Filme und Nachrichten ausschließlich auf dem Computer, Tablet-PC oder Handy.“ 76 Dass der Fernsehkonsum in den 2010er Jahren nicht ähnlich stark einbrach wie der Kinobesuch lag an einigen Innovationen der Fernsehtechnik. Infolge der Abschaltung der analogen TV-Sender 2021 sowie des Ausbaus digitaler Übertragungstechniken kam es zu einem Verkaufsboom von neuen Fernsehgeräten, deren Bildschirme immer leistungsfähiger waren. 1999 kamen die ersten Flachbildschirme auf den Markt. 2001 folgten die ersten LCD-Geräte, deren Bildschirme immer größer wurden. 2006 wurden auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin die

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ersten High-Definition-(HD-)Geräte präsentiert, die gestochen scharfe, hochauflösende Bilder ermöglichten. 2010 wurden die Fernsehapparate smart, d. h. mit dem Internet verbunden. Die neuesten Geräte besitzen eine Ultra-HD-Technik mit einer noch einmal viermal höheren Auflösung. Als Folge des Siegeszuges der neuen Flachbildfernseher geriet das Wohnzimmer immer mehr zum privaten Kino. Stand 2005 nur in 7 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte ein Flachbildfernseher, waren es fünf Jahre später schon 48 Prozent. 17 Prozent dieser Apparate besaßen eine Bildschirmdiagonale von mehr als 100 cm, wobei es vor allem die unter 50-Jährigen waren, die sich für das ‚Kinoerlebnis‘ im Wohnzimmer entschieden. In vielen Haushalten löste der Flachbildschirm das klassische Gemälde oder den Druck an der Wand ab. Mit der Vergrößerung der Bildfläche und der hochauflösenden HD-Technik sollten die Zuschauer noch intensiver in die televisuellen Bilderwelten involviert und damit an den Bildschirm gebunden werden. Die bisherigen Trennlinien zwischen Fernsehen, Internet und Kino im häuslichen Wohnzimmer begannen zu verschwimmen, so wie sich zunehmend auch die Trennlinien zwischen Wohnzimmer und Küche auflösten. Erst am Anfang steht nach wie vor die Verbreitung von 3D, wodurch künftig auch Filme und Sportveranstaltungen – und irgendwann auch der Krieg – räumlich erlebt werden können. Mit dem Übergang zum digitalen Fernsehen ab Ende der 1990er Jahre kam auch der Einstieg in die Welt der 150 Kanäle. Nachrichten- und Informationssendungen wurden mit digital generierten Grafiken und Logos immer weiter aufgerüstet, analoge Bilder digital nachbearbeitet und aufgepeppt. Virtuelle Studios entstanden, in denen Moderatoren wie am Computerbildschirm von einer Bildsequenz zur anderen switchten. Mithilfe von Google Earth ‚beamten‘ Redaktionen die Zuschauer an jeden Krisenherd des Erdballs. Über das World Wide Web wurden Zusatzangebote und Faktenchecks angeboten. Noch während des sonntäglichen Tatorts ließen sich über Twitter Meinungen anderer Zuschauer einholen. Die über das Internet abrufbaren Mediatheken machten erstmals ein mobiles und individualisiertes Fernsehen möglich: TV on demand. Mit dem Angebot von Streaming-Diensten verlor das klassische lineare Fernsehen immer mehr Zuschauer. Vor allem unter den 14- bis 29-Jährigen wurde Streaming immer beliebter. Rund 67 Prozent von ihnen nutzten wöchentlich StreamingDienste, während nur etwa 23 Prozent der 50- bis 69-Jährigen regelmäßig auf Netflix, Amazon Prime & Co. unterwegs waren. Spitzenreiter der Videodienste wurde die Streaming-Plattform Netflix mit einem Zuschaueranteil von 10,3 Prozent. Auf den weiteren Plätzen folgten die Mediatheken von RTL (10 Prozent), ZDF (9,8 Prozent) und ARD (8,8 Prozent). Digitalisierte Angebote ermöglichten es Zuschauern fortan, audiovisuelle Inhalte zu beliebigen Zeitpunkten auf verschiedenen Endgeräten und auch mobil zu nutzen, sich also vom linearen Programmangebot unabhängig zu machen und ihren Fernsehkonsum nach individuellen Interessen und Alltagsbedingungen auszurichten. Inhaltlich waren für das Fernsehen seit den 1990er Jahren vor allem Live- und neue Reality-Formate sowie eine weitere Entertainisierung der Programmangebote etwa durch Doku-Dramen charakteristisch. Der Siegeszug der Live-Formate erfolg-

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te vor allem bei sportlichen Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, bei politischen und gesellschaftlichen Großereignissen wie royalen Feierlichkeiten und dem jährlichen Eurovision Song Contest, bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Katastrophen. Als Einzelereignis brachen die Trauerfeierlichkeiten für Diana, Princess of Wales, am 6. September 1997, alle Rekorde. Wie schon ihre Hochzeit war auch die Beerdigung von Diana ein globales Medienereignis. Weltweit nahmen 2,5 Milliarden Menschen via Fernsehen Abschied von der Prinzessin. In Deutschland beschäftigten sich allein zehn Sender in Live-Übertragungen und Sondersendungen über 44 Stunden mit den Trauerfeierlichkeiten. In zuvor nie geahntem Ausmaß gerieten auch die Kriege in den Sog der Entertainisierung und des Reality-Prinzips. Zum ersten Krieg, der vollständig nach den Gesetzen der Fernsehunterhaltung bzw. des Hollywood-Films inszeniert wurde und die Realität des Krieges fast vollständig zum Verschwinden brachte, geriet der Golfkrieg von 1991. (II/99) Zur spektakulärsten ‚Reality Show‘ der Mediengeschichte avancierte 2001 der Angriff eines islamistischen Terrorkommandos auf die Twin Towers in New York – eine ‚Show‘, die alle Elemente des neuen Fernsehens vereinte und die Zuschauer direkt in ihren Wohnzimmern und Wohnküchen traf: eine Übertragung in Echtzeit mit gestochen scharfen Aufnahmen aus unterschiedlichsten Perspektiven und einer hohen Dramatik. Erstmals erlebte ein globales Publikum eine Katastrophe live im Fernsehen. Die Fernsehaufnahmen und Fotografien der terroristischen Anschläge bedeuteten in mehrfacher Hinsicht auch den „Beginn einer neuen Epoche des Bildes“ (Michael Diers). [II/99]

[II/99] Beginn des alliierten Angriffs auf Bagdad, CNN-Live, 17.1.1991, 9.01 Uhr (Ortszeit Bagdad 21.01 Uhr)

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Auf den Bildakt einer kleinen Gruppe von islamistischen Tätern reagierte die Großmacht USA mit ihrem ‚War on Terrorism‘, der vor allem ein Kampf der Bilder gegen die Symbolbilder der brennenden Türme war. Wie geplant, begann der IrakKrieg von 2003 für das Fernsehpublikum auch in Deutschland mit einem Feuerwerksspektakel in und über Bagdad in live. Vor allem die erste Phase des Krieges war noch ganz dem klassischen Sauberkeitsdiskurs der Kriegspropaganda verpflichtet und reduzierte den Krieg wie schon 1991 „auf ein ballistisches Schauspiel“ (Karl Prümm). Ergänzt wurden diese Bilder von Impressionen vom Bodenkampf aus der Perspektive der ‚embedded correspondents‘. Beide Perspektiven verliehen dem Krieg einen ausgesprochen ästhetischen und dynamischen Charakter. Zusammen mit den vermeintlichen Live-‚Aufsagern‘ der aus Bagdad berichtenden Korrespondenten vermittelte all dies dem Publikum das Gefühl von Nähe und Teilhabe. Kommentatoren beschrieben den via Fernsehen übertragenen Krieg übereinstimmend als Sportschau, Autorennen oder Fußballspiel, wodurch dem Krieg zumindest visuell weitgehend der Schrecken genommen war. Wie sehr die neue Live-Kriegsberichterstattung auch die Bundesbürger an die Bildschirme zog, spiegelten die Einschaltquoten wider. Als am 17. Januar 1991 der Luftkrieg der Alliierten gegen den Irak begann, lag die durchschnittliche Reichweite in den alten Bundesländern – für die neuen gab es noch keine vergleichbaren Daten – bei 7,8 Millionen Zuschauern. Über den Beginn der NATO-Luftangriffe gegen Serbien am 24. März 1999 während des Kosovo-Krieges informierten sich 9,4 Million Menschen. Am 11. September 2001 waren es dann 9,9 Millionen. Beim Militärschlag gegen Bagdad 2003 stiegen die Zahlen weiter auf 12 Millionen an. Inhaltlich produzierte die Fernsehberichterstattung über die ‚neuen Kriege‘ ein verändertes Bild des Krieges, das mit den Begriffen Beschleunigung, Fiktionalisierung und Entertainisierung beschrieben worden ist und den Menschen das Gefühl vermittelte, dabei zu sein, sich selbst ein Bild zu machen und sich folglich auch ein Urteil bilden zu ­können. Unter den Live-Formaten erfreuten sich vor allem die unzähligen Talkshows großer Beliebtheit. Stand 2022 gab es im deutschen Fernsehen 24 Talkshows zu Themen aus Politik, Kultur, Sport und Gesellschaft. An der Spitze der politischen Talkshows in ARD und ZDF rangierte 2018 die Show des Welterklärers Markus Lanz mit einem Zuschaueranteil von 13,3 Prozent, gefolgt von Anne Will bei der ARD (12,5 Prozent) und Maybrit Illner (12,4 Prozent) im ZDF. Talkshows begleiteten gesellschaftliche Diskurse und trieben diese nicht selten auch an. In einzelnen Fällen begründeten sie Politikerkarrieren. Ohne das TV-Format Talkshow wäre Karl Lauterbach vermutlich nicht Bundesminister geworden. Für den Blogger und Autor Sascha Lobo war und ist das Fernsehen das „Live-Medium schlechthin“. Es sei die „Referenz der Gegenwart für Weltgeschehen und Prominenz“. Seine nach wie vor bestehende, wenn auch nachlassende Faszination gründe auf dem Wunsch der Menschen, teilzuhaben, bzw. der Angst, etwas zu verpassen. Gerade beim Dabeisein entfalte es „eine eigene, kaum vom Netz kaperbare Kraft“. Damit erfülle das Fernsehen eine soziale Funktion. Große Unglücke vor dem Fernseher zusammen zu betrachten, sei „ein gemeinschaftliches Schutz- und Bewältigungsinstrument“. In Krisensituationen vermittle es das Gefühl, nicht allein zu sein.77

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„Infektionsbild“ 9/11: Massenmord im Live-Format [II/100]

[II/100] Standbild RTL News, 11.9.2001

Ähnlich wie das Attentat auf John F. Kennedy und die Mondlandung war der Angriff auf das World Trade Center (WTC) ein singulärer Medienevent. Nie zuvor in der Geschichte wurde ein Ereignis so häufig und so zeitnah in Bildern festgehalten wie am 11. September 2001. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland geriet die Berichterstattung über die Ereignisse zur längsten Nachrichtensendung der Fernsehgeschichte. Dass der terroristische Akt zum globalen Medienereignis geriet, wäre ohne die berichtenden Bildmedien nicht möglich gewesen. Die öffentlich-rechtlichen wie die privaten Fernsehsender berichteten, nachdem das erste Flugzeug der American Airlines in den Nordturm eingeschlagen war, live vom Geschehen. (II/100) RTL war der erste Sender, der das laufende Programm unterbrach. Während Anchorman Peter Kloeppel noch den ersten Einschlag kommentierte, sahen die Zuschauer an den Bildschirmen, wie

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im CNN-Live-Bild mit dem Insert ‚Breaking News‘ hinter Kloeppel die zweite Maschine in den Südturm raste und explodierte. Gleichwohl waren die Fernsehbilder vom Geschehen keine einfachen Spiegelungen. Vielmehr entstand mithilfe von fernseh- und filmtypischen Elementen der Berichterstattung eine eigene mediale Realität, die als „WTC Crash Reality“ (Klaus Theweleit) bezeichnet worden ist. Zu dieser zählten die Ästhetisierung des Anschlags, die Bedeutungsaufladung und Dramatisierung des Geschehens, die Wiederholung der Bilder, die Transformation der Katastrophe in vertraute Narrative sowie die Selbstzensur beim Umgang mit den Opfern. Eine Bedeutungsaufladung der Ereignisse erfolgte vor allem durch die Echtzeit-Bilder des Angriffs, die mit Inserts wie ‚live‘ und ‚Breaking News‘ als solche gekennzeichnet aus der Fülle der täglichen Meldungen herausragten. Andere Methoden, die Anschläge mit einer

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besonderen Bedeutung zu versehen, waren die Unterbrechung laufender Sendungen, die Ausstrahlung von Sondersendungen, die Einholung von Expertenstatements, die Abschaltung von Werbeblöcken usf. Auch mit Aufmerksamkeit erheischenden sprachlichen Etikettierungen wie ‚Riesenkatastrophe‘, ‚Terror gegen Amerika‘, ‚geplanter Massenmord‘ und ‚Krieg‘ wurden die Angriffe aus der Flut der sonstigen Kata­ strophenmeldungen herausgehoben. Ohne zu wissen, wer tatsächlich die Angreifer waren, interpretierte RTL noch am selben Tag die Einschläge als ‚Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten von Amerika‘. Diese Deutung wiederum nahm Bundeskanzler Gerhard Schröder auf bzw. führte sie noch weiter, als er von einer „Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“ sprach. Das sprachlich wie bildlich vorschnell eingeführte Deutungsmuster ‚Krieg‘ wiederum gab die weitere Eskalationsautomatik vor. Das Bild der kriegerischen Attacke suggerierte geradezu zwangsläufig die Notwendigkeit von militärischen Gegenmaßnahmen. In den Abendsendungen wurde diese Deutung mit Bildern von Kriegsschiffen und Militärflugzeugen unterfüttert. Mit den Mitteln der Bildregie, die Genrekonventionen des Action-Thrillers mit denen des Katastrophenfilms verband, erfuhr das Geschehen eine Dramatisierung. Von der Perspektive der Totalen der Beobachtungsflugzeuge und der benachbarten Wolkenkratzer wechselten die Einstellungen über die Darstellung der Explosion in der Halbtotalen hin zum Einsatz von Handkameras in den Häuserschluchten von Manhattan, wodurch die subjektive Perspektive der Betroffenen in den Blick rückte. Auf diese Weise geriet der Terrorakt auch multiperspektivisch aus der Sicht der Opfer, der Feuerwehrleute und der Einwohner Manhattans in den Blick. Aus der Fülle der Aufnahmen ragte eine Sequenz bzw. (II/101) ein Standbild heraus, das CNN weltweit vertrieb: der Anflug von United-Airlines-Flug 175 in leichter Linkskur-

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ve auf den zweiten Tower. Es war ein narratives Bild, da es Fragen nach dem Vorher und dem Nachher provozierte und damit die Fantasie stimulierte. Zugleich war es ein ‚schönes‘ Bild, indem es durch Vergrößerung die Farben verdichtete. Kunsthistorisch gesehen, hatten die Terroristen ein perfektes Kunstwerk geschaffen, das alles in der bildenden Kunst in den Schatten stellte. Künstler und Schriftsteller vermochten ihre Bewunderung kaum zu zügeln. Am umstrittensten wurde die Behauptung des Komponisten Karlheinz Stockhausen, 9/11 sei das größte Kunstwerk aller Zeiten. Für den Maler Anselm Kiefer hatte Osama bin Laden „das perfekteste Bild geschaffen, das wir seit den Schritten des ersten Mannes auf dem Mond gesehen haben“.78 Der Schriftsteller Walter Kempowski notierte: „Dieses Attentat trug geniale Züge. [….] Was für eine Aufnahme.“79 Der Kulturwissenschaftler Boris Groys sah in Bin Laden einen „Videokünstler“. Es sei von Anfang an um eine „neue Video- und Medienkunst auf der Ebene der Machtausübung und eines strategischen Spiels“ gegangen.80 Räumlich und zeitlich traten die Zuschauer mit 9/11 in eine neue Dimension des Erlebens ein. Wie nie zuvor drangen die Bilder in ihren Alltag ein, (II/102) ob im heimischen Sessel oder auf dem Weg zur und von der Arbeit. Sie drängten sich geradezu auf, da man ihnen nicht entrinnen konnte. Der Ort des Geschehens war so nicht nur New York, sondern der Bildschirm zu Hause. Die Fernsehzuschauer in aller Welt waren in ihren vertrauten Lebenszusammenhängen getroffen. Sie waren mental und körperlich in das Geschehen eingebunden. Hatten Gemälde, Fotografie und Film bislang versucht, Menschen in ein Bildereignis zu involvieren, so trat mit dem Anschlag von New York das Bild aus seinem Rahmen heraus, durchschlug den Schutzschild des Bildschirms und wurde Realität. Hatten der Film und das Fernsehen in Katastrophensituationen bisher eher ‚Immunisierungsbilder‘ geliefert, so hatten die Anschläge von New York die bislang

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[II/101] Anflug von United-Airlines-Flug 175 auf den Südturm des World Trade Centers, New York, 11.9.2001, 9.03 Uhr, NBC-Fernsehbild; [II/102] der Terroranschlag auf einem Großbildschirm im Hauptbahnhof Frankfurt a. M., 11.9.2001, 17.01 Uhr; [II/103] Gerhard Richter, September, Öl auf Leinwand (2005)

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schützenden Trennungslinien zwischen Leben, Fernsehen und Kino aufgehoben. Klaus Theweleit hat die Bilder von 9/11 daher als „Infektionsbilder“ bezeichnet, die den Individual- wie den Gemeinschaftskörper einer Nation gleichermaßen infizierten. Der Schock der Bilder saß tief. Die konkreten Folgen: Touristen änderten ihre Reisepläne, Fluggesellschaften gingen in Konkurs, Börsenkurse stürzten ab. Das Gefühl, infiziert zu worden zu sein, ging weit über die USA hinaus. Walter Kempowski notierte am 12. September in sein Tagebuch: „Den ganzen Tag benommen um den Fernseher herumgeschlichen. [...] Ich kann nicht Zeitung lesen, nicht schreiben, nichts …“81 Dass der Anschlag in unterschiedlichsten Medien – im Science-Fiction-Film wie in der Werbung, so etwa in einem Werbespot von Telegate zwei Tage vor dem Anschlag – antizipiert war, also in der Luft lag, sei nur am Rande angemerkt. Umso mehr überraschte es, als die Fiktion Realität wurde und die Menschen nicht mehr wussten, auf welcher Realitätsebene sie agierten, ob es sich um eine gut gemachte Computersimulation handelte, wie Wim Wenders vermutete, um eine Reality Show des Bundesnachrichtendiens-

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tes zur Unterstreichung der Terrorgefahr, wie etliche Journalisten glaubten, oder um einen Science-Fiction-Film bzw. eine absurde TVInszenierung, wie der Fotograf und Sammler F. C. Gundlach und der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi annahmen. Zentral an dem Attentat war der Bildakt, der die Augen des globalen Publikums erreichte. Hatten die Terroristen der ‚Roten Armee Fraktion‘ ( I/265) den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer zwar vor der Kamera gedemütigt, den Akt seiner Ermordung indes den Kameras vorenthalten, ging es den Attentätern um Mohammed Atta primär um das Bild des mörderischen Aktes selbst, mit dem die USA und die westliche Welt getroffen werden sollten. Die Bilder waren somit die eigentliche Tat. Das Attentat von 9/11 fand zahlreiche Bearbeitungen in der bildenden Kunst. ( II/83; II/103) Eine der bekanntesten Arbeiten wurde das Unschärfe-Gemälde von Gerhard Richter mit dem Titel September aus dem Jahr 2005, das sich heute im Besitz des Museum of Modern Art (MoMA) in New York befindet.

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Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021)

Doku. Der Siegeszug von Doku-Dramen und Doku-Soaps

Seit den 1980er Jahren erfreuten sich Doku-Dramen beim Fernsehpublikum als neue Form des Geschichtsfernsehens zunehmender Beliebtheit. Sie lösten die großen Fernsehfilme und Dokumentarfilme zu historischen Themen ab, die es bisher gegeben hatte. Beim Doku-Drama werden historische Ereignisse von Schauspielern vermeintlich detailgetreu reproduziert und durch dokumentarische Elemente wie Zeitzeugenberichte und historische Fotografien bzw. Filmsequenzen ergänzt. Im Vergleich zu Spielfilmen kommen Doku-Dramen daher authentischer daher; im Vergleich zu Dokumentarfilmen lassen sie den Autoren größere Spielräume für Deutungen und subjektive Einstellungen der Protagonisten. Diese Emotionalisierung von Geschichtsthemen entspricht dem allgemeinen Trend hin zur ‚Erregungsökonomie‘, wonach das Publikum weniger historisch genau informiert als vielmehr emotional gepackt sein möchte. Um die Unterhaltungserwartung der Zuschauer und den geschichtswissenschaftlichen Anspruch in Einklang zu bringen, bedienen sich etliche Doku-Dramen der optischen Angleichung von Spielfilmmaterial an authentische Filmaufnahmen in Schwarz-Weiß bzw. des unvermittelten Übergangs von historischen Aufnahmen in Spielfilmhandlungen. Bekannte Doku-Dramen zur jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte mit hohen Einschaltquoten waren etwa Stauffenberg (ARD 2004), Dresden (ZDF 2006), Contergan (ARD 2008), Mogadischu (ARD 2009), Hindenburg (RTL 2011), der Mehrteiler Unsere Väter, unsere Mütter (ZDF 2013), Gladbeck (ARD 2019) sowie die vielfach ausgezeichneten Mehrteiler Todesspiel (1997), Die Manns  – ein Jahrhundertroman (2001) sowie Speer und Er (2005) von Heinrich Breloer und Horst Königstein. Inhaltlich und ästhetisch waren die wenigsten Doku-Dramen innovativ. Eine Ausnahme machte 2016 die mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Verfilmung des Theaterstücks (II/104) Terror – Ihr Urteil von Ferdinand von Schirach – eine Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SRF und bislang größtes LiveExperiment im deutschsprachigen Fernsehen. Der Film forderte die Zuschauer auf, darüber abzustimmen, ob der Angeklagte – ein Pilot der Bundeswehr, der zum Schutz von 70.000 Menschen ein von Terroristen entführtes Flugzeug mit 164 Menschen an Bord hatte abschießen lassen – schuldig im Sinne der Anklage oder unschuldig ist. Die Bilder und die Ästhetik solcher Dokus hatten, anders als sie suggerierten, nur selten etwas mit der historischen Realität zu tun. Zum Teil entsprangen sie wie Der Untergang von 2004 über die letzten Tage der Nazi-Elite im ‚Führerbunker‘ und das Ende Hitlers der Fantasie der Regisseure und Produzenten, zum Teil waren sie wie (II/105) der ZDF-Zweiteiler Die Flucht über das Schicksal der vor der Roten Armee fliehenden Bevölkerung Ostdeutschlands 1:1-Nachinszenierungen der NS-Kriegswochenschau, womit sie Deutungen und Bilder der NS-Zeit bis in die Gegenwart verlängerten. Zu eigenständigen Bildern fanden die meisten dieser Produktionen nicht. Nachdem in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung der Versuch gemacht worden war, die DDR-Vergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis der Bundesbürger zu tilgen, breitete sich ab etwa 1995 eine stetig zunehmende DDR-Nost-

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algie  – auch Ostalgie genannt  – aus. DEFA-Filme und Showsendungen des DDRFernsehens wurden wiederholt bzw. neu aufgelegt. Ihren Höhepunkt erlebte die Ostalgie-Welle 2003 mit dem Spielfilm Good bye, Lenin! und der Ausstrahlung der Showsendung Ein Kessel DDR durch den Mitteldeutschen Rundfunk sowie der Ostalgie-Show durch das ZDF. (II/106) Auch die Privatsender RTL und SAT.1 beteiligten sich an der oft sentimental-kitschigen Verklärung der untergegangenen DDR. In den Sog der allgemeinen Entertainisierung des Fernsehprogramms geriet außerdem das Geschichtsfernsehen, dem die Digitalisierung ebenfalls neue Möglichkeiten eröffnete. Mit der digitalen Revolution zog ähnlich wie im Printbereich verstärkt Farbe in historische Dokumentationen ein. Filmaufnahmen in SchwarzWeiß ließen sich einfacher als je zuvor nachkolorieren. (II/107) Den Anfang machte 2010 die ARD mit der dreiteiligen Dokumentation Der Krieg. Im Erscheinungsbild der 1930/40er Jahre hatte man historische Sequenzen in Frankreich nachkolorieren lassen. Lediglich Massaker blieben von der Kolorierung ausgenommen. Völlig zu Recht kritisierte dies der Filmemacher Michael Kloft als „Irreführung der Zuschauer“. Zwei Jahre später folgte das ZDF mit dem ebenfalls nachkoloriertes SchwarzWeiß-Material verwendenden Dreiteiler Weltenbrand über den Ersten Weltkrieg. Begründet wurde dies mit dem angeblichen Zeitmaschinen-Effekt der farbigen Bilder, oder wie es ZDF-History-Chef Guido Knopp formulierte: „In HD-Qualität erscheint die fern wirkende Vergangenheit gar nicht mehr so unzugänglich, sondern ganz nah: Die Kolorierung erleichtert dem heutigen Zuschauer, die Distanz zu überwinden [...]“82 2014 setzte die ARD noch einen drauf, indem sie den Zuschauern den Ersten Weltkrieg ebenfalls in Farbe und 3D offerierte. Es waren vor allem Live-Sendungen, die den Zuschauern das Gefühl vermittelten, unmittelbar bei den großen und kleinen Ereignissen des Weltgeschehens am heimischen Bildschirm dabei zu sein. Durch Mikrokameras etwa auf den Helmen von Mountainbikern, von Formel-1-Piloten oder von Kriegsreportern erhielten diese das Gefühl, selbst an den Wettkämpfen bzw. den ‚neuen Kriegen‘ des 21. Jahrhunderts teilzunehmen: der ‚embedded Zuschauer‘. Eine besondere Form des Reality-Fernsehens waren und sind Doku-Soaps, von denen es Ende des Jahres 2009 mehr als 60 Sendungen pro Woche gab. Diese begleiteten etwa Familien in außergewöhnlichen Situationen wie einem Umzug ins Ausland. Sie widmeten sich dem Erziehungsalltag von Eltern, zeigten Menschen bei der Renovierung ihrer vier Wände, beim Hausbau oder der Anlage eines neuen Gartens. (II/110) Zu Quotenrennern wurden Sendungen wie die Styling-Show Shopping Queen mit dem Modedesigner Guido Maria Kretschmer, die erstmals 2012 bei VOX ausgestrahlt wurde. Neuester Hit sind sogenannte Dating-Shows wie First Dates oder (II/111) Prince Charming bzw. Princess Charming für schwule bzw. lesbische Akteure. Alle diese Sendungen setzen auf voyeuristische Bedürfnisse der Zuschauer sowie auf die Lust der handelnden Akteure, sich vor den Augen der Fernsehkameras zu exhibitionieren. Von diesen Sendungen unterschieden sich sogenannte Scripted-Reality-Sendungen wie die Gerichtsshow Richterin Barbara Salesch bei SAT.1 oder Sterne von Berlin über junge Polizisten im Einsatz bei RTL II. Bei diesen wurde eine Reality-Show

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Geschichts-TV – inszeniert und in Farbe [II/104] Szenenbild aus der ARD-Produktion Terror (2016); [II/105] Standbild des Flüchtlingstrecks aus dem ARD-Zweiteiler Die Flucht (2007), der eine Sequenz aus der Deutschen Wochenschau vom 16. 3. 1945 adaptiert; [II/106] Die DDR-Show mit Kati Witt und Oliver Geißen, Gast H. D. Genscher (o. D.); [II/107] Standbild aus dem ARD-Film Der Krieg (2010) mit einem nachkolorierten Bild eines ruhenden deutschen Soldaten

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Doku-Soaps [II/108] Big Brother (RTL II, 1999 ff.); [II/109] Logo Big Brother; [II/110] Shopping Queen (VOX, 2017; [II/111] Prince Charming (RTL+, 2019 ff.) [II/110]

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vorgetäuscht, tatsächlich jedoch werden die Szenen von Schauspielern  – zumeist Laiendarstellern – nach Regieanweisungen gespielt. Mit einer Serie wie Abenteuer 1900  – Leben im Gutshaus glaubte sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen 2004 dieser Entwicklung anschließen zu müssen. Die 16-teilige Serie versuchte, möglichst realitätsnah in einer Art Zeitreise das Leben auf einem Gutshof von 1900 nachzustellen. Begonnen hatte diese Entwicklung mit Sendungen wie (II/108) Big Brother, die seit 1999/2000 bisherige Grenzen der Privatheit niederrissen und die Zonen der Sichtbarkeit erneut ausweiteten. Mit der Ausstrahlung von Big Brother als neuer Form des Reality-TV durch RTL II avancierte die bis dato negativ konnotierte Überwachung zum allgemeinen Spektakel. „Der Blick des TV-Zuschauers wird zu einem Blick der Macht“, konstatierte Peter Weibel. „Der TV-Zuschauer ähnelt dem Wärter im panoptischen Gefängnis. Er regelt, wer in der Show bleibt und wer nicht. Der Betrachter vor dem Bildschirm hat das Vergnügen des kontrollierenden Blicks.“83 Die Fernsehkameras und über diese die Zuschauer wurden zu allsehenden Augen. (II/109) Nicht zufällig waren Name, Logo und Setting angelehnt an George Orwells dystopischen Science-Fiction-Roman 1984. Das einst göttliche Auge geriet zum Logo einer Unterhaltungsshow. Die Überwachung trat aus der Fiktionalität heraus in die Realität. Wie die Televisoren in Orwells Roman waren es nun Videokameras, die die in einem Wohncontainer von der Außenwelt abgeschirmten Spieler in ihrem Alltag – ob beim Duschen, beim Zickenkrieg, beim Brustwarzenpiercing, beim Schlafen oder beim An- und Auskleiden – beobachteten. In den fast lückenlos überwachten Containern hatte die Privatsphäre aufgehört zu existieren. Gegen ein stattliches Preisgeld zeigten sich Menschen jeden Alters und jeder Profession bereit, vor den Augen der Öffentlichkeit sämtliche Hüllen fallen zu lassen. In Serien wie Big Brother oder Princess bzw. Prince Charming artikulierte sich eine neue Lust, sich auf dem Bildschirm elektronisch beobachten zu lassen – eine „Orwellness“, wie sie unter Bezugnahme auf Orwells Roman 1984 Bachmann-Preisträger Peter Glaser genannt hatte.84 Die freiwillige Aufgabe der Privatheit ‚von unten‘ war gewissermaßen das Pendant zur staatlichen Überwachung ‚von oben‘. Die andere Seite der Medaille war und ist seit Beginn der 2010er Jahre eine neue Prüderie beim visuellen Umgang mit Nacktheit und Sexualität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Noch vor dem Einsetzen der MeToo-Debatte schrieb Eckard Fuhr 2016: „Wir leben in einem Zeitalter der Prüderie und lärmenden Verklemmtheit. Die Konventionen, mit denen Sexualität heute reglementiert wird, sind viel strenger als noch vor zwanzig Jahren. Eigentlich nähern wir uns, was das Niveau sexueller Freizügigkeit angeht, den Fünfzigern, in denen oben gebetet und unten gefummelt wurde.  […] Verklemmtheit feiert fröhliche Urständ. Im Fernsehen kann man Sexszenen mit der Lupe suchen – und findet sie trotzdem nicht. Der Sex wird im Internet verklappt.“85

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Public Viewing und YouTube Neue Formen des Schauens und Zeigens Auf der Basis der Digitalrevolution bildeten sich neue intermediale Formen des Zeigens und des Schauens heraus, die zu Bestandteilen einer partizipatorischen Medienkultur des beginnenden 21. Jahrhunderts wurden. Hierzu zählten zunächst das Public Viewing und die Großbildprojektion. Der öffentliche Gemeinschaftsevent des Public Viewings verlieh übertragenen Ereignissen und ihren Bildern eine zusätzliche Bedeutung. Er verschaffte diesen einen Rezeptionsrahmen, bei dem die visuelle Wahrnehmung den Bedingungen des Massenverhaltens unterstellt war. ( II/102) Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 verfolgten Menschen in aller Welt erstmals gemeinsam auf Großbildschirmen im öffentlichen Raum. Auf riesigen LED-Wänden erlebten Millionen Menschen in den folgenden Jahren Fußballweltmeisterschaften und Rockkonzerte, aber auch Klassik-Events wie die Last Night of the Proms. Beim Public Viewing bildeten sich sporadisch neue Erlebnisgemeinschaften wie die ‚Getroffenengemeinschaften‘ des 11. September oder ( II/28) die Fahnen schwenkenden ‚Jubelgemeinschaften‘ der Fußball-Weltmeisterschaften heraus. Politische Großveranstaltungen wie Parteitage entdeckten die digitale Großbildprojektion, bei der die Blicke weg vom realen Redner auf dessen mediales Abbild gelenkt wurden, wodurch dieser oft größer, farbiger und bewegter als im Original erschien. Wie einst der Lautsprecher die Stimme eines Redners einem Massenpublikum vermittelt hatte, kommunizierte jetzt der Großbildschirm dessen Bild auch dem Zuschauer in der letzten Reihe. ( II/48) Wie eine überdimensionale Göttin überstrahlte Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag von 2003 vom digitalen Großbild aus ihre Vorstandskollegen – welch ein Kontrast zu dem verhuschten SchwarzWeiß-Foto von der Vereidigung von Elisabeth Schwarzhaupt 1961 als erster Ministerin in einem (west-)deutschen Parlament ( I/210). Mit der 2005 gegründeten Online-Plattform YouTube etablierte sich in kürzester Zeit eine neue Bilder- und Kommunikationswelt neben den klassischen Medien Film und Fernsehen, die zwar Elemente von beiden aufgriff, diese aber innovativ weiterentwickelte. 2006 von Google gekauft und seitdem mit großem Erfolg von dem kalifornischen Unternehmen betrieben, markierte YouTube eine Zäsur in der Geschichte der Medienlandschaft. Nach dem Motto ‚Broadcast Yourself ‘ wurden Zuschauer nun selbst zu Bildproduzenten. Ohne professionelle Erfahrungen einzubringen, konnten diese nun kostenlos ihre eigenen Videoclips hochladen und sie dem globalen Publikum zur Betrachtung und Kommentierung offerieren. Auf diese Weise entstand binnen weniger Jahre ein gigantisches digitales Videoarchiv, das neben privaten Bildsequenzen professionell hergestellte Clips sowie Mitschnitte aus Film und Fernsehen der unterschiedlichsten Art und Qualität sowie vor allem Musikvideos enthält. Allein in Deutschland verfügte die Online-Plattform 2021 über knapp 50 Millionen Nutzer, die deren Dienste mindestens einmal im Monat aufsuchten, sowie über rund sechs Millionen User, die eigene Inhalte online stellten. Weltweit kamen 2019 pro Minute über 500 Stunden Videomaterial hinzu. Das waren 30.000 Stunden pro Stunde und 720.000 Stunden pro Tag.

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Für das Fernsehen bedeutete YouTube eine massive Konkurrenz, und dies vor allem im Zuschauersegment der 14- bis 25-Jährigen. Zunächst löste YouTube fast vollständig das noch zu Beginn des neuen Jahrtausends boomende Musikfernsehen ab, das bis dahin fast exklusiv für die globale Verbreitung der aktuellen Popkultur zuständig gewesen war. Eigene Talent-Awards und YouTube-Hitparaden entstanden, die unmittelbar heruntergeladen oder angeklickt werden konnten. Schminkund Sex-Tutorials feierten Zuschauerrekorde, in denen die Betreiber vor laufender Kamera die letzten Schminktipps gaben oder aus ihrem Sexualleben berichteten. Comedy-Videos boomten. Bestatterin Barbara aus Berlin etwa lieferte Einblicke in ihren Arbeitsalltag. Online-Stars wie Pamela Reif, Bibi und Julian, Julien Bam & Co. und Dagi Bee gaben Fitness- und Styling-Tipps, beteiligten die User an ihrem Alltag, stellten die neuesten Clips oder Modetrends vor, oft lange bevor diese die klassischen Magazine des Fernsehens erreichten. Mit den massenhaften Sichtbarkeitspraktiken in den sozialen Netzwerken sahen Beobachter wie der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung das „Ende der Privatsphäre“ (Peter Schaar) erreicht. Dabei konnte er sich auf die Äußerung von Facebook-Gründer Zuckerberg beziehen, der 2010 selbst das Ende des Zeitalters der Privatsphäre verkündet hatte. Anders als die staatlichen Versuche vergangener Zeiten, den Schutzbereich des Privaten aufzusprengen, wurde dieser seit Beginn des Jahrtausends von den Usern selbst zur Disposition gestellt. „Es gibt einen alltäglichen Web 2.0-Narzissmus“, schrieb SZ-Journalist Heribert Prantl. „Er ist kein Unterschichtenphänomen, wie es die Krawallsendungen der Privatsender sind. Das Internet ist ein Entblößungsmedium auch der jungen gehobenen Mittelschichten geworden, die Schamschwelle ist schnell weggeklickt; auf Familienhomepages wird veröffentlicht, was früher im Fotoalbum klebte. In den sogenannten Sozialen Netzwerken wie MySpace und Facebook, StudiVZ und SchülerVZ stehen persönliche Steckbriefe, dort schreiben Nutzer auf, was sie lieben und hassen, dort klagen sie lustvoll ihr Leid und offenbaren ihre politischen Einstellungen. Aus Orwell wird Orwellness. Aus der Datenaskese von einst, die das Volkszählungsurteil und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hervorgebracht hat, ist eine Datenekstase geworden, eine Selbstverschleuderung aller nur denkbaren Persönlichkeitsdetails in Wort und Bild. Was der Staat selbst nach dem 11. September 2001 nicht zu fragen und zu eruieren wagte – im Internet steht es im Schaufenster. Eine staatliche Rasterfahndung in den Sozialen Netzwerken ist womöglich schon jetzt viel erfolgversprechender als eine in den Dateien der Behörden.“ 86 Die Frankfurter Rundschau brachte es auf den Punkt: „Gegen Facebook war Stasi nur ein Kinderspiel“.87 Bis zu den Enthüllungen im Zusammenhang der NSA-Affäre gingen die Nutzer der Online-Plattformen und sozialen Netzwerke in ihrer großen Mehrheit davon aus, dass ihre geposteten Informationen und Bilder geschützt waren und kommerziellen Konzernen oder staatlichen Einrichtungen nicht zur Verfügung standen. Die Affäre indes machte deutlich, dass staatliche Geheimdienste und private Konzerne bei der Beschaffung von Bürgerdaten weltweit längst kooperierten und die im Netz abgelegten Daten für ihre Zwecke nutzten.

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[II/112] Standbild von ‚Rezo‘ auf YouTube (2021)

Mit YouTube und Facebook entstand davon weitgehend unbeeindruckt eine neue digitale Parallelwelt, in der sich vor allem Jüngere tummelten. „Es ist die stille Ankündigung eines grundlegenden Umbruchs für die Fernsehindustrie“, kommentierte die ZEIT.88 Kaum jemand, der älter als 25 Jahre ist, vermute auf YouTube ernst zu nehmende, durchdachte und professionelle Beiträge. Genau dies mache YouTube „zum meistunterschätzten Fernsehphänomen dieser Zeit“. Während des Bundestagswahlkampfes 2021 wurde der YouTuber ‚Rezo‘ mit seinen Clips zur „Zerstörung der CDU“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Wie in den Jahren zuvor setzte er sich auch in diesem Jahr mit 631.000 Abonnenten wieder an die Spitze der deutschen YouTube-Charts. (II/112) Sein Video zum Thema „Inkompetenz: CDU Why??“ wurde sechs Millionen Mal abgerufen und 50.000mal kommentiert. Die Faszination der neuen Online-Bilderwelten gründete sich vor allem auf deren Vielfältigkeit, Unkonventionalität und Originalität. Schnelle Schnitte, grelle Farben, verwackelte Kameraperspektiven, Improvisation statt Perfektion, visuelle Lebensweltbezüge, das kalkulierte Übertreten von Zeigbarkeitsregeln, vor allem aber die Möglichkeit, jederzeit sein eigener Produzent zu sein und sich durch all dies sichtbar von den etablierten Bildmedien der Erwachsenenkultur zu unterscheiden, hat YouTube zu einem ernsthaften Konkurrenten des klassischen Fernsehens wie insgesamt der konventionellen Medienkultur werden lassen, worauf diese entsprechend reagierten. Längst betreibt nun auch die Tagesschau-Redaktion einen eigenen YouTube-Nachrichtenkanal und haben auch Parteien wie CDU und SPD YouTube entdeckt. Selbst die AfD betreibt einen eigenen YouTube-Kanal, um insbesondere jüngere Wähler anzusprechen.

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Allgegenwärtige Augen Auf dem Weg in die panoptische Gesellschaft Mit der Einführung der neuen digitalen Technologien kündigten sich auch in Deutschland panoptische Verhältnisse an, wobei die Entwicklung dennoch hinter der in anderen Ländern wie den USA, England und insbesondere China zurückblieb. Einen kräftigen Schub in Richtung einer allgegenwärtigen Überwachung brachten die Ereignisse vom 11. September 2001. Ganzkörperscanner und biometrische Prüfungen ergänzen seitdem auf Flughäfen zunehmend Passkontrollen. Fokussierten Überwachungsmaßnahmen bislang vor allem auf den Bereich der Delinquenz, auf reale und/oder potenzielle Straftäter sowie Gruppen am Rande der Gesellschaft, so wird seit 9/11 der Alltag aller Bürger zunehmend durch elektronische Signale und digitale Technologien kontrolliert und transparent gemacht. Zum Teil leisteten die Bürger hierzu, wie wir sahen, in sozialen Netzwerken und Fernsehsendungen freiwillig ihren Beitrag. Statt präventiv-punktueller Überwachung an Kriminalitätsschwerpunkten geriet seit den 1990er Jahren zunehmend der öffentlich-urbane Raum in toto zum Gegenstand optischer Überwachungspraktiken. Im Jahr 2000 waren in München bereits mehr als 1.000 Kameras der Polizei, der Stadtwerke und des Einzelhandels zur Einsatzzentrale der Stadt aufgeschaltet, was eine weitgehend flächendeckende Überwachung der Innenstadt ermöglichte. Für Hamburg wurden für das Jahresende 2012 ausschließlich der Überwachungsgeräte der Verkehrslenkung 2.785 Kameras gezählt, darunter etliche ohne Rechtsgrundlage und sichtbare Kennzeichnung. Den bundesdeutschen Spitzenwert erreichte Bayern mit 17.000 digitalen Kameras auf öffentlichen Plätzen. Europäischer Spitzenreiter in Sachen Videoüberwachung war jedoch weiterhin Großbritannien, wo es zum Jahresbeginn 2011 bereits 1,85 Millionen Überwachungskameras gab, die meisten davon indoor und privat betrieben. Die Überwachungsmetropole in Deutschland war und blieb Berlin. In der Bundeshauptstadt überwachten 2019 rund 40.000 Kameras den öffentlichen Raum – das waren etwa 11,2 Kameras pro 1.000 Einwohner. Damit lag die Bundeshauptstadt auf Platz 2 im Ranking der bestüberwachten Städte Europas; weltweit rangierte Berlin auf Platz 19. Im Vergleich zu London ist Berlin indes noch zurückhaltend bei der Überwachung des öffentlichen Raumes. An der Themse verfolgten zur gleichen Zeit rund 630.000 Kameras, was die 9,6 Millionen Einwohner trieben – das waren 68,4 Kameras auf 1.000 Einwohner. Die bestüberwachten Städte der Welt lagen allesamt in China. Auf Platz 1 rangierte die Stadt Chongqing mit 168 Kameras je 1.000 Einwohner. Von solchen Verhältnissen war Deutschland immer noch meilenweit entfernt. Typisch für die panoptische Gesellschaft indes war nicht so sehr die quantitative Steigerung der Zahl der Überwachungsanlagen, typisch war vielmehr der qualitative Aspekt der „Entgrenzung der Überwachungslogik“ (Dieter Kammerer) und dies in folgenden Bereichen: der Aufweichung des staatlichen Überwachungsmonopols durch private Dienstleistungsunternehmen; der räumlichen Totalisierung der Überwachung durch mobile Anlagen; der zeitlichen Ausdehnung von Observie-

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[II/113] Live-Webcam, Pariser Platz, Berlin, Aufnahme vom 22.11.2022, 17.20 Uhr

rungsmaßnahmen durch prophylaktische Bildspeicherung; der Intensivierung der personenbezogenen Überwachung durch neue Formen der Körperüberwachung wie die sogenannten Körper- oder Nacktscanner; einer funktionalen Entgrenzung, bei der Videokameras zunehmend mit Erkennungssoftwares gekoppelt werden, um etwa Gesichter und Autokennzeichen mit Datenbanken abzugleichen und zu identifizieren. Die Wirkung der Videotechnik bleibt fragwürdig. Überwachungskameras am Berliner Reichstagsgebäude hielten so zwar 2020 den gescheiterten Sturm von Demonstranten im Bild fest. Aber weder hier noch beim Synagogenangriff 2019 in Halle konnten sie die Täter von ihrem Tun abhalten. Allein die Anzahl von Überwachungskameras in öffentlich zugänglichen Bereichen wurde im Jahr 2000 auf 300.000 bis 400.000 Stück geschätzt. Von diesen befand sich 2014 allerdings nur ein Teil in der Verantwortung der Polizei. Längst nämlich überwachen auch private Sicherheitsdienstleister und Institutionen wie die Deutsche Bahn die Bürger – allein im Leipziger Bahnhof mit 112 Kameras. Auch lokale Verkehrsdienstleister bauten in den vergangenen Jahren ihre Überwachungssysteme aus. Allein die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) setzten 2020 19.078 Kameras ein, davon allerdings fast drei Viertel zur Gewährung der Verkehrssicherheit in den Fahrzeugen der BVG. ( II/115) Stand das Monoculus zunächst allein für das göttliche Auge, seit der Aufklärung dann zunehmend für das Auge des Staates, so werben heute private Dienstleister mit dem allsehenden Videoauge für ihre Dienste. Immer leistungsfähigere Kameras mit Nachtsichtfunktionen werden offeriert, die automatisch auch Standbilder erzeugen können. Insbesondere in urbanen Verdichtungsräumen wie

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in Bahnhöfen und auf Flugplätzen, aber auch auf den Autobahnen wird kontrolliert. Auf diese Weise ist potenziell eine flächendeckende Videoüberwachung möglich. Wiederholt stellten private Dienstleister die von ihren Kameras gemachten Aufnahmen der Polizei zur Verfügung. Polizeidienststellen fahndeten mithilfe von Standbildern aus privaten Überwachungskameras nach flüchtigen Tätern. Mit Videokameras überwachten Einzelhandelsfirmen wie Lidl, Ikea und Burger King nicht nur ihre Kunden, sondern spionierten heimlich auch ihre Mitarbeiter aus. Möglich machte dies eine verbesserte Erkennungssoftware. Neben Webcams zum Zweck der Kriminalitätsprävention bzw. -bekämpfung gibt es seit etwa 20 Jahren eine nicht zu beziffernde Anzahl von Webcams für die unterschiedlichsten Zwecke, etwa der Werbung: Webcams an touristischen Hotspots wie Skigebieten und auf Kreuzfahrtschiffen, Skyline-Webcams und Wetter-Webcams, etwa auf Wetterstationen. Ihre Anzahl dürfte in die Zehntausende gehen. (II/113) Zum Teil liefern diese Webcams gestochen scharfe Bilder in hoher Auflösung und in Echzeit, wie eine Webcam auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor. Höhere Speicherkapazitäten infolge des digitalen Fortschritts, wodurch Bilder und Daten von Millionen Menschen gesammelt und systematisch geordnet werden können, machten zugleich die Individualisierung der sozialen Kontrolle möglich. Immer seltener stand nun der Blick auf potenziell abweichende soziale Gruppen im Vordergrund, sondern das einzelne Individuum, das scheinbar jederzeit zur Gefahr werden kann. Zu Hilfe kommen den Behörden und Geheimdiensten bei der Auswertung der Bilder zunehmend immer perfektere Erkennungssoftwares, die in der Lage sind, Personen auch automatisch zu identifizieren und deren Daten abzugleichen. Mit der Verbreitung von Minikameras in mobilen Laptops und Computern weiteten sich die Überwachungszonen weiter in den privaten Bereich hinein aus. „Der überdimensionale Flachbildschirm in Orwells beklemmender Vision war Sendeund Empfangsgerät zugleich, womit ziemlich genau die Funktionen eines modernen Laptops, Tablets oder Smartphones mit Kamera und Mikrofon beschrieben sind.“89 Längst lassen sich diese Geräte so manipulieren, dass sie als ferngesteuerte Überwachungskameras und -mikrofone eingesetzt werden können. WLAN-Funknetze machen zudem das Kapern von Webcams und Live-Bildern möglich, bei denen ein Dritter den Rechner und die mit ihm verbundene Kamera übernimmt, ohne dass der Betroffene dies überhaupt bemerkt. Eine neue Form der mobilen Überwachung machen seit einigen Jahren Kameraaugen in Minidrohnen möglich. Die Deutsche Bahn setzte solche Drohnen 2013 zur Überwachung von Graffiti-Sprayern ein. Zunehmend finden diese Geräte aber auch im privaten Bereich, etwa bei der Überwachung von Nachbarn, Einsatz. Dem kommt entgegen, dass die Drohnen immer leichter, kleiner und für Privatleute erschwinglicher werden. Zum Teil wiegen die bei Elektronikketten erhältlichen Anlagen nur mehr wenige Gramm. Infolge des Ausbaus der digitalen Speicherkapazitäten konnten die generierten Bilddateien zeitlich immer länger vorrätig und für spätere Auswertungen verfügbar gehalten werden. Nicht nur räumlich, sondern ebenso sehr zeitlich weitete

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sich damit die Überwachung per Bild aus, ohne dass bislang gesicherte Beweise [II/114] dafür existieren, dass die Ausweitung der Überwachungszonen tatsächlich auch ein Mehr an innerer Sicherheit gebracht und Straf- und Gewalttäter abgeschreckt hätte. Dies gilt ebenso für die Körper- oder Nacktscanner, die seit 2010 als Reaktion auf 9/11 auf internationalen Flugplätzen zum Einsatz kommen. Beschränkte sich die bisherige Videoüberwachung auf die Inaugenscheinnahme der äußeren körperlichen Erscheinung einer Person, (II/114) so sollen Body- oder Ganzkörperscanner diese elek­tronisch entkleiden und mitgeführte Waffen oder Sprengstoffe sichtbar machen. Die von den Geräten ausgestrahlten Terahertz- bzw. Millimeterhertz-Wellen werden dabei vom menschlichen Körper bzw. von am Körper getragenen Gegenständen wie von einem Spiegel reflektiert. Zum Zwecke des Persönlichkeitsschutzes erzeugen die Scanner indes keine realen Abbilder des untersuchten Körpers, sondern verunklaren die Körperkonturen in Art eines Strichmännchens, an dem im Idealfall Waffen u. Ä. erkennbar werden. Ziel dieser Praxis ist einmal mehr der durchleuchtete Mensch. Wie die Videoüberwachung insgesamt täuscht auch die Überwachung mit Bodyscannern Sicherheit vor, gewährleistet diese aber keineswegs, zumal die gegenwärtige Technik keinen Blick in Körperöffnungen und in das Körperinnere ermöglicht und sich auch bei Plastiksprengstoffen noch als unsicher erweist. ­ Da das Bild, anders als dies das gebetsmühlenartig vorgetragene Zitat von Kurt Tucholsky behauptet, allein nur wenig oder gar nichts sagt, wurde das Videoauge in den beiden letzten Jahrzehnten digital mit personenbezogenen Datenbeständen und Erkennungssoftwares gekoppelt. Durch vollautomatische Bilderkennungsprogramme, aber auch durch Abgleich mit den Bildbeständen im World Wide Web und in den sozialen Netzwerken lassen sich so nun verdächtige Personen per Bild

[II/114] Einsatz eines Ganzkörperscanners auf dem Flughafen Frankfurt a. M. im Probebetrieb (2012)

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Piktogramm: Das Video-Auge der BVG [II/115]

[II/115] Videoauge der Berliner Verkehrsbetriebe am Eingang zu einer U-Bahn-Station, Berlin, Aufnahme vom 9.11.2007

„Video. Zu Ihrer Sicherheit“  – ist seit 2006 auf Hinweisschildern an und in UBahnhöfen in Berlin und auch in den UBahnen und Bussen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) selbst zu lesen. Zu sehen ist ein einzelnes stilisiertes Auge, ein Monoculus, das den Betrachter fixiert. Das Monoculus ist ein altes Symbol, das die Jahrhunderte überdauert und es bis in unsere Gegenwart geschafft hat. Heute ist es eines der mächtigsten Bildzeichen überhaupt, ohne dass sich die Zeitgenossen seines Ursprungs bewusst sind. In diesem Sinne ist die Geschichte des Monoculus ein Beleg dafür, wie selbst die Bilderwelten unserer Gegenwart von alten, in diesem Fall von christlichen Zeichen durchdrungen sind. Dem Monoculus begegnet man erstmals (II/116a) in einer Darstellung des Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert. Zu sehen ist ein vom menschlichen Körper getrenntes Auge inmitten eines mächtigen Sonnenemblems. Es

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ist ein Bild, das nicht abbildet, sondern eine Idee generiert. Das Auge ist SinnBild. Erstmals ist hier Gott als körperloses Auge im Bild festgehalten, das den Betrachter frontal fixiert und eine Beziehung zu ihm herstellt. Das erkennende Auge des Gläubigen ist in der Sonne und damit metaphorisch in Gott. Auf diese Weise stellten sich die Zeitgenossen Gott vor. In der Renaissance findet sich das körperlose Auge in zahlreichen künstlerischen Darstellungen, so etwa bei Leo Battista Alberti, bei Hieronymus Bosch, bei dem flämischen Maler Jan Provost oder in dem Gemälde Cena in Emmaus des Florentiner Malers Jacopo da Pontormo. Mit ihm findet das Monoculus seine ikonische Form. Es wird Zeichen der Trinität, der göttlichen Dreieinigkeit. Das körperlose Auge ist zum Logo für Gott geworden. Es überstrahlt bzw. überwacht im Wortsinne das Abendmahl. Allerdings darf man es noch keineswegs im heutigen Sinne als Symbol von Überwachung verstehen, son-

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dern als Schutz gewährendes Auge der Vorsehung, das die Lebensläufe der Menschen vorherbestimmt und ihnen Sicherheit verleiht. Die damaligen Zeitgenossen begegneten ihm noch nicht mit einem Gefühl der Furcht, sondern eher mit einem der Ehrfurcht. Im Barock erhält das trinitarische Gottesauge eine ornamental-dekorative Funktion, (II/116b) so etwa als Schmuckelement an Kirchenportalen wie dem des Aachener Doms. Wie eine moderne Medienikone wird unser Motiv nun zeit- und ortlos. Es beginnt zu vagabundieren. Es verlässt den Binnenraum der Kirche. Es findet sich nun ebenso auf Grabplatten, als Zierelement an Profangebäuden oder als Schmuckemblem wie im Moskauer Kreml, unter dem sich später gern Wladimir Putin zelebrieren wird. Mit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen wird das Auge Gottes vollends entsakralisiert. An seine Stelle tritt das Auge des Gesetzes bzw. das des Staates. In beiden Varianten – dem körperlosen, lediglich von Sehstrahlen umgebenen sowie dem mit dem Symbol der Trinität umkränzten Auge – finden wir es auf Münzen des 18. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den Renaissancebildern überstrahlt es nicht mehr göttliche Gemeinschaften, sondern Stadtkulissen. Es ist zum Symbol des göttlichen Schutzes der weltlichen Gemeinschaft geworden. Das zeigt auch seine Verwendung auf der Rückseite des Großen Siegels der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776. Das trinitarische Auge schwebt über der als Pyramide dargestellten neuen Ordnung und verleiht dieser den göttlichen Segen. Ähnlich thront dasselbe Auge 1789 über der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung. Im Königreich Hannover finden wir 30 Jahre später eine Weiterentwicklung des Emblems. Statt Liberté und Egalité ist es nun ganz konkret das Auge des Gesetzes, das über die Ordnung wacht. (II/116c) In Gestalt des Polizeisterns auf den Mützen der Polizisten sind Gloriole und Monoculus bis heute erhalten geblieben. An die Stelle des Gottes-

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auges sind ähnlich wie auf dem Preußischen Gardestern die Hoheitszeichen der Bundesländer bzw. des Bundes getreten. Auch in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts hat das Monoculus vielfältige Spuren hinterlassen. ( III/1) Vor allem den Malern des Symbolismus, des Surrealismus, des Expressionismus sowie der gemäßigten Abstraktion diente es für ganz unterschiedliche profane Zwecke. In der Graffiti-Art ist das Monoculus weltweit eines der am häufigsten benutzten Motive. Es überrascht nicht, dass es der Spionage- und Agentenfilm war, der sich des Monoculus als Metapher für Beobachtung und Überwachung bediente, ob in den frühen Filmen eines Fritz Lang, in amerikanischen Filmen seit den 1950er oder in den James Bond-Filmen seit den 1960er Jahren. Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist der Schuss aus dem Auge bzw. in das Auge wie im sonntäglichen Tatort das stärkste Mittel der Aufmerksamkeitsmobilisierung überhaupt. ( I/113) Die Nationalsozialisten waren diejenigen, die das ehemals göttliche Auge als Logo des neuen, ab 1936 regelmäßig sendenden Mediums Fernsehen einführten. Mit einem stilisierten Monoculus werben in der Zwischenzeit in aller Welt vor allem private Sicherheitsfirmen (II/115) und kommunale Dienstleister wie die BVG, die ihren Kunden Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr versprechen und mit dem Einzelauge auf die allgegenwärtige optische Überwachungstechnik hinweisen. Längst nämlich reicht es nicht mehr aus, nur Überwachungsanlagen zu installieren. Da sich die Bürger an diese gewöhnt haben und oft gar nicht mehr bewusst registrieren, musste das Monoculus mit der Farbe Gelb als Signalfarbe für Gefahr unterlegt und zusätzlich mit einem Schriftzug auf die Apparatur hingewiesen werden. (II/116d) Gegen die spätestens seit den 1930er Jahren mit dem Fernsehen denkbar gewordenen Szenarien totaler Sichtbarkeit schrieb wie kein anderer George Orwell mit seinem Roman 1984 an. Das Cover

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seines Buches zeigte zumeist ein Monoculus. Orwells Auge indes schaute nicht in die Welt, sondern fixierte den Betrachter in seinen privaten Lebenszusammenhängen. Mithilfe des Televisors – eines in zwei Richtungen funktionierenden, eines sendenden wie eines empfangenden Bildschirms – übte der [116b]

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Diktator seine Macht aus. Mit ihm versendete er seine Botschaften. Das Kürzel „Big Brother“ und der Begriff vom „Orwell-Staat“ sind seitdem weltweit zu Metaphern des kritischen Diskurses zur staatlichen Überwachungspraxis geworden.

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[II/116a] Das Auge Gottes in der Sonne. Emblem von Thomas von Aquin; [II/116b] das Auge Gottes am Eingangsgebäude zum Domhof des Aachener Doms (2009); [II/116c] Polizeistern der Berliner Polizei (o. J.); [II/116d] Cover einer deutschen Taschenbuchausgabe des Romans 1984 von George Orwell (2021)

identifizieren. Wie durch den amerikanischen ‚Whistleblower‘ Edward Snowden bekannt wurde, sammeln US-Geheimdienste seit 2011 Millionen Bilder aus Überwachungskameras, Fotodatenbanken im Internet, sozialen Netzwerken, von Visaoder Führerscheinstellen, um umfassende Profile von Personen zu erstellen. Was in den 1980er Jahren noch große Debatten und politischen Protest ausgelöst hatte, wurde nach 9/11 von der Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung stillschweigend akzeptiert. 75 Prozent der befragten Bundesbürger fanden Überwachungsanlagen auf Straßen und Plätzen jetzt ‚in Ordnung‘. Auch die Einführung des ePasses blieb weitgehend unwidersprochen. (II/117, 118) Von Anbeginn der Videoüberwachung in Deutschland gab es Gegenbewegungen der unterschiedlichsten Art. Zum Teil waren sie Folgen von Gerichtsbeschlüssen, zum Teil Ausdruck von Sicherheitsbedenken von Behörden und Parteien, zum Teil gingen sie auf Initiativen betroffener Bürger zurück. So erhielten alle Videokameras am Bremer Hauptbahnhof – einem besonderen Kontrollort mit einem erhöhten Kriminalitätsaufkommen – physische Blicksperren, damit Demonstrationen ohne Angst vor Überwachung stattfinden können. Die Stadtregierung reagierte damit präventiv auf einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen. Im März 2022 ließ das Bundesverkehrsministerium aufgrund des

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Ukraine-Krieges den Zugang zu Verkehrskamera-Bildern in ganz Deutschland einschränken. Danach wurden die Live-Aufnahmen von über 1.000 Kameras an deutschen Autobahnen vorerst nicht mehr der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Der Grund: Zunehmende Panzertransporte und Militärkonvois der NATO, die Deutschland als eine Art Drehkreuz für NATO-Truppen benutzten, was die Gegenseite nicht so einfach mitbekommen sollte. Als Reaktion auf die neuen Überwachungspraktiken entwickelte sich ein kreatives System des Sich-Entziehens durch die Überwachten selbst. Als symbolische Intervention und weniger zur praktischen Anwendung gedacht, offeriert das New Yorker Institute for Applied Autonomy eine Navigations-Software, die Bürgern und Besuchern von New York Wege anbietet, die weniger von Überwachungskameras eingesehen werden als andere. Die in einem virtuellen Stadtplan verzeichneten Standorte von Überwachungskameras mit präzisen Angaben zum Standort und zur Kameratechnik lassen erkennen, wie weit die Durchdringung des öffentlichen Raumes durch elektronische Augen auch hierzulande fortgeschritten ist. Das amerikanische Projekt hat längst einen deutschen Ableger gefunden. Auf einer interaktiven Karte der Website der Süddeutschen Zeitung war so etwa zu sehen, wo genau und zu welchem Zweck die Kameras in Bayern installiert wurden. Die Internetseite des Senators für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen enthielt ein Verzeichnis aller stationären, öffentlichen Überwachungskameras im Stadtstaat Bremen. Ähnliches gibt es für Freiburg im Breisgau. Wiederholt hat sich

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[II/117] Plakat der Partei ‚Piraten‘, LV Niedersachsen (2015); [II/118a] Plakat der GRÜNEN, LV Bayern (2008)

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[II/118b] Graffito Thalkirchen (o. D.)

auch die Kunst des Themas angenommen. Vermutlich durch Arbeiten des StreetArt-Künstlers Banksy inspiriert, (II/118b) entstanden überall in der Republik Graffitis zum Thema. Ausstellungen zur ‚Watching You Art‘ machten von sich reden, so etwa die Ausstellung Watching You, Watching Me 2017 in Berlin. Dort demonstrierten Künstler, inwieweit die Kultur der Überwachung die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bereits verwischt hatte. Eine weitere Ausstellung in der Kunstbibliothek Berlin fragte zur gleichen Zeit nach dem besonderen Unbehagen, das religiös wie politisch motivierte Überwachung stets auslöste.

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Kriege, Krisen, Katastrophen Zur Ikonografie der ‚Berliner Republik‘

Im Nachhinein erscheint die Geschichte der ‚Berliner Republik‘ als eine Geschichte andauernder Krisen und Katastrophen, wobei sich diese zum Teil überschnitten und überlagerten: als Vertrauenskrise in das politische System der Republik in den ostdeutschen Bundesländern, als Finanzkrise, als Flüchtlingskrise, als Klimakrise, als Coronakrise usf. Dazu kamen Naturkatastrophen wie die ‚Jahrhundertflut‘ 2002 im Osten und das ‚Jahrhunderthochwasser‘ 2021 im Westen der Republik. All das fand bildliche Entsprechungen und konnotierte die ‚Berliner Republik‘ in der kollektiven wie in der individuellen Erinnerung als eine Zeit der Krisen und Kata­strophen. Hinzu kam, dass sich die Deutschen erstmals in ihrer Geschichte nach 1945 wieder an einem Krieg beteiligten, der schließlich mehr als 20 Jahre andauerte. Die Krisengeschichte der Republik beflügelte den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bis hin zum Rechtsterrorismus, die Etablierung der GRÜNEN als drittstärkster politischer Kraft sowie die Entstehung neuer gesellschaftlicher Bewegungen wie der Klimaschutzbewegung ‚Fridays for Future‘, die sich mit einer eigenständigen Bildsprache in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit verschafften. Krisen gerieten zunehmend zu einem Geschäftsmodell der Medien, mit dem sich Umsatz machen ließ. In allen diesen Krisen und Katastrophen spielten technische, digitale und künstlerische Bilder eine wichtige Rolle, ob als Medium der aktuellen Dokumentation bzw. der kollektiven Erinnerung, der Aufklärung und der Information via Infografiken und Piktogrammen, der Steuerung von alltäglicher Interaktion und Kommunikation, der Bearbeitung durch die Betroffenen, der politischen Thematisierung und Mobilisierung, der Krisenüberwindung und der Hoffnung, der Identifizierung von mutmaßlich Schuldigen, der Mobilisierung von Ressentiments und der Generierung von Feindbildern oder als Medium von Politikerdarstellungen und -profilierungen. Zum Teil griffen Bilder direkt in Wahrnehmung und Verlauf von Krisen und Katastrophen ein, zum Teil waren sie ein integrierter Bestandteil von ihnen.

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„Blühende Landschaften“ Fallstricke der Wahlwerbung (II/119) Am Beginn des wiedervereinten Deutschlands 1990 stand die bildliche Metapher des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl: das Versprechen von „blühenden Landschaften“ als ökonomischer Zukunftsperspektive für die Bürger und Bürgerinnen der neuen Bundesländer. Erstmals hatte Kohl diese Metapher in einer Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 benutzt und sie fast wortgleich am Vorabend der Wiedervereinigung wiederholt, als er versprach: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ 1991 erklärte Kohl einmal mehr, er sei „mehr denn je davon überzeugt, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländern blühende Landschaften gestalten werden“. Kohls Versprechen mobilisierte zahlreiche innere Bilder bei den Menschen in Ostdeutschland, die tatsächlich annahmen, schon bald ein besseres Leben führen zu können. Wahlforscher sind sich einig, dass die hohe Zustimmung zur CDU bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 in Ostdeutschland nicht unerheblich mit den von Kohl ausgelösten Hoffnungen zu tun hatte. [II/119]

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[II/119] CDU-Wahlkampf 1998; [II/120] Plakat, Daniel Theiler (2018)

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Unzählige Bildreportagen von bekannten und weniger bekannten Fotografen sowie Fernsehberichte zeigten schon bald eindrucksvoll, dass in weiten Teilen der neuen Bundesländer von „blühenden Landschaften“ keine Rede sein konnte. Sie konterkarierten Kohls blumiges Versprechen. Daniel Biskup etwa fotografierte von der Treuhand zu verantwortende Industriebrachen, Werksbesetzungen durch Belegschaften, die die Schließung ihrer Betriebe nicht hinnehmen wollten, trostlose Plattenbausiedlungen, in denen der Wohlstand nicht angekommen war, verwaiste Altbauviertel wie in Görlitz, die dem Verfall preisgegeben waren, wilde Müllhalden, auf denen die neuen Bundesbürger die Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR entsorgten. Auch viele Jahre später noch wurde Kohl für seine Äußerung gerne verspottet. Man unterstellte ihm, er habe die Ostdeutschen absichtlich getäuscht. Karikaturisten zogen über ihn her. (II/120) Eine Plakatserie eines fiktiven ‚Bundesministeriums für Blühende Landschaften‘, für die eine Gruppe um den deutsch-türkischen Künstler und Architekten Daniel Theiler verantwortlich zeichnete, machte sich über Kohls Metapher lustig. Die Berliner taz griff die Metapher auf ihrer Titelseite zur Beisetzung Kohls am 1. Juli 2017 noch einmal auf und titelte zu einem seitenfüllenden Foto mit dem von Blumen geschmückten Sarg des Ex-Kanzlers despektierlich „Blühende Landschaften“. Und selbst noch 30 Jahre nach Kohls Versprechen lautete der Titel einer Ausstellung und eines Buches mit Fotografien von Siegfried Wittenburg über die Nachwendezeit in Wismar „Eine Billion für blühende Landschaften“. Was viele vermutet hatten, dass die Metapher von den „blühenden Landschaften“ eine Propagandaformulierung gewesen sei, bestätigte SPIEGEL ONLINE 2018. Danach soll Kohl  1999 erklärt haben, er habe damals die „miese Lage bewusst nicht […] hochgespielt“. Dies sei „psychologisch richtig“ gewesen, um das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen nicht zu beschädigen. SPIEGEL-Journalist Klaus Wiegrefe nannte das „Kohls Lüge von den blühenden Landschaften“.90 Im Bundestagswahlkampf 1998 legte die CDU noch einmal nach und ließ in Ostdeutschland Plakate anschlagen, die die Formulierung von 1990 angriffen und in vier Ansichten – der wiederhergestellten Seebrücke von Ahlbeck auf Usedom, der Wandelhalle des Leipziger Hauptbahnhofs, sanierten Hausfassaden vom Marktplatz in Wismar sowie den rauchenden Schloten des Braunkohle-Großkraftwerks ‚Schwarze Pumpe‘ in der Lausitz  – den Betrachtern „blühende Landschaften“ ­offerierten, wie sie Kohl 1990 versprochen hatte. ( I/173–178) Dass man dabei ganz nebenbei an die Ikonografie der rauchenden Schlote aus der Frühphase der ‚Bonner Republik‘ anknüpfte, sei nur am Rande bemerkt. Ähnlich wie auf dem Plakat widmeten sich ‚Aktionstage‘ der CDU im Osten der Republik dem Thema „blühende Landschaften“, gleichsam als Erfolgsbilanz der Regierung Kohl. Tatsächlich blieben die Verhältnisse – abgesehen von wenigen ‚Leuchtturm‘-Projekten – von „blühenden Landschaften“ weit entfernt. Die Metapher erwies sich jetzt vielmehr als Bumerang, da sie als Messlatte diente, mit der die tatsächlichen Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern betrachtet und bewertet wurden. Und diese sahen eher düster aus. Die Arbeitslosenquote lag in den neuen Bundesländern bei etwa 25 Prozent und war damit doppelt so hoch wie im Westen der Republik. Die Mehrzahl der

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ostdeutschen Erwerbstätigen war in Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen beschäftigt. Der ostdeutsche Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik betrug gerade einmal zehn Prozent. Deindustrialisierung und Entvölkerung kennzeichneten die Situation in vielen Gegenden der neuen Bundesländer. Hatten 1994 noch 47 Prozent der ‚Ossis‘ geglaubt, die „blühenden Landschaften“ stünden unmittelbar bevor, so waren es 1997 nur mehr 14 Prozent. Der Vertrauensvorschuss, der mit Kohls Metapher verbunden gewesen war, war dahin. Die überzogenen Hoffnungen hatten sich in abgrundtiefe Frustrationen verwandelt. Aus anfänglichem Optimismus und Selbstvertrauen waren binnen weniger Jahre Enttäuschung, Frustration, Distanz und Unzufriedenheit geworden. Das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 überraschte nicht. Die CDU büßte ihren Spitzenplatz in der Wählergunst ein und stürzte um 6,3 Prozentpunkte auf 35,1 Prozent ab. In den neuen Bundesländern erreichte sie sogar nur mehr 27,3 Prozent der Wähler, wobei ihre Verlustbilanz mit 11,2 Prozentpunkten hier fast doppelt so hoch war wie in den ‚alten‘ Bundesländern.

Fadenkreuze – Sargfotos Die neuen/alten Bilder des Krieges Mit dem Antritt der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 hatten sich die Bundesbürger an neue Bilder zu gewöhnen, die sie so bislang nicht kannten: an bewegte Bilder von Kriegseinsätzen, an neue Werbebilder der Bundeswehr, an Fotos von Särgen mit der Deutschlandfahne usf. Es waren Bilder, die eine weitestgehend pazifizierte Gesellschaft nur schwer ertrug. Aus ehemaligen Pazifisten waren über Nacht Kriegsherren geworden. Der Frontmann der GRÜNEN und seit wenigen Tagen neuer Außenminister der Republik, Joschka Fischer – ehedem Hausbesetzer und engagierter Gegner des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 –, gab am 5. November 1998 im NATO-Hauptquartier in Brüssel vor dem Logo des Bündnisses eine Erklärung ab, in der er die Beteiligung Deutschlands an der Luft- und Bodenüberwachung des jugoslawischen und serbischen Truppenabzugs aus dem Kosovo bekräftigte. Die Luftstreitkräfte der NATO begannen am 24. März 1999 mit Angriffen auf Ziele der serbischen Luftverteidigung. Die Bundeswehr war vom ersten Tag an bei den Angriffen dabei. Für sie handelte es sich um den ersten Kampfeinsatz seit ihrer Gründung 1955. Für die NATO wurde es der erste Krieg, der ausschließlich aus der Luft geführt wurde. Übereinstimmend ist der Kosovo-Krieg von Beteiligten wie von Beobachtern als ein Krieg neuen Typs bezeichnet worden. Während er für die Angehörigen der von den NATO-Luftschlägen getroffenen Serben und für die von den Serben ermordeten Kosovo-Albaner so real und so grausam wie jeder andere Krieg zuvor war, stellte er sich für die Bürger der NATO-Staaten und damit auch für die Bundesdeutschen als ‚virtueller‘ bzw. ‚postmoderner‘ Krieg dar. Diese nämlich erlebten den Krieg zunächst als unwirkliche, nächtliche Lightshow bzw. als neue Variante eines Videospiels im Format eines Monitors. Mit Kamerabildern aus den Spitzen der alliierten

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Raketen hoffte man, dem Publikum den Krieg als ‚chirurgische‘ Operation zu präsentieren, bei der nur ausgewählte Ziele getroffen würden, aber keine Zivilbevölkerung. Auf diese Weise glaubte man die Zivilgesellschaften zu besänftigen. Das Fernsehen und das Internet spielten bei der Überschreibung des Krieges zentrale Rollen. (II/121) Erstmals nutzten die NATO und die Bundeswehr im Kosovo-Krieg das Internet als Medium der Kommunikation mit der Öffentlichkeit, indem sie in umfangreichen Foto- und Videogalerien Luftaufnahmen von NATO-Angriffen pre- und post strike offerierten. Als absoluter Renner erwiesen sich die Videos aus den Cockpits der Kampfflugzeuge und den Spitzen der Raketen, die es zwar zuvor schon im Golfkrieg gegeben hatte, die nun aber in deutlich besserer Qualität vorlagen und zudem auf den heimischen Computer heruntergeladen werden konnten. Die Betrachter im Fernsehsessel nahmen dabei die Position des Waffensystemoffiziers im Cockpit ein, der mithilfe eines Fadenkreuzes die raketengetriebenen Bomben in ihr Ziel steuerte bzw. die Perspektive der Rakete selbst, die auf ihr Ziel zuraste und im Augenblick des Aufpralls in Hunderttausende von Pixeln zerfiel. So anschaulich sei der Krieg bislang noch nie gezeigt worden, lobten Beobachter. (II/122) Zu einem der bekanntesten Videos der NATO avancierte das des Angriffs auf das ‚Urosevac Army Center‘ am 3. April 1999. Das Fadenkreuz der Waffe geriet in diesen Kurzvideos zur Ikone des Krieges sowie zum Sinnbild eines vermeintlich sauberen Krieges, der nicht ‚Krieg‘ genannt werden durfte und so sauber, wie auf den Bildern suggeriert, auch nicht war. Kameramänner, Bildreporter und Fernsehsender machten das Spiel mit. Auch in ihren Bildern und Berichten erschien der Krieg vornehmlich als ‚Nintendo-Krieg‘. Die Faszination der Bilder überlagerte jede menschliche Empathie. Der Krieg schien zum sauberen häuslichen Videospiel geworden zu sein. Nach einer Analyse der Nachrichten- und Sondersendungen der Hauptprogramme von ARD, ZDF und RTL aktuell reproduzierten deren Berichte in aller Regel die Perspektiven der Angreifer. „Selbstverantwortliche Bilder der Nähe, unmittelbare und unzensierte Bilder, Eindrücke vom Boden, vom Kriegsschauplatz“ habe es nicht gegeben, befand ein Medienwissenschaftler.91 Die Opfer des Krieges hätten die Zuschauer an den Bildschirmen nie zu Gesicht bekommen. Das Fernsehen habe besonders in der ersten Phase des Krieges kritiklos Wunschbilder des ‚sauberen‘ automatisierten Krieges reproduziert und sich damit zum Verlautbarungsorgan der Militärs gemacht. Sieht man einmal von einigen Beiträgen in Fernsehmagazinen wie Panorama ab, waren mit dem Eintritt Deutschlands in den Krieg alle medienkritischen Vorsätze aus vorangegangenen Kriegen dahin. Im Konsensüberschwang der Bildmedien war Pluralität als Grundwert einer liberalen Öffentlichkeit plötzlich nicht mehr gefragt. Stattdessen dominierten eine Technikeuphorie und ein Hurra-Patriotismus, der bis hin in den Tonfall der Sprecher und Kommentatoren reichte. In einer zunehmend globalisierten und vernetzten Welt indes gab es immer auch Gegenbilder, die das gewünschte Bild störten. Hierzu zählten jene Bilder von zwei Ereignissen von Mitte April 1999, die das serbische Fernsehen ausstrahlte und die auch per Internet weltweit zu sehen waren: (II/123) der versehentliche NATO-Angriff auf einen Personenzug auf einer Brücke bei Grdelicka Klisura, bei dem 14 Menschen – vermutlich sogar mehr – starben, sowie die Bilder der Opfer eines alliierten

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Kosovo – neue Bilder des Krieges [II/121] NATO-Luftbilder eines Angriffs auf eine Radarstation bei Pristina, benutzt bei einer Pressekonferenz des deutschen NATO-Sprechers am 6.5.1999 (NATO-Headquarter); [II/122] Standbilder aus dem Angriffsvideo der NATO auf das ‚Urosevac Army Center‘ am 3.4.1999, veröffentlicht u. a. in der ZEIT vom 12.8.1999; [II/123] Standbild aus dem NATO-Angriffsvideo auf die Eisenbahnbrücke von Grdelica vom 13.4.1999 (NATO-Headquarter)

Angriffs auf einen Flüchtlingskonvoi, der 75 zivile Opfer forderte. Die Bilder beider Angriffe führten die bisherige Medienstrategie der NATO ad absurdum und konterkarierten die mit dem Fadenkreuz assoziierten ‚sauberen‘ Bilder. Am 9. Juni einigten sich die NATO und Jugoslawien auf einen Abzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo und auf die Stationierung einer NATO-geführten Friedenstruppe unter UN-Mandat (KFOR), zu dem auch Panzer aus Deutschland zählten. Dass in Kriegen Menschen sich nicht zu Pixeln auflösen, dass in ihnen nicht virtuell gestorben wird, sondern körperlich und ganz real, machte der langjährige Krieg in Afghanistan deutlich, in den die Schröder/Fischer-Regierung nach den Terror-

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Afghanistan – Bilder eines sinnlosen Krieges [II/124] Bundeswehrsoldat verteilt Süßigkeiten, Aufnahme vom August 2011; [II/125] ­Bundeswehrsoldaten verladen am Ostersonntag 2010 im Feldlager in Kundus die Särge von drei gefallenen Kameraden in einen Helikopter zur Überführung nach Deutschland; [II/126] Bundeswehr-Ehrenhain im Camp Marmal, aus der Broschüre des Bundesverteidigungsministeriums Der Wald der Erinnerung, 2021, S. 12.

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anschlägen vom 11. September 2001 gerade einmal zweieinhalb Jahre nach dem Kosovo-Krieg hineingestolpert war. Zunächst durfte der Militäreinsatz im Rahmen der NATO nicht ‚Krieg‘ genannt werden, was auch die Bilder widerspiegeln sollten. Vielmehr war man bemüht, den Einsatz als Hilfe und Unterstützung darzustellen und damit im Einklang mit der traditionellen Betonung friedlicher Konfliktlösung. „Bundeskanzler Schröder bagatellisierte wiederholt die über eine Hilfestellung für die Afghanen beim Aufbau ihres Landes hinausgehende militärische Rolle der Soldaten“, analysierte ein norwegischer Beobachter. „Obwohl er davon sprach, die Taliban führten ‚einen Krieg gegen die zivilisierte Welt‘, bezeichnete er in gleichem Atemzug den deutschen Beitrag als Hilfe und ergänzte, dass ‚könnte auch militärischer Beistand sein‘.“92 Sowohl den Abgeordneten, die über den Einsatz zu befinden hatten, als auch den Soldaten, die nach Afghanistan geschickt werden sollten, suggerierte man auf diese Weise, sie würden in bereits befriedete Regionen geschickt – wo die örtliche Bevölkerung auf ihrem Weg zu Stabilität und Demokratie begierig westliche Hilfe erwartete. Fernsehbilder von Menschen in Kabul, die westliche Truppen bei der Befreiung der Stadt willkommen hießen, trugen möglicherweise zu dem Glauben bei, die deutschen Truppen erwarte ein leichter Einsatz. Die wenigen Medienberichte aus Afghanistan konzentrierten sich in der Anfangszeit des Krieges auf die Routine des Lagerlebens, auf die Versorgung der Soldaten und darauf, wie sich Bundeswehrsoldaten um Kontakte zur örtlichen Bevölkerung bemühten. Bilder zeigten Soldaten in sicheren Camps und (II/124) beim Verteilen von Süßigkeiten an afghanische Kinder. Den Menschen im fernen Deutschland vermittelten sie den Eindruck, die Väter, Ehemänner und Söhne seien gut versorgt und nur geringen Gefahren ausgesetzt.  Solange es keine Toten gab, war es für die Bundesregierung ein Leichtes zu verleugnen, dass sich ihre Soldaten in einem Krieg befanden. Das Wort kam im offiziellen Sprachgebrauch daher nicht vor. (II/125) Umso größer war das Entsetzen, als die ersten Aufnahmen von mit Deutschlandfahnen bedeckten Särgen mit im Einsatz getöteten Soldaten kursierten, die zur Bestattung nach Deutschland überführt wurden. Bis 2007 dauerte es, ehe man sich in Berlin auf Regeln im Umgang mit dem Kriegstod verständigte und diesen als zur Realität des Krieges zugehörig anerkannte. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 20 Bundeswehrangehörige umgekommen waren, hatten es Regierung, Bundestag und Verteidigungsministerium unterlassen, festzulegen, wie und durch welche offiziellen Vertreter die Särge empfangen oder in welchem Umfang die Öffentlichkeit informiert und beteiligt werden sollte. Das änderte sich jetzt. Der zuständige Minister und die Kanzlerin zollten fortan den Getöteten und ihren Hinterbliebenen in öffentlichen Totenfeiern ihren Respekt. Die Zeitungen berichteten in Wort und Bild nun ausführlich über die Toten. Der Kriegstod war in der Öffentlichkeit angekommen. (II/126) In Masar-i-Scharif wurde 2007 ein Ehrenhain für in Afghanistan ums Leben gekommene Bundeswehrangehörige eingerichtet. Das Sterben am Hindukusch hörte nicht auf. Die Süddeutsche Zeitung notierte am 8. Oktober 2010: „Die traurige Nachricht, dass deutsche Soldaten sterben mussten, kommt inzwischen regelmäßig aus Afghanistan.“ Bilder von Toten blieben in der

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Medienberichterstattung indes ein Tabu. Es waren wie in vergangenen Kriegen allenfalls diskrete Formen des Todes, die ins Bild gerieten: Sarghügel in der öden Landschaft, von Leichen geräumte Kampfstätten, Särge. Bundesverteidigungsminister von Guttenberg sah sich 2010 veranlasst zu erklären, man könne „umgangssprachlich“ sehr wohl „von Krieg“ in Afghanistan sprechen. Die Bundeswehr befand sich nun auch mental im Krieg. Das machte 2016 eine Plakat- und Anzeigenkampagne mit dem Slogan ‚Helden gesucht‘ deutlich, die nach Protesten in ‚Retter gesucht‘ umgewandelt werden musste. Dass Bundeswehrsoldaten nicht nur Opfer, sondern auch Akteure des Tötens waren, zeigte 2010 ein in Medien und Öffentlichkeit viel diskutierter Zwischenfall in Kunduz, wo in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 auf Befehl eines deutschen Obersts NATO-Kampfjets zwei 500-Pfund-Bomben auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster hatte werfen lassen. Etwa hundert Menschen starben bei dem Angriff. Für den SPIEGEL war das Bombardement von Kunduz ein „deutsches Verbrechen“ und „der blutigste deutsche Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg“. Recherchen in Berlin und Kunduz belegten dem Hamburger Magazin zufolge: „Die Bundeswehr verstieß gegen Nato-Regeln, der Verteidigungsminister täuschte die Öffentlichkeit, und die Kanzlerin entzog sich ihrer politischen Verantwortung.“93 Erstmals bekamen die Deutschen – so auch im SPIEGEL – Bilder der bei dem Angriff verletzten und getöteten Afghanen zu sehen – darunter die eines 14-jährigen Jungen. Der Tod in Afghanistan hatte ein Gesicht erhalten. Während der damalige Verteidigungsminister Jung noch behauptete, der Angriff habe nur Taliban getötet, war er von Presseberichten längst widerlegt worden. Für den SPIEGEL war in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 die „irrige Hoffnung“ gestorben, „Deutschland könne in den Krieg ziehen, ohne sich dabei die Finger schmutzig zu machen“. Die Bomben von Kunduz hätten auch die deutsche Illusion zerstört, so SPIEGELRedakteur Ulrich Fichtner, „dass man in den Krieg ziehen und dabei eine Art Pazifist mit Sturmgewehr bleiben kann.“

Von „vollen Booten“ und einer „Willkommenskultur“ Bilder der Flüchtlingskrisen Zur Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Entvölkerung Ostdeutschlands sowie dem Krieg auf dem Balkan kamen seit 1989/90 neue Probleme einer Masseneinwanderung aus Ost- und Südosteuropa hinzu, auf die das wiedervereinigte Deutschland, das sich explizit ja nicht als Einwanderungsland verstand, in keiner Weise vorbereitet war. Nach dem Fall von Mauer und ‚Eisernem Vorhang‘ erreichte die Migration von Menschen aus Osteuropa, besonders aus der Ukraine, von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Jugoslawien sowie von Roma aus Bulgarien und Rumänien ihren Höhepunkt. Allein 1992 beantragten fast eine halbe Million Menschen in der Bundesrepublik Asyl. Im Zeitraum 1988 bis 1993 betrug die Nettozuwanderung insgesamt etwa 3,7 Millionen Menschen. Bilder von Flüchtlingstrecks, wie es sie auch am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach gegeben hatte, füllten die Zeitungsseiten.

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Viele Bundesbürger fühlten sich angesichts von spektakulären Fernseh- und Zeitungsbildern von in Deutschland Asyl begehrenden Menschen geängstigt und überfordert. Reißerische Titelbilder und Karikaturen in Mainstreammedien wie dem SPIEGEL und der FAZ verstärkten die Furcht und übersetzten sie in eindrucksvolle Bilder. Es waren zumeist konventionelle Bildmetaphern, die an die Stelle ( I/164a–d) der älteren Bilder der aus dem Osten anrollenden roten Flut traten und das Bildrepertoire der Flüchtlingskrise der frühen ‚Berliner Republik‘ ausmachten: einerseits die Darstellung der Migration in Metaphern von unberechenbaren, potenziell zerstörerischen Naturgewalten wie dem tobenden Meer, der großen Flut und der blutroten Feuerwalze, andererseits die Darstellung der Flüchtlinge als entindividualisierter anonymer Masse von zumeist jüngeren Männern oder als Schattengestalten, die Gefühle von Bedrohlichkeit, Angst und Überfremdung provozierten – niemals von konkreten Menschen mit einem besonderen Schicksal. In der Metapher der Bundesrepublik als überfülltes Boot bzw. als Arche, gekennzeichnet durch die Nationalfarben bzw. den Bundesadler, die Menschen aus schwe[II/127]

„Ansturm der Armen“ – Flüchtlingsbilder in den Mainstreammedien [II/127] Karikatur von Walter Hanel für die FAZ vom 7.8.1991; [II/128a–c] Cover DER SPIEGEL, Nr. 37, 9.9.1991; Nr. 15, 6.4.1992; Nr. 36, 2.9.1990; [II/129] Benetton-Werbung (1992)

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rer See bzw. vor der zu erwartenden Apokalypse rettet, gingen beide Bildmuster eine Synthese ein. (II/127) In einer Karikatur von Walter Hanel für die FAZ vom 7. August 1991 ist das Tor der Arche zum Einstieg weit geöffnet, so dass sich Massen von ‚Asylanten‘ auf dem Schiff drängen. (II/128a) Im September 1991 schaffte es die Bildmetapher vom überfüllten Boot auf die Titelseite des SPIEGEL. Die SPIEGELArche erschien als ein behäbiges, schwer zu manövrierendes Gefährt. Die schwarzrot-gold angestrichene Arche stand, von Balken gestützt, noch an Land. An Deck waren typische Elemente einer deutschen Innenstadt erkennbar: eine Kirche, ein Bankhochhaus, Wohnhäuser, ein Kaufhaus, während eine Sintflut von Strichmännchen auf das Schiff schwappte. Zu fotografischen Ikonen der Flüchtlingskrise von 1990/91 avancierten Bilder des vor dem Hafen von Bari in Italien liegenden, völlig überfüllten albanischen Flüchtlingsschiffes Vlora. Sie führten die Bildmetapher aus der Fiktionalität von Karikaturen und Zeichnungen heraus in die Realität. Insbesondere die von Bildagenturen vertriebenen Fotografien der Menschentrauben auf der Vlora rückten das Drama an der Adria auf die Seiten der Zeitungen und Magazine. Am 11. August 1991 schrieb der SPIEGEL: „Gefährlicher Sommer. Eine Welle albanischer Flüchtlinge erschreckt die Italiener in ihrem Ferienmonat – Menetekel auch für andere Staaten Europas?“ Ein Foto des Flüchtlingsschiffs versah das Hamburger Magazin mit der Bildunterschrift „Flüchtlinge beim Entern des Frachters ‚Vlora‘. ‚Übel des Jahrhunderts‘“. In der folgenden Ausgabe des Magazins illustrierten weitere Bilder aus Bari einen mit „Krieg des dritten Jahrtausends“ überschriebenen Artikel, der Vermutungen über zukünftige Migrationsströme anstellte und über angeblich zu erwartende 50 Millionen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Sowjetimperium spekulierte. Auch Buchcover und ungezählte Karikaturen bedienten sich der Bildvorlage. (II/129) Eine besondere Publizität erhielten die Menschen auf der Vlora 1992 durch eine Werbekampagne der Bekleidungsfirma Benetton, womit das Thema Migration in die Reihe der Schreckensbilder des Jahrzehnts eingereiht war. „Die in hervorragender Farbqualität und großer Auflage pu[II/130] blizierte Benetton-Werbung verankerte das Bild vom ‚vollen Boot‘ weiter im Alltagsbewusstsein der Deutschen.“94 Neben der Bildmetapher des ‚vollen Bootes‘ waren es Bilder vom ‚Ansturm‘ männlicher, zumeist düster dreinblickender ‚Horden‘ auf die Außengrenzen der EU, (II/128b) so auf dem SPIEGEL-Titel „Asyl. Die Politiker versagen“ vom 6. April  1992. Mit dem Wort ‚Ansturm‘, das explizit bereits das SPIEGEL-Cover vom 9.

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September 1991 benutzt hatte, wurde zugleich eine kriegerische Metapher in den Diskurs eingeführt, die an militärische Attacken bzw. an den ‚Ansturm‘ der Hunnen aus dem Osten erinnerte, womit eine Brücke zu älteren Ängsten vor einem vermeintlich asiatischen Bolschewismus hergestellt war. (II/128c) Nur selten einmal waren es näher definierte Gruppen und Ethnien, gegen die die Bildpublizistik mobilisierte, wie das SPIEGEL-Cover „Asyl in Deutschland? Die Zigeuner“ vom September 1990. Mit Fotografien und Titelbildern wie denen des ‚vollen Bootes‘ und des ‚Ansturms der Armen‘ machten Mainstreammedien wie der SPIEGEL und die FAZ die bis dato eher als Stammtisch-Parolen betrachteten Metaphern in der Mitte der Gesellschaft hoffähig. Bezogen auf das übrige Europa war weniger vom ‚vollen Boot‘ die Rede. Präsenter war hier das militärische Bild der Festung. Schon am 29. Juli 1992 hatte Walter Hanel in einer Karikatur für die FAZ Europa als Festung inmitten eines tosenden Meeres gezeichnet – ein Bildmotiv, das in unzähligen Variationen Karriere machte. In den Folgejahren wurde Europa immer häufiger mit dem ursprünglich aus dem Nationalsozialismus stammenden Begriff ‚Festung Europa‘ dargestellt. Die Bilder suggerierten, dass es nicht Menschen waren, die vor Armut, Krieg und Verfolgung Einreise nach Europa begehrten, sondern Horden von Kriminellen, deren man sich mit militärischer Macht zu erwehren habe. Trotz des Abebbens der Flüchtlingsströme und des Rückgangs der Asylbewerberzahlen blieben xenophobe Angstbilder in den Köpfen der Bundesbürger existent. Sie wurden von Mainstreammedien und rechten Parteien weiter bedient. Unter dem Eindruck einer verstärkten Einwanderung aus dem arabischen Raum sowie aus Nordafrika nahmen sie nun allerdings andere Gruppen von Flüchtlingen ins Visier. An die Stelle der Ängste vor Einwanderern aus Ost- und Südosteuropa sowie von Roma und Sinti trat nun generell die Angst vor einer Islamisierung Deutschlands. (II/130) Der SPIEGEL machte 2007 sein Cover zum Thema „Die stille Islamisierung“ mit einem Bild des Brandenburger Tores vor schwarzem Nachthimmel auf, über dem Halbmond und fünfzackiger Stern als Symbole des osmanischen Reiches stehen. Desselben Bildarrangements bedienten sich in der Folge auch Buchpublikationen rechter Verlage, die es immerhin auf die SPIEGEL-Bestsellerliste schafften. Zu Beginn der 2010er Jahre verdoppelte sich die Zahl der Asylanträge fast jährlich bis auf circa 480.000 im Jahr 2015. Immer mehr Menschen machten sich auf der sogenannten ‚Balkan-Route‘ auf den Weg nach Westeuropa, insbesondere nach Deutschland. Im Juni 2015 öffnete Mazedonien auf Druck von Hilfsorganisationen und der Öffentlichkeit seine Grenzen für die Durchreise. Am 25. August vermeldete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Aussetzung des Dublin-Verfahrens für Menschen aus Syrien. Schließlich kapitulierte am 31. August die Regierung in Budapest vor der Realität und den Forderungen der Flüchtenden nach einer Weiterreise in Richtung Deutschland und stellte Züge bereit, mit denen die Menschen teilweise direkt nach Wien, Passau und München reisen konnten. Im Unterschied zur Flüchtlingskrise nach 1989 erwies sich die mediale Öffentlichkeit jetzt besser auf eine neuerliche Migrationsbewegung vorbereitet. In zahlrei-

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chen Bildreportagen und Fotoausstellungen war ihr das Elend der Hilfesuchenden in ihren Herkunftsländern und während der mitunter monatelangen lebensgefährlichen Flucht vor Augen geführt worden. Insbesondere die Bilder der Tragödien, die sich während der Flucht im Mittelmeer ereigneten, erregten das Mitleid der Öffentlichkeit und machten die Flüchtlingsthematik zum Gegenstand eines neuen ‚Erregungsjournalismus‘. Bilder von Einzelschicksalen, die nachempfunden werden konnten, traten zunehmend in den Fokus und an die Stelle von Angst einflößenden anonymen Massen. ( II/64) Zur Ikone der neuen Flüchtlingsbewegung wurde auch in Deutschland das Bild des toten kurdisch-syrischen Jungen Alan Kurdi am Strand von Bodrum in der Türkei. Mit ihm hatte die neue Migration einen Namen und eine konkrete Geschichte erhalten. Die neuen Bilder fliehender Menschen unterschieden sich von den bisherigen Aufnahmen gesichtsloser Massen durch eine individualisierende Nahoptik. Keine der Pressefotografien nahm die Menschenmengen mehr wie noch 25 Jahre zuvor von oben oder aus großer Distanz auf. „Die Fotografen begegnen den Flüchtlingen vielmehr auf Augenhöhe, angstfrei gehen Geflüchtete und der Aufnehmende in Gestalt des Bildbetrachters aufeinander zu.“95 Bilder der Nähe sowie vor allem Aufnahmen von Kindern bestimmten die neue Sicht, und dies sowohl in den Printmedien als auch in den Hauptnachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. (II/131) Wiederholt machte etwa die Tagesschau mit hoch suggestiven Hintergrundbildern auf, von denen aus Kinder auf den Armen ihrer Eltern dem Sprecher über die Schulter schauend die Betrachter direkt fixierten und diese zur Solidarität auf- bzw. Gefühle von Mitleid und Barmherzigkeit einforderten. Die neue Migration erschien in diesen Bildern hauptsächlich als eine Migration von Familien oder Müttern mit Kindern, die sie de facto nur zu einem kleinen Teil war.

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[II/131] Standbild Tagesschau-Intro vom 25.10.2015 mit Jan Hofer (Screenshot)

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Die publizierten Bilder von den katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingslagern entlang der ‚Balkan-Route‘, von den Ausschreitungen an der griechisch-mazedonischen Grenze und von im Mittelmeer ertrunkenen Menschen waren einerseits „lenkende Bilder“ (Jörg Probst) mit einer hohen Abschreckungsfunktion, mit denen Politiker die EU aufforderten, die Westbalkan-Route zu schließen, andererseits waren sie mobilisierende Bilder, mit denen Teile der westlichen Zivilgesellschaften ihre Regierungen unter Handlungsdruck setzten, die Grenzen zu öffnen und den Flüchtlingen zu signalisieren, sie seien willkommen. Aus der Bilderflut der kommenden Monate kristallisierte sich mit der Zeit der Bilderkorpus einer neuen Willkommenskultur heraus. (II/132, 133) Die Aufnahmen zeigten, wie etwa in der Grenzstadt Flensburg Menschen jedweden Alters und lokale Initiativen die neu ankommenden Migranten am Bahnhof mit ‚Refugees Welcome‘-Schildern in Empfang nahmen und bejubelten, sie mit dem Notwendigsten versorgten und ihnen Unterkünfte vermittelten. Deutschland, so schien es, befand sich in einer kollektiven Willkommenstrance. Im medialen Diskurs verkörperten die zivilen Helfer und Helferinnen an den Bahnhöfen sowie die Bereitschaft der Deutschen, Geld, Kleidung oder Zeit zur Unterstützung der Geflüchteten zu spenden, das Wesen einer neuen deutschen ‚Willkommenskultur‘. Ursprünglich war der Begriff von dem politischen und wirtschaftlichen Establishment gezielt in den gesellschaftlichen Diskurs lanciert worden. Nach innen diente er als Legitimationsinstrument für eine gesteuerte Arbeitsmigration, nach außen sollte er zur Verbesserung des Images und der Attraktivität von Deutschland als Wirtschaftsstandort beitragen. Die neuen Bilder der Hilfsbereitschaft und der offenen Arme waren insofern folgenreich, als sich die Merkel-Regierung durch sie ermutigt fühlen konnte, ohne Debatte im Bundestag und ohne Diskussion in der Gesellschaft die Grenzen zu öffnen. Ermutigt fühlen konnten sich Merkel & Co. auch von einem spezifischen Willkommensjournalismus, der nicht die tatsächlichen Stimmungen in der Bevölkerung abbildete, sondern die Stimmungen und Wünsche einer besonderen Berufsgruppe, wie sie insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und in links-liberalen Zeitungen vorherrschte. Ein Beispiel für die Flüchtlingsoffenheit deutscher Leitmedien war die Titelseite der ZEIT vom 6. August 2015 mit der Schlagzeile „Willkommen!“ und einer großformatigen Fotografie einer syrischen Flüchtlingsfamilie am Rande einer Autobahn, die sich direkt auf den Fotografen zubewegte. Gegenstimmen und noch seltener Gegenbilder zur neuen Willkommenseuphorie gab es kaum. Im Gegenteil. „Wer sich der kollektiven Euphorie widersetzte“, so Alexander Grau in Cicero, „wer darauf hinwies, dass ganz überwiegend schlecht ausgebildete junge Männer sich auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten, die ganz überwiegend keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention waren, sondern Wirtschaftsmigranten, deren Weltbild die Integration in westliche, liberale Gesellschaften zumindest beschwerlich macht, wurde als Populist, Rassist oder Rechtsaußen attackiert.“96

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[II/132] Transitflüchtlinge nach Skandinavien im Bahnhof Flensburg (Herbst 2015), veröffentl. u. a. in der taz, dem Tagesspiegel, der Welt. [II/133] Sach- und Lebensmittelspenden im Bahnhof Flensburg, Aufnahme vom 10.9.2015, veröffentl. u. a. in der Welt

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Selfie: Schakir und Angela – Das Selfie der ‚Willkommenskultur‘ Es ist Donnerstag, der 10. September 2015. Deutschland befindet sich am Beginn der zweiten ‚Flüchtlingskrise‘. Noch weiß niemand, wie sich der Strom der Flüchtlinge nach Deutschland in den kommenden Monaten entwickeln wird. An manchen Tagen kommen 10.000 Menschen über die deutsch-österreichische Grenze. Angela Merkel besucht heute die Erstaufnahmestelle für Asylbewerber der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Spandau. Seit einigen Tagen lebt hier der jesidische Bauer Schakir Kedida. Vor wenigen Monaten noch wohnte er als Kleinbauer zusammen mit seiner Familie in einem Dorf im Nordirak. Als im Sommer 2014 Panzer der irakischen Armee an seinem Dorf vorbeifahren und die Soldaten vor den näher rückenden IS-Terroristen warnen, ergreift Schakir Kedida die Flucht. Die Familie packt das Nötigste zusammen. Mit ihrem Traktor fahren sie an die türkisch-irakische Grenze in ein von Kurden kontrolliertes Gebiet. Ein Jahr bleibt die Familie hier. Das Elend dort ist groß. Im Juni 2015 fasst Schakir Kedida den Entschluss, nach Deutschland zu fliehen, wo Verwandte von ihm leben. Mithilfe von Schleusern schafft er es über Istanbul, Bulgarien und Serbien nach Budapest und von dort in einem Kühltransporter nach Deutschland, wo er der Flüchtlingsunterkunft in Spandau zugewiesen wird. Schakir Kedida ist 41 Jahre alt. Er tauscht sich via Facebook mit seiner Familie aus, die nach wie vor im Nordirak lebt. Er hat versprochen, sie nachzuholen. Schakir Kedida wird aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich ein junger Mann die Türe aufstößt und aufgeregt berichtet, die Kanzlerin sei da. Kedida eilt in den Innenhof, wo sich bereits Dutzende von anderen Flüchtlingen um Angela Merkel versammelt haben. Wie diese drängt auch er sich in Merkels Richtung, um ein Selfie von sich und der mächtigsten Frau der Welt zu ma-

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[II/134] Selfie von Schakir Kedida mit Angela Merkel in der Erstaufnahmestelle der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Spandau, Aufnahme vom 10.9.2015

chen. Dabei wird er von Sicherheitsleuten zurückgedrängt. Die Kanzlerin sieht das und bedeutet ihm mit einer einladenden Geste, zu ihr zu kommen. Kedida hebt sein Handy und drückt auf den Auslöser. (II/134) Er bedankt sich bei der Kanzlerin und nennt ihr kurz seinen Namen. Sein Selfie zeigt mittig die verhalten lächelnde Kanzlerin, links daneben den strahlenden Fotografen. Diesem

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[II/135] Bernd von Jutrczenka, Die Kanzlerin und der Flüchtling Schakir Kedida am 10.9.2015

ist ein Foto von großer Nähe gelungen, da er in dem Augenblick abdrückt hat, als sich beide an ihren Schläfen berühren. Auch andere Asylbewerber haben ähnliche Fotos gemacht. Kedida stellt das Selfie-Foto mit der Bundeskanzlerin noch am selben Tag auf seine Facebook-Seite. Innerhalb weniger Stunden erhält es 1.600 Likes. Aber nicht sein Selfie ist es, das um die Welt geht und heute als Symbol für Merkels ‚Willkommenskultur‘ gilt, (II/135) sondern eine Aufnahme des Profifotografen Bernd von Jutrczenka. Dieses bildet jenen Augenblick ab, in dem Kedida mit seinem Handy das Selfie mit Angela Merkel macht – außerdem das nähere Umfeld mit zwei weiteren Handy-Fotografen und mehreren Sicherheitsbeamten, denen er über die Schulter fotografiert. Es ist ein Foto mitten aus dem Gedränge heraus. Es wirkt deshalb besonders authentisch.

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Jutrczenka startete seine journalistische Arbeit 1987 als freier Fotograf in Hannover. Nach dem Fall der Mauer arbeitete er für die BILD-Zeitung als Fotochef der Regionalredaktion in Magdeburg, dann in der Zentrale in Hamburg. Nach einem Zwischenspiel als Fotochef der Welt wechselte er als Chefredakteur zur Nachrichtenagentur ddp. Seit Mitte 2003 ist er Mitglied der Chefredaktion von dpa und dort für die Bilderdienste verantwortlich. Über die Entstehung des Fotos äußerte er sich in einem Gespräch: „Die Situation mit den Selfies, die war schon sehr echt und spontan. Ob Merkel damit ein Zeichen setzten wollte, wie das manchmal gesagt wird, das weiß ich nicht. Ich glaube eher, dass es ihr unangenehm gewesen wäre, einfach so da ‚rein zu rauschen‘ ohne den Leuten mit einer Geste der Offenheit zu begegnen.“97 So entspannt lächelnd wie auf dem Foto mit Kedida sehe man die Kanzlerin

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eher selten. Das mache das Bild besonders. Außerdem drücke es eine „warme Stimmung“ aus. „Es ist ein Moment der Ruhe, ein Moment der Freundlichkeit.“ Das Foto sei „ohne jede Frage spontan“, so auch Horst Bredekamp. „Man sieht es in der Spannung zwischen der Nähe, die sich durch die leichte Berührung der Schläfen ergibt, und dem Abstand, der sich durch ihre Hand ergibt, die zwischen den Oberarmen liegt. Selbst in diesem Moment überraschender Nähe versucht Merkel, Distanz zu halten.“98 Angela Merkel, so Bredekamp, habe ein großes Gespür für ikonografische Momente besessen. „Im Flüchtlingsheim hätte man inszenierte Fotos machen können, aber Merkel mochte mit den vor dem Haus stehenden Personen in Kontakt kommen. Dort entstand Jutrczenkas auf der ganzen Welt verbreitetes Bild.“99 Jutrczenkas Aufnahme findet sich in den kommenden Tagen auf den Titelseiten zahlloser deutscher Tages- und Wochenzeitungen; auch ausländische Zeitungen drucken sein Foto ab. Am 7. Oktober ist sein Foto als Hintergrundbild zu einem Gespräch mit der Kanzlerin bei Anne Will zu sehen. Das Handelsblatt kürt das Foto zum „Selfie des Jahres 2015“. dpa erklärt das Bild zum dpa-Foto des Jahres 2015, womit es noch einmal durch alle Zeitungen geht. Schakir Kedida hat nie gedacht, dass das Bild von der deutschen Kanzlerin und ihm in wenigen Tagen um die Welt gehen wird und später zum Symbol für Merkels ‚Willkommenskultur‘, gar zum „‚global icon‘ der Flüchtlingskrise“ (Jörg Probst) werden würde. Noch Tage später erhält er auf Facebook Nachrichten von Menschen, die er gar nicht kennt. In der U-Bahn sieht er sein Foto über den Bildschirm des Newskanals der Verkehrsbetriebe flimmern. Wildfremde sprechen ihn an und wollen ein Selfie mit ihm machen. Kedida hat eine hohe Meinung von Deutschland und von der Kanzlerin: „Für Jesiden ist Deutschland das zweite Vaterland. Frau Merkel beschützt uns“, sagt er später in einem Interview.100 Seine Zukunft liege in Deutschland.

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Die Kanzlerin muss sich für das Foto mit Schakir Kedida später rechtfertigen. Flüchtlinge auf der ganzen Welt würden das Bild als Symbol für Deutschlands offene Grenzen interpretieren. Durch solche Bilder, die global im Netz zirkulieren, verschärfe sich, so die Kritik, der sogenannte Pull-Effekt, würden weitere Flüchtlinge angezogen. Tatsächlich ist das Selfie-Foto mehr als einem Drittel der befragten Syrer vor ihrer Einreise bekannt gewesen. Bei Irakern und Flüchtlingen aus Zentralasien wie Afghanistan, Pakistan, Iran, Indien lag der Anteil bei 27 bzw. 18,5 Prozent. Tatsache ist auch, dass zahlreiche Migranten der Balkanroute in den nächsten Wochen als Dankesbezeugungen bzw. bildmagischen Schatz Porträtfotografien Merkels in Form von Plakaten mit sich führten, die sie aus dem Internet heruntergeladen hatten. Die deutsche Kanzlerin erschien vielen als eine Art schützende Ikone. Merkel avancierte zur ‚Mutter Theresa‘ der Flüchtenden. Das Selfie von Schakir Kedida und das Pressefoto von Jutrczenka können auch deshalb als Symbolfotos der zweiten Flüchtlingskrise gelten, weil sie ein individualisiertes Einzelschicksal eines Flüchtlings mit der staatlich gewünschten ‚Willkommenskultur‘ in Gestalt der Kanzlerin verkoppeln.

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Die Welle der Hilfsbereitschaft des Sommers 2015, so der allgemeine Tenor in den Medien, habe ein „Wir-Gefühl“ erzeugt, das offensichtlich zu den rassistischen Gewalttaten der vorangegangenen Monate kontrastierte.101 Der deutschen Gesellschaft wurde ein Wandel bescheinigt. „Der ‚lange Sommer der Migration‘  […] sollte das Bild eines Deutschlands zeichnen, welches ein offenes und freundliches Gesicht gegenüber Fremden zeigt, welches selbstaufopfernd Hilfe für Menschen in Not leistet, und welches mit einer beinahe euphorischen Aufbruchsstimmung in die Zukunft blickt.“102 Die positiven Bilder einer neuen ‚Willkommenskultur‘ begannen, die negativen Bildmetaphern der Flüchtlingskrise nach 1989 und die Fotografien von rechtsextremen Gewalttaten gegen Flüchtlinge der vergangenen Monate zu überschreiben. Die New York Times notierte: „The pictures of these arrivals, and others during the following days, became symbols of the German ,Willkommenskultur‘, the welcoming culture“.103 Für die Süddeutsche Zeitung wurde Deutschland „ein Land mit Willkommenskultur, das Flüchtlinge mit offenen Armen empfängt“.104 Der SPIEGEL schrieb euphorisch von einem neuen „Sommermärchen“, andere gar vom „Sommer der Menschlichkeit“. Deutlich skeptischer sah dies die Neue Zürcher Zeitung, die die bundesdeutschen Medien mit wenigen Ausnahmen in einem „Überbietungswettbewerb um Empathie und Willkommenseuphorie“ sahen. Tatsächlich erwies sich das, was medial als ‚Willkommenskultur‘ gefeiert wurde, weitgehend als mediale Erfindung. Zwar waren die Bilder der vielen Willkommensempfänge echt, aber zu keinem Zeitpunkt für die Stimmung in Deutschland repräsentativ. Giovanni di Lorenzo  – Chefredakteur der ZEIT  – hat dies indirekt bestätigt, als er sich im Juli 2016 öffentlich von der Titelseite seiner Zeitung vom 6. August 2015 distanzierte. Die Art und Weise, wie seine Kollegen die Flüchtlingsbewegung begleitet hätten, sei durchaus „kritikwürdig“. „Wir haben uns nicht nur zu Beobachtern, sondern auch zu Akteuren dieser ‚Refugees Welcome‘-Bewegung gemacht.   […] Als ich im Urlaub die Schlagzeile der Titelgeschichte der Zeit las: ‚Willkommen‘, und dann der Leitartikel dazu: ‚Jeder Flüchtling eine Bereicherung‘, da hätte ich am liebsten meinen Urlaub abgebrochen. Weil ich einfach glaube, das schlägt auf uns zurück. Das ist zu viel. Das ist nicht unsere Aufgabe, das zu feiern. Es ist unsere Aufgabe, das zu beobachten.  […] Wir waren Akteure und nicht mehr Beobachter.“105 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der Medienwissenschaftler Michael Haller 2017 in einer im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto Brenner Stiftung durchgeführten Untersuchung der Flüchtlingsberichterstattung in überregionalen und regionalen Zeitungen sowie in Online-Portalen wie tagesthemen.de. Der Titel der Studie: „Die Flüchtlingskrise in den Medien“. „Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten und nachzufragen“, so Haller, „übernahm der Informationsjournalismus die Sicht, auch die Losungen der politischen Elite. Ihn interessierte das Politiker-Gezänk in Berlin weit mehr als die Sorgen und Ängste weiter Teile der Bevölkerung – mehr als die Nöte der nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge und Asylbewerber, mehr auch als die Probleme der Organisatoren und Helfer vor Ort.“ 106

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Auch Ansichten eines Teils der Bevölkerung, „die aus vielerlei Gründen die Vollzugspolitik skeptisch bis kritisch verfolgte“, so die Studie, seien nicht ernsthaft in die Debatte einbezogen worden. Die von der Bundesregierung protegierte Willkommenskultur sei durch die Printmedien zu einer „Art Zauberwort“ verklärt worden. Auch sei auffällig moralisch berichtet worden. Das Flüchtlingsthema sei stellenweise mit „zu viel Gutmensch-Sentimentalität und zu wenigen kritischen Nachfragen an die Zuständigen“ behandelt worden. Die Medien hätten sich ähnlich wie weite Teile der Politik beim Thema Flüchtlinge in einem „geschlossenen Kommunikationsraum“ bewegt. Journalisten, so das Resümee, seien mehr Akteure als neutrale Beobachter, mehr Pädagogen als Redakteure gewesen. Es war ein „kurzer Sommer der Menschlichkeit“. Mit den sexuellen Übergriffen junger Migranten mit arabischem und nordafrikanischem Hintergrund auf mehr als 600 Mädchen und Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015 fand die ‚Willkommenskultur‘ schlagartig ein Ende. Die publizierten Aufnahmen der Ereignisse ließen die Übergriffe oft nur erahnen, was Spekulationen Tür und Tor öffnete. Die BILD-Zeitung sprach von der „Nacht der Schande von Köln“. Da es – außer den Handy-Fotos der Täter – keine Bilder von dem Massenübergriff gab, hinterließ er im kollektiven Gedächtnis der Bundesbürger kaum Spuren. Die wenigen Fotos der mutmaßlichen Täter von Überwachungskameras und den Handys der Opfer, mit denen die Polizei nach den Tätern fahndete, wurden später in der Presse zudem bis zur Unkenntlichkeit verpixelt. Während die regierenden Parteien das hoch emotionalisierte Thema Flucht und Asyl im Bundestagswahlkampf 2017 wohlweislich in ihrer Bilderpolitik mieden, blieb es Thema von rechtsradikalen und rechtskonservativen Parteien, wo es eine neue Debatte um Sicherheit und Fremdheit entfachte und ältere Bildmuster wie das der Schattengestalten reanimierte.

Ausschreitungen, Anschläge, Attentate Ikonen des Hasses Deutlich stärker als die ‚Bonner Republik‘ war die Republik von Berlin, sieht man vom Terror der RAF ab, durch Anschläge, Attentate und Gewaltexzesse geprägt. Diese gingen – auch das unterschied die ‚Berliner‘ von der ‚Bonner Republik‘ – in erster Linie von Akteuren aus dem rechtsextremen Milieu aus, aber weiterhin auch von islamistischen und linksextremen Gruppen. In diesen Anschlägen artikulierte sich ein Hass auf Fremde und Andersdenkende bzw. -gläubige sowie auf das politische System der Republik, den es so bislang allenfalls in Ansätzen gegeben hatte. Bilder und Bildmedien spielten sowohl bei den Taten selbst als auch in der Berichterstattung und bei der Aufarbeitung eine gewichtige Rolle. Zum Teil motivierten sie die Täter in ihrem Handeln, zum Teil bedienten sich die Täter, ähnlich wie in den 1970er Jahren die RAF, bewusst der Bildmedien. Die Opferzahlen rechtsextremistischer Gewalt dieser Zeit variieren stark. Während die Amadeu Antonio Stiftung für den Zeitraum von 1990 bis 2021 auf 213 Todesopfer rechten Terrors verweist, zählte das Bundeskriminalamt im Auftrag der Bundesregierung für dieselbe Zeit 109 Todesopfer. Differenziert man die Taten

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Die 90er Jahre – Bilder fremdenfeindlicher Gewalt [II/136] Standbild Tagesschau, 23.11.1992; [II/137] Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Wohnhaus in Mölln, 23.11.1992; [II/138] Aufgebahrte Särge mit den Toten vor der Brandruine der Familie Genç kurz nach dem Anschlag in Solingen, bevor diese in die Türkei überführt wurden; [II/139] Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße, Aufnahme vom 18.1.1996

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nach Beweggründen, so handelten die Täter primär aus fremdenfeindlichen, ausländerfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Motiven. Die Höhepunkte der Attacken lagen zu Beginn der 1990er Jahre und Mitte der 2010er Jahre. Eine erste Welle rechtsextremistischer Gewalt erschütterte die Republik unmittelbar nach dem Fall von Mauer und ‚Eisernem Vorhang‘. Geografisch lag deren Schwerpunkt in den neuen Bundesländern. Eines der ersten Opfer war der aus Angola stammende Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa, der von einem rechtsextremen Mob bei einer Jagd auf Ausländer im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelt wurde und am 6. Dezember 1990 an den Folgen des Überfalls starb. Nach dem Toten wurde später eine Stiftung benannt, die ihre Arbeit den Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt und dem Gedenken an Amadeu Antonio widmet. Vorfälle dieser Art wiederholten sich. Am 6. April 1991 starb in Dresden Jorge Gomondai aus Mosambik. Er war 28 Jahre alt. Neonazis hatten ihn wenige Tage vorher in einer Straßenbahn beleidigt, geschlagen, bedroht und dann aus der fahrenden Bahn gestoßen. Der Mann erlitt bei dem Sturz schwerste Kopfverletzungen und starb nach sechs Tagen in einem Krankenhaus in Dresden. Er war das erste Todesopfer rassistischer Gewalt in Sachsen nach der Wiedervereinigung. Erste Höhepunkte ausländerfeindlicher Gewalt waren die Jahre 1992 und 1993. (I/136, 137) In der Altstadt der Kleinstadt Mölln im südlichen Schleswig-Holstein kam es bei einem Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der Nacht auf den 23. November 1992 zu drei Toten und neun Schwerverletzten. Das Haus brannte völlig aus. Bundesweit war es der erste Brandanschlag in der Geschichte der Bundesrepublik, bei dem Menschen ums Leben kamen. Entsprechend groß war die mediale Aufmerksamkeit. Im Zentrum der Berichterstattung standen Bilder des brennenden Hauses noch in der Tatnacht, die Brandruine am kommenden Morgen sowie Fotografien der Opfer. Ganz ähnlich war dies ein Jahr später beim Brandanschlag von Solingen, bei dem fünf Tote – ebenfalls ausschließlich türkische Frauen und Kinder – zu beklagen waren. (II/138) Zu einem eindrucksvollen Bekenntnis gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit geriet die von Medien begleitete Trauerfeier vor der Solinger Brandruine mit den fünf Särgen der Opfer, bevor diese in die Türkei überführt wurden. 1994/95 zählten die Behörden weitere 33 schwere Anschläge gegen Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünfte sowie Einrichtungen der türkischen Gemeinde in der Bundesrepublik. (II/139) Zum Mordanschlag mit den meisten Todesopfern kam es in der Lübecker Hafenstraße, wo bei einem nächtlichen Angriff am 18. Januar 1996 auf ein Asylbewerberheim mit vornehmlich afrikanischen Bewohnern 10 Menschen starben und 55 verletzt wurden. Wer die Täter waren, blieb ungeklärt. Nach dem Anschlag von Lübeck ebbte die Anschlagswelle für einige Zeit ab.

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Medienereignis ’92: Rostock-Lichtenhagen [II/140]

[II/140] Standbild aus der ZDF-Sendung Kennzeichen D-Spezial vom 24.8.1992

Die bundesweit größte mediale Resonanz fanden die ausländerfeindlichen Ausschreitungen zwischen dem 22. und dem 25. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Am Abend des 22. August 1992, einem Samstag, versammeln sich vor dem sogenannten ‚Sonnenblumenhaus‘ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen rund 2.000 Menschen, viele von ihnen Anwohner des Stadtteils. In dem Gebäude ist neben einem Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter der DDR die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern untergebracht. Jeder Asylbewerber, der dem Land zugewiesen wird, muss sich dort registrieren lassen. Allein in Rostock stellen 1992 jeden Monat mehr als 1.000 Menschen einen Antrag auf Asyl. Schon bald ist die Aufnahmestelle völlig überlastet. Oft müssen die Asylsuchenden tagelang warten, bis sie registriert sind und auf Wohnheime in anderen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns verteilt werden. Zeitweise warten bis zu 650 Menschen darauf, ihren Antrag stellen zu können – und täglich

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kommen neue Asylbewerber hinzu, viele von ihnen Sinti und Roma. Da es im Gebäude selbst nur 350 Betten gibt, harren Hunderte Flüchtlinge auf den Grünflächen zwischen den Häusern aus. Toiletten gibt es keine – die Stadt hat sich geweigert, entsprechende Einrichtungen bereitzustellen. Entsprechend sind die hygienischen Verhältnisse. Etwa 200 Gewalttäter, zumeist Jugendliche, beginnen an diesem Sonnabend damit, Steine auf das Gebäude zu werfen. In den folgenden Stunden und Tagen eskaliert die Situation. Es kommt zu Brandanschlägen auf das Gebäude, bejubelt von einer immer größeren Menge, ohne dass es Polizei und Behörden gelingt, der rechtsextremen Gewalttäter und der Lage Herr zu werden. Dass vor allem die Bilder von den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen Eingang in das kollektive Gedächtnis der Republik finden, hat mehrere Gründe. Anders als bei dem Angriff auf ein Wohnheim für ausländische Arbeiter in Hoyerswerda ein Jahr zuvor sind dieses Mal die Medien schnell zur Stelle. Infolge der tagelangen Dauer der

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Ausschreitungen treffen mehr als 20 in- und ausländische Kamerateams ein, um zum Teil live von den Ereignissen zu berichten, die sich zu den schwersten ausländerfeindlichen Ausschreitungen bzw. zum größten Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte entwickeln. Den Akteuren ist mediale Aufmerksamkeit sicher. (II/141) Zum Teil berichten die Reporter mitten aus dem Geschehen heraus. Ein weiterer Grund für die mediale Aufmerksamkeit ist die Massivität der Auseinandersetzungen und die hohe Gewaltbereitschaft der Akteure, die auch vor der nur unzureichend ausgerüsteten Polizei nicht haltmacht. „Das ist ein Bürgerkrieg hier, das Gefühl hatten wir damals“, erinnert sich ein Polizeibeamter. „Für mich war’s unfassbar, dass Jugendliche, die uns angegriffen haben, zwischen den Zuschauern verschwinden konnten, dass die Anwohner Platz gemacht haben, dass sie sie reingelassen haben.“107 Der Pogrom droht zum Volksfest zu werden. In unmittelbarer Umgebung des Geschehens werden Imbiss- und Getränkestände aufgebaut, bei denen sich Gewalttäter und Zuschauer mit Alkohol versorgen. Gegen Abend beginnen Randalierer, Betonplatten zu zertrümmern. Die ersten MolotowCocktails fliegen. Zuschauer beklatschen die Akteure. Polizeiwagen werden angezündet. Die Schaulustigen halten die Gewalttäter nicht auf – im Gegenteil: Sie applaudieren ihnen und feuern sie an.

Perspektiven auf Rostock-Lichtenhagen 1992 [II/141] Aufnahme mitten aus dem Getümmel, Rostock-Lichtenhagen 24.8.1992, Fotograf Thomas Haentzschel; [II/142] Standbild aus den ZDF-Aufnahmen vom 25.8.1992 mit Reporter Thomas Euting aus dem brennenden Wohnhaus; [II/143] der Zuschauer Harald Ewert, Foto von Martin Langer vom 24.8.1992 (beschnitten); [II/144] Protestkundgebung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Rostock-Lichtenhagen mit einem Schild, das ein weiter beschnittenes und koloriertes Bild von Ewert zeigt (o. D.)

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Das Fernsehen berichtet umfänglich über die Ereignisse. „Etliche Fernsehsender“, so SPIEGEL ONLINE rückblickend, „haben sich inzwischen am Ort des Geschehens eingefunden und berichten mit Live-Schaltungen aus Lichtenhagen. Millionen Menschen im In- und Ausland sitzen vor ihren Fernsehbildschirmen und verfolgen das Unfassbare, das sich in Rostock abspielt: In Deutschland, das so tolerant schien, wo die Nazizeit aufgearbeitet schien, müssen Ausländer um ihr Leben fürchten – unter den Augen der Polizei. Die Kameras zeichnen das Grölen der Menge auf, die Umstehenden applaudieren.“108 (II/142) Spektakulär sind vor allem die Ausschnitte eines Kamerateams des ZDF vom 24. August, das zusammen mit vietnamesischen Heimbewohnern und dem Ausländerbeauftragten der Stadt Rostock im brennenden ,Sonnenblumenhaus‘ eingeschlossen ist und dessen Befreiungsversuche zunächst scheitern. Die Zuschauer bekommen die dramatischen Bilder in Art einer ‚Reality Show‘ in der Sendung Kennzeichen D–Spezial zu sehen. (II/143) Zum ikonischen Foto der Ausschreitungen und zugleich zum neuen Symbol des ‚hässlichen Deutschen‘ wird eine Aufnahme des für den SPIEGEL arbeitenden Fotografen Martin Langer. Es zeigt am Rande des Mobs den 38-jährigen arbeitslosen Harald Ewert in einem trikotähnlichen T-Shirt der deutschen Nationalmannschaft, mit Sandalen, im Schritt durchnässter Jogginghose, offensichtlich alkoholisiert, den rechten Arm zum Hitlergruß ausgestreckt. Der Mann hat in einem Nachbarort die LiveBilder des brennenden Hauses im Fernsehen gesehen und sich dann mit seinem Auto nach Lichtenhagen aufgemacht. Vor Ort läuft ihm Langer über den Weg. Der Fotograf erzählt über das Zustandekommen des Fotos später: „Die Medien waren schon längere Zeit praktisch auf der Suche nach einem Motiv für diesen Begriff des Zuschauers, der bei solchen Ereignissen jubelt. Das wurde schon ein paar Mal beobachtet, aber keiner konnte es zeigen. Und dieses Bild hat es ge-

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zeigt, fast schon überhöht und übertrieben. Und deswegen ist es auch so wichtig geworden.“ Es habe eine Lücke gefüllt.109 Langers Bild macht Karriere. Es wird von vielen Zeitungen, einschließlich der New York Times, veröffentlicht, wie bei der taz zum Teil auf der Titelseite mit der sarkastischen Überschrift: „Abendland gerettet. Deutsche dürfen im Stehen pinkeln“. Die Westdeutsche Zeitung notiert später: „Ewert, das ist der personifizierte hässliche Deutsche, der aus Deutschlands dunkelster Geschichte zurückkehrt.“110 Die WDR-Sendung Zak verleiht dem arbeitslosen Mann einen Satirepreis, den ‚Bimbo‘. (II/144) Koloriert, beschnitten und vergrößert wird Langers Foto bei Kundgebungen und Demonstrationen mit dem Textzusatz aus der Social-Media-Kampagne „Du bist Deutschland“ mitgeführt. Der Satiriker Jan Böhmermann lässt das Bild für seine Ausstellung Deuscthland 2017 im NRW-Forum in Düsseldorf nachstellen. Aus dem Hitlergruß macht er einen Stinkefinger. Aufgrund des Fotos von Langer zählt Ewert zu den wenigen Personen, gegen die nach dem Pogrom ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Von rund 400 Ermittlungsverfahren führen nur 50 zu einer Verurteilung; lediglich vier Neonazis werden zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt. Wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen erhält Ewert einen Strafbescheid über 300 Euro. Da er die Strafe nicht bezahlen kann, verbringt er 30 Tage in Ersatzhaft. In der internationalen Presse werden die Ausschreitungen schnell mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht. Die norwegische Zeitung Dagbladet schreibt von der „deutschen Kristallnacht 1992“, das Svenska Dagbladet fühlt sich an die „erschreckenden Bilder aus dunkler Geschichte“ erinnert und die italienische La Repubblica sieht in Deutschland das Land des „rassischen Terrors“. Die Welt wird später vom „Rückkehr der Pogrome“ schreiben. Deutsche Medien wie die taz machen eine „Zäsur in der Nachkriegsgeschichte“ aus.

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In Erinnerung bleibt neben den Aufnahmen des brennenden ‚Sonnenblumenhauses‘ vor allem das Bild des angetrunkenen Mannes in Jogginghose, der seinen Arm zum Hitlergruß ausgestreckt hat. Dieses Foto, so ein Zeitgenosse, sei ähnlich wie das brennende Sonnenblumenhaus oder die hasserfüllten Gesichter des entfesselten Mobs „ein ikonografisches Bild, das uns alle unterschiedlich verfolgt“. Es sei nur schwer aus dem Gedächtnis zu tilgen.111 Ähnlich wie ( I/245) die Geiselnahme von Gladbeck einige Jahre zuvor waren die Krawalle ein besonderes Medienereignis. Boulevardzeitungen, allen voran die BILD-Zeitung, hatten mit ihrer Berichterstattung über Asylsuchende das Klima aufgeheizt und eine Art von Massenhysterie erzeugt, die der Gewaltwelle gegen Ausländer den Boden bereitet hatte. Auch Berichte und Ankündigungen der lokalen Presse besaßen einen mobilisierenden Effekt. Die andauernde Medienpräsenz dürfte bei den potenziellen Gewalttätern zudem das Gefühl von Bedeutsamkeit erzeugt haben. Der Journalist Jochen Schmidt – damals Hospitant des eingeschlossenen ZDF-Fernsehteams – kritisierte später, Fernsehsender hätten den Verlauf der Ereignisse mit beeinflusst. Die Inszenierung einer Nachricht – etwa durch testweises Ausleuchten des Platzes, ohne dass Neues passiert war – sei mit den ethischen Grundprinzipien des journalistischen Handwerks unvereinbar. Berichte machten die Runde, Fotografen und Kameramänner hätten Jugendlichen Geld geboten, um sich mit Hitlergruß ablichten zu lassen. Für Schmidt ist Lichtenhagen der „erste und einzige Brandanschlag in der deutschen Mediengeschichte, der live übertragen wurde. Alle waren da. Alle haben draufgehalten.“ Die Medien seien dabei mehr Regisseure als Beobachter gewesen. Einige hätten noch Scheinwerfer aufgebaut und den Tätern damit ein Zeichen gegeben, wenn etwas passieren sollte. Dies sei erst durch das Eingreifen der Polizei unterbunden worden.112

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Die Bilder von Rostock-Lichtenhagen sensibilisierten und mobilisierten die bundesdeutsche Zivilgesellschaft. In Demonstrationen und Kundgebungen mit großer Beteiligung artikulierte sich zunehmend Widerstand gegen die Exzesse der Ausländerfeindlichkeit. Einen zweiten Höhepunkt erlebten die ausländer- und fremdenfeindlichen Exzesse mit der Flüchtlingskrise Mitte der 2010er Jahre. Allein 2015 zählten die Behörden 48 Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte und Asylbewerberheime, davon die Hälfte in den neuen Bundesländern. Einen traurigen Rekord erzielte im Sommer 2016 der rechtsradikal motivierte Anschlag eines 18-jährigen Deutsch-Iraners in München mit neun Todesopfern. Sieben der Opfer waren Muslime, eines ein Rom und eines ein Sinto. Ebenfalls neun Menschenleben sowie zahlreiche Verletzte kostete der Anschlag eines Einzeltäters in Hanau im Februar 2020 in zwei ShishaBars. Unter den Opfern waren Menschen mit türkischen, kurdischen, bulgarischen, rumänischen, bosnischen und afghanischen Wurzeln sowie eine deutsche Romni. Die ARD sendete einen Brennpunkt. Eine neue Qualität der Fremdenfeindlichkeit markierten die NSU-Mordanschläge zwischen 2000 und 2006 mit insgesamt zehn Toten, davon acht Türkeistämmige, ein Grieche sowie eine Polizistin. Da sich die behördlichen Ermittlungen auf die Opfer selbst und auf deren Angehörige konzentrierten, wurde in Richtung rechtsextremer Motivationen kaum ermittelt. Die Taten erhielten in den Medien die irreführende Bezeichnung ‚Dönermorde‘ oder – nach dem Titel der Mordkommission – ‚Mordserie Bosporus‘, was eine insgesamt geringe öffentliche Resonanz zur Folge hatte. Die Medien vermuteten ähnlich wie die Polizei türkische Kriminelle als Täter. Die Opfer blieben fast durchweg unbekannt. Erst nachdem eine Täterin [II/145]

[II/145] Kundgebung in München zum Andenken an die von dem NSU ermordeten Menschen mit den Bildern der Mordopfer am Tag der Verkündung des Urteils, 11.7.2018

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Bekennervideos versandt hatte, rechnete man die Morde dem NSU zu. Erst jetzt wurden die Namen und die Gesichter der Ermordeten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. (II/145) Angehörige der Opfer sowie türkische Kulturvereine und Gemeinden organisierten in mehreren Großstädten Schweigemärsche, bei denen die Teilnehmer Schilder mit den Namen und den Bildern der Getöteten mit sich führten. Überall an den Orten der Mordanschläge wurden in den kommenden Monaten Gedenktafeln angebracht und Gedenkorte für die Ermordeten errichtet. Überregionale Aufmerksamkeit erhielten 2011 und 2012 zwei große Veranstaltungen, die ‚gegen rechts‘ mobilisierten und der Opfer gedachten. Am 2. Dezember 2011 organisierten Musiker wie Udo Lindenberg, Peter Maffay, Julia Neigel und Silly in Jena ein Benefizfestival mit dem Titel Rock ’n’ Roll Arena Jena – Für die bunte Republik Deutschland zugunsten der Angehörigen der Mordopfer, an dem sich 50.000 Menschen beteiligten. Zu einer eindrucksvollen Gedenkfeier des Staates kam es am 23. Februar 2012 im Berliner Konzerthaus, bei der Kanzlerin Merkel die Angehörigen der Opfer um Verzeihung für die falschen Verdächtigungen bat und die Morde „eine Schande für unser Land“ nannte. Zu Beginn der Gedenkveranstaltung hatten Berliner Schüler nacheinander zwölf Kerzen auf die Bühne getragen. Sie sollten an die zehn Ermordeten erinnern; eine weitere Kerze stand für das Gedenken an andere; ein letztes Licht sollte Zuversicht symbolisieren. Zu den rechtsradikal motivierten Morden hinzuzuzählen ist der Mord an Walter Lübcke – Regierungspräsident in Kassel – vom 2. Juni 2019 in einem nordhessischen Dorf. Der CDU-Politiker war wegen seines Engagements für Flüchtlinge und seines Widerspruchs gegen Pegida-Anhänger bundesweit bekannt geworden und hatte sich dadurch den Hass eines Rechtsextremisten zugezogen, der Lübcke vor dessen Wohnhaus mit einem Revolverschuss aus geringer Entfernung in den Kopf schoss. Videos und eine Fotografie des Politikers in einem rechtsextremen Blog, die ihn beim Besuch der jüdischen Gemeinde in Kassel unter dem Davidstern zeigte, hatten die Tat vorbereitet. Sie hatten den Politiker in der rechtsextremen Szene zum Hassobjekt gemacht, was zahlreiche Kommentare noch nach der Tat demonstrierten. Dort hieß es: „Aufhängen diese Schweine“, „An die Wand das Arschloch“ „Eine Wanze weniger“, „Jetzt hat er ne Kugel im Kopf, so is richtig!“ Außerdem hatte man die Adresse des Politikers publik gemacht. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilte den Täter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. In der Begründung stellte das Gericht fest, der Täter habe aus einer „von Rassismus getragenen völkisch-nationalen Grundhaltung“ heraus seinen Ausländerhass zunehmend auf Lübcke projiziert und ihn schließlich erschossen, um ihn für seine Haltung in der Flüchtlingsfrage zu bestrafen und andere von einer „Politik der Weltoffenheit“ abzuhalten. Zur Erinnerung an den erschossenen CDU-Politiker gab die Deutsche Post AG eine Briefmarke mit einem Porträtbild Lübckes heraus. Im Aufmerksamkeitsschatten der ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Anschläge der 1990er Jahre blieben antisemitische Anschläge gegen jüdische Einrichtungen und Personen. Zu ihnen zählen die unzähligen Beschädigungen und Schändungen jüdischer Grabstätten durch NS-Symbole quer durch die Republik. Gleichsam ritualisiert richteten sich die Anschläge gegen jüdische Gotteshäuser. Sie

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[II/146] Feuerwehr beim Löscheinsatz an der brennenden Synagoge von Lübeck, 25.3.1994

fungierten wie einst zur NS-Zeit als weithin sichtbare Symbole des Judentums und zogen Brandstifter geradezu magisch an. (II/146) Schlagzeilen machten 1994 und 1995 zwei Brandanschläge auf die Lübecker Synagoge. Erstmals seit der NS-Zeit brannte 1994 in Deutschland wieder eine Synagoge. Vier junge Männer aus der Stadt, drei von ihnen aus der rechtsextremen Szene, hatten in der Nacht zum 25. März 1994 Molotowcocktails auf das Gotteshaus im Herzen der Stadt geworfen und damit weltweit Entsetzen ausgelöst. Reporter aus aller Welt berichteten über den Anschlag. Ein Brandsatz zerstörte den Vorraum und beschädigte wertvolle Dokumente. Die Bilder von 1994 waren fast identisch mit denen von 1938. Ein Jahr später, im Mai 1995, wurde die Synagoge erneut Ziel eines Brandanschlags – nur drei Wochen, nachdem die vier Beschuldigten des Anschlags von 1994 zu zweieinhalb bis viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden waren. Die Täter blieben unbekannt. (II/147) Ein Anschlag mit hohem Symbolgehalt, der in vielerlei Hinsicht eine neue Qualität antisemitischer Anschläge bezeichnete, war der geplante, letztlich gescheiterte Massenmord eines Einzeltäters der jüdischen Besucher der Synagoge in Halle zum Jom-Kippur-Fest am 9. Oktober 2019. Der Angreifer hatte zunächst versucht, gewaltsam in die Synagoge einzudringen, um die dort versammelten Menschen zu töten. Nachdem ihm dies aber nicht gelungen war, erschoss er vor dem Gotteshaus eine zufällig vorbeikommende Passantin und kurz darauf den Gast eines Döner-Imbisses. Bevor er von Polizeibeamten festgenommen wurde, verletzte er noch zwei weitere Personen durch Schüsse. Datum, Ziel und die Motive der Tat hatte er vor der Tat im Bilderforum Meguca im Internet kommuniziert. Die Tat selbst übertrug

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[II/147] Standbild aus einer Videoaufzeichnung eines Tatzeugen vom Schusswechsel des Täters mit der Polizei; 9.10.2019; [II/148] Standbild aus dem Videofilm des Täters bei BILD TV, das Gesicht des Täters wurde vom Verf. unkenntlich gemacht

er per Helmkamera als Live-Stream. Neu an dem Anschlag von Halle war neben der Live-Übertragung vor allem die Akteursperspektive vom Geschehen. Nachdem der antisemitisch-rassistische Hintergrund der Tat bekannt war, stürzten sich die Medien auf die Bilder der Tat und den Attentäter. In fast allen Printmedien wurden Fotos des Attentäters abgedruckt, bei BILD sogar unverpixelt und mit voller Namensnennung. (II/148) Einer Sensation gleich kam das 36 Minuten lange Tätervideo, in dem dieser nach dem Vorbild eines Attentäters im neuseeländischen Christchurch vom März desselben Jahres die Tat gefilmt und kommentiert hatte. Auf den Websites von FOCUS und BILD konnte das Video eine Zeit lang in voller

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Länge heruntergeladen werden. Nach Recherchen des Live-Streaming-Videoportals Twitch hatten fünf Personen den Livestream direkt verfolgt, bis das Video nach etwa 30 Minuten gesperrt wurde. Bis dahin hatten es bereits mehr als 15.600 Nutzer des Messengerdienstes Telegram gesehen; zudem war es auf US-amerikanischen und deutschen Imageboards verbreitet und von mindestens zehn Neonazi-Kanälen geteilt und gefeiert worden. Bei der Tat von Halle seien die „Bezüge zur Kultur der Imageboards und der Gamer“, so eine Analyse, „sozial, sprachlich und ästhetisch“ deutlich zu erkennen. So wie der Täter seinen Anschlag als Livestream im Internet übertragen habe, hätten auch die Zuschauer „wie bei einem Egoshooter-Spiel aus Ich-Perspektive die Sicht des Schützen“ eingenommen, „bei der die Waffe in der Bildmitte auf und ab wippt“. „Er verbreitet das Video über eine Plattform, auf der hauptsächlich Mitschnitte von Computerspielen zu sehen sind. Wenn er dabei seine Aktionen kommentiert, verwendet er Floskeln der Gamer.“ 113 Für Forscher wie Maik Fielitz steht der Anschlag von Halle für „einen Terror, der als Spektakel für ein digitales Publikum“ geplant war. Damals wie heute besitze Gewalt eine gemeinschaftsbildende Funktion in faschistischen Bewegungen. „Im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit braucht es dafür heute aber gar keine großen Kampfverbünde oder Sturmabteilungen mehr. Andere können nun virtuell an der Gewalt teilhaben und die Wirkung der individuellen Tat kollektiv verstärken.“ 114 Ähnlich wie nach dem Geiseldrama von Gladbeck entflammte auch nach den Anschlägen von Hanau und Halle eine Diskussion über die Rolle der Medien. Die breite Berichterstattung habe im schlimmsten Fall dem Täter in die Hände gespielt, meinte Medienökonom Michael Jetter mit Bezug auf den Anschlag von Hanau: „Terrorismus lebt von Medien. In neun von zehn Fällen ist ein Terroranschlag nicht auf die Menschen speziell gerichtet, sondern ist darauf ausgerichtet, dass er eine gewisse Medienwirksamkeit erreicht.“ Dem dürfe die Medienberichterstattung nicht entsprechen. „Indem Medien zum Beispiel den Tätern nicht die Genugtuung geben, ihre Bilder zu zeigen, ihre Geschichte zu erzählen, ihr Manifest zu veröffentlichen und ihren Namen zu nennen.“ 115 Anders als zur Zeit der ‚Bonner Republik‘ trafen die rechtsradikalen Anschläge und Mordaktionen seit 1990 auf einen deutlichen Widerspruch in (Wander-)Ausstellungen und Fotoprojekten, in Spiel- und Dokumentarfilmen. Seit 2013 tourte eine vom Nürnberger Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung erstellte, 2021 aktualisierte Ausstellung mit dem Titel Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen durch die Republik, die z. T. als Outdoor-Ausstellung an mehr als 200 Orten zu sehen war. (II/149) Die Fotografin Regina Schmeken widmete den NSU-Opfern und den Orten ihres Todes 2016 ihr Foto- und Ausstellungsprojekt Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU. Sie habe die Dimensionen der Verbrechen festhalten und die Bodennähe fühlbar machen wollen, sagte sie in einem SPIEGEL-Interview. Der Titel des Projekts spielte sowohl auf den unmittelbaren Tatort an, auf dem die Opfer der rechtsterroristischen Mörder gefunden wurden bzw. verblutet waren, als auch auf die Gewalt begründende, weil Menschen ausschließende ‚Blut- und Boden‘-Ideologie der Nazis, die den Taten zugrunde lag.

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[II/149] Regina Schmeken, Enver Şimşek (38), 09.09.2000, Nürnberg Liegnitzer Straße (Parkbucht am Rande einer Ausfallstraße im Osten Nürnbergs. Dort wurde der Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 mit acht Schüssen niedergestreckt), Aufnahme vom 28.6.2015, aus: dies.: Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU

Mehrfach wurde das Thema ausländerfeindliche Anschläge im Medium Film aufgegriffen und bearbeitet. Interessant dabei waren zum Teil neue filmische Methoden und Perspektiven sowie die Tatsache, dass in etlichen dieser Filme Menschen mit migrantischem Hintergrund Regie führten und damit eine neue Betrachtungsweise auf die Geschehnisse einbrachten. Die bezogen auf die Anzahl der Fälle meisten Todesopfer kosteten Attacken und Anschläge islamistischer bzw. salafistischer Täter. Zwischen 1990 und 2020 kamen bei solchen Attacken mindestens 18 Menschen auf dem Gebiet der Bundesrepublik ums Leben. Der größte Anschlag, der das kollektive Bewusstsein geprägt hat, ereignete sich am 19. Dezember 2016 in Berlin. Ein abgelehnter Asylbewerber raste mit einem Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, nachdem er zuvor den LKW-Fahrer erschossen hatte. Er tötete elf weitere Menschen, bevor er von der Polizei erschossen wurde. (II/150) Die Zahl der Opfer und die Bilder vom Anschlagsort produzierten in der ganzen Welt Schlagzeilen. Dass die Opferzahlen im Vergleich zu denen anderer westeuropäischer Länder vergleichsweise ‚moderat‘ blieben, war nicht zuletzt der Arbeit der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden zu verdanken, denen es wiederholt gelang, Anschläge von Islamisten auf größere Menschenmengen zu verhindern. Viele deutsche Tageszeitungen widmeten dem Anschlag von Berlin in den nächsten Tagen ihre Titelseiten. Die BILD-Zeitung titelte zu einer Collage von Fotografien vom Anschlagsort „Angst! *** Mindestens 12 Tote *** Bewaffneter Täter nach

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[II/150] Tatortfoto vom islamistischen Anschlag von Berlin am 19.12.2016

Blutbad gestorben *** Was im LKW geschah *** ISIS bekennt sich zum Anschlag *** BKA-Chef warnt: Erhöhtes Attentats-Risiko *** Die Welt trauert mit Berlin“. Der Anschlag wurde ein Dauerthema in der Springer-Presse. Am 20. Dezember ließ die BILD-Zeitung zu einem Foto des beschädigten LKWs einen Psychotherapeuten zu Wort kommen, der Eltern erklärte, wie man mit Kindern über den Terror spreche. Und am 23. Dezember verwies die Zeitung unter der Überschrift „Augenblick des Terrors“ auf ein der Redaktion vorliegendes Video, das den Anschlag im Bild festgehalten hatte. Zehnmal mehr deutsche Staatsbürger verloren bei islamistischen Anschlägen im Ausland ihr Leben – eine Tatsache, die sich im öffentlichen Bewusstsein kaum niederschlug. 2016 zählte der Verfassungsschutz 124 deutsche Männer und Frauen, die seit 1993 vor allem als Touristen bei islamistischen Attacken ums Leben kamen bzw. an den Folgen solcher Anschläge starben. Der Anschlag mit den meisten getöteten deutschen Urlaubern war der Angriff eines Al-Qaida-Anhängers im April 2002 auf der tunesischen Ferieninsel Djerba. Der Täter brachte vor einer Synagoge einen mit Flüssiggas beladenen Kleinlaster zur Explosion und tötete dabei 14 deutsche Reisende, fünf weitere Touristen und sich selbst. Schon 1997 waren bei einer Attacke von Terroristen in Ägypten 13 Bundesbürger ums Leben gekommen. (II/151) Zu Ikonen des Anschlags von Djerba wurden ein Standbild und eine Sequenz aus einer Amateur-Videoaufnahme eines deutschen Touristen. Ein Ingenieur aus Berlin hatte seine Aufnahme Reportern unentgeltlich zur Verfügung gestellt, weil er, wie er sagte, „nicht am Leid anderer verdienen wollte“. Eher zufällig hatte auch ein Hobbyfilmer aus Hamburg Aufnahmen der brennenden Opfer gemacht. Die Bilder waren so schrecklich, dass er diese aus Respekt vor den Angehörigen der

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[II/151] Standbild aus einem Amateur-Videofilm eines Berliner Ingenieurs vom Terror-Anschlag auf die Synagoge von Djerba, 11.4.2002 [II/152]

[II/152] Fotografie aus der Perspektive der Krawallmacher, bürgerkriegsähnliche Szene im Schanzenviertel in Hamburg, Aufnahme eines dpa-Fotografen vom 7.7.2017

Opfer der Öffentlichkeit nicht zumuten wollte. Später verfolgten ihn die Bilder so sehr, dass er schließlich den gesamten Film löschte. Auch linksextreme Gewaltexzesse gab es weiterhin. Am bekanntesten wurden die Krawalle anlässlich des G20-Treffens der Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer am 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg. Zum Protest gegen das Treffen hatte das Bündnis ‚Grenzenlose Solidarität statt

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G20‘ aufgerufen, dem eine Reihe von linksgerichteten Organisationen wie Attac, Die Linke und kurdische Gruppen angehörten. An der zentralen Abschlusskundgebung am 8. Juli beteiligten sich zwischen 50.000 und 75.000 Menschen. Der Protest eskalierte am letzten Tag des Treffens in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, die zum Teil bürgerkriegsähnliche Züge annahmen. (II/152) Bilder von brennenden Autos, geplünderten Läden und bürgerkriegsartigen Szenen von Vermummten in der Auseinandersetzung mit der Polizei gingen um die Welt. Bedrängte Polizeibeamte gaben Warnschüsse ab. Von Übergriffen der Polizei war die Rede. Nach Polizeiangaben wurden 345 Straftaten angezeigt, 186 Personen festgenommen, 225 weitere in Gewahrsam genommen und 51 Haftbefehle erlassen. Vier Tage lang befand sich Hamburg, wie die ZEIT schrieb, im Ausnahmezustand. Medienbilder spielten bei dem G20-Treffen eine wichtige Rolle. Während sich die Organisatoren des Treffens schöne und symbolische Aufnahmen eines friedlichen Treffens erhofft hatten, setzten die angereisten Krawallmacher auf Bilder von Dissens, Zerstörung und Gewalt. Zum Teil produzierten die Gewalttäter spektakuläre Szenen für die Kameras und damit für die Zuschauer in aller Welt. Fernsehteams und Printmedien berichteten immer wieder mitten aus dem bürgerkriegsähnlichen Geschehen heraus. Zum Teil lieferten sie den Gewalttätern noch das Licht für ihre Aktionen – alles von Gaffern am Rande des Geschehens mit ihren Handykameras festgehalten. Nicht die Bilder des eigentlichen Gipfels bestimmten die Berichterstattung in den nachfolgenden Tagen, sondern die Bilder der Chaoten und Autonomen aus Altona, St. Pauli und dem Schanzenviertel: Bilder von marodierenden Vermummten, von brennenden Autos und Barrikaden, von geplünderten Geschäften, von zersplitterten Schaufenstern usf. Dass diese Bilder überwogen, daran hatten im Wesentlichen die Bilder der Fernsehmedien ihren Anteil. Zum Teil lieferte das Fernsehen den Gewalttätern erst die Bilder – und oft auch die Informationen – und motivierte diese damit erst zur Anreise und zur Tat. Der Chefredakteur des NDR-Fernsehens gestand ein, „dass die gewaltsamen Ausschreitungen den Gipfel zunehmend überschatteten“. Es sei die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, gerade in den öffentlich-rechtlichen Medien, „über solche aktuellen Entwicklungen zeitnah zu berichten und die Realität möglichst vollständig wiederzugeben. Daher ist es nachvollziehbar und richtig, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Berichterstattung des NDR während der Gipfeltage eine bedeutsame Rolle einnahmen. Insbesondere dann, wenn die Gewalt auf der Straße zum Gegenstand politischer Diskussionen und Entscheidungen wird, muss der NDR berichten.“ 116 Dass die Fernsehberichterstattung die Gewalt angeheizt habe, bestritt der NDR. Den Protestforscher Wolfgang Kraushaar erinnerten die Bilder aus dem Schanzenviertel an jene der Rassenunruhen in den USA Mitte der 1960er Jahre. „Da gab es auch das Phänomen mit den Rauchsäulen über den Städten – Chicago, Los Angeles und so weiter –, und gleichzeitig sind dort wirklich marodierende Gruppen durch die Straßen gezogen, haben Geschäfte geplündert, haben Autos angezündet, dort wurde

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[II/153] Besetzung der Treppe des Reichstagsgebäudes, Berlin 29.8.2020

die Nationalgarde eingesetzt, und wir haben auf einmal, zum allerersten Mal solche Szenen, solche Szenerien hier in einer Millionenstadt wie Hamburg erlebt ...“117 Auch die Polizei bediente sich neuester Bildtechnologien, um sich ein Lagebild zu verschaffen und Gewalttäter zu ermitteln, so etwa einer in einem Hubschrauber installierten Wärmebildkamera, auf deren Aufnahmen Randalierer zu erkennen waren, die Molotowcocktails auf einen Wasserwerfer schleuderten, bzw. mehrere Extremisten, die mit Tötungsabsicht Steine, Gehwegplatten und einen Molotowcocktail auf Polizeibeamte warfen und sich dabei noch fotografierten. Mit einer großen öffentlichen Plakataktion fahndete die Polizei nach Abschluss der Krawalle nach 104 mutmaßlichen Randalierern. Anschläge auf Verfassungsorgane blieben weiterhin die große Ausnahme. Einen solchen Anschlag hatte es am 4. März 1975 auf ( I/14) das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe gegeben, bei dem einige der großen Fensterscheiben zerborsten waren. Zu dem Sprengstoffanschlag hatte sich eine unbekannte Gruppe ‚Frauen der revolutionären Zelle‘ bekannt, deren Protest dem kurz zuvor ergange-

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nen BVG-Urteil gegen die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 galt. Im kollektiven Gedächtnis hinterließ der Anschlag keine Spuren. Schlagzeilen demgegenüber machte im August 2020 der gescheiterte ‚Sturm‘ einer Gruppe von etwa 400 Demonstranten – unter ihnen etliche ‚Coronaleugner‘ und sogenannte ‚Reichsbürger‘ – auf das Berliner Reichstagsgebäude. Vermutlich inspiriert durch den Sturm rechter Gruppen und Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington hatten sich diese am Rande einer Großkundgebung gegen die Corona-Maßnahmen des Bundes vor dem Reichstagsgebäude versammelt, die Polizeisperren durchbrochen, es dann aber nur bis auf die Treppe vor dem Gebäude geschafft, wo Polizeibeamte ihrem Treiben ein Ende bereiteten. Wie Pressefotos zeigen, befanden sich unter den zahlreichen Fahnen, die die Demonstranten mit sich führten, mehrheitlich schwarz-weiß-rote Fahnen des untergegangenen Kaiserreichs, Fahnen der Vereinigten Staaten von Amerika, einige schwarz-rot-goldene Deutschlandflaggen und Regenbogenfahnen, eine türkische Fahne sowie Fahnen der deutschen Bundesländer. (II/153) Die Bilder der zum ‚Sturm auf das Reichstagsgebäude‘ hochstilisierten Aktion gingen um die Welt. Gegen 272 Demonstranten führte die Berliner Polizei Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des besonders schweren Landfriedensbruchs, der gefährlichen Körperverletzung, der Sachbeschädigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen durch. Trotz eines enormen Ermittlungsaufwandes ergingen nur wenige rechtskräftige Urteile.

Symbolbilder und die Gesichtslosigkeit des Leids Die Coronakrise Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik rückten Bilder – ob als Piktogramme, Infografiken oder als Realbilder – Menschen so sehr auf die Haut wie zur Zeit der Coronakrise seit März 2020. Eine wahre Bilderflut ergoss sich über die Deutschen. Die Datenbank der dpa-Bildagentur offerierte zum Suchbegriff ‚Corona‘ im November 2022 2,7 Millionen Bilder – zum Vergleich: zu ‚Angela Merkel‘ waren es knapp 360.000 und zum ‚Fall der Mauer 1989‘ lediglich 1.542 Fotografien. Die Krise generierte völlig neue Bilder, die die Pandemie nachhaltig kennzeichneten: Bilder einer sozialen Distanz, die es so in der deutschen Geschichte noch nicht gegeben hatte, und Bilder, die massive und daher heftig umstrittene Grundrechtseingriffe als Mittel der Bekämpfung einer potenziell tödlichen Krankheit zeigten. Zudem reaktivierte die Krise die Bildgruppe der Piktogramme, denen eine wichtige Funktion im öffentlichen Affektmanagement und bei der Viruseindämmung zukam. Dabei bildete sich eine Arbeitsteilung zwischen zwei Gruppen von Bildern heraus. Während sich der unsichtbare Virus in Illustrationen und Renderings, d. h. in am Computer erzeugten 3D-Visualisierungen, materialisierte, Piktogramme und Infografiken den Verkehr der Bürger untereinander regelten, dokumentierten Fotografien die Auswirkungen der Pandemie im Alltag der Menschen oder fungierten als Medien der Interpretation der Pandemie und der Selbstvergewisserung durch die Betroffenen.

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All dies hatte Folgen für die Kultur bis hinein in bildende Kunst und Mode. Wie nie zuvor veränderte die Pandemie in kürzester Zeit die Wahrnehmung der Welt, die für einige Monate fast ausschließlich aus der Perspektive der mit dem Virus verbundenen Gefahren betrachtet wurde. Anders als bei anderen Krisen oder Kata­ strophen fokussierte die Wahrnehmung auf Fragen wie: Was hat das mit mir zu tun? Wie betrifft mich der Virus? Nicht wie bei anderen Katastrophen stand das Leid der anderen im Vordergrund, mit denen mitgelitten oder für die gespendet wurde, sondern auf einmal das eigene Leben.

Die Stunde der Piktogramme

Zunächst und vor allem war die Krise die Stunde der Piktogramme und Infografiken. Diese waren schnell und einfach herzustellen und konnten für jedermann wahrnehmbar im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Sie übersetzten die komplizierten Regeln der Distanzgewinnung in einfache Bilder, die gleichermaßen von Analphabeten, der deutschen Sprache nicht mächtigen Migranten und von Gebildeten ‚lesbar‘ waren. Unangefochtener Star der neuen Piktogramme und Symbolbilder der Krise mit dem höchsten Wiedererkennungswert war die Coronakugel. Sie verlieh der Krankheit ein grafisches Gesicht. Von Illustratoren und 3D-Spezialisten gestaltet, war sie stark schematisiert, detailliert naturalistisch, mit einem unheilvoll leuchtenden Zellkern ausgestattet, oder sie kam in 3D-Optik daher. In seiner Anmutung glich der Virus mitunter einem freundlichen Alien. Die Coronakugel trieb ihr Unwesen auf den Coverseiten der großen Magazine, (II/154) als Hintergrundbild in den Sondersendungen des Fernsehens, (II/155) als Studiodekoration von Talkshows sowie animiert auf den Bildschirmen von Tablets und Notebooks. Wie kein anderes Bild prägte sie die Sicht auf den Virus und die mit ihm verbundenen Gefahren. Für den Kulturkritiker Georg Seeßlen indes waren die seltsamen Kugeln mit den Noppen „Minimonster“ und „karnevalistische Abbildungen“, die nicht die Gefahr symbolisierten, sondern eher den „Mangel an Bezeichnungsmöglichkeiten“.118 Andere Autoren charakterisierten die Kugeln als „psychedelische Visualisierungen“, die eher an einen Drogentrip erinnerten als an eine tödliche Gefahr. Da die faktische Ansicht des Virus alles andere als spektakulär war  – sein Durchmesser betrug nur 80 bis 160 Nanometer und war selbst für hochmoderne Bilderzeugungstechniken eine Herausforderung –, wurde sie zum Zwecke der Aufmerksamkeitsmobilisierung von Designern und Computerspezialisten optisch ‚aufgepeppt‘. Zunächst erhielt der Virus Farbe, was mit dem Schwarz-Weiß-Bild des am Elektronenmikroskop generierten ‚Originalbildes‘ ebenso wenig zu tun hatte wie seine ballförmige Form. Beide entsprangen dem Reich der Fantasie Die Coronakugel – Minimonster als Superzeichen [II/154] Schwebender 3D-Virus in einer Anmoderation von Claus Kleber im ZDF heute journal (o. D.); [II/155] Corona-Debatte in der ZDF-Sendung Maybrit Illner, 11.6.2020; [II/156] ErklärVideo des Gesundheitsportals der Bundesregierung auf YouTube (o. D.)

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und besaßen allenfalls Modellcharakter. Im Gegensatz zum Virus SARS-CoV, der b ­ ereits früh mit aggressivem Rot und intensivem Gelb visualisiert wurde, war das Bild des neuartigen Virus zunächst in Rosa, Hellblau und milchigem Gelb ­gehalten. Dies sollte sich schnell ändern. Die Farbpalette wechselte und der Hintergrund verdunkelte sich, was letztlich die zunehmende Verdüsterung des zeitgleichen medizinischen Diskurses widerspiegelte, der den Virus seit dem 12. März 2020 als Pandemie-Ausbruch deutete. Farbgebung und Form passten sich dem Schweregrad der sich global ausbreitenden Infektion an. Wie in der Veröffentlichung des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA avancierte ein ballförmiger grauer Virus mit orangeroten Spikes zum visuellen Zeichen der neuen Bedrohung. In Deutschland benutzte die Zeitschrift Das Parlament in ihrer Ausgabe vom 9. März 2020, die die CoronaRegeln in Leichte Sprache übersetzten, erstmals die neue Visualisierung des Virus durch das CDC. Vertrieben wurden die Renderings vor allem über Stockagenturen, bei denen sich auch die großen Magazine und Fernsehsender bedienten. Auch das CDC-Bild hielt sich nicht lange, da es immer noch zu sachlich daherkam. (II/154) Aus der grauen Oberfläche wurde wie in der ZDF-Nachrichtensendung heute eine orange-gelbliche Oberfläche, aus den dunkelroten wurden signalrote Spikes. (II/155) Während eine solche Farbgebung für ein Nachrichtenmagazin als adäquat angesehen wurde, erschien sie für eine Talkshow als unangemessen. Aus der roten wurde hier eine gefällige hellblaue Kugel. Selbst politische Parteien wie die SPD bedienten sich in Wahlkämpfen des für ihre Zwecke farblich noch einmal veränderten Bildsymbols. Auf ‚Querdenker‘-Kundgebungen in Berlin wurde das Minimonster als 3D-Nachbildung mitgeführt. Irgendwann geriet das Bild des stehenden Virus in Bewegung. (II/156) Animationen wie die des staatlichen Gesundheitsportals gesund.bund.de zeigten den Virus nun als einen Schwarm von aggressiven Erregern, die einen Raum okkupierten. Die Symbolisierung bzw. Dramatisierung des Virus zum kriegerischen Feind passte zur Deutung der Pandemie als kriegerischem Zustand, als „Gesundheitskrieg“, wie ihn der französische Präsident Macron in einer Fernsehansprache bereits zu Beginn der Pandemie ausgerufen hatte. Letztlich war die Coronakugel, ob als stehendes oder als animiertes Bild, ein Spiegel der gesellschaftlichen Stimmungen und Deutungen einer durch den Virus zusammengeschlossenen Affektgemeinschaft. Als Mittel der Krisenkommunikation und des ‚Social Distancing‘ erlebten auch animierte Karten, Balkendiagramme sowie vor allem Piktogramme eine Renaissance. Pulsierende Echtzeit-Karten führten anschaulich vor Augen, wie die Welt schrittweise erkrankte. Mit roten Punkten, die sich zu Flächen verwandelten, erschien der gesamte Erdball in seiner Verwundbarkeit. Grafiken des Robert KochInstituts zeigten die sich stets ändernden 7-Tage-Inzidenzen. Balkendiagramme visualisierten, wie sich die finanzielle Situation bwz. die Zukunftserwartungen bei Betrieben und Privathaushalten veränderten usw. usf. Die Bundesregierung und ihr Robert Koch-Institut sowie zahlreiche Experten sahen neben dem Impfen das Herunterfahren von sozialen Kontakten durch Kon-

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taktbeschränkungen, Kontaktsperren und zeitweise sogar durch Ausgangssperren als das einzig wirksame Mittel, um die massenhafte Ausbreitung des Virus über die Atemluft zu stoppen. Zur schnellen und umfassenden Durchsetzung von Maßnahmen eines Social Distancing praktizierten die Behörden ein Informationsmanagement, bei dem Piktogramme eine wesentliche Rolle spielten. Verhaltensvorschriften und -empfehlungen wurden mit ihrer Hilfe überall im öffentlichen Raum bekannt gemacht. Diese sollten so verständlich sein, dass sie auch von Analphabeten und der deutschen Sprache nicht mächtigen Menschen wie Migranten und ausländischen Familien sowie von Kindern sofort und unzweideutig wahrnehmbar waren. Firmen des Online-Handels warben mit Anzeigen für ihre Schilder und Aufkleber: „SETON ist seit Jahrzehnten Spezialist für Sicherheitskennzeichnung und professionelle Beschilderungen am Arbeitsplatz. Im SETON Online-Shop können Sie Coronavirus-Schilder und -Aufkleber mit verschieden Designs kaufen oder am Bildschirm selbst gestalten.“ (II/157) Die Angebotspalette reichte von Piktogrammen, die die Maskenpflicht visualisierten, über Bilder, die das Gebot des Abstandhaltens umsetzten und Verhaltensregeln am Arbeitsplatz gaben, bis hin zur Popularisierung von Zutrittsregeln bei Veranstaltungen. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurden Verhaltenserwartungen, Gebote und Verbote in den unterschiedlichsten sozialen Bereichen bis hin zu Küchen, Kitas und

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[II/157] Hygieneregeln, Schild, HB-Druck (2020)

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Kirchen flächendeckend so umfassend bildlich geregelt wie während der Coronakrise. Piktogramme in Form von Fußabdrücken markierten erbetene Standorte von Menschen oder von erlaubten Laufrichtungen. Andere verwiesen auf Alkoholverbote und das Gebot zur Handreinigung und -desinfektion. Als am meisten verwendetes Piktogramm setzte sich das Schild mit dem kahlköpfigen Mann in Profilansicht mit der weißen Maske vor dunkelblauem Hintergrund durch. Zum Teil kreierten Stadtverwaltungen und Betriebe eigene Piktogramme. Überall in den Wochen nach dem 18. März 2020 trafen die Bundesbürger auf solche Piktogramme, ob in Toiletten von Restaurants und Verwaltungen, in Bussen und Bahnen, in Stadien und Supermärkten, in Krankenhäusern und Sportstätten. Der öffentliche Raum wurde mit Piktogrammen geradezu geflutet. George Orwell hätte seine Freude an den kleinen Bildchen gehabt. Neben den verhaltensregulierenden Bildzeichen und Piktogrammen waren Realbilder wie Fotografien und Filmsequenzen allgegenwärtig, die den Akt des Impfens ins Bild setzten. Zur ‚Superwaffe‘ im ‚Krieg‘ gegen den unsichtbaren Feind geriet die aufgezogene, manchmal noch tropfende, ins Blickfeld der Betrachter ragende Spritze. Kein Fernsehbeitrag kam ohne das Bild der Spritze und den kleinen Piks aus.

Bilder eines Ausnahmezustandes

Georg Seeßlen hat drei fotografische Bildgruppen ausgemacht, die die Coronakrise charakterisierten:119 erstens „Dokumente des Versagens und des Leids“, zu denen er die Militärlaster mit den Särgen, die überfüllten Krankenhäuser, das Pflegepersonal jenseits der physischen und psychischen Belastbarkeit, die verzweifelten Menschen, die ihre Angehörigen nicht mehr sehen dürfen, ausgehobene Gräber, Grenzschließungen, leere Stadien, Theater, Restaurants usf. zählt; zweitens „Trostbilder“ von nachbarschaftlicher Solidarität und Ständchen auf Balkonen, sowie drittens „Bilder von Aufstand und Chaos“, etwa von Hamsterkäufen, von der Durchbrechung der Abstandsregeln, von illegalen Partys sowie Kundgebungen von Coronaleugnern. Am Beginn der Pandemie standen Vermutungen und beunruhigende Nachrichten aus China. (II/158) Am 1. Februar 2020 machte FOCUS zu dem Foto eines mit roter Schutzkleidung, Gasmaske und iPhone gerüsteten Mannes und der Schlagzeile „Der Ausbruch“ auf, ohne sich jedoch zu einer Schuldzuweisung vorzuwagen. Am selben Tag titelte der SPIEGEL zu demselben Bild und knallgelb gesetzter Zeile: „Made in China. Wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird“, was dem Magazin sofort den Vorwurf der Chinesenfeindlichkeit und des Rassismus einbrachte. Zwei Tage später machte der Kölner Sonntag Express mit dem Foto eines chinesisch-stämmigen Supermarktbesitzers und der Schlagzeile „Coronavirus-Panik. Angst vor Kölns Chinesen“ auf. Die BILD-Zeitung legte am 19. Februar nach und zitierte einen deutschen Professor mit den Worten: „Corona war LABOR-UNFALL in China“. War die Gefahr zunächst noch eher abstrakt, zeigte ( II/65) sechs Wochen später ein Handyfoto aus dem oberitalienischen Bergamo, dass der tödliche Virus in

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[II/158] Titelseiten von FOCUS, 1.2.2020; DER SPIEGEL, 1.2.2020; Sonntag-Express, 2.2.2020

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Europa angekommen war und erste Opfer gekostet hatte. In Bergamo hatte am 18. März 2020 ein 28-jähriger Flugbegleiter von seinem Balkon aus ein nahezu perfektes Katastrophenbild geschaffen: Das Bild zeigt einen Konvoi von neun Militärfahrzeugen, die hintereinander eine Straße entlang durch ein Wohngebiet fahren. Das vorderste und das letzte Fahrzeug sind angeschnitten. Automatisch ergänzt der Betrachter die Reihe im Kopf. Die Straße und mit ihr die Reihe der LKWs bilden eine abfallende Diagonale, die von oben rechts nach unten links quer durchs Bild verläuft. Das widerspricht der Leserichtung und der in Europa üblichen Bildkomposition und erzeugt unterbewusst ein Gefühl der Fremdartigkeit und Störung. Die Straße ist menschenleer. Auch das wirkte in Kombination mit den Militärfahrzeugen beängstigend. Es ist Nacht. All das macht den Eindruck von Heimlichtuerei und Vertuschung. Es muss etwas sein, das man bei Tageslicht lieber nicht sehen möchte. Der Fotograf glaubte zunächst, die Fahrzeuge würden Material für den Aufbau eines Notkrankenhauses transportieren. Erst nachdem er das Bild ins Netz gestellt hatte und er Rückmeldungen erhielt, wurde klar: Die LKWs transportieren Leichen. Damit wurde das Bild zu einem Symbol des Todes. Später tauchten auch Videobilder aus Bergamo auf. (II/159) Das Foto aus Bergamo war ein Schockbild, das eine ikonische Suggestivkraft entfaltete. Es emotionalisierte das Ereignis und wirkte auf diese Weise stärker als jede textliche Interpretation. Ähnlich wie die Fotografien der Särge gefallener US-Soldaten aus Vietnam machte es die Krise erst begreifbar. Das Foto aus Bergamo avancierte zur Ikone der frühen Krise. Wie kein anderes Bild grub es sich in die Köpfe der Menschen ein. Politiker bezogen sich in den kommenden Tagen und Wochen

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[II/159] BILD TV, 20.3.2020 mit einem Video des Militärkonvois aus Bergamo, Standbild

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immer wieder auf das Bild. Europa habe das Ausmaß der Katastrophe erst begriffen, so die Süddeutsche Zeitung später, „als das Bild der Militärlaster von Bergamo in allen Medien zu sehen war.  […] In der deutschen Politik wurden die ‚Bilder von Bergamo‘ schnell zum geflügelten Wort, sie waren das, was hierzulande unbedingt verhindert werden sollte, wie es Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet später einmal erklärte.“120 Fünf Tage nach dem ‚Bild aus Bergamo‘ wurde in Deutschland der Lockdown noch einmal verschärft, obwohl die Reproduktionszahl gerade gefallen war. Das Bild wirkte offenbar stärker. Das Bergamo-Foto stand zugleich exemplarisch für die Gesichtslosigkeit der sich zur Pandemie ausweitenden Krankheit und für einen anonymen Tod, mit denen in den kommenden Wochen die Gefahr des Virus kommuniziert wurde. Auf das Foto mit dem Militärkonvoi folgten in den kommenden Tagen zahllose Sargbilder aus anderen Städten Italiens und den USA, wo die Pandemie bereits stärker zugeschlagen hatte als hierzulande. Sargbilder gab es indes auch in Deutschland, nur hatten sie nicht jene ikonische Prägnanz wie das Foto aus Bergamo und wurden daher entsprechend weniger veröffentlicht. Daniel Biskup etwa machte mitten in der ‚zweiten Welle‘ ein solches Foto in Meißen, das er dem Tag 299 seines Fototagebuches hinzufügte. Im Krematorium der sächsischen Stadt stapelten sich kreuz und quer Hunderte Särge. Es waren apokalyptische Bilder. Die Öfen arbeiteten am Limit. Die städtischen Mitarbeiter agierten rund um die Uhr. Meißen war nicht zufällig ein trauriger Hotspot. Wie das Dresdner Ifo-Institut später herausfand, besaßen Sachsen und Thüringen eine deutliche ‚Übersterblichkeit‘, nicht allein wegen ihrer Altersstruktur, sondern weil die Impfquote im Vergleich zu der von anderen Bundesländern hier am niedrigsten war. Neu und schockierend war die Gesichtslosigkeit der neuen Krankheit. Tod und Sterben auf den Intensivstationen und den Krankenhausfluren bildeten sich in den ersten Wochen der COVID-19-Pandemie medial kaum einmal ab, ganz im Unterschied etwa zur Ebola-Epidemie, wo Fotografen und Kameraleute keine Scheu hatten, die Gesichter der Erkrankten aus nächster Nähe zu fotografieren. Die Erkrankten starben einsam und allein und gesichtslos. Ihr Tod entzog sich selbst Freunden und nächsten Verwandten. COVID-19 führte zurück in die als überwunden geglaubte Zeit des einsamen Sterbens von AIDS. Das änderte sich erst, als das Magazin der New York Times im April 2020 eine Fotodokumentation zu Corona mit dem Titel „Faces of an Epidemic“ publizierte, die erstmals Einblicke in die Notaufnahme eines Krankenhauses und die Intubation eines Patienten zeigte. Gleichwohl: Die Gesichter der Kranken wie die der Ärzte und Assistenten blieben auch hier unkenntlich. Kunstgeschichtlich markierten solche gesichtslosen Bilder einen Bruch in der Geschichte der Krankheit, in der immer auch individuelle Akteure als Helfer und Trostspender abgebildet worden waren und eine tödliche Krankheit damit annehmbar erschien. In Deutschland dauerte es noch einige Monate, bis auch hier die Krankheit ein menschliches Gesicht erhielt. (II/160) Mit seinen leisen und einfühlsamen Aufnahmen von der Intensivstation des Asklepios Klinikums Hamburg-Harburg aus der Vorweihnachtszeit 2020, veröffentlicht in der ZEIT vom 30. Dezember 2020, durch-

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brach der Hamburger Fotograf Jonas Wresch das Schweigen über Leid und Tod. Seine Aufnahmen waren glaubwürdig und nahbar, ohne aufdringlich zu wirken. Sie brachten das Leiden näher an die Gesellschaft heran. Sie zeigten menschliche Interaktionen auf der Intensivstation, die aufopferungsvolle Arbeit der Ärzte und Pflegekräfte. Die andere Seite des Bilddiskurses waren die Gesichter von bekannten Virologen wie Christian Drosten und Hendrik Streeck bzw. des RKI-Chefs Lothar H. Wieler, die regelmäßig in Talkshows, Nachrichtensendungen und auf Pressekonferenzen zum Stand der Krise Stellung nahmen. Frühzeitig hatten sich die Bildmedien auf Drosten, den Chef der Virologie der Berliner Charité, festgelegt. Dieser stand einerseits für Kompetenz und Verlässlichkeit, andererseits zog er wie kein anderer Wissenschaftler den Hass von Impfgegnern und Kritikern der Corona-Schutzmaßnahmen auf sich. Für viele Menschen war er der Überbringer der schlechten Nachrichten. „Verehrt und gehasst“ titelte der SPIEGEL zu seinem Porträt auf einer Titelseite Ende Mai 2020. Die BILD-Zeitung zweifelte seine fachliche Expertise an. Noch während seines Familienurlaubs 2022 auf einem Campingplatz an der mecklenburgischen Seenplatte wurde er von anderen Campern als ‚Massenmörder‘ beschimpft.

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[II/160] Aufnahme von Jonas Wresch von der Behandlung eines Corona-Patienten auf der Intensivstation der Asklepios Klinikums Hamburg-Harburg, Dezember 2020, veröffentlicht in DIE ZEIT vom 30.12.2020

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Neben den Piktogrammen der Gefahrenabwehr, den Bildern der Angst und denen der Gesichtslosigkeit waren es vor allem Raum-Bilder der Leere und der Distanz, die sich mit der Pandemie verbanden und sich im kollektiven Gedächtnis einprägten. Auffällig waren vor allem zu Beginn der Pandemie Fotografien nahezu restlos menschenleerer öffentlicher Plätze wie Bahnhöfen, Einkaufspassagen, Flughäfen und (II/163) Fußballstadien, in denen Bundesliga-Mannschaften vor leeren Rängen spielten. (II/162) Dazu kamen die Bilder leerer Regale in Supermärkten, in denen Nudeln, Mehl und Hygieneartikel knapp geworden oder gar nicht mehr zu haben waren. (II/164) Geradezu skurril wirkten Bilder einer längst überwundenen deutschen Kleinstaaterei, wenn etwa Touristen aus anderen Bundesländern nicht mehr in Schleswig-Holstein einreisen durften. (II/161) Zu den am häufigsten bildlich festgehaltenen Sujets gehörten Menschen mit Schutzmasken wie eine Lehrerin in einem kalten Klassenraum in Schleswig-Holstein. Eine eigene Bildgruppe stellten Aufnahmen aus dem Homeoffice oder vom Homeschooling dar, die das Private in einem nie zuvor gekannten Ausmaß öffentlich machten, indem sie Menschen in ihrem Umfeld am Küchentisch, vor der Lieblingstapete oder dem Buchregal während eines Zoom-Meetings oder einer digitalen Unterrichtsstunde zeigten. All dies waren Bilder, die an einen Ausnahmezustand erinnerten und die Negation des alltäglichen Lebens zum Ausdruck brachten und doch schon bald als ‚neue Normalität‘ bei den Bundesbürgern mehr oder minder Akzeptanz fanden. Da Fotoshootings vor allem während des ersten Lockdowns abgesagt werden mussten, stieg die Nachfrage nach Stockbildern stark an. Dabei wurde vermehrt nach Schlagworten wie ‚Mensch am Bildschirm, ‚virtuell‘ oder ‚Homeoffice‘ gesucht. Vor allem bedeutete die Coronakrise eine Renaissance des tot gesagten linearen Fernsehens. Die Hauptnachrichtensendung der ARD – die Tagesschau – meldete neue Rekordwerte bei den Zuschauerzahlen. Sondersendungen und Talkshows boomten. Es wurde unaufhörlich gesprochen und informiert. „Expertenwesen, Grafiken, Statistiken, Modelle und Hochrechnungen, Verordnungen, Erlasse, Urteile  – alles, nur kein Menschen-Bild der Krise“, kommentierte Georg Seeßlen.121 Die Kanzlerin sprach und appellierte an die Disziplin der Bevölkerung, der Gesundheitsminister sprach, der RKI-Chef sprach, Virologen fielen sich wechselseitig ins Wort, Journalisten befragten sich gegenseitig. Fernsehreportagen führten in diskriminierender Absicht jene groß im Bild vor, die sich nicht impfen ließen oder die Verhaltensgebote missachteten und illegale Partys feierten, wie die zumeist ausländischen Bewohner eines Mietshauses in Göttingen oder den Fleisch-Unternehmer Tönnies, in dessen Unternehmen es zu Coronaausbrüchen gekommen war und dessen Betriebe daher zum Teil stillgelegt wurden. Das Land Nordrhein-Westfalen musste Tönnies später Entschädigungen zahlen. In einer Analyse der Berichterstattung in den Sondersendungen des Fernsehens zur Coronapandemie kamen Passauer Kulturwissenschaftler zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die Sendungen eine starke Tendenz „zur Affirmation der staatlichen Maßnahmen“ aufgewiesen hätten. Diese hätten sich teilwei-

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Bildakte – die ‚neue Normalität‘ [II/161] Standbild aus der NDR-Sendung Schleswig-Holstein, 18.00 Uhr vom 22.2.2021; [II/162] leere Regale in einem Lebensmittel-Markt, März 2020; [II/163] erstes ‚Geisterspiel‘ der Bundesliga ohne Zuschauer am 11.3.2020 zwischen Borussia Mönchen-Gladbach und dem 1. FC Köln in Gladbach; [II/164] Autobahn-Hinweistafel am Stadtrand von Hamburg, März 2020

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se erzählerischer Fiktionalisierungsstrategien bedient, die eher für „die Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen“ charakteristisch gewesen seien als für nüchterne Dokumentationen. So habe man beispielsweise Bilder von verwaisten Orten und Geschäften gezeigt oder sei dem „aus Virenthrillern gespeiste(n) Motiv des zeitlichen Wettlaufs um die Entwicklung eines Impfstoffes“ gefolgt, die für TV-Dokumentationen eher unüblich seien. Die Inszenierungen der durch die Krise hervorgerufenen Probleme durch eine krisenhafte Bildsprache hätten diese „im Zusammenspiel zu einer vollständig negativen Weltsicht übersteigert“.122 Als leitendes erzählerisches Muster sei die Krise dabei nicht nur inhaltliches Thema, sondern auch rhetorisches Mittel gewesen, um diese aufrechtzuerhalten und um weitere Sondersendungen zu legitimieren. Zudem attestierten die Forscher den Sendungen eine Dominanz des Leistungsprinzips. Bei der Darstellung der Corona-Folgen für Familien hätten die Berichte einem Leistungsideal gefrönt, das um Produktivität, Effizienz und Pflichterfüllung gekreist und in der Konsequenz das Familienleben in der Krise abgewertet habe.

Trostbilder – Feindbilder

Von Anbeginn der Coronakrise wurden Schutzmaßnahmen des Maskentragens und der sozialen Distanz von Bürgern auch im Medium Bild immer wieder kritisch, manchmal sarkastisch, manchmal ironisch kommentiert. Menschen inszenierten sich für ihren Partner in fantasievollen Outfits mit einer Klopapierrolle auf dem Kopf, um die Absurdität der Situation festzuhalten. Sie kreierten zum Teil mit künstlerischer Qualität eigene Masken, die eher an Karnevalsmasken erinnerten, denn an medizinische Schutzmasken. Je länger die Krise andauerte, desto mehr wurde der vorgeschriebene Mund-Nasen-Schutz als modisches Accessoire inszeniert und aus Stoffen mit unterschiedlichen Farben und Designs mit der Nähmaschine in Heimarbeit individuell gefertigt. Musiker und Musikerinnen gaben quer durch die Republik auf Balkonen Konzerte für ihre Nachbarschaft, von Passanten dabei oft herzlich beklatscht. Die Betroffenen spendeten sich und anderen damit Trost und zeigten öffentlich, dass sie sich nicht in die Depression der Krise ziehen ließen. Der Profifotograf Daniel Biskup hat für sein Corona-Tagebuch, das er seit dem Ausbruch der Pandemie führte, eine Vielzahl von solchen kreativen, eigenwilligen, manchmal auch skurrilen Alltagsszenen und -aktionen mit der Kamera festgehalten. (II/165) In Bonn gerieten ihm zwei bunt geschmückte Frauen in ihrem Auto bei einem Karnevalskonzert in einem Autokino vor die Kamera. Über dem Eingang eines geschlossenen Kinos in Berlin-Weißensee, wo ansonsten neue Filme angezeigt werden, fotografierte er, was dort in großen Lettern zu lesen war: „Corona verpiss dich, keiner vermisst dich!“  In Neusäß geriet ihm eine ältere Frau beim Einkaufen vor die Kamera. Statt einer vorgeschriebenen Maske trug sie einen Kaffeefilter als Schutzmaske. Auf der leeren Theresienwiese in München, wo normalerweise das Oktoberfest stattfindet, begegnete er an Tag 137 zwei Freunden in zünftigen Lederhosen, die sich mit zwei Bierflaschen zuprosteten. In Landsberg fiel Biskup am Schaufenster eines Wollstübchens während des zweiten Lockdowns eine Auf-

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Mutmacher-Bilder [II/165] Daniel Biskup, Karnevalskonzert im Autokino in Bonn, Pandemie-Tagebuch Tag 287 (o. D.); [II/166] Graffito in Hamm

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[II/167] Graffito ‚Freundschaft‘ von Seileise an der Körnerstraße in Köln-Ehrenfeld, beide April 2020

schrift auf, die lautete: „Komme, was Wolle. Wir (schafe)n das!“ An einem Kiosk im brandenburgischen Finsterwalde fotografierte er an einer geschlossenen Bier- und Whiskybar eine Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: „Abends gehe ich oft mit einer Schüssel Kartoffelsalat spazieren … Das gibt mir das Gefühl, ich wäre zu einer Party eingeladen.“123 Von allen Kunstformen erwies sich vor allem die Street Art in der Lage, die außergewöhnliche Zeit widerzugeben. Nicht die ‚hohe Kunst‘ fing die Gefühle der Menschen ein, die sich zum Teil tiefen existenziellen Krisen gegenübersahen, sondern die großen und kleinen Street Artists, die – manchmal von dem britischen Street-Art-Künstler Banksy inspiriert – mit ihren Bildern auf die Straße gingen und die gemischten Gefühle und Reaktionen der Menschen dokumentierten. Vor allem die Coronakugel und die Mund-Nasen-Maske inspirierten Künstler zu immer neuen Kommentaren. In Berlin persiflierte im April 2020 ein Graffito den berühmten Kuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker, aus dem nun der Bruderkuss zwischen Donald Trump und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping wurde, die beide Corona-Masken trugen. (II/166) Im Frühjahr 2020 sorgte der Tattoo-Künstler Uzey für Aufmerksamkeit, als er den ‚echten Helden‘ der Krise, den Krankenschwestern und Pflegekräften, ein Wandbild widmete, das als Fotografie immer wieder reproduziert wurde, bis es schließlich im Bonner Haus der Geschichte einen Platz fand. (II/167) Deutlich an Banksy erinnerte ein Graffito in Köln-Ehrenfeld, das einen Jungen und ein Mädchen mit Maske zeigt, die sich die Hand geben, wobei der Junge dem Mädchen mit seiner freien Hand eine rote Rose reicht. Unter dem Titel ‚Freundschaft‘ wurde das Bild später auch als Wandbild mit verschiedenen Hintergründen kommerziell für das heimische Wohnzimmer vertrieben. Vor allem junge Menschen sahen im Medium Graffito eine Form, um ihre Sorgen und Ängste öffentlich zum Ausdruck zu bringen. In Ausstellungen wie dem ‚partizipativen‘ Ausstellungsprojekt Ohne Worte. Corona  – Kunst  – Kommunikation am Frankfurter Museum für Kommunikation loteten Künstler gemeinsam mit Schülern 2021 die Gefühlslage der Coronazeit aus und stellten ihre Ergebnisse in Bildern und Fotografien dar. Dass die staatlichen Schutzmaßnahmen und die Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte keineswegs unumstritten waren, machten Kundgebungen und Demonstrationen von ‚Querdenkern‘ und Impfgegnern deutlich, die nicht nur von Menschen aus dem rechten Lagern besucht wurden, sondern ebenso von besorgten Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft. Nie zuvor in der Geschichte der Republik spaltete staatliche Politik mehr die Gesellschaft. Auch dies drückte sich in Bildern aus. (II/168) Am Brandenburger Tor etwa demonstrierten im September 2020 Impfgegner gegen die Corona-Politik der Regierung. Bei ihrer Kundgebung führten sie Plakate mit den Gesichtern der Kanzlerin, des Bundespräsidenten, der SPD-Vor-

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[II/168] Vor dem Brandenburger Tor: Führende Politiker und Mediziner werden von Demonstranten als Verbrecher gebrandmarkt, 9/2020

sitzenden Esken, des Virologen Drosten, des SPD-Politikers Lauterbach sowie namhafter Fernsehjournalisten in gestreifter Häftlingskleidung und der Aufschrift ‚schuldig‘ mit sich. In Stuttgart protestierte Anfang April 2021 ein ‚Querdenker‘ mit einem Hundekorb vor dem Gesicht gegen Corona-Maßnahmen, die er mit seinem Verfassungsverständnis für nicht vereinbar hielt. (II/169) Wiederholt waren bei solchen Demonstrationen auch gelbe ‚Judensterne‘ zu sehen. Der Appell der Regierenden, möglichst zu Hause zu bleiben, wurde mit der Situation in den 1940er Jahren gleichgesetzt, in der Juden sich verstecken mussten, um dem Holocaust zu entkommen. Dabei entstand die paradoxe Situation, dass die Coronaleugner einerseits Juden als Verantwortliche der Krise identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen. In Bruchsal tauchten an mehreren Schaufenstern im Einzelhandel Zettel mit ‚Judensternen‘ auf, auf denen zu lesen war: „Ungeimpfte sind hier unerwünscht“. Mit dieser Formulierung nahm der Din-A4-große Zettel Bezug auf die geltenden 2G-Regeln im Einzelhandel. Anspielungen auf die im Nationalsozialismus verwendeten ‚Judensterne‘ zielten auf die Zwangskennzeichnung für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten. Die 14 betroffenen Einzelhändler zeigten sich empört über die Plakat-

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[II/169] Corona-Demonstration in Berlin: ein gelber Stern, in dem „ungeimpft“ und „ungechipt“ steht, Foto: Björn Kietzmann (beschnitten)

aktion, da sie selbst am meisten unter den 2G-Bestimmungen litten. In Hannover verglich sich auf einer ‚Querdenker‘-Demonstration eine junge Rednerin mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl, die 1943 von der NS-Justiz zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet worden war.

Bilder der Apokalypse und der ‚Erlösung‘ Die Klimakatastrophe Spätestens seit ( I/234) dem SPIEGEL-Cover mit dem im Wasser versinkenden Kölner Dom von 1986 war das Wort ‚Klimakatastrophe‘ in der Bundesrepublik präsent. Eine Presseerklärung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hatte den Begriff kurze Zeit zuvor erstmals gebraucht. Seitdem war er aus dem öffentlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Im Jahr 2007 avancierte ‚Klimakatstrophe‘ sogar zum

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‚Wort des Jahres‘. Und wie auf dem SPIEGEL-Cover von 1986 wurde der Begriff zumeist mit bildlichen Darstellungen einer zukünftigen Apokalypse in Zusammenhang gebracht: als tödliche Naturgewalt, als Sintflut, als Dürre, als Feuer oder ganz dramatisch als Weltuntergang. Manchmal ging der Berliner Reichstag in der Flut unter, manchmal gleich die gesamte Erdkugel. Meistens waren es Collagen und Montagen, Klimakarten und -diagramme, aber auch Science-Fiction-Filme, die den Untergang an die Wand malten. Diese technisch bzw. digital generierten Bilder stellten nicht einfach einen Zustand dar oder bildeten ihn ab, vielmehr erzeugten sie oft erst das, was sie vermeintlich abbildeten: eine Klimakatastrophe mit geradezu apokalyptischen Zügen. Mit Krisen und Katastrophen  – speziell der Klimakatstrophe  – waren und sind immer Befürchtungen und Ängste verbunden, die indes höchst unterschiedlich in Öffentlichkeit und Medien thematisiert werden. Während die mit Migrationen verbundenen Ängste außer zu Beginn der 1990er Jahre kaum einmal Gegenstand öffentlicher Bilddiskurse waren, waren die Ängste vor der Klimakatastrophe Dauerthema in Talkshows, Debatten und Demonstrationen. Die GRÜNEN machten diese zum Markenkern ihres Politangebots. Wie im Kalten Krieg der 1950/60er Jahre, als viele Bundesbürger von einer Angst vor einer atomaren Katastrophe beherrscht waren, hatten sie nun  – zumindest der jüngere Teil der Bevölkerung  – Angst vor der unmittelbar vor der Tür stehenden Klimakatastrophe. Deren Visualisierungen machten den Kern eines neuen Alarmismus aus, vor dem argwöhnisch sämtliche Entwicklungen in Wirtschaft und Politik beurteilt wurden. Für viele Menschen blieben Worte wie Klimawandel und Klimakatastrophe weitgehend abstrakte Begriffe, die konkret nur wenig oder gar nichts mit ihrem Leben zu tun hatten. Erst durch Bilder sollten diese daher begreifbar und vorstellbar gemacht werden. Eine „Ikonografie des Klimawandels“ (Elke Grittmann) bildete sich heraus, die sich sowohl aus älteren Bildtraditionen speiste als auch an neuere Diskurse über Naturkatastrophen anknüpfte. Da fotografische Aufnahmen vom realen Klimageschehen vor Ort, wie sie etwa der Besuch von Angela Merkel und ihrem Außenminister Sigmar Gabriel 2007 vor dem größten Gletscher Grönlands lieferte – von der FAZ bezugnehmend auf den Film Fräulein Smillas Gespür für Schnee als „Frau Merkels Gespür für Schau“ kommentiert –, als zu wenig dramatisch daherkamen, bezogen sich die unterschiedlichen Diskurse über Klimawandel und Klimakatastrophe zumeist auf Zukunftsszenarien. Durch besondere künstlerische und publizistische Techniken und Medien wie die Fotomontage, die Inszenierung und die Stockfotografie wurden diese vermeintlich anschaulich gemacht. In der Regel handelte es sich bei den Visualisierungen des Klimawandels um „visuelle Konstruktionen“ (Elke Grittmann) mit einem hohen suggestiven Potenzial. (II/170) Die Ästhetik der Apokalypse – ob auf den Coverseiten des SPIEGEL oder denen des Stern sowie auf unzähligen Titeln von Sachbüchern – ähnelte sich. Die Gefahr wurde zumeist blutrot dargestellt, mitunter auch wie die der Radioaktivität rötlich-gelb. Was ehemals, ( I/173-178;  I/189) wie die rauchenden Schlote und die Kernkraftwerke zur Frühzeit der ‚Bonner Republik‘, noch als Symbol für Fortschritt und Wohlstand gefeiert worden war, wandelte sich nun zum Symbol des Weltun-

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Bildakte – Untergangsszenarien [II/170a] Titelseiten DER SPIEGEL, 12/1995; [II/170b] DER SPIEGEL, 32/2021; [II/170c] Cover des Taschenbuches Hitzerekorde und Jahrhundertflut, München 2003; [II/170d] Stern, 40/2020

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tergangs. Oft mussten Bilder aus anderen Erdteilen  – meistens Stockfotografien internationaler Bildagenturen ohne genaue Herkunftsangabe  – herhalten, um die Klimakatastrophe drastisch zu illustrieren: Gegenlichtaufnahmen von Kühltürmen und Fabrikanlagen mit rauchenden Schloten aus Australien und die Sonne verdunkelnden Abgaswolken aus Polen, Nahaufnahmen von vertrockneten Flussläufen, kalbende Gletscher in den Alpen usf. Zu einem oft zitierten Bild, das es 2017 auch auf ein Wahlplakat der GRÜNEN schaffte, geriet der einsame Eisbär auf der im Eismeer treibenden Scholle, für den es angeblich keine Rettung gab. Apokalyptiker wie der Kieler Klimaforscher Mojib Latif variierten auf den Coverseiten ihrer Bücher das Thema auf immer neue und spektakuläre Art und Weise. Die grundlegende Schwierigkeit dieser Bildpolitik bestand darin, mit Fotografien, die nie Klimaveränderungen, sondern allenfalls Wetterzustände zeigten, künftige Bedrohungen und Gefahren zu visualisieren und verlässliche Zukunftsprognosen abzugeben. War als ‚Klimakatastrophe‘ bislang zumeist ein künftiger und geografisch entfernt liegender Zustand bezeichnet worden, der irgendwann auch Deutschland erreichen konnte, so änderte sich dies mit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Gefahr drohte jetzt auch vor der eigenen Haustür. Schon der SPIEGEL-Titel von 1986 hatte in diese Richtung argumentiert. „Tonga in der Nordsee“ mahnte das Magazin jetzt 2011. Zu einer Fotoserie von der Hallig Gröde im nordfriesischen Wattenmeer bei Landunter hieß es nun: „Auf der kleinen Insel in der Nordsee, vier Kilometer vor der Küste Schleswig-Holsteins, gibt es zwei Erhebungen, je vier Meter hoch, die Warften. Wenn Klimaforscher mit ihren Prognosen recht haben, wird sich die Atmosphäre weiter aufheizen und der Meeresspiegel in wenigen Jahrzehnten stark steigen. Gröde würde in den Fluten versinken.“124

Der schöne Schein der Apokalypse

(II/171) Fast immer waren es schrecklich schöne Bilder wie die Aufnahmen der dampfenden Kühltürme und der rauchenden Schlote im Gegenlicht der untergehenden Sonne oder Bilder der verdorrten, bizarre Muster hinterlassenden Erde, die die Katastrophe wie Schöpfungen der modernen Kunst aussehen ließen, den realen Gefahren aber kaum gerecht wurden. Eine andere Qualität besaßen fiktionale filmische Darstellungen. Wie selbstverständlich nahm sich auch Hollywood des Themas an. (II/172) Für 20th Century Fox realisierte Erfolgsregisseur Roland Emmerich 2004 den Katastrophenfilm The Day After Tomorrow, der in einer dramatischen Spielhandlung die Folgen der globalen Erwärmung in beeindruckenden Bildern am Beispiel der Metropole New York visualisierte. Die hauptsächlich am Computer animierte Produktion lässt die MegaCity in einer gigantischen Flutwelle untergehen, eindrucksvoll umgesetzt auch im Kinoplakat, auf dem nur mehr eine Hand der Freiheitsstatue mit der symbolischen Fackel aus der Flutwelle herausragt. Im deutschen Fernsehen war der Film erstmals 2007 bei RTL Television zu sehen. „Bombastischer Katastrophenfilm mit umweltpolitischen Ambitionen, der die Stereotypen des Genres in eine geschickte Spannungsdramaturgie mit ausgeklügelten Trickeffekten und faszinierenden Bilderwelten einbindet“, befand die Filmkritik. Für die ZEIT war The Day After To-

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morrow indes nur ein drittklassiger Film, dem es in den USA dennoch gelungen sei, eine überfällige Diskussion über Klima und Klimaschutz anzuregen, weniger indes hierzulande. Eine Ästhetik des Grauens entwarfen auch unzählige Klimakarten und -diagramme, die die gängigen Dystopien populärwissenschaftlich unterfütterten und ihnen dadurch den trügerischen Status von verlässlichen wissenschaftlichen Befunden verliehen. (II/173) Größerer Beliebtheit erfreuten sich Karten zur globalen Erderwärmung wie jene auf einer auf NASA-Daten gründenden und von der Zeitschrift The Pioneer verbreiteten Weltkarte, auf der der durchschnittliche jährliche Temperaturanstieg im Vergleich zum Zeitraum 1951 bis 1980 farblich markiert war. Die Farbe Rot, die weite Teile der Weltkarte überzog, stand für eine Erderwärmung bis 2 Grad, Dunkelrot – wie insbesondere Europa, Nordafrika, der arabische Raum sowie Sibirien und die Antarktis eingefärbt waren – für einen Temperaturanstieg von 4 Grad. Mit Blick auf Europa wurde die Karte in vereinfachte Darstellungen umgesetzt und von ‚Fridays for Future‘ und lokalen Klimabündnissen in dem Plakat „Der kühlste Sommer für den Rest deines Lebens“ über YouTube verbreitet. In solchen grafischen Darstellungen und Karten, wie sie auch der Weltklimarat herausgab, erschien die Erde – ob als Weltkarte oder als Erdkugel – immer in rötlichen Farben, als ‚burning world‘. Für die Bildwissenschaftlerin Birgit Schneider erfüllen solche Bilder alle Anforderungen an ein starkes, intuitives und ikonisches Bild, das emotionale mit rationalen Botschaften kombiniert und zugleich einen Handlungsaspekt in sich trägt. Die Botschaft des Bildes sei deutlich: „Die globale Erwärmung ist eine alarmierende Erkenntnis, der sich die Politik bzw. die ‚Menschheit‘ zu stellen hat. Das Bild soll die Gegenwart verändern, damit diese Zukünfte niemals erlebt werden müssen. Die Politik muss handeln, um abzuwenden, was die Bilder zeigen.“ 125 Klimawandelskeptiker haben die rot gefärbten Bilder der Klimaberichte wiederholt als „gezielten Alarmismus“ und „farbliche Übertreibung“ kritisiert, die letztlich der Grundlage entbehrten. Zudem erzeugten sie bei denen, die diesen Bildern Glauben schenkten, ein Gefühl der Angst. „Mit der glutroten Warnfarbe der kommenden Warnzeit“ würden, so auch Birgit Schneider, „Untergangsszenarien eines ‚Gloom and Doom‘  – also von Düsternis und Verdammnis  – aufgerufen, die anstatt von politischer Handlungsmacht eher Gefühle von Ohnmacht evozieren, ein Rahmen, der inzwischen für die Klimawandelkommunikation als wenig hilfreich erachtet wird.“ 126 Vor dem Hintergrund einer derart apokalyptisch dargestellten und gedachten Zukunft hatten Gegenstimmen und Kritiker kaum eine Chance auf Gehör. Zu „einem zentralen Argument für die Einschätzung des anthropogenen Klimawandels“127 auch hierzulande wurde das erstmals 2001 im 3. Weltklimabericht veröffentlichte, auf Michael Mann und seine Kollegen von der Pennsylvania State University zurückgehende „Hockeyschläger-Diagramm“ oder „Hockey Stick Graph“. Die Kurve zeigt den Verlauf der Temperatur der vergangenen 1.000 Jahre. Über Jahrhunderte fällt die Kurve (der Schaft des Schlägers), um dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, zeitgleich mit der Industrialisierung, steil anzusteigen (der Fuß des Schlägers). Während die blau dargestellten Temperaturdaten auf sogenannten

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Visualisierungen der Klimakatastrophe [II/171] Agenturfoto einer Industriekulisse im Nirgendwo als Illustration zu einem Artikel im Handelsblatt und im Stern zum Klimawandel; [II/172] Standbild aus dem Film The Day After Tomorrow (2004); [II/173] The Pioneer, 1.8.2022

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Proxy-Daten beruhen, die bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts aus natürlichen Daten  – etwa aus Baumringen, Eisbohrkernen, Korallen usf.  – rekonstruiert wurden, basieren die Daten der rot dargestellten Kurve der letzten 150 Jahre auf direkten Temperaturmessungen, sogenannten instrumentellen Daten. Durch die markante Farbgebung drängt die Kurve die Gleichzeitigkeit von Industrialisierung und Temperaturanstieg auf. Dies machte Manns Kurve zu einer Allegorie und zu einem erfolgreichen Symbol, das vom existenziellen Zusammenhang von Technik- und Kulturgeschichte mit dem Klima erzählt. Als perfektes Sinnbild für die von Menschen verursachte Erwärmung avancierte das Diagramm nicht zuletzt durch die Veröffentlichungspraxis seiner Erfinder zum berühmtesten und viel zitierten Symbol des Klimawandels, gleichsam zu einer Grafik-Ikone. Umweltpolitiker übernahmen sie in Vorträge und Veröffentlichungen, Zeitschriften publizierten sie; sie fand Verwendung in Aufklärungsbroschüren und im Schulbuch. Diagramme wie diese sollten über ihren wissenschaftlichen Aussagewert hinaus zugleich die Debatte um den Klimawandel befeuern. Es überraschte nicht, dass sich daher Interessengruppen und Politiker der Kurve auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise bedienten. Aufgrund ihrer zugespitzten und leicht erfassbaren Evidenz vermochte die Grafik die Meinung der Öffentlichkeit für den Kampf gegen den Klimawandel zu mobilisieren. Sie wurde zum „Signet eines bedrohlichen Klimawandels, der von Menschen verursacht wird und deshalb auch gesellschaftlichen Handlungsbedarf markiert“.128 Solche in Zeitungen, Magazinen und selbst in Schulbüchern reproduzierten Karten und Diagramme unterfütterten populärwissenschaftlich die entsprechenden Diskurse und gaben ihnen den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Wegen der Hyperkomplexität und Bilderlosigkeit vieler Themen wurden besonders Infografiken zu unverzichtbaren „Landkarten des Denkens“ (Bernd Eberhart). Zum Teil knüpften sie an ältere Techniken der Wissenspopularisierung an, die es bereits zur Zeit der Weimarer Republik gegeben hatte. Die Bereitschaft von Redakteuren, anstelle von Fotografien und Schaubildern Infografiken einzusetzen, nahm seit den 1990er Jahren kontinuierlich zu. Zugleich wuchs auch bei den Lesern die Akzeptanz dieser Bildgattung. Der alte Glaube der Fotografie, ein abbildgetreues Medium der Reproduktion von Welt zu sein, übertrug sich ungebrochen auf die Infografik. Dabei entfalteten die grafischen Elemente zahlreicher Infografiken eine so starke Überzeugungskraft, dass die hinter ihnen stehenden Daten aus dem Blick gerieten und selbst nicht mehr befragt wurden, oder wie es Theodor W. Adorno einmal formuliert hatte, die Darstellung obsiegte über das Dargestellte. Durch die geschickte Auswahl von Farben, Formen und Gegenüberstellungen von Daten wurden oftmals Bedeutungen und Zusammenhänge suggeriert, die realiter nicht existierten. Vor allem dort, wo bunte Infografiken als Abbildungen von Wirklichkeit ausgegeben wurden und ihr Charakter als Konstrukt verborgen blieb, bestand immer auch die Gefahr, dass sie eher desorientierten als informierten. All dies öffnete interessengeleiteten Verzerrungen, Übertreibungen und Manipulationen Tür und Tor. Mehr noch: Die Grafiken suggerierten oftmals eine wissenschaftliche Exaktheit, die

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von den hinter ihnen stehenden mathematischen Modellen gar nicht gedeckt war. Die scheinbare Evidenz der in grafische Bilder übersetzten Daten ließ Fragen und Zweifel kaum mehr zu. Die Grafik behauptet stets: „So ist es! Sie kennt keine Zwischentöne und keinen Konjunktiv.“129 In den Köpfen vor allem einer jüngeren Generation verschmolzen alle diese Bilder, Karten und Diagramme zu „Kartografien der Angst“ (Birgit Schneider), deren sich zunehmend auch Politiker bei ihren Argumentationen bedienten. Experte für die „Zeitgeist-Apokalypse“ sei die Partei DIE GRÜNEN, befand die Neue Zürcher Zeitung 2019. „Geschickt“ spielten diese mit den Ängsten der Menschen. „Sie warnen vor der Erderwärmung, so wie sie früher schon andere Katastrophen prophezeit haben. Aber sie versprechen auch Erlösung, wenn jeder seinen Beitrag leistet.“130 Die Politik der GRÜNEN beförderte ein apokalyptisches Denken, das auch in die Redaktionstuben von Verlagen und in die Chefetagen von Fernsehsendern einsickerte. Vor dem Hintergrund einer als apokalyptisch gedachten Zukunft fühlten sich grüne Aktivisten – ob Organisationen wie Greenpeace, Attac, die schwedische Einzelkämpferin Greta Thunberg, die ‚Fridays for Future‘-Bewegung oder Gruppen wie ‚Letzte Generation‘ und ‚Ende Gelände‘ – als ‚Erlöser‘ aus dem Übel und wurden von der Mehrzahl der bundesdeutschen Medien auch als solche gefeiert. Der Schauspieler Armin Rohde machte die Schülerin aus Schweden gar zur „Lichtgestalt“ und zur „modernen Jeanne d’Arc“. Eine „Greta-Mania“ breitete sich aus. (II/176) Thunberg avancierte zum Medienstar, um den sich die Magazine der Welt und auch in Deutschland rissen. Das Mädchen aus Schweden erschien auf den Titelseiten von Vogue und Time, von Stern und Spiegel. Die Politik bot Thunberg bereitwillig Foren an. Angela Merkel diskutierte mit Greta wie mit der Repräsentantin einer ausländischen Macht im Kanzleramt. Greta sprach vor dem Europäischen Parlament und vor der UNO. (II/174, 175) In Deutschland war es vor allem die ‚Fridays for Future‘-Bewegung, die sich seit 2018 dem Klimaschutz verschrieben hatte. In kürzester Zeit stieg die Schülerbewegung zur größten außerparlamentarischen Oppositionsbewegung seit den Tagen der APO auf – mit großem Einfluss auf die Politik der GRÜNEN und wohlwollend begleitet und unterstützt von der Mehrheit der bundesdeutschen Medien. Zum Teil verschaffte erst die positive überregionale Berichterstattung der ‚Fridays for Future‘-Bewegung jene Aufmerksamkeit, die sie zur Massenbewegung werden ließ. Nicht zuletzt war es der völlig neue Charakter einer sozialen Bewegung, die sich mehrheitlich als jung, weiblich und international gab, der die mediale Öffentlichkeit elektrifizierte  – (II/175) fotografisch in Szene gesetzt u. a. von der Fotografin Andrea Baumgartl in ihrem Buch Wir sind hier, wir sind laut. Mit einer ( II/170d) Klimaausgabe und zusätzlichen digitalen Angeboten ging das Hamburger Magazin Stern zum Weltklimatag am 25. September 2020 eine umfassende und einmalige Kooperation mit ‚Fridays for Future‘ ein. Dabei wurden die Themen gemeinsam mit den Klimaaktivisten entwickelt und produziert. ‚Fridays for Future‘-Aktivisten wurden zu Redaktionssitzungen eingeladen, in denen die Inhalte gemeinsam geplant und gestaltet wurden.

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‚Fridays for Future‘ & Co. – Kreuzzug gegen die Klimakatastrophe [II/174] Klimastreik-Demonstration von ‚Fridays for Future‘ vor dem Berliner Reichstagsgebäude (2019); [II/175] Andrea Baumgartl, Foto von einer Klimastreik-Demonstration von ‚Fridays for Future‘ (o. D.); [II/176] Cover des Stern, 6/2019; [II/177] David Klammer, Besetzung der Kohlebahn der RWE beim Kraftwerk Neurath durch die Gruppe ‚Ende Gelände‘, 21.6.2019; [II/178] Rahmen-Vorlage für Profilbilder, in die aktuelle Fotos von Klimastreik-Demonstranten geladen werden können

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Geprägt war die neue Bewegung von einem fast schon religiös anmutenden Untergangsfanatismus, von einer zum Teil naiven Radikalität und dem Gebrauch von religiösen Metaphern. Ihre Aktivisten erschienen in der Öffentlichkeit gleichsam als ‚Erlöser‘ bzw. gerierten sich als solche, so dass Welt-Herausgeber Stefan Aust die ‚Fridays for Future‘-Bewegung als „modernen Kinderkreuzzug“ bzw. als „religiöse Erweckungsgemeinschaft“ bezeichnete. Die Wahrnehmung des Zustandes der Welt als apokalyptisch bildete die Legitimationsgrundlage für Forderungen nach drastischen Gesetzesänderungen und ließ Maßnahmen wie Verkehrsblockaden, Streikaktionen, Besetzungen bis hin zur Sabotage und zur Ausübung von körperlicher Gewalt als moralisch gerechtfertigt erscheinen. Aus der Mitte der Klimaschutzbewegung rekrutierten sich deutlich radikaler agierende Gruppen wie die ‚Letzte Generation‘ und ‚Ende Gelände‘, ( III/50-52) deren Protestaktionen etwa gegen die Kohle-Bahnstrecke des Kraftwerkes Neurath der Kölner Fotograf David Klammer fotografisch eindrucksvoll festhielt. Ganz anders als die schönen Bilder der Klimakatastrophe in den Hochglanzmagazinen der Presse ließen Fotografien, Fernsehaufnahmen und Polizeivideos der Flutkatastrophe im Ahrtal und in weiteren Teilen Westeuropas zwischen dem 12. und dem 15. Juli 2021 das Ausmaß des Klimawandels erkennen. In der Region um die Flüsse Ahr und Erft fielen durchschnittlich am Tag mehr als 90 Liter Regen pro Quadratmeter  – mehr als jemals zuvor seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In der Folge kam es zu Überschwemmungen, bei denen in Deutschland mindestens 220 Menschen starben. Die Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gilt, nicht zuletzt wegen der medialen Berichterstattung, als die größte Naturkatastrophe der jüngeren deutschen Geschichte, obwohl die Sturmflut 1962 allein in Hamburg mehr als 300 Menschenleben gefordert hatte. Für die New York Times, die mit vier farbigen Fotografien aus den Katastrophengebieten in Deutschland und Belgien am 17. Juli 2021 aufgemacht hatte, war die Sache sofort klar. In einem Kommentar auf ihrer ersten Seite hieß es: „Europe’s Floods Are Latest Signs of Climate Crisis“. Bestätigt fühlen konnte sich der Kommentator durch eine wenig später erschienene wissenschaftliche Studie der internationalen World Wheater Attribution (WWA) zum Starkregen in Westeuropa, die zu dem Schluss kam, dass sich die Wahrscheinlichkeit für solche extremen Regenfälle durch den bisherigen menschengemachten Temperaturanstieg um das 1,2- bis 9-Fache erhöht habe. In einem Kommentar „Das unbewohnbare Haus“ brachte Manfred Kriener  – Ökologieredakteur und Bestsellerautor  – in der taz die veränderte Situation auf den Punkt: „Ahrweiler, Erftstadt, Hagen, Schuld. 150, womöglich sogar 200 Tote in den Ruinen zerfetzter Ortschaften. Die Klima-Katastrophe hat ein Gesicht und einen Namen bekommen. Statt abstrakter Temperaturskalen und CO2-Hochrechnungen sehen wir weinende Mütter und fassungslose Väter; statt irritierter Eisbären auf der Eisscholle sehen wir obdachlose Landsleute vor den Trümmern ihrer Häuser. Damit ist alles anders. Die Zukunft ist mit katastrophaler Wucht in der Gegenwart angekommen. Das Klimadesaster findet vor der Haustüre statt und es dringt sogar in unsere Wohnzimmer vor. Das Haus, individueller Schutzraum und

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Inbegriff der Sicherheit und Geborgenheit, ist unbewohnbar geworden. Abgerissene Giebelfronten gestatten Einblicke in unsere ehemals heile Welt, die ihre offenen Wunden zeigt.“ Die Klimakatastrophe finde „nicht nur in Bangladesch statt, nicht nur in Australien, Kalifornien und an den Polkappen, sondern gleich nebenan bei Müllers und bei Maiers. Sie droht nicht in der zweiten Jahrhunderthälfte, wenn die Generation Fridays for Future erwachsen geworden ist, sondern ganz akut. Es ist fünf nach zwölf.“131 (II/179) Die Flut im Ahrtal und deren Bilder hatten ein politisches Nachspiel. Noch in der Nacht der Katastrophe hatte ein Hubschrauber der Polizei Videoaufnahmen gemacht. Sie zeigten anschaulich das Ausmaß der Überflutungen. Der rheinlandpfälzische Innenminister Lewentz behauptete, er habe in der Flutnacht keine Katastrophenlage erkennen können. Lewentz musste gehen.

[II/179]

[II/179] Zerstörtes Wohnhaus in Erftstadt-Blessem; Aufnahme von David Klammer vom 18.7.2021, veröff. u. a. in der Neuen Zürcher Zeitung

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Bilddiskurse – Bilderstreits Kämpfe um Sichtbarkeit

Die Mondlandung 1969 und die Olympischen Sommerspiele von München drei Jahre später, die Bilder des ‚Deutschen Herbstes‘, Fernsehereignisse wie die Ausstrahlung des TV-Mehrteilers Holocaust sowie der Angriff auf die Twin Towers 2001 haben die Bedeutung von Bildern als Mittel der Macht, als Steuerung der Erinnerung sowie als Waffe einem breiteren Publikum deutlich gemacht. An diese Bildermacht knüpften nach 1995 verschiedene Bilddiskurse um die jüngste deutsche Vergangenheit sowie nach 2010 um die geschlechtliche und sexuelle Identität der Deutschen an. Bilder spiegelten dabei nicht nur neue Diskurse und Identitäten wider, häufig erzeugten sie diese überhaupt erst. Manche dieser Diskurse steigerten sich zu regelrechten Bilderkämpfen. Sie wurden ein Merkmal der ‚Berliner Republik‘. In den neuen Bilddiskursen und Bilderkämpfen geht es um die in einer Mediengesellschaft kostbare Ressource Sichtbarkeit. Wer in der Lage ist, seine Interessen, Ziele und Deutungen sichtbar durchzusetzen und damit Aufmerksamkeit zu erzielen, verfüge – so die Annahme – über Einfluss in Politik und Wirtschaft.

Krieg und Diktatur im Fokus Bilddiskurse um die Erinnerung Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren eine Zeit, in der sich die Deutschen wie nie zuvor und auf ganz unterschiedliche Weise mit den Bilderwelten ihrer jüngsten Vergangenheit, besonders denen der beiden deutschen Diktaturen und denen des Zweiten Weltkriegs, auseinandersetzten und neue Identitäten aushandelten. Dekonstruktion und Entmystifizierung hieß die Devise. Zum Teil eskalierten die Auseinandersetzungen in öffentlichen Protesten und Brandanschlägen. Die frühen Jahre der ‚Berliner Republik‘ brachten zunächst eine kulturelle Wende in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die bereits nach der Ausstrahlung des Holocaust-Dreiteilers 1979 begonnen hatte. Historische Diskurse über die jüngste Vergangenheit werden seitdem nicht mehr allein im Medium Schrift geführt, sondern auch mithilfe von Ausstellungen und Bildern.

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Der Streit um die ‚Wehrmachtsausstellung‘

Die Auseinandersetzungen begannen 1995 mit (II/180) der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung, der sogenannten ‚Wehrmachtsausstellung‘. Die Fotografien der Ausstellung, zumeist aus den Westentaschen der Soldaten, brachen mit den bestehenden Vorstellungen der Deutschen, die den Krieg der Wehrmacht mehrheitlich als ‚sauber‘ betrachtet und die Verbrechen, vor allem den Judenmord, der SS zugeschoben hatten. Der verantwortliche Ausstellungsmacher Hannes Heer sprach vom „Bildbruch“, der das Land erfasst habe, Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Instituts, das die Ausstellung konzipiert hatte, von einer „Wucht der Bilder“, die man nicht erwartet habe. Die Fotografien eröffneten neue Dimensionen des Erinnerns, indem sie den Blick der Täter auf die Opfer des Krieges und damit zugleich die bislang weitgehend ausgeblendete Tat und deren Akteure ins Bild setzten und auf diese Weise so etwas wie „Gegenerinnerung“ (Jan u. Aleida Assmann) betrieben. In den bisherigen Holocaust-Diskursen waren Orte wie Auschwitz visuell vor allem Orte außerhalb der deutschen Gesellschaft und das anonyme Werk einer Vernichtung ohne Vernichter gewesen. Die Bilder der Wehrmachtsausstellung veränderten diese Perspektive, indem sie zeigten, dass das Morden auch von Wehrmachtssoldaten betrieben wurde und keine anonyme, sich gleichsam selbstständig vollziehende Handlung war, sondern eine archaische Tat mit konkreten Tätern. Alles das war letztlich nicht neu, hatte aber über die traditionellen Formen der wissenschaftlichen Kommunikation nicht den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Es bedurfte erst der scheinbar mit historischer Wahrheit ausgestatteten Fotografie, um diese Erkenntnisse einem breiteren Publikum zu kommunizieren. Die unkommentierten und nur knapp kontex­ tualisierten Bilder fungierten dabei als Beweise der Vernichtung und damit letztlich als Anklage. Die Ausstellung provozierte indes nicht nur mit ihren Bildern. Sie verstörte auch durch ihre Ausstellungsarchitektur, der die Form des Eisernen Kreuzes zugrunde lag – jener von Preußenkönig Friedrich III. eingeführten Kriegsauszeichnung, die auch die Nationalsozialisten benutzt hatten und nach 1956 zum Logo der Bundeswehr geworden war. Die Wirkung dieser visuellen Provokation war gewaltig. Fast eine Million Menschen pilgerten an die Ausstellungsorte in Deutschland und Österreich. Für viele Besucher besaßen die Bilder eine sozialtherapeutische Funktion, (II/181) indem sie sie zwangen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und darüber zu reden. (II/180) Zur Ikone geriet dabei eine Aufnahme des PK-Fotografen Gerhard Gronefeld von der Exekution vermeintlicher serbischer Partisanen 1941 in Pančevo, die auf den Titelseiten von Magazinen und Plakaten erschien und auch den Weg ins Schulbuch fand. Die Ausstellung und ihre Bilder zogen den Protest von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, von Soldatenverbänden und rechtsradikalen Gruppen magisch an und befeuerten Aktionen, die teilweise ikonoklastische Ausmaße annahmen. (II/182) Oft hielten Demonstranten den Bildern der Wehrmachtsverbrechen Aufnahmen von vermeintlich heroischen Wehrmachtssoldaten entgegen. Bilder gingen gegen Bilder in Stellung. Im Juni 1996, am letzten Tag der Wehrmachtsausstellung in Er-

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furt, nahm die Polizei zwei Männer fest, die auf einer Länge von 25 Metern das Wort ‚Lüge‘ in schwarzer und gelber Farbe auf die Schautafeln gesprüht hatten. Im März 1997 kam es in München zu Massenprotesten von rund 15.000 rechten und linken (Gegen-)Demonstranten. In Dresden konnte die Ausstellung im Januar 1998 nur unter massivem Polizeischutz eröffnet werden. Im November 1998 verübten Unbekannte in Hannover einen Buttersäureanschlag auf die Ausstellung. Bei Krawallen während einer Demonstration der NPD-Jugend in Kiel im Februar 1999 entstand Sachschaden in Millionenhöhe. Im März 1999 wurde auf die Ausstellung in der Saarbrücker Volkshochschule ein Sprengstoffanschlag verübt – um nur einige Beispiele zu nennen. Trotz einiger offensichtlicher Fehler und falscher Bildlegenden, die ab 1999 zu einer Überarbeitung der Ausstellung und zur Reduzierung ihres Bilderanteils führten, zerstörte die Ausstellung gerade durch ihre Bilder nachhaltig den Mythos der ‚sauberen Wehrmacht‘, die sich aus allem herausgehalten und das Morden der SS und Gestapo überlassen habe. Zugleich fachten die Wehrmachtsausstellung und ihre falsch kontextualisierten Bilder auch in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit eine Debatte um den Status von Bildern, über die Probleme der Kontextualisierung sowie über die Aussagekraft von Bildern im Allgemeinen an. Die konservative Welt sprach jetzt von der „zweifelhaften Macht der Bilder“. FAZ-Feuilleton-Redakteur und Historiker Ulrich Raulff würdigte die Ausstellung mit den Worten: „Nach einer Wanderschaft durch 32 Städte und einer Besucherzahl, die sich der Million nähert, ist sie zur erfolgreichsten politischen Ausstellung der Bundesrepublik geworden. Als solche hat sie Bewusstseinstatsachen geschaffen.“132 Ähnlich emotionsgeladen wie die Debatte um die ‚Wehrmachtsausstellung‘, wenn auch in keiner Weise mit deren öffentlicher Aufmerksamkeit vergleichbar, verlief 2005 die Debatte um die Berliner Ausstellung Zur Vorstellung des Terrors. Anders als Kritiker vorab befürchteten, war diese keine Ausstellung über die ‚Rote Armee Fraktion‘, sondern eine über die besondere Zeitzeugenschaft der Kunst. Zu sehen waren 100 Arbeiten von 50 Künstlern wie Gerhard Richter, Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Sigmar Polke, Klaus Staeck und Jörg Immendorff, die sich seit den 1970er Jahren mit der RAF beschäftigt hatten. Geplant war die Ausstellung auch als Auseinandersetzung mit der Macht der Bilder sowie mit dem Umgang mit den medialen Bildern des Terrors und des kollektiven Gedächtnisses. Bereits im Vorfeld löste die Ausstellung heftige Reaktionen aus. Während sich Ex-Innenminister Gerhart Baum für die Ausstellung engagierte, forderten CDU-Politiker einen Stopp des Projekts und beklagten eine Vernachlässigung der Opfer und eine Ästhetisierung bzw. Verharmlosung der Gewalt der RAF. Hanno Rauterberg kritisierte in der ZEIT, die Ausstellung zeige, wie die Kunst vom Terror überwältigt werde. Und Bettina Röhl, die Tochter der Terroristin Ulrike Meinhof, warf den Kuratoren vor, dass ihre Ausstellung nicht den Mythos der RAF zertrümmere, sondern geradezu von ihm lebe und die Opfer ignoriere. Jenseits der konventionellen Museums- und Denkmalslandschaft etablierten sich seit den 1990er Jahren neue Formate einer postmodernen Gedenk- und Erinnerungskultur, die auf besondere Weise mit dem Begriffspaar Sichtbarkeit/Unsicht-

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Bildbruch – die ,Wehrmachtsausstellung‘ [II/180] Cover des SPIEGEL vom 10.3.1997 unter Verwendung einer bearbeiteten Fotografie des PK-Fotografen Gerhard Gronefeld von einer Erschießungsaktion der Wehrmacht 1941 im serbischen Pančevo; [II/181] Besucher der Ausstellung in Bonn, 1998, Foto von Sascha Hartgers; [II/182] NPD-Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung am 1.12.2001 in Berlin

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barkeit operierten. Sie gaben dem Erinnern ausstellungsdidaktisch und architektonisch eine neue Form jenseits von Gedenk- und Feiertagsreden. (II/183) Zu den neuen Formen des sichtbaren Erinnerns zählt das von dem Kölner Bildhauer Gunter Demnig 1992 initiierte und jeweils von lokalen Bürgerinitiativen getragene Projekt ‚Stolpersteine‘. Es soll im konkreten lokalen Umfeld an vom NSRegime ermordete, deportierte, vertriebene oder in den Suizid getriebene Menschen erinnern. Die in der Zwischenzeit auf 90.000 (Stand: November 2022) angewachsenen, in weiten Teilen Europas von dem Künstler niveaugleich in das Pflaster bzw. den Gehweg vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der Opfer verlegten Betonwürfel haben eine Größe von 10 x 10 x 10 Zentimetern. Sie sind auf der Oberfläche mit einer Messingstafel versehen, in die die wichtigsten Daten der Verfolgten eingraviert sind. Die Stolpersteine sind heute das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Allein in Deutschland gibt es sie an mehr als 1.200 Orten. Nur München und einige wenige andere Städte beschreiten einen Sonderweg im Opfergedenken. Das Denkmal erschließt sich den Betrachtern erst auf den zweiten Blick und nur wenn diese bereit sind, eine Beziehung zu den auf dem Stein eingravierten Kurzgeschichten herzustellen. Die Stolpersteine sind Gedankenhindernisse im Alltag, die das öffentliche Bild der Erinnerungs- und Gedenklandschaft Bundesrepublik mitprägen. Demnigs ‚Stolpersteine‘ sind so immer auch emotional-symbolische Orte, denen [II/183]

[II/183] Gunter Demnig verlegt Stolpersteine in der Oberhutstraße 31 in Ahrweiler südlich von Bonn; Aufnahme von Martin Gausmann vom 12.11.2014 (beschnitten)

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Erinnerungsdiskurse im lokalen Umfeld vorausgehen, die politische Debatten entfachen und Medienereignisse generieren. Ein radikal entgegengesetztes Projekt verfolgte der Konzeptkünstler Jochen Gerz mit verschiedenen Anti-Mahnmal-Installationen. Sein 1993 auf dem Vorhof des Saarbrücker Schlosses eingeweihtes unsichtbares Denkmal symbolisiert wie kein anderes Denk- oder Mahnmal die jahrzehntelange Verdrängung der Geschichte des Holocaust in Deutschland. Zu Beginn der 1990er Jahre hatten der Kunstprofessor Jochen Gerz und mehrere Studenten heimlich begonnen, in die Pflastersteine des Platzes, an dem einst die Gestapo residiert hatte, die Namen jüdischer Friedhöfe einzumeißeln und die Steine anschließend mit der Schrift nach unten wieder in das vorhandene Pflaster einzusetzen. Die Idee wurde später von der Verwaltung aufgegriffen, so dass bis zur öffentlichen Übergabe des Denkmals mehr als 2.000 Steine gesetzt werden konnten, auf die lediglich die Beschilderung des Ortes mit ‚Platz des Unsichtbaren Denkmals‘ verweist.

Der Streit um die Kunst der beiden deutschen Diktaturen

Ebenfalls Ausdruck jener ikonoklastischen Mentalität, die Deutschland nach 1989/90 erfasst hatte, war der Versuch, die Bilderwelten der DDR-Kunst aus dem kollektiven Gedächtnis der ‚Berliner Republik‘ abzuspalten. Anlass der als ‚deutsch-deutscher Bilderstreit‘ in die Geschichte eingehenden Debatte über die Werke so bedeutender DDR-Künstler wie Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer war die Entscheidung des Chefs der Berliner Nationalgalerie, seine Bestände neu zu ordnen und um ausgewählte Werke von DDR-Malern zu ergänzen. Der Streit drehte sich um die Frage, ob die ausgewählten Werke lediglich ideologische Produkte einer DDR-Staatskunst seien und daher in der Walhalla der deutschen Kunst nichts zu suchen hätten oder künstlerisch eigenständige, politisch ambivalente Zeugnisse eines Ringens um Kunstfreiheit und Verantwortung und sich daher in die Geschichte der deutschen Kunst einreihen ließen. Während die Kritiker befürchteten, dass die Hängung der Werke von Heisig & Co. eine kunstpolitische Anerkennung der DDR-‚Malerdiplomaten‘ bedeute, führten die Befürworter den ästhetischen Eigenwert der diskutierten Bilder ins Felde, der es rechtfertige, sie zu den Großen der deutschen Kunstgeschichte hinzuzufügen. Der Zwist, so Ulrich Greiner in der ZEIT, sei „auch ein Kulturkampf der Westkunst gegen die Ostkunst, der Modernen gegen die Realisten“133 – ein Zwist, der in den kommenden Jahren durch Ausstellungen wie Auftrag: Kunst 1949–1990 im Deutschen Historischen Museum (1995) und Deutschlandbilder im Berliner Martin-Gropius-Bau (1997) immer wieder aufflackerte und seinen Höhepunkt 1999 in der Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne in Weimar fand, die die DDR-Kunst gleichermaßen in eine räumliche wie in eine ästhetische Nähe zur NS-Kunst stellte. „In liebloser Inszenierung“ – so Kritiker – sei die Kunst aus der DDR „als Untergangsphänomen abgefertigt und in eine Entsorgungsperspektive gerückt“ worden. Selbst die konservative Welt beklagte: „Auch in Weimar haben nach der Wende jene intellektuellen Putzkolonnen Einzug gehalten, die alles, was im entferntesten nach DDR-Kultur roch, sofort in die Magazine verbannten.“134

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Zahlreiche Werke bedeutender DDR-Künstler waren zu diesem Zeitpunkt bereits aus Museen entfernt und in den Depots und Magazinen ‚versenkt‘ worden. Zum Teil trug der deutsch-deutsche Bilderstreit Züge eines „ästhetischen Bürgerkrieges“ (Karl-Siegbert Rehberg). Dessen Überwindung bedeutete erst die Ausstellung (II/185) Abschied von Ikarus. Bilderwelten in der DDR – neu gesehen 2012/13 in Weimar. Plakat und Cover des Katalogs zierte eine Abbildung von Wolfgang Mattheuers Gemälde Sturz des Ikarus von 1978 – eines der frühen Symbolbilder für das drohende Scheitern des realen Sozialismus. Kunstpolitisch stand seit Beginn des 21. Jahrhunderts und damit 55 Jahre nach Kriegsende erstmals eine intensiv geführte Debatte über die NS-Raubkunst und über Fragen der Restitution auf der Tagesordnung – nach 2013 forciert durch den sogenannten ‚Fall Gurlitt‘. (II/186) 2014/15 fand hierzu im Staatlichen Museum von Schwerin eine viel beachtete Ausstellung statt, die das Thema NS-Raubkunst in größere Zusammenhänge stellte und auch den Raub von Kunstwerken des beginnenden 19. Jahrhunderts durch napoleonische Truppen und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Rote Armee behandelte. 2017/18 folgte die große Ausstellung Der NS-Kunstraub und die Folgen in der Bundeskunsthalle in Bonn, die die Schicksale der verfolgten, meist jüdischen Kunstsammler und Kunsthändler den Täterbiografien gegenübergestellte und auch den beispiellosen Kunstraub der Nationalsozialisten in den von ihnen besetzten Ländern thematisierte. Zur gleichen Zeit öffnete sich die Raubkunst-Debatte in Richtung koloniale Raubkunst, so 2018 in der Berliner Ausstellung Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum, die als Probelauf betrachtet wurde, wie das Ethnologische Museum der Hauptstadt seine heiklen Stücke aus der Kolonialzeit im künftigen HumboldtForum zu präsentieren gedenkt und allgemein mit dem kolonialen Erbe umgehen will. Eine breite und kritische Auseinandersetzung mit der NS-Kunst ließ auch nach der Jahrtausendwende weiter auf sich warten, so dass ein Historiker noch 2007 feststellte: „Die Erforschung der Kunst des Nationalsozialismus wie der Kunst im Nationalsozialismus steckt noch in den Anfängen.“ 135 Dort, wo NS-Kunst öffentlich gezeigt wurde, löste sie in der Regel Proteststürme und Debatten aus, ob man Nazi-Kunst überhaupt ausstellen dürfe, (II/184) wie 2006 im Schleswig-Holstein-Haus in Schwerin anlässlich einer Ausstellung mit Werken des von den Nazis hochgeschätzten Bildhauers Arno Breker. 120 Künstler protestierten in einem Offenen Brief gegen die „Verwendung öffentlicher Mittel für die Rehabilitation von Nazi-Kunst“. Der Bundesverband Bildender Künstler forderte gar  – unterstützt

Ausstellungen – Kunstgeschichte im Diskurs [II/184] Plakat zur Schweriner Breker-Ausstellung (2006); [II/185] Cover des Ausstellungskatalogs Abschied von Ikarus (2012/2013); [II/186] Transparente zur Schweriner Kunstraub/ Raubkunst-Ausstellung (2014); [II/187] Ausstellung zur Geschichte der documenta im Deutschen Historischen Museum in Berlin (2021/22); [II/188] Plakat zur Ausstellung Emil Nolde. Eine deutsche Legende im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart in Berlin (2019)

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von namhaften Kunsthistorikern – eine Schließung der Schau, weil durch sie von den Nazis hofierte Künstler salonfähig gemacht würden. Während der Laufzeit der Ausstellung gab es mehrere Protestaktionen. Insgesamt aber deutete sich ein Wandel im Umgang mit der NS-Kunst an. Museen stellten sich wie 2012 in München oder 2013 in Würzburg immer öfter kritisch ihrer eigenen Vergangenheit. Auch einzelne Künstler, denen es bislang gelungen war, sich und ihr Werk als mit Rassismus und Antisemitismus unvereinbar darzustellen, gerieten nun in großen Ausstellungen ins Kreuzfeuer der Kritik. (II/188) Der bekannteste Fall war der des expressionistischen Malers Emil Nolde aus Nordfriesland. Das Museum für gegenwärtige Kunst in Berlin im ehemaligen Hamburger Bahnhof widmete seiner Entzauberung 2019 unter dem Titel Emil Nolde. Eine deutsche Legende eine eigene Ausstellung, die großes öffentliches Interesse fand und Kreise bis hinein in die Spitze der Politik zog. Im Jahr 2021 widmeten sich gleich zwei Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum der Geschichte der bundesdeutschen Nachkriegskunst: eine über die Kasseler documenta zwischen 1955 und 1997 und eine über den Umgang der jungen Bundesrepublik mit den Künstlern, die auf Hitlers Liste der „Gottbegnadeten“ aufgeführt waren. (II/187) Die Schau zur documenta machte anhand ausgewählter Exponate deutlich, wie sehr diese eine „Blaupause für die Verdrängungen der Nachkriegszeit“ – so SZ.de – war.136 Dass mit Werner Haftmann ausgerechnet ein Mann als theoretischer Kopf hinter der frühen documenta stand, der während des Zweiten Weltkriegs am brutalen Kampf gegen Partisanen in Oberitalien beteiligt gewesen war, wurde als Skandal empfunden, hatte Haftmanns Biografie doch suggeriert, er habe sich vor allem an der Bergung von Kunstschätzen in Kirchen und der Sicherung von ausgebombten Bibliotheken beteiligt. Auch das weitere Organisationsteam der ersten documenta bestand zu fast der Hälfte aus ehemaligen Angehörigen von NSDAP, SA und SS. Es überraschte daher nicht, dass Werke verfolgter und ermordeter jüdischer und kommunistischer Künstler – und erst recht Künstlerinnen  – in der Erzählung vom vermeintlichen Neuanfang der Kunst in der jungen Bundesrepublik nicht vorkamen. Dass die documenta darüber hinaus eng mit dem politischen Programm der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre verwoben war und die Spannungen des Kalten Krieges widerspiegelte, zeige sich – so die Ausstellungsmacher – darin, dass die ehemals diffamierte Kunst der Moderne gleichsam zur Staatskunst avanciert sei und damit zum Mittel der Anbindung an den ‚Westen‘. Politisch opportun – so noch einmal SZ.de – „wurde die von der Figuration befreite Malerei als Abgrenzung vom sozialen Realismus und der Staatskunst im kommunistischen Osten interpretiert. Womit die Documenta die kulturelle Westbindung der jungen Bundesrepublik akzentuierte und, dreißig Kilometer von der Zonengrenze entfernt, zum Brückenkopf gegen die Kultur der jungen DDR ausgebaut wurde [...]“ Parallel zur Ausstellung über die Anfänge der documenta zeigte das DHM 2021 eine Ausstellung über jene Künstler, die auf Hitlers Liste der „Gottbegnadeten“ gestanden hatten, und wie es diesen gelungen war, auch in der jungen Bundesrepublik zu reüssieren.

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Gender & Diversity Die neuen Bilddiskurse zu Vielfalt und Identität Regenbogenfahnen, wie sie bei der Loveparade und dem Schlagermove mitgeführt wurden, und Gendersternchen in ausgewählten Zeitungen waren die sichtbaren Vorboten von neuen identitätspolitischen Diskursen in Deutschland, die zunächst in Seminarzirkeln von Universitäten, in Workshops des Kulturbetriebs, in Künstlerkreisen, unter Gleichstellungsbeauftragten sowie in ausgewählten Redaktionsstuben geführt wurden und seit etwa Mitte der 2010er Jahre eine breitere mediale Öffentlichkeit erreichten. Nicht von ungefähr wurde das Wort ‚Gendersternchen‘ 2018 zum  ‚Anglizismus des Jahres’ gewählt. In der Debatte ging und geht es um Gendergerechtigkeit, um sexuelle Vielfalt, um die Integration von Menschen mit dunkler Hautfarbe sowie von Menschen mit Handicaps in die Öffentlichkeit, weniger um die tatsächliche Aufhebung von gesellschaftlichen Benachteiligungen. Geführt wurden die identitätspolitischen Diskurse vor allem in den Medien, in der kommerziellen Werbung sowie im öffentlichen Raum. In den Diskursen um Gender und Diversity spielte das Fernsehen eine Vorreiterrolle. Vom öffentlich-rechtlichen Bildungs- und Aufklärungs-Fernsehen der ‚Bonner Republik‘ wandelte sich das Fernsehen der ‚Berliner Republik‘ nach der Jahrtausendwende tendenziell zum Gesinnungs- und Minderheitenfernsehen, das immer weniger existierende Realitäten abbildete, sondern seinen Zuschauern das Zukunftsbild einer gendergerechten, multikulturellen und diversen Wunschwelt präsentierte. Ähnlich wie während der Flüchtlingskrise erfüllten Bilder dabei die Funktion, die gewünschte Realität auszumalen und als bereits existent, als ‚neue Normalität‘ erscheinen zu lassen. Oft generierten sie erst das, worüber sie berichteten. Überall tauchten seit den 1990er Jahren in Fernsehsendungen farbige Schauspieler und Schauspielerinnen, Angehörige geschlechtlicher Minderheiten und (II/190) Menschen mit Migrationshintergrund auf, ob in Doku-Soaps, in beliebten Krimiserien, in Castingshows oder Werbe-Einspielern. Seit Mitte der 2010er Jahre gab es kaum mehr eine Talksendung, in die nicht schwule oder lesbische, farbige oder gehandicapte Gesprächspartner eingeladen wurden und über ihre Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen berichteten. Es gab Themenwochen, in denen das Leben und die Konflikte der Angehörigen dieser Gruppen ganze Abende füllten. (II/189) Im Tatort aus Göttingen stand seit 2019 die farbige Schauspielerin Florence Kasumba Maria Furtwängler zur Seite. Im Kieler Tatort ermittelte Sibel Kekilli, aus einer türkischen Migrantenfamilie stammend, neben Tatort-Kommissar Borowski. (II/191) Diversity lautete der manchmal offene, manchmal versteckte Programmauftrag, so auch in Heidi Klums Casting Show Germany’s Next Topmodel. ( II/111) In den privaten Fernsehsendern gab es eigene Programmformate für schwule und lesbische Menschen. Ähnlich wie in neueren Verfassungsdiskursen orientierten sich Programmmacher, Rundfunkräte und Regisseure vornehmlich an Minderheitenfragen und Minderheitenrechten statt am Normalfall bundesdeutscher Wirklichkeiten. Fernsehen war zur Wunschmaschine von Minderheiten geworden. Die bundesdeutsche

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Coloured, multikulti, divers – Diversity im Fernsehen [II/189] Maria Furtwängler als Tatort-Kommissarin ‚Charlotte Lindholm‘ und Florence Kasumba als ihre Kollegin ‚Anaïs Schmitz‘, NDR 9.10.2022; [II/190] Szenenbild Mein Kind – Dein Kind (Vox) (2020); [II/191] die ­Models der 17. Staffel von Germany’s Next Topmodel (ProSieben, 2022)

Realität und das Leben der Mehrheitsgesellschaft bildete sich in ihm, ähnlich wie dies Richard David Precht und Harald Welzer insgesamt für die bundesdeutsche Medienlandschaft analysiert haben, kaum mehr ab. Solche Sendungen und Programmformate waren Ausdruck einer veränderten Zusammensetzung der Mitarbeiter in den Sendern, die sich als elitäre Vorhut gesellschaftlicher Veränderungen verstanden. Allerdings gab es auch ‚Anregungen‘ und ‚Empfehlungen‘ ‚von oben‘, wie Programme unter dem Primat von Gendergerechtigkeit und Diversity zu gestalten seien. In der Broschüre Bilder schaffen Bewusstsein. Anregungen für eine gendergerechte Bildsprache des NDR von 2021137 etwa wurden ganz konkret Empfehlungen für gendergerechte Piktogramme und für Diversity in der Bildsprache gegeben. Aufgabe des NDR sei es, Stereotype aufzubrechen und „dem Kulturwandel in unserer Gesellschaft auch in der Bildsprache Rechnung zu tragen“. „Bei der Auswahl von Bildern und Fotos nehmen wir Einfluss, ob wir Rollen-Klischees und Stereotype bedienen oder die Gesellschaft und die Arbeitswelt so abbilden, wie sie inzwischen ist.“ Und weiter heißt es: „Bei Themenbildern ganz selbstverständlich auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, gleichgeschlechtliche Paare, Alleinerziehende oder Menschen mit Einschränkungen miteinzubeziehen, schafft Bewusstsein für Diversität.“ Bestätigt fühlen konnten sich die Verantwortlichen für Gender und Diversity durch eine von den Sendern mitfinanzierte Studie zur ‚audiovisuellen Diversität‘ der von Maria Furtwängler und ihrer Tochter Elisabeth gegründeten MaLisa Stiftung, die ihren Auftraggebern bescheinigte, dass auf den Bildschirmen noch immer überwiegend ‚weiße‘ heterosexuelle Männer ohne Migrationshintergrund als Experten und Moderatoren überwiegen. Auch „weibliche Fantasie- und Tierfiguren“, so hieß es, seien „nach wie vor deutlich unterrepräsentiert: 82 Prozent der Tierfiguren sind männlich, bei pflanzlichen Figuren und Objekten sind es 95 und bei Robotern und Maschinen 77 Prozent“.138 Schließlich seien in fiktionalen Produktionen nur rund zwei Prozent der Protagonisten und Protagonistinnen als homosexuell oder bisexuell erkennbar. Nur in den Informationssendungen herrsche ein annähernd realistisches Bild der gesellschaftlichen Geschlechterverteilung. Die damalige ARD-Vorsitzende und RBB-Intendantin Patricia Schlesinger kommentierte die Ergebnisse: „Wir sind nicht divers genug.“ Ein Netzwerk ‚ARD-Board Diversity‘ unter Führung des RBB mit Verantwortlichen aus den Bereichen Programm, Produktion und Personalmanagement wachte fortan über die Förderung von Perspektivenvielfalt im Fernsehen. Zu diesem Zweck wurden sogenannte ‚Diversity Checklisten‘ erstellt.

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Nach Schlesinger waren diese Teil des Qualitätsmanagements, die dazu dienten, „sich bewusst zu machen, ob die gesellschaftliche Vielfalt in unseren Angeboten ausreichend abgebildet wird“.139 Die Ergebnisse der neuen Diversity-Strategie der ARD hatten zum Teil skurrilen Charakter. So stellte der erstmals 2021 ausgestrahlte Flensburg-Krimi der dänischstämmigen lesbischen Kripo-Hauptkommissarin einen farbigen Kollegen zur Seite. Der Sender ließ sich von einer Zuschauerin loben: „Wir sind begeistert über das neue Flensburgkrimi-Team! Endlich werden auch mal Kommissare/Kommissarinnen dargestellt, wie sie im wahren Leben zu finden sind: aus verschiedenen Herkunftsländern mit verschiedenen Lebenspartner*innen. Genauso unterschiedlich sind meine Kollegen und Kolleginnen in meiner Firma auch.“ 140 Noch offensichtlicher als im öffentlich-rechtlichen Fernsehen waren die Vorgaben im Filmgeschäft etwa durch die ‚Moin Filmförderung Hamburg SchleswigHolstein‘, einem öffentlichen Unternehmen der beiden Bundesländer. Danach besaßen nur noch Filme eine Chance auf finanzielle Förderung, wenn entsprechende Diversity-Checklisten berücksichtigt wurden.141 Das Ziel der ‚Moin Filmförderung‘ sei die Förderung von „Vielfalt vor und hinter der Kamera“ durch „die Abbildung einer vielfältigen, multikulturellen und inklusiven Gesellschaft ohne Diskriminierung auf Grund von Alter, Aussehen, Behinderung, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Weltanschauung, sexueller Identität oder sozioökonomischem Status“. In einem Anhang machte das Papier exakte Angaben zur prozentualen Verteilung von People of Color, von Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit besonderen geschlechtlichen Identitäten. Nach der ‚Diversity Checklist Produktion Spielfilm‘ von 2020 besaßen künftig nur noch solche Projekte eine Chance auf Förderung, deren Drehbücher Themen behandelten wie Migration und Vertreibung, Hautfarbe bzw. People of Color, sexuelle Identitäten, Leben mit Behinderung usf. Die Anträge mussten angeben, ob im Drehbuch die Geschlechter ausgeglichen repräsentiert und dargestellt sind und ob bei den handelnden Figuren People of Color und/oder Figuren mit anderer als heterosexueller Orientierung auftauchen. Ähnliche Vorgaben machte die Diversity Checklist für die Besetzung der Rollen und die Zusammensetzung der Drehteams. Bis hin zu den Positionen von Lichtgestaltung, Maske, Regie und Produktion waren Angaben zur geschlechtlichen Identität zu machen. In der Branche traf die Checkliste keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Sie schränke die künstlerische Freiheit ein, hieß es. „Die Listen sollen anregen statt einschränken“, konterte eine ‚Moin‘-Sprecherin. „Wir wollen kreative, überraschende und frische Geschichten auf den Kinoleinwänden sehen – dazu brauchen wir mehr als die typisch ‚weiße‘ oder heteronormative Sicht auf die Dinge.“ „Projekte, bei denen man merkt, dass das Thema Diversität keine Rolle spielt, werden es allerdings schwer haben, an unseren Gremien vorbeizukommen.“ Dazu gehörten etwa „Familiengeschichten oder Beziehungsdramen, in denen bis in die Nebenrollen weiße Cis-Personen aus dem Mittelstand vorkommen. Oder aber auch Weltkriegsdramen, bei denen zum Beispiel hinter der Kamera keine einzige Position mit diversem Background dabei ist.“142

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Seit Mitte des 2010er-Jahre spiegelten sich die Identitätsdiskurse, wie sie regelmäßig aus den USA über den Atlantik nach Deutschland schwappten, auch in der Warenwerbung wider. Große, vor allem international agierende Unternehmen stellten eigens Diversity-Beauftragte ein. Während Werbespots etwa für Unternehmen der Textilindustrie wie H&M noch vor wenigen Jahren Bilder von atemberaubend schönen und schlanken Models präsentiert hatten, Frauen in Dessous durch verwunschene Ruinen stolziert waren, die nie ein Gramm zu viel auf den Hüften hatten, hieß das Trendthema neuerer Spots und Anzeigen nun ‚Diversity‘. Zum Inbegriff des neuen Trends wurden Frauen wie das afro-amerikanische Model Paloma Elsesser, die man in der Branche als Curvy- oder auch Plus-Size-Model bezeichnete und so gar nicht dem entsprach, was vor wenigen Jahren noch der Standard in der Modebranche gewesen war, sondern sich vielmehr kurvig, mit bunten Haaren und Tattoos den Fotografen und Kameraleuten präsentierte. Die neu entdeckte Diversität war nicht nur in Werbefilmen von Modeunternehmen zu beobachten. Auch die Telekom schrieb sich das Thema auf die Fahne. In einer neueren Kampagne mit dem Namen ‚#DABEI – Gegen Hass im Netz‘ stellte sich das Unternehmen etwa gegen Homophobie oder ließ eine Transperson zu Wort kommen. (II/195) In Werbeclips und Anzeigen der Deutschen Bahn waren plötzlich nicht mehr nur Familien zu sehen, die weiße Vater-Mutter-Kind-Konstellation abbildeten, sondern nun reiste auch eine farbige Mutter mit ihrem Kind durch die Landschaft. Ein internationaler Konzern wie die Deutsche Bahn wolle Lebensrealitäten auch in der Werbung widerspiegeln, betonte die Diversity-Beauftragte der DB. (II/192) Die bekannteste Diversity-Kampagne in Deutschland stammte von der Körperpflegemarke Dove. Sie ermutigte Frauen dazu, sich nicht dem Schönheitsdruck zu beugen, sondern sich so anzunehmen, wie sie sind. Andere Unilever-Marken wie Magnum widmeten sich der gleichgeschlechtlichen Liebe. (II/193) Hero eines Vodafone-Spots war ein modebegeistertes Transgender-Model. Die Styling-Marke got2b von Henkel/Schwarzkopf feierte in ihren Anzeigen Vielfalt und eine neue Jugendbewegung, die nach Freiheit strebe – ob bei Klimawandel, Cybermobbing, Rassismus oder Diversity. (II/194) Die Labello-Werbung von Beiersdorf setzte für ein neues Produkt neben zwei Frauen auch ein männliches Model ein, das sich mit dem kräftigsten der drei erhältlichen Töne, einem knalligen Rot, die Lippen schminkte und dabei keineswegs einen femininen Look anstrebte. Vielmehr kontrastierte das Rot der Lippen deutlich zu den maskulinen schwarzen Bartstoppeln. Den meisten dieser neuen Kampagnen ging es nicht in erster Linie um Antidiskriminierung und darum, Veränderungen in der Gesellschaft widerzuspiegeln, sondern darum, den Ruf einer Marke zu verbessern, Aufmerksamkeit zu mobilisieren sowie um die Ansprache von bislang eher randständigen Gruppen der Werbebranche wie farbigen Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund sowie von jenen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprachen. Interessanterweise spielten in den neuen Bilddiskursen über Geschlecht, Identität und Vielfalt ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik – wie einst in den 1960er Jahren – keine Rolle. Sie hatte man einmal mehr einfach vergessen.

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Kurvig, farbig, trans und queer – ­Diversity in der Werbung [II/192] Dove-Werbung (2021); [II/193] Vodafone-Werbung (2016); [II/194] Labello-Werbung von Beiersdorf (o. D.); [II/195] Deutsche-Bahn-Werbung (2018) [II/193]

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Nachdem seit dem 1. Januar 2019 in Deutschland im Geburtsregister neben ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ auch ‚divers‘ eingetragen werden durfte, mehrten sich Maßnahmen im öffentlichen Raum, mit Piktogrammen für gleichgeschlechtliche Ampelpärchen und (II/196) Geschlechtersymbolen für unterschiedliche Toiletten den Stand der Gender-Debatte öffentlich sichtbar zu markieren. In Universitäten und Rathäusern, in Orten der Kultur, seltener in privaten Einrichtungen wie Restaurants, Hotels und Fitness-Studios begannen neue grafische Symbole für Transgender und intergeschlechtliche Identität, das binäre Prinzip der getrennten Herren- und Damentoiletten abzulösen. Neue Schilder machten deutlich: Dieser Raum ist auch für Personen mit trans- bzw. intergeschlechtlicher Identität ­zugänglich. Die ersten Bundesbürger, die sich vom zuständigen Standesamt die Geburtsurkunde anpassen ließen, waren die WDR-Journalistin Georgine Kellermann und (II/197) die Bundeswehr-Kommandeurin Anastasia Biefang, Protagonistin des von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mitgeförderten Dokumentarfilms Ich bin Anastasia. Beide hatten sich 2019 medienwirksam als ‚trans‘ geoutet. Wie keine anderen verkörperten sie mit ihrem Gesicht fortan den neuen TransgenderDiskurs. Alle diese Diskurse, Maßnahmen und spektakulären Auftritte spiegelten, anders als dies Fernsehsender, Werbung, Verwaltungen und Politik suggerierten, nicht die Realität der deutschen Mehrheitsgesellschaft und nicht Mehrheitsmeinungen wider. Feuerwehrkalender mit nur knapp oder gar nicht bekleideten weiblichen Mitgliedern oder der populäre Erotikkalender Schrauberträume, der so manche KfZ-Werkstätte ziert, sowie die in hohen Auflagen produzierten Playboy- oder Pirelli-Kalender waren da noch immer näher an der Realität als die elaborierten Zeichen, Anzeigen und Kampagnen der medialen Gender- und Diversity-Community.

[II/196]

[II/196] Schild für eine gendergerechte Unisex-Toilette mit dem Symbol für non-binäres Geschlecht (o. D.)

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[II/197] Filmplakat (2019)

Die neuen Diskurse blieben aber auch in den Medien nicht unwidersprochen. Ein Höhepunkt der Satire und eine Sternstunde des televisuellen Genderdiskurses war die vorabendliche NDR-Talksendung DAS vom 14. Mai 2021 mit dem Schauspieler Henry Hübchen, der in der Sendung ein ‚Coming-out‘ angekündigt hatte und sich dann zur Verwunderung der Moderatorin und des Publikums glaubhaft outete, sich geschlechtlich als Blumenkohl zu fühlen, und von seiner Umwelt einforderte, dies auch so zu respektieren.

Der neue Bilderkampf Kultur im Fokus In den 2010er Jahren begann auch in deutschen Museen, Ausstellungshallen, in Kinos, im Theater sowie im Fernsehen – ähnlich wie zur gleichen Zeit in den USA und in Großbritannien – ein Kampf um Bilder mit weitgehend ähnlichen Erscheinungsformen. Gemälde wurden abgehängt oder verhüllt, Skulpturen vernichtet, Filmhelden vom Sockel gestürzt, Gedichte übermalt, Kreuze entfernt. Meistens ging es um Vorwürfe von Rassismus, Sexismus, Pädophilie, Antisemitismus. Überall geriet die Kunst im Namen von Partikularinteressen unter Druck, politisch korrekt zu sein.

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Dabei stand die Freiheit auf dem Spiel, vorurteilsfrei über Kunst und Geschichte zu sprechen und zu streiten. Ziel der meisten Initiativen war es, Geschichte durch Unsichtbarmachen zu korrigieren. Der Kunsthistoriker Michael Diers sprach von einer „Bereinigung der Geschichte durch Entsorgung“, die um sich greife und versuche, Geschichte aus der Perspektive der Gegenwart zurechtzurücken. Ein „Kontrollwahn“ habe die KulturSzene erfasst, befand 2017 der Südkurier aus Konstanz. Der Anpassungsdruck sei enorm – „und die Angst, etwas falsch zu machen“, wachse. ZEIT-Redakteur Hanno Rauterberg sprach 2018 von einem „neuen Kulturkampf “ im Rücken des Rechts, der in Deutschland tobe, von einer „Diktatur“, die „inmitten der Freiheit erwächst“, und einer „Säuberung“, „die keiner staatlichen Schergen bedarf, um bedrohliche Ausmaße anzunehmen“.143 Das Lifestyle- und Kunstmagazin Monopol gab im September 2017 ein Themenheft „Der neue Kulturkampf “ heraus und fragte: „Was darf die Kunst?“ – oder besser: Was darf die Kunst nicht? Begonnen hatte es 2005 mit dem Streit um die sogenannten Mohammed-Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten. Unter dem Titel Das Gesicht Mohammeds erschienen dort zwölf Karikaturen, die den Propheten Mohammed zum Thema hatten. Die Veröffentlichung schlug besonders in der islamischen Welt hohe Wellen bis hin zu Protestdemonstrationen und Boykottaktionen von dänischen Waren. In den folgenden Wochen druckten andere europäische Zeitungen eine oder mehrere der umstrittenen Karikaturen nach. In der Bundesrepublik veröffentlichte Die Welt alle zwölf Karikaturen, DIE ZEIT, die FAZ, der Tagesspiegel, die Berliner Zeitung und die taz nur einige der Karikaturen, während BILD und SPIEGEL ONLINE einen Abdruck mit Rücksichtnahme auf die mutmaßlich verletzten Gefühle der islamgläubigen Bevölkerung ablehnten. Für den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass handelte es sich bei der Erstveröffentlichung in Dänemark um „eine bewusste und geplante Provokation eines rechten dänischen Blattes“. Zudem kritisierte Grass den Hinweis westlicher Medien auf die Meinungsfreiheit als Heuchelei. Der Sprecher des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) verwies auf den Pressekodex des Deutschen Presserates, wonach „Veröffentlichungen in Wort und Bild, die das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe nach Form und Inhalt wesentlich verletzen können, mit der Verantwortung der Presse nicht zu vereinbaren“ seien. Der Publizist und Kolumnist des SPIEGEL, Henryk M. Broder, kritisierte scharf die gewalttätigen Reaktionen aus Teilen der muslimischen Welt und die daraufhin betriebene Beschwichtigungspolitik zahlreicher westlicher Medien und Politiker. Die Karikaturen selbst seien von einer „erschütternden Harmlosigkeit“, so Broder. Der Karikaturenstreit, der die Empfindlichkeit von verletzten Gefühlen von Minderheiten zum Bezugspunkt der Grenzen der Pressefreiheit hatte erkennen lassen, war indes nur ein Vorspiel für das, was sich in den kommenden Jahren im Kulturbetrieb ereignete. Mitunter reichte bereits ein diffuser Verdacht aus, um Ausstellungsprojekte zu Fall zu bringen, so 2014 in Essen. Dort beabsichtigte das weltweit berühmte Museum Folkwang den Polaroid-Bildern des polnisch-deutsch-französischen Malers

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Balthasar Kossowski de Rola, genannt Balthus, eine Ausstellung zu widmen. Die ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufnahmen zeigten das Mädchen Anna, das zu Beginn der Fotosession acht Jahre alt war, teils bekleidet, teils halbnackt, oft mit gespreizten Beinen. Die ZEIT berichtete im Kontext der damals laufenden Pädophilie-Debatte über die geplante Ausstellung. Auf den Gemälden Balthus’ hätten die frühreifen Mädchen noch surreal entrückt gewirkt, hieß es in einem Artikel, „hier aber, auf den Polaroids, wird die Lüsternheit unmittelbar. Sie erscheinen als Dokumente einer pädophilen Gier.“ 144 Das wiederum rief die Sittenwächterinnen des örtlichen Jugendamtes auf den Plan. Da das Museum juristische Konsequenzen und die Schließung der Ausstellung fürchtete, habe man sich entschlossen, die geplante Werkschau nicht zu zeigen, obwohl eine ähnliche Ausstellung einige Wochen zuvor in New York problemlos über die Bühne gegangen war. Die Süddeutsche Zeitung schürte den Verdacht weiter und stellte die gesamte Malergruppe der Künstlervereinigung ‚Brücke‘ unter Generalverdacht: „War die kleine Anna Wahli, die jahrelang Nachmittage mit dem Maler bei Süßigkeiten und Trickfilmen verbracht hatte, eine Nachfahrin der legendären Fränzi? Die Arbeitertochter aus Dresden diente in einem Alter, in dem Mädchen heute die Grundschule besuchen, den Brücke-Malern als Modell. Kirchner, Heckel und Pechstein nahmen sie mit zu Bade-Ausflügen, wo sie ihre Nacktheit in expressionistischem Pinselduktus und Kolorit als frei und exotisch idealisierten.“ 145  Im Kontext der öffentlichen Pädophilie-Debatte reichte es aus, Künstler, die bislang zum festen Kanon der klassischen Moderne gehört hatten, unter Verdacht zu stellen. „Mit einem Mal gilt als Tabu, was über Jahre kaum jemanden störte“, schrieb Rauterberg in der ZEIT. „Seitdem es aber manche Fluggesellschaften verbieten, dass allein reisende Kinder neben einem männlichen Fluggast sitzen, denn es könnte ja jederzeit zu Übergriffen kommen; seitdem es den Nikoläusen in Zürich untersagt ist, ein Kind auf den Schoß zu nehmen, um jedem Verdacht vorzubeugen; seitdem also der Missbrauch überall zu lauern scheint, geraten auch die Museen unter verschärfte Beobachtung. Und wer nur richtig sucht, dem erscheint die Kunstgeschichte leicht als eine Geschichte der Pädophilie.“ 146 Mit der seit 2017 tobenden #MeToo-Debatte über sexuelle Belästigung und Übergriffe auf Frauen weiteten sich die Eingriffe in den Kunstbetrieb aus. 2018 wurde eine in den Hamburger Deichtorhallen geplante Ausstellung des Fotografen Bruce Weber wegen Vorwürfen sexuell anstößigen Verhaltens ‚auf Eis‘ gelegt, wie es in einer Pressemitteilung hieß. Nicht das Werk, das ausgestellt werden sollte, galt als anstößig, sondern dessen Produzent. Wie in der Debatte über Emil Nolde musste der Künstler mit seiner Person und der richtigen politischen Gesinnung für sein Werk bürgen. Kuratoren waren der Meinung, das Fehlverhalten eines Künstlers beschädige seine Kunst und lasse einen vorurteilsfreien Blick auf ihre ästhetischen Qualitäten nicht zu. Horst Bredekamp kommentierte dies mit den Worten, er kenne keine Epoche außer den Zeiten des Totalitarismus, „in denen vorausgesetzt werde, dass einem bedeutenden Werk ein moralisch makelloser Künstler entsprechen müsse“.147

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Seit 2011 zierte das Gedicht „avenidas“ des bolivianisch-schweizerischen Lyrikers und Begründers der Neuen Poesie, Eugen Gomringer, eine Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Gomringer hatte 2011 den Poetik-Preis der Hochschule erhalten. Er wurde – wie die Neue Zürcher Zeitung schrieb – „eines der ersten Opfer der Identitätspolitik“. Nachdem das Gedicht fünf Jahre unbehelligt an der Fassade zu lesen gewesen war, beschwerte sich im April 2016 der ASTA der Hochschule über den Inhalt des Gedichts. Er kritisierte es als sexistisch und einer „patriarchalischen Kunsttradition“ verpflichtet. „Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren.“ 148 Es erinnere „zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind“. Die Studentenvertreter forderten, das Gedicht zu übermalen. Sie hatten mit ihrem Protest Erfolg. Nach einer Entscheidung des Akademischen Senats veröffentlichte die Hochschule einen Aufruf zur Neugestaltung der Fassade. 2018 wurde Gomringers Gedicht übermalt und durch ein politisch korrektes Gedicht einer feministischen Lyrikerin ersetzt. Einige Buchstaben von Gomringers Gedicht schimmerten gleichsam zum Trotz durch die Neubemalung durch. Die Entscheidung der Hochschule, den Forderungen der Studenten zu entsprechen, sorgte bundesweit für Aufsehen und Unverständnis. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach von einem „erschreckenden Akt der Kulturbarbarei“. Das PEN-Zentrum Deutschland nannte es „barbarischen Schwachsinn“. Gomringer selbst bezeichnete die Entscheidung als „Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie“. Für die Frankfurter Rundschau zeugte die Entscheidung „von einer erschütternden Willfährigkeit, die Freiheit der Kunst einem fragwürdigen Schulfrieden zu opfern“.149 Rundfunk und Fernsehen berichteten über den Fall. Anders als dies die studentischen Sittenwächter beabsichtigt hatten, tauchte Gomringers Gedicht an anderen Stellen wieder auf. Wochenlang waren die Zeilen auf einer Leuchttafel des Berliner Springer-Hochhauses zu lesen. An einer Hauswand im Berliner Stadtteil Hellersdorf ließ eine Wohnungsgenossenschaft Gomringers Werk an einem ihrer Gebäude anbringen. Die Genossenschaft wollte mit ihrer Aktion gegen die „Diktatur der Schreihälse“ ankämpfen. Auch an einem Privathaus in Bielefeld sowie in Gomringers Wohnort Rehau in Nordbayern waren die Zeilen des Gedichts großflächig zu lesen. Der neue Kulturkampf um vermeintlich sexistische Bilder reichte bis in die Provinz, bis nach Heikendorf an der Kieler Förde. Dort hatte 2018 ein lokaler Künstler im Rathaus der Gemeinde unter dem Titel Inkognito einige seiner Gemälde ausgestellt, die er ganz unschuldig als „Hommage an die Schönheit der Weiblichkeit“ 150 verstand. Auf den Bildern waren u. a. Frauen, meistens in Rückenansicht und mit Gewändern, die Haut durchblitzen ließen, abgebildet, ohne aber irgendwo primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale zur Schau zu stellen. Da in dem Ausstellungsraum auch die Gemeindevertretung tagte, kam es zum Eklat. Eine SPD-Ratsvertreterin fühlte sich durch den Anblick der Bilder „sexuell belästigt“. Parallelen zur #MeToo-Bewegung wurden gezogen. Die Ratsherrin wandte sich an den Bür-

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germeister: „Als Frau stoßen diese Bilder mich ab.“ Den künstlerischen Wert wolle sie nicht beurteilen. „Aber die Motivlage mit Frauen, die portionsweise abgebildet werden, ist für einen Ratssaal nicht passend.“ Sie wolle nicht stundenlang auf einen Lederstiefel mit Stiletto-Absatz schauen. (II/198) Der Bürgermeister ließ daraufhin für die Dauer der folgenden Gemeinderatssitzungen die Bilder mit Bettlaken und Küchentüchern verhängen. Den Seniorenbeirat der Gemeinde störten die Bilder nicht. Er tagte im Ratssaal bei unverhüllten Bildern. Der Künstler fühlte sich durch das „Provinztheater“ in seiner Berufsehre angegriffen. Die Verhängung seiner Bilder sei „dicht an der Kunstzensur“. Dem widersprach der Bürgermeister. „Hätten wir die Bilder ausgetauscht, dann wäre es Zensur gewesen.“ Er könne über die Geschichte zwar nur den Kopf schütteln. „Aber auch, wenn ich persönlich in den Bildern keine Herabsetzung von Frauen erkennen kann, muss ich dafür sorgen, dass die Gemeindevertreter bei der Erfüllung ihrer Pflicht nicht gestört werden.“ Die Provinzposse fand überregional Aufmerksamkeit. Zeitungen und Zeitschriften wie die Welt, der Stern, die Frauenzeitschrift Brigitte, der Volksfreund aus Trier, die Salzburger Nachrichten und die Basler Zeitung berichteten über den Fall. Gesamtgesellschaftlich war die Provinzposse von Heikendorf unbedeutend. Dennoch legte sie Mechanismen des neuen Kulturkampfes offen. Die Rücksichtnahme auf das Gefühl einer einzelnen Person bzw. – wie es Hanno Rauterberg formulierte – das „Regime der unguten Gefühle“ reichte aus, um die Freiheit der Kunst einzuschränken. Wichtiger als der Schutz des künstlerischen Werks war längst „der Schutz des Publikums vor den Zumutungen des Künstlers“ geworden.151 Die Fälle des übermalten Gedichts in Berlin und der inkriminierten Bilder aus Heikendorf zeigten aber auch, dass solche Eingriffe in die Kunstfreiheit zumeist noch immer das Gegenteil dessen erzeugten, was sie beabsichtigen. Gomringers Gedicht wurde überregional diskutiert und gleich an mehreren Fassaden im öffentlichen Raum reproduziert. Der Fall von Heikendorf bescherte dem Künstler überregionale Bekanntschaft und eine verstärkte Nachfrage nach seinen Werken. Überall in der Republik gerieten nach dem rassistisch motivierten Mord an George Floyd im Mai 2020 in den USA auch hierzulande vermeintlich rassistische Darstellungen in den Fokus der Kritik, ob die Winnetou-Darstellungen von Karl May oder die schwarzen Buben in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter. In Hamburg musste ein Werbeposter einer örtlichen Brauerei zurückgezogen werden, von dem herunter ein farbiger Mann mit Kokosnussschalenbikini und Fischschwanz in radebrechendem Deutsch fragte: „Wolle Dose kaufen?“ Museen und Fernsehsendungen stellten ernsthaft die Frage, ob man die Porträtbilder Emil Noldes von farbigen Südsee-Bewohnern deren Nachfahren und dem deutschen Publikum noch zumuten dürfe. Begonnen hatte der antirassistische Diskurs um 2009 mit der Diskussion um das sogenannte ‚Blackfacing‘, d. h. der Verkörperung farbiger Menschen durch schwarz geschminkte weiße Menschen. (II/199a) Der Schriftsteller Günter Wallraff hatte sich in bester aufklärerischer Absicht für eine filmische Undercover-Reportage schwarz schminken lassen, um die Reaktionen seiner Umwelt auf ihn zu

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[II/198] Rathaussaal Heikendorf, Foto Karl Piepgras (2018)

testen und rassistische Mentalitäten in der bundesdeutschen Öffentlichkeit offenzulegen. Seine Darstellung indes hatte den Protest von schwarzen Menschen in Deutschland ausgelöst. Ähnlich erging es 2013 dem Literaturkritiker Denis Scheck, der in der ARD-Literatursendung Druckfrisch mit schwarz geschminktem Gesicht auftrat, um gegen die Streichung rassistischer Wörter und Figuren in der Literatur zu protestieren. In Opernhäusern kam es zu Diskussionen, wie künftig der Otello in Verdis gleichnamiger Oper oder der Monostatos in Mozarts Zauberflöte darzustellen sei, um nicht die Gefühle farbiger Menschen zu verletzen. Blackface galt fortan als rassistische Stereotype. (II/199c) In neueren Inszenierungen der Zauberflöte wie an der Bayerischen Staatsoper in München wird die Figur des Außenseiters Monostatos daher nicht mehr als ‚Mohr‘ dargestellt. In anderen Inszenierungen ist er zum abstrakten Monster oder zu einer Nosferatu-ähnlichen Gestalt mit Fetisch-Outfit mutiert. Der antirassistisch gemeinte Blakeface-Diskurs ging schließlich weit über die klassische Kulturwelt hinaus. Auch volkstümliche Inszenierungen wie Karnevalsumzüge und jahrhundertealte Volksfeste mussten dran glauben. (II/199b) So geriet auch der ‚Mohr‘ auf dem alle sieben Jahre praktizierten Grenzgangsfest im nordhessischen Biedenkopf 2019 in die Kritik, der eine historische Figur zum Vorbild hatte. Aus der Perspektive der Gegenwart sollte auch hier die Vergangenheit korrigiert werden. Auch die christlichen Kirchen bemühten sich, ihre eigene Geschichte zu entsorgen. Nach dem Polizistenmord in den USA und der Entstehung der Black-Lives-

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Blackfaces [II/199a] Filmplakat mit Günter Wallraff als Blackface (2009); [II/199b] der ‚Mohr‘ mit seinen Assistenzfiguren, zwei Wettläufern, auf dem Grenzgangsfest in Biedenkopf/Lahn (2012); [II/199c] Szenenbild aus der Münchner Zauberflöte mit rechts Monostatos, der nicht mehr als Blackface dargestellt ist (2019) [II/199b]

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Matter-Bewegung kamen zunehmend auch in deutschen Kirchen Statuen und Figuren auf den Prüfstand, die nicht mehr in das neue antirassistische Weltbild der Kirchen passten. So wanderten im Herbst 2020 Krippenfiguren der Heiligen Drei Könige des Ulmer Münsters, 1923 von einem ortsansässigen Bildhauer geschaffen, ins Depot, weil Melchior – der schwarze König der Gruppe – mit seinen physiognomischen Charakteristika angeblich eine rassistische Groteskgestalt darstelle. Nach Rauterberg waren all dies „symbolische Handlungen“, aus denen ein gewandeltes Verständnis spreche, was Freiheit der Kunst bedeutet und verlangt. Akteure der neuen Einhegung der Kunst, die Rücksicht zu nehmen habe auf Partikularinteressen, die sich in ihr oder in Abgrenzung zu ihr definieren, seien nicht mehr Staat und Obrigkeit, sondern „Kräfte, die sich selbst oft als links und progressiv begreifen und über Jahrzehnte für die Liberalisierung der Künste eingetreten waren“152 und nun im Namen benachteiligter Gruppen eine Zensur von unten verlangen, oder Minderheiten, die sich auf ihre Ängste und unguten Gefühle berufen, um gegen Mehrheiten zu opponieren. Nicht das Allgemeine wende sich gegen das Besondere, „das Besondere tritt auf gegen das Allgemeine“.153 Dabei reicht oft schon der Verdacht oder eine einzelne Stimme aus, um eine Ausstellung zu Fall zu bringen – hier das Jugendamt, dort eine SPD-Ratsfrau oder ein farbiger Bürger. In vielen der neuen Kulturkämpfe, so Rauterberg, werde „das eigene Empfinden verabsolutiert, der persönliche Eindruck zählt mehr als der Ausdruck der Kunst“.154 Alle diese Eingriffe und Maßnahmen waren nicht flächendeckend, sondern nur vereinzelt und geografisch und sektoral begrenzt. Dennoch ging von ihnen bzw. der Presseberichterstattung über sie ein Signal darüber aus, was erlaubt, opportun und eben was nicht erlaubt sei und gegebenenfalls mit Sanktionen belegt werden müsse. SPIEGEL ONLINE warnte 2018 vorausblickend: „Mit Bilderstürmern und anderen Zensoren ist jederzeit zu rechnen und neuerdings auch mit Bilderstürmerinnen und Zensorinnen.“ 155

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Großer Zapfenstreich Bilder vom Ende einer Ära

Das Ende der ‚Berliner Republik‘ markieren drei militärische Ereignisse: der überstürzte Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Große Zapfenstreich für die dort zum Einsatz gekommenen Soldaten sowie nur wenig später der Große Zapfenstreich als Ehrenbezeugung für die scheidende Kanzlerin. Die Nachricht vom Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan, einschließlich der Bundeswehr, platzte wie eine Bombe in die sich seit Monaten nur noch mit Fragen der Pandemie beschäftigende deutsche Öffentlichkeit. Zudem war es Hochsommer und Ferienzeit, in der die Bundesdeutschen für Nachrichten aus aller Welt eher weniger empfänglich waren. Ähnlich wie die Bundeswehr und die Nachrichtendienste wurden die bundesdeutschen Medien, allen voran das Fernsehen, von den Ereignissen im fernen Afghanistan regelrecht überrollt. Hinzu kam, dass sich wie 1975 in Vietnam nur noch wenige Medienvertreter im Land befanden, die hätten berichten können. Einer von ihnen war der stellvertretende Chefredakteur der BILD-Zeitung, Paul Ronzheimer, dessen Berichte mitten aus dem Geschehen bei BILD TV ausgestrahlt wurden. Die ARD verfügte über keine Korrespondenten und keine Kamerateams mehr vor Ort. Für sie hatte sich das Thema erledigt. Das machte ihr Brennpunkt vom 15. August 2021 – dem Tag des beginnenden Rückzugs vom Land am Hindukusch – zum Thema „Kabul vor dem Fall – Wie weiter in Afghanistan?“ deutlich. Dass zum Zeitpunkt der Sendung der Rückzug bereits voll im Gange war und die Taliban gerade den Präsidentenpalast in Kabul besetzt hatten, erfuhren die Zuschauer und Zuschauerinnen an den Bildschirmen nicht. Stattdessen sendete man Bilder aus der ‚Konserve‘: Berichte vom friedlichen Alltag von Schülern aus Afghanistan, von Menschen auf der Flucht ins Nirgendwo sowie von der freundlichen Begrüßung der Taliban auf dem Lande außerhalb der Hauptstadt. Das faktische Bilderloch füllten wie in vergangenen Kriegen Kartenanimationen, Gespräche mit pensionierten Militärexperten und dem CDU-Dauerinterviewpartner Norbert Röttgen, Archivaufnahmen aus Moskau, Peking und von der türkischen Grenze sowie eine Schalte zur ARD-Südasien-Korrespondentin im 1.000 Kilometer entfernten Neu-Delhi auf. Ein Filmchen berichtete von einem Verein in Magdeburg, der sich für das Ausfliegen von Ortskräften der Bundeswehr aus Afghanistan engagierte. Die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios ließ sich zur Interview-Absage des Außenministers und der Verteidigungsministerin befragen. Das offizielle Berlin hatte es nämlich vorgezogen, auf Tauchstation zu gehen.

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Die Bundesregierung und die Mainstreammedien kommunizierten den Exodus der NATO aus Afghanistan in den kommenden Tagen medial als ‚Evakuierung‘ bzw. mit dem in der deutschen Nachkriegsgeschichte in Wort und Bild positiv konnotierten Begriff ‚Luftbrücke‘, nicht indes als Niederlage, um die es sich faktisch handelte. Sie verfolgten dabei eine Doppelstrategie: Bilder der Niederlage, des sich ausbreitenden Chaos und der Übernahme der Macht in Afghanistan durch die Taliban wurden ausgeblendet, stattdessen setzte man die Niederlage als geordneten Rückzug und als letzten humanitären Akt ins Bild. Dass der teuerste, längste und opferreichste Einsatz von NATO und Bundeswehr nach 20 Jahren kläglich gescheitert war, der ursprünglich die westliche Freiheit am Hindukusch hatte verteidigen sollen, blieb in den Berichten und Statements weitestgehend ausgeblendet. Allenfalls im Internet und auch dort nur an entlegenen Plätzen waren Bilder der katastrophalen Niederlage zu sehen, wie von jenen Taliban, die den Exodus der westlichen Truppen feierten; von den symbolischen Beerdigungen wie in Chost im Osten des Landes, wo Särge mit den Fahnen der in Afghanistan engagierten westlichen Länder durch die Straßen getragen wurden; vom Inspizieren und der Inbesitznahme schwerer westlicher Waffen und Transporthubschrauber in einem Hangar, die es offiziell gar nicht mehr dort geben sollte, durch Taliban-Soldaten in westlichen Uniformen; vom Chaos in den Straßen zum und am Flughafen der Hauptstadt usw. Aufnahmen solcher Szenen verbreiteten sich innerhalb weniger Stunden in den sozialen Netzwerken, während sie kaum einmal die großen Fernsehsender erreichten. Dort versuchte man, mithilfe von ausgewählten Fotografien und sorgsam inszenierten Bildberichten das Gesicht zu wahren und dem chaotisch verlaufenden Exodus eine ordnende Struktur zu geben. (II/200) Zu diesen Bildclustern zählten vor allem Bilder symbolischer Akte wie die der Rückkehr der Bundesdienstflagge auf dem Fliegerhorst im niedersächsischen Wunstorf, wo am 30. Juni 2021 die ersten vier Militärtransporter aus dem Feldlager in Masar-i-Scharif eingetroffen waren, oder die Bilder der zurückgekehrten, äußerlich unverletzten Bundeswehrsoldaten, die ordentlich und korrekt, Corona-Schutzmasken tragend, vor ihrer Ministerin zum letzten Appell angetreten waren. Zugleich wurden die Real-Bilder der Niederlage und des Chaos, das der Westen in Afghanistan hinterlassen hatte, immer wieder mit Bildern und Bildsequenzen überschrieben, die humanitäre Aktionen wie das Ausfliegen von real oder fiktiv von Verfolgung oder Schlimmerem bedrohten Menschen aus Afghanistan in den Blick rückten. (II/201) Gefragt waren vor allem Bilder, die mit Flüchtlingen prall gefüllte Transportmaschinen vom Typ Airbus A400M zeigten, nicht indes jene Fotografien, auf denen sich mitunter nur ein Dutzend oder weniger Menschen im Bauch der geräumigen Flugzeuge verloren. Faktisch überschrieben wurden damit zugleich ( II/125) die Bilder mit den mit der Deutschlandfahne bedeckten Särgen, in denen getötete Bundeswehrsoldaten in den vergangenen Jahren nach Deutschland zurückgebracht worden waren. Die Rechnung, Niederlage und Chaos in Afghanistan herunterzuspielen, ging allenfalls begrenzt auf. Der Münchner Merkur sprach von „verstörenden Bildern“ und „bizarren Videos“ aus Afghanistan, die um die Welt gingen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb später: „Die Bilder vom Flughafen in Kabul, die Fotos der fast leeren

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Überschreibungen – das Ende eines Desasters [II/200] Wunstorf, 30.6.2021: Rückkehr der Bundesdienstflagge aus Afghanistan; [II/201] Evakuierte Afghanen und Deutsche in einem Airbus der Bundeswehr nach der Landung am 18. August 2021; [II/202] Großer Zapfenstreich der Bundeswehr zum Ende ihres Afghanistan-Einsatzes vor dem Berliner Reichstag, 13.10.2021

Bundeswehrmaschine haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Sie stehen für den überstürzten und chaotischen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan. Viele fühlten sich sofort erinnert an die Bilder aus Saigon 1975, als die US-Truppen aus Vietnam abzogen. Aber die Bilder aus Kabul stehen auch für fast 20 Jahre, in denen es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen ist, Afghanistan zu stabilisieren.“156 Aus der Perspektive von 2023 lassen sich die Bilder aus Afghanistan auch als Einladung an Wladimir Putin ‚lesen‘, seine imperialen Träume auszuleben und die Ukraine zu überfallen. Die militarisierte Außenpolitik der ‚Berliner Republik‘, die mit dem Kosovo-Krieg 1999 begonnen hatte, war gescheitert. (II/202) Am 13. Oktober 2021 ehrte die Bundesregierung im Beisein der Kanzlerin mit einem Großen Zapfenstreich vor dem Reichstag symbolisch alle in Afghanistan zum Einsatz gekommenen knapp 100.000 Soldaten und Soldatinnen. Insgesamt haben die Regierungen der ‚Berliner Republik‘ in Afghanistan etwa 17,3 Milliarden Euro ‚versenkt‘. Dem Desaster am Hindukusch folgte mit dem Großen Zapfenstreich am 2. Dezember 2021 das offizielle Ende der Ära Merkel und damit der ‚Berliner Republik‘. Daran, dass es sich beim Großen Zapfenstreich um ein militärisches Ritual aus preußischer Urzeit handelte, das so gar nicht mehr in die Zeit passte, vermochten auch die von der Kanzlerin ausgewählten Lieder – darunter Nina Hagens DDR-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“ – nichts ändern. Der Abschied für die scheidende Kanzler geriet medial allenfalls zu einem Fernsehereignis von mittlerer Reichweite. Beim ZDF verfolgten 9,04 Millionen Menschen oder 30,4 Prozent die Live-Übertragung Ende einer Ära; auf Phoenix waren 440.000 Menschen (1,5 Prozent) dabei. Der Nachrichtensender der Welt erzielte mit seiner Live-Schalte zur Zeremonie noch einmal zusätzlich 374.000 Zuschauer (1,2 Prozent). Die Kommentatoren des anachronistischen Rituals auf dem Gelände des Berliner Bendlerblocks beschränkten sich vor allem auf die Frage, wie emotional sich Merkel gezeigt habe, ob sie geweint habe oder nur gerührt gewesen sei. Der Stern sprach von einem „imposanten Abgesang“ der Ex-Kanzlerin, die anders als alle ihre Vorgänger freiwillig und selbstbestimmt ihre Kanzlerschaft beendet habe. Ob ein solches Ritual noch zeitgemäß war, interessierte allenfalls am Rande. Kommentare wie jener in der Rheinischen Post blieben die Ausnahme: „Doch in einer Zeit, in der sich die Bürger in so vielen Bereichen einschränken müssen, sollte man auf militärisches Brimborium verzichten.“ 157 Ansonsten waren es Nebensächlichkeiten, die registriert wurden, so etwa eine optische Täuschung, als sich auf den Helmen der Soldaten, die diese zu Ehren

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Merkels abgesetzt hatten und in den Händen hielten, das Licht der vielen Scheinwerfer spiegelte und es aussah, als würden kleine Smileys von der dunklen Oberfläche der Helme Akteure und Zuschauer angrinsen. Nicht einmal für die Karikaturisten der Republik gab das Spektakel im Bendlerblock etwas her. Ein Karikaturist textete zu einer Zeichnung, in der die Kanzlerin vom bequemen Sessel aus das Militärspektakel verfolgt, in Abwandlung des Nina-Hagen-Hits lediglich: „Du hast das Klima, die Bildung, die Mieter, die Pflege und den Farbfilm vergessen …“ Die Beauty-Care-Firma Schwarzkopf verabschiedete die Kanzlerin auf ihrer Homepage mit einem humorvollen Spot, in der sich die Firma bei der Kanzlerin für die versteckte Werbung für ihren Haarfestiger ‚Taft‘ bedankte. Die Handlung des mit einer Merkel-Doppelgängerin gedrehten Dankes-Spots: Merkel sorgt kurz vor ihrem Auftritt beim Zapfenstreich noch schnell für das nötige Finish ihrer Haare, bevor Olaf Scholz sie drängt, dass man auf sie warte. Dennoch lässt die Kanzlerin es sich nicht nehmen, noch einmal schnell zurückzukommen und das ‚Taft‘-Spray einzustecken. Die Krönung des von einer Düsseldorfer Werbeagentur kommunizierten Spots ist der Slogan: „Danke für 16 Jahre starken Halt. Taft – Für starke Momente!“

[II/203] Angela Merkel verabschiedet sich nach dem Ende des Großen Zapfenstreiches im Berliner Bendlerblock, Foto Clemens Bilan (EPA), 2.12.2021

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Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.)

Pressefoto: Unter wilden Augen [III/1]

[III/1] Pressekonferenz im Kanzleramt, Berlin 29.9.2022; im Hintergrund das Gemälde Augenbilder von Ernst Wilhelm Nay

(III/1) Auf einer Pressekonferenz im Kanzleramt am 29. September 2022 verkünden Kanzler Olaf Scholz, sein Vize Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner die Installierung eines mit 200 Milliarden Euro ausgestatteten „Abwehrschirms“, der  – wie es Scholz formuliert  – dazu beitragen soll, „dass alle gut zurechtkommen können und dass sie die Preise bezahlen können“, auch „der Bäckermeister um die Ecke, die Handwerkerin oder die großen Industriebetriebe, die auf Strom- und Gaslieferungen angewiesen sind, die jetzt

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viel zu teuer sind“1. Die auch als „Gaspreisbremse“ bezeichnete Maßnahme ist nach der Einrichtung des sogenannten „Sondervermögens“ mit 100 Milliarden Euro zur Aufoder besser zur Nachrüstung der Bundeswehr der zweite finanzpolitische Kraftakt zur Abfederung der Krise, die die Bundesrepublik im 73. Jahr ihres Bestehens erfasst hat – der sogenannte „Doppelwumms“, wie der Kanzler sagt. Physisch anwesend im Pressesaal des Amtes sind Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck sowie Finanzminister

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Pressefoto: Unter wilden Augen

Lindner. Per Videobild zugeschaltet ist der Bundeskanzler, der sich wegen einer Coronainfektion in dem kleinen Dienstappartement im achten Stock seines Amtssitzes in Isolation begeben hat. Der Monitor mit dem Bild des Kanzlers ist zwischen seinen Ministern positioniert. Das farblich deutlich von dem Hintergrund sich abhebende Bild des Monitors verweist darauf, dass die Coronakrise die Menschen in Deutschland noch immer im Griff hat und Millionen von Arbeitnehmern noch immer im Home­ office arbeiten. In diesem Sinne verknüpft das Pressefoto die gegenwärtige Krise als Folge des Ukraine­krieges mit der bereits älteren Coronakrise. Soeben hat Robert Habeck das Wort ergriffen. Anders als noch wenige Monate zuvor während der Kanzlerschaft von Angela Merkel ist die Stirnwand des Pressesaals nicht mehr mit einem großen blauen Tuch mit Bundesadler bespannt. Als Kulisse der Pressekonferenz drängt sich jetzt ein großformatiges, die drei Politiker überwältigendes Gemälde in die Objektive der Kameras und damit in den Blick der Betrachter: das mittlere, vier mal vier Meter messende Bild eines Triptychons. Bei diesem handelt sich um Ernst Wilhelm Nays Augenbilder, einst ein Höhepunkt der abstrakten Malerei der bundesdeutschen Nachkriegskunst. Entstanden ist das Triptychon in den späten 1950er Jahren für die documenta III 1964 in Kassel. Nay zählte damals zu den wichtigsten deutschen Vertretern der gegenstandslosen Malerei. Seine Werke waren zeitgenössisch nicht unumstritten. Vielen galten sie damals als zu dekorativ. Heutigen Galeristen

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und Kunsthistorikern signalisieren Nays wilde Augen dagegen Aufbruch und Mahnung. Den Stuttgarter Kunsthistoriker Günter Baumann faszinierten die Bilder „wegen ihrer mythisch-symbolischen Präsenz“. Es seien „Argusaugen, die ganz aus der Abstraktion hervordrängen, als Mahnungen, wachsam zu bleiben in einer wehrhaften Demokratie“. 2 Als Dauerleihgabe der documenta und damit kostenfrei kamen die Bilder ins Kanzleramt. Gerhard Schröder sollen die großen Augen im Rücken gestört haben; deshalb habe er das mittlere Bild, vor dem nun Scholz & Co. sitzen bzw. zugeschaltet sind, durch den Bundesadler verdecken lassen. Schröders Nachfolgerin belässt es dabei. Erst mit dem Amtsantritt der Ampelkoalition erblickt Nays Mittelbild wieder das Rampenlicht. Das Bild ist von Vorhang und Bundesadler befreit. Die mächtigen Augen drängen sich den Betrachtern regelrecht auf. Sie dominieren die Szene, und sie stören. „Sind wir als Beobachterinnen und Beobachter der Szenerie gar die Beobachteten?“, fragt ein Kommentator der Pressekonferenz in den Stuttgarter Nachrichten. Kunsthistorisch ordnen sich Nays Augenbilder, woran vermutlich niemand im Kanzleramt gedacht hat, in eine lange Motivserie von Augenbildern seit der Renaissance ein, in denen das Monoculus – das Einauge – lange Zeit das allsehende göttliche Auge symbolisierte, bevor diese Bedeutung im Zuge der Aufklärung auf staatliche Herrscher überging. ( II/115, 116) Heute steht das Monoculus für eine kaum mehr kontrollierbare staatliche wie private Überwachung des öffentlichen Raumes.

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Zwischen Aktentasche und Regenbogen Zur Ästhetik und Ikonografie der ‚Ampelrepublik‘

Keine Bundesregierung hatte einen schwierigeren Start als die Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP unter Kanzler Scholz. Mitten in der schwersten Krise, die die Bundesrepublik bis dato erlebt hatte, der Coronakrise, übernahm sie die Amtsgeschäfte und mit ihr die Erblasten der ungelösten Klimakrise und einer nach wie vor unkontrollierten Einwanderung. Und keine Bundesregierung hatte sich bei ihrem Amtsantritt mehr vorgenommen als Scholz & Co. Sie wollte das Klima retten, die Probleme der Einwanderung lösen, die Verkehrs- und die Energiewende einleiten und ganz nebenbei Gendergerechtigkeit und Diversität herstellen. Als ob dies nicht schon genug wäre, kam nach wenigen Monaten der Ukrainekrieg dazu, der Europa und Deutschland an die Grenzen des dritten Weltkrieges führte und zusätzlich neue Probleme bescherte: eine Energiekrise, wie sie das Land noch nicht erlebt hatte, und eine soziale Krise, die immer mehr Menschen an den Rand der Existenz führte. Wohl noch nie sei eine Regierung ins Amt gekommen, so Heinrich Wefing in der ZEIT, „der die Gegenwart so übel mitgespielt hat wie dieser. Als seien die Reiter der Apokalypse pünktlich zur Vereidigung der Ampel losgezogen, kam zu Klima und Corona erst der Krieg obendrauf und demnächst vermutlich der Hunger – Preisexplosion, Ernährungskrise, Flüchtlingsströme – auch in Deutschland und Europa.“3 Getragen wurde die neue Regierung von den Wahlverlierern von 2021, die sich trotz aller gegenteiligen Bekundungen untereinander nicht ‚grün‘ ­waren und um ihr Image rangen. All dies waren Herkulesprobleme zu einer Zeit, in der immer weniger Menschen an die Wahlurnen gingen und der Politik den ­Rücken kehrten.

„Das war’s!“ Imageprobleme der Regierung Scholz Nachdem die Aufnahmen der strahlenden Koalitionspartner von der Vorstellung ihres rot-grün-gelb eingefassten Koalitionsvertrages schnell verblasst waren, kam es insbesondere für Kanzler Scholz – dem neunten Kanzler der Republik – darauf an, sich in seiner neuen Rolle in Wort und Bild zu profilieren. So wie Willy Brandt mit seinem Bekenntnis „mehr Demokratie wagen“ Aufmerksamkeit erhielt, Helmut Kohl 1983 eine „geistig-moralische Wende“ gefordert hatte, von Angela Merkel ihr „Wir schaffen das!“ während der Flüchtlingskrise in Erinnerung bleiben wird,

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schrieb sich Kanzler Scholz gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit der Verkündung der „Zeitenwende“ in die Geschichtsbücher ein. (III/2) Vermutlich wird auch das Pressefoto vom Abend des 24. Februars 2022  – dem Überfall Russlands auf die Ukraine – dereinst historisch genannt werden. Es zeigt einen überaus ernst blickenden Kanzler vor den Objektiven der Kameras. Ausgestattet ist das Bild mit den Insignien der Macht und der Solidarität. Gleichsam symbolisch im warmen Abendlicht der untergehenden Sonne erstrahlt das Reichstagsgebäude mit seiner gläsernen Kuppel und zwei wehenden Deutschlandfahnen. Zum Beweis der Solidarität mit der soeben von russischen Truppen überfallenen Ukraine steht neben Scholz und den Fahnen der Bundesrepublik und der Europäischen Union die blau-gelbe Fahne der Ukraine. Zwar befindet sich der Kanzler optisch im Zentrum des Bildes, stärker als er selbst aber wirken die ihn umgebenden Symbole und der Bundestag im Hintergrund. Scholz nimmt soeben zu Putins Angriffskrieg und zur Frage Stellung, was dies für Deutschland und Europa bedeuten werde. Nichts mehr werde sein wie zuvor. Bereits die durch die Medien gehende Pressefotografie vom 15. Februar aus Moskau, die Scholz und Putin in größter denkbarer räumlicher Distanz, noch verstärkt durch grelles Licht, an einem riesigen Marmortisch zeigt,  – eine Aufnahme, die deutlich kontrastiert ( II/42) zu den Umarmungsbildern von Schröder und Putin – lässt die kommenden Probleme erahnen. Während Scholz eigens nach Moskau gereist war, um auf eine diplomatische Lösung der Krise um die Ukraine zu drängen, zeigt die Inszenierung des Gesprächs, dass die russische Seite weder an Dialog und menschlicher Begegnung noch an Diplomatie interessiert ist. Die Fotografie am Marmortisch ist eine Distanzgeste ähnlich wie ( II/49) die Aufnahmen von Putin bzw. Trump mit Angela Merkel, die die Kanzlerin ebenfalls auf Distanz gehalten hatten. Neben seinen medialen Auftritten als Chefdiplomat bemühte sich Scholz, sich in der Tradition seiner Vorgängerin als nüchterner Sachpolitiker und internationaler Staatsmann zu profilieren. Die BILD-Zeitung charakterisierte ihn nicht zu Unrecht als „sparsam, nachhaltig und lässig“. Zu diesem Image trug u. a. seine Aktentasche bei, die er seit Jahren mit sich führte und die ihn eher als Bankbeamten denn als Kanzler einer der führenden Industrienationen der Welt erscheinen ließ. „Nun ist Olaf Scholz Kanzler“, notierte die Online-Ausgabe der Stuttgarter Zeitung mit einem Schuss Ironie, „und stets an seiner Seite sieht man nun eine monströse Tasche mit Verschlüssen, in die typischerweise alles hineinpasst, was auch hinein soll: Aktenordner, Laptop, der Koalitionsvertrag der Ampel, die Grundrente, Willy Brandts Vermächtnis an die SPD […]. Diese Tasche […] sieht nach viel Arbeit und wenig Humor aus und damit auch irgendwie sehr beamtisch und deutsch. Fröhlich war einmal. Packen wir’s ein!“4 Die Aktentasche von Scholz wurde Kult. Psychologen rätselten über ihre Bedeutung und glaubten in ihr „eine versteckte Botschaft“ zu erkennen, etwa „eine neue Bescheidenheit“. Sich Sachen hinterhertragen zu lassen, sei nicht die Sache des Kanzlers. Eine Psychologin befand: „Sie ist abgetragen und ein bisschen altmodisch. Das tut dem Image eines bodenständig gebliebenen Politikers gut.“ 5 Dies

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Olaf Scholz (2021 ff.) [III/2] Olaf Scholz in seiner Fernsehansprache am Donnerstagabend, 24.2.2022; [III/3] Olaf Scholz begrüßt auf dem roten Teppich mit Aktentasche Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew, dpa-Bildfunk 18.6.2022; [III/4] Schnappschuss von Pressefotografen vom 28.6.2022 bei der Abschluss-Pressekonferenz des G7-Treffens auf Schloss Elmau östlich von Garmisch-Parten­kirchen; [III/5] G20-Treffen am 16.11.2022 auf Bali: Scholz inmitten seiner Amtskollegen

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[III/6] Dienstzimmer von Kanzler Scholz mit Schreibtisch, Fahnen und Fotografie, Aufnahme vom Sommer 2022

zeigte auch Scholz’ Antrittsbesuch am 18. Juni 2022 bei Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyi, (III/3) als er auf dem roten Teppich vor dessen Amtssitz, seine etwas abgewetzte Ledertasche in der linken Hand haltend, seinem Gastgeber die rechte Hand entgegenstreckt. Wenige Sekunden später werden ihm ukrainische Sicherheitskräfte zur völligen Überraschung des Kanzlers und seiner Begleiter die Tasche entreißen. Das Image des nüchternen Sachpolitikers unterstreicht auch die Ausstattung von Scholz’ Büro im Kanzleramt. Statt sich wie sein Vorvorgänger Schröder mit Kunst zu schmücken oder sich wie seine unmittelbare Vorgängerin traditionsbewusst mit einem Gemälde des ersten Bundeskanzlers und CDU-Vorsitzenden im Rücken zu zeigen, ließ Scholz hinter seinem von Schröder geerbten riesigen Schreibtisch eine für die Ausmaße seines Dienstzimmers (III/6) verhältnismäßig kleine Schwarz-Weiß-Fotografie hängen, die ihn schon während seiner Zeit im Finanzministerium begleitet hatte und ihn gleichermaßen als sachlichen wie heimatverbundenen Politiker auswies: ( I/15) eine Architekturfotografie des deutschen Pavillons der Brüsseler Weltausstellung von 1958 von Eberhard Tröger, einem Hamburger Fotografen und dortigen Professor an der Hochschule für bildende Künste. Wie schon während seiner Hamburger Zeit und seiner Zeit als Finanzminister besaß und besitzt Scholz ein besonderes Verhältnis zu den Medien. Wegen seiner automatisierten und mitunter mechanisch wirkenden Wortwahl und seiner Sprechmelodie sowie seines roboterhaften, mitunter verkniffenen Kommu-

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nikationsstils auf Pressekonferenzen wurde Scholz von Medien  – zuerst 2003 in der ZEIT – als „Scholzomat“ tituliert. Er selbst empfand die Bezeichnung als durchaus „treffend“. Schlüsselbilder, die das Verhältnis des Kanzlers zu den Medien charakterisieren, sind die Fernsehsequenzen und (III/4) Pressefotografien von der AbschlussPressekonferenz des G7-Treffens auf Schloss Elmau am 28. Juni 2022. Eine Journalistin wollte dort mehr über die versprochenen Sicherheitsgarantien der G7Staaten gegenüber der Ukraine erfahren. Sie fragte den Bundeskanzler: „Könnten Sie konkretisieren, welche Sicherheitsgarantien das sind?“ Scholz antwortete kurz und knapp: „Ja“. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Das könnte ich“. Dem kurzen Statement folgte Stille und ein verschmitztes Lächeln sowie ein „Das war’s“, womit Scholz kundtat, dass keine Antwort mehr folgen werde. Journalisten kritisierten dieses Verhalten des Kanzlers als „arrogant“. Für einen NDR-Reporter war das Auftreten von Scholz „nicht witzig, sondern nur überheblich gegenüber einer ausländischen Journalistin“. Scholz’ Auftreten auf Schloss Elmau war nicht das erste Mal, dass er auf Fragen von Journalisten nicht einging oder diese einfach stehen ließ. Auf die Frage eines ARD-Journalisten, ob er wie sein Vize Habeck Alltagstipps parat hätte, um Strom zu sparen, hatte er einfach mit „Nö“ geantwortet. Zeitungen wie der SPIEGEL und der Tagesspiegel bezeichneten Scholz wegen solcher Verhaltensweisen als „Schlumpf “ und stellten ihn in Karikaturen mit entsprechender Mütze dar. Einen Presse- und Imagecoup gegenüber seinen in Umfragen deutlich beliebteren Ministern Habeck und Baerbock landete Scholz mit (III/5) einem Foto, das ihn am 16. November 2022 beim G20-Treffen auf Bali zeigt, nachdem dort der Einschlag einer russischen Rakete, die – wie sich später herausstelle – von ukrainischer Seite abgeschossenen worden war, auf polnisches und damit auf NATO-Territorium bekannt geworden war. Das Foto zeigt Scholz als Zentrum und Akteur inmitten der mächtigsten Politiker der Welt. Es signalisiert gleichermaßen Anerkennung, die Scholz zu genießen scheint, Nähe und Vertrautheit, aber auch Anspannung und die Fähigkeit, in einer solchen schwierigen Situation Ruhe und Besonnenheit zu bewahren. Für die Neue Zürcher Zeitung war es ein „historisches Bild“, für den SPIEGEL „ein ikonisches Bild“, das Regierungssprecher Steffen Hebestreit – dem ehemaligen Hauptstadtkorrespondenten der Frankfurter Rundschau – da gelungen war. Die BILD-Zeitung indes ließ einen Kommunikationsexperten zu Wort kommen, der das, was wie ein privater Schnappschuss aussah, als mit den PR-Stäben der anderen Staatschefs abgestimmte Inszenierung einordnete, wofür die Zeitung wie der Befragte allerdings die Beweise schuldig blieben.

Habeck in der Kommunikationsfalle

Einen diametral entgegengesetzten, eher auf Überzeugung denn auf Verkündung setzenden Kommunikationsstil im Umgang mit Medien und Wählern pflegte Vizekanzler Robert Habeck, was ihn zu Beginn seiner Amtszeit zum beliebtesten deutschen Politiker und zum Superstar der Ampelkoalition machte. Die Medien waren voll des Lobs über Habecks Stil, den sie als modern und authentisch charakterisier-

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ten. Die Welt feierte Habeck schon nach wenigen Wochen als den künftigen Kanzler. „Der eine erklärt die Welt in einfacher Sprache, der andere überlegt sich jedes Wort – und schweigt zur falschen Zeit: Die Kommunikation von Scholz und Habeck könnte unterschiedlicher nicht sein“, hieß es in der Online-Ausgabe der Tagesschau am 22. August 2022. Für ntv.de war mit Habeck eine „neue Ära von Kommunikation“ im Bundeswirtschaftsministerium angebrochen. Der grüne Minister stehe für „die Zeitenwende in der politischen Kommunikation“, verkündete der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje. Er breche „fundamental mit dem Kommunikationsstil der Ära Merkel“. Habeck vermittele Politik „nicht als Produkt, sondern als Prozess der Abwägung“. Habeck sei der „Youtube-Star im Wirtschaftsministerium“, der die politische Kommunikation neu erfinde, lobte ntv.de.6 (III/7) Mit seinen Videos auf Instagram breche er mit einer politischen Kommunikation, die von Schein-Sicherheit geprägt gewesen sei.  16 Jahre hätten sich die Bürgerinnen und Bürger an eine politische Kommunikation gewöhnt, die Probleme möglichst umschifft habe. Demgegenüber nehme Habeck seine Wähler und die Menschen im Land mithilfe der Sozialen Medien mit auf Reisen, beziehe sie ein und erkläre ihnen seine Politik. Zusammen mit dem Berliner Fotografen Dominik Butzmann entwickelte das Kommunikationsteam um Habeck nach dessen Bestellung zum Minister InstagramStories zu einem eigenen regierungsoffiziellen Reportage-Format, nachdem sich Habeck zuvor von Twitter und Facebook zurückgezogen hatte. „Ich bin jetzt hier in Doha am zweiten Tag einer Reise“, begann so etwa ein Video von Habecks Reise nach Katar. Wenn man nicht wüsste, wer Habeck ist, hätte man meinen können, das Video käme von einem Instagram-Blogger, der seine neueste Influencer-Reise vorstellt. Doch das Video stammte von der offiziellen Youtube-Seite des Wirtschaftsministeriums. Knapp drei Minuten lang sprach Habeck darüber, wie „merkwürdig“ alles sei, und erklärte ganz nebenbei auch noch die Kehrtwende in der deutschen Energiepolitik. Niemand verkaufe Politik im Moment „so gut wie Robert Habeck“, befand der Hamburger Journalist und Autor Michalis Pantelouris. Es gebe ganze Artikel, die nichts als Zusammenfassungen seiner Instagram-Posts seien. „Die Ausstrahlung eines Antreibers, gepaart mit Nähe und Empathie, das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten in Kombination mit dem Willen zum Aufbruch“ mache die Performance eines Robert Habeck so erfolgreich, konstatierte Jost Listemann, Inhaber der Berliner Time:Code:Media GmbH. Mit seiner Offenheit nehme Habeck „sein Gegenüber ernst und fordert, ebenfalls Verantwortung zu übernehmen. Eine Haltung, die das Publikum auf Augenhöhe anspricht und das Gefühl vermitteln will, dass es einen Ausweg aus der Ohnmacht der Gegenwart geben könnte“.7 Mit seinem Team manövriere der Minister „täglich durch einen medialen Parcours aus Pressekonferenzen, TV- und Social-Media-Auftritten und übersetzt seine Politik in visuelles Storytelling. Habeck performt bei ‚Lanz‘ oder neben dem israelischen Premier, ist auf Social Media ständig präsent mit Videos und Foto-Stories. Seine Gesten, Bewegungen und Kleidungen verschmelzen mit seinen Sprachfiguren des ‚Ich‘, ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ zu einer medial inszenierten Nähe, die messbar erfolgreich

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[III/7] Screenshot von Instagram-Posts zur Reise von Robert Habeck nach Katar in zeitgenössischer TikTok-Ästhetik, Aufnahmen vom 19.3.2022

ist: Max Weber nannte es ‚Charisma‘, heute nennt man es ‚authentisch rüberkommen‘.“ Die Ansprache in den sozialen Netzwerken geschehe meist auf Augenhöhe und aus nächster Nähe. Hier durchdringe „die Tik-Tok-Ästhetik bereits die Politik – visuelle Kommunikation im 1:1, hochkant, live. Inszenierte Authentizität via Smartphone.“ An Habecks digitaler Performance werde in Zukunft jeder Kanzler gemessen. Vermutlich hatte der Spezialist für PR und Bewegtbilder-Kommunikation diese Zeilen verfasst, bevor er die weiteren Bilder aus Katar kannte. Anders als der in Medienangelegenheiten eher zurückhaltende, mitunter listig agierende Kanzler bekam der auf Dauersendung befindliche Habeck die Risiken der medialen Performance schnell zu spüren. Insbesondere sein Auftritt in Katar war ein kommunikatives Desaster, ein GAU in Sachen Performance, der kurzfristig Habecks Image als beliebtester deutscher Politiker schädigte.

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Agenturfoto: „Der Bückling von Katar“ [III/8]

[III/8] Habeck wird am 20.3.2022 von Emir Sheikh Tamim bin Hamad al-Thani in Doha empfangen, Agenturfoto von Bernd von Jutrczenka für dpa

In Begleitung von zahlreichen Journalisten und Bildreportern – unter ihnen (   II/135) dpa-Chefkorrespondent Bernd von Jutrczenka – reist Robert Habeck im März 2022 als Bittsteller nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate, um dort für zusätzliche Gaslieferungen, vor allem von Flüssiggas, nach Deutschland zu werben. Die Reise ist Teil seiner Bemühungen, angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas zu verringern und zugleich mittelfristig die deutsche Energieversorgung zu sichern.

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„Habeck auf Energie-Shopping-Tour“ titelt die Tagesschau an diesem Tag. Der Minister hat seine Reise mit einigen Instagram-Videos ( III/7) kommunikativ gut bereitet. Diese sollen erklären, warum die Bundesregierung und Habeck mit Staaten verhandeln, deren Behandlung der Menschenrechte noch vor Kurzem als problematisch eingeschätzt wurde, und warum nun auch das vor Kurzem noch verpönte LNG-Gas nach Deutschland geliefert werden soll. Habeck erläutert in einem Post seine Zweifel. Noch im Flieger gibt er der Tagesschau ein Interview.

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Am zweiten Tag seines Besuchs, dem 20. März 2022, kommt es zu einem Treffen von Habeck mit dem Emir von Katar in dessen Amtssitz. (III/8) Dabei macht von Jutrczenka mehrere Aufnahmen, eine davon exakt zu dem Augenblick, als Habeck dem Emir die Hand schüttelt. Von der Körpergröße her unterscheiden sich beide Männer, so dass es den Anschein erweckt, als ob der Scheich von oben auf Habeck herunterschaut. Dessen Körperhaltung und Gestus scheinen eine Haltung von Ergebenheit zu zeigen. Dieser Eindruck wird durch ein weiteres Bild verstärkt, das bei einem weiteren Treffen mit dem Minister für Handel und Indus-

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trie von Katar im Sheraton-Hotel von Doha entsteht. Wieder verharrt Habeck in vermeintlicher Demutshaltung, während sein Gegenüber noch oder schon wieder sein Handy am Ohr hält. Beide Fotos sind – so darf man vermuten  – Situationsaufnahmen, also von Habeck nicht geplant. Allerdings verkennen der Minister und sein Kommunikationsteam, dass es für ersteres Bild eine historische Referenz gibt, die Habecks Höflichkeitsgesten in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Historisch Versierte nämlich erinnert die Szene an die Verbeugung Hitlers gegenüber dem greisen Reichspräsidenten Hindenburg vor der Potsdamer Garnisonkir-

[III/9] Tagesschau online vom 22.3.2022 mit einem von dpa vertriebenen, leicht gedrehten Agenturfoto von Bernd von Jutrcenka, zusätzlich beschnitten

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che, dem ‚Tag von Potsdam‘, die ebenso ein reflexartiger Höflichkeitsgestus des ehemaligen Frontsoldaten gegenüber dem ehemaligen Generalfeldmarschall war, aber später oftmals als bewusster Ergebenheitsgestus gedeutet worden ist. Teile der bundesdeutschen Presse lassen sich den Vergleich mit 1933 nicht entgehen. Für sie sind die Fotos aus Katar Symbol­b ilder für das Verhalten von grünen Politikern nach dem Realitätsschock des Ukrainekrieges. Gestartet mit höchsten ­Ansprüchen sei die neue „wertorientierte Außenpolitik“ in den Niederungen der Realität aufgeschlagen. Die BILD-Zeitung spricht vom „Bückling von Katar“, andere vom „grünen Bückling“. Der Journalist Hajo Schumacher erklärt im Deutschlandfunk Kultur: „Vor vier Wochen hätten wir uns noch nicht vorstellen können, dass ein grüner Wirtschaftsminister nach Katar fährt, da den Kratzfuß beim Emir macht, um um Gas zu betteln.“ Dies sei

„ein ganz neuer Abschnitt“. Dieser „Bückling“ sei ein „historisches Bild, aber auch das Ergebnis der letzten 20 Jahre Energiepolitik“.8 Die rechts-konservative Presse wie der Merkur, aber auch Die Welt, vor allem die sozialen Netzwerke überschütten Habeck in der Folge mit Spott und Häme. Das Foto werde Habeck „anhängen wie Putin sein Tisch“, heißt es etwa auf Twitter. Eine ‚Freifrau von F‘ lästert: „Der Grüne Habeck verbeugt sich vor d. Emir - dem Erfinder d. Feminismus, dem Verteidiger der Frauenrechte, dem Autor d. Menschenrechts-Charta, dem Obermufti des Pazifismus und dem Großmeister der Klimaretter. Wie gehts euch damit @GrueneBundestag?“ Ein anderer User schreibt: „Als ich Habecks Bückling das erste mal sah, war mein erster Gedanke, da hat jemand Habecks Reise mit Photoshop treffend zusammen gefasst. Als zweites mußte ich an das bekannte Bild vom Tag von Potsdam denken …“ Ein ‚Manfred‘ notiert: „Der

[III/10] Rosenmontagsumzug Köln 2023

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Bückling von Katar. Ein Bild für die Geschichtsbücher. Eine solche Karikatur eines Bücklings hat man nicht mehr gesehen seit der Verfilmung von Heinrich Manns ‚Der Untertan‘.“ Die Online-Redakteure der Tagesschau und auch die Bildredakteure des Stern scheinen den ‚Braten‘ gerochen zu haben und den Minister vor Häme und Spott bewahren zu wollen. (III/9) Sie entscheiden sich daher für ein etwas abgewandeltes Foto aus Doha, das dpa mit Quellenachweis Bernd von Jutrcenka vertreibt, auf dem Habeck und der Emir gleich groß erscheinen und die Begrüßung keinen Eindruck von Ergebenheit aufkommen lässt, sondern als Begrüßung auf Augenhöhe. Auch die Nazis hatten einst, da ihnen das Bild mit der tiefen Verbeugung Hitlers vor Hindenburg peinlich war, auf späteren Gemälden den Größenunterschied zwischen beiden einfach wegretuschiert. Gegen-

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über dem Ursprungsbild hat dpa, vermutlich die Brisanz der Szene ahnend, das Bild um einige Grad nach rechts gedreht und leicht beschnitten, was unschwer an der Wanddekoration im Hintergrund erkennbar ist. Auch etliche Netz-Beobachter registrieren dies, die dies allerdings als Bildmanipulation der Tagesschau kritisieren, was sie nicht ist. Den Redakteuren der Tagesschau indes ist durchaus vorzuwerfen, dass sie das Foto verwendet haben, ohne auf die Änderung der Perspektive hinzuweisen, die Habeck in einem ‚besseren Licht‘ erscheinen lässt. Möglicherweise ist ihnen die Änderung aber auch gar nicht aufgefallen. (III/10) Der ‚Bückling von Katar‘ ist schließlich auch beliebtes Thema bei den Rosenmontagsumzügen 2023, so etwa in Köln, wo ein Motivwagen einer Karnevalsgesellschaft die Verbeugung Habecks reinszenierte.

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Was in Katar geschehen war, war nicht der erste Lapsus in Sachen Selbstdarstellung und Bildkontrolle, der Habeck widerfuhr. Und es sollte nicht der letzte sein. Auf Twitter hatte Habeck 2019, damals noch Grünen-Vorsitzender, dazu aufgerufen, Thüringen zu einem „freien, demokratischen Land“ zu machen. Die Reaktionen auf das Online-Video waren verheerend, so dass sich Habeck vorübergehend aus den sozialen Netzwerken zurückzog. Im Juli 2022 machte der Wirtschaftsminister Sparvorschläge, wie man einigermaßen durch den Winter komme. Das Video ging als „Kaltmacher-Video“ in die Annalen der medialen Missgeschicke ein. Im September 2022 profilierte sich Habeck erneut durch Inkompetenz, als er in einem Talk mit Sandra Maischberger das Wort Insolvenz uminterpretierte und damit zahlreiche Mittelständler brüskierte. In der Summe wirkten die Medienauftritte des grünen Ministers wenig professionell. Daher überraschte es nicht, dass der einstige grüne Publikumsliebling in der Gunst der Deutschen stetig abstieg. War er vor dem „Bückling“-Foto Deutschlands populärster Politiker gewesen, rutschte er in den folgen Monaten auf Platz sechs ab. Fast die Hälfte der Deutschen bescheinigten ihm nun schlechte Arbeit. Von Habecks Schnitzern in der Energiekrise und seinem Absturz in der Gunst des Publikums profitierte vor allem seine zunächst eher glücklose Kabinettskollegin Annalena Baerbock. Habecks Kommunikationsteam entschied daher, die öffentlichen Auftritte ihres Chefs besser vorzubereiten. Per Anzeige wurde ein Fotograf gesucht. Seine Aufgabe in den nächsten vier Jahren: „fotografische Begleitung des Ministers/der Ministerin und Auftragsfotografie für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz“. Für dessen Honorierung plante das Ministerium Gesamtkosten in Höhe von etwa 400.000 Euro ein, was wiederum Medien auf den Plan rief, die den Fall bewusst skandalisierten. Den Sänger und Comedian Mike Krüger veranlasste die Meldung über die beabsichtigte Einstellung eines Fotografen im Habeck-Ministerium zu einem satirischen Musikvideo mit der Textzeile: „Ich heiß’ Michelle. Ich bin ein Promi-Fotograf. Ich bin der neue Fotograf von Robert Habeck. Auf meinen Fotos ist der Robert immer scharf.“ Habeck befand sich in bester Gesellschaft. Wie wichtig auch seinen Kabinettskollegen  – trotz ständiger Sparappelle  – ein perfektes optisches Erscheinungsbild bzw. professionelle Bilder waren, zeigte sich darin, dass Annalena Baerbock nach Medienberichten im Jahr 2022 stolze 136.000 Euro für eine Maskenbildnerin auf Staatskosten ausgab und Kanzler Scholz sich immerhin noch für 39.000 Euro von Visagisten zurechtmachen ließ, dafür aber mehr als eine halbe Million für Fotografen beim Bundespresseamt verausgabte. Ralf Schuler schrieb unter der Überschrift „Bilder machen Leute“ in der Züricher Weltwoche: „Die Mythen-Macher, Kulissenschieber und Fassadenmaler sind im Politikbetrieb längst wichtiger geworden als Ahnung, Substanz und Aktenfresserei. Wo der Schein stimmt, kann man das Sein sein lassen.“9 Ähnlich wie einst ihr Parteigenosse Scharping stolperte auch SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht über von ihr zu verantwortende Bilder. Mit wenig Gespür für die Wirkung ihrer Bilder in der Öffentlichkeit fotografierte die Ministe-

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rin ihren Sohn im Regierungs-Hubschrauber auf dem Weg in einen privaten Urlaub, der selbst nichts Besseres zu tun hatte, als das Foto in die Welt zu posten. BILD-TV titelte genüsslich: „Lambrecht nahm Sohn in Regierungs-Heli mit“. Hatte die Öffentlichkeit die Fotos vom Flug mit ihrem Sohn Richtung Sylt noch ertragen, so setzte ein Selfie von Lambrecht in der Silvesternacht 2022 ihrem Verhalten die Krone auf. Während im Bildhintergrund das Feuerwerk über der Hauptstadt begann, spekulierte Lambrecht auf Instagram darüber, was ihr der Krieg in der Ukraine im vergangenen Jahr gebracht habe. „Der peinliche Auftritt der Politikerin vor ihren Followern auf Instagram steht für sich“, kommentierte die FAZ am 8. Januar 2023, „aber darüber hinaus für die über alle Ufer tretende Begeisterung am Ich. Dies ist in der Politik ebenso zu beobachten wie in der Gesellschaft, fällt aber dort stärker ins Gewicht, wo es ums große Ganze geht. Wenn Lambrecht nicht etwa am heimischen Fonduetopf, sondern vor aller Augen davon salbadert, dass der Krieg in der Ukraine ihr viele besondere Eindrücke, Begegnungen mit interessanten und tollen Menschen beschert habe, zeigt das eine Selbstbezogenheit, die Weltgeschehen zu Lambrechtgeschehen eindampft. Das ist zynisch, aber vor allem deshalb erschreckend, weil die Methode System hat. Die Aufmerksamkeit, die dem Amt zu verdanken ist, soll dem Amtsinhaber nützen.“10 Vor allem in den sozialen Netzwerken wurde Lambrecht mit Spott und Häme überzogen. Drei Wochen später reichte die auch von ihrem Amt überforderte Ministerin ihr Rücktrittsgesuch ein.

Ampelkoalitionäre in Collage und Karikatur

Als humoristische Form der Gesellschaftskritik haben Karikaturen eine lange Tradition. So wie die Vorgängerregierungen wurde auch die Ampelregierung seit ihrem Amtsantritt mit Karikaturen regelrecht bombardiert. Vor allem der Stil des neuen Kanzlers, die Haltung der neuen Regierung zum Ukraine-Krieg und hier speziell zur Frage der Lieferung schwerer Waffen an das überfallene Land sowie die 180-GradKehrtwendung des ursprünglich pazifistischen und atomkritischen grünen Koalitionspartners forderten Karikaturisten und die Gestalter von Titelseiten von Zeitungen und Magazinen geradezu heraus. (III/11) Die Sieger-Karikatur des deutschen Preises für politische Fotografie und Karikatur des Jahres 2021 ging an den Recklinghausener Cartoonisten Heiko Sakurai für seine u. a. in der Westdeutschen Allgenmeinen Zeitung (WAZ) veröffentlichte Karikatur „Muttis Rückkehr“. Sie zeigt den neuen Bundeskanzler mit der Physiognomie und der ‚Raute‘ von Angela Merkel. Die ehemalige Kanzlerin ist im Hintergrund als Schatten vor einem Fenster zu sehen. Mit seiner Karikatur und der zeichnerischen Verschmelzung von Scholz und Merkel formuliert Sakurai die Erwartung, dass sich die von Scholz zu verantwortende Politik nicht grundsätzlich von der seiner Vorgängerin unterscheiden werde. Die Szene weckt zugleich Assoziationen an Alfred Hitchcocks Film Psycho von 1960 und das ‚Bates Hotel‘ und lässt – gleichsam prophetisch – die Arbeit der neuen Regierung als Horror-Thriller erscheinen. Zahlreiche Karikaturen des Jahres 2022 widmeten sich der Haltung des einstigen Kriegsdienstverweigerers Scholz zur Panzerfrage sowie insgesamt zur Frage des Krieges. „Kann Scholz Weltkrieg?“, fragte das Satiremagazin EULENSPIEGEL

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Mao ze Scholz – Kanzler Scholz in Karikatur, Memes und Fotomontage [III/11] Karikatur von Heiko Sakurai in der WAZ, 25.11.2021; [III/12] N. N., Mao ze Scholz auf Twitter; [III/13] NDR.extra3 vom 4.9.2023; [III/14] Karikatur von Rolf Henn alias ‚Luff‘ in der Stuttgarter Zeitung, 12.9.2022; [III/15] NDR.extra3 vom 10.8.2023

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so etwa im März 2022 auf seinem Cover zu einer Fotomontage des Kampfanzug, Knobelbecher und eine Maschinenpistole tragenden Kanzlers. Die Hamburger ZEIT ließ auf ihrer Titelseite vom 21. April 2022 Scholz auf dem Geschützrohr eines Panzers balancieren und stellte dazu die rhetorisch gemeinte „deutsche Gewissensfrage“: „Ist Wohlstand wichtiger als Frieden?“ (III/14) Andere Karikaturen nahmen Scholz’ Zögern in der Panzerfrage aufs Korn und suggerierten, der Kanzler sei unfähig, über seinen eigenen Schatten zu springen. Zu den traditionellen Karikaturen gesellten sich im Internetzeitalter sogenannte Memes als neue Form der Satire. (III/12) Darunter werden am PC überarbeitete Bilder verstanden, die wie ursprüngliche Cartoons den abgebildeten Inhalt überspitzen oder lächerlich machen, aber über die sozialen Netzwerke schnell und einfach und häufig unter Umgehung der Urheberrechte kommuniziert werden. Jeder kann diese neue Form der Kritik aus Fotomaterial mit einem einfachen Bildbearbeitungsprogramm erstellen. Unmittelbar vor Russlands Überfall auf die Ukraine war es vor allem Putins übermäßig langer Konferenztisch im Kreml, dessen Fotografie für sich schon eine Realsatire abbildete, der die Produktion von Memes befeuerte. Manche Karikaturisten deuteten seine glatte weiße Oberfläche als Eiskunstlaufbahn, auf der Eislaufpaare ihre Runden ziehen, andere stellten ihn als Wippe dar, auf der das eine Mal Putin nach oben federt, das andere Mal Macron. Der Süddeutschen Zeitung war der etwa sechs Meter lange Tisch einen ganzen Artikel im Feuilleton wert. Den Autor erinnerte die Tischszene an Chaplins Klassiker Der große Diktator. Auch Scholz’ grüne Mitstreiter mussten sich Spott und Häme gefallen lassen. (III/16) Der SPIEGEL betitelte am 30. April 2022 spöttisch eine Collage, die die grü-

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[III/16] DER SPIEGEL, 20.4.2022; [III/17] „war toni“, Karikatur von Bernd Struckmeyer, angeboten u. a. von dpa/picture alliance (2022)

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[III/18] Karikatur ‚Grundmauern gefährdet‘ von Rolf Henn alias ‚Luff‘ in der Stuttgarter Zeitung, 1.8.2022

nen Spitzenpolitiker Hofreiter, Baerbock und Habeck in khakifarbenen Uniformen zeigte, mit den Worten „Die Olivgrünen. Frieden schaffen mit mehr Waffen. Die Mobilmachung der Ökopartei“. Er griff damit ein Verhaltensmuster von grünen Spitzenpolitikern auf, die glaubten, ihren neuen Kurs mit Fahrradhelm, Schutzweste und olivgrünem Camouflage-Anzug zu untermauern. Den ersten ‚Sündenfall‘ in Sachen Krieg hatte Joschka Fischer 1998 begangen, als er  – damals gerade neuer Außenminister – im NATO-Hauptquartier in Brüssel vor dem Emblem des Verteidigungsbündnisses das militärische Engagement Deutschlands in der Kosovofrage begründete. Insbesondere die ‚robuste‘ Haltung von Politikern wie (III/17) Anton Hofreiter und Politikerinnen wie Annalena Baerbock und FDP-Frontfrau StrackZimmermann gerieten immer wieder zum Gegenstand von Cartoons. Etliche Karikaturisten wie Rolf Henn alias ‚Luff ‘ widmeten sich der Kehrtwende der GRÜNEN in der Atom- und Kohlepolitik. Wie keine andere Partei hatten diese den Ausstieg aus der Kernenergie gefordert, den dann allerdings die Merkel-Regierung beschlossen hatte. (III/18) Unter dem Eindruck der von Putins Überfall auf die Ukraine verursachten Energiekrise knickte die von Ricarda Lang und Omid Nouripour geführte Partei schließlich auch in der Atomfrage und beim Ausstieg aus der Kohle ein und stimmte notgedrungen Laufzeitverlängerungen von Atom- und Kohlekraftwerken zu.

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Die Regenbogen-Republik Regenbogen und Diversity Das Jahr 2022 war der vorläufige Höhepunkt des Diversity-Diskurses in Gesellschaft, Politik und Medien. Die Ampel-Koalition verstand sich ausdrücklich als ‚Regenbogen‘-Regierung, die sich in ihrer Innen- wie Außenpolitik die Förderung von Vielfalt auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Bilder und Ausstellungen, Symbole und Fahnen fungierten einmal mehr als Mittel, der Öffentlichkeit Lebensmodelle jenseits der binären Geschlechterordnung schmackhaft zu machen. Im September 2022 eröffnete so beispielsweise bei C/O Berlin im ehemaligen Amerikahaus am Bahnhof Zoo in Berlin die Ausstellung Queerness in Photography, die die fotografische Darstellung von Identität, Geschlecht und Sexualität anhand von historischem Bildmaterial seit den Anfängen der Fotografie untersuchte und dabei den Akt des Fotografierens als Akt der Identitätsfindung interpretierte. Im Oktober 2022 folgte auf dem Wittelsbacherplatz in München und später am Potsdamer Platz in Berlin die Open-Air Ausstellung Die Deutschen des 21. Jahrhunderts des italienischen Fotografen Oliviero Toscani, der bereits in den 1980er und 1990er Jahren als Kreativdirektor des Modeunternehmens Benetton ( II/129) mit ausgefallenen Bildideen von sich Reden gemacht hatte. Nicht zufällig erinnerte der Titel an eine Fotoserie, die vor fast genau 100 Jahren entstand und bis heute als Meilenstein der Porträtfotografie gilt: August Sanders Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts. Inmitten der Debatte um gesellschaftliche Diversität fertigte Toscani für eine Münchner Versicherungsgruppe Brustporträts von 800 Menschen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener Hautfarbe an, die die Betrachter direkt anblickten. (III/19) Aus ihnen wählte er 100 Porträts aus, die er auf drei Meter hohe Betonstelen drucken ließ und auf dem Wittelsbacherplatz verteilte. Zu sehen waren Gesichter sympathischer Menschen, die für Verständnis, Vielfalt, Multikulturalität und Inklusion stehen sollten. Ein Höhepunkt des gesellschaftlichen Diskurses um Geschlechteridentitäten und ein gesellschaftspolitisches Zeichen erster Güte war die Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 an (III/20) Kim de l’Horizon – eine genderfluide nonbinäre Persönlichkeit – für seinen Debütroman, in dem eine nonbinäre Erzählfigur im Mittelpunkt steht. Christoph Schröder – 2016 selbst Mitglied der Jury des Buchpreises – befand auf ZEIT ONLINE, dass in der Literaturkritik ein Paradigmenwechsel stattfinde, „in dessen Zug die bloße Repräsentanz marginalisierter Gruppen bereits als Qualitätsmerkmal ausgelegt wird“. Der Roman habe neben großen Stärken „unübersehbare Schwächen“: „pathetische Metaphern, schiefe Bilder und offenbar kalkuliert drastische, dadurch aber nicht minder schlecht geschriebene Sexszenen“.11 Bei der PreisDiversity-Aktionen [III/19] Toscani-Fotoprojekt Die Deutschen des 21. Jahrhunderts auf dem Wittelbacherplatz in München, Oktober 2022; [III/20] Kim de l’Horizon anlässlich der Verleihung des deutschen Buchpreises 2022 am 17.10.2022 in Frankfurt am Main; [III/21] die deutsche Nationalmannschaft vor dem Anpfiff des Spiels gegen Japan am 23.11.2023 in Doha

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verleihung rasierte sich Kim de l’Horizon als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran das Haupthaar ab, was die Sache doppelt spektakulär machte. Zu einem offenen Konflikt um die Kapitänsbinde von Manuel Neuer in Form eines Herzes und der Aufschrift ‚One Love‘ kam es während der Fußballweltmeisterschaft 2022 im Vorfeld des Spiels gegen Japan. Aufgrund von Drohungen und der Forderung des Weltfußballverbandes FIFA, auf regenbogenfarbene Armbinden zu verzichten, sagte der DFB die Aktion kleinlaut ab. (III/21) In einem symbolischen Akt hielten sich die Spieler beim Mannschaftsporträt vor dem Anpfiff stattdessen den Mund zu, um gegen die Drohungen zu protestieren. Die Aktion des DFB sei ein hohler symbolischer Akt gewesen, kritisierte Thea Dorn in der ZEIT. „Würde sich etwa der Deutsche Fußball-Bund ernsthaft gegen Homophobie engagieren wollen, müsste er nicht bis nach Katar reisen, um dieses Thema für sich zu entdecken. Er könnte etwa der Frage nachgehen, warum es für schwule Fußballer auch hierzulande immer noch tabu ist, sich zu outen.“ 12 Auf Regierungsebene war es vor allem das Innenministerium unter der Sozialdemokratin Nancy Faeser, das den Gender- und Diversity-Diskurs mit Symbolen und symbolischen Aktionen beförderte. Während der Fußballweltmeisterschaft suchte Innenministerin Faeser offen den Konflikt mit der FIFA und dem Regime von Katar. Beim Spiel der deutschen Nationalelf gegen Japan, dem sie auf der Ehrenbühne beiwohnte, trug sie demonstrativ die ‚One Love‘-Binde an ihrem linken Arm, die sie beim Eintritt in das Stadion unter ihrer Jacke verborgen hatte. Nachdem sie zuvor Pressefotografen informiert hatte, ließ sie sich mit der Binde u. a. mit Vertretern arabischer Staaten sowie mit dem FIFA-Chef fotografieren. Enttäuscht zeigte sie sich vom Gastgeber Katar, denn es zeige sich, dass die vor dem Turnier gemachten Zusagen nicht eingehalten würden. So hätten ihr Fans berichtet, dass ihnen vor dem Betreten des Stadions die Regenbogenflagge von der Polizei abgenommen worden sei. Gesten wie die der Innenministerin waren symbolische Akte, die nichts kosteten, mit dem aber auch die Innenministerin den neuen Stil einer werteorientierten Politik der Bundesregierung am eigenen Körper demonstrierte. Daher überraschte es nicht, dass sich das Bonner Haus der Geschichte die ‚One Love‘-Binde der Innenministerin für ihr Depot sicherte. Die Binde war zum Politikum geworden. Der vorwiegend muslimische Staat Katar hatte sich bereits im Vorfeld der Weltmeisterschaft ‚Belehrungen des Westens‘ verbeten und mit Blick auf Vorhaltungen von LGBTQ+-Gruppen darum gebeten, die Kultur des Landes zu akzeptieren. Das traf in Deutschland auf wenig Verständnis, zumal auch Mitglieder der Bundesregierung wie Robert Habeck explizit eine Geste des Protests begrüßt hatten. Bereits vor den Spielen hatten Städte wie Dortmund, Duisburg und Iserlohn angekündigt, als Reaktion auf das ‚One Love‘-Verbot zu den Deutschland-Spielen bei der Weltmeisterschaft in Katar Regenbogenfahnen zu hissen. Überall im Online-Handel waren bereits vor Beginn der Spiele Diversity-Kapitänsbinden in den Regenbogenfarben für 2,95 Euro erhältlich. Mit dem Amtsantritt der Ampelkoalition wurde die Regenbogenfahne erstmals neben der Nationalflagge auf den Bundesministerien in Berlin gehisst. Nach jahrelangen Diskussionen hatte die zuständige Innenministerin das Hissen der Regen-

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bogenflagge zu bestimmten Anlässen an Gebäuden von Ministerien und anderen Häusern von Bundesbehörden erlaubt. „Wir sind ein modernes und vielfältiges Land. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir das auch als staatliche Institutionen deutlicher zeigen“, erklärte Faeser. Die Regenbogenfahne stehe für Toleranz gegenüber queeren Menschen. Das Verbot, diese Flagge an Bundesgebäuden zu hissen, nannte die Ministerin eine „völlig überkommene bisherige Praxis“. (III/22) Zum CSD 2022 war die Fahne erstmals auch auf dem Reichstag zu sehen. Dies sei „ein Lehrstück für falsch verstandene Toleranz“, befand der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Der Regenbogen passe nicht zum Bundestag. Die offiziellen Farben der Bundesrepublik seien nach wie vor Schwarz-Rot-Gold, belehrte selbst die eher linksliberale ZEIT ihre Leserschaft.13 Der Gebrauch der Regenbogenfahnen im offiziellen Berlin war sichtbarster Ausdruck eines sich wandelnden Verfassungsverständnisses, in dem die Rechte von Minderheiten bzw. von Gruppen am Rande der Gesellschaft verfassungspolitisch oberste Priorität beanspruchen bzw. bereits besitzen. Die symbolische Protestgeste der Innenministerin und das Hissen der Regenbogenfarben auf Regierungsgebäuden und dem Bundestag waren keineswegs unumstritten und Ausdruck des Bekenntnisses einer breiten Bevölkerungsmehrheit,

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[III/22] Die Regenbogenfahne 2022 auf und vor dem Reichstag, gepostet von Katrin Göring-Eckhardt, der Vizepräsidentin des Bundestages am 23.7.2022 auf Twitter

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wie man hätte meinen können. Die Deutschen waren in ‚Regenbogen-Fragen‘ eher gespalten. Etwas mehr als die Hälfte fand solche Aktionen gut, die andere Hälfte lehnte sie ab. Wie umstritten besonders Regenbogenfahnen waren, zeigten verschiedene Vorfälle quer durch die Republik, die sich in der Regel aber nicht in Pressefotografien abbildeten. Während einige katholische Kirchen wie in Köln, Münster und Nürnberg die Regenbogenflagge als Zeichen der Vielfalt hissten und damit zugleich auf das Nein des Vatikans zu Segnungen von homosexuellen Paaren reagierten, wurden andernorts, wie im Juli 2021 in Regensburg, im Oktober 2021 in Erfurt, im Juni 2022 in Karlsruhe am Schlosspark, aber auch in Münster und in Witten in Westfalen, Regenbogenfahnen von Gebäuden heruntergerissen und in aller Öffentlichkeit verbrannt, wobei sich die Akteure von Zuschauern bereitwillig fotografieren und filmen ließen. Schlagzeilen machte ein Vorfall an einer Schule in Freudenberg im Juni 2021. Wie die Schulleitung berichtete, hatte dort eine johlende Menge das Verbrennen einer Regenbogenfahne gefilmt, die zuvor einer Schülerin entrissen worden war, die mit der Fahne ihre Solidarität mit Schwulen, Lesben und queeren Menschen zum Ausdruck bringen wollte. Sichtbaren personalisierten Ausdruck fand der neue Diversity-Diskurs der Politik in der Bestellung der GRÜNEN-Politikerin Aminata Touré zur ersten farbigen Ministerin in einem deutschen Landeskabinett. Nicht die Qualifikation für das Amt zählte in erster Linie, sondern vor allem die Hautfarbe der Politikerin. (III/23) Die deutsche Ausgabe der Modezeitschrift Vogue würdigte die Ernennung von Touré mit einem Coverfoto. Die Berliner Quadriga-Hochschule und das Magazin Politik und Kommunikation kürten die Politikerin zur „Aufsteigerin des Jahres“. Meinungsführer im Gender- und Diversity-Diskurs blieb das Fernsehen. Auch 2022 zelebrierte die ARD wie in den Jahren zuvor einen Diversity-Tag. Quer durch die Programme vom Kinderfernsehen bis zum Sonntagsabend-Krimi präsentierte man dem Publikum Transpersonen und Menschen mit non-binärer Identität. Der identitätspolitische Genderdiskurs machte auch vor Kindersendungen wie der Sendung mit der Maus und dem Märchenfilm nicht halt. Am 27. März 2022 berichtete die Maus unter dem Titel „Erik ist jetzt Katja“ über das Leben einer Transfrau. Das lag ganz auf der Linie des sogenannten ‚Regenbogenportals‘ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter der damaligen Ministerin Giffey, das bereits im Mai 2019 online gegangen war und mit farbigen Comics offensiv für neue Lebensformen und Geschlechteridentitäten warb. Zum Thema „Jung und trans*“ hieß es dort: „Manche Kinder und Jugendliche spüren: Ich bin gar kein Mädchen (oder kein Junge). Oder sie sagen: ‚Ich stecke im falschen Körper‘.“ Um dies herauszufinden, empfahl das Portal, die Pubertät durch die Einnahme von ‚Pubertätsblockern‘ hinauszuzögern, um erst später eine Entscheidung über das künftige Geschlecht zu treffen. Mit dem Anspruch, Rollenklischees zu brechen, drehte der Bayerische Rundfunk im Sommer 2022 in Südtirol für die ARD einen „Diversity-Märchenfilm“. Zur Handlung sagte die zuständige Redakteurin: „Ein Mädchen muss sich als Junge verkleiden, weil er/sie meint, nur so sein Schicksal in die Hand nehmen zu können. Verwandelt sich zurück und stellt fest, dass die Kraft doch im Mädchen sein liegt.“

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[III/23] Cover der deutschen Vogue vom Dezember 2022

Erstmals wird in dem Film eine Prinzessin von einer farbigen, aus Marokko stammenden Schauspielerin verkörpert. Diese erklärte nach Abschluss der Dreharbeiten, sie sei froh, „eine Prinzessin für alle Kinder in Deutschland spielen zu dürfen, die nicht deutsch aussehen, um denen auch mal zu zeigen: Hey, da ist eine Prinzessin, die sieht so aus wie ihr. Das sind Vorbilder, Träume, die wahr werden. Eine Prinzessin, die eine andere Hautfarbe hat, gab’s noch nicht.“14 Exerzierfeld für den neuen Diversity-Diskurs waren u. a. die beliebten Sonntagsabend-Krimis Tatort und Polizeiruf 110. Stolz meldete der NDR im Juni 2022, dass bei seiner neuen Tatort-Folge Schattenleben knapp ein Fünftel der Beteiligten vor und hinter der Kamera BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) seien. Erstmals habe der Sender bei der Produktion einen sogenannten ‚Inclusion Rider‘ eingesetzt, mit dem sich die Produktionsfirma verpflichtet hatte, Stab und Cast divers zu besetzen und auch im Film selbst Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen sichtbar zu machen. Der Polizeiruf 110 aus Frankfurt an der Oder wollte dem nicht nachstehen und präsentierte den überraschten Zuschauern einen neuen genderfluiden und nicht-binären Kriminalpolizeianwärter als Ermittler. Im Namen von Diversity wurden literarische Vorlagen für Fernsehproduktionen umgeschrieben, nicht zuletzt, um diese international besser vermarkten zu können.

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So hatte sich der Autor des Erfolgsromans Der Schwarm, Frank Schätzing, vom ZDF überreden lassen, für das Drehbuch seiner im Frühjahr 2023 ausgestrahlten Romanverfilmung dem Zeitgeist anzupassen. In einem Interview erklärte Schätzing: „Im Buch gibt es den alten Professor Bauer. Ich liebe ihn, habe ihn trotzdem durch junge Wissenschaftler ersetzt. Wir brauchen mehr junge Gesichter. Mehr weibliche Präsenz! Bohrmann und Roche, im Roman Männer, sind jetzt Frauen. Das Buch ist ja schon ziemlich divers, aber es fehlten schwarze Protagonisten, also habe ich angeregt, die Rolle der Samantha Crowe mit einer schwarzen Schauspielerin zu besetzen.“15  Prominente Kritiker der neuen identitätspolitischen (Bild-)Diskurse um Gender und Diversity waren namhafte Frauenrechtlerinnen wie Alice Schwarzer und deren Zeitschrift EMMA, die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht sowie der für seinen Eigensinn bekannte grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Alice Schwarzer zog gegen das Kopftuch islamischer Frauen als „weltweit(es) Symbol für die Geschlechterapartheid“ ins Feld und attackierte heftig die neue „Transmode“. Vehement kritisierte sie einen Gesetzesentwurf, wonach ein sogenannter Geschlechtswechsel schon ab 14 Jahren möglich sein solle. Die Änderung des Geschlechtseintrags sei oft nur der erste Schritt, dem als Zweites häufig die Behandlung mit Pubertätsblockern, Hormonen und Operationen folgen würde. EMMA biss sich an der unverhohlenen Trans-Werbung in der Sendung mit der Maus fest: „Die Kindersendung macht nicht nur offensiv Werbung für das Selbstbestimmungsgesetz, sondern auch für Geschlechterklischees aus der Mottenkiste.“ Völlig kritiklos habe sie „für das sogenannte ‚Selbstbestimmungsgesetz‘ der Regierung“ geworben und sämtliche Gefahren des Gesetzentwurfs, der schon 14-Jährige zum „Geschlechtswechsel“ einlade, ignoriert.16 Sahra Wagenknecht forderte, auf dem Boden der Realität zu bleiben. „Die übergroße Mehrheit der Menschen sieht sich als Mann oder Frau und möchte sich dafür auch nicht entschuldigen und hat auch andere Probleme als solche Diskussionen.“ Die Debatte um die Identitätspolitik werde wie eine Diskussion unter Privilegierten geführt. „Da diskutieren nicht Menschen, die im Niedriglohnsektor schuften, sondern das sind überwiegend Menschen, die relativ gut abgesichert sind.“ Wer Identitätspolitik betreibe, kämpfe nicht für Minderheitenrechte im Sinne von Gleichberechtigung. „Natürlich darf niemand aufgrund seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt werden, das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber die Identitätspolitik will nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit, sie bläst die Unterschiede zwischen Ethnien oder sexuellen Orientierungen zu bombastischen Gegensätzen auf. Der Bürgerrechtsbewegung in den USA etwa ging es darum, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielen sollte. In den identitätspolitischen Debatten ist sie dagegen das Unterscheidungsmerkmal, von dem abhängt, wer was sagen oder tun darf.“ 17 Boris Palmer nahm sich die Anzeigenkampagne der Deutschen Bahn vor, auf der neben dem dunkelhäutigen Sterne-Koch Nelson Müller und der türkisch-stämmigen Moderatorin Nazan Eckes auch ( II/195) die oben abgebildete dunkelhäutige Mutter mit ihrem Kind zu sehen war. Auf Facebook fragte er nach, welche Gesell-

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Zwischen Aktentasche und Regenbogen

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schaft das abbilden solle. Er finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Deutsche Bahn die Personen ihrer Kampagne ausgewählt hat. „Was wir hier diskutieren, ist Identitätspolitik. Und zwar von rechts wie links. Die einen sagen, man wisse nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen bekämpfen alte weiße Männer. Und gemeinsam haben die Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht, uns zu spalten.“ 18 Auf Nachfrage erläuterte Palmer seinen Standpunkt. „Menschen, die so aussehen, als hätten sie keinen Migrationshintergrund, sind bei den Bildern in der Minderheit“, sagte er. „Ich würde eine Auswahl an Bildern, die unsere Gesellschaft abbildet, für logischer halten.“ Wer eine andere Auswahl treffe, könne dafür gute Gründe haben. „Aber die erkenne ich bisher nicht.“ 19 In den sozialen Netzwerken löste Palmer mit seinen Anmerkungen einen Shitstorm aus. GRÜNEN-Politiker forderten einmal mehr seinen Rücktritt als Oberbürgermeister sowie seinen Parteiausschluss. Die medial geführten Debatten um Geschlecht und Identität und das Auftreten von non-binären Menschen in der Öffentlichkeit überforderten und verunsicherten viele Bundesbürger. ‚Anti-Genderismus‘ und anti-queere Einstellungen breiteten sich aus. Vor allem Transpersonen gerieten dabei zu einem neuen Feindbild sowie zu einem neu-rechten Mobilisierungsthema. Zum Teil verdrängten sie, wie eine neuere Autoritarismus-Studie aus Leipzig ermittelte, den traditionellen Antisemitismus.

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Die „Ampelkalypse“ Bilder und Bildpraxen in Krieg, Krise und Kultur

Mit Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 befand sich Europa nach den Jugoslawien-Kriegen zu Ende des 20. Jahrhunderts erneut im Kriegszustand. Anders als damals standen sich nun erstmals die beiden militärischen Supergewichte, die NATO, die der Ukraine zur Seite sprang und sich an ihren östlichen Grenzen selbst bedroht fühlte, und die Atommacht Russland, unmittelbar gegenüber. Unter dem Eindruck des Überfalls sprach Kanzler Scholz von einer „Zeitenwende“ und beschloss mit seinem Kabinett, das sich gerade einmal 12 Wochen im Amt befand, eine Aufrüstung der nur bedingt einsatzfähigen Bundeswehr für die nächsten Jahre in einem Umfang von 100 Milliarden Euro.

Blau-gelb Die neue Allgegenwart der Kriegsbilder Medial war der Überfall und der ihm folgende Krieg ein Superereignis. In einem zuvor nie gekannten Ausmaß wurden Menschen auch in Deutschland von Bildern des Krieges überrollt. Zumindest in den ersten Wochen war der Krieg überall. Es gab kein Entrinnen vor ihm. Es begann morgens im Frühstücksfernsehen und in der Tageszeitung. Es setzte sich auf dem Weg zur Arbeit fort, wo Großbildschirme in Bahnhöfen oder Monitore des Fahrgastfernsehens in U- und S-Bahnen Kriegsbilder in Dauerschleifen zeigten. Während der Arbeit ließ man sich über via Smartphone empfangene Live-Blogs, wie sie etwa die BILD-Zeitung und n.tv betrieben, oder die Live-Ticker der Öffentlich-Rechtlichen über den Fortgang der Dinge informieren. Am Abend folgten die Sondersendungen des Fernsehens mit immer neuen Bildern, die sich alle irgendwie ähnelten. Das Geschwafel der Talkshows hallte oftmals noch nach, als man zu Bett ging. In vielem erinnerte die Situation zu Beginn des Ukrainekrieges an die Dauerbefeuerung durch Bilder in den ersten Tagen nach 9/11. Bilder von Frauen, Kindern und Alten auf der Flucht, von brennenden und zerstörten Gebäuden, von Militärmüll und Leichen auf den Straßen überschwemmten die Zeitungen, Fernsehkanäle und sozialen Netzwerke, ohne dass immer klar war, wer die Bilder wo gemacht hatte. Ein Propagandakrieg um die Hoheit im Bilderkrieg entbrannte, wie sie die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hatten. Bilder aus der vermeintlichen Kampfzone ließen die Menschen wie nie

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zuvor am Geschehen teilhaben. Die Auswirkungen auf Wirtschaft und Handel, auf die Energieversorgung und den Alltag der Deutschen waren gewaltig. Zu den Bilddiskursen in den klassischen Medien der Printpresse und des Fernsehens gesellten sich neue Diskurse in den sozialen Medien, und hier speziell auf TikTok, die dem Ukrainekrieg eine besondere ästhetische Kennung gaben. In der Art eines filmischen Showdowns leiteten Bilder von amerikanischen Aufklärungssatelliten zum Aufmarsch russischer Panzer, Liveschaltungen in das bedrohte Kiew und Interviews mit Militärexperten schon Tage vor dem Überfall die Bildberichterstattung ein. Kommentatoren fieberten dem Krieg regelrecht entgegen. Als der Krieg dann tatsächlich kam, war er über Wochen Schwerpunktthema von Nachrichten- und Sondersendungen des Fernsehens, die zum Teil live und täglich aus der Ukraine berichteten. Die Redaktionen der Zeitungen wurden von einem wahren Bildertsunami überschwemmt. dpa/picture alliance offerierte zu Jahresbeginn 2023 213.000 Bilder zum Ukrainekrieg; bei Getty Images waren es mit 208.000 Aufnahmen nur etwas weniger. Zum Teil sahen sich die Redaktionen der Print-, Online- und TV-Medien gar nicht mehr in der Lage, angesichts der Fülle der Bilder diese auf ihre Echtheit zu überprüfen. Die Bildredakteure von ZEIT ONLINE etwa bekamen von den Nachrichtenagenturen Reuters, Getty Images, AFP sowie von dpa im Durchschnitt täglich etwa 1.400 Fotos zum Thema Ukraine geliefert.20 Fehler und Fakes waren da vorprogrammiert. Das Interesse, sich über die klassischen Bildschirmmedien über den Krieg im Osten Europas zu informieren, war groß, und dies auch bei Jüngeren, die traditionellerweise nicht primär zu den Rezipienten des Fernsehens zählten. Die höchsten Zuschauerzahlen hatten die Brennpunkt-Sendungen der ARD sowie Talkrunden wie Anne Will. Im Vergleich zu den Monaten vor Beginn des Krieges verdoppelten sich die Zugriffe auf den tagesschau24-Live-Stream. Bei tagesschau-App und der ARDMediathek verzehnfachten sich die Zugriffe sogar. Auch beim ZDF wurden die Nachrichtensendungen stärker eingeschaltet als in den Tagen zuvor. Die heute-Ausgabe verzeichnete im Schnitt 18,8 Prozent Marktanteil, d. h. 4,72 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer. Die ZDF spezial-Ausgaben erreichten Marktanteile zwischen 13 und 17 Prozent. Rund um die Uhr informierten die digitalen Angebote von RTL und n-tv in der ersten Woche nach dem Überfall in über 80 Stunden Sondersendungen und zudem rund um die Uhr über die dramatische Lage. Selbst Die Sendung mit der Maus beschäftigte sich mit dem Krieg und sendete fortan ihre ‚Lach- und Sachgeschichten‘ auch auf Ukrainisch. Inhaltlich verfolgten die meisten Medien einen deutlich ukrainefreundlichen Kurs, der die Lieferung schwerer Waffen an das überfallene Land befürwortete, die auch als Angriffswaffen gegen Russland genutzt werden konnten und so auch tatsächlich eingesetzt wurden, und diplomatische Verhandlungen als wenig erfolgversprechend einschätzte. Zu diesem Ergebnis kam eine im Auftrag der Otto Brenner Stiftung durchgeführte Untersuchung der bundesdeutschen Mainstreammedien in den ersten Kriegswochen durch die Universität Mainz. Insgesamt seien die Berichte stark von politischen Akteuren dominiert. Regierungsakteure kämen etwa viermal häufiger zu Wort als Sprecher der Opposition und Kriegsgegner.

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[III/24] Cover zum Kriegsbeginn in der Ukraine: Bild-Zeitung, 25.2.2022; DER SPIEGEL, 26.2.2022; Stern, 3.3.2022; FOCUS, 5.3.2022.

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Das spiegelte auch die Bildberichterstattung wider. Zum Teil wurden Bilder und Filme ukrainischer Stellen ungeprüft übernommen. Die genaue Kontextualisierung der Bilder nach Produzenten, Orten und Zeitpunkten der Aufnahmen blieb die Ausnahme. Viele Nachrichten waren schlecht recherchiert und entsprechend falsch bebildert, wenn etwa der NDR auf einer eingeblendeten Karte im April 2022 die Stadt Odessa in das Landesinnere der Ukraine auf die Höhe der moldawischen Hauptstadt Chișinău verlegte. Beiträge in den Hauptnachrichtensendungen waren mitunter reines Gefühlsfernsehen wie der Bericht eines jungen Reporters in der Tagesschau vom 16. September 2022, der primär über seine eigenen Gefühle beim Betrachten der Bilder vom Kriegsschauplatz berichtete und ansonsten auf seinen Status als Augenzeuge und damit als Garant für Authentizität setzte. Berichte über die ukrainische Kriegsführung – etwa durch das berüchtigte, unter dem Zeichen der Wolfsangel agierende Asow-Regiment und dessen Vorgehen - blieben absolute Ausnahmen, so wie auch die Zuschauer an den Bildschirmen nichts über die Organisation und die Arbeit des ukrainischen Propagandaapparates erfuhren. Dass beide Seiten ihre Zivilbevölkerung durch die Stationierung von Militär in urbanen Gebieten sowie in Krankenhäusern und Kindergärten zum Teil bewusst gefährdeten und Angriffe der jeweiligen Gegenseite auf diese Ziele provozierten, um dann laut- und bildstark die zivilen Opfer zu beklagen, kritisierten Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch. Bemängelt wurde, dass auch das ukrainische Militär gezielt zivile Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser als Militärposten benutzt und dadurch Zivilisten unnötig in Gefahr bringt. Die Reaktionen auf den Bericht ließen nicht lange auf sich warten: Der ukrainische Präsident sprach von einem „manipulativen Bericht“, die Ukraine-Chefin von Amnesty trat aus Protest zurück. Mit Bildern des Schreckens wurde gezielt Politik gemacht. Aufnahmen russischer Kriegsverbrechen erschienen in Zeitungen, Fernsehberichten, und selbst in Talkshows wurden sie ins Bild gehalten. Aus der Flut der publizierten Bilder des Grauens ragten auch in der bundesdeutschen Berichterstattung nur wenige heraus. (III/25) Dazu gehörte das Foto einer im Gesicht blutverschmierten, schwangeren jungen Frau – einer Bloggerin - nach einem russischen Luftangriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol, das ein ukrainischer AP-Reporter gemacht hatte. Alle großen deutschsprachigen Zeitungen und Magazine wie die Welt, die ZEIT, der SPIEGEL, die Neue Zürcher Zeitung, die taz und EMMA druckten das Foto zum Teil großformatig auf ihren Titelseiten ab. Das Agenturbild erhielt seine große Publizität dadurch, dass es offen für unterschiedlichste Deutungen war und weil die Bloggerin den Fotografen und damit die Betrachter direkt fixierte. An der Authentizität des Bildes aus Mariupol tauchten schon bald von prorussischer Seite gestreute Zweifel auf. Es wurde behauptet, das Bild sei zu Propagandazwecken gestellt bzw. ohne Genehmigung der Abgebildeten gemacht worden. Die Entbindungsklinik sei gar nicht mehr in Betrieb gewesen, sondern von rechtsex­ tremen ukrainischen Kräften benutzt worden. Die ukrainische Seite wiederum ließ verlautbaren, die schwangere Frau sei nach ihrer Entbindung von Russen entführt worden und habe unter Druck ein Dementi abgegeben. Die unterschiedlichen Deu-

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[III/25] Bloggerin Marianna Podgurskaya nach dem Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol

tungen des Bildes leiteten in der Öffentlichkeit wie in den Kriegen zuvor eine Diskussion über die Authentizität von Kriegsbildern ein. Keine Zweifel gab es indes bei einem anderen häufig publizierten Bild, das die Fotojournalistin und Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario Anfang März 2022 in Irpin für die New York Times gemacht hatte. Es zeigt drei Zivilisten, die während ihrer Flucht aus der Kampfzone durch Mörserfeuer getötet an einer Straßenkreuzung neben ihren Koffern liegen. Addario machte mehrere Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven und zu verschiedenen Zeitpunkten von den Getöteten. Auf einigen waren ihre Gesichter deutlich zu erkennen, auf anderen waren sie mit Planen abgedeckt. In der ZDF-Nachrichtensendung heute vom 8. März gab die Fotografin Auskunft darüber, wie und warum sie die Bilder gemacht hatte. Es blieb eine Ausnahme. Bilder des Schreckens wie die Aufnahmen aus dem zerstörten Butscha dienten Angehörigen der bundesdeutschen Politprominenz, allen voran Außenministerin Annalena Baerbock, wiederholt als Kulisse, um die russische Seite schwerer Kriegsverbrechen zu bezichtigen und Forderungen nach Unterstützung der Ukraine mit Geld und Waffen Nachdruck zu verleihen. (III/26) Die von ukrainischer Seite behaupteten schweren russischen Menschenrechtsverletzungen bekam Baerbock nur als Fotografien zu sehen. Die ukrainische Seite hatte für den Besuch Baerbocks am 10. Mai 2022 in Butscha die grausamsten Bilder des Massakers großformatig und in Farbe reproduzieren lassen und in einer Kirche auf Staffeleien zu einer Ausstellung des Schreckens arrangiert.

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Die Folgen der Schreckensbilder aus Butscha waren ganz so, wie sie sich Kiew gewünscht hatte. In den Tagen nach dem Besuch Baerbocks und dem Bekanntwerden der ihr gezeigten Horror-Bilder überboten sich die Europäische Union und die Bundesregierung in Forderungen nach Verschärfungen der Sanktionen gegen Russland und der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Ohne die Folgen für die Energieversorgung des eigenen Landes zu bedenken, wurden Forderungen nach einem Öl- und Gasembargo lauter. Bereits eine Woche nach dem Besuch der Kiewer Schreckensausstellung kündigten 20 Staaten – einschließlich der Bundesregierung – weitere Lieferungen schwerer Waffen an Kiew an. Auch in den TV-Talkshows überboten sich ehemalige Kriegsdienst- und NATOGegner bei der Forderung nach immer schwereren Waffen. Im Unterschied zu vergangenen Kriegen befanden sich unter den Befürwortern von Waffenlieferungen und einer ‚robusteren‘ Gangart der NATO auffällig viele Frauen. Einen ersten Höhepunkt des Erregungsdiskurses hatte es bereits am 30. März 2022 im ZDF-Talk Markus Lanz gegeben, der mit Aufnahmen aus dem zerstörten Mariupol und mit Kinderbildern begann. Seit Beginn des Ukrainekrieges habe sich eine „besondere Talkshow-Dramaturgie“ etabliert, die auch Lanz bediene, kommentierte die Berliner Zeitung am folgenden Tag. „Es beginnt mit Bildern, die Entsetzen erzeugen, geht über zu einem politischen Beobachter, der Fassungslosigkeit angesichts der Bilder zum Ausdruck bringt; das Grauen ist unaussprechlich.“ Zum Teil trieben die öffentlich-rechtlichen Sender die Regierung und Kanzler Scholz regelrecht vor sich her, so als sie um die Jahreswende 2022/23 täglich über die Notwendigkeit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine berichteten und dies ein fürs andere Mal mit Bildern deutscher Kampfpanzer ins Bild setzten. (III/27) Zum Teil erschienen die Berichte wie Werbefilme der deutschen Rüstungsindustrie, die die Vorzüge deutscher Leopard-Panzer priesen. Je mehr ARD und ZDF selbst Panzerlieferungen befürworteten, umso mehr änderte sich die Haltung der Bundesdeutschen in der Frage. Aus anfänglicher Ablehnung wurde moderate Zustimmung. Insbesondere in den Brennpunkt-Sendungen der ARD gerieten Panzer zum optischen Dauerbrenner. Der Journalist und Filmemacher Uli Gellermann sprach nicht zu Unrecht vom „ARD-Kriegs-Funk“. Der Krieg in der Ukraine lasse die öffentlichrechtlichen Sender „in den Kriegsmodus schalten“. „Panzer, Panzer, über alles“ klinge es auf allen Kanälen der „gleichgeschalteten Medien“.21 Von Anbeginn des Ukrainekrieges beherrschte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Empörungsdiskurs der Bilder. Der einstige Komiker, Fernsehmoderator und Filmproduzent gilt als Profi im Umgang mit Bildern. Er war auf allen Sendern präsent und gehörte schon nach wenigen Wochen wie selbstverständlich zur bundesdeutschen Fernsehfamilie. (III/28) Er sprach von Großbildschirmen aus zu den Abgeordneten im Deutschen Bundestag sowie zu den Teilnehmern der Münchner Sicherheitskonferenz. Der SPIEGEL widmete Selenskyj am 19. März 2022 ein Cover mit dem Titel „Die Unbeugsamen“. Eine „haushohe Bildpropaganda-Überlegenheit“ bescheinigte die Berliner Kunsthistorikerin Charlotte Klonk der ukrainischen Seite. Im Grunde habe sie die Propagandaschlacht „bereits in den ersten Tagen für sich entschieden, als Wolodymyr Selenskyj mit einem nächtlichen

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Perspektiven eines Bilderkrieges 2022 [III/26] Außenministerin Baerbock in Butscha, Besuch einer Ausstellung mit Fotografien von Getöteten, 10.5.2022; [III/27] Eingangsbild des ARD-Brennpunkts vom 24.2.2022; [III/28] Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Deutschen Bundestag, 17.3.2022

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Selfie-Video im Kreis seiner Präsidiumsmitglieder auf der Straße vor dem Regierungspalast in Kiew in Erscheinung trat, um von Russland gestreuten Gerüchten seiner angeblichen Flucht entgegenzutreten“.22 Die Bilder aus der Ukraine, die die Deutschen erreichten, waren nicht einfach nur Ausdruck des Entsetzens und der Empörung. Sie sollten noch nicht einmal in erster Linie den Schrecken dokumentieren. Ihre Funktion war es zu mobilisieren. Die Bilder auf den Twitter-Accounts der ukrainischen Regierung seien, so Klonk, „ein Appell“ an die internationale Gemeinschaft zur Unterstützung des Landes gewesen. Propagandistisch, so Klonk, sei dieser Krieg ein „Mitmach-Krieg“. Tatsächlich folgten jeder Propagandaaktion der Selenskyj-Regierung schon wenige Tage später neue Zusagen über Waffenlieferungen und Geldtransfers auch der Bundesregierung. Der Westen ‚machte mit‘. Der ukrainische Präsident, „der sich mit der Macht der Bilder auskennt“, sorge für eindrucksvolle Botschaften, befand auch der Philosoph Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung. Wolodymyr Selenskyjs per Video in den Bundestag übertragene Rede bezeichnete Habermas als „moralische Ordnungsrufe“ an die Abgeordneten. „Politische Fehleinschätzungen und falsche Weichenstellungen früherer Bundesregierungen“ münze die ukrainische Seite „umstandslos in moralische Erpressungen“ um. Das „ungestüm moralisierende Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung“ und die „völlig neue Realität des Krieges“, so Habermas, hätten gerade Jüngere „aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen“.23 Zugleich reaktivierte die Berichterstattung über den Ukrainekrieg totgeglaubte Muster des antibolschewistischen Feindbildes. Während Selenskyj als der strahlende, allseits präsente Kriegsheld dargestellt und hofiert wurde, verkörperte Putin

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[III/29] Putin nimmt ein Blutbad, Motivwagen Rosenmontagsumzug, Düsseldorf 2023

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[III/30] Screenshots TikTok (von links nach rechts: @valerisssh, @martavasyuta, @alexhook2303)

in unzähligen Karikaturen und Fotomontagen ganz wie ehedem das blutrünstige Monster aus dem Osten, (III/29) so auch auf einem Motivwagen des Rosenmontagsumzuges 2023 in Düsseldorf. (III/30) Nicht jedoch die traditionellen Bildschirmmedien bestimmten das Bild des Ukrainekrieges in der Öffentlichkeit, sondern die unzähligen Fotos und Videos in den sozialen Medien. Dieser Krieg, so der Politikwissenschaftler Daniel Leisegang, werde „nicht nur zu Lande und in der Luft, sondern auch im Internet geführt – und gerade dort erweist sich die ukrainische Seite als überaus gut gerüstet“. Geschickt nutze sie Videoplattformen wie TikTok, Instagram und YouTube zu Propaganda- und PR-Zwecken. Mithilfe der sozialen Medien lenke „die Regierung in Kiew nicht nur unsere Wahrnehmung des Kriegsgeschehens, sondern setzt die Plattformen der Techkonzerne auch gezielt als Mittel der Kriegsführung ein“. Selenskyj befehlige nicht nur seine Streitkräfte, sondern auch TikTok, Instagram, Twitter und Telegram. Er sei „der erste hybride Anführer einer hybriden Kriegsführung“.24 TikTok avancierte zur wichtigsten Social-Media-Plattform des Krieges. In Deutschland verfügte sie 2022 monatlich über etwa 19 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, zumeist Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren. Einer Umfrage zufolge hatte TikTok damit Snapchat und Twitter als bislang meistgenutzte soziale Netzwerke überholt. In den Tagen rund um die Invasion stiegen die Aufrufe der mit #Ukraine getaggten Videos weltweit von 6,4 auf 17,1 Milliarden an. Im ersten Halbjahr des Krieges seien Videos mit dem Hashtag #Ukraine (Stand: August 2022) rund 55 Milliarden mal angeschaut worden.

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Der Aufstieg von TikTok markierte eine „Zäsur in der modernen Kriegsberichterstattung“ (Daniel Leisegang). Der New Yorker bezeichnete den Krieg in der Ukraine bereits am 3. März 2022 als „the World’s ,First TikTok War‘“. Das Neue an dieser Form der Berichterstattung war die Unmittelbarkeit und Distanzlosigkeit. Während die klassischen Medien das Kriegsgeschehen in der Regel aus größerer Distanz zeigten, einordneten und kommentierten, katapultierten die verwackelten Nahaufnahmen aus der Ich-Perspektive die Betrachter unmittelbar ins Kriegsgeschehen hinein. Die Überwältigung durch Gleichzeitigkeit und neue Formen der Immersion verhinderten eine für jede kritische Analyse des Gesehenen notwendige Distanz. Die User, so schien es, befanden sich viszeral selbst im Krieg. Ob der Krieg damit tatsächlich „sichtbarer“ geworden ist, wie der österreichische Bildhistoriker Anton Holzer behauptete,25 ist fraglich. Richtig dagegen ist die Beobachtung einer neuen und noch nie zuvor erreichten Gleichzeitigkeit von Kriegsereignissen und Berichterstattung. Wer wollte, konnte den russischen Krieg aus Sicht der Angegriffenen live mitverfolgen. Ein Medienhistoriker der Universität Basel stellte fest, durch die Nutzung von Smartphones habe sich nicht nur eine Allgegenwart von Augenzeugenschaft und ihrer Dokumentation ergeben. Der große Unterschied zur klassischen Kriegsberichterstattung liege vielmehr „in der ungefilterten Möglichkeit zur Übertragung in Echtzeit. Jeder, der sein Smartphone über die Fensterbrüstung hält, um den Einmarsch der Invasoren zu zeigen, wird so zu einem Kriegsreporter, der diese Bilder sofort, ohne Zensur einer Öffentlichkeit zuspielen kann.“26 Waren bisherige Kriege zumeist im Querformat berichtet worden, so hat sich mit dem Krieg in der Ukraine die Perspektive auf den Krieg (III/30) hin zum Hochformat verändert. Die Auswirkungen der Bilder des nicht für möglich gehaltenen russischen Überfalls auf die Ukraine gingen weit über die von 9/11 hinaus. Bei älteren Menschen reaktivierten die Aufnahmen von Zerstörungen, von Menschen in Bunkern und auf der Flucht Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Bis hinein in seriöse Medien wurde über die Möglichkeit eines ‚Dritten Weltkrieges‘ spekuliert. Hamsterkäufe und Anfragen bei Behörden nach atomsicheren Schutzplätzen waren die Folgen. Menschen bangten um ihre Arbeitsplätze und ihre Energieversorgung. Fast jeder zweite Beschäftigte fühlte sich von den Bildern aus den Kriegsgebieten mental belastet. Eine Flut von blau-gelben Solidaritätsbezeugungen mit den Menschen in der überfallenen Ukraine schwappte über Deutschland. Überall wurden in den Tagen nach dem 24. Februar und am Jahrestag des Überfalls 2023 blau-gelbe Fahnen gehisst, ob auf Rathäusern, auf Schulen, auf Privathäusern, auf Möbelhäusern, in Gartenkolonien usf. Sportstätten wie die Allianz-Arena in München, Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor, das Hambacher Schloss und die Elbphilharmonie in Hamburg erstrahlten in den Farben des überfallenen Landes. (III/31) Um ihre Solidarität mit der Ukraine und ihre in Sachen Ukraine abgestimmte Haltung zum Ausdruck zu bringen, posierten der französische Staatspräsident Macron und der Bundeskanzler gemeinsam vor dem in den ukrainischen Farben angestrahlten Brandenburger Tor. Beide wussten um die symbolische Bedeutung von Farben und Gesten.

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[III/31] Der französische Staatspräsident Macron und Bundeskanzler Scholz vor dem in den Farben der Ukraine beleuchteten Brandenburger Tor am 9.5.2022

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„Schwarz-Rot-Kalt“ Zur Ikonografie der multiplen Krise Der 24. Februar 2022 markierte auch in sozio-ökonomischer und psychosozialer Hinsicht eine „Zeitenwende“. Erstmals hatten die Deutschen nach der Kubakrise von 1962 wieder Angst vor einem Atomkrieg bzw. einem dritten Weltkrieg. Anders als damals gesellten sich zur Angst vor einem Krieg weitere Ängste: die Angst vor dem Ende des Wohlstands bzw. vor einer neuen Armut sowie die Angst vor einem Blackout des Energiesystems. Zudem war auch die Coronakrise noch nicht vollends überwunden und drohte nach wie vor der Klimakollaps. Viele Menschen fühlten sich von den Preissteigerungen ihrer Energieversorger und der allgemeinen Inflation überfordert. Die Obdachlosigkeit nahm im öffentlichen Raum indes sichtbar zu. Die ‚Tafeln‘ wurden von Bedürftigen regelrecht überrannt. Krankenhäuser meldeten Insolvenz an. „Den Deutschen stehen harte Jahre bevor“, prophezeite der SPIEGEL im September 2022. Das Cover zeigte ein Paar in den eigenen vier Wänden in dicken Socken, Schaal, Mütze, gesperrter Steckdose und kalt gestelltem Heizkörper. Zum Teil wurden die Ängste indes bewusst hochgespielt. Ein apokalyptisches Schreckensszenario wurde an die Wand gemalt. Bei einem Blackout der Energieversorgung drohe ein allgemeiner ‚Kollaps‘, hieß es – bildlich in Szene gesetzt in

[III/32] Cover DER SPIEGEL, Nr. 38/17.9.2022

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der Thriller-Serie Blackout. Die BILD-Zeitung warnte vor einem möglichen Bürgerkrieg. Außenministerin Annalena Baerbock sagte „Volksaufstände“ voraus. Die Angst vor dem allgemeinen ‚Kollaps‘ wurde zu einem Geschäftsmodell, das die Auflagenzahlen von Zeitschriften und Verlagen in die Höhe trieb. Als ob all dies noch nicht genug war, löste der Krieg in der Ukraine eine neue Flüchtlingswelle aus, die die von 2015/16 quantitativ noch in den Schatten stellte und die Kommunen, die für die Unterbringung und Integration der Kriegsflüchtlinge zuständig waren, strukturell zu überfordern drohte. Die Bundesrepublik befand sich über Nacht in der schwersten sozialen Krise seit ihrem Bestehen. Trotz aller Belastungen der Bürger erwies sich das politische System überraschenderweise als weitgehend stabil. Die Zahl der Nichtwähler verharrte auf einem hohen Niveau. Der Anstieg der AfD stagnierte. Bei der Sonntagsumfrage erzielte die Rechtsaußenpartei im Bundesdurchschnitt etwa 15 Prozent, wobei es allerdings deutliche Unterschiede in West und Ost gab, wo die ‚Alternative‘ landesweit zum Teil stärkste Partei war. Die Mehrheit der Bundesbürger vertraute weiterhin ihren Repräsentanten. „War das der heiße Herbst?“, fragte Peter Dausend in der ZEIT.27 Dass trotz Krieg und Inflation die Deutschen „gelassen“ auf die neuen Belastungen reagiert hätten, sei auch der Regierung zuzuschreiben, befand der Journalist. Dass der angekündigte ‚heiße Herbst‘ lauwarm geblieben sei, habe nicht zuletzt daran gelegen, „dass die Bundesregierung einiges dafür getan hat, die Folgen der explodierenden Kosten zu dämpfen. Vom milliardenschweren ‚Doppelwumms‘ gegen steigende Gas- und Strompreise über den Tankrabatt und eine Erhöhung des Wohngeldes bis hin zum 9-Euro-Ticket. Auch wenn noch nicht alle Entlastungen bei den Bürgern angekommen sind, hat sich doch der Eindruck festgesetzt: ‚Die tun was‘ – und das wiederum hat die Wut, sofern vorhanden, deutlich abgemildert.“ An den Rändern des politischen Systems indes gärte es weiter. Die Silvesterunruhen von 2022 sowie die Auseinandersetzungen um Lützerath zum Jahreswechsel 2022/23 waren da nur die Spitze eines Eisbergs. (III/33) Nicht integrierte, zumeist migrantische Jugendliche forderten wie in Berlin offensiv den Staat heraus, indem sie Polizisten, Angehörige der Feuerwehr und der Rettungsdienste angriffen. Die ‚Letzte Generation‘ blockierte im Namen des Klimaschutzes Straßen, besetzte wie um den Tagebau Garzweiler Wälder und wie in Lützerath zum Abriss bestimmte Häuser. Innerhalb der Bildpublizistik blieb die schwerste Krise, die die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen durchmachte, im Schatten der Berichterstattung über den Ukrainekrieg sowie der Bilder der Silvesterkrawalle und (III/34) der Auseinandersetzungen um Lützerath. Diese lieferten die spektakuläreren Bilder. Die soziale Krise fand daher kaum einmal zu einem adäquaten bildlichen Ausdruck. Das ikonische Bild der Krise gab es nicht. Sie blieb in der täglichen Bilderflut versteckt, allenfalls existierten Bilder aus Teilbereichen. Dies lag nicht nur daran, dass die dokumentarische Sozial- bzw. Street-Fotografie in der Bundesrepublik über keine Tradition und folglich nur wenige Fotografen verfügte, sondern auch daran, dass sich die professionelle Krisenfotografie eher auf spektakuläre Natur- und Unfallkatastrophen

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[III/33] Silvesterkrawalle in der Sanderstraße in Berlin-Neukölln: Polizeiwagen werden mit Silvesterraketen beschossen, 2022; [III/34] Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten in Lützerath am 14.1.2023

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spezialisiert hatte. Die Illustrierung der sozialen Krise beschränkte sich daher zumeist auf Stockfotografien wie das Heizungsthermostat, Schaubilder zur Entwicklung der Inflation oder (III/38) allegorische, kaum einmal geografisch lokalisierbare Bilder zum zunehmenden Holzdiebstahl. Die Bildberichterstattung über die stattfindende Krise umkreiste diese allenfalls elliptisch. Wo die soziale Krise dann doch einmal bildlichen Ausdruck fand, blieben die von ihr Betroffenen eigentümlich anonym. (III/35) Menschen in Warteschlangen vor Einrichtungen der ‚Tafeln‘ oder (III/36) Obdachlose in Matratzenlagern unter Brücken wurden fast ausnahmslos aus der Distanz oder von hinten aufgenommen, so dass – ganz anders als etwa in der Sozialfotografie der Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts – konkrete Individuen nicht erkennbar waren, mit denen sich die Betrachter hätten identifizieren oder in die sie sich hätten hineinversetzen können. Die Krise blieb ohne Gesichter und personalisierte Geschichten. Dies traf insbesondere für die Angehörigen des modernen Dienstleistungsprekariats und damit der unteren Mittelschicht zu, deren Situation sich kaum einmal in den Bildmedien widerspiegelte. Menschen, die Vollzeit arbeiten und von ihrem Verdienst trotzdem nicht oder nur mit mehreren weiteren Minijobs leben können, passten nicht in die gängigen Schubladen von Armut und vermochten daher auch keine mediale Aufmerksamkeit zu mobilisieren. Eine seltene Ausnahme blieb der Bericht der Grimme-Preisträgerin Julia Friedrichs im NDR über Leben und Ängste der Briefzustellerin Ilona aus Bremen und der als Deutschlehrerin in Integrationskursen tätigen Lehrerin Claudia, die beide von ihrem Einkommen die steigenden Kosten des Alltags nicht mehr zu kompensieren vermochten. (III/37) Aus der täglichen Bilderflut ragten nur wenige Bilder der aktuellen Krise wie das Foto des abgedunkelten Berliner Reichstages heraus. Es wurde zu einem der wenigen Symbolbilder der Energiekrise, da es einen Vorgang abbildete, der nicht nur die Hauptstadt, sondern die gesamte Republik betraf. Überall nämlich gingen mit Beginn des Winters 2022/23 im öffentlichen Bereich die Lichter aus. Sehenswürdigkeiten wurden nachts nicht mehr angestrahlt. Das Reichstagsgebäude verzichtete auf seine weit sichtbare Kuppelbeleuchtung, wenn die letzten Besucher das Gebäude verlassen hatten. Es wurde dunkel in Deutschland. Ganz anders sah dies in der Bildberichterstattung über die mit dem Ukrainekrieg ausgelöste neue Flüchtlingsbewegung aus, die die höchste Nettozuwanderung seit 1990 mit sich brachte. Über sie wurde breit und oft konkret individualisiert in Fotografie und Fernsehen berichtet. Im Unterschied zur Bildberichterstattung über die Krise von 2015/16 fällt allerdings eine Akzentverschiebung auf. Deutlich stärker als damals setzten Bilder die Organisationskraft und Leistungsfähigkeit des deutschen Unterbringungssystems in Szene, (III/39) indem etwa Aufnahmen von leeren Hallen mit Hunderten von akkurat aufgestellten Feldbetten oder von modernsten Wohncontainern publiziert wurden, die auf Bewohner warteten. Deutschland, so der Subtext der Bilder, hatte aus dem Chaos von 2015/16 gelernt, indem es sich systematisch vorbereitet zeigte. Unzählige Bildberichte schilderten den Einzug von einzelnen Ukraine-Flüchtlingen oder Flüchtlingsfamilien in Hallen und Container. Sie vermittelten das Bild: Deutschland sorgt sich um Euch!

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Dunkel-Deutschland [III/35] Warteschlange vor der ‚Tafel‘ in Bad Canstatt, veröffent. in der Stuttgarter Zeitung, 17.6.2022; [III/36] Matratzenlager von Obdachlosen am Stuttgarter Platz in Berlin, veröffent. im Tagesspiegel, 23.1.2022; [III/37] abgedunkelter Reichstag, veröffent. bei tagesschau.de am 2.9.2022; [III/38] Schild gegen Holzdiebstahl im Thüringer Wald, veröffent. auf mdr.de, 13.10.2022.

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[III/39] Feldbetten in einer Halle der Messe Stuttgart für Flüchtlinge aus der Ukraine, Aufnahme vom März 2022

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Immersion und Visual Correctness Neue Bilderpraxen in Kultur und Publizistik Auch nach dem Amtsantritt der Ampelkoalition blieb die Kultur- und Kunstlandschaft der Republik so vielfältig und bunt, wie es sich für eine freie pluralistische Gesellschaft gehört. Dennoch fallen zwei Entwicklungen auf, die durch die Stichworte ‚Immersion‘ und ‚Visual Correctness‘ gekennzeichnet sind. Während ‚Immersion‘ für die eher kreative Seite der Entwicklung steht, steht ‚Visual Correctness‘ für die eher repressive Seite. Immersion, so Thomas Oberender – Intendant der Berliner Festspiele von 2010 bis 2020 –, sei „ein Schlüsselphänomen unserer Zeit, das die Erfahrung oder das Gefühl einer vollumfänglichen Einbettung in die eigene Umwelt beschreibt“.28 Das Phänomen Immersion, prognostizierte Hanno Rauterberg in der ZEIT, werde bald so mächtig sein, „dass es womöglich die Kunst, unser Bild von ihr, verändert“.29 Unter Immersion werden dabei Prozesse verstanden, deren Hauptakteure Google, Facebook und TikTok sind. Deren Ziel es ist, ihre User dauerhaft in ihrer Welt zu halten. Immersion ist zugleich eine neue Wahrnehmungsform des postmodernen Krieges, wie er seit 2022 um die Ukraine tobt, bei der die Kluft zwischen den Betrachtern zu Hause und den Akteuren an der Front tendenziell aufgehoben erscheint. Immersive Prozesse sind seit einigen Jahren verstärkt auch im Museums- und Ausstellungswesen sowie in der Welt des Films und des Theaters zu beobachten. Diese sollen zu Erlebnis- und Erfahrungsräumen umgestaltet werden, in denen vorrangig gefühlt wird. Die Kunst, so Rauterberg, trete ein „ins Zeitalter der reproduzierten Reproduktionen“, sie werde „zum flüchtigen Schatten ihrer selbst“. War Distanz zum Kunstwerk oder zum Film bislang Voraussetzung für jede kritische Reflexion der wahrgenommenen Bilderwelten, so geht es heute zunehmend um Entgrenzung und Eintauchen der Betrachter in das Kunstwerk, den Film, die Operninszenierung und damit um die Auflösung der Grenzen zwischen Kunstwerk und Betrachter. Immersion, so Oberender in der Tradition von Siegfried Kracauer, raube „die Distanz, die für Reflexion nötig ist, sie überwältigt, was manchmal berauschend schön ist, zugleich aber auch blöde macht“. „Immersion“ lautete bereits 2016 der Titel einer Veranstaltungsreihe der Berliner Festspiele, die sich den Grenzen zwischen Betrachter und Kunstwerk und Fragen nach dem Einfluss einer immersiven Kunst auf das künftige Ausstellungswesen widmete. Das Jahr 2022 war dann ein erster Höhepunkt einer immersiven Ausstellungspraxis in Deutschland. Der digitale Bilderrausch aus den USA war in Europa angekommen und versprach auch in Deutschland seinen Betreibern ein großes Geschäft. In der Praxis konnte Immersion unterschiedliche Formen annehmen. Publikumsmagneten waren 2022/23 die Ausstellung Van Gogh Alive, die in Köln, Bremen und München gastierte und als „das meistbesuchte multisensorielle Erlebnis der Welt“ beworben wurde. Van Gogh Alive sei „ein kontaktloses digitales Kunsterlebnis, das den Besuchern die einmalige Gelegenheit bietet, in Van Goghs Kunst einzutauchen

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Monet, Tübke, Klimt – immersiv [III/40] Werbebanner für die Ausstellung MONET’S GARDEN, Hamburg 2022/23; [III/41] Blick in die Ausstellung MONET’S GARDEN; [III/42] TÜBKE MONUMENTAL im Kunstkraftwerk Leipzig, 2022; [III/43] Ausstellung Gustav Klimt – The Gold Experience 2023 ebenfalls im Kunstkraftwerk Leipzig

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und sich in seine Welt zu begeben“. (III/40, 41) Ebenfalls 2022/23 tourte auch MONET’S GARDEN durch die Republik. Inszeniert wurde die 360-Grad-Erlebnisreise durch die Geschichte und Werke eines der größten Künstler der vergangenen beiden Jahrhunderte mit modernster Multimediatechnik. „Projektionen erzeugen in Verbindung mit Musik rauschende Farbwelten und lassen die Gemälde auf noch nie zuvor gesehenene Weisen lebendig und spürbar werden. Erleben Sie selbst, wie sich für Sie Illusion in Realität verwandelt“, versprach die Werbung. In Kunst eintauchen, Monet mit allen Sinnen erleben, lautete das Versprechen der Ausstellungsmacher. Die außergewöhnlichen Gartenlandschaften Monets sollten die Besucher etwa zu einem Brückenspaziergang oder zum Verweilen einladen. Die Projektionen veränderten sich dabei interaktiv mit diesen – ein zugleich physisches wie poetisches Erlebnis. Der gesamte Raum wurde zu einem gigantischen Seerosenteich, wodurch die Illusion eines endlosen Ganzen entstand. „Sie befinden sich inmitten der Gemälde, versinken in Licht und Ton, und werden so Teil der Szenerie – die Kunstwerke interagieren mit Ihnen und Kunst wird zur vollendeten Poesie“, hieß es in der Werbung. Die ästhetische Erfahrung solle, so der Anspruch, das Leben von Grund auf durchdringen. In Berlin jedenfalls, so ein Besucher, werde dieser Anspruch „recht schläfrig“ umgesetzt. Monets Lichtgewässer sei hier „weniger von Seerosen als von Matratzen übersät, darauf zumeist junge Menschen, manche kuscheln, andere lehnen sich zurück, vielen fallen die Augen zu. Kunstbetrachtung als Kunstentspannung.“30 (III/42) Eine immersive Reise durch die Menschheitsgeschichte als digitales Bilderlebnis demgegenüber versprach die Ausstellung TÜBKE MONUMENTAL seit März 2022 im Leipziger Kunstkraftwerk. Sie zeigte, dass Immersion auch anders funktionieren kann. Nachdem sich die Stadt Leipzig geweigert hatte, wegen der DDR-Vergangenheit ihres berühmten Sohnes dessen 90. Geburtstag 2019 zu feiern, hatten Künstler, Designer und IT-Spezialisten aus Deutschland, den USA, Italien und Frankreich als Hommage an Werner Tübke ein Multimediawerk entwickelt, das sich mit einem der größten Ölgemälde Europas befassen sollte, mit Tübkes gewaltigem Bauernkriegspanorama Frühbürgerliche Revolution in Deutschland. Der Leipziger Künstler hatte darin die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Aufbruch, Leiden und Scheitern thematisiert. Vielfältige Animationen und mitreißende Musik- und Soundeffekte hauchten den Figuren des Bauernkriegspanoramas Leben ein. Von Jesus über Martin Luther bis hin zum Teufel wanderten die Gestalten über die Wände des Ausstellungsraumes und damit zugleich durch die Kapitel der Menschheitsgeschichte. Die Kunst absorbiere die Betrachter in „einem Akt der kollektiven Erfahrung“, so Hanno Rauterberg in einer Besprechung der Ausstellung in der ZEIT. „Es gibt hier keine Zentralperspektive, diese Erfindung der Renaissance, mit der sich Raum und Welt ordnen ließen. Vielmehr muss der Blick schweifen, und stets hat man die anderen im Blick, die ihrerseits um sich schauen, um bloß nichts zu verpassen.“ Die ausgestellten Kunstwerke aktivierten mehr als nur den Sehsinn. „Das Vibrieren der Bilder, das Schlagen und Brausen lässt sich auch leiblich spüren, Lautsprecher beherrschen den Raum, ihre aufbrausenden Klänge durchdringen die Körper.“31 Ausgerechnet im medialisierten Kunstwerk finde die Ästhetik zu ihren Ursprüngen zu-

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rück. (III/43) Der Tübke-Ausstellung folgte zu Jahresbeginn 2023 im Kunstkraftwerk Leipzig eine ebenfalls immersiv angelegte Ausstellung über Gustav Klimt: „The Gold Experience“. (III/44) Wiederum eine andere Variante von Immersion praktizierte Wim Wenders’ 3D-Videofilm-Installation Two or Three Things I Know about Edward Hopper, die anlässlich der Hopper-Retrospektive in Basel 2020 zur Aufführung kam. Wenders’ Film war eine Hommage an einen der bedeutendsten amerikanischen Maler des 20. Jahrhunderts, dessen Werk, so Wenders, Einfluss auf seine eigenen Arbeiten gehabt habe. Angesiedelt zwischen Kunst, Kino und Museum, stellt Wenders, 14-Minuten-Videofilm, der mit einer Augmented-Reality-Brille betrachtet werden muss, nicht einfach nur ein Gemälde nach – in diesem Fall Hoppers fotorealistisches Gemälde Gas aus dem Jahr 1940, das eine Tankstelle an einer Landstraße im Mittelwesten zeigt. Und er zieht die Betrachter nicht einfach nur in Hoppers Gemälde hinein, vielmehr erweckt er ein Gemälde zum Leben und erzählt die Geschichte seines Bildinhalts in imaginären Gedanken weiter. „Man sitzt vor einem Großbildschirm, setzt die Brille auf – und ist dann an dieser verlassenen Tankstelle, drei rote Zapfsäulen, ein halb verdeckter Tankwart, der sich an einer zu schaffen macht. Und da ist diese Dämmerung vom Tag zur Nacht mit ihren langen Schatten, die das schönste Licht zaubert“, schrieb ein Filmkritiker.32 Der Inhalt: Ein schwerer Packard hält an einer Tankstelle, wie Hopper sie gemalt hatte. Die Perspektive schwenkt um 90 Grad, das Gemälde erwacht zum Leben, der Tankwart steckt den Zapfstutzen ein. Der Fahrer bleibt im Wagen, die Beifahrerin steigt aus und raucht eine Zigarette. Es scheint nicht zum [III/44]

[III/44] Standbild aus der 3D-Videofilm-Installation Two or Three Things I Know about Edward Hopper von Wim Wenders (2020)

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Besten um die Beziehung der beiden bestellt zu sein. Als der Wagen wieder fort [III/45] ist, lehnt sich der Tankwart an eine Zapfsäule und starrt auf die länger werdenden Schatten des Waldes im Hintergrund. Wenders maße sich nicht an, den stets für viele Deutungen offenen Hopper zu interpretieren, er reiße die Geschichten höchstens an, notierte ein Kritiker. Der Film befeuere beim Betrachten vielmehr die Fantasie, ohne sie einzuschränken oder in moderne Kontexte einzufügen. Höhepunkt des 3DFilmschaffens von Wenders war sein 2023 erstmls in Cannes vorstelltes dokumentarisches Filmporträt Anselm – Das Rauschen der Zeit über den deutschen Ausnahmekünstler Anselm Kiefer. Auch der kommerzielle Film setzte zunehmend auf Immersionseffekte. Ein Beispiel hierfür war 2022 die Neuverfilmung des Kriegsdramas Im Westen nichts Neues nach dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1929 durch Regisseur Edward Berger. Die Kamera und mit ihr die Betrachter stehen in diesem Film unter visuellem Dauerbeschuss. Mit ihr folgen die Zuschauer  – wie schon in der Urfassung – den vorwärtsstürmenden Soldaten, ziehen sich zurück in die Gräben und nehmen Teil am großen Sterben. Da die ursprüngliche Fassung wegen der Schwarzweißbilder und des Monoklangs heute distanzierend wirke, habe man sich für eine Neuverfilmung entschieden, so der Produzent. Filmkritiker lobten die Bildgewalt und die extremen Immersionseffekte des Filmes. Der Film sei „ein besonders immersives Filmerlebnis“, weil man den Krieg nicht nur wie im Fernsehen sieht, sondern genauso hört und spürt, im Bauch und im ganzen Körper. Es sei unmöglich, von diesen gewaltigen und nüchternen Bildern nicht getroffen zu werden. Der Krieg, so die Morgenpost, sei in Im Westen nichts Neues ein  „immersives Erlebnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.“ Mit „großer immersiver Kraft“ schildere er hautnah das brutale Krepieren junger Männer an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Andere Filmkritiker waren da skeptischer. Durch die Konzentration auf Immersionseffekte blieben die Hintergründe des Völkerschlachtens unklar, würden keine anderweitigen Informationen vermittelt, entstünden weder eine wirkliche Spannung noch Emotionen. Bei der Oscarverleihung im März 2023 wurde der Film mit vier Oscars ausgezeichnet. Dass Immersion durch Virtual-Reality-Effekte auch auf den Theaterbühnen angekommen ist, zeigten schließlich die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth. Hatte schon die Neuinszenierung des Tannhäusers 2019 durch Tobias Kratzer auf Immersion gesetzt, indem er einen Videofilm zur Ouvertüre nahtlos in ein dreidimensionales Geschehen auf der Bühne übergehen ließ, so kam bei der Neuproduktion des Parsifal 2023 durch den amerikanischen Regisseur und Professor am Massachusetts-Institut für Technologie Jay Scheib erstmals Augmented-Reality-Technik zum Einsatz. Das tatsächliche Bühnenbild wird dabei durch virtuelle Elemente ergänzt, die allerdings nur mit entsprechender Brille erlebbar sind. Die Zuschauer sind nicht mehr nur passive Zuschauer, sie werden vielmehr zu teilnehmenden Akteuren. Sein Ziel sei es, so Scheib, Wagners Parsifal in die Welt der Videospiele zu rücken, das Theater verschwinden zu lassen und den Zuschauern ein neues Opernerlebnis zu bieten. (III/45) Einen kurzen Vorgeschmack, wie das aussehen konnte, hatten die Zuschauer von Scheibs Sei Siegfried-Inszenierung – einer Kürzestversion

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[III/45] Ein Drachen schwebt durch den Zuschauerraum im Bayreuther Festspielhaus; Standbild aus der Augmented-Reality-Sequenz des Drachenkampfes Sei Siegfried von Jay Scheib, Bayreuth 2021

von Wagners Siegfried-Oper – schon 2021 erhalten. Mit einer Augmented-RealityBrille ausgestattet, konnten sie mit einem virtuellen Schwert in der Hand selbst auf Drachenjagd gehen und nach erfolgter Drachentötung zum Zeichen des Sieges über dem Drachen schweben.

Verpixeln, verhüllen, entfernen

Die andere Seite der Entwicklungen im Kulturbetrieb war und ist eine Visual Correctness, durch die immer öfter Bilderwelten danach beurteilt werden, ob sie den Standards von mutmaßlich gültigen oder gewünschten politischen Diskursen entsprechen. Im Unterschied zu den Jahren zuvor breitete sich diese über den engeren Kunstbetrieb in weitere Bereiche des Kulturbereiches und der Publizistik aus. ­Initiatoren und Akteure waren nicht mehr nur Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen, sondern zunehmend auch große Agenturen und staatliche Organisatio-

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nen. In der Praxis trat die Visual Correctness als Eingriff in das Bild sowie als Verhüllen und Entfernen von Bildern auf. Keineswegs eine Unsitte, sondern ein bewusster Akt war das Verpixeln von Bildinformationen – vermeintlich aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes von Beschuldigten, tatsächlich aber aus Gründen antirassistischer und antikolonialer Einstellungen. Ist es noch nachvollziehbar, dass zum Schutz von Polizisten deren Bilder von Polizeieinsätzen nicht unverpixelt publiziert werden dürfen, so ist es unverständlich, dass die Gesichter von zufälligen Passanten auf der Straße nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 unkenntlich zu machen sind. (III/46) Für Unverständnis sorgte so etwa das Verpixeln des Gesichtes des Täters vom Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat von 2016 in zahlreichen Medien, obwohl allein aufgrund des Ausmaßes dessen Tat ein zeitgeschichtliches Ereignis und der Attentäter damit eine Person der Zeitgeschichte war, der – was sein Bild betrifft – nicht besonderen Schutzrechten unterlag. Nicht nachvollziehbar war auch eine Entscheidung des Freiburger Landgerichts, dass das Gesicht eines verurteilten Mörders, der eine 19-jährige Studentin vergewaltigt und anschließend ermordet hatte, nur verpixelt veröffentlicht werden darf. Längst gehört es zur Praxis von Redaktionsstuben und Bildagenturen, Fotografien und Filmausschnitte mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte mutmaßlicher Täter durch Verpixeln von Bildausschnitten zu verändern. Da diese Änderungen so perfekt daherkommen und oftmals nicht mehr auf das Verpixeln hingewiesen wird, sind sie faktisch nicht als solche zu erkennen. Ein Beispiel hierfür war die Berichterstattung über die Chaosfahrt eines betrunkenen LKW-Fahrers in Fürth am 8. Februar 2022, bei der 31 Fahrzeuge gerammt wurden und ein Haus Feuer fing, glücklicherweise aber keine Passanten zu Schaden kamen. Bei dem Unfallverursacher handelte es um den Fahrer eines LKWs einer türkischen Spedition, der mehr als zwei Promille Alkohol im Blut hatte. In den ersten Berichten lokaler Medien vom folgenden Tag und im Polizeibericht war die Herkunft des LKWs deutlich erkennbar, grafisch noch verstärkt durch den Halbmond und eine türkische Internetadres-

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[III/46] Anis Amri, verpixelt in: Die Welt, 21.12.2016; [III/47] Fürth, 8.2.2022, dpa-Foto vom 10.2.2022, verpixelt

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se auf der Rückwand des Wagens. (III/47) Bei den dpa-Pressefotos vom 10. Februar, die in der überregionalen Presse publiziert wurden, sowie bei allen Berichten in den folgenden Wochen war die Rückwand des LKWs kaum wahrnehmbar für das Auge der Betrachter durch digitale Pixel unkenntlich gemacht worden. Zwar hatte die Agentur mit der Zeile „ACHTUNG: Aufschrift auf Lastwagen und Kennzeichen aus rechtlichen Gründen gepixelt“ auf die Änderung hingewiesen, die veröffentlichenden Zeitungen jedoch übernahmen diesen Hinweis in aller Regel nicht. Eine solche Praxis gehört in der Zwischenzeit auch zum Repertoire der großen Nachrichtenmagazine etwa der ARD, die seit geraumer Zeit regelmäßig Straftäter, vor allem wenn es sich um nicht-deutsche Straftäter oder Personen mit Migrationshintergrund handelt, in ihren Bildberichten mit Verweis auf das Persönlichkeitsrecht der Täter durch Verpixeln unkenntlich macht – so zuletzt bei den Angriffen auf Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr in der Silvesternacht 2022 in Berlin. Bei rechtsextremen Demonstranten ist man demgegenüber weniger rücksichtsvoll. Bestandteil des Kulturbetriebs ist längst auch das Verhüllen und Entfernen von unerwünschten oder nicht mehr dem Zeitgeist entsprechenden Bildern und Symbolen. Mit schlechtem Beispiel ging 2019 Kanzlerin Angela Merkel voran, als sie ( II/51) zwei Bilder des Expressionisten Emil Nolde aus ihrem Amtszimmer im Kanzleramt entfernen ließ, nachdem eine Ausstellung öffentlichkeitswirksam auf Noldes rassistische und antisemitistische Einstellungen und seine positive Haltung zum Nationalsozialismus aufmerksam gemacht hatte. Für den Journalisten Florian Illies war Merkels Entscheidung – unter Bezugnahme auf Siegfried Lenz’ Roman – „die falsche Deutschstunde“. Mit ihrer Entscheidung komme die Kanzlerin „der neuen Sehnsucht nach einer besenreinen Kunst entgegen“. Vielmehr wäre es „schön, wenn es gelänge, die Widersprüchlichkeit der Geschichte und der Kulturgeschichte, die ja eigentlich nur von der Widersprüchlichkeit des Menschen erzählt, zum Teil unserer Deutschstunden zu machen. Und der Wahrheit Raum zu geben, dass leider auch niederträchtige Menschen höchste Kunst schaffen können.“ Das sei unbequem, „aber viel mutiger, als wieder damit anzufangen, Bilder abzuhängen“.33 Ähnlich sah dies FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube: „Die abstrakte Behauptung, man könne Bilder nicht von den politischen Überzeugungen ihrer Maler und diese nicht von ihren ästhetischen Überzeugungen trennen, ist durch die Kunstgeschichte hundertfach widerlegt. Naiv zu glauben, nur honorige Charaktere brächten bemerkenswerte Werke hervor, und jede Niedertracht drücke sich willkürlich oder unwillkürlich auch im Bild aus.“34 Dass die Kanzlerin die Nolde-Bilder im Kanzleramt habe abhängen lassen, sei „Tugendhysterie“, beklagte der Historiker Michael Wolffsohn: „Für ausländische Besucher, die das Kanzleramt besuchen und auf Werke von Nazis und Antisemiten schauten, wäre es keine Zumutung, sondern ein Bekenntnis zur Gebrochenheit deutscher Geschichte.“35 Im Rahmen der Berliner Nolde-Ausstellung sowie der parallel laufenden Debatte über die deutsche Kolonialgeschichte gerieten auch die ‚Eingeborenen‘-Bilder von Emil Nolde und Max Pechstein aus der Südsee ins Fadenkreuz der Kritik. Sie wur-

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den als ‚Ethnokitsch‘ bezeichnet oder wie in einer ARTE-Dokumentation über Kolonialismus und Expressionismus als Ausdruck des ‚weißen Blickes‘ gebrandmarkt. Gefragt wurde, ob man solche Bilder überhaupt noch zeigen dürfe. Die Geste Merkels machte Schule. 2022 gerieten einige Bilder der documenta fifteen in Kassel ins Kreuzfeuer der Kritik, die als antisemitisch attackiert wurden. Im Fokus der internationalen Kritik standen zwei explizit antisemitische Darstellungen des Künstlerkollektivs Taring Padi aus Indonesien als Teil von plakativen Großdarstellungen der indonesischen Revolution gegen die Militärdiktatur von Präsident Suharto. (II/48) Erst nach Eröffnung der Schau war auf einem Großplakat eine antisemitische Darstellung aufgefallen, die sich aus den damaligen historischen Zusammenhängen erklären ließ, aber nicht erklärt wurde. Der Bundespräsident und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gaben den Ton vor, wie das Kunstwerk zu lesen sei. Aus dem Tunnelblick von Auschwitz bewerteten sie das Gesehene als unverhohlen antisemitisch, ohne sich zuvor mit dem Kontext der Darstellung und der damaligen Rolle Israels beschäftigt zu haben. Die Mehrheit der Presse stimmte in den Chor der Kritiker ein. Die Welt am Sonntag sprach von der documenta fifteen als „Ausstellung der Schande“, die FAZ von der „Documenta der Verschlagenheit“. Für die BILD-Zeitung war die documenta eine „Kunstmesse der Schande“. Der SPIEGEL titulierte die Kunstschau als „Antisemita 15“, obwohl die übergroße Mehrzahl der ausgestellten Kunstwerke nichts mit der Thematik Israel oder Judentum zu tun hatte. Und auch der Zentralrat der Juden stimmte in die documenta-Schelte ein. Kunstfreiheit ende dort, „wo Menschenfeindlichkeit beginnt. Auf der Documenta wurde diese rote Linie überschritten.“ Der Bundeskanzler weigerte sich schließlich, nach Kassel zu fahren. Örtliche Politiker wie Scholz’ Parteifreund und mehrjähriger Bundesfinanzminister Hans Eichel zeigten kein Verständnis für das Verhalten des Kanzlers: „Wir bewerten die Begründung des Bundeskanzlers für seine Weigerung, die Ausstellung zu besuchen, als pauschale Vorverurteilung und daher als unangemessen.“ (III/49) Die Verantwortlichen der Kasseler Kunstschau sahen sich angesichts des öffentlichen Drucks veranlasst, das inkriminierte Kunstwerk zunächst mit einem dunklen Tuch zu verhängen und schließlich ganz zu entfernen. Die Kritik an dem Zensurakt von Kassel war verhalten. Hanno Rauterberg erinnerte in der ZEIT daran, dass man eine Darstellung nicht mit dem Dargestellten verwechseln dürfe, es vielmehr auf das „richtige Framing“ ankomme, dass die inkriminierten Werke in ihrem historischen Kontext betrachtet werden müssten, dieser allerdings auch kenntlich zu machen sei.36 Das aber war in Kassel zweifellos unterblieben. ZEIT-Leser forderten: „Hängt das Bild wieder auf und stellt es in den richtigen Zusammenhang.“37 Meron Mendel – Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und von der documenta-Leitung beauftragt, Antisemitismus in der Ausstellung aufzuspüren – betonte die Verantwortung der Kunst, was im Umkehrschluss nicht bedeute, dass „die Kunst zensiert werden muss, sobald sich eine Person verletzt fühlt. Wir müssen dieses Spannungsfeld bis zu einem gewissen Grad aushalten.“38 Gleichwohl: Die Kasseler documenta war beschädigt. Sie hatte einmal mehr Grenzen der Kunstfreiheit sichtbar gemacht.

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[III/48] documenta fifteen, Sommer 2022: Mann mit Wolfszähnen und SS-Zeichen auf dem Hut: beanstandete Karikatur auf dem Banner „People’s Justice“ von Taring Padi (Ausschnitt); [III/49] verhülltes Banner, bevor es vollständig entfernt wurde [III/49]

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‚Visual Correctness‘ hat längst auch die CDU/CSU erreicht. Der Ukrainekrieg und die Debatten in Deutschland zeitigten auch hier manche skurrilen Reaktionen. CSU-Landesgruppenchef und Ex-Minister im Kabinett Merkel, Alexander Dobrindt, war sich nicht zu schade, über das Abhängen des Schröder-Porträts im Berliner Kanzleramt ( II/40) zu sinnieren. Der Putin-Freund Schröder sei „kein deutscher Interessenvertreter“, sondern „ein russischer Söldner“. Er glaube daher nicht, dass es würdig sei, „dass neben erfolgreichen Kanzlern und der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, so wie er sich aktuell der Weltöffentlichkeit zeigt, noch präsentiert werden kann“.39 Das Immendorf-Porträt Schröders, konterte die Berliner Zeitung, sei als Kunstwerk eine Momentaufnahme und „Ausdruck einer Epoche“ und solle daher hängen bleiben. Eine symbolische Auslöschung, wie sie Dobrindt gefordert habe, verbiete sich sowohl aus politischer als auch aus kunsthistorischer Sicht. Zur Demokratie gehöre es auch, „mit der Geschichte eines Kanzlers oder einer Kanzlerin fertig zu werden, die nach dem Ausscheiden aus dem Amt nicht endet“.40 Verstärkt ins Visier der neuen Kulturkämpfer gerieten in den letzten Jahren christliche Symbole, die – so der Tenor der Kritik – in einer zunehmend multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft unzeitgemäß seien. Bekanntestes Beispiel ist der Konflikt um Inschrift und Kreuz auf der Kuppel des rekonstruierten Berliner Stadtschlosses, die als Relikte eines religiösen Kolonialismus in die Kritik geraten waren und nach dem Willen von Kulturstaatsministerin Claudia Roth temporär mit anderen Texten überblendet werden sollten, um die politisch gewünschte Diversität zum Ausdruck zu bringen. Florian Illies warnte und prognostizierte: „Bilderstürme sind ein Zeichen der Selbsterhöhung, sie fegen langfristig nie die Bilder, sondern nur die Stürmer weg.“41 In den Kontext dieser Debatte gehörte im November 2022 auch die Entfernung des historischen Ratskreuzes im Friedenssaal des Rathauses von Münster anlässlich des dort stattfindenden G7-Außenministertreffens durch Mitarbeiter des Berliner Außenministeriums. Dies sei keine bewusste Entscheidung gewesen, „erst recht keine politische Entscheidung, sondern offensichtlich eine organisatorische Entscheidung“, räumte Außenministerin Baerbock ein, nachdem die Abnahme öffentlich geworden war. Die ehemalige Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung und gläubige Katholikin, Monika Grütters, kritisierte in der ZEIT den Akt als Ausdruck von Ignoranz und Arroganz gegenüber Christen sowie als „Geschichtsvergessenheit“. Aus Sicht des katholischen Theologen Thomas Söding offenbare das Abhängen des Kreuzes Defizite in der religions- und kulturpolitischen Kompetenz des Auswärtigen Amtes. Es habe dem Raum seine „Tiefendimension in die Friedenspolitik hinein“ genommen, sagte er dem Neuen Ruhrwort. Söding betonte: „Wenn man das Kreuz aus dem Friedenssaal herausnimmt, ist dieser Ort, der ja offenbar hoch symbolisch gewählt wurde, entkernt. Er ist nur noch Kulisse.“42 Nur einen Monat später war das Bismarck-Porträt von keinem Geringeren als von Franz von Lenbach im ehemaligen Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt an der Reihe, dessen Gründer einst Bismarck selbst gewesen war. „Das Gemälde von

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Otto von Bismarck als Gründer des Auswärtigen Amtes und auch erster Leiter dieses Amtes im Bismarck-Zimmer abzuhängen und auch das Zimmer umzubenennen, zeugt davon, dass Baerbock für Deutschland kein Geschichtsbewusstsein hat“, hieß es in einer von zahlreichen Zeitungen zitierten Presseerklärung der Nachkommen Bismarcks.43 Henry M. Broder wertete in einem Kommentar das Abhängen als „skandalös“. Sven Felix Kellerhoff sprach von einer „gewollten Symbolpolitik, die nach hinten losgeht“.

‚Letzte Generation‘ Zur Protestästhetik des Klimaaktivismus Vom Verhüllen und Entfernen von Kunstwerken war es nur noch ein kleiner Schritt, bis diese zum Ziel von bilderstürmerischen Attacken wurden, wie der SPIEGEL schon 2018 prognostiziert hatte. Im Krisenjahr 2022/23 erreichte der neue Kulturkampf eine neue Qualität. Mit befleckten Kunstwerken sowie auf Asphalt klebenden Händen generierten die Klimaproteste eine neue ikonische Seite der Protestkultur in Deutschland. Ein Minimum an Einsatz und Personal reichte aus, um – auch angesichts des nachlassenden öffentlichen Interesses an Bildern aus dem Ukrainekrieg – größtmögliche Aufmerksamkeit für die Klimaproteste der Gruppe ‚Letzte Generation‘ zu erzielen. Die Kraft von Bildern wurde dabei in einem mehrfachen Sinne genutzt: als Folie und Fingerzeig, als visuelle Inszenierung, als Logo mit tendenziell ikonischen Qualitäten. Der österreichische Journalist Sebastian Hofer brachte es auf die Formel: „Ein Bild sagt mehr als tausend Leute“.44 Auf dem globalen Markt der Aufmerksamkeit fungierte der Bildersturm von London vom Oktober 2022, der selbst wiederum ein Vorbild in den ikonoklastischen Aktivitäten englischer Suffragetten von 1914 hatte, als Vorlage auch für Protestaktionen in Deutschland. Bei ihm hatten zwei Klimaschutz-Aktivistinnen das berühmte Sonnenblumen-Gemälde von Vincent van Gogh in der National Gallery mit Tomatensuppe beworfen und sich anschließend vor dem Kunstwerk niedergekniet und ihre Hände an der Wand festgeklebt. Auch in der Bundesrepublik fühlten sich Umweltaktivisten in der Folge ermächtigt, Bildwerke der Kunst zu beschädigen, um auf die ungelöste Klimaproblematik aufmerksam zu machen und die Ampelkoalition zum Handeln zu zwingen. Attacken der Gruppe ‚Letzte Generation‘ richteten sich hier gegen bekannte Gemälde der Kunstgeschichte, (III/50) so noch im Oktober 2022 gegen ein Bild von Claude Monet im Museum Barberini in Potsdam – festgehalten in Fotografien und Videos und zeitnah auf Twitter gepostet. Die ‚Letzte Generation‘ nutze die Kraft der wichtigsten Bilder der Moderne, so Florian Illies, „um ihre eigenen Bilder darüberzulegen – als Videoclip zugeschnitten für die digitalen Endlosschleifen. Während in Potsdam der Kartoffelbrei noch von der Scheibe vor dem Monet gekratzt wurde, flog er im Netz bereits einmal um die ganze Welt.“45 Ihre Aktionen sollten verdeutlichen, dass die Klimakatastrophe nicht mehr zu ignorieren ist, so eine Sprecherin der Gruppe. „Alles, was uns lieb ist“, werde durch

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[III/50] Anschlag im Museum Barberini in Potsdam am 24.10.2022; Standbild eines Überwachungsvideos auf Twitter vom selben Tag [III/51]

[III/51] Attacke von Mitgliedern der ‚Letzten Generation‘ auf das Grundgesetz-Denkmal am 4.3.2023 in Berlin

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die Klimakatastrophe zerstört. Die BILD-Zeitung titelte: „Klima-Deppen bewerfen Millionen-Monet mit Kartoffelbrei“. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt, warnte vor einer neuen Öko-RAF. Politikerinnen der GRÜNEN und ‚Fridays for Future‘-Aktivistinnen rechtfertigten den Anschlag. Es gehe schließlich um die „Schönheit dieser Welt, die sie gemalt haben und die gerettet werden muss“, schrieb Jessica Kordouni – Rundfunkrätin beim NDR und GRÜNEN-Politikerin in Kiel  – auf Twitter. „Kartoffelbrei und Tomatensuppe sind absolut Kunst. Monet und Van Gogh hätten diesen Protest gemocht.“46 Luisa Neubauer, das Gesicht der ‚Fridays for Future‘-Bewegung in Deutschland, hatte sich schon zuvor – bezogen auf den Anschlag in London – gefragt, ob jemand „wirklich für Klimaschutz“ sei, wenn ihn „eine Tomatensuppe auf Van Gogh“ abschrecke. Die attackierten Kunstwerke fungierten gleichsam als Fingerzeig für die Absichten der Klimaaktivisten, indem sie als Referenzbilder für bedrohte Naturidyllen herhalten mussten, die es vor Zerstörung zu bewahren gelte. Gleich zwei Mal wurde im Frühjahr 2023 ein prominentes Kunstwerk von der Gruppe ‚Letzte Generation‘ attackiert: das Denkmal Grundgesetz 49 des israelischen Künstlers Dani Karavan im Schatten des Berliner Reichstags. (III/51) Bei ihrer ersten Protestaktion vom 4. März 2023 hatten die Aktivisten die Glasskulptur zunächst mit einer schwarzen klebrigen Masse überzogen. Die Gruppe selbst sprach davon, man habe die Skulptur „in Erdöl getränkt“. Wiederum auf Twitter bemühte man sich zeitnah um Erklärung. Man wolle zeigen, wie die Regierung mit den Grundrechten umgeht: „Erdöl verfeuern oder Grundrechte schützen? 2023 geht nur eines von beidem“, hieß es. Medienbewusst hatten die Akteure kurz zuvor die Presse über ihre Aktion in Kenntnis gesetzt. Ein zweites Mal beschmierten Aktivisten das gläserne Kunstwerk Anfang Mai 2023 – dieses Mal mit blutroter Farbe. Zugleich überdeckten sie die in das Kunstwerk eingravierten Grundgesetz-Texte mit eigenen Plakaten, auf denen zu lesen war: „Diese Regierung zerstört unsere Lebensgrundlagen“ und „Diese Regierung bricht die Verfassung“. Mit ihren Protesten vom Frühjahr 2023 hatte die ‚Letzte Generation‘ explizit die regierende Ampelkoalition zum Adressaten gemacht, von der sie entschiedenere Schritte zur Abwehr der drohenden Klimakatastrophe erwartete. Aber nicht so sehr die Attacke von Kunstwerken brachte die ‚Letzte Generation‘ in die Schlagzeilen, sondern ihre mit geradezu religiösem Eifer praktizierten Klebeaktionen, bei denen sich Aktivisten mit ihren Händen auf Straßen und Plätzen, an Leihwagen und wie zuletzt auf Sylt an Privatjets festklebten und damit den Verkehr blockierten. Mit diesen Aktionen, die überall in der Republik Nachahmer – besonders Nachahmerinnen  – fanden und eine Weiterentwicklung der Protestform der Blockade darstellten, griffen die Akteure unmittelbar in den Alltag der Bundesbürger ein und zwangen diese wie die Politik zur Stellungnahme. Zugleich generierten sie neue Bilder eines eschatologischen Protests. Die Selbstinszenierung als Märtyrer, die mit ihrem eigenen Körper stellvertretend für die Mehrheit der Zeitgenossen gegen die Zerstörung der Welt protestieren und dafür bewusst persönliche Nachteile wie Schäden an Gesundheit, Entlassung, Haft und private Insolvenz in Kauf nehmen, erinnerte an religiöse Vorbilder. Mit den Klebeaktio-

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nen und Sitzblockaden entstand eine neue Protestästhetik, die sich deutlich von anderen Protestformen unterschied. Mit ihren visuellen Inszenierungen hatte sich die Klimaprotestbewegung selbst zum Kunstwerk gemacht. Zur neuen Ikone des Klimaprotests geriet im Mai 2023 eine Aufnahme des Berliner Fotografen Paul Zinken, die seitdem von dpa offeriert wird. Unter Abstraktion des konkreten Handlungsumfeldes konzentrierte sie sich auf den Abdruck von zwei bereits wieder vom Asphalt gelösten Händen auf einer Berliner Straße. Die Abdrücke konnten als Zeichen für den geforderten Stopp einer Wirtschafts- und Lebensweise gedeutet werden, die zur Klimakatastrophe geführt hatte. Nur mit eigenen Händen, so suggerierte das Bild, ließ sich der Klimawandel noch aufhalten. Zugleich erinnerte das Bild an die Zeile in der Bibel, in der der auferstandene Heiland als Beleg seiner erlittenen Qualen den Satz spricht: „Sehet meine Hände und meine Füße: Ich bin’s selber.“ Das symbolisch aufgeladene Bild wurde in zahlreichen Zeitungen wie der Berliner Morgenpost, der Badischen Zeitung, der Lippischen Landes-Zeitung sowie in der Welt veröffentlicht, die das Foto zusätzlich farblich aufpeppte. Am 31. Mai 2023 war es online bei tagesschau.de zu sehen. Die Redaktion hatte das Foto zum „Bild des Tages“ gekürt. Mit den von ihnen produzierten Bildern stellte sich die ‚Letzte Generation‘ in die Tradition der studentischen Protestbewegungen der endsechziger Jahre ebenso wie [III/52]

[III/52] Der Abdruck von zwei Händen bei einer Straßenblockade der ‚Letzten Generation‘ am 16.5.2023 auf dem Mühlendamm in Berlin.

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in die der RAF der 1970er Jahre. Und wie damals waren es die Mainstreammedien, die die Bilder des Protests massenhaft popularisierten, da sie sich ihrer Ästhetik nicht entziehen konnten. Die Reaktionen auf die neuen Protestformen und Bilder der ‚Letzten Generation‘ waren vielfältig. Sie reichten von vehementer Zustimmung über heftige verbale und physische Gegenreaktionen betroffener Bürger bis hin zur Kriminalisierung durch Politik und Justiz, die den Protest damit weiter popularisierten. Es scheint, als würde die Ampelkoalition und speziell der grüne Koalitionspartner die Geister nicht mehr los, die sie selbst heraufbeschworen hatten.

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Anhang

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Endnoten I. Die ‚Bonner Republik‘ (1949–1989) 1



Seeßlen: Natural Born Nazi, S. 117.

19 Ebd.

2

Münkler: Das kollektive Gedächtnis der DDR, S. 459.

20 Warnke: Bilderstürme, S. 9.

3

Von Beyme: Parlament, Demokratie und Öffentlichkeit, S. 34.

4

Arndt: Demokratie als Bauherr, S. 20.

5

Betts: Ästhetik und Öffentlichkeit, S. 251.

6

Bredekamp: Politische Ikonologie des Grundgesetzes, S. 25.

7

Klotz: Ikonologie einer Hauptstadt – Bonner Staatsarchitektur, S. 400.

8

Derix: Bebilderte Politik, S. 12.

9

Zit. nach Krueger: Das Bundespresseamt, S. 166.

10 Rosumek: Die Kanzler und die ­Medien, S. 20. 11 Ebd., S. 76. 12 Sachsse: Konrad Adenauer im Portrait, S. 16. 13 Münkel: Willy Brandt, S. 445. 14 Rosumek: Die Kanzler und die ­Medien, S. 111. 15 Ebd., S. 167. 16 Besand: Die Birne, S. 5 16. 17 Ebd., S. 5 22 f. 18 Kuhla: Kanzlerporträts. Deutschland ohne Pomp und Gloria, in: Cicero, 12.7.2012.

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21 Keil zit. nach Kilian: Adenauers Reise nach Moskau, S. 150. 22 Adenauer: Erinnerungen. Bd. 2, S. 5 30. 23 Fahlenbrach: Die Grünen, S. 477. 24 Ebd., S. 476. 25 Diers: Intermedien, Interfunktionen und Interferenzen, S. 36. 26 Ebd., S. 41. 27 Schneede: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, S. 209. 28 Diers: War Cuts, S. 83. 29 „Mich interessiert der Wahn“. Interview mit Gerhard Richter, in: DER SPIEGEL, Nr. 33/14.8.2005. 30 Hüppauf: Unschärfe, S. 562. 31 Bräunert: Die RAF und das Phantom des Terrorismus in der Bundesrepublik, S. 261. 32 Sachsse: Die Bonner Republik im Bild, S. 99. 33 Ebd., S. 97. 34 Diers: „Les représentants représentés“, S. 213 f. 35 Honnef: Fotografie zwischen Kunst und Ware, S. 670 u. 672. 36 Von Dewitz (Hrsg.): Kiosk, S. 250.

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Endnoten

37 Wilke: Die Visualisierung der Wahlkampfberichterstattung in Tageszeitungen 1949 bis 2002, S. 229.

58 Sontag: Syberberg’s ‚Hitler‘, in: The New York Review of Books, 21.2.1980.

38 Ders.: BILD-Zeitung, S. 68 f.

59 Faulstich/Korte: Der Film zwischen 1961 und 1976, S. 36 f.

39 Walter: Die Illustrierten, S. 157.

60 Ebd., S. 28.

40 Knoch: Bewegende Momente, S. 114.

61 Die Ansage, 13.1.1954.

41 Posener: Als Berlin noch ärmer und weniger sexy war, in: Die Welt, 15.4.2014. 42 Olonetzky: Lächeln ist erste Bürger­pflicht, in: SPIEGEL ONLINE, 30.12.2007. 43 Schildt/Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte, S. 118. 44 Strobel: Heimat, Liebe und Glück: Schwarzwaldmädel, S. 155. 45 Korte/Faulstich: Der Film zwischen 1945 und 1960, S. 24. 46 Zit. bei Aurich: Geteilter Himmel ohne Sterne, S. 30 f. 47 Wilharm: Die verdeckten Spuren des Kalten Krieges im deutschen Unterhaltungsfilm, S. 17. 48 Korte/Faulstich: Der Film zwischen 1945 und 1960, S. 26. 49 Welzer/Moller/Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, S. 110. 50 Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm, S. 195. 51 „Und in Deutschland …“, in: DIE ZEIT, Nr. 12/19.3.1953.

62 Werner Pleister, zit. in: „Fernsehen. Abends kaltes Rührei“, in: DER SPIEGEL, Nr. 2/7.1.1953. 63 Zit. in ebd. 64 Ebd. 65 „Krönung: Sie sehen das Feuerwerk“, in: DER SPIEGEL, Nr. 24/10.6.1953. 66 FAZ, 2.6.1953. 67 Lindemann: Das Fernsehen, die ­politische Weltmacht der Zukunft, in: Stuttgarter Zeitung, 8.6.1957. 68 Elsner/Müller: Der angewachsene Fernseher, S. 398. 69 Die Ansage, 12.11.1953. 70 Ebd. 71 Großklaus: Welt-Bilder – Welt-Geschichten, S. 130. 72 Hickethier: Die Bilder der Tagesschau, S. 173. 73 Ebd., S. 175. 74 Requate: „Zur Person“. 75 Knightley: The First Casualty, S. 410. 76 Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 278.

52 Uka: Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration?, S. 86.

77 Ebd., S. 3 56.

53 Süddeutsche Zeitung, 25.10.1969.

78 Ebd., S. 414 f.

54 Hoffmann: Die Brücke, S. 240.

79 Ebd., S. 488.

55 Uka: Abschied von gestern, S. 195.

80 „Ich war wie im Rausch“, in: Frankfurter Rundschau, 16./17.8.2008.

56 Grob: Film der sechziger Jahre, S. 223. 57 Lorbeer für die Wunderkinder, in: DER SPIEGEL, Nr. 47/16.11.1975.

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81 Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 486.

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Anhang

82 Derix: Bebilderte Politik, S. 278. 83 Dies.: Performative Bildpolitiken, S. 180. 84 Ebd., S. 181. 85 Großklaus: Bild-Geschichten, S. 133. 86 Rath: Fernsehrealität im Alltag, S. 137.

104 Knoch: Die Tat als Bild, S. 3 22 u. 321. 105 Classen: Back to the fifties?, S. 116. 106 Theweleit: Von Mauer, Schild, Schirm und Spalt, S. 22. 107 Schmidt: Die universelle Ikonisierung der Mauer, S. 456. 108 Knoch: Die Tat als Bild, S. 397.

87 Ohnmacht-Parade, in: DER SPIEGEL, Nr. 3 5/22.8.1961.

109 Zit. nach Hamann: Schnappschuss und Ikone, S. 295.

88 Ebd.

110 Meyerhoff: Blickwechsel, S. 5 2.

89 Zit. nach: Ilseder Hütte. Werkszeitung nur für Betriebsangehörige Nr. 38/1964, S. 40.

111 Pagenstecher: Arkadien, Dolce Vita und Teutonengrill, S. 182.

90 Zit. nach ebd., S. 39.

112 Ilgen/Schindelbeck: Am Anfang war die Litfaßsäule, S. 139.

91 Heßler: „Der Mond ist ein Ami“, S. 394.

113 Wildt: Versandhauskataloge, S. 3 19.

92 „Knall, Schuß, bumms, raus, weg“, in: DER SPIEGEL, Nr. 36/27.8.1972.

114 „Sehr rauschig“, in: DER SPIEGEL, Nr. 49/1.12.1969.

93 Fürst: Die Empfänger als Aufmacher, S. 210.

115 Meffert: Werbung und Kunst, S. 107.

94 La Naciòn, 27.8.1972, zit. nach Gajek: Imagepolitik im olympischen Wettstreit, S. 335.

116 Siegfried: Starschnitt, S. 146.

95 „Knall, Schuß, bumms, raus, weg“, in: DER SPIEGEL, Nr. 36/27.8.1972. 96 Ebd. 97 Gajek: Imagepolitik im olympischen Wettstreit, S. 333 f.

117 Ebd., S. 150. 118 „Die Realität blubbert“, in: DER SPIEGEL, Nr. 3 5/25.8.1968. 119 Der 7. Sinn, (WDR) 12.9.1969. 120 Radkau: Scharfe Konturen für das Ozonloch, S. 5 36.

100 Fuhr: Willkommen im Bilderstrom der ‚neuen‘ Heimat, in: Die Welt, 19.2.2015.

121 „Ich habe daran zu knapsen“. Wie der Journalist Sebastian Knauer den toten Uwe Barschel in der Badewanne fand“, in: DER SPIEGEL, Nr. 43/19.10.1987; Stern, Nr. 50/3.12.1987.

101 Pflaum: Bocksgesang um die Loreley, in: Süddeutsche Zeitung, 21.9.2004.

122 Burkhardt: Das Geiseldrama von Gladbeck, S. 552. 123 Ebd., S. 556.

102 Kempe: Routine und Grauen im Eichmann-Prozeß, in: Der Tagesspiegel, 9.5.1961.

124 Zit. nach Aust: Der Baader Meinhof Komplex, S. 389.

98 Ebd., S. 334. 99 Ebd., S. 263.

103 Briefmarken-Blockade. Fünf Pfennig Stettin, in: DER SPIEGEL, Nr. 14/1969.

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125 Papenbrock: Happening, Fluxus, Performance, S. 138.

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Endnoten

126 Cohn-Bendit: Tyrannei der Mehrheit – Tyrannei der Betroffenheit, S. 111. 127 Dagmar Przytulla (geb. Seehuber) in: Ute Kätzel: Die 68erinnen, Berlin 2002, S. 201–219, hier S. 213 f. 128 Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969, Köln 2004, S. 161. 129 Przytulla (geb. Seehuber) in: Kätzel: Die 68erinnen, S. 214. 130 Ebd., S. 218. 131 Müller: Der Tod des Benno Ohnesorg, S. 343. 132 Müller: Willy wählen ’72, S. 102. 133 Elter: Propaganda der Tat, S. 136. 134 Jeweils zit. nach Terhoeven: Opfer­bilder – Täterbilder, S. 392. 135 Ebd., S. 386.

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137 Klonk: Bildterrorismus, S. 204. 138 Probst: Selbstverwischungen, S. 81. 139 Bellut: Fernsehbilder beschleunigten die Revolution, in: Die Welt, 7.11.2014. 140 Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 493. 141 Bericht vom 11.9.1989, zit. nach Mittler/Wolle: Ich liebe euch doch alle!, S. 150. 142 Monk: Blende 89, S. 8. 143 Ebd., S. 30. 144 Bellut: Fernsehbilder beschleunigten die Revolution, in: Die Welt, 7.11.2014. 145 Hertle: Der Fall der Mauer als mediales Ereignis, S. 220. 146 Janzing: Der Fall der Mauer, S. 574.

136 BILD-Zeitung, 10.9.1977.

II. Die ‚Berliner Republik‘ (1990–2021) 1

Rauterberg: Pathos für die Republik, in: DIE ZEIT, Nr. 18/26.4.2001.

2 Ebd. 3

Wilhelm: „Demokratie als Bauherr“, S. 14.

4

Wefing: Das Ende der Bescheidenheit, S. 161.

5

Wilhelm: „Demokratie als Bauherr“, S. 12.

6

Bredekamp: Die Reichstagskuppel, S. 676.

7

Lammert: Der Stil der Berliner Republik in: Cicero, Februar 2009.

8

Poschardt: Welthauptstadt der Architektur, in: Welt am Sonntag, 15.5.2005.

9

Berliner Zeitung, 10.12.2002.

10 Bredekamp: Eine Laudatio, S. 133– 140.

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11 Maak: Kämpfen gegen das Unsichtbare, in: FAZ, 26.4.2014. 12 Ders.: Berliner Schloss vor Eröffnung. Bitte entfernen!, in: FAZ, 13.10.2020. 13 Berg: Zwingburg der falschen Gesten, in: taz, 21.7.2021. 14 Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, S. 211. 15

„Wir nähern uns kollektiver Dekadenz“. Interview mit Friedrich Merz, in: Die Welt vom 30.11.2004.

16 Party, Liebe und Profit. Interview von Dancecult - Journal of Electronic Dance Music Culture mit Wolfgang Sterneck, in: Untergrundblättle, 18.9.2010. 17 Goetz: Let the sun shine in your heart., in: ZEIT-Magazin, 11.7.1997.

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Anhang

18 Party, Liebe und Profit. Interview von Dancecult - Journal of Electronic Dance Music Culture mit Wolfgang Sterneck, in: Untergrundblättle, 18.9.2010.

35 Zit. nach Der Tagesspiegel, 24.10.2000.

19 Zit. nach „Eva Hermann verhöhnt Opfer der Loveparade“, in: BILD. de vom 26.7.2010.

37 Minkmar: Die Medienkanzlerin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.1.2006.

20 Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 503. 21 Kohlhöfer: Bei den Sklaven des Spaßes, in: SPIEGEL ONLINE, 24.10.2007. 22 Schwül in Berlin, in: SPIEGEL ONLINE, 22.7.2006. 23 Ahrens/Mayr: Brot und Spieler, in: SPIEGEL ONLINE, 15.7.2014. 24 Bucheli: Das Ende der Spassgesellschaft. Nun kann uns nur noch der Humor retten, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.1.2020. 25 Schumacher: Eine Schlacht um Gefühle, in: DER SPIEGEL, Nr. 11/ 8.3.1998. 26 Thomas Meyer, zit. nach ebd. 27 Rosumek: Die Kanzler und die Medien, S. 229. 28 Dörner/Vogt: Der Medienkanzler, S. 657. 29 Dorfer: Der Retter vom Dienst, in: SZ.de, 17.5.2010. 30 Hartung: Leadership in Gummistiefeln, in: DIE ZEIT, Nr. 35/22.8.2002. 31 Fuhr: Wozu Schröder einen stürzenden Adler brauchte, in: Welt Online, 19.2.2010. 32 Evel: Schröder und der Adler Sturzflug, in: Tages-Anzeiger, 18.3.2010. 33 Bredekamp: Jörg Immendorffs Staatsporträt Gerhard Schröders, S. 211. 34 Ebd., S. 210.

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36 Deggerich: Die Fischer und ihre Frau, in: DER SPIEGEL, Nr.25/19.6.2005.

38 „Hätten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz?“ Interview mit Angela Merkel, in: DIE ZEIT, Nr.51/7.12.2022. 39 Hütten: Ins Web gestolpert, in: taz, 30.8.2013. 40 Bredekamp, in: Die Macht der Bilder, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.2018. 41 Schüle: Angela Merkels Ästhetik des Entzugs, in: Deutschlandfunk Kultur, 13.8.2013. 42 Dörner: Demokratie – Macht – Ästhetik, S. 209. 43 Ebd., S. 210. 44 Dörner/Vogt: Der Medienkanzler, S. 658. 45 Zit. nach Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.6.2004. 46 Repinski: Mitten im Posenkrieg, in: taz, 18.12.2010. 47 Meyer: Visuelle Kommunikation und Politische Öffentlichkeit, S. 60 f. 48 Dörner: Demokratie – Macht – Ästhetik, S. 219. 49 Schneider: Ein verstörendes Bild, in: SZ.de, 18.7.2021. 50 Reitz: Laschet lacht im Flutgebiet und nicht mal seine Entschuldigung hat Kanzlerformat (Kommentar), in: FOCUS online, 21.7.2021. 51 Holert: Regieren im Bildraum, S. 91 f.

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52 Scharping: Wir dürfen nicht wegsehen, S. 123. 53 Ebd., S. 124. 54 Illies: Die Macht der Bilder, in: DIE ZEIT, Nr.12/17.3.1011. 55 Bredekamp, in: Die Macht der Bilder, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.2018. 56 Von Ackeren: Die Grenzen bleiben offen – der Tag, an dem Angela Merkel ihr wahres Wesen zeigte, in: FOCUS online, 5.9.2020, 57 Zit. nach Metzdorf: Der Militärkonvoi aus Bergamo. Wie eine Foto-Legende entsteht, in: BR.de, 13.9.2021. 58 Zit. nach Süddeutsche Zeitung, 10.10.2020. 59 Vahland: Momente der Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 18.3.2021. 60 Weibel: Zur Geschichte und Ästhetik der digitalen Kunst (1984), S. 195. 61 Kipphoff: Bodenlos in den Gärten der Künste, in: DIE ZEIT, Nr. 25/18.6.1993. 62 Schirner, zit. nach http://www. michael-schirner-bye-bye.de/site/ page/byebye 63 Zit. nach „Die Re-Formation der Geschichte“, https://politicalbeauty.de/reformation.html 64 Uwe Scheffler, zit. nach ebd. 65 Zit. nach Bopp: Bin Ladin – eine Kunst-Performance?, in: FAZ, 3.2.2011. 66 Zit. nach Frankfurter Rundschau, 25.4.2003. 67 Ulrich: Politik in Bildern. Dramen und Wunder, in: DIE ZEIT, Nr. 1 2015/30.12.2014, S. 2. 68 Ullrich: Selfies, S. 54. 69 Ebd., S. 66.

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70 Hellmold: Tsunami, S. 713. 71 Barbara Klemm, zit. nach Die Welt kompakt, 15.10.2013. 72 Evers: Die Abschaffung der Filmrolle, in: DER SPIEGEL, Nr.35/25.8.2003. 73 Nicodemus: Film der neunziger Jahre, S. 3 19. 74 Biermann: Die Gespenster treten aus dem Schatten, in: Die Welt, 20.3.2006. 75 Fichter: YouTube. Da guckst Du, in: DIE ZEIT, Nr.42/10.10.2013. 76 Handelsblatt, 6.1.2014. 77 Lobo: Kann der weg?, in: DIE ZEIT, Nr. 27/3.7.2022. 78 Zit. nach Bopp: Bin Ladin – eine Kunst-Performance?, in: FAZ, 3.2.2011. 79 Zit. nach Welt am Sonntag, 11.9.2011. 80 Zit. nach Frankfurter Rundschau, 25.4.2003. 81 Zit. nach Welt am Sonntag, 11.9.2011. 82 Knopp: Der Erste Weltkrieg, in: ZDF-presse, 16.8.1012, S. 3. 83 Weibel: Von Zero Tolerance zu Ground Zero, S. 419. 84 Glaser: Wohlfühlen in der Orwellness, in: Der Freitag, 1.4.2005. 85 Fuhr: Früher war es nackter – heute regieren die Prüden, in: Die Welt, 29.4.2016. 86 Prantl: Das Ende der Privatheit. Orwell und Orwellness, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 96/24.4.2008. 87 Thieme: Gegen Facebook war Stasi nur ein Kinderspiel, in: Frankfurter Rundschau, 11.11.2011. 88 Fichter: Da guckst du!, in: Die Zeit, Nr. 42/10.10.2013.

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Anhang

89 Aust/Ammann: Digitale Diktatur, S. 10. 90 Wiegrefe: Kohls Lüge von den blühenden Landschaften, in: SPIEGEL ONLINE, 26.5.2018. 91 Prümm: Korpsgeist und Denkverbot, S. 81. 92 Martinsen: Totgeschwiegen?, S. 19. 93 Demmer, Feldenkirchen, Fichtner u. a.: Ein deutsches Verbrechen, in: DER SPIEGEL, Nr. 5/31.1.2010. 94 Pagenstecher: „Das Boot ist voll“, S. 609 f. 95 Probst: Bilder als Flüchtlingspolitik, S. 12. 96 Grau: Medien und Flüchtlinge. Die Erfindung der Willkommenskultur, in: Cicero, 24.7.2017. 97 Ein Moment der Ruhe. Selfies von Geflüchteten mit Angela Merkel. Ein Gespräch mit dem Fotografen Bernd von Jutrczenka, S. 14. 98 Bredekamp, in: Die Macht der Bilder, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.2018. 99 Ebd. 100 Reichmuth: Ein Bild, das um die Welt geht, in: Luzerner Zeitung, 6.2.2016. 101 Litschauer: Archäologie der Willkommenskultur, S. 44 f. 102 Ebd., S. 7. 103 New York Times, 1.9.2016. 104 Süddeutsche Zeitung, 11.9.2015. 105 Zit. nach Niggemeier: Einmal „Willkommen!“ und zurück: Die „Zeit“ und die Flüchtlinge. in: Übermedien, 1.9.2016. 106 Zit. nach Pressemitteilung der Otto Brenner Stiftung, 21.7.2017, https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/ stiftung/05_Presse/02_Pressemitteilungen/2017_07_21_PM_AH93. pdf

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107 Zit. nach Rostock-Lichtenhagen: Wo sich der Fremdenhass entlud, in: ndr.de, 26.8.2022. 108 Jüttner: Als der Mob die Herrschaft übernahm, in: SPIEGEL ONLINE, 22.8.2007. 109 Zit. nach Der hässliche Deutsche, in: Deutschlandfunk Nova, 30.10.2015. 110 Tückmantel: Vor 25 Jahren: Die Rückkehr des hässlichen Deutschen, in: Westdeutsche Zeitung, 23.8.2017. 111 Nghi Ha: Rostock-Lichtenhagen – Die Rückkehr des Verdrängten (2012), in: Heimatkunde, Migrationspolitisches Portal der Heinrich Böll Stiftung. 112 Jochen Schmidt: Politische Brandstiftung. Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging, Berlin 2002. 113 Baeck/Speit: Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat, S. 9. 114 Zit. nach Gruber/Kiran: „Ohne soziale Medien wäre die rechtsextreme Welle nicht denkbar“, in: DER SPIEGEL, 10.10.2020. 115 Zit. nach Mathwig: Nach Hanau: Was Medien besser machen sollten, in: ZAPP (NDR), 26.2.2020. 116 Antwort des NDR-Chefredakteurs Fernsehen an den Verf. vom 26.7.2017. 117 Zit. nach „Einfach eine völlig unkontrollierbare Konstellation“, in: Deutschlandfunk, 8.7.2017. 118 Seeßlen, Die „zweite Welle“, S. 62 f. 119 Ebd., S. 62. 120 Vahland: Momente der Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 18.3.2021. 121 Georg Seeßlen: Die „zweite Welle“, S. 69.

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122 Jordan: „Die Verengung der Welt“, 8.5.2020. 123 Pandemie-Tagebuch von Daniel Biskup, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/bilder/pandemietagebuch-100.htm 124 Fröhlingsdorf: Tonga in der Nordsee, in: DER SPIEGEL, Nr. 40/5.9.2011. 125 Schneider: Klimabilder, S. 369. 126 Ebd., S. 371. 127 Ebd., S. 186. 128 Ebd., S. 188. 129 Eberhart: Das geht ins Auge, in: Die Zeit, Nr. 15/3.4.2014. 130 Gujer: Wer will heute noch rechts oder links sein?, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.4.2019.

139 Zit. nach Hollmer: Wie werden ­Filme und Serien wirklich diverser?, in: ­Übermedien.de, 10.5.2022. 140 https://www.daserste.de/unterhaltung/film/filme-im-ersten/ videos/das-neue-ermittlerduoaus-flensburg-schlothauer-undboateng-100.html 141 Diversity Checklist Produktion Spielfilm, https://www. moin-filmfoerderung.de/download/90_Upload_Formulare_fuer_ die_Einreichung/MOIN-diversitychecklist-produktion-2022.pdf 142 Zit. nach Hollmer: Wie werden Filme und Serien wirklich diverser?, in: ­Übermedien, 10.5.2022. 143 Rauterberg: Wie frei ist die Kunst?, S. 9 f.

131 Kriener: Das unbewohnbare Haus, in: taz, 18.7.2021.

144 Rauterberg: Die Bilder des Begehrens, in: DIE ZEIT Nr. 50/5.12.2013.

132 Raulff: Schockwellen, in: FAZ, 1.9.1999.

145 Lorch: Lolita soll gehen, in: Süddeutsche Zeitung, 6.12.2017.

133 Greiner: Der deutsche Bilderstreit, in: DIE ZEIT, Nr. 22/27.5.1994.

146 Rauterberg: Die Bilder des Begehrens, in: DIE ZEIT, Nr. 50/ 5.12.2013.

134 Möller: Deutsch-Deutscher Bilderstreit, in: Die Welt, 1.6.1999. 135 Hausmann: Darf man Arno Breker zeigen?, in: Süddeutsche Zeitung, 29.5.2007. 136 Lorch: Kunstgeschichte, in: SZ.de, 22.6.2021. 137 Norddeutscher Rundfunk (Hrsg.): Bilder schaffen Bewusstsein. Anregungen für eine gendergerechte Bildsprache, https://www.ndr.de/ der_ndr/unternehmen/organisation/gleichstellung208.pdf 138 Zit. nach MaLisa Stiftung: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität. https://malisastiftung. org/fortschrittsstudie-audiovisuelle-diversitaet-ergebnisse-tvdeutschland/

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147 Bredekamp zit. nach Trinks: Der Opportunismus der Moral, in: FAZ.NET, 14.2.2018. 148 Zitiert nach: Und hier kommt die fünfte Strophe, in: SPIEGEL ONLINE 7.9.2017, 149 Harry Nutt: Erschütternde Willfährigkeit, in: Frankfurter Rundschau, 1.9.2017. 150 Hierzu und zum Folgenden siehe „Sexistisch? Warum diese Bilder verhüllt werden müssen“, in: Brigitte, 12.3.2018. 151 Rauterberg: Wie frei ist die Kunst?, S. 115. 152 Ebd., S. 15. 153 Ebd., S. 16. 154 Ebd., S. 96.

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Anhang

155 Cranach/Fichtner/Hammelehle u. a.: Wenn politische Korrektheit auf Kunst trifft, in: SPIEGEL ONLINE, 10.2.2018.

157 Thoren: Der Große Zapfenstreich für Angela Merkel passt nicht in die Zeit, in: Rheinische Post, 2.12.2021.

156 Süddeutsche Zeitung, 12.8.2022.

III. Die ‚Ampelrepublik‘ (2021 ff.) 1

Mitschrift Pressekonferenz vom 29.9.2022, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/ pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-bundesministerhabeck-und-bundesminister-lindner-zu-aktuellen-fragen-der-energieversorgung-in-deutschlandam-29-september-2022-2130984

2

Forstbauer: Kunst im Kanzleramt. Entlastungspaket vor wilden Augen, in: Stuttgarter Nachrichten, 4.9.2022.

3

Wefing: Die Ampelkalypse, in: DIE ZEIT, Nr. 17/21.4.2022.

4

Pavlovic: Der Taschentrick des Kanzlers, in: StZ online, 17.12.2021.

5

Anke Precht, zit. nach Hellemann: Das Geheimnis hinter der KanzlerAktentasche von Scholz, in: BZ, 19.6.2022.

6

Suchy: Habeck, der Youtube-Star im Wirtschaftsministerium, ntv.de, 1.4.2022.

7

Listemann: Schau mir in die Augen – Robert Habeck auf Instagram, in: PR Journal, 27.6.2022.

8

„Das hat Habeck nicht verursacht, aber er muss aufräumen“. Hajo Schumacher im Gespräch mit Jana Münkel, Deutschlandfunk Kultur, 21.03.2022.

9

Schuler: Bilder machen Leute, in: Die Weltwoche (Zürich), 23.12.2022.

10 Haupt: Ich, Lambrecht, in: FAZ, 8.1.2023.

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11 Schröder: Literatur besteht nicht nur aus Themen, in: ZEIT ONLINE, 18.10.2022. 12 Dorn: Geste weg! Symbolpolitik kann die Welt verändern. Manchmal ist sie aber sogar schädlich, in: DIE ZEIT, Nr. 4/19.1.2023. 13 Serrao: „Der Regenbogen ist schön, aber er gehört nicht aufs Parlament“, in: Neue Züricher Zeitung, 25.7.2022; Mangold: „Egal welche Flagge“, in: DIE ZEIT, Nr. 31/28.7.2022 14 dpa-infocom, dpa:221030-99315848/2. 15 So Schätzing im Interview mit tv.digital, 12.9.2022, https://www. tvdigital.de/aktuelles/fernsehen/ der-schwarm-der-bestseller-sollzu-einer-der-besten-serien-weltweit-werden 16 Louis: Was die Maus noch lernen muss, in: EMMA, 28.3.2022. 17 „In einer Demokratie muss man zur Grundlage nehmen, was die Menschen wollen, und nicht, was einige hippe Weltbürger schön finden.“ Interview mit Sahra Wagenknecht, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.4.2021. 18 Boris Palmer, Facebook-Post vom 23.4.2019, https://www. facebook.com/ob.boris.palmer/ posts/2381885385184313 19 „Boris Palmer empört mit Kritik an Bahn-Werbung“, FAZ.NET, 23.4.2019.

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Endnoten

20 „Alles hat sich verdichtet“ – Kriegsbilder aus der Ukraine. Ein Interview mit Michael Pfister und Andreas Prost aus der Bildredaktion von „Zeit Online“, in: Visual History, 1.8.2022. 21 Gellermann: Die Macht um Acht (121), „ARD-Kriegs-Funk“, 25.1.2023, https://apolut.net/diemacht-um-acht-121/ 22 Klonk: Wieder „Nie wieder“, S. 33. 23 Habermas: Krieg und Empörung, in: Süddeutsche Zeitung, 28.4.2022. 24 Leisegang: WarTok. 25 Salzburger Nachrichten, 6.5.2022. 26 „Jeder weiss, wie einfach Fotografien und Videos digital zu manipulieren sind.“ Interview mit Medienhistoriker Markus Krajewski, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.3.2022. 27 Dausend: War das der heiße Herbst?, in: DIE ZEIT, Nr. 49/1.12.2022. 28 Zit. nach Branca: Was ist immersive Kunst, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, 31.10.2016. 29 Rauterberg: „Die große Entfesselung“, in: DIE ZEIT, Nr. 12/17.3.2022. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Rodek: Edward Hopper, endlich mal dreidimensional, in: Welt am Sonntag, 29.1.2023.

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36 Rauterberg: Dabei war es doch so gut gemeint, in: DIE ZEIT, Nr. 38/15.9.2022. 37 Leserbrief in DIE ZEIT, 7.7.2022. 38 Zit. nach „Ich bin kein Zensor“. Interview mit Meron Mendel, in: DIE ZEIT, Nr. 27/30.6.2022. 39 Zit. nach: Dobrindt: Über Abhängen von Schröder-Porträt im Kanzleramt nachdenken, in: Die Welt, 26.04.2022.  40 Nutt: Gerhard Schröder im Kanzleramt: Lasst ihn hängen!, in: Berliner Zeitung, 27.4.2022. 41 Illies: Vergangenheit minus Preußen, in: DIE ZEIT, Nr. 2/5.1.2023. 42 Hamers: Kreuz-Abnahme in Münster geschichtsvergessen und Affront, katholisch.de, 5.11.2022. 43 Hier zit. nach DER SPIEGEL, Nr. 1712.2022. 44 Hofer: Klimaaktivismus: Ein Bild sagt mehr als tausend Leute, in: profil, 21.12.2022, https://www. profil.at/gesellschaft/klimaaktivismus-ein-bild-sagt-mehr-alstausend-leute/402264897 45 Illies: Ziemlich gute Bilder, in: DIE ZEIT, Nr. 44/27.10.2022. 46 Weimer: „Tomatensuppe und Kartoffelbrei sind Kunst“, in: BILD.de, 24.10.2022.

33 Illies: Emil Nolde. Die falsche Deutschstunde, in: DIE ZEIT, Nr. 16/11.4.2019. 34 Kaube: Nachgeholte Deutschstunden, in: FAZ, 4.4.2019. 35 „Auf jeden Fall sind Nolde-Bilder zeigbar“. Michael Wolffsohn im Gespräch mit Christoph Heinemann, in: Deutschlandfunk, 12.4.2019.

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Literatur Monografien, Sammelbände, Bildbände/Ausstellungskataloge, Aufsätze in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften (auch online) Ulrike Ackermann (Hrsg.): Im Sog des Internets. Öffentlichkeit und Privatheit im digitalen Zeitalter, Frankfurt/M. 2013. Konrad Adenauer: Erinnerungen. Bd. 2: 1953–1955, Augsburg 1966. Götz Adriani/Andreas Kaernbach/ Karin Stempel: Kunst im Reichstagsgebäude, Köln 2002. Michael J. Arlen: Living-room War, New York 1982. Adolf Arndt: Demokratie als Bauherr, Berlin 1964. Friedrich Arnold (Hrsg.): Anschläge. Politische Plakate in Deutschland 1900-1980, Frankfurt/M. 1985. Rolf Aurich: Geteilter Himmel ohne Sterne, in: Kalter Krieg. 60 Filme aus Ost und West. 41. Internationale Filmfestspiele Berlin. Retrospektive, Berlin 1991, S. 18–44. Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1986. Stefan Aust/Thomas Ammann: Digitale Diktatur. Totalüberwachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg, Berlin 2014.

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Jean-Philipp Baeck/Andreas Speit: Von der virtuellen Hetze zum Live­ stream-Attentat. Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Rechte Ego-Shooter. Von der virtuellen Hetze zum Live-Attentat, Berlin 2020, S. 7-25. Thomas Balistier: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik, Münster 1996. Stephanie Barron/Sabine Eckmann (Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–89, Köln 2009. Arnold Bartetzky: Nation – Staat – Stadt. Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtsschreibung vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Köln/Wien/Weimar 2012. Zygmunt Bauman/David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Frankfurt/M. 2013. Anja Besand: Die Birne. Helmut Kohl in der Satire, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 5 16– 523. Paul Betts: Ästhetik und Öffentlichkeit. Westdeutschland in den fünfziger Jahren, in: Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit, S. 231–260.

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Literatur

Klaus von Beyme: Parlament, Demokratie und Öffentlichkeit. Die Visualisierung demokratischer Grundprinzipien im Parlamentsbau, in: Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hrsg.): Architektur und Demokratie, Stuttgart 1992, S. 33–45. Klaus Biesenbach (Hrsg.): Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF, 2 Bde., Göttingen 2005. Daniel Biskup: Loveparade, Augsburg 2020. Gerd Blum: „Vorsicht Kunst”. Die Fotomontagen des Klaus Staeck, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder, Bd.2, S. 418–425. Franz Bösch: Vorreiter der modernen Kampagne. Die Adenauer-Wahlkämpfe 1953 und 1957, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7/8 (2002), S. 439–443. Ders.: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von Holocaust zu Der Untergang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007) 1, S. 1–32. Ders.: „Keine Experimente”. Adenauer als alternder Staatsmann, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 194–201. Pierre Bourdieu: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, in: ders. u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt/M. 1983, S. 25–84. Svea Bräunert: Die RAF und das Phantom des Terrorismus in der Bundesrepublik, in: Barron/Eckmann (Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg, S. 261–272. Horst Bredekamp: Eine Laudatio. Das Werk von Christo und Jeanne-Claude als Beitrag zur Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft, in: Ansgar Klein/Ingo Braun/Christia-

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ne Schroeder/Kai-Uwe Hellmann (Hrsg.): Kunst, Symbolik und Politik. Die Reichstagsverhüllung als Denkanstoß, Opladen 1995, S. 133–140. Ders.: Die Reichstagskuppel. Symbol der Demokratie wider Willen, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 670–677. Ders.: Jörg Immendorffs Staatsporträt Gerhard Schröders, in: Münkler/ Hacke (Hrsg.): Strategien der Visualisierung, S. 193–212. Ders.: Politische Ikonologie des Grundgesetzes, in: Michael Stolleis (Hrsg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München 2011, S. 9 –35. Steffen Burkhardt: Das Geiseldrama von Gladbeck. Mediale Komplizenschaft als Echtzeitkrimi, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 550–557. Christoph Classen: Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965, Köln u. a. 1999. Ders.: Back to the fifties? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie „Holocaust” – Rückblicke auf eine „betroffene Nation”, hrsg. von Christoph Classen, März 2004/ Oktober 2005, online: http://www. zeitgeschichte- online.de/md=FSHolocaust-Classen Daniel Cohn-Bendit: Tyrannei der Mehrheit – Tyrannei der Betroffenheit, in: Lutz Erbring (Hrsg.): Medien ohne Moral. Variationen über Journalismus und Ethik, Berlin 1988, S. 105–124.

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Anhang

Martin Damus: Kunst in der BRD 1945–1990. Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, Reinbek 1995.

Ders.: „Les représentants représentés”. Reflexion von Bild und Politik in Andreas Gurkys Bundestag, Bonn, in: ebd., S. 209–238.

Andreas W. Daum: Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg, Paderborn 2003.

Ders.: Intermedien, Interfunktionen und Interferenzen. Vom Ausstieg aus dem Bild und vom Einstieg in die Bilder, in: ebd., S. 3 10–51.

Elena Demke: Mauerfotos in der DDR. Inszenierungen, Tabus, Kontexte, in: Karin Hartewig/Alf Lüdtke (Hrsg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 89–106. Simone Derix: Performative Bildpolitiken. Das Problem der Sichtbarkeit und die Präsenz von Bildern in politischen Inszenierungen des 20. Jahrhunderts, in: Hubert Locher/Adriana Markantonatos (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013, S. 178–189. Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Deutschland im Kalten Krieg 1945–1963 (Ausst.-Kat.), Berlin 1992. Bodo von Dewitz (Hrsg.): Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage 1839– 1973, Göttingen 2001. Reiner Diederich/Richard Grübling: Stark für die Freiheit. Die Bundesrepublik im Plakat, Hamburg 1989. Michael Diers: Die Mauer. Notizen zur Kunst- und Kulturgeschichte eines deutschen Symbol(l)werks, in: kritische berichte 20 (1992) 3, S. 58–74. Ders.: FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg 2006. Ders.: War Cuts. Über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie, in: ebd., S. 83–110. Ders.: Bilder nach (Film-)Bildern. Über Interferenzen von Fotografie und Film bei Andreas Gursky, in: ebd., S. 111–139.

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Andreas Dörner: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001. Ders.: Demokratie – Macht – Ästhetik. Zur Präsentation des Politischen in der Mediengesellschaft, in: Vorländer (Hrsg.): Zur Ästhetik der Demokratie, S. 200–223. Ders./Ludgera Vogt: Der Medienkanzler. Die mediale Inszenierung des Gerhard Schröder, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 654–661. Kay Dohnke: Die authentische Katastrophe. Handy-Fotos aus London und ihre Bedeutung für den Bildjournalismus, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 734–741. Dieter Dowe/Michael Schneider (Hrsg.): Helmut Schmidt. Fotografiert von Jupp Darchinger, Bonn 2008. Christoph Doswald (Hrsg.): Press Art. Sammlung Annette und Peter Nobel (Ausst.-Kat.), Bern 2010. Silke Eilers: „Sie kommen”. Selbst- und Fremdbilder der Neuen Frauenbewegung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 458-465. Monika Elsner/Thomas Müller: Der angewachsene Fernseher, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 392–415.

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Literatur

Andreas Elter: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt/M. 2008. Simone Erpel: Hitler entdämonisiert. Die mediale Präsenz des Diktators nach 1945 in Presse und Internet, in: Thamer/Erpel (Hrsg.): Hitler und die Deutschen, S. 154-160. Kathrin Fahlenbrach: Die Grünen. Neue Farbenlehre der Politik, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 474–481. Werner Faulstich/Helmut Korte: Der Film zwischen 1961 und 1976, in: Faulstich/Korte: Fischer Filmgeschichte, Bd. 4, Zwischen Tradition und Neuorientierung (1961–1976), Frankfurt/M. 1992, S. 11-39. Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der 50er Jahre, München 2002. Ders. (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre, München 2003. Ders. (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre, München 2004. Elisabeth Fendl (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster u. a. 2010. Klaus Forster/Thomas Knieper: Das Blutbad von München, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 434–441. Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde., München 2009. Silke Fürst: Die Empfänger als Aufmacher. Spiegel-Bilder des Medienpublikums, in: Frank Duerr/Ernst Seidl (Hrsg.): A – Aufmacher. Titelstorys deutscher Zeitschriften, Tübingen 2014, S. 206–217.

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Bernhard Fulda: Emil Nolde. Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Essay- und Bildband, München/London/New York 2019. Eva Maria Gajek: Imagepolitik im olympischen Wettstreit. Die Spiele von Rom 1960 und von München 1972, Göttingen 2013. Peter Geimer: Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird, München 2022. Jörn Glasenapp: Fördertürme, Degenhiebe und schwangere Frauen. Sechs kurze Kapitel zur Fotografie der sechziger Jahre, in: Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre, S. 75–94. Ders.: Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern, Paderborn 2008. Ders.: Der Degendieb von Léopoldville. Robert Lebecks Schlüsselbild der Dekolonisation Afrikas, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 242–249. Fritz Göttler: Westdeutscher Nachkriegsfilm. Land der Väter, in: Jacobsen/Kaes/Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, S. 171–210. Walter Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur, Berlin 2004. Helga Grebing: Willy Brandt. Vom deutschen Kennedy zur Ikone einer neuen Ära, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bilder und Macht im 20. Jahrhundert, S. 114–121. Michael Th. Greven/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000.

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Anhang

Elke Grittmann: Das politische Bild. Fotojournalismus und Pressefotografie in Theorie und Empirie, Köln 2007. Dies./Irene Neverla/Ilona Ammann: Global, lokal, digital. Strukturen und Tendenzen im Fotojournalismus, in: dies. (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute, Köln 2008, S. 8–34. Norbert Grob: Film der sechziger Jahre, in: Jacobsen/Kaes/Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, S. 207–244. Johannes Gross: Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995. Götz Großklaus: Bild-Geschichten: Schrecken und Bannung in Nachrichtentexten des Fernsehens, in: ders.: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, Frankfurt/M. 2004, S. 121–145. Ders.: Welt-Bilder – Welt-Geschichten: Schrecken und Bannung in Nachrichtentexten des Fernsehens, in: Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien, Tübingen 1998, S. 165-182. Thomas Großmann: Fernsehen, Revolution und das Ende der DDR, Göttingen 2015. Ralf Gründer: Berliner Mauerkunst. Eine Dokumentation, Köln/Weimar/ Wien 2007. Hans Ulrich Gumbrecht: „Ihr Fenster zur Welt” oder Wie aus dem Medium „Fernsehen” die „Fernsehwirklichkeit” wurde, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Kultur und Alltag, Göttingen 1988, S. 243–250. Jürgen Habermas: Die Normalität der Berliner Republik, Frankfurt/M. 1995.

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Christoph Hamann: Schnappschuss und Ikone. Das Foto von Peter Fechters Fluchtversuch 1962, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2 (2005) 2, https://zeithistorische-forschungen. de/2-2005/4512 Ders.: Fluchtbilder. Schlüsselbilder einer mörderischen Grenze, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 266–273. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 (Ausst.-Kat.), Hamburg 1996. Klaus Hartung: Leadership in Gummistiefeln, in: DIE ZEIT, Nr. 35/22.8.2002. Martin Hellmold: Tsunami. Bilder einer Katastrophe, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 244–250. Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hrsg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt/M. 2005. Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer als mediales Ereignis, in: Eckhard Jesse (Hrsg.): Eine Mauer für den SED-Staat. Berlin 1961 und die Folgen, Berlin 2012, S. 201–224. Martina Heßler: Wissenschaftsenklaven. Die Inszenierung von Kommunikation und Urbanität im suburbanen Raum, in: Adelheid von Saldern (Hrsg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchzeiten, Wiesbaden 2006, S. 83–102. Dies.: „Der Mond ist ein Ami.” Bilder der Mondlandung und die Inszenierung der Wissenschaft, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 394–401.

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Literatur

Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens (unter Mitarbeit von Peter Hoff ), Stuttgart 1998. Ders.: Die Bilder der Tagesschau. Die Tagesschau als Mutter der deutschen Nachrichtensendungen, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 170–177. HKS 13 (Hrsg.): vorwärts bis zum nieder mit. 30 Jahre Plakate unkontrollierter Bewegungen, Berlin o. J. Hilmar Hoffmann: Die Brücke, in: Günter Engelhard/Horst Schäfer/Walter Schorbert (Hrsg.): 111 Meisterwerke des Films, Frankfurt/M. 1989, S. 239241. Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin 2008. Klaus Honnef: Fotografie zwischen Kunst und Ware, in: Walther (Hrsg.): Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 621– 680. Bernd Hüppauf: Unschärfe. Unscharfe Bilder in Geschichte und Erinnerung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd.2, S. 558–565. Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck: Am Anfang war die Litfaßsäule. Illustrierte deutsche Reklamegeschichte, Darmstadt 2006. Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart/Weimar 1993. Annemarie Jaeggi (Hrsg.): Egon Eiermann (1904–1970). Die Kontinuität der Moderne, Ostfildern-Ruit 2004. Harold James: Die D-Mark, in: ­François/Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, S. 434–449.

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Godehard Janzing: Der Fall der Mauer. Bilder von Freiheit und/oder Einheit, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 574–581. Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung, Frankfurt/M. 2008. Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau, Freiburg 2005. Barbara Klemm: Unsere Jahre. Bilder aus Deutschland 1968-1998, 3. Aufl. Berlin 2001. Charlotte Klonk: Bildterrorismus. Von Meins zu Schleyer, in: Stephan/ Tacke (Hrsg.): NachBilder der RAF, S. 197–215. Dies.: Die Entführung Hanns Martin Schleyers oder die Entdeckung des Mediums Gesicht im terroristischen Bilderkampf, in: kritische berichte 36 (2008), S. 48–58. Dies.: Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt/M. 2017. Dies.: Wieder „Nie wieder”. Bilder des Krieges, in: Merkur 76 (2022) Juli, S. 30–40. Heinrich Klotz: Ikonologie einer Hauptstadt – Bonner Staatsarchitektur, in: Martin Warnke (Hrsg.): Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Repräsentation und Gemeinschaft, Köln 1984, S. 399–416. Ders. (Hrsg.): Die Zweite Moderne. Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München 1996. Kölnisches Stadtmuseum u. a. (Hrsg.): Konrad Adenauer im Portrait 1917– 1996, Köln 1996. Jens Knappe: Berliner Republik. Hauptstadt als Bühne. Die Nuller Jahre, Berlin 2016.

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Heinrich Kuhn. Armutszeugnisse. West-Berlin vor der Stadtsanierung in den sechziger Jahren. Hrsg. v. Sabine Krüger, Berlin 2014. Kulturamt der Stadt Kassel, documenta Archiv (Hrsg.): Documenta 1–9. Ein Focus auf vier Jahrzehnte Ausstellungsgeschichte/Profiling four decades of exhibition history – 1955– 1992, Kassel/Würzburg 1997. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970, (Ausst.-Kat.), Köln 1997. Claus Leggewie: Holocaust-Denkmal. Stolpersteine im Regierungsviertel, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 726-733. Daniel Leisegang: WarTok: Der Krieg in den sozialen Medien, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2022) 4, S. 9 –12. Eva-Maria Lessinger/Christina HoltzBacha: Turnschuh-Minister. Die Physiognomie der Macht, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 506–515. Felix Litschauer, Archäologie der Willkommenskultur. Zum Wandel eines politischen Konzepts (d. i. Neue ideengeschichtliche Politikforschung – NiP, Bd. 10), Marburg 2017, https:// www.uni-marburg.de/fb03/politikwissenschaft/pi-nip/ideen- kulturen/bildundflucht/willkommenskulturlitschauer.pdf MaLisa Stiftung: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität, https:// malisastiftung.org/fortschrittsstudie-audiovisuelle-diversitaet-ergebnisse-tv-deutschland/

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Literatur

Kaare Dahl Martinsen: Totgeschwiegen? Deutschland und die Gefallenen des Afghanistan-Einsatzes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) 44, S. 17–23. Sylvia Meffert: Werbung und Kunst. Über ihre phasenweise Konvergenz in Deutschland von 1895 bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2001. Helga Meister: Erna Wagner-Hehmke. Die junge Republik im Visier, in: dies.: Fotografie in Düsseldorf. Die Szene im Profil, Düsseldorf 1991. Thomas Mergel: Der mediale Stil der „Sachlichkeit”. Die gebremste Amerikanisierung des Wahlkampfs in der alten Bundesrepublik, in: Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit, S. 29–53. Ders.: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2010. Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/M. 2001. Ders.: Visuelle Kommunikation und Politische Öffentlichkeit, in: Münkler/Hacke (Hrsg.): Strategien der Visualisierung, S. 53–70. Ines Meyerhoff: Blickwechsel. Fotografien der innerdeutschen Grenze, in: Thomas Schwark/Detlef Schmiechen-Ackermann/Carl-Hans Hauptmeyer (Hrsg.): Grenzziehungen – Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945–1990, Darmstadt 2011, S. 45–53.

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Ein Moment der Ruhe. Selfies von Geflüchteten mit Angela Merkel. Ein Gespräch mit dem Fotografen Bernd von Jutrczenka, in: Thomas Noetzel/Jörg Probst (Hrsg.): neue ideengeschichtliche politikforschung, Marburg 2016; https://www. uni-marburg.de/de/fb03/politikwissenschaft/fachgebiete/politische-theorie-und-ideengeschichte/ portal-ideengeschichte-1/forschung/ selfies_nip-extra_probst.pdf Radjo Monk: Blende 89, Frankfurt/M. 2005. Albrecht Müller: Willy wählen ’72. ­Siege kann man machen, Annweiler u. a. 1997. Marion G. Müller: Der Tod des Benno Ohnesorg. Ein Foto als ikonische Initialzündung einer politischen Bewegung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 338–345. Daniela Münkel: Willy Brandt. Vom Reformer zum Denkmal, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 442–449. Herfried Münkler: Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Dieter Vorsteher (Hrsg.): Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR (Ausst.Kat.), Berlin 1997, S. 458–468. Ders./Jens Hacke (Hrsg.): Strategien der Visualisierung. Verbildlichung als Mittel politischer Kommunikation, Frankfurt/M. 2009. Nationalgalerie Berlin (Hrsg.): 1945– 1985. Kunst in der Bundesrepublik (Ausst.-Kat.), Berlin 1985.

Armin Mittler/Stefan Wolle: Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar – November 1989, Berlin 1990.

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Kein Nghi Ha: Rostock-Lichtenhagen – Die Rückkehr des Verdrängten (2012), in: Heimatkunde, Migrationspolitisches Portal der Heinrich Böll Stiftung, https://heimatkunde.boell. de/de/2012/09/01/rostock-lichtenhagen-die-rueckkehr-desverdraengten Katja Nicodemus: Film der neunziger Jahre. Neues Sein und altes Bewusstsein, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, 2. aktualis. u. erweit. Aufl. Stuttgart 2004, S. 319-356. Cord Pagenstecher: Arkadien, Dolce Vita und Teutonengrill. Tourismuswerbung und das Italien-Bild der Deutschen, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 178–185. Ders.: „Das Boot ist voll”. Schreckensvision des vereinten Deutschland, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 606–613. Pandemie-Tagebuch von Daniel Biskup, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/bilder/pandemie-tagebuch-100.html Martin Papenbrock: Happening, Fluxus, Performance. Aktionskünste in den 1960er Jahren, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Stuttgart/Weimar 2007, S. 137–149. Gerhard Paul: Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004. Ders.: Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der „Operation Irakische Freiheit”, Göttingen 2005.

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Ders.: (Hrsg.): Visual History: Ein Studienbuch, Göttingen 2006. Ders:. Das HB-Männchen – Werbefigur des Wirtschaftswunders, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007) H.1/2, S. 84–115. Ders.: (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bde., Göttingen 2008/09. Ders.: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau”. Schlagbilder antikommunistischer Bildrhetorik, in: ders. (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 88–97. Ders.: Kollektiver Rückenakt. Symbolbild der sexuellen Revolution und des antiautoritären Protests, in: ebd., S. 346–353. Ders.: Tschernobyl. Die Unsichtbarkeit der atomaren Katastrophe, in: ebd., S. 5 24–531. Ders.: Die Kanzlerin. Die vielen Gesichter der Angela Merkel, in: ebd., S. 742–749. Ders. (Hrsg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2010. Ders.: „Holocaust“ – vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft, in: ebd., S. 15–38. Ders.: 9/11. Das Bild als Tat und die neuen Bilderkriege, in: C/O Berlin (Hrsg.): Unheimlich Vertraut/The Uncanny Familiar. Bilder vom Krieg/ Images of Terror (Ausst.-Kat.), Berlin 2011, S. 134–169. Ders.: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013.

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Literatur

Ders.: ‚Prolet-Arier’. ‚Mjölnir’, Body Politics und die Bilderwelt der „Generation des Unbedingten“, in: ebd., S. 45–100. Ders.: Der Schlagbaum. Von der Inszenierung zur globalen Ikone des Zweiten Weltkriegs, in: ebd., S.135–153. Ders.: Stacheldraht & Mauer. Zur Ikonografie und Bildpraxis des ‚Kalten Krieges’, in: ebd., S. 361–396. Ders.: „The Man in the Glass Box”. Die mediale (Selbst-)Inszenierung Eichmanns und der Täter-Diskurs, in: ebd., S. 397–434. Ders.: TV-Holocaust. Ein fiktionaler US-Mehrteiler als Bildakt der Erinnerung, in: ebd., S. 479–505. Ders.: In der Badewanne. Nationale Ikone einer Politik- und Medienaffäre, in: ebd., S. 507–537. Ders.: „Dämonen” – „Schreibtischtäter” – „Pfadfinder”. Die Wandlungen des Bildes von NS-Tätern in Gesellschaft und Wissenschaft am Beispiel von Adolf Eichmann und Rudolf Höß, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, S. 56-68. Ders.: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016. Ders.: „Video” oder: Was haben die Berliner Verkehrsbetriebe mit Homer zu tun? (Abschiedsvorlesung 2016), https://visual-history. de/2016/10/02/video-oder-was-haben-die-berliner-verkehrsbetriebebvg-mit-homer-zu-tun/

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Ders.: Der Handschlag. Pathosformel der Machtübertragung, in: ebd., S. 3 7–47. Ders.: Der Treck. Ursprung und Wandel einer Motivikone, in: ebd., S. 489–501. Ders.: Sterben und Tod des Peter Fechters. Medienereignis und Ikone der Geschichte, (unveröff. Ms.) 2022. Ders.: „Ich bin Aylan Kurdi”. Reenactments von Presseikonen in Pädagogik, Kunst und Fotografie, in: ReVue 2023 (im Erscheinen). Ders./Bernhard Schoßig (Hrsg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten 30 Jahre, Göttingen 2010. Ders./Michael Wildt: Nationalsozialismus. Aufstieg – Macht – Niedergang – Nachgeschichte, Bonn 2022. Ulrich Pfeil: Der Händedruck von Verdun. Pathosformel der deutschfranzösischen Versöhnung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd.2, S. 498–505. Richard David Precht/Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, Frankfurt/M. 2022. Jörg Probst: Selbstverwischung. Die RAF im Polizeibild, in: Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hrsg.): Bildtechniken des Ausnahmezustandes (d. i. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2,1/ 2004), S.78–81.

Ders.: Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches”, Göttingen 2020.

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Anhang

Ders.: Bilder als Flüchtlingspolitik. Die Bildgeschichte der „Flüchtlingskrise” und die politische Theorie des Bildakts, portal ideengeschichte 2016, https://www.uni-marburg.de/ de/fb03/politikwissenschaft/fach gebiete/politische-theorie-undideengeschichte/portal-ideen geschichte-1/forschung/bilderals fluechtlingspolitik-probst.pdf Ders.: Normen als Chiffrierung des Unbekannten. Sozialfiguren und politische Ikonologie in der Corona-Zeit, portal ideengeschichte 2021, https://www.uni-marburg.de/de/ fb03/politikwissenschaft/fachgebiete/politische-theorie-und-ideengeschichte/portal-ideengeschichte-1/ forschung/sozialfiguren-politischeikonologie-probst.pdf Karl Prümm: Korpsgeist und Denkverbot. Das Deutsche Fernsehen im Kosovo-Krieg, in: Peter Christian Hall (Hrsg.): Krieg mit Bildern. Wie Fernsehen Wirklichkeit konstruiert (33. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik), Mainz 2001, S. 79–91. Ders.: Die Definitionsmacht der TVBilder. Zur Rolle des Fernsehens in den neuen Kriegen nach 1989, in: Ute Daniel (Hrsg.) Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 217–229. Joachim Radkau: Scharfe Konturen für das Ozonloch. Zur Öko-Ikonografie der SPIEGEL-Titel, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 532–541. Claus Dieter Rath: Fernsehrealität im Alltag: Metamorphosen der Heimat, in: Harry Pross/Claus Dieter Rath (Hrsg.): Rituale der Massenkommunikation, Berlin 1983, S. 133–143.

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Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus, Berlin 2018. Timm Rautert: Deutsche Geschichten 1968–1978, Göttingen 2021. Karl-Siegbert Rehberg/Wolfgang Holler/Paul Kaiser (Hrsg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen (Ausst.-Kat.), Köln 2012. Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/Wien 2004. Dirk Reinartz: Kein schöner Land. Deutschlandbilder, Göttingen 1989. Jörg Requate: „Zur Person”. Günter Gaus’ Interviews am Beginn des Fernsehzeitalters, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006) 2, http:// www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Requate-2-2006 Florian Rötzer: Die neue Transparenz. Reisen und Flanieren auf der virtuellen Ebene mit Google Earth und Virtual Earth, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 718–725. Evelyn Roll: Die Kanzlerin. Angela Merkels Weg zur Macht, Reinbek 2005. Lars Rosumek: Die Kanzler und die Medien. Acht Porträts von Adenauer bis Merkel, Frankfurt/Main 2007. Michael Ruck: „Abschied vom Pathos” – Beginn eines „Mythos”. Die visuelle Gründungskonstruktion der Bundesrepublik, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 40–47. Wolfgang Ruppert (Hrsg.): Um 1968. Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998.

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Literatur

Rolf Sachsse: Konrad Adenauer im Portrait: eine Bildgeschichte, in: Kölnisches Stadtmuseum u. a. (Hrsg.): Konrad Adenauer im Portrait 1917– 1996, Köln 1996, S. 9 –22. Ders.: Die Entführung. Die RAF als Bildermaschine, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 466–473. Ders.: Die Bonner Republik im Bild (1949–1970). Zur Gemengelage visueller Identitätsproduktion in der jungen Bundesrepublik, in: Annelie Ramsbrock/Annette Vowinckel/ Malte Zierenberg (Hrsg.): Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, S. 90–101. Ulrich Sarcinelli: Von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie. Politische Stilbildung in der Mediendemokratie, in: Vorländer (Hrsg.): Zur Ästhetik der Demokratie, S. 187–199. Peter Schaar: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, München 2007. Thomas Maria Schaffrath-Chanson: Die Entwicklung bundesdeutscher Repräsentationsarchitektur. Untersuchung zur politischen Ikonographie nationaler Baukunst im demokratischen System, Diss. Universität zu Köln 1998. Rudolf Scharping: Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999. Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. Regina Schmeken: Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU, Berlin 2016.

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Harald Schmid: Die „Stunde der Wahrheit” und ihre Voraussetzungen. Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von Holocaust, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online. de/thema/die-stunde-der-wahrheitund-ihre-voraussetzungen Jochen Schmidt: Politische Brandstiftung. Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging, Berlin 2002. Leo Schmidt: Die universelle Ikonisierung der Mauer, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 456–468. Uwe M. Schneede: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001. Birgit Schneider: Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel, Berlin 2018. Christoph Schneider: Der Kniefall von Warschau. Spontane Geste – bewusste Inszenierung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 410–417. Gerhard Schoenberner: Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945, Hamburg 1960. Jan Schönfelder/Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt. Das erste deutschdeutsche Gipfeltreffen 1970, Berlin 2010. Stephan Scholz: Ikonen der ‚Flucht und Vertreibung’. Bildkarrieren und Kanonisierungsprozesse, in: Danyel/ Vowinckel/Paul (Hrsg.): Arbeit am Bild, S. 137–157.

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Anhang

Ehrhard Schütz: Der „Käfer”. Die Ikone des Wirtschaftswunders, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 122–129. Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York 1992. Georg Seeßlen: Natural Born Nazi. Faschismus in der populären Kultur. Bd. 2, Berlin 1996. Ders.: Die „zweite Welle”. Corona und Kultur. Eine Ästhetik der Krise – eine Krise der Ästhetik, Wien 2021 Detlef Siegfried: This time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Ders.: Starschnitt. Die Bildersprache der Bravo, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 146–153. Susan Sontag: Syberberg’s ‚Hitler’, in: The New York Review of Books, 21.2.1980. Klaus Staeck/Dieter Adelmann: Der Bonner Bildersturm oder: was die CDU von Demokratie hält, Göttingen 1976. Rainer Stamm: Bundestag 1998. Andreas Gurskys Historienbild der Bonner Republik, in: Neue bildende Kunst 9 (1999) 1/2, S. 26–38. Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München/Berlin 1995. Martin Steinseifer: Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977: Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und

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Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/M. 2006, S. 3 51–381. Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hrsg.): NachBilder der Wende, Köln/Weimar/Wien 2008. Dies.: NachBilder der RAF, Köln 2008. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bilder und Macht im 20. Jahrhundert (Ausst.-Kat.), Bielefeld/Bonn 2004. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bilder im Kopf. Ikonen der Zeitgeschichte (Ausst.-Kat.), Bonn/Köln 2009 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Kanzlerbungalow, München u. a. 2009. Ricarda Strobel: Heimat, Liebe und Glück: Schwarzwaldmädel (1950), in: Faulstich/ Korte (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte, Bd. 3, S. 145–170. Helmut Stubbe da Luz (Hrsg.): „Extreme Situationen, schnelle Entscheidungen”. Helmut Schmidt gegen Sturmflut und RAF-Terror (Ausst.Kat.), Bremen 2022. Erika Sulzer-Kleinemeier: Fotografien 1967 bis 2007, Frankfurt/M. 2007. Petra Terhoeven: Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007) 7/8, S. 380–399. Hans-Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen (Ausst.-Kat.), Dresden 2010.

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Literatur

Klaus Theweleit: Von Mauer, Schild, Schirm und Spalt. Die Mauer als nationales Massensymbol der Deutschen, in: ders.: Das Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst, München 1995, S. 11–39.

Ingo F. Walther (Hrsg.): Kunst des 20. Jahrhunderts. Bd. 2, Köln 1998.

Ders.: der knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt/M./Basel 2002.

Heinrich Wefing: Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, Berlin 1995.

Walter Uka: Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration? Der bundesdeutsche Film der fünfziger Jahre, in: Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der 50er Jahre, S. 71–89. Ders.: Abschied von gestern: Avantgarde, Revolte, Mainstream. Der bundesdeutsche Film in den 60er Jahren, in: Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre, S. 195–212. Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze, Berlin 2006. Wolfgang Ullrich: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin 2000. Ders.: Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens, Berlin 2019. Hans Vorländer (Hrsg.): Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003. Ders.: Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs, in: ebd., S. 11–26. Mercedes Vostell: Vostell. Ein Leben lang. Eine Werkbiographie, Berlin/ Kassel 2012. Hans-Albert Walter: Die Illustrierten. Schizophrenie als journalistisches Prinzip (I), in: Frankfurter Hefte 20 (1965) 3, S. 155–162.

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589

Martin Warnke (Hrsg.): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt/M. 1988. Ders.: Bilderstürme, in: ebd., S. 7 –13.

Ders: Das Ende der Bescheidenheit. Rollenspieler vor Staatskulisse: Anmerkungen zur Architektur des Berliner Kanzleramtes von Axel Schultes und Charlotte Frank, in: Vorländer (Hrsg.): Zur Ästhetik der Demokratie, S. 161–183. Peter Weibel (Hrsg.): Von der Bürokratie zur Telekratie. Rumänien im Fernsehen, Berlin 1990. Ders: Zur Geschichte und Ästhetik der digitalen Kunst (1984), in: ders.: Gamma und Amplitude. Medien und kunsttheoretische Schriften, hrsg. u. komm. u. mit einem Vorwort versehen von Rolf Sachsse, Berlin 2004, S. 195–231. Ders.: Von Zero Tolerance zu Ground Zero. Zur Politik der Visibilität im panoptischen Zeitalter, in: ebd., S. 407–428. Bernd Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi”. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002.

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Anhang

Astrid Wenger-Deilmann/Frank Kämpfer: Handschlag – Zeigegestus – Kniefall. Körpersprache und Pathosformel in der visuellen politischen Kommunikation, in: Paul (Hrsg.): Visual History, Göttingen 2006, S.188–205. Otto K. Werckmeister: Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre, München/Wien 1989. Michael Wildt: Versandhauskataloge. Die neue, bunte Welt des Konsums, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 314–321. Irmgard Wilharm: Die verdeckten Spuren des Kalten Krieges im deutschen Unterhaltungsfilm, in: DHM-Magazin Nr. 5, Berlin 1992. Karin Wilhelm: „Demokratie als Bauherr”. Überlegungen zum Charakter der Berliner politischen Repräsentationsbauten, in: Das Parlament. Aus Politik und Zeitgeschichte B. 34–35/2001, S. 7–15.

Jürgen Wilke: Die Visualisierung der Wahlkampfberichterstattung in Tageszeitungen 1949 bis 2002, in: Knieper/Müller (Hrsg.): Visuelle Wahlkampfkommunikation, S. 210–230. Ders.: BILD-Zeitung. Die Bilderwelt einer umstrittenen Boulevardzeitung, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, S. 64–71. Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006 Ders.: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013. James E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002. Astrid Zipfel: Helmut Schmidt und die Medien. Eine Untersuchung zur politischen Öffentlichkeitsarbeit, Mainz 2004.

Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften, Online-Portalen Margarete von Ackeren: Die Grenzen bleiben offen – der Tag, an dem Angela Merkel ihr wahres Wesen zeigte, in: FOCUS online, 5.9.2020. Peter Ahrens/Gesa Mayr: Brot und Spieler, in: SPIEGEL ONLINE, 15.7.2014. „Alles hat sich verdichtet” – Kriegsbilder aus der Ukraine Ein Interview mit Michael Pfister und Andreas Prost aus der Bildredaktion von „Zeit Online”, in: Visual History, 1.8.2022. „Auf jeden Fall sind Nolde-Bilder zeigbar”. Michael Wolffsohn im Gespräch mit Christoph Heinemann, in: Deutschlandfunk, 12.4.2019.

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Thomas Bellut: Fernsehbilder beschleunigten die Revolution, in: Die Welt, 7.11.2014. Ronald Berg: Zwingburg der falschen Gesten, in: taz, 21.7.2021. Wolf Biermann: Die Gespenster treten aus dem Schatten, in: Die Welt, 20.3.2006. Lena Bopp: Bin Ladin – eine Kunst-Performance?, in: FAZ, 3.2.2011. Shantala Sina Branca: Was ist immersive Kunst, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, 31.10.2016.

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Literatur

Briefmarken-Blockade. Fünf Pfennig Stettin, in: DER SPIEGEL, Nr. 14/1969.

Martin Evel: Schröder und der Adler Sturzflug, in: Tages-Anzeiger, 18.3.2010.

Roman Bucheli: Das Ende der Spassgesellschaft. Nun kann uns nur noch der Humor retten, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.1.2020.

Marco Evers: Die Abschaffung der Filmrolle, in: DER SPIEGEL, Nr. 35/24.8.2003.

Xaver von Cranach/Urich Fichtner/Sebastian Hammelehle u. a.: Wenn politische Korrektheit auf Kunst trifft, in: SPIEGEL ONLINE, 10.2.2018. Peter Dausend: War das der heiße Herbst?, in: DIE ZEIT, Nr. 49/1.12.2022. Markus Deggerich: Die Fischer und ihre Frau, in: DER SPIEGEL, Nr. 25/19.6.2005. Ulrike Demmer/Markus Feldenkirchen/Ulrich Fichtner u. a.: Ein deutsches Verbrechen, in: DER SPIEGEL, Nr. 5/31.1.2010. „Die Realität blubbert”, in: DER SPIEGEL, Nr. 35/25.8.1968. Dobrindt – Über Abhängen von Schröder-Porträt im Kanzleramt nachdenken, in: Die Welt, 26.04.2022. Tobias Dorfer: Der Retter vom Dienst, in: SZ.de, 17.5.2010. Thea Dorn: Geste weg! Symbolpolitik kann die Welt verändern. Manchmal ist sie aber sogar schädlich, in: DIE ZEIT, Nr. 4/19.1.2023. Bernd Eberhart: Das geht ins Auge, in: DIE ZEIT, Nr. 15/3.4.2014. „Einfach eine völlig unkontrollierbare Konstellation”. Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Jasper Barenberg, in: Deutschlandfunk, 8.7.2017. „Eva Hermann verhöhnt Opfer der Loveparade“, in: BILD.de, 26.7.2010, https://www.bild.de/news/2010/verhoehnt-opfer-13417788.bild.html

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„Fernsehen. Abends kaltes Rührei”, in: DER SPIEGEL, Nr. 2/7.1.1953. Alina Fichter: YouTube. Da guckst Du, in: DIE ZEIT, Nr. 42/10.10.2013. Nikolai B. Forstbauer: Kunst im Kanzleramt. Entlastungspaket vor wilden Augen, in: Stuttgarter Nachrichten, 4.9.2022. Michael Fröhlingsdorf: Tonga in der Nordsee, in: DER SPIEGEL, Nr. 40/5.9.2011. Eckhard Fuhr: Wozu Schröder einen stürzenden Adler brauchte, in: Welt Online, 19.2.2010. Ders.: Willkommen im Bilderstrom der ‚neuen’ Heimat, in: Die Welt, 19.2.2015. Ders.: Früher war es nackter – heute regieren die Prüden, in: Die Welt, 29.4.2016, https://www.welt.de/ debatte/kolumnen/Fuhrs-Woche/ article154876101/Frueher-war-esnackter-heute-regieren-die-Prueden.html Uli Gellermann: Die Macht um Acht (121), „ARD-Kriegs-Funk”, 25.1.2023, https://apolut.net/die-macht-umacht-121/ Peter Glaser: Wohlfühlen in der Orwellness, in: Der Freitag, 1.4.2005. Rainald Goetz: Let the sun shine in your heart, in: ZEIT-Magazin, 11.7.1997. Alexander Grau: Medien und Flüchtlinge. Die Erfindung der Willkommenskultur, in: Cicero, 24.7.2017.

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Anhang

Ulrich Greiner: Der deutsche Bilderstreit, in: DIE ZEIT, Nr. 22/27.5.1994.

Felix Hütten: Ins Web gestolpert, in: taz, 30.8.2013.

Angela Gruber/Ayla Kiran: „Ohne soziale Medien wäre die rechtsextreme Welle nicht denkbar”, in: DER SPIEGEL, 10.10.2020.

„Ich bin kein Zensor”. Interview mit Meron Mendel, in: DIE ZEIT, Nr. 27/30.6.2022.

Eric Gujer: Wer will heute noch rechts oder links sein?, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.4.2019. Jürgen Habermas: Krieg und Empörung, in: Süddeutsche Zeitung, 28.4.2022. Der hässliche Deutsche, in: Deutschlandfunk Nova, 30.10.2015. „Hätten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz?” Interview mit Angela Merkel, in: DIE ZEIT, Nr. 51/7.12.2022. Hamers: Kreuz-Abnahme in Münster geschichtsvergessen und Affront, katholisch.de, 5.11.2022. Klaus Hartung: Leadership in Gummistiefeln, in: DIE ZEIT, Nr. 35/22.8.2002. „Das hat Habeck nicht verursacht, aber er muss aufräumen”. Hajo Schumacher im Gespräch mit Jana Münkel, Deutschlandfunk Kultur, 21.03.2022. Friederike Haupt: Ich, Lambrecht, in: FAZ, 8.1.2023. Angelika Hellemann: Das Geheimnis hinter der Kanzler-Aktentasche von Scholz, in: BZ, 19.6.2022. Sebastion Hofer: Klimaaktivismus: Ein Bild sagt mehr als tausend Leute“, in: profil, 21.12.2022, https://www.profil. at/gesellschaft/klimaaktivismusein-bild-sagt-mehr-als-tausend-leute/402264897 Kathrin Hollmer: Wie werden Filme und Serien wirklich diverser?, in: Übermedien, 10.5.2022.

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„Ich war wie im Rausch”, in: Frankfurter Rundschau, 16./17.8.2008. Florian Illies: Die Macht der Bilder, in: DIE ZEIT, Nr.12/17.3.2011. Ders.: Emil Nolde. Die falsche Deutschstunde, in: DIE ZEIT, Nr. 16/11.4.2019. Ders.: Ziemlich gute Bilder, in: DIE ZEIT, Nr. 44/27.10.2022. Ders.: Vergangenheit minus Preußen, in: DIE ZEIT, Nr. 2/5.1.2023. Ilseder Hütte. Werkszeitung nur für Betriebsangehörige Nr. 38/1964. „In einer Demokratie muss man zur Grundlage nehmen, was die Menschen wollen, und nicht, was einige hippe Weltbürger schön finden.” Interview mit Sahra Wagenknecht, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.4.2021. „Jeder weiss, wie einfach Fotografien und Videos digital zu manipulieren sind.” Interview mit Medienhistoriker Markus Krajewski, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.3.2022. Katrina Jordan: „Die Verengung der Welt“: Passauer Studie über CoronaBerichterstattung von ARD und ZDF sorgt für lebhafte Diskussion, in: idw – Informationsdienst Wissenschaft, 8.5.2020. Julia Jüttner: Als der Mob die Herrschaft übernahm, in: SPIEGEL ONLINE, 22.8.2007. Jürgen Kaube: Nachgeholte Deutschstunden, in: FAZ, 4.4.2019.

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Literatur

Alice Kempe: Routine und Grauen im Eichmann-Prozeß, in: Der Tagesspiegel, 9.5.1961. Petra Kipphoff: Bodenlos in den Gärten der Künste, in: DIE ZEIT, Nr. 25/18.6.1993. Philipp Kohlhöfer: Bei den Sklaven des Spaßes, in: SPIEGEL ONLINE, 24.10.2007. „Knall, Schuß, bumms, raus, weg”, in: DER SPIEGEL, Nr. 36/27.8.1972. Guido Knopp: Der Erste Weltkrieg: Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in: ZDF-presse, 16.8.2012.

Chantal Louis: Was die Maus noch lernen muss, in: EMMA, 28.3.2022. Klaus Lüber: Der Traum vom Fliegen. Aus den Schluchten Manhattans zu den Füßen der Sphinx: Das Programm ‚Google Earth’ schickt seine Nutzer auf eine atemberaubende Weltreise, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.7.2005. Niklas Maak: Kämpfen gegen das Unsichtbare, in: FAZ.NET, 26.4.2014. Ders.: Berliner Schloss vor Eröffnung. Bitte entfernen!, in: FAZ.NET, 13.10.2020.

Manfred Kriener: Das unbewohnbare Haus, in: taz, 18.7.2021.

Die Macht der Bilder. Der Kunst­ historiker Horst Bredekamp über Merkels Gespür für ikonografische Momente 19 Beobachtungen aus 19 Jahren, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.2018.

„Krönung: Sie sehen das Feuerwerk”, in: DER SPIEGEL, Nr. 24/10.6.1953.

Ijoma Mangold: Egal welche Flagge?, in: DIE ZEIT, Nr. 31/28.7.2022.

Karoline Kuhla: Kanzlerporträts. Deutschland ohne Pomp und Gloria, in: Cicero, 12.7.2012.

Inga Mathwig: Nach Hanau: Was Medien besser machen sollten, in: ZAPP (NDR), 26.2.2020.

Nobert Lammert: Der Stil der Berliner

Julie Metzdorf: Der Militärkonvoi aus Bergamo: Wie eine Foto-Legende entsteht, in: BR.de, 13.9.2021.

Herbert Kremp: Aldo Moro – das Bild wird aus dem Rahmen geschossen, in: Die Welt, 22.3.1978.

Republik in: Cicero, Februar 2009. H. Lindemann: Das Fernsehen, die politische Weltmacht der Zukunft, in: Stuttgarter Zeitung, 8.6.1957. Jost Listemann: Schau mir in die Augen – Robert Habeck auf Instagram, in: PR Journal, 27.6.2022. Sascha Lobo: Kann der weg?, in: DIE ZEIT, Nr. 27/3.7.2022. Lorbeer für die Wunderkinder, in: DER SPIEGEL, Nr. 47/16.11.1975. Catrin Lorch: Lolita soll gehen, in: Süddeutsche Zeitung, 6.12.2017. Dies.: Kunstgeschichte, in: SZ.de, 22.6.2021.

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„Mich interessiert der Wahn”. Interview mit Gerhard Richter, in: DER SPIEGEL, Nr. 33/14.8.2005. Nils Minkmar: Die Medienkanzlerin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.1.2006. Johann Michael Möller: DeutschDeutscher Bilderstreit, in: Die Welt, 1.6.1999. Stefan Niggemeier: Einmal „Willkommen!” und zurück: Die „Zeit” und die Flüchtlinge, in: Übermedien, 1.9.2016.

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Anhang

Norddeutscher Rundfunk (Hrsg.): Bilder schaffen Bewusstsein. Anregungen für eine gendergerechte Bildsprache, September 2021, https:// www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/ organisation/gleichstellung208.pdf Harry Nutt: Gerhard Schröder im Kanzleramt: Lasst ihn hängen!, in: Berliner Zeitung, 27.4.2022. Ohnmacht-Parade, in: DER SPIEGEL, Nr. 35/22.8.1961. Nadine Olonetzky: Lächeln ist erste Bürgerpflicht, in: SPIEGEL ONLINE, 30.12.2007. Party, Liebe und Profit. Interview von Dancecult - Journal of Electronic Dance Music Culture mit Wolfgang Sterneck, in: Untergrundblättle, 18.9.2010. Tomo Pavlovic: Der Taschentrick des Kanzlers, in: StZ online, 17.12.2021. H. G. Pflaum: Bocksgesang um die Loreley, in: Süddeutsche Zeitung, 21.9.2004. Ulf Poschardt: Welthauptstadt der Architektur, in: Welt am Sonntag, 15.5.2005. Alan Posener: Als Berlin noch ärmer und weniger sexy war, in: Die Welt, 15.4.2014. Heribert Prantl: Das Ende der Privatheit. Orwell und Orwellness, in: Süddeutsche ZeitungNr. 96/24.4.2008. Ulrich Raulff: Schockwellen, in: FAZ, 1.9.1999. Hanno Rauterberg: Pathos für die Republik, in: DIE ZEIT, Nr. 18/26.4.2001. Ders.: Die Bilder des Begehrens, in: DIE ZEIT, Nr. 50/5.12.2013.

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Ders.: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus, Berlin 2018. Ders.: „Die große Entfesselung”, in: DIE ZEIT, Nr. 12/17.3.2022. Ders.: Dabei war es doch so gut gemeint, in: DIE ZEIT, Nr. 38/15.9.2022. Christoph Reichmuth: Ein Bild, das um die Welt geht, in: Luzerner Zeitung, 6.2.2016. Ulrich Reitz: Laschet lacht im Flut­ gebiet und nicht mal seine Ent­ schuldigung hat Kanzlerformat (Kommentar), in: FOCUS online, 21.7.2021. Gordon Repinski: Mitten im Posenkrieg, in: taz, 18.12.2010. Hanns-Georg Rodek: Edward Hopper, endlich mal dreidimensional, in: Welt am Sonntag, 29.1.2023. Rostock-Lichtenhagen: Wo sich der Fremdenhass entlud, in: ndr.de, 26.8.2022. Harald Schmid: Die „Stunde der Wahrheit” und ihre Voraussetzungen. Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von Holocaust, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online. de/thema/die-stunde-der-wahrheitund-ihre-voraussetzungen Jens Schneider: Ein verstörendes Bild, in: SZ.de, 18.7.2021. Christoph Schröder: Literatur besteht nicht nur aus Themen, in: ZEIT ­ONLINE, 18.10.2022. Christian Schüle: Angela Merkels Ästhetik des Entzugs, in: Deutschlandfunk Kultur, 13.8.2013. Ralf Schuler: Bilder machen Leute, in: Die Weltwoche (Zürich), 23.12.2022.

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Hajo Schumacher: Eine Schlacht um Gefühle, in: DER SPIEGEL, Nr. 11/ 8.3.1998.

Ullli Tückmantel: Vor 25 Jahren: Die Rückkehr des hässlichen Deutschen, in: Westdeutsche Zeitung, 23.8.2017.

Alice Schwarzer: Wir sind Kanzlerin, in: Emma, 1.11.2005.

Bernd Ulrich: Politik in Bildern. Dramen und Wunder, in: DIE ZEIT, Nr.1 2015/30.12.2014.

Schwül in Berlin, in: SPIEGEL ONLINE, 22.7.2006. „Sehr rauschig”, in: DER SPIEGEL, Nr. 49/1.12.1969. Marc Felix Serrao: Der Regenbogen ist schön, aber er gehört nicht aufs Parlament, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2022.

„Und in Deutschland ...” Die ersten dreidimensionalen Farbfilme, in: DIE ZEIT, Nr. 12/19.3.1953. Kia Vahland: Momente der Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 18.3.2021. Heinrich Wefing: Die Ampelkalypse, in: DIE ZEIT, Nr. 17/21.4.2022.

Clara Suchy: Habeck, der Youtube-Star im Wirtschaftsministerium, ntv.de, 1.4.2022.

Benedikt Weimer: „Tomatensuppe und Kartoffelbrei sind Kunst”, in: BILD. de, 24.10.2022.

Matthias Thieme: Gegen Facebook war Stasi nur ein Kinderspiel, in: Frankfurter Rundschau, 11.11.2011.

Klaus Wiegrefe: Kohls Lüge von den blühenden Landschaften, in: SPIEGEL ONLINE, 26.5.2018.

Horst Thoren: Der Große Zapfenstreich für Angela Merkel passt nicht in die Zeit, in: Rheinische Post, 2.12.2021.

„Wir nähern uns kollektiver Dekadenz”. Interview mit Friedrich Merz, in: Die Welt, 30.11.2004.

Stefan Trinks: Der Opportunismus der Moral, in: FAZ.NET, 14.2.2018.

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Bildnachweis Coverabbildungen 1. Reihe (v. l. n. r.): 1–5 Haus der Geschichte 2. Reihe (v. l. n. r.): 1–4 Haus der Geschichte; 5 Sammlung Paul/Flensburg 3. Reihe (v. l. n. r.): 1 Wikimedia Commons; 2-5 Haus der Geschichte 4. Reihe (v. l. n. r.): 1 Wikimedia Commons; 2 Sammlung Paul/Flensburg 5. Reihe (v. l. n. r.): 1–2 Haus der Geschichte 6. Reihe (v. l. n. r.): 1 Burkhard Finken; 2 Haus der Geschichte 7. Reihe (v. l. n. r.): 1 fridaysforfuture.org; 2, 4 Haus der Geschichte; 3, 5 Sammlung Paul/Flensburg Buttons (S. 12-13) 1. Reihe (v. l. n. r.): 1, 5 Haus der Geschichte; 2–4, 6-8 Sammlung Paul/Flensburg 2. Reihe (v. l. n. r.): 1–5, 8 Sammlung Paul/Flensburg; 6, 7 Haus der Geschichte 3. Reihe (v. l. n. r.): 1–4 Haus der Geschichte, 5–8 Sammlung Paul/Flensburg 4. Reihe: 1-8 Sammlung Paul/Flensburg 5. Reihe (v. l. n. r.): 1–2, 6 Haus der Geschichte; 3–5, 7–8 Sammlung Paul/Flensburg 6. Reihe (v. l. n. r.): 1–5, 7–8 Sammlung Paul/Flensburg; 6 Haus der Geschichte akg-images: I/13, I/16, I/18-9, I/25, I/27, I/34, I/40-2, I/44, I/48, I/49a, I/75-8, I/90, I/126-30, I/133-5, I/140, I/142, I/165, I/206, I/218, I/229, I/235, I/238, I/244d, I/259, I/263, I/273, II/66-9 Alamy: I/202 Andrea Baumgartl: II/177 Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung: I/26, I/28 (Fotoarchiv Jupp Darchinger), I/31 (Harry Walter), I/51, I/173, I/179 (Fotoarchiv Jupp Darchinger), I/186-7 Archiv für christlich-demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung: I/37, I/45 Archiv Robert Lebeck: I/36, I/159 Artothek: I/79 Beate Fehrecke, Immenhof Kinoplakate: I/100

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Bildnachweis

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BILD-Zeitung: III/24 Björn Kietzmann: II/169 bpk: I/91 (Heinrich Kuhn), I/177 (Heinrich Heidersberger) BRAVO: I/198 Bundesarchiv: I/29 BUNTE: II/59 David Klammer: II/179 Der SPIEGEL: I/2, I/22, I/35, I/49c, I/143, I/155, I/231-4, I/239, I/251, I/274, II/60, II/128, II/130, II/158, II/170a-b, II/180, III/16, III/24, III/32 Der STERN: I/84, I/224, I/243, I/252, II/170d, II/176, III/24 Deutsche Fotothek: I/182 Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft: I/188 Deutsches Historisches Museum, Berlin: I/8, I/87, I/185 Deutsches Museum, München: I/114 Die WELT: III/46 dpa/picture alliance: I/3, I/5, I/20, I/23, I/32, I/43, I/119, I/122, I/131-2, I/141, I/145 (Karl Schnörrer), I/146 (Kurt Strumpf ), I/151b (Braunsperger), I/166 (Wolfgang Bera), I/201 (Gerhard Rauchwetter), I/203 (Werner Reuss), I/210 (Kurt Rohwedder), I/212 (Hanns J. Jaeger), I/249-50, I/258, II/3, II/6, II/22-8, II/30, II/42, II/53, II/56, II/87, II/132-41, II/147, II/152-3, II/161-4, II/171, II/200-2, III/2, III/8-10, III/16, III/17, III/35-7, III/47 Edgar-Reitz-Filmstiftung, Mainz: I/148 epd-bild: II/1 Erika Sulze-Kleinemeier: I/92 Estate Bernd & Hilla Becher, represented by Max Becher: I/81 FOCUS: III/24 Fridays for Future: II/178 Gerhard Richter 2023 (01092023): I/70a-b, I/262, II/102 Lübecker Nachrichten: II/146 Martin Gausmann: II/183

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Anhang

Meldepress: II/43 Peter Leibing, Hamburg: I/89 Regina Schmeken: II/149 Rheinisches Bildarchiv Köln: I/72 Sammlung Ströher, Darmstadt: I/64 (Olaf Bergmann) Sascha Hartgers: II/181 Stiftung F.C. Gundlach: I/80 Stiftung Haus der Geschichte, Bonn: I/1, I/46-7 sz Photo: I/160 (Heinz Hering), I/253 (Thomas Heisterberg) Timm Rautert: I/93 TITANIC: I/38, I/244c Ullstein Bild: I/30, I/204, I/228 United Colors of Benetton: II/129 Unternehmensarchiv Axel Springer SE: I/217 VG Bild-Kunst: I/9 (Hans Liska), I/10 (Wilhelm Petersen), I/17 (Paul Aigner), I/53, I/55c, I/56, I/237 (Klaus Staeck), I/54 (Ernst Volland), I/55d (Anne-Christine Klarmann), I/57, I/68 (Joseph Beuys), I/60, II/76-8 (Michael Schirner), I/61 (Wilhelm Lehmbruck), I/62 (Willi Baumeister), I/63 (Konrad Klapheck), I/65, I/238, II/72 (Sigmar Polke), I/67-68, I/73 (Wolf Vostell), I/71 (Harald Duwe), I/78 (Albert Oehlen), I/170, II/74 (Matthias Koeppel), I/180 (Christo and Jeanne-Claude Foundation, Foto: Wolfgang Volz), I/197 (Günter Kieser), I/235 (Johannes Grützke), I/244a (Gottfried Helnwein), I/244b, II/83 (Thomas Demand), II/29 (Udo Lindenberg), II/34 (Andreas Mühle), II/40 (Jörg Immendorf ), II/70 (Neo Rauch), II/73 (Markus Lüpertz), II/75 (Hans Haacke), II/81 (Thomas Ruff ), II/82 (Andreas Gursky), II/130 (Daniel Theiler) Wikimedia Commons: I/7, I/12, I/14, I/207, II/10, II/14, II/16, II/18-9, II/21, II/145 Abbildungen, die nicht aufgeführt sind, stammen aus den Beständen des Autors (Sammlung Paul/Flensburg). Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Berechtigte Ansprüche können beim Verlag angemeldet werden und werden nachträglich vergütet.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandabbildungen: siehe Bildnachweis auf S. 596 Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4615-5 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4804-3

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In drei großen Blöcken schreibt Gerhard Paul zum 75. Jahrestag ihrer Gründung die umfassende Bild­ geschichte der Bundesrepublik: Bonner Republik – ­Berliner Republik – Ampelrepublik. Was sind die Bilder, die ­unsere Geschichte repräsentieren? Wie präsentierte sich die deutsche Politik, die sich wandelnde Gesellschaft? Was prägte unser visuelles Gedächtnis? Das opus magnum des Altmeisters der Visual History Gerhard Paul.

ISBN 978-3-8062-4615-5

Einbandabbildungen: siehe Bildnachweis im Buch Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

€ 60,00 [D] € 61,70 [A]

Mitmachen lohnt sich: Viele Vorteile für Mitglieder ! wbg-wissenverbindet.de

DIE BUNDESREPUBLIK

Geschichte produziert Bilder, Bilder machen Geschichte. Denken wir an deutsche Geschichte der letzten 75 Jahre, stürzt eine Flut von Bildern auf uns ein: von den grauen Trümmerbildern der Nachkriegszeit und der betonten Bescheidenheit der Bonner Republik über die schrille Buntheit der 60er- und 70er-Jahre bis zur neu gestalteten Berliner Hauptstadt und der ganzen Diversität unseres heutigen Landes.

EINE VISUELLE GESCHICHTE

75 JAHRE IN ÜBER 500 BILDERN …

GERHARD PA U L

© PRIVAT

Der Historiker Gerhard Paul ist in Deutschland geradezu der Pate der Visual History. Er hat grundlegende Werke zur Bildergeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben (Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Matrosenanzug und Davidstern. Bilder jüdischen Lebens aus der Provinz, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Das visuelle Zeitalter. Punkt & Pixel, Bilder einer ­Diktatur. Zur Visual History des ‚Dritten Reiches‘). Als sein opus magnum erscheint zum 75. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik deren große Bildgeschichte.

G E R H A R D PA U L

DIE BUNDESREPUBLIK EINE VISUELLE GESCHICHTE

75 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik 1949 blicken wir auf eine vielfältige Geschichte zurück. Wir fragen: Wie präsentierte sich die Politik, wie die Gesellschaft, die Kultur in diesen Jahrzehnten? Was sind die Bilder, die unsere Geschichte repräsentieren? Welche Geschichte erzählen sie? Vom offiziellen Foto der Unterzeichnung des Grundgesetzes Katholizismus – Revolution – der Bundesrepublik in Bonnunter im diesen ­Nationalsozialismus: beschreibt Guillaume Mai 1949Leitbegriffen bis zu den Attacken der die Phasen „LetztenPayen Generation“ aufvon dasHeideggers Leben. Ein kompromissloser Grundgesetz-Denkmal in Berlin machte im März Katholizismus 2023 breitet der Bandnach dem Ersten Weltkrieg einem heftigen die „Visuelle Geschichte“ der Streben nach philosophischer ­Republik in faszinierender VielRevolution Platz – ein Boden, auf falt vor unseren aus. dem der Augen Nationalsozialismus tiefe Wurzeln schlagen konnte. Diese Biographie wurde mit dem Prix Maurice Baumont der Académie des Sciences Morales et Politiques ausgezeichnet.