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German Pages 386 Year 2000
CHRISTOPH ROOS
Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung
Schriften zum Strafrecht Heft 120
Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung Zugleich ein Beitrag zur Analyse latenter richterlicher Wertungen in Entscheidungsgründen
Von
Christoph Roos
Dunckef & Humblot . Beflin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Roos, Christoph:
Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung : zugleich ein Beitrag zur Analyse latenter richterlicher Wertungen in Entscheidungsgründen / von Christoph Roos. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Strafrecht; H. 120) Zug!.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09535-9
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2000 Duncker &
ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-09535-9 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Meinen Eltern
Vorwort Im ersten Teil der Arbeit wird die Problematik latenter richterlicher Wertungen in Entscheidungsgründen dargestellt. Vom Richter wird explizit gefordert, sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht geflihrdet wird (vgl. § 39 DRiG). Diesen Anforderungen kann so entsprochen werden, daß Umstände, die - vermeintlich oder tatsächlich - das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Richters zu geflihrden geeignet sind, nicht offen in die Entscheidungsfindung einfließen bzw. kenntlich gemacht werden, sondern "verdeckt" werden. Diese "verdeckten" richterlichen Wertungen anband der Urteilstexte, vor allem der EntscheidungsgrUnde, "offenzulegen", war und ist Bestreben verschiedener rechtswissenschaftlicher Disziplinen, etwa der Rechtssoziologie oder der Rechtsphilosophie. Aber auch Sozialwissenschaftier haben sich der Problematik der "verdeckten" Wertungen in richterlichen EntscheidungsgrUnden angenommen. Einige dieser Erklärungsversuche, die bisher filr das Phänomen der verdeckten Wertungen gegeben wurden, werden im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt und kritisch gewürdigt. Dies gilt insbesondere filr Rekurse auf ein "Rechtsgefilhl" oder die vielfach - vor allem unter Hinweis auf die philosophische und juristische Hermeneutik - verlangte "Offenlegung von Vorverständnissen" im Urteilstext. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Konstrukten unserer Rechtsordnung, die "verdeckte" Wertungen in EntscheidungsgrUnden geradezu zu provozieren scheinen: die (strafrechtlichen) Generalklauseln. Im zweiten Teil der Arbeit werden methodisch-wissenschaftliche Möglichkeiten einer wertungs- und ideologiekritischen Analyse richterlicher EntscheidungsgrUnde untersucht. Ausgangspunkt hierfilr ist das Instrument der sog. Inhaltsanalyse von Texten, das der empirischen Sozialforschung entstammt. Es wird überprüft, ob die gerade von Juristen immer wieder geäußerte Erwartung, mit Hilfe dieses Instruments eine (nahezu) objektive Textanalyse, zumindest im Hinblick auf latente Wertungs- und Ideologiemuster in juristischen Texten, zutrifft. Dabei wird insbesondere die Anwendung inhaltsanalytischer Verfahren in den Rechtswissenschaften, vor allem als Instrument der Urteilsanalyse, einer kritischen ÜberprUfung unterzogen. wesentlich. Da nach meiner Auffassung die Anwendung inhaltsanalytischer Verfahren zur Urteilsanalyse gerade das nicht liefern kann, was sich viele erwartet haben, gleichsam "objektive" Ergebnisse bzw. Erkenntnisse, wurde die Untersuchung von Entscheidungstexten in dieser Arbeit auf "herkömmliche" Weise im Wege der kritischen Auseinander-
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Vorwort
setzung und Interpretation durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können folglich keine weitere Absicherung bieten als die intersubjektive Überprüfbarkeit im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle. Im Gegensatz zu manch anderem "analytischen" Ansatz wird dies hier offengelegt. Im dritten Teil der Arbeit wird die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern nach § 17 StGB im Hinblick auf latente Wertungen und ideologische Grundmuster untersucht. Die Untersuchung beginnt mit der in der Literatur nahezu einhellig geäußerten Kritik an einer zu strengen Handhabung des Vermeidbarkeitsurteils nach § 17 StGB. Dabei wurde vor allem nach den Gründen rur diesen Befund einer zu großen Strenge gesucht, die bisher teilweise nicht oder nur bruchstückhaft genannt wurden. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist das vom Bundesgerichtshof seit BGHSt 2, 194 ff. in ständiger Rechtsprechung verwendete Kriterium der "Gewissensanspannung". Die fehlende Eignung dieses Kriteriums rur die Prüfung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums wird vom überwiegenden Teil der Literatur sei langem kritisiert. Bevor die Berechtigung dieser Kritik überprüft und bestätigt - werden konnte, wurde zunächst die Herkunft diese Kriteriums zu belegen versucht. Christliche Moraltheologie und Gewissensvorstellungen, wie sie im Zuge der sog. Naturrechtsrenaissance nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschten, werden als heute "verdeckte" Grundlagen dieses Kriteriums aufgezeigt. Ferner wird die Eignung des Gewissens untersucht, dem Menschen die nötige Unrechtseinsicht zu vermitteln. Insofern unterzieht wird vor allem die in der Literatur geäußerte Ansicht, daß dem Richter ein sog. "stellvertretendes Gewissensurteil" zukomme, er also die Stimme seines Gewissens anstelle derjenigen des Angeklagten setzen dürfe, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Schwerpunktartig werden schließlich die sog. Mauerschützen-Entscheidungen des Bundesgerichtshofes auf latente Wertungen hin untersucht. Dabei erfolgt insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit der Annahme vermeidbarer Verbotsirrtümer iSd § 17 StGB bzw. der angeblichen Offensichtlichkeit des Unrechts iSd § 5 WStG der Flüchtlingserschießungen an der innerdeutschen Grenze. Nach meiner Auffassung zeigt sich an diesen Fällen in besonderer Deutlichkeit, wie die Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern durch die höchstrichterliche Rechtsprechung schlicht fingiert wird, ohne die tatsächlichen Möglichkeiten der Betroffenen zur Erlangung der Unrechtseinsicht hinreichend zu berücksichtigen. Im folgenden wird eine bestimmte kriminalpolitische Strategie, die eine häufigere Anerkennung von unvermeidbaren Verbotsirrtümern aus Gründen der sog. positiven Generalprävention verhindern will, als "latente" Grundlage der Entscheidungspraxis aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere
Vorwort
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eine Funktion, die § 17 StGB in der Strafrechtswissenschaft zugemessen wird, näher untersucht: Sie soll als - rechtsstaatlich notwendiges - Korrektiv gegenüber einem immer "unklarer" werdenden Strafrecht, einem Strafrecht zunehmender Generalklauseln, dienen: Der Vergleich dieser Zielsetzung mit der Anwendung des § 17 StGB in der höchstrichterlichen Rechtsprechung führt zu dem Ergebnis, daß die Norm gerade entgegen dieser Funktion genutzt wird: Mit Hilfe des flexiblen Vermeidbarkeitsbegriffes wird nahezu ausnahmslos jeder Verbotsirrtum als vermeidbar angesehen - obwohl die fortschreitende Entwicklung zu einem "unklaren" Strafrecht vielfach festgestellt und beklagt wird. Des weiteren erfolgt eine eingehende Kritik eines Konzeptes der "Erhaltung der Normgeltung durch Schuldzuschreibung", wie es der Rtlchtsprechung des Bundesgerichtshofes zumindest im Hinblick auf § 17 StGB nach den hier gewonnenen Ergebnissen zugrunde liegt. Im letzten Teil der Arbeit werden neue Befunde der Soziologie zum Phänomen der sog. "Individualisierung" dargestellt sowie die Folgen dieser gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen für die Handhabung des § 17 StGB durch die Rechtsprechung untersucht. Dabei wird die Auffassung vertreten, daß der Tendenz zu steigender Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse entweder eine verstärkte Bemühung des Staates um eine Verankerung der Rechtsnormen im Bewußtsein der Bevölkerung oder eine deutliche Senkung der Anforderungen an die Möglichkeit der Unrechtseinsicht korrespondieren muß. Je stärker also Staat und Gesellschaft die Zersplitterung und die Abnahme des Normbewußtseins in der Bevölkerung (z.B. durch sozialpolitisches Versagen) zu verantworten haben, desto geringere Anforderungen darf die Rechtsprechung nach hier vertretener Auffassung dann an den einzelnen bezüglich seiner Möglichkeiten zur Erlangung der Unrechtseinsicht stellen. Der Verfasser macht allerdings deutlich, daß dies keine "Lösung" der Problematik wäre: Am Ende dieser Entwicklung stünden der Zerfall von Gesellschaft und Staat. Der Autor votiert deshalb für eine reformierte Kriminalpolitik, die die politisch Verantwortlichen nicht nur auf sozialpolitische Defizite hinweist und deutlicht macht, daß Kriminalpolitik eine falsche bzw. unzureichende Sozialpolitik jedenfalls auf Dauer nicht ersetzen kann. Vielmehr muß diese Kriminalpolitik auch deutlich zum Ausdruck bringen, daß bei fortschreitendem Verfall des Rechtsbewußtseins und fehlendem oder ungenügendem Engagement des Staates in dieser Frage, die rechtsstaatlichen Bindungen des Strafrechts in Frage gestellt werden und die Legitimation des Staates zum Strafen fragwürdig wird. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 vom Fachbereich der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis Januar 1998 berücksichtigt. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Klaus Lüderssen, der die Arbeit angeregt und sie optimal betreut hat. Besonders danken möchte ich auch Herrn
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Vorwort
Prof. Dr. Jürgen Ritsert vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität, der mir fUr den zweiten Teil dieser Arbeit, insbesondere die AusfUhrungen zur Inhaltsanalyse, wichtige Anregungen gegeben und wertvolle Kritik geäußert hat. Frankfurt am Main, im Oktober 1999
Christoph Roos
Inhaltsverzeichnis A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile - ein Weg zum "durchschauten Richter"? ....................................................................................................
13
I. Latente Gründe richterlicher Entscheidungen - Geschichte eines Verdachts......................................................................................................
14
H. Zu Aktualität und Facetten des Problems latenter Gründe richterlicher Entscheidungen...............................................................................
16
III. Die latenten Gründe richterlicher Entscheidungen - ein "Scheinproblem"?....................................................................................................
20
IV. Psychologische Erklärungsversuche für das Problem der latenten Entscheidungsgründe..............................................................................
22
V. Das "Rechtsgefühl" als Quelle oder Produkt außerrechtlicher Wertungen? ...................................................................................................
27
VI. Soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse über die Ursachen latenter Argumentationen in Entscheidungsgründen......................
31
I. Erkenntnisse über richterliche "Attitüden" ......... ...... ....... ......... ..........
32
2. Insbesondere: "Konservatismus" als latente Grundhaltung des Richters? ...... ~......................................................................................
33
3. "Identifizierung" des Richters mit einer Partei bzw. einem Verfahrensbeteiligten .... ........... .... ....... ........... ..... ... ....... ............... ......... ........
36
VII. Die generelle Problematik eines Rückgriffs auf ethisch-moralische Wertungen in Begründungen richterlicher Entscheidungen ...................
37
VIII. Latente richterliche Wertungen als selbstgeschaffenes Problem unserer Rechtsordnung...................................................................................
40
I. Latente richterliche Wertungen als Produkte einer auf effizienten
Rechtsschutz bedachten Gesellschaft .............................. ......... ..........
40
2. Latente Wertungen als Produkt der gesetzlichen Regelung ...............
41
a) Die Strafgesetzgebung als "Agent" der "Moral" ..................... ,. ....
41
b) Grenzziehung zwischen "außerrechtlichen" und "rechtlichen" Wertungen? ...................................................................................
42
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Inhaltsverzeichnis c) Die strafrechtliche "Generalklausel" als Zwang zum Rückgriff auf "außerrechtliche" Begründungen ... ....... ......... ...... ........... ........
44
d) Das Bundesverfassungsgericht "zwischen den Fronten" ...............
49
e) Die Verfassung als "sicherer Grund" des Richtens(?) ........... ........
51
IX. Die "Offenlegung von Vorverständnissen" als Lösung des Problems latenter richterlicher Wertungen? ...........................................................
53
I. Die Forderung nach "Offenlegung von Vorverständnissen" ..............
53
2. Lüge als Mittel der Rechtsprechung? ..... ............. .......... ...... ...... .........
56
3. Kritik am Postulat einer "Offelllegung" von Vorverständnissen in Entscheidungsgründen ................ ........... ..... ......... ........... ............ .......
60
4. Das Problem eines infiniten Regresses............................... ................
62
X. Statt einer Zusammenfassung ............ ................................ .....................
64
B. Zur Analyse richterlicher Entscheidungen unter Verwendung der soziologischen "Inhaltsanalyse". Zu Chancen und Grenzen einer methodologisch fundierten Ideologiekritik in den Rechtswissenschaften .... .... .....
66
I. Inhaltsanalyse als Instrument der empirischen Sozialforschung.......... ...
68
I. Zum Begriff "Inhaltsanalyse"..... ......... .......... ............. .... ...... ..............
69
2. Vorzüge der Inhaltsanalyse als Verfahren der Textanalyse und -kritik..................................................................................................
70
3. Zur historischen Entwicklung der Inhaltsanalyse...............................
71
11. Die Einzelheiten inhaltsanalytischer Verfahrensweisen .........................
72
I. Quantitativ "oder" Qualitativ? .... ..... .... ................ ........... ............ .......
72
2. Die Analyse latenter Inhalte ............ .............. .....................................
76
3. Zur "Objektivität" der Inhaltsanalyse.................................................
77
4. Reliabilität und Validität als Gütekriterien inhaltsanalytischer Untersuchungen ........................ ................. ....................... ..... ......... ........
82
a) Validität.........................................................................................
83
b) Reliabilität.................. .............. ....................... ......... .....................
85
5. Der Einsatz von Codierem .................................................................
87
III. Hermeneutik als Basis sozialwissenschaftlicher Inhaltsanalyse? ............
90
I. Zur philosophischen Hermeneutik - insbesondere in der von HansGeorg Gadamer ausgeprägten Variante..............................................
91
2. Das hermeneutische Fundament des Modells einer qualitativen Inhaltsanalyse ........... ........ ..................... ....................... .........................
98
Inhaltsverzeichnis
9
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft..................................................
100
I. Juristische Literatur als Objekt inhaltsanalytischer Untersuchungen.
101
2. Die Anwendung inhaltsanalytischer Verfahren auf Urteile deutscher Gerichte.....................................................................................
106
a) Qualitative Inhaltsanalyse von richterlichen Entscheidungsbegründungen aus soziologischer Perspektive ........ ....... ........... ..... ...
107
aa) Einzelheiten der Methode und ihrer Anwendung... .... ....... ......
108
(I) Die "Gütekriterien": Kontext, Singularität, Latenz und Präsenz..............................................................................
I I0
(2) Hermeneutik als (latente) Basis dieses inhaltsanalytischen Modells........... ... ............. ......... ............ ...................
112
(3) Reliabilität der Urteilsanalysen ........................ ,.... ,..... ,.. ,..
113
(4) Validität der Urteilsanalysen.............................................
116
b) Qualitative Inhaltsanalyse von richterlichen Entscheidungen durch Juristen ......... ............ .... .................. ................... ......... .........
121
aa) Beispiel I................ .......................................................... .......
121
bb) Beispiel 2............................................... ............................. .....
125
(I) Reliabilität, Validität und "Objektivität" ... ..... ............. .....
127
(2) Die Kategorien und der interpretationsleitende "theoretische Rahmen" der Untersuchung....................................
130
V. Ideologiekritik versus Methodologie? ....................................................
136
VI. Zusammenfassung und zugleich Begründung daflir, daß vorliegend keine qualitative Inhaltsanalyse der BGH-Rechtsprechung durchgeführt wird ................................................................................................
138
VII. Exkurs: "Dekonstruktion" von Urteilstexten? ........................................
144
C. Die Rechtsprechung des HGH zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § J 7 StGH.................................................................................................
152
I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung" ...........................................
155
I. Der Gewissensbegriff in der Strafrechtsprechung des BG H ..............
156
a) Die frühe Strafrechtsprechung des BGH .......................................
156
aa) Der zeitgeschichtliche politische Kontext...............................
156
bb) Versuch einer Vergangenheitsbewältigung durch (Natur-) Recht .......................................................................................
158
10
Inhaltsverzeichnis cc) Die "Naturrechtsrenaissance" in der Rechtsprechung des BGH in Strafsachen.................................................................
160
dd) Christliches Naturrecht in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Nachkriegszeit ............................................
173
( 1) Ernst von HippeI.. .............................................................
174
(2) Valentin Tomberg .............................................................
178
ee) Exkurs: Die christliche (katholische) Lehre vom Gewissen....
181
ft) "Recht und Ethik" in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in den fünfziger Jahren. Ergebnisse einer zeitgenössischen Untersuchung........................................................
186
b) Zwischenergebnis ..........................................................................
192
2. Die "Gewissensanspannung" als Kriterium des BGH zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrturns. Darstellung und Kritik ...........................
194
a) Maßstäbe und Realität ................ .......... ................ .......... ...............
196
b) "Abgestumpfte Gewohnheitsverbrecher" und eine ..Lebensführungsschuld" als Argumentationshilfen................ .......... ........ .......
197
c) Das Kriterium der "Gewissensanspannung" in der weiteren Rechtsprechung des BGH in Strafsachen........ ..............................
204
d) Die Verwendung des Begriffs "Gewissen" durch den BGH - ein Irrtum? ........ ......................................... ..... .................. ... ..... ...........
206
aa) Verbindungen von Recht und Gewissen in der Lehre Hans Welzels. Darstellung, Kritik und ein Vergleich mit der Rechtsprechung des BGH .... ............ ........................ ...............
210
bb) Ergebnis..................................................................................
216
3. Die Eignung des Kriteriums der "Gewissensanspannung".................
216
a) Das Gewissen und seine Beziehung zur "Sitten-" und Rechtsordnung ......... ................................... ...................................... .......
217
aa) Exkurs: Die Beziehungen von Rechts- und Kulturnormen nach Max Ernst Mayer ............................................................
219
bb) Exkurs: Unrechtsbewußtsein. Schuld und •. Parallelwertung in der Laiensphäre" in der Lehre Arthur Kaufmanns. Darstellung und Kritik .................. ........................ .......... ..............
221
b) Das "stellvertretende Gewissensurteil" des Richters oder: Das "gesollte" Gewissen.......................................................................
227
aa) Die Lehre vom "stellvertretenden Gewissensurteil" des Richters ...................................................................................
227
Inhaltsverzeichnis
II
bb) Kritik der Lehre vom "stellvertretenden Gewissensurteil" des Richters......... .... .............. ........... .... ... .............. ......... .........
229
cc) Gesellschaftliche Bedingungen der Gewissensausbildung ohne Einfluß auf die Berechtigung eines "stellvertretenden Gewissensurteils"? ..................................................................
233
4. Einordnung der BGH-Rechtsprechung...............................................
241
5. Die "Anspannung" des Gewissens .....................................................
244
6. Die "Mauerschützenfälle" - verkannte Anwendungsfälle rur den
unvermeidbaren Verbotsirrtum? ..................... :..................................
245
a) Die Rechtswidrigkeit der Schüsse an der innerdeutschen Grenze............................................................. ......................................
247
b) Die persönliche strafrechtliche Schuld der Mauerschützen ...... .....
267
c) Die "Gewissensanspannung" der Mauerschützen - "Alter Wein in neuen Schläuchen"? ..................................................................
275
11. "Nachdenken" und "Erkundigen" als Kriterien zur Beurteilung der Vermeidbarkeit eines Verbots irrtums .....................................................
286
I. "Nachdenken" als Mittel zur Erlangung der Unrechtseinsicht.... .. ... ..
286
2. "Erkundigung" als Mittel zur Erlangung der Unrechtseinsicht... .. .....
290
III. Mögliche Gründe fur die restriktive Handhabung der Unvermeidbarkeit von Verbotsirrtümern durch den BGH ............................................
294
I. Der Wechsel des Richters in die Perspektive des Angeklagten als Quelle einer verzerrten Perspektive....................................................
295
2. Prävention und Normstabilisierung statt Schuld? ..............................
303
a) Die strafrechtliche Generalklausel des § 17 StGB als multifunktionales Instrument rur die Umsetzung kriminal politischer Zweckmäßigkeitserwägungen .......................................................
304
b) Generalpräventive Erwägungen als Basis der Schuldzuschreibung im Bereich des § 17 StGB - in der Lehre und in der Rechtsprechung des BGH.... ................ ....... .............. ............. ........
307
aa) Zuständigkeit und Zu schreibung - die Position Günther Jakobs'. Darstellung und Kritik..................................................
307
bb) Erhaltung von Normgeltung durch Schuldzuschreibung?......
312
cc) Einordnung der BGH-Rechtsprechung und Vergleich mit den Ergebnissen einer Untersuchung erstinstanzlicher Strafurteile ..... ...... ...... .... ...... ................ ............. ... ............... ............
315
12
Inhaltsverzeichnis
D. Legitimationsprobleme durch gesellschaftlichen Wandel: "Risikogesellschaft" und "Individualisierung". Zur Relevanz eines soziologischen Befundes für die Strafjustiz ............................................................................ 320 1. Die "Risikogesellschaft" .... ........................ .............. ...............................
322
H. Kritik am soziologischen Befund "Risikogesellschaft" und seiner Rezeption im Strafrecht...................... ........................................ .................
323
III. Die Risikogesellschaft als individualisierte Gesellschaft........................
324
I. Was bedeutet "Individualisierung"? ...................................................
325
2. Standardisierung und äußere Konformität als Ausprägungen einer individualisierten "Massengesellschaft" .............................................
330
3. Die individualisierte Massengesellschaft - eine Mixtur aus Unübersichtlichkeit, Entsolidarisierung und permanentem Entscheidungszwang........................................................................................
333
4. Individualisierung - ein Prozeß mit Tradition .................................... 336 a) "Individualisierung" - beobachtet von Max Horkheimer .............. 337 b) "Die Krise der industriellen Gesellschaft".....................................
339
c) Die moderne, individualisierte Massengesellschaft als ,.Neuauflage" der Klassengesellschaft? - Die Position Herbert Marcuses ..
341
5. Die Angst des Individuums in der individualisierten Gesellschaft und ihre Ausnutzung für Zwecke der Kriminalpolitik .......................
344
a) "Der Einzelne in seiner Angst" ..................................................... 344 b) Angst als latente Grundlage einer auf positive Generalprävention abzielenden Kriminalpolitik .....................................................
347
IV. Individualisierung als kriminogener Faktor? ..........................................
349
V. Von der dringenden Notwendigkeit einer neuen Sozialpolitik statt repressiver Kriminalpolitik in der individualisierten Gesellschaft.............
355
VI. Konsequenzen für die Entscheidungspraxis zu § 17 StGB .....................
359
Literaturverzeichnis................................................................................................
365
Sachwortverzeichnis ...............................................................................................
382
A. Die latenten Gründe richterlicher Urteileein Weg zum "durchschauten Richter"?! Immer wieder wird die Vermutung geäußert, daß die richterliche Spruchpraxis "in einem noch kaum bekannten Ausmaß durch außergesetzliche Determinationsfaktoren mitbestimmt (ist), zu denen nicht zuletzt die unbewußten und statusbedingten Wertvorstellungen der Richterschaft gehören."z Ausgangspunkt der Vermutungen zu diesem Thema ist die in der heutigen Rechtstheorie wohl unumstrittene Feststellung, daß Gesetzesanwendung kein rein logisch-deduktiver Vorgang im Wege bloßer Subsumtion eines Lebenssachverhaltes unter eine Norm ist. Vielmehr ist, mehr oder weniger, in jedem Fall aber nicht unbeträchtlicher, Raum rur das Einfließen von subjektiven Momenten, Wertungen, Einschätzungen, Präferenzen usw. vorhanden. Und die Erkenntnis, daß nicht nur gesetzesbezogene Erfahrungen in den Prozeß der Normanwendung bzw. -konkretisierung Eingang finden, sondern z. B. auch soziale Normen, irrationale und persönliche Gründe des Interpreten, ist ebenfalls nicht neu. 3 Der Umstand, daß diese Fragen - damals wie heute - Juristen und andere bewegen, läßt vermuten, daß sie, bei allem hinzugewonnenen Wissen, nicht wirklich beantwortet sind. 4 Oder, pessimistisch gesehen, daß gerade die lange Tradition dieser Problematik die Unmöglichkeit einer Lösung zeigt.
I Vgl. Dieter Simon, Der durchschaute Richter, in: ders., Die Unabhängigkeit des Richters, Dannstadt, 1975, S. 146 ff. 2 Ralf Dreier, Recht - Moral - Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt, 1981, S.52. J Vgl. Ulrich Schroth, Philosophische und juristische Henneneutik, in: A. Kaufmann/ W. Hassemer (Hrsg.), Einfiihrung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg, 1994, S. 344 ff. (366); Richard Schmid, Weltanschauliche Hintergründe in der StratTechtsprechung, in: Wolfgang Böhme (Hrsg.), Weltanschauliche Hintergründe in der Rechtsprechung, Karlsruhe, 1968, S. 31 ff. (34 u. 44); wobei allerdings zuzugeben ist, daß auch in der Rechtswissenschaft ähnliche Probleme bestehen, vgl. Egon Schneider, Der mögliche Einfluß von Soziologie und Psychologie auf den Entscheidungsvorgang des Richters, DRiZ 1975, S. 265 ff. (265): "Von vielen juristischen Theorien ließe sich nachweisen, daß sie im Grunde nichts weiter sind als verallgemeinernd auf die Außenwelt übertragene moralische und weltanschauliche Individualstandpunkte mit all ihren unreflektierten Vorurteilen." 4 Hinzu kommt die Möglichkeit, daß man von Seiten der Praxis u.U. manche Antworten gar nicht haben will, weil sie den zur Entscheidung berufenen Juristen zu unbequemen, selbstreflexiven Fragen zwingen. Vgl. hierzu Dirk Fabricius: Selbst-Gerechtig-
2 Roos
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
Lösung idS meint nun zweierlei: Zum einen ein möglichst vollständiges Wissen um latente Urteilsdeterminanten, zum anderen eine Rezeption und Umsetzung dieses Wissens durch die Praxis. Zunächst soll jedoch gezeigt werden, wie und warum Juristen im 20. Jahrhundert gegen latente Wertungen in richterlichen Entscheidungen stritten.
I. Latente Gründe richterlicher Entscheidungen Geschichte eines Verdachts Am Anfang dieses Jahrhunderts beklagte Ludwig Bendix bereits, daß die Rechtsprechung von "inneren Widersprüchen" durchsetzt sei, weil "der Richter, auch wenn er Ermessensentscheidungen fällt, ihnen den Tabucharakter des Rechts beimißt."s Kurt Tucholsky stellte anläßlich der Besprechung eines Urteils im Jahre 1931 fest, daß in der betreffenden Urteilsbegründung den Juristen "etwas durchgerutscht" sei, "was in Urteilsbegründungen sehr selten zu fmden ist: nämlich die wahren Gründe, die das Urteil hervorgerufen haben. ,,6 Schon am Beispiel der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde die Tendenz erkannt, den Zusammenhang von Defmitionsmacht und Rechtsanwendung durch "technisch-juristische" Hilfsmittel zu verschleiern:
"Der Mensch in seinem tiefen Selbstbetrug oder in seiner höchsten Seelenangst erfindet sich einen logisch-technischen Apparat, mit dessen Hilfe er Kulturideale begründen und gegen andere ihn bekämpfende rechtfertigen kann. Er glaubt auch an die Macht dieser logischen Apparatur einer höchst raffinierten modemen Magie.,,7 Bendix erkannte ein "bestimmtes Kulturideal" als gemeinsame Grundlinie der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen bzw. einen "Prägestock, der, zumeist unbewußt und irrational angewandt, all seinen Entscheidungen den Stempel aufdrückt oder, wenn man will, die beigemischte Substanz, die ihnen (den Urteilen, d. Verf.) ihren eigentlichen Gehalt verleiht": die "obrigkeitliche Staats - und Strafauffassung."g Diese Kritik Bendix' bezog sich auf eine den wilhelminischen Traditionen sich verpflichtet fühlende
keit. Zum Verhältnis von Juristenpersönlichkeit, Urteilsrichtigkeit und "effektiver Strafrechtspflege", Baden-Baden, 1996, S. 75, 152 f., 276 ff. 432 ff. 5 Ludwig Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters und andere Schriften, NeuwiedlBerlin, 1968, S. 377; vgl. idS und zu Bendix' Auffassung auch: Max Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, Frankfurt am MainlHamburg, 1962, S. 143 f. 6 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke Bd. 9 (1931), hrsg. von Mary Gerold-TucholskylFritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg, 1975, S. 204. 7 Ludwig Bendix, Die irrationalen Kräfte der strafrichter lichen Urteilstätigkeit, Berlin, 1928, S. 133. • Bendix, aaO, S. 136.
I. Latende Gründe richterlicher Entscheidungen
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Richterschaft, die sich in (offener oder verdeckter) Opposition zum republikanisch-demokratischen Staatsideal befand. In ihrem Staatsideal sah er einen ethisch-politischen Maßstab zur Entscheidung verschiedener Deutungsmöglichkeiten von Tatsachen und Rechtssätzen, nicht im Sinne eines logischen Verfahrens, sondern "im Sinne eines irrationalen Verhaltens, einer gefilhls- und willensmäßigen Einstellung, die das logisch-juristische Verfahren, Auslegung und Konstruktion, prägt und bestimmt, die eben rur beide forrn- und richtunggebend ist".9 Auch die gefährlichen Konsequenzen der damaligen Entscheidungspraxis wurden früh gesehen: "Die inneren, wahren, eigentlichen Entscheidungsgründe bleiben also unverantwortet und unkontrolliert. Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet, nämlich dem Einfluß allerhand unsachlicher Gefilhle, falscher Verallgemeinerungen von persönlichen Erlebnissen, oberflächlicher oder halbsachverständiger Meinungen, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher oder sonstiger Vorurteile, halbverdauter Lesefrüchte, privater Erkundigungen, von Liebhabereien und Steckenpferden. Diese tarnende und lichtscheue Methode stellt also eine Art geistiger Kabinettsjustiz dar, eine verkappte Gefilhlsjurisprudenz.,,10 Ernst Fuchs nannte diese Methode "Geheimfreirechtlerei,,11 bzw. "Pseudophilologie und Kryptosoziologie".12 Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß sich die sog. Freirechtsschule, zu deren exponiertesten Vertretern Ernst Fuchs zählte, gleichfalls mit dem Willkürvorwurf konfrontiert sah, da man ihr völlige Auflösung der Gesetzesbindung unterstellte: "Freirecht", so wurde entgegnet, heiße eigentlich "frei vom Gesetz". Daß dieser Vorwurf ebenso polemisch wie unzutreffend war, ist heute bekannt. Der Freirechtsschule ging es eben nicht um Entscheidungen gegen das Gesetz, sondern um die Frage, wie der Richter mangels eindeutiger oder bei gänzlich fehlender, gesetzlicher Regelung zu verfahren habe. 13 Nach der Lehre der Freirechtsbewegung sollte der Richter sich eine möglichst umfassende Kenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit aneignen und darauf vertrauen, "daß er auf Grund solcher Kenntnis eine bessere Entscheidung zustande
9 Bendix, aaO, S. 138; problematisch an dieser Kritik ist allerdings, daß sie ohne nähere Erläuterung eine auch von Gefiihlen geleitete Entscheidungspraxis mit Irrationalität gleichsetzt und nicht näher die jeweiligen Anteile von "Gefiihl" und "Willen" darlegt. 10 Ernst Fuchs, Gerechtigkeitswissenschaft. Ausgewählte Schriften zur Freirechtslehre, hrsg. v. Albert Foulkes/Arthur Kaufmann, Karlsruhe, 1965, S. 25 f. 11 Ernst Fuchs, aaO, S. 26. 12 Ernst Fuchs, aaO, S. 77. 13 Vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Kaufmann! Hassemer, S. 146 f.; so auch Thomas Raiser: Einfiihrung in die Rechtssoziologie, 2. Aufl., Berlin, 1973, S. 63.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
bringen werde. Eine methodische Anleitung, wie aus den Tatsachen die rechtliche Entscheidung abgeleitet werden könnte, blieb man aber schuldig.,,14 Entscheidend ist jedoch der oben bereits genannte Aspekt, daß eine Gesetzeslücke nach der freirechtlicher Lehre nicht erst dann vorlag, wenn überhaupt keine einschlägige, gesetzliche Regelung existierte, sondern schon bei gesetzlichen Regelungen, die nicht nur eine Auslegung zulassen. Letzteres kennzeichnet aber einen erheblichen Teil unseres Normenbestandes. 15 Fritz Brecher hat am Beispiel der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen in den ersten Jahrzehnten das Fortwirken dieses Phänomens erkannt: Jede rein begriffsjuristisch sich gebärdende Ableitung sei eine Scheinbegründung: "Besten- oder (schlimmsten-)falls wurde an einem Punkt des Weges eine Wahl willkürlich getroffen. Dahinter stecken aber durchweg interessengebundene oder gefiihlsmäßige oder nicht selten sogar echte, aber subjektivistisch und nicht justitiabel diskriminierte und deshalb mit schlechtem Gewissen angewandte oder ins Unterbewußte verdrängte materiale Wertungen.'.I6 Daß sie notwendig ein "falsches" Ergebnis bewirken muß, ist indes nicht gesagt: "Die Diagnose einer Scheinbegründung dagegen sagt als solche nichts aus über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Ergebnisses. Sie entsteht, wenn die nach außen kundgegebene Ableitung der Entscheidung bewußt oder unbewußt nicht übereinstimmt mit derjenigen, die in Wahrheit stattgefunden hat.,.!7 Dabei wird vermutet, daß in den meisten Fällen dem Richter diese Diskrepanz nicht nur bewußt ist, sondern daß auch die latenten Wertungen "von ihm wohlüberlegt und einsichtig vollzogen" werden. 18
11. Zu Aktualität und Facetten des Problems latenter Gründe richterlicher Entscheidungen Der Widerspruch zwischen Herstellung und Darstellung des Urteils scheint, blickt man in die rechtstheoretische und rechtssoziologische Literatur, fortzu-
14 Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie. Ein Lehrbuch. KölnlBerlinlBonnlMünchen, 1987, S. 45 f. 15 Vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 147. 16 Fritz Brecher, Scheinbegründungen und Methodenehrlichkeit im Zivilrecht, in: FS für Arthur Nikisch, Tübingen, 1958, S. 227 ff. (236). 17 Brecher, aaO, S. 231. 18 Robert Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel! Stuttgart, 1969, S. 95.
H. Aktualität und Facetten des Problems
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bestehen. 19 Und er scheint - nach wie vor - nicht auf die Rechtsprechung in Strafsachen beschränkt zu sein. 20 So beschreibt Jürgen Brüggemann die Erfahrung, daß ein großer Teil der Praktiker methodische Erwägungen scheue und die mitgeteilten Gründe weder den Weg der Erkenntnisgewinnung widerspiegelten noch die nachträgliche logische Kontrolle des intuitiven Erkenntnisses verdeutlichten. Die Auswahl der Gründe bei der schriftlichen Fixierung der Urteilsbegründung werde häufig vornehmlich unter dem Gesichtspunkt getroffen, die gefiihlsmäßige Entscheidung als solche möglichst nicht in Erscheinung treten zu lassen. 21 Die Motive dieser "gefiihlsmäßigen" Entscheidung seien psychologische oder soziologische Steuerungsfaktoren, abhängig von bewußten und unbewußten Vorstellungen und Antrieben und wiesen auf Erziehung, Lebensgewohnheiten, Interessen, Bedürfnisse, politische und religiöse Beziehungen der Richterpersönlichkeit hin. 22 Andere stellen fest, daß es in der täglichen juristischen Praxis verbreitet sei, in bewußter Einseitigkeit bestimmte Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Dieses Verdecken von Wertantinomien geschehe, indem Gesichtspunkte, die rur eine gegenteilige Wertung sprechen und daher gegenüber den genannten abzuwägen wären, ausgelassen würden. 23 Auf die "außerrechtlichen" Einflüsse wird von Richtern also unterschiedlich reagiert: 24 Zunächst kann jeglicher subjektive Einfluß auf die Entscheidungsfindung geleugnet werden. Dies dürfte allerdings heute nur noch auf eine verschwindende Minderheit unter den Richtern zutreffen. Die Mehrheit dürfte, z. B. in privaten Gesprächen, im Kollegenkreis oder in anonymen Fragebögen, ihre politischen, religiösen, gesellschaftlichen und sonstigen Einstellungen und deren Auswirkungen auf ihre Entscheidungstätigkeit zwar einräumen, aber eben nur informell. In "amtlicher Funktion" bzw. als "Rollenträger" werden sie nicht zugestanden.
\9 Vgl. z. B. die Feststellung von Ulfrid Neumann, "Der Begrundungszusammenhang zwischen moralischen Normen und den Regeln des Strafrechts bleibt in der Begründungspraxis der Gerichte im allgemeinen latent.", in: Heike JunglHeinz Müller-DietzJ Ulfrid Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, Baden-Baden, 1991, Deontologische und teleologische Positionen in der rechtlichen und moralischen Beurteilung von Sterbehilfe und Suizidteilnahme, S. 393 tf. (393) . 20 Vgl. etwa: Brecher, aaO, S.227 tf.; Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin, 1967, § 59: Offene und verdeckte Urteilsgründe, S. 218 ff. 2\ Vgl. Jürgen Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, Berlin, 1971, S. 57 f. 22 Brüggemann, aaO, S. 61. 23 Christi an Clemens, Strukturen juristischer Argumentation, Berlin, 1977, S. 30 f. 24 Rolf Lamprecht, Das Richterbild Außenstehender, DRiZ 1988, S. 161 ff. (162).
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
Angesichts dieser Stellungnahmen zur juristischen Entscheidungspraxis verwundert es nicht, daß bereits vor mehr als zwanzig Jahren konstatiert wurde, der juristische Determinismus sei überwunden. 25 Es wurde allerdings die besondere Problematik gesehen, daß damit zugleich ein wichtiges Argument fiir die Rechtfertigung vor allem der richterlichen Entscheidungstätigkeit als bloße Gesetzesanwendung entfallen war und sich Legitimationsnöte dieser Tätigkeit erneut (und vielleicht schärfer als zuvor) offenbarten. Diese Kritik war jedoch schon damals mit dem Eindruck verbunden, daß vor allem die Justiz die Überwindung des Determinismusmodells aufgrund rechtspsychologischer und -soziologischer Erkenntnisse und die damit (wieder) neu gestellten Fragen nach den die richterliche Entscheidung beeinflussenden Faktoren nahezu gleichgültig zur Kenntnis nehme und scheinbar unbeeindruckt in ihrer Tätigkeit fortfahre. 26 Eine geradezu exemplarische Bestätigung rur diese Vermutung stellt die folgende Äußerung aus richterlicher Perspektive dar: Nach der Feststellung, daß der Richter das Gesetz nicht nach seinen Gerechtigkeitsvorstellungen korrigieren oder nach seinen gesellschaftlich-politischen Wertungen fortbilden dürfe, wird ausgeruhrt, die Rechtsprechung sei die Ausübung von Staatsgewalt durch Menschen, von denen man im voraus wisse oder annehmen könne, daß sie keinem wie immer gearteten Willen zu Diensten stehen, sondern selbst in einem rein rationalen Verfahren dem objektiven Sinn der generell-abstrakten Norm, die sie vollziehen und ihrem Gewissen gehorchen müßten. Schließlich verkörpere das Gericht auf der Seite des Staates "das kritisch-oppositionelle Element wider eine unvernünftige Obrigkeit", es schiebe "den Riegel vor gegen Willkür, gleich welcher Art, und gegen den Willen zur Macht." 27 Von Unsicherheit und kritischer Distanz zur eigenen Tätigkeit also keine Spur. Im Gegenteil: Hier wird ein naives Vertrauen auf die Bindungskräfte der Normen sichtbar, das sich mit einem offenbar uneingeschränkten Vertrauen in eine "Objektivität" der Richter vereinigt. Schon die erste Prämisse dieses Lobliedes auf die richterliche Gewalt erweist sich jedoch als nicht haltbar: Selbstverständlich stehen Richter einem "wie immer gearteten Willen" zu Diensten -
Fridel Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, Berlin, 1974, S. 15. Eckhold-Schmidt, aaO, S. 15; in dieselbe Richtung geht auch die Kritik von Werner Hili, Wie politisch dürfen Richter sein?, in: DRiZ 1986, S. 81 ff. (86): Dieses traditionelle Richterbild wird auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung weiterhin gestützt. Das BVerfG hat durch einen Vorprüfungsausschuß-Beschluß im August 1983 festgestellt, zu den Pflichten des Richters zähle es vor allem, daß er "sein Amt politisch neutral als Diener des Rechts" wahrnehme .... (und spricht mehrfach von) "der Richterschaft" ... , in deren Unabhängigkeit, Objektivität und von persönlichen Wertungen freie Vorurteilslosigkeit "die Allgemeinheit" Vertrauen haben mUsse. 27 Hans-JUrgen Wipfelder, Der Richter - ein Bürger wie jeder andere?, DRiZ 1987, S. 117 ff. (118). 25
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11. Aktualität und Facetten des Problems
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ihrem eigenen! Gerade weil sie keine Automaten zum Vollzug eines "objektiven" Gesetzeswillens sind, sondern Persönlichkeiten mit eigenen Wertvorstellungen, spielt dieser Wille eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidungsfmdung. Abgesehen davon ist nur schwer nachvollziehbar, wie der - einmal als möglich unterstellte - bloße Vollzug eines "objektiven" Gesetzessinnes mit der Verpflichtung durch das eigene Gewissen konform gehen sollte. Entsprechen doch bekarmtlich die Normen des Gesetzgebers längst nicht in jedem Fall denen des individuellen Gewissens. Ist es nicht der denkbar schwerste Konflikt fiir einen Richter, zwischen Gesetz und Gewissen "wählen" zu müssen? Auch ist es keineswegs Aufgabe "der Gerichte", in Opposition zu einer "unvernünftigen Obrigkeit" zu stehen und einem - dunkel umschriebenen - "Willen zur Macht" zu trotzen. Mag man hier noch am ehesten an die Verfassungs- und die Verwaltungsgerichtsbarkeit denken, ist es doch schwerlich "Unvernunft", die sie verhindern oder korrigieren sollen, sondern Rechtswidrigkeit. Unbeabsichtigt offenbaren gerade diese Vorstellungen von der Rolle des Richters als kritischem Widerpart der unvernünftigen "Mächtigen", die scheinbar ohne weiteres mit dem überholten Postulat eines schlichten Gesetzesvollzuges kombiniert werden, wie wichtig ein Ausleuchten dieser verdeckten Motive richterlicher Tätigkeit ist. Denn gerade die richterliche Entscheidung bietet die Möglichkeit, politische, gesellschaftliche, religiöse und weitere Vorverständnisse subtil zu transportieren, also die latenten Gründe richterlicher Urteile. Diese verdeckten Urteilsgründe werden von manchen als "Ärgernis" fiir Wissenschaft und Forschung angesehen. 28 Zum einen aus dem Interesse an transparenten, nachvollziehbaren Begründungen richterlicher Entscheidungen gerade weil sich die Erkenntnis weitgehend durchgesetzt hat, daß der Richter seine Persönlichkeit im Entscheidungsprozeß nicht vollständig ausblenden karm und soll. Zum anderen sind die latenten Gründe richterlicher Urteile vor allem rur die Rechtswissenschaft ein "Ärgernis", weil sie sich dem sicheren Zugriff auch des kritischen Lesers vielfach entziehen. Es wird im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt werden, wie schwierig nicht selten das Aufspüren und Analysieren dieser latenten Wertungen und wie unzureichend noch immer das Instrumentarium ist, das der Rechtswissenschaft hierfiir zur Verfiigung steht. Aber: Karm man es nicht - so könnte ein möglicher Einwand lauten - bei der Einsicht bewenden lassen, daß es diese latenten Einflüsse und Faktoren richterlicher Urteile nun einmal gibt und daß man - so trivial dies erscheinen mag dem Richter einfach vertrauen müsse, er werde schon alles richtig machen, wie es in dem oben angesprochenen Beispiel anklingt? "Funktioniert" nicht die
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Arthur Kaufmann, Grundzüge der Rechtsphilosophie, München, 1994, S. 57.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
Rechtsprechung auch ohne die Offenlegung solcher verdeckten Motive? Und weiter: Funktioniert sie vieIIeicht nur deshalb (noch), weil man diesen Motiven keine große Beachtung widmet? Handelt es sich nicht "bei aIIdem nur um Schul-, nicht um Sachprobleme, da es letztlich nur auf ein praktisch brauchbares Ergebnis" ankommt?29
III. Die latenten Gründe richterlicher Entscheidungen ein "Scheinproblem"? Diesen Standpunkt kann man vertreten, "wenn man die Rechtssätze lediglich als Handwerkszeug ohne Eigenwert ansieht, das aIIenfaIIs eine gewisse Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit der Urteile gewährleisten soll.,,30 Selbst wenn man dieser Auffassung zuneigte, bliebe aber der Einwand daß die maßgeblichen Gedankengänge nicht nachvoIIziehbar sind und damit selbst eine formelle KontroIIierbarkeit und Absicherung gegen subjektive Einflüsse nicht gegeben ist. 31 Das wäre aIIerdings ein Ergebnis, das schwer erträglich erscheint, zumindest aber aIIen Anlaß bietet, diesem Phänomen einmal mehr nachzuspüren. Ist doch die Transparenz von Entscheidungswegen und -begründungen ein Essentiale der Demokratie. Daß diese latenten Determinanten der Urteile enorme Bedeutung haben könnten, wurde, wie ausgeruhrt, bereits von Ernst Fuchs vermutet, der diejenigen sogar als die eigentlichen Urteils gründe bezeichnete, "die nicht im schriftlichen Urteil stehen.,,32 Träfe diese Vermutung zu, stünde dies in krassem Widerspruch zur Regelung des § 313 III ZPO, nach der der Richter verpflichtet ist, die das Urteil tragenden Gründe in die schriftliche Urteilsbegründung aufzunehmen. Das sind diejenigen, auf denen das Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Gleiches würde rur den detaillierten Anforderungskatalog ruT die Begründung von Strafurteilen in § 267 StPO gelten. Zudem ist zu bedenken, daß eine "Scheinbegründung" nahezu immer eine Fehlbegrundung darsteIlt, da entweder die verdeckte Begründung die sachlich zutreffende ist - dann müßte sie aber auch genannt werden - oder gar die offene und die verdeckte Begründung unzutreffend sind. 33
29 V gl. zu diesem Einwand: Brecher, Scheinbegründungen, S. 231. 30 Vgl. dazu Brecher, aaO, S. 231.
Brecher, aaO, S. 232. Fuchs, aaO, S. 77; ähnlich Bendix, Die irrationalen Kräfte, S. 144. 33 Brecher, Scheinbegründungen, S. 232. 31
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III. Ein "Scheinproblem"?
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Zumindest einen kleinen Teil dieser Gründe an Beispielen aus der strafrechtlichen Judikatur des BGH aus dem argumentationstheoretischen "Dunkelfeld" herauszulösen und zu analysieren ist ein Ziel der nachfolgenden Untersuchung, denn es spricht m. E. einiges dafur, "daß erst die Erforschung und Erkenntnis der ethisch-politischen Grundlagen unserer Wissenschaft ihr wahres Verständnis ermöglicht. ,,34 Der Nutzen dieser Untersuchung wäre allerdings gering, wenn es bereits ein "System anerkannter Scheinbegründungen" gäbe, es also deshalb keine "Schein"begründungen mehr wären. 35 Vielleicht kann diese Untersuchung deutlich machen, daß wir weniger weit entfernt von der Anerkennung eines solchen Systems sind, als man gemeinhin annehmen möchte. Es wird teilweise sogar eine Notwendigkeit gesehen, in den Urteilsgründen zu "wohltätigen, vermittelnden, transformierenden" Scheinbegründungen zu greifen, wenn "neue Ideen, Wandlungen der Wertvorstellungen, philosophische Einsichten, soziologische oder wirtschaftliche Erkenntnisse oder technische Errungenschaften rechtsförmig gemacht und bewältigt werden müssen.,,36 Selbst im Dienst einer guten Sache - was immerhin erst einmal der Klärung bedürfte muß doch auch hier die Frage erlaubt sein, ob ein solcher Weg der Heimlichkeit und der Täuschung der richtige ist. Zeugt es nicht von mangelndem Vertrauen in die eigenen Argumente, wenn diese nur verklausuliert und "maskiert", vielleicht auch überhaupt nicht angefuhrt, sondern mit Scheinbegründungen verdeckt werden? Was sind es fur "technische Errungenschaften" und "philosophische Einsichten", daß es offenbar nötig ist, ihre Akzeptanz mit Täuschung zu erwerben? Gerade das mangelnde Vertrauen in die Überzeugungskraft der eigenen Argumente, vielleicht sogar mangelndes Selbstvertrauen, läßt sich dann trefflich mit einem Rollenverständnis kaschieren, nach dem der Richter nur ein jederzeit auswechselbarer Kompilator verschiedener Normbereiche ist und weiter der Justiz-Syllogismus als hinreichende Erklärung richterlichen Entscheidens bemüht wird. Ein solches Verständnis des Richters, aber auch des Juristen allgemein, wurde bereits als "Lebens lüge Nr. I" der Juristen bezeichnet. 37 Der Richter werde vielfach nur als "Rolle" im "System Justiz" verstanden, die aus einem Bündel von Verhaltenserwartungen und daran orientierten Handlungen zuBendix, Die irrationalen Gründe, S. 139. Vgl. Brecher, Scheinbegründungen, S. 232. 36 Brecher, aaO, S. 247. 37 M. Drath, Die Rolle der Justiz im demokratischen Rechtsstaat, in: Die Funktion der Justiz in der modemen Gesellschaft, Loccumer Protokolle, 1965, NT. 8, S. 43, zit. nach Jörg Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, in: M. RehbinderiR. Jakob (Hrsg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, Ber1in, 1987, S. 135 ff. (135). 34 35
A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
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sammengesetzt sei, während er als Mensch zur Umwelt dieses Systems gehöre, "nicht anders als der Advokat, der Verbrecher, der Bürger schlechthin.,,38 Die von ihm zu leistende Rechtsanwendung wird nunmehr wohl überwiegend als "aktivgestaltender Akt" verstanden, in dem Norm und Sachverhalt "gleichgesetzt" werden. Diese Gleichsetzung sei "niemals Determination und Subsumtion, auch nicht nur Interpretation, sondern Dezision und also eine Äußerung von Macht.,,39 Für andere ist das Gesetz "nur Richtschnur, nicht mehr.,,40 Der Richter sei dem Gesetz eben nicht unterworfen, sondern das Gesetz sei rur ihn "nur Leitlinie, um die Richtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft zu erkennen, um danach seinen Dienst am Menschen mit Hilfe des Rechts auszufiihren".41 Das Richterbild schwankt also zwischen Subsumtionsautomat und selbst- und machtbewußtem Subjekt. Psychologie und Soziologie haben sich dieser Sichtweisen schon früh angenommen und bieten Erklärungen fiir diese Rollenverständnisse an, die im folgenden betrachtet werden sollen.
IV. Psychologische Erklärungsversuche für das Problem der latenten Entscheidungsgründe Ernst Fuchs kritisierte schon am Richter der "alten Schule", daß dieser "insgeheim nach dem von ihm rur wünschenswert gehaltenen Ergebnis" schiele. 42 Die Gründe, aus denen er dieses Ergebnis erstrebe, mache er sich aber entweder selbst nicht klar, oder er verstecke sie hinter Systemlogik. 43 Diesen Vorwurf haben die Hermeneutik und Teile des methodologischen Schrifttums immer wieder erneuert, gleichzeitig aber entkräftet, indem sie die Unvermeidbarkeit der Vorverständnisse darstellten. So behauptet etwa losef Esser, daß der Richter als Interpret von Gesetzen sich in der Konfrontation mit dem zu entscheidenden Fall eine Vorstellung von einer gerechten Lösung bilde, noch bevor er die Interpretation des Gesetzes nach den herkömmlichen Metho38 Niklas Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung im politischen System, in: Gerd Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, Darmstadt 1982, S. 329 ff. (329).
39 Kaufmann, Grundzüge, S. 77. Theo Rasehorn, Was formt den Richter?, in: Böhme, Weltanschauliche Hintergründe in der Rechtsprechung, S. 1 ff. (17). 41 Rasehorn, aaO, S. 17. 42 Fuchs, aaO, S. 25. 43 Fuchs, aaO, S. 25. Allerdings wird auch Ernst Fuchs, ebenso wie Ludwig Bendix, ideologische Verfarbung ihrer richtersoziologischen Versuche, die wahren Entscheidungsgrundlagen aufzudecken, vorgehalten, vgl.: Henning Eikenberg, Voraussetzungen und Schwierigkeiten der empirischen Erforschung richterlicher Entscheidungsgrundlagen, in: Jahrbuch rur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I, Bielefeld, 1970, 40
S. 361 ff. (362).
IV. Psychologische Erklärungsversuche
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den durchgefiihrt habe. 44 Die Funktion der Interpretationsmethoden bzw. Auslegungscanones soll nur darin bestehen, ein vorgefaßtes Ergebnis dogmatisch zu begründen. 45 Um über "unbewußte" und bewußt verdeckte Determinanten der richterlichen Entscheidungsfmdung Erkenntnisse oder zumindest eine Orientierung zu erlangen, sieht man sich auf die Forschungsergebnisse der Rechtspsychologie bzw. der "Richterpsychologie" verwiesen. Der Richter - so ist zu erfahren - fmde sein Ergebnis "intuitiv", um es erst nachträglich einer rationalen Kontrolle zu unterziehen. 46 Je schwieriger die Rechtsmaterie und der Prozeßverlauf sich gestalteten, desto stärker werde beim Richter die "innere Spannungs lage", in der er mit zunächst unvereinbar erscheinenden subjektiven Wertungen und Multivalenzen unter Entscheidungsdruck ringe. 47 Und in diese, vielfach von Streß geprägten, Entscheidungslage gelangten gerade die unterbewußten bzw. nicht reflektierten (Vor-)Wertungen zur Geltung: Das Unbewußte beeinflusse nicht nur die Formulierung bestimmter Aussagen, sondern schon die Auswahl der Aussagen. Dies gelte in ähnlicher Weise für die sprachliche, grammatikalische und inhaltliche Auslegung der Gesetze. 48 Auch machten die Erkenntnisse der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie deutlich, daß die in einer Faktenfeststellung sich vollziehende Wahrnehmung von vorbewußtenFragestellungen zielintendiert sei. Eine "erfolgreiche" Fragestellung setze die Dynamik des bereits rechtlich thematisierten Suchens voraus: Der Richter müsse bei der Sachverhaltserfassung in der Phase der Unorientiertheit schon wissen, was er wissen wolle. 49 Doch ist das, was der Richter will auch noch das, was "das Gesetz" will? Um dies zu beantworten, müßte zunächst geklärt werden, welche latenten Wertungen denn nun wirksam werden. Über den Inhalt dieser latenten Wertungen erfährt man allerdings wenig. Und auch die Ergebnisse der rechtspsychologischer Untersuchungen sind nicht einheitlich. So wird einerseits festgestellt, daß es dem Richter wegen des durchgängigen emotionalen Bezugs allen volitiven und kognitiven Verhaltens unmöglich sei, ein Geschehen wert-indifferent zu erfassen und juristisch "neu-
44 losef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt, 1972, S. 16 u. 123. 45 Esser, aaO, S. 16. 46 Berkemann, aaO, S. 137. 47 Berkemann, aaO, S. 137 f. 48 Raimund Jakob: Argumentation und Identifizierung. Tiefenpsychologische Aspekte juristischer Rhetorik., in: JakobIRehbinder: Beiträge zur Rechtspsychologie, S. 151 ff. (153). 49 Berkemann, aaO, S. 138.
A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
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tral" zu beurteilen. 50 Von anderen wird gerade dies für möglich erachtet - allerdings erst, nachdem sich der Richter die Neutralität "erarbeitet" habe. 51 Objektivität und Neutralität würden erreicht, indem "alle Subjektivität mobilisiert" und Parteilichkeit "maximiert" werde. 52 Im Kern geht es aber auch nach dieser Auffassung um das viel geforderte Offenlegen von Vorverständnissen und Voreingenomrnenheiten53 , um diese so zu entkräften. 54 Freilich kann Subjektivität auch in anderer Weise "mobilisiert" werden:
In Entscheidungssituationen, in denen sich der Richter der Mehrdeutigkeit rechtlicher Wertungen bewußt werde, beeinträchtige dieser Konflikt U.U. seine Psyche so nachhaltig55 , daß eine "affektive Harmonisierungsstörung in der psychischen Befindlichkeit des Richters" eintrete. Diese "Störung" wolle der Richter dann - bewußt oder unbewußt - beseitigen. 56 Probates Mittel hierzu ist dann eine Argumentation in den Entscheidungsgrunden, die den aufgetretenen Konflikt überspielt bzw. nicht sichtbar werden läßt. Besonders gut hierzu eignen sich allerdings fremde Auffassungen und Argumente dann, wenn sie den eigenen möglichst ähnlich sind. Dann kann der Konflikt ohne größere Schwierigkeiten überwunden werden. 57 Problematischer ist dagegen etwa die Situation, in der sich ein Richter aus pragmatischen Gründen einer fremden Auffassung beugt, wie dies etwa bei einer für unzutreffend erachteten Rechtsprechung höherer Instanzen der Fall sein kann. Ob es dagegen zutrifft, daß gerade dort, wo Interessen oder Gefühle des entscheidenden Richters berührt werden, bewußte oder unbewußte Werthaltungen, Gefühle etc. "übermächtig" sind, und zwar vor allem dann, wenn die Entscheidung sich als "rein rational, als aus gesetzlichen Normen, wissenschaftlichen Rechtsbegriffen, Präjudizien deduziert" darstellt,58 ist eine schwer zu verifizierende Behauptung. Daß auch am Beispiel der nordamerikanischen Strafjustiz, die sich bekanntlich tiefgreifend von der deutschen unterscheidet, derselbe Verdacht von einem prominenten Strafrichter geäußert wurde, illustriert aber
50 Berkemann, aaO, S. 138. 51 Fabricius, Selbst-Gerechtigkeit, S. 181 ff. 52 Fabricius, aaO, S. 176. 53 Vgl. etwa Fabricius, aaO, S. 186. 54 Dazu noch eingehend unter IX. 55 Berkemann, aaO, S. 139. 56 Berkemann, aaO, S. 139; ähnlich auch: Ulfrid Neumann, Der "mögliche Wortsinn" als Auslegungsschranke in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH, in: Eike v. Savigny u. a.: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, München, 1976, S. 42 ff.
(51).
57 Weimar, aaO, S. 92. 58 So: Richard Schmid, aaO, S. 34.
IV. Psychologische Erklärungsversuche
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die grundsätzliche Bedeutung des Problems und erhöht die Plausibilität dieser Theorie: Die amerikanische Strafjustiz betreffend wurde vermutet, daß nicht nur die eigentlich korrupten, sondern auch diejenigen Richter, die am meisten von den Einflüssen ihrer Geruhle und Interessen beherrscht sind, eben die sind, die am peinlichsten die Sprache juristischer Logik sprechen und die am meisten Wert auf den Anschein legen, nichts als geltende Rechtssätze entdeckt und ausgelegt zu haben. 59 Entsprechend wurde - diesmal die deutsche Justiz betreffend - festgestellt, daß gerade "bei pedantisch genauen, mit einem extremen Maß an Scharfsinn und Akribie ausgedachten Argumentationen" oft den Eindruck entstehe, daß "etwas nicht stimmt. ,,60 Weit davon entfernt, dies allen Richtern unterstellen zu wollen, scheint mir folgende Erklärung rur die Tendenz, die "außerrechtlichen" Grundlagen der Urteile zu verbergen, nicht völlig abwegig: sie sei "psychologisch nur aus dem sicher zumeist unbewußten elementaren Bestreben heraus verständlich, kurzen Prozeß zu machen, sich die Richterarbeit zu vereinfachen und zu erleichtern, mit der Sache besser und schneller fertig zu werden .... und der Richter ... wird mit ihr am bequemsten fertig durch einen entsprechenden logisch-juristischen Apparat.,,61 Auf diese Weise könne Gesetzestreue des Richters aufs Beste mit der vielbeschworenen Arbeitsökonomie verbunden werden: Folge der Richter den Vorschlägen des Gesetzes, spare er sich die weitere Begründung seiner Entscheidung. So brauche er nicht lange nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen und entgehe der aufwendigen Folgendiskussion: "Menschliche Bequemlichkeit ist die einfachste soziologische Erklärung rur die Gesetzestreue der Richter. Voraussetzung ist natürlich, daß das allgemeine soziale Klima die prinzipielle Gleichsetzung von Gesetz und Recht bejaht. Diese Voraussetzung ist aber heute ohne Frage gegeben.,,62 Der Richter könne sich so auf die "formalen Segmente" seiner Rolle zurückziehen und damit die "informalen Segmente" von sich wegschieben, um einen Konflikt unter den informalen Segmenten zu überbrücken. Unabhängigkeit, Anonymität und Beratungsgeheimnis erleichterten es ihm, unbequeme Anforderungen zurückzuweisen. 63 Man entdeckt kaum einen Unterschied zwischen diesen Hinweisen auf die spezifische Motivationslage des Richters und der anderer "Rollenträger" oder 59 Jerome Frank, zit. nach Schmid, aaO, S. 38 f.; Das entscheidende Moment richterlicher Urteilsfindung vermutete er in der Umsetzung einer irrationalen, nur psychologisch erklärbaren Dezision., vgl. dazu, Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, S. 54. 60 Brecher, Scheinbegründungen, S. 236. 61 Bendix, Die irrationalen Gründe, S. 142. 62 Klaus F. Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, Tübingen, 1974, S.132. 63 Rüdiger Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters, S. 393.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
beliebiger Individuen: Unbestritten ist es immer einfacher, Konflikte zu umgehen als sie durchzustehen. Rückzug auf Formen und Förmlichkeiten kann auch nicht unbeträchtlichen Selbstschutz bedeuten, bietet doch das Offenbaren persönlicher Überzeugungen, Präferenzen, Antipathien usw. immer Angriffsflächen. Wenn es sich also um ein allgemeines und keineswegs "richterspezifisches" Phänomen handelt - warum schenkt man ihm dann gerade bei Richtern zumindest in der Wissenschaft - so besondere Beachtung? Dies wurde bereits oben erläutert, soll aber nochmals am Beispiel des Strafrichters verdeutlicht werden: Wer, wie die Strafjustiz, den Anspruch erhebt, die "materielle Wahrheit" zu erforschen, begibt sich seiner Glaubwürdigkeit, wenn er selbst täuscht. Zum anderen korrespondiert der Handhabung des schärfsten Sanktionsinstrumentariums, das unsere Gesellschaft fiir abweichendes Verhalten bereithält, auch eine besondere Verantwortung. Zu erfahren, wie diese besondere Verantwortung wahrgenommen wird, ist ein legitimes Interesse. Es ist dasselbe Interesse, um dessentwillen ursprünglich die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen eingerichtet wurde. 64 Daß dieses Interesse heute vielfach einer abstoßenden Sensationsgier gewichen ist, mag man zu Recht bedauerlich fmden. Die mangelnde Ausübung dieses Aspektes der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ändert jedoch nichts daran, daß die Grundgedanken einer öffentlichen Kontrolle richterlicher Tätigkeit nach wie vor gültig sind. Von zentraler Bedeutung ist deshalb immer noch, wie der Richter mit dem Konflikt umgeht, der sich aus einer mehrdeutigen Gesetzeslage mit verschiedenen Entscheidungsalternativen ergibt. Denn an dieser Stelle entscheidet sich u.a., wie es um die verfassungsrechtliche Bindung des Richters an "Recht und Gesetz" steht. Und genau hier enden verläßliche Erkenntnisse über den richterlicher Entscheidungsprozeß: Dunkel ist von der Phase der "Umstrukturierung,,65 die Rede, in welcher der Richter "Widerstände gegen das den Konfliktsfall abschließende Urteil" beseitige und "insbesondere von guten Rechtsausfiihrungen in den Phasen der Unorientiertheit nicht unbeeinflußt" bleibe. 66 Das ist ebenso plausibel und offensichtlich wie nichtssagend. Weiter ist von "Erfahrungssätzen" und "Theorien", die keiner wissenschaftlichen Kontrolle unterzogen wurden, die Rede, "die wir aber dennoch - freilich meist völlig unreflektiert - anwenden, um die Komplexität der Lebensrealität besser zu erfassen, zu kategorisieren, zu erklären - kurz, um uns intellektuell von Ungewißheiten zu entlasten, Entscheidungen zu er64 Eberhard Schilken, Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl., München 1994, § 169, Rdnr. 155. 65 Berkemann, aaO, S. 140. 66 Berkemann, aaO, S. 140.
V. Das "Rechtsgefiihl"
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leichtem oder sie überhaupt erst zu ermöglichen.,,67 Fragt man aber nach dem Inhalt dieser Theorien, wird auf Vorurteile und Stereotypen verwiesen, die spezielle Formen dieser "Alltagstheorien" seien, da auch sie von ihren Benutzern kaum auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft würden und generalisierende Aussagen beinhalteten, die fur gültig erachtet würden. 68 Oder es wird von "politischen Werten" bzw. von "Moral" und "religiösen Überzeugungen" gesprochen, die von erheblicher Bedeutung fur die Urteilsinhalte "sein dürften", ohne daß dies näher präzisiert wird. 69 In diesem Zusammenhang wird häufig ein Begriff erwähnt, der die juristische Methodenlehre und Rechtstheorie in vielfältiger Weise durchzieht, der häufig als "Leitfaden" rur eine "gerechte" oder "richtige" Entscheidung empfohlen wird und der zu den unschärfsten Begriffen der methodologischen Literatur zählt: das "Rechtsgeruhi".
v. Das "Rechtsgef"ühl" als Quelle oder Produkt außerrechtlicher Wertungen?
Schon früh wurde im "Rechtsgefiihl" des Richters die wesentliche Determinante seiner Entscheidungen vermutet. 70 Entsprechend wurde die Forderung erhoben, daß dessen reale Triebkräfte herausgearbeitet würden, die man hinter technisch rationalen Begründungen verborgen sah. 71 Um diese Faktoren transparent zu machen, wurde jedoch keine ,juristische Psychoanalyse" empfohlen 72 , sondern vorgeschlagen, zunächst die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die solchen Einstellungen zugrunde liegen, genau zu analysieren und auf diese Weise die "irrationalen" Gründe richterlicher Entscheidungen erkennen und aufdecken zu können. 73 Die Parallele zu den entsprechenden, auf die außerrechtlichen Einflüsse allgemein bezogenen, oben genannten, Forderungen ist augentallig. Auch die große Bedeutung, die dem 67 Herbert Maiseh, Vorurteilsbildungen in der richterlichen Tätigkeit aus sozialpsychologiseher und forensisch-psychologischer Sicht, NJW 1975, S. 566 ff. (566). 68 Maiseh, aaO; so auch Röhl, Rechtssoziologie, S. 91: "Das Problem ist nur, daß es eine ganze Reihe solcher Alltagstheorien gibt, die vielleicht einen wahren Kern haben, aber insgesamt doch die Wirklichkeit verfehlen. Sehr oft sind es diskriminierende Vorurteile, die in der Form solcher Alltagstheorien auftreten." 69 Rüdiger Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters, S. 403 und 405, der auf S. 405 allerdings einräumt, daß die eigentlich interessierende Frage nach dem Grad der Beeinflussung des richterlichen Urteils durch solche Determinanten noch völlig offen ist. 70 Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin, 1929, S. 85 ff. 71 Isay, aaO, S. 177. 72 Isay, aaO, S. 339. 73 Isay, aaO.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
"Rechtsgeftihl" in der weiteren rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Diskussion zuerkannt wurde, ist mit derjenigen vergleichbar, die den allgemeinen, "außerrechtlichen" Determinanten zugeschrieben wurde. So konstatierte z.B. Eike von Savigny, das Rechtsgeftihl spiele bei der Diskussion strafrechtswissenschaftlicher Sätze durch den BGH die gleiche Rolle wie die Beobachtungsevidenz bei der Überprufung naturwissenschaftlicher Hypothesen. 74 Auch heute wird festgestellt, daß die Zusammenftihrung von direkt mit den jeweiligen positiven Normen verknüpften und außerrechtlichen Werten im Rechtsgeftihl erfolge, das formelle und informelle Entscheidungskriterien enthalte und damit einen umfangreichen, alle Lebensbereiche berucksichtigenden Wertkomplex darstelle. 75 Im Rechtsgeftihl wird die Lösung ftir die oben beschriebene "Spannungslage" des zur Entscheidung berufenen Richters gesehen: In Fällen, in denen angesichts mangelnder Klarheit der Gesetzes- und Rechtslage eine eindeutige Lösung nicht gelingen wolle, finde der Richter unter Entscheidungsdruck und dem als belastend empfundenen Geftihl der Bindung an Gesetz und Recht die Lösung in einer Harmonisierung des Judikats mit seinem Rechtsgeftihl, das ihm die Billigkeit, Brauchbarkeit und Angemessenheit seiner Entscheidung anzeige. 76 Wenn das so wäre, hätte der Richter ja einen "Kompaß" ftir den Weg durch den "Dschungel" der Rechtsfmdung, der verläßlich wäre und wohl niemals versagen könnte. Sich dann noch über latente außerrechtliche Determinanten richterlicher Entscheidungen Gedanken zu machen, erschiene müßig: Das Ergebnis wäre ja immer "richtig". Die Bedenken mehren sich jedoch, wenn man weitere Stellungnahmen zur Natur des Rechtsgeftihls betrachtet: Es wird etwa behauptet, das Rechtsgeftihl bestehe aus zwei wesentlichen Komponenten, der Intuition und der Emotion. Die Intuition beruhe auf dem unbewußten Eingreifen von "ursprunglichem" oder nicht mehr präsentem Wissen und von Erfahrungen. 77 Sind das Wissen und die Erfahrungen der Menschen denn uniform? Das wird man wohl nicht behaupten wollen. 78 Dann ist aber auch die aus ihnen an-
Die Überprütbarkeit der Strafrechtssätze, FreiburglMünchen, 1967, S. 7 . Christina Coles, Folgenorientierung im richterlichen Entscheidungsprozeß, Frankfurt am Main/BernlNew York/Paris, 1991, S. 215. 76 Berkemann, aaü, S. 141. 77 Walter Ecker, Gesetzesauslegung vom Ergebnis her, JZ 1967, S. 265 ff. (267); Die Intuition als Quelle richterlicher Erkenntnis und sogar des Rechts behaupteten einige Vertreter der Schule des Legal Realism, vgl. Röhl, Rechtssoziologie, S. 54. 78 Gegen die triviale Vorstellung von "dem" Rechtsbewußtsein bzw. "dem" Rechtsgefühl stritt schon Karl Bergbohm: Wer die erheblichen Unterschiede im Rechtsbewußtsein bzw. Rechtsgefilhl der gesellschaftlichen Gruppen, aber auch der Individuen ignoriere, mache es sich "doch gar zu bequem mit den Voraussetzungen seiner Rechts74
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V. Das "Rechtsgeftihl"
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geblich gebildete Intuition der Menschen höchst unterschiedlich ausgeprägt. Erst recht gilt das fur die Emotion. Man denke nur an die in der Psychologie herausgebildeten unterschiedlichen Charaktertypen, die immer noch reichlich unscharf sind. Ein Blick auf den Streit um Sitzblockaden oder die Beleidigungsproblematik zeigt vielmehr anschaulich, wie höchst subjektiv das RechtsgetUhl ausgestaltet ist: Was der eine tUr unerträglich hält, ist tUr den anderen die einzig gerechte Entscheidung. 79 Und es scheint, als setze sich ein Trend zum Auseinanderdriften der in unserer Gesellschaft vorhandenen Werturteile fort: Es wird Z.B. die Auffassung vertreten, man müsse sich mit dem Umstand abfinden, daß in spezialisierten, säkularisierten und immer pluralistischeren Gesellschaften der Bestand selbstverständlicher gemeinsamer Wertvorstellungen unsicher und kleiner werde. so Wir werden im letzten Teil dieser Arbeit sehen, wie drastisch dieses Bild von neueren soziologischen Befunden bestätigt wird und welche Folgen diese Entwicklung tUr das Strafrecht hat. Für die Überzeugungskraft des Rechtsgefuhls als Begründung richterlicher Entscheidungen ist diese Entwicklung allerdings vernichtend: Bei einem stetig schwindenden Bestand an allgemein konsentierten außerrechtlichen Normen wird auch die Bereitschaft abnehmen, Begründungen zu akzeptieren, die sich auf solche Gemeinsamkeiten berufen. Die Vielfalt dessen, was unter dem Begriff des Rechtsgefuhls verstanden wird, kann kaum dazu beitragen, die Erosion gemeinsamer Werte aufzuhalten. Vielleicht ist schon diese Vielfalt Ausdruck des Zergliederungsprozesses: Einerseits wird von der "Rationalität" des RechtsgetUhis gesprochen, andererseits von einer "Verabschiedung" des RechtsgetUhls. 81 Nach einer vermittelnden Auffassung ist das RechtsgetUhl einerseits nicht rational, andererseits dürfe man nicht verkennen, daß die Rechtsfindung keine rein rationale Tätigkeit ist, sondern, auch die Kunst beinhalte, einen gerechten Ausgleich zu finden. Das Rechtsgefuhl nehme "nach einem Wort Radbruchs, ,das Resultat vorweg, das Gesetz soll dann nachträglich die Gründe und Grenzen dafur hergeben' , ein ganz hermeneutischer Gedanke, dem Radbruch später noch hinzu-
philosophie und verfährt just so wie die sämtlichen Naturrechtsphilosophen, in deren Deduktionen statt der Menschen der Erfahrung eine Mehrzahl durchweg der Schablone, genannt .der' Mensch" verwendet werde. Vgl. Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Band I. Leipzig. 1892. S. 493. 79 Vgl. z. B. Röhl, Rechtssoziologie. S. 94: "Heute zeigt sich jedoch, daß diese Auslegungsmethoden oft nicht helfen, oder genauer gesagt, daß sie nicht mehr helfen, denn sie setzen ein einheitliches Vorverständnis unter den Juristen voraus, das abhanden gekommen ist." KO Christoph Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgeflihl, S. 79. "I Kaufmann. Problemgeschichte. S. 148. 3 Roo.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
fügte: ,Das Rechtsgefühl verlangt einen behenden Geist, der vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen wieder zum Besonderen hinüberzuwechseln vermag'. "82 Auch das ist aber eine sehr allgemeine Erklärung für ein Phänomen, auf dem ja nach der genannten Auffassung die gesamte Rechtsfindung aufbaut. Dem oben geäußerten Verdacht, die latenten Wertungen im Rechtsgefühl wiederzufinden, begegnen wir nun erneut: Das Rechtsgefühl sei die Kunst, "richtige Vorverständnisse" zu haben. 83 Hier wird jedoch ein äußerst wichtiger Zusatz gemacht: Danach spiegelt sich im Rechtsgefühl spiegelt das "richtige" Vorverständnis. Was ist ein "richtiges" Vorverständnis? Welches sind die Kriterien, anhand derer sich "richtige" und "falsche" Vorverständnisse unterscheiden lassen? Diese Antwort bleibt die genannte Auffassung schuldig. Es wird wieder der Rekurs auf das Rechtsgefühl als latente Grundlage jeder Rechtsfindung sichtbar - und wieder ohne die geringste Präzisierung. 84 Es drängt sich tatsächlich der Verdacht auf, daß das "Menschliche in allem Richten" als Legitimation einer Rechtsprechung herhalten muß, die sich selbst nicht mehr als rational verstehen kann. 8s Hinzuzufügen ist allerdings, daß sie gleichwohl unverändert den Anspruch auf Rationalität erhebt. Und so nimmt schließlich das Ergebnis einer Studie über das Rechtsgeflihl nicht wunder, die aufgrund der gesammelten Erkenntnisse über das Rechtsgefühl zu dem Ergebnis gelangte, daß die Berufung auf das "Rechtsgeflihl" kein taugliches Argument sei. Vielmehr indiziere der Rekurs auf das Rechtsgefühl bei der Entscheidungsbegründung die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, die relevanten Sachargumente herauszuarbeiten: Die Berufung auf das "herrschende Rechtsgefühl" oder das "Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" werde so, infolge der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse, zur bloßen Fiktion. 86 Eine keineswegs neue Erkenntnis. 87
Kaufmann, Problemgeschichte, S. 148. Kaufmann, Problemgeschichte, S. 148. K4 Und das, obwohl doch gerade "das durch den Pluralismus der Wertpräferenzen entstehende Legitimationsproblem ... eine inhaltliche Diskussion der Gründe (verlangt), weshalb welche Entscheidungsalternative als die juristisch richtige und gerechte zu gelten habe", wie Meier aaO, S. 80, zutreffend bemerkt. K5 SO Hubert Rottleuthner in: Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, Frankfurt 1973, S. 8. K~ Christoph Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgeflihl, S. 82; vgl. dazu auch Fabricius, aaO, S. 360, der es als irrational bezeichnet, kollektive Subjekte wie etwa "die Bevölkerung" zu fingieren und diesen dann ein "Geflihl" zuzusprechen; vgl. auch Heinrich Hubmann: Wertung und Abwägung im Recht, KölnlBerlin/Bonn/München, K2
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VI. Soziologische und sozial psychologische Erkenntnisse
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VI. Soziologische und sozial psychologische Erkenntnisse über die Ursachen latenter Argumentationen in Entscheidungsgründen Gründe für diese latenten Argumentationsstrukturen werden z. B. in der "Profession" der Juristen vermutet: Sie setzten allgemeine gesellschaftliche Werte in ein berufsspezifisches Ethos um, das sich als Wertpflege - und nicht als Interessenvertretung stilisiere und als Grundlage für beträchtliche Freiheiten in der Wahl von Problemlösungen diene. Ob zutreffend argumentiert werde, könne dabei von "Außenstehenden" weder beurteilt noch kontrolliert werden. 88 Gleichwohl erwarte die Richterschaft von der "außenstehenden" Öffentlichkeit, zu glauben, "der Richter habe seine menschliche Natur verlassen, er sei zum Sprachrohr des Rechts geworden."89 Vielleicht wird diese Erwartung davon genährt, daß die Betroffenen selbst daran glauben. Sie wäre dann Ausdruck eines stilisierten Selbst- bzw. Idealbildes, eines eigenen ,juristischen Habitus".90 Zugleich liegt hier der Grund für die Vermutung, daß eine juristische Qualifikation auch kontraproduktiv sein könne: Je besser die Qualifikation des Juristen sei, desto leichter falle es ihm, die Willens-Bestandteile seines Urteils zu kaschieren. Der geschickte und fähige Jurist und Richter könne nahezu jede Entscheidung begründen, bzw. zumindest argumentativ unangreifbar gestalten. 91 Die Gefahr einer solchen Entscheidungspraxis liege - auch das ein bekanntes Argument - vor allem in der mangelnden Transparenz dieses Prozesses. Es wird insofern der Verdacht geäußert, daß der Richterstand offenbar "ohne diese hausgemachte Ideologie nicht leben" könne. 92 Mehr noch: in der Verfestigung des juristischen "Auslegungsmonopols" wird sogar eine "feudale Struktur" erkannt,93 in der "die Staatsdienertradition des Richters mit dem aristokratischen Bewußtsein der sich selbst verantwortlichen Hochschullehrerschaft" zusammentreffe. 94 1977, S. 13: "Das Erleben des Wertgefühls eignet sich also nicht zur Begründungjuristischer Entscheidungen. Dazu sind rationale Gründe erforderlich." 87 Vgl. nur Felix Kaufmann, Die philosophischen Grundprobleme der Lehre von der Strafrechtsschuld, Leipzig/Wien, 1929, S. 19: Pflichtgefühl, Rechtsgefühl und Gerechtigkeitsgefühl betreffend stellt Kaufmann, aaO, fest, es handele sich bei jenen "Lustgefühlen und Unlustgefühlen, die mit bestimmten positiven oder negativen Wertungen koexistieren ... keineswegs um Erkenntnisquellen für Werte", also nicht um "Erfassungsakte ... , in denen sich eine Bewertung als objektiv richtig ergäbe." K8 Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung, S. 338. KO Rasehorn, aaO, S. 21. Oll Vgl. Fabricius, aaO, S. 5 \. 01 Rolf Lamprecht, Das Richterbild Außenstehender, DRiZ 1988, S. 161 tI, (162). 02 Lamprecht, aaO. 03 Rasehorn, aaO, S. 17, 21 ff. 04 Rasehorn, aaO, S. 21.
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Solchen in der Richterpersönlichkeit wurzelnden, ebenfalls latenten Gründen richterlicher Entscheidungen widmet sich die sog. Attitüdenforschung. 95
1. Erkenntnisse über richterliche "Attitüden" Eine 1972 vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim durchgeführte Untersuchung über Vorurteile im Richteramt fand folgende Ursachen einer Bildung von Vorurteilen 96 : Zunächst wurde eine Informationsreduktion infolge eines objektiven Über- oder auch Unterangebotes an Informationen festgestellt. Hinzu trete die subjektive Bindung an Wert- und Normvorstellungen und eine "Fluchtreaktion auf den Ereignis- und Handlungsdruck von außen, der zu Einordnungsregeln zwingt, die ihre Resistenz daraus beziehen, daß sie Bestandteile eines Gesamtsystems von Wahrnehmungen und Denken bilden, das der subjektiv sinngebenden Konstruktion der Umwelt dient." Die genannte Untersuchung bediente sich der Fragebogen-Methode. Mehr als tausend Richter nahmen dabei u. a. zu den Hypothesen Stellung, daß die religiöse Einstellung eines Richters seine Entscheidung in Ehescheidungssachen, die politische Einstellung eines Richters seine Entscheidung bei Demonstrationsprozessen und die moralische Einstellung des Richters seine Entscheidung bei Sittlichkeitsverfahren beeinflusse. Die Mehrheit der Befragten reagierte auf diese Annahmen mit Zustimmung. Besonders auffällig war die relativ ausgeprägte Zustimmungsquote unter den Richtern am BGH. 97 Insgesamt brachte die Untersuchung die Richtersoziologie aber nicht entscheidend weiter. Denn als Fazit wurde festgestellt, das vorliegende Material gestatte keinerlei Aussagen über die Zusammenhänge zwischen dem erhobenen Persönlichkeitsprofil der Richter einerseits und ihrer Entscheidungspraxis andererseits. 98 Weder Herkunft noch Erziehung, weder Karrierestufe noch Parteibuch eines Richters lassen sich als Ursache einer bestimmten Entscheidung mit der nötigen Sicherheit feststellen. Die Rechtssoziologie ist folglich über plausible Annahmen solcher Kausalzusammenhänge nicht hinausgelangt. Deshalb "bleibt die Chance, greifbare Änderungen der Entscheidungspraxis herbeizuführen, gering, solange sich die soziologische Kritik nur in Allgemeinurteilen 95 Vgl. dazu Robert Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, S. 189 ff. 96 Vgl. Klaus Burckhardt, Politisches und gesellschaftliches Engagement von Richtern, in: DRiZ 1985, S. 486 f. (486) m. w. Nachw. 07 Vgl. Andreas Heldrich, Juristen im Blickfeld der Soziologie, in: FS für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, München, 1982, S. 525 ff. (527). 9K Heldrich, aaO, S. 533.
VI. Soziologische und sozial psychologische Erkenntnisse
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bewegt, denn die Betroffenen werden mit genügend Gegenbeispielen aufwarten und, durch diese scheinbar gerechtfertigt, die Kritik einfach abstoßen können. Deshalb genügt es nicht, allgemein das Sozialprofil der Juristen zu zeichnen, sondern kommt darauf an, den Ursachenzusammenhang zwischen sozialer Herkunft bzw. sozio-kultureller Persönlichkeit des Richters und seinem Urteil im Einzelfall nachzuweisen oder doch, sofern dies angesichts der Fülle der im Entscheidungsprozeß wirksamen Faktoren nicht gelingt, spezielle Urteilsanalysen unter rechtssoziologischen Gesichtspunkten durchzufUhren. An diesem Punkt wartet auf die Rechtssoziologie noch eine immense Arbeit."99
2. Insbesondere: "Konservatismus" als latente Grundhaltung des Richters? Niklas Luhmann nimmt an, daß das von ihm als "neuartiger Konservatismus" bezeichnete ethische WertgefUge der Richterschaft Resultat der "Komplexität des Systems" sei. loo Dieser Konservatismus habe es schon gar nicht mehr nötig, sich auf Werte zu berufen, weil er schon fest etabliert sei. lol Dem entspricht die Vermutung von Robert Weimar, daß diese einmal übernommenen Werte sich zu "invariablen Wertungen" verfestigen, also ihr Einfluß auf die richterliche Entscheidungstätigkeit "selbst durch gegenteilige, konkret-sachliche Erfahrungen ... kaum mehr erschüttert wird."lo2 In diese Richtung zielt auch die Kritik von Bernt Engelmann, der die Wurzeln des angeblichen "Konservatismus" und der "invariablen Wertungen" in der deutschen Justiz bis ins 19. Jahrhundert zurückfUhrt: Engelmann setzt sich in seinem Buch "Richter zwischen Recht und Macht"IOJ mit der Tradition der deutschen Juristen, insbesondere der Richter von Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die heutige Zeit auseinander. Engelmann zeichnet dabei ein sehr zwiespältiges Bild der deutschen Justiz dieser Epoche, das m. E. streckenweise in eine "Schwarz-Weiß-Malerei" mündet, so etwa, wenn Engelmann von den Abgeordneten der Paulskirchenversammlung
Thomas Raiser, Rechtssoziologie, S. 30. Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung, S. 338. 101 Luhmann schließt in: Funktionen der Rechtsprechung, S. 339, mit der pessimistisch anmutenden Erkenntnis, daß dieses Verfahren der Gerichte weithin toleriert werde, wenn, weil und soweit sie ihre Funktion noch erfüllten und bei gelegentlich auftretenden Störungen genüge .,auf der einen Seite die ,kleine Politik in der Pinkelpause' , auf der anderen die juristische Auslegung." 102 Robert Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, S. 94. 103 Göttingen, 1995. 99
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nur der "entschiedenen Linken", die er rur die einzig "entschiedenen Demokraten" hielt, eine eingehende Darstellung widmet. 104 Engelmann schildert Fälle von "Klassenjustiz" in der Strafrechtsprechung des Reichsgerichts Ende des letzten Jahrhunderts,105 die ein aus heutiger Sicht erschütterndes Beispiel sozialer Ungerechtigkeit darstellen, im Kontext ihrer Zeit und Gesellschaftsordnung jedoch kaum zu überraschen vermögen. An diese Tradition, "den Machtstaat gegen alle Demokratisierungsbestrebungen zu verteidigen",106 sieht Engelmann den BGH in seiner Strafrechtsprechung anknüpfen. \07 Als Beispiel hierrur dient ihm die Rechtsprechung zu den sog. Sitzblockade-Fällen und die dort von BGH vorgenommene Definition des GewaltBegriffs des § 240 StGB. Er sieht darin Motive wirken, die nicht mehr als Rechtsanwendung gesehen werden können, sondern von außerrechtlichen Determinanten gesteuert werden. lOS Besondere Beachtung widmet Engelmann den verantwortlichen Richtern, insbesondere dem damaligen Präsidenten des 2. Strafsenats des BGH, Baldus, dessen NS-Vergangenheit Engelmann in gleichem Zusammenhang darstellt. 109 Als außerrechtliche Motive dieser Rechtsprechung vermutet er "die wilde Entschlossenheit des Senatspräsidenten Baldus und seiner Kollegen, Störer der heiligen Ruhe und Ordnung zu kriminalisieren und deren Gewaltlosigkeit trickreich in Gewalt umzudeuten, weil dies politisch zweckmäßig erschien. Denn auf allen unpolitischen Gebieten ist die Justiz, indem sie der immer noch richtungweisenden Rechtsprechung des früheren Reichsgerichts folgt, von geradezu akribischer Exaktheit, wenn es um die Feststellung geht, ob Gewaltanwendung vorliegt." I 10 Daß zumindest in den ersten Jahrzehnten der höchstrichterlichen Strafrechtsprechung in der Bundesrepublik keine Scheu der Richter bestand, sich offen zu "außerrechtlichen", konservativen Wertmaßstäben zu bekennen,111 zeigt beispielhaft die Entscheidung des Großen Senats rur Strafsachen aus dem Jahre 1954: 112 Es war die Frage zu entscheiden, ob der Geschlechtsverkehr zwischen 104 Vgl. Engelmann, S. 122 ff. Vgl. nur S. 12. Engelmann, aaO, S. 35. \()7 Vgl. S. 22 ff., 30 ff. \()K Engelmann, aaO, S. 23: "Begriffsbestimmung von "Gewalt", ... um unliebsame Erscheinungen, denen auf herkömmliche Weise strafrechtlich nicht beizukommen war. in abschreckender Weise zu kriminalisieren und entsprechend zu ahnden." \()O AaO. S. 30. 1 \() Engelmann, aaO, S. 26. Als Beispiel nennt Engelmann die Rechtsprechung des BGH zum Gewaltbegriff bzgl. der Vergewaltigung wie BGH NStZ 85, S. 71 f.. aaO S.27. 111 Vgl. dazu Wilhelm Weischedel, Recht und Ethik. Zur Anwendung ethischer Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Karisruhe, 1959. 112 BGHSt 6, 46 ff. lOS
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Verlobten als "Unzucht" iSd §§ 180, 181 StGB a. F. zu bewerten sei. Der BGH nahm als Maßstab ausdrücklich nicht die Meinung "bestimmter Volkskreise", da wechselnde Volksanschauungen zu einem "inhaltslosen Relativismus" führten, der zerstörend wirke. 113 Richtiger Maßstab seien vielmehr die Normen des Sittengesetzes, die "aus sich selbst heraus gelten." Sie beruhten auf einer "vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte" bzw. auf unabänderlichen Sollenssätzen. 114 Der BGH unterstützt seine Begründungen immer wieder mit dem Hinweis auf die absolute Geltung des Sittengesetzes, 115 dessen Ausdruck und Erkenntnisquelle das Gewissen sei. 116 Ulfrid Neumann sieht diese Strafrechtsprechung als Ausdruck einer deontologischen Theorie, weIche die moralische Qualität einer Handlung bestimmt, indem sie den fraglichen Handlungstyp auf eine starre Handlungsregel beziehe. 1I7 Ist, was in diesem Urteil zum Ausdruck gelangt, aber ein spezifischer Konservatismus der Richterschaft? Wohl kaum. Nichts deutet darauf hin, daß gerade die an dieser Entscheidung beteiligten Richter oder gar "die Richterschaft" einem spezifischen Konservatismus verhaftet wäre, der sich von demjenigen unterscheiden ließe, der zu dieser Zeit Politik und weite Teile des gesellschaftlichen Lebens prägte. WeIche Werte und Überzeugungen dies genau waren und wie sie Eingang in die Strafrechtsprechung des BGH fanden, wird im dritten Teil dieser Arbeit eingehend gezeigt. Hier genügt es, die These eines besonderen, konservativen Weltbildes "der Richter" als in dieser Allgemeinheit unhaltbar zurückzuweisen. Ergänzend ist zu bemerken, daß der BGH seine insoweit "konservative" Grundhaltung in der Folgezeit zumindest nachhaltig verändert hat. So z. B. in dem Verfahren, in dem er beurteilen mußte, ob der Roman "Fanny Hili" eine unzüchtige Schrift iSd § 184 StGB a. F. sei. Hier gelangt der BGH zu der Feststellung, daß (auch) die sittlichen Anschauungen zeitbedingt sind und einem
BGH. aaO. S. 50 ff. Ablehnend dazu: Weischedel, Recht und Ethik, S. 7, 32 ff. IIS Vgl. etwa BGHSt 1,235 ff. (237) u. 7, 268 ff. (271). 116 BGHSt 2, 194 ff. (201); diese Form der Argumentation ist auch in der Literatur auf Zustimmung gestoßen: Vgl. z. B. Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, NJW 1960, S. 1689 ff. (1695); Richard M. Honig. Bemerkungen zum Sittengesetz in der Strafrechtsjudikatur des Bundesgerichtshofs. in: FS für Eduard Dreher, Berlin, 1977, S. 39 ff. (52); entschiedene Ablehnung dagegen z. B. bei Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis und sittliche Normen, JuS 1978, S. 361 ff. (365). 117 Ulfrid Neumann, Deontologische und teleologische Positionen in der rechtlichen und moralischen Beurteilung von Sterbehilfe und Suizidteilnahme, in: Heike Jung u. a. (Hrsg.): Recht und Moral, S. 393 ff. (395). 113
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Wandel unterliegen. 1l8 Zudem überantwortet er etwa in das Arztrecht betreffenden Fällen Teile der zu treffenden Entscheidungen der ärztlichen Standesethik, verzichtet also bewußt auf eigene, ethisierende Stellungnahmen. 119 Das grundlegende Problem verdeckter Wertungen ist, wie noch gezeigt werden wird, nach wie vor aktuell. Vielleicht kann man aus Luhmanns These den Umkehrschluß ziehen: Der offene Rekurs des BGH vor allem in den fünfziger und beginnenden sechzig er Jahre auf "außerrechtliche" bzw. "überpositive Werte" war Spiegelbild einer Zeit, in der die (Straf-)Rechtsprechung verlorene Glaubwürdigkeit erst zurückgewinnen mußte, um sich zu "etablieren." Hier scheint der Gedanke durch, daß eine nach Orientierung suchende Zeit von der Rechtsprechung Antworten erhofft, die diese nur unter Bezugnahme auf, natürlich, anfechtbare Wertpositionen geben kann. Es kann aber auch folgende Vermutung zutreffen: daß durch "ethisierende und symbolisierende Wendungen" eine "retortenhaft reine Abstraktionstechnik verbrämt" wurde. 120 In jedem Fall bleibt zu klären, welches Gedankengut denn in diesen Urteilen als stabilisierender Faktor eingesetzt wurde bzw. welchen Zwecken dieses verdeckte Argumentieren eigentlich diente und zum Teil bis heute dient. Hier in einem eng umgrenzten Bereich, also der Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrturns wenigstens einen Teil dieser latenten Wertungen und Zwecke aufzudecken, ist die Zielsetzung dieser Arbeit.
3. "Identifizierung" des Richters mit einer Partei bzw. einem Verfahrensbeteiligten Zu den Erkenntnissen der Attitüdenforschung (iVm der Rechtspsychologie) zählt auch, daß dem Phänomen der sog. "Identifizierung" im richterlichen Entscheidungsprozeß eine wichtige Funktion zukommt. Sie äußert sich zum einen als Identifizierung mit dem Gleichgestellten, also mit einer Verfahrenspartei, die eine Problematik anspricht, von der der konkrete Richter selbst gerade betroffen ist (etwa Lärmbelästigungen durch den Nachbarn, "dieser Unfall hätte auch mir passieren können").121 Aber auch eine 118 BGHSt 23, 40 ff. (42 f.). Il~ Vgl. BGHSt 32,367 ff. (378/79). 120 Fritz Brecher, Scheinbegründungen, S. 236: "eine Göttergestalt trägt das Gebäude, das in Wahrheit auf den T-Trägern der Eisenkonstruktion ruht, wohlberechnet durch die Statiker des Reißbretts." 121 Vgl. dazu die Untersuchung von H. E. Hilden: Rechtstatsachen im Räumungsstreit. Zur Effektivität des sozialen Mietrechts und zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Frankfurt am Main, 1976, in der gezeigt wird, daß der Wohnstatus des Richters
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Identifizierung in anderer Richtung wird beobachtet: Die Identifizierung mit "dem Aggressor bzw. mit einem starken Streitgegner."122 Daraus entsteht folgende Problematik, die vor allem auch im Hinblick auf Legitimationsfragen der Justiz mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet: Der Richter ist nicht mehr unbeteiligter, unparteiischer Dritter, sondern wird selbst (wenn auch unabsichtlich) selbst Partei, "sei es vermittels der auch von der Tierwelt bekannten angeborenen Auslöser (z. B. Kindchenschema), sei es durch Übernahme sozialer Stereotype (Vorurteile) oder durch Identifizierung mit der staatlichen Autorität, mit Vertretern von Weltanschauungen oder rechtspolitischer Zielvorstellungen und - nicht zu vergessen - mit einer der Verfahrensparteien."123 . Eine weitere Identifizierung beeinflußt den Entscheidungsprozeß, die "Identifizierung" mit dem Recht: Die ständige Beschäftigung mit juristischem Gedankengut in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen oder rechtswissenschaftlicher Dogmatik kann zur Aneignung spezifischer Wertvorstellungen führen und so eine eigene Dynamik entfalten. 124 Hier prägt sich dann eine bestimmte Typik aus, die "Persönlichkeit des Juristen". 125
VII. Die generelle Problematik eines Rückgriffs auf ethisch-moralische Wertungen in Begründungen richterlicher Entscheidungen Mit den frühen sechziger Jahren endet die Phase der in den Urteilen offen bekannten sittlich-moralischen u. a. Wertpositionen. Warum das so war, darüber kann hier nur spekuliert werden: Eine neue Richtergeneration, zunehmende Kritik an überkommenen Werten, die sich in den beginnenden Studentenprotesten manifestierte, u.s.w. Auch die mitunter scharfe Kritik der Rechtslehre
nicht ohne Einfluß auf das Prozeßgeschehen bleibt; Rolf Lamprecht nimmt überzeugend an, daß etwa die Flugschau-Katastrophe von Ramstein nicht ohne Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten von Richtern ist, die nun über die Strafbarkeit von Demonstranten zu befinden haben, die die Zufahrtswege zu solchen Veranstaltungen blockieren, vgl. Lamprecht, Außerrechtliche Einflüsse auf die richterliche Entscheidungsfindung, DRiZ 1989, S. 4 ff. (9). 122 Vgl. Jakob, aaO, S. 156, der als Erklärung anbietet: "Zugleich hat eine Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Gegner etwas Ehrenvolles an sich; da man selbst dadurch auch eine Wertsteigerung erfährt. Diese Art der Identifizierung wird man sich als Überwältigung des Gegners gleichsam durch Verschlingen (ähnliche Vorstellungen kennt man von den Kannibalen) im Sinne einer Einverleibung vorstellen müssen." 123 Jakob, aaO, S. 157. 124 Heldrich, aaO, S. 534. 125 Vgl. Fabricius, aaO, S. 152 ff. m.w. Nachw.
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an ethischen Postulaten in (höchstrichterlichen) Entscheidungen dürfte dazu beigetragen haben, solche Anschauungen fortan zu verbergen. 126 Gerade die gestiegenen Anforderungen an die Transparenz richterlicher Entscheidungsbegründungen und die Tendenz zu einem Pluralismus der Werte, Weltanschauungen und Grundüberzeugungen in der Rechtsgemeinschaft lassen den Rückgriff auf ethisch-moralische Begründungen in richterlichen Entscheidungen in besonderer Weise als problematisch erscheinen. In merkwürdigem Kontrast zu diesem Umstand steht die Tatsache, daß neuere Urteile des BGH in Strafsachen bisher nur vereinzelt einer Analyse unterzogen worden, durch die versteckte, ethisch-moralische und andere Wertungen dekuvriert werden konnten. 127 Denn daß das Problem der ethisch-moralischen Wertungen nicht dadurch gelöst ist, daß andere, "unverfängliche" Formulierungen gewählt werden, ist klar. Zudem zeigen die wenigen, erwähnten Analysen gerade, daß solche Wertungen nach wie vor vorgenommen werden - wenn auch in versteckter, eben latenter Form. 128 Es wäre doch zu vermuten, daß gerade die zunehmende Fragwürdigkeit solcher Begründungsmuster zu einer besonderen Sensibilität ihnen gegenüber führt. Dies wird besonders auffällig, wenn man ein Ergebnis dieser vereinzelten Urteilsanalysen betrachtet: Es wird eine Tendenz zur Entwicklung einer eigenen Sozialethik des Strafrechts erkannt (wobei sich diese Tendenz allerdings nicht auf die Rechtsprechung beschränkt).129 Und diese basiert wiederum auf allgemeinen, wenig gehaltvollen Begründungen: In der neueren Rechtsprechung des BGH in Strafsachen finden sich zwar ausdrückliche Stellungnahmen zur Beachtlichkeit verschiedener sittlicher und kultureller Anschauungen, von denen nicht einfach, wie früher, eine als absolut verbindlich angesehen wird. So bekräftigt der BGH, daß die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen ein Täter wegen seiner Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sei, nicht außer Betracht bleiben könnten, auch 126 Gerhard Sprenger, 50 Jahre Radbruchsehe Formel oder: Von der Sprachnot der Juristen, in: NJ 1997, S. 3 ff. (5), sieht einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen dieser Kritik und der Hinwendung der Rechtsprechung zu .. neutraleren" Formulierungen. 127 Vgl. etwa Klaus Lüderssen, Die im strafrechtlichen Umgang mit AIDS verborgenen Motive - Hypermoral oder Gesinnungsethik?, StV 1990, S. 83 ff.; ders., Abschaffen des Strafens?, Frankfurt, 1995, S. 37; ders., Erfahrung als Rechtsquelle, Frankfurt, 1972, S. 96; Ulfrid Neumann, Deontologische und teleologische Positionen in der rechtlichen und moralischen Beurteilung von Sterbehilfe und Suizidteilnahme, in: Heike Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, S. 393 ff.; Wolfgang Naucke, Die Legitimation strafrechtlicher Normen - durch Verfassungen oder durch überpositive Quellen?, S. 10 f. 12K Sprenger, aaO, S. 5, konstatiert entsprechend, bei näherer Hinsicht sei festzustellen, daß sich die Rechtsprechung lediglich einer Änderung des sprachlichen Ausdrucks bediene, dies jedoch keineswegs eine sachliche Korrektur bedeute. 12" Vgl. Lüderssen, Abschatfen des Strafens?, S. 212.
VII. Problematik eines Rückgriffs auf ethisch-moralische Wertungen
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wenn das Tötungsmotiv des Betreffenden nach den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Wertungen unverständlich und mißbilligenswert sei. 130 Im selben Urteil stellt der BGH dann aber auf "allgemeine sittliche Wertmaßstäbe", also letztlich auf einen Gemeinplatz, ab. Es handelt sich bei diesen Gemeinplätzen um "polylogische Felder", also "einen Aussagenkomplex, dessen Bestandteile der subjektiven Logik verschiedener Menschen entstammen und der ohne Rücksicht auf die logische Kohärenz von anderen übernommen wird."131 Diese Felder sind "sehr zufallig, sehr unbestimmt, sehr variabel, durch und durch subjektiv in den einzelnen Beiträgen, aber ohne Ursprünglichkeit und Geschlossenheit des oszillierenden Ganzen."I32 In jüngster Zeit geht der BGH mit ethischen Wertungen jedenfalls dort zunehmend vorsichtig um, wo sie leicht erkannt werden können. So stellt der 1. Strafsenat in einem Fall von "Sterbehilfe" zunächst fest, daß der Gefahr entgegengewirkt werden müsse, daß Arzt, Angehörige oder Betreuer, unabhängig vom Willen des entscheidungsunfahigen Kranken, nach eigenen Maßstäben und Vorstellungen das von ihnen als sinnlos, lebensunwert oder unnütz angesehene Dasein des Patienten beenden. 1J3 Aber: wenn auch kein mutmaßlicher Wille des Betroffenen konstruiert werden kann, soll und müsse auf Kriterien zurückgegriffen werden, die "allgemeinen Wertvorstellungen" entsprächen. 134 Die Zweifel des BGH an einem so unbestimmten Kriterium zur Abgrenzung von Straflosigkeit und Stratbarkeit wegen eines Tötungsdelikts klingen in der Mahnung an, bei der Berücksichtigung dieser Wertvorstellungen sei "Zurückhaltung geboten", im Zweifel genieße der Lebensschutz Vorrang. 135 Die Urteilsbegründung enthält jedoch kein Wort darüber, was gen au diese "allgemeinen Wertvorstellungen" eigentlich sind oder wer sie bestimmt und wie man sie erkennen kann. Worin liegt dann aber der Fortschritt bzw. Vorteil gegenüber den in der Entscheidung ausdrücklich abgelehnten Kriterien wie "normal" oder "vernünftig"? 136 Gerade im sensiblen Bereich "Sterbehilfe" greift der BGH nun, um eigene Wertungen zu vermeiden oder um sie auf wissenschaftlichen Konsens gründen zu können, auf außerrechtliche Wertungen zurück, die vorwiegend Medizinern überlassen sind: auf die Richtlinien der sog. "Ethik-Kommissionen." Hier tritt wieder als Kritikpunkt die Gefahr auf, daß mit der Einrichtung von Ethik1311 BGH NJW 1980, S. 537. 131 Hans Linde, Über die soziologische Analyse polylogischer Felder, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 114 (1958), S. 527 ff. (528). 132 Linde, aaO. 133 BGH NJW 1995, S. 204 ff. (204). 134 BGH aaO, S. 205. 135 BGH, aaO. 13' BGH, aaO, S. 205.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
Kommissionen ethische Standards und Entscheidungen "verbürokratisiert" werden. 137 Das Urteil illustriert gerade in seinen nichtssagenden Floskeln eine Problematik, die, zumindest im Bereich des Strafrechts, nicht verdrängt werden darf und die Norbert Hoerster am Beispiel der Frage der Strafbarkeit der Gefalligkeitssterilisation so gestellt hat: Wer für die Strafbarkeit auf die positiv geltende Moral Bezug nehme, müsse präzisieren, genau wessen moralische Vorstellungen die Strafwürdigkeit ergeben sollten, die von allen oder doch dem meisten Mitgliedern der Gesellschaft geteilten oder die einer bestimmten Klasse oder Gruppe der Gesellschaft, etwa der Ärzte. Es bleibe aber weiter die Kernfrage, ob die moralische Überzeugung einer Gruppe oder der Mehrheit ein ausreichender Grund sei, um ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen. Mindestens diese Frage könne als normativ-ethische nicht durch Meinungsumfragen, sondern nur durch kritische Diskussion gelöst werden. \38 Und dieser Diskussion entzieht sich sowohl derjenige, der die Entscheidung schlicht anderen überläßt, also ethische "Standards" von anderen diskutieren und festlegen läßt und diese dann übernimmt, als auch derjenige, der die Entscheidung zwar selbst trifft, sie aber hinter Schein begründungen und Begriffshülsen zu verbergen sucht.
VIII. Latente richterliche Wertungen als selbstgeschaffenes Problem unserer Rechtsordnung 1. Latente richterliche Wertungen als Produkte einer auf effizienten Rechtsschutz bedachten Gesellschaft Bei aller Kritik an latenten Wertungen in Entscheidungsbegründungen ist zu bedenken, daß die Offenlegung von Vorverständnissen, Vorurteilen etc. durch die Richter, die vielfach gefordert und auf die unten noch gesondert eingegangen wird, ein anderes, "chronisches" Problem des Justizalltags berührt: Personal- und Sachmittelmangel, vor allem aber sich verstärkender Zeitdruck. Eine umfassende Offenlegung von Vorverständnissen - vom Sinn dieser Maßnahme hier einmal abgesehen - fordert eine deutlich fundiertere und umfangreichere Entscheidungsbegründung. Wie läßt sich diese Anforderung an die Justiz mit 137 Vgl. Heike Jung, Entscheidungsprozesse bei medizin-ethischen Grenzfragen: Zur Rolle der Ethikkommissionen, in: Heike Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, S. 401 ff. (406). 13K Norbert Hoerster, Grundsätzliches zur Strafwürdigkeit der Gefälligkeitssterilisation, JZ 1971, S. 123 ff.
VIII. Ein selbstgeschaffenes Problem unserer Rechtsordnung
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der beständig - zumal in Zeiten leerer öffentlicher Kassen - geforderten "Ökonomie der Justiz vereinbaren? Einerseits deutlich vermehrter Begründungsaufwand bei andererseits schnellerer Verfahrensabwicklung? Das rechtsuchende Publikum, das ja zumeist als "Opfer" der "kryptosoziologischen" Entscheidungspraxis angesehen wird, müßte sich dann entscheiden, ob es schnell möglichst klare und eindeutige. Antworten oder lieber eine umfassende, zeitaufwendige Darlegung von Vorverständnissen erhalten möchte. Die Tendenz scheint mir doch zur schnellen Verfahrensdurchführung zu gehen. Zumindest ist zu bedenken, daß die Forderung nach effizienter Justiz doch in einem gewissen Spannungsverhältnis bzw. sogar einem teilweisen Widerspruch zu einer bis ins Letzte ausgeloteten und begründeten Entscheidung besteht: die bekannte Antinomie von Gerechtigkeit einerseits und Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit andererseits.
2. Latente Wertungen als Produkt der gesetzlichen Regelung a) Die Strafgesetzgebung als "Agent" der "Moral" Latente Wertungen sind zudem keineswegs nur im Bereich der Rechtsprechung problematisch. Bereits der Gesetzgeber wird in nicht immer transparenter Weise als "unmittelbarer Agent der gewandelten oder endlich ins allgemeine Bewußtsein tretenden Moral" tätig, um neue Straftatbestände oder Verschärfungen bestehender Strafrahmen zu schaffen. \39 Entsprechend wird als Merkmal eines rational handelnden Gesetzgebers genannt, daß er soziokulturelle Wertungen in der Bevölkerung berücksichtige. 140 Folglich wird Strafe als Antwort "auf den Abfall auch von· den elementaren Werten einer Kultur, staatliche Strafe insbesondere auf den Abfall auch von den elementaren soziokulturellen Werten, die ein Volk als rechtlich schützenswert anerkennt,,141, verstanden. In welch prekäre Lage ein so begründetes und verstandenes Strafrecht gerät, wenn sich diese "elementaren Werte" auflösen oder als Fiktion erweisen, wird am Ende dieser Arbeit gezeigt werden. Ein Grund für die besondere Anfälligkeit des Strafrechts für moralische Postulate wird in einem obrigkeitlichen Verständnis des Staates gesehen, das im Staat auch den "zuständigen Moralunternehmer" erkennt. 142 m Klaus Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 24. 140 Vgl. Knut Amelung, Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Heike Jung/Heinz Müller-DietzJUlfrid Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, Beiträge zu einer Standortbestimmung, Baden-Baden, 1991, S. 269 ff. (277). 141 Vgl. Ernst-Joachim Lampe, Recht und Moral staatlichen Strafens, in: Heike Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, S. 305 ff. (305). 142 Vgl. Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 68 f.
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Für den angelsächsischen Rechtskreis hat Norbert Hoerster herausgearbeitet, daß dort im 19. Jahrhundert die Judikative von ähnlichen Bestrebungen geleitet war. Danach trat neben Vergeltung als Strafzweck die "emphatische Denunziation der Unmoral von seiten der Gesellschaft" und damit "die offizielle Bestätigung des geltenden Sittenkodex."143 Also: Strafe als Ventil sittlicher Entrüstung in der Bevölkerung. Diese Einstellung soll auch heute noch bei "hohen Vertretern der englischen Judikative" existieren. 144 Neben diese Funktion tritt die Fiktion bzw. Konservierung einer Moral, die es vielfach gar nicht bzw. nicht mehr gibt. Im dritten Teil dieser Arbeit soll, anhand von Beispielen aus der Strafrechtsprechung des BGH, gezeigt werden, daß solcher "Konservatismus" im eigentlichen Sinne auch in der .Rechtsprechung des BGH in Strafsachen Ausdruck gefunden hat. In funktionalem Zusammenhang damit steht die erkannte Tendenz, daß der Staat das Konzept des Rechtsgüterschutzes, das als Waffe gegen Strafbestimmungen diente, die ausschließlich moralische Vorstellungen konservieren sollten, unter umgekehrten Vorzeichen verwendet: "Das Rechtsgutskonzept entwickelt sich heute tendenziell zu einem Kriminalisierungstopos mit dem Ziel, als sozial schädlich wahrgenommene Verhaltensweisen flächendeckend und vorbeugend zu inkriminieren."145
b) Grenzziehung zwischen "außerrechtlichen" und "rechtlichen" Wertungen? Der Umstand, daß bereits der Gesetzgeber dem Richter bestimmte politische, moralische, gesellschaftliche und sonstige Wertungen vorgibt, führt zu der allgemeinen Frage, ob eine von inhaltlichen Kriterien bestimmte Grenzziehung zwischen Recht und anderen Strukturen menschlicher Existenz überhaupt möglichst, also der behauptete "Inhalt" von Recht vielleicht gar kein spezifisch rechtlicher ist, es einen genuin rechtlichen Inhalt u. U. gar nicht gibt. 146 Dieses Problem ist allerdings keineswegs neu. Es klingt z. B. bereits in dem Satz von Julius Hermann von Kirchmann an, daß das positive Gesetz in seiner
143 Norbert Hoerster, Strafwürdigkeit in der angelsächsischen Rechtsphilosophie, in: ZStW 82 (1970), S. 538 ff. (552). 144 Hoerster, aaü, S. 553. 145 Winfried Hassemer, Sozialtechnologie und Moral; Symbole und Rechtsgüter, in: Heike Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, S. 329 ff. (331); ähnlich: Klaus Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 22 ff. 14fi Vgl. Fritz Brecher, Scheinbegründungen, S. 235: "Irgendwo von draußen muß der Maßstab hergeholt werden."
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letzten Bestimmtheit bare Willkür sei, also die Rechtswissenschaft "das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht."147 Ludwig Bendix hat diese Problematik wie folgt beschrieben: "Kulturideale, Kulturgüter, Rechtsgüter oder rechtlich geschützte Interessen, alle diese schönen Ausdrücke, durch die wir Sterblichen die Brutalität der Dinge und widerstreitenden Interessen uns selbst verheimlichen oder beschönigen, weisen mit aller Deutlichkeit auf das Leben und seine materiellen Grundlagen hin und sind ohne diese Beziehung schlechterdings nichtssagend, weil sie doch nun einmal nicht im luftleeren Raum herumfliegen, sondern nur in der geschichtlichen Wirklichkeit mit dem Da- und Sosein der Menschen verbunden sind."148 Er war der Überzeugung " ... daß es eine Rechtswissenschaft ohne ethisch-politischen Einschlag überhaupt nicht gibt."149 Entsprechend wird angenommen, daß die Rechtsnormen ihren Inhalt und Maßstab "wo immer auch her, doch nie aus sich selbst (beziehen): Die Gerechtigkeit aus der Transzendenz, die Sachlogik, die sog. ,Natur der Sache' aus der Immanenzphilosophie, der Phänomenologie oder der Empirie, das Gemeinwohl und die soziale Bedeutung der Rechtsverhältnisse aus der Politik - Zweck, Funktion und Interesse aus Wirtschaft und Soziologie, wenn nicht gar aus der Statistik."150 Der substantielle Gehalt des Rechtes stammt danach gerade nicht aus dem Recht. 151 Diese Auffassung mündet freilich in der Aussage, daß dem Recht grundsätzlich kein Inhalt verschlossen sei und nur das Recht selbst Inhalte ausschließen könne. 152 Diese Ansicht, daß Recht nur aus durchgesetzten Regeln beliebigen Inhalts bestehe, ist bekanntlich nicht unbestritten. 153 Läßt man jene Grenzfälle einmal beiseite, wird der Vorwurf an den Richter, "außerrechtliche" Wertungen in seine Entscheidungen einzubringen, fragwürdig: "Könnte es sein, daß ein Richter seine neuen Erkenntnisse nicht im'Beratungszimmer gewinnt, sondern beim Mittagessen mit der Familie? Ist es denkbar, daß ein linker Sohn oder eine pazifistische Ehefrau den Ernährer von sei- . ner bisherigen Überzeugung abbringen. Wenn der Richter als Individuum rur neue Argumente wirklich so offen ist, wie der Berufsstand immer von sich behauptet, müßte so etwas möglich sein. Unterstellt, ein Richter gewönne auf die147 Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, Neudruck 1960, Ausgabe H. Klenner, 1990, S. 25 zit. nach A. Kaufmann, Grundzüge, S. 63. 14K Bendix, Die irrationalen Kräfte, S. 132. 14~ Bendix, Die irrationalen Kräfte, S. 139. 150 Brecher, Rechtsformalismus und Wirtschaftsleben, S. 67. 151 Brecher, aaO, S. 67. 152 Brecher, aaO, S. 82; vgl. dazu Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, S. 97, der im Anschluß an Brecher die Auffassung vertritt, daß es unmöglich sei, die Substanz des Rechts überhaupt zu beschränken. 153 Vgl. Naucke, aaO, S. 13.
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A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile
se Weise neue Einsichten: Wäre er dann einem außerrechtlichen Einfluß erlegen?"IS4
c) Die strafrechtliche .. Genera/k/ausel" als Zwang zum Rückgriff auf .. außerrechtliche .. Begründungen
Ein weiterer Problempunkt des Komplexes "außerrechtliche Wertungen" ist, daß nicht selten schon die Fassung des (Straf-)Gesetzes durch Verwendung konturen loser und unscharfer Begriffe den Richter zu Bewertungen z. B. ethisch-moralischer Natur nötigt. '5s Dieser vom Gesetzgeber eröffnete Spielraum kann so weit geraten, daß eine sog. Generalklausel vorliegt. Hier wird der Richter auf "außerrechtliche" Komplexe, wie etwa den Bereich von Ethik und Moral, das "Sittengesetz" oder ähnliches als Entscheidungsquelle verwiesen. Es soll nun nicht behauptet werden, daß Ethik und Moral nichts mit dem Recht zu tun hätten. Und auch die Zweifelhaftigkeit der Grenzziehung zwischen dem, was noch zum Recht gehört und dem, was bereits "außerrechtlich" ist, wurde ja oben erörtert. Es ist aber ersichtlich, daß es sich bei Ethik und Moral - ebenso wie etwa bei bestimmten Verkehrsanschauungen - jedenfalls nicht im engeren Sinne um spezifisch rechtliche Kategorien handelt. Um deshalb überhaupt unterscheiden zu können, wird hier die Trennung zwischen diesen "außerrechtlichen" Kategorien und dem Recht im engeren Sinne beibehalten. Der Richter soll sich also, gibt ihm der Gesetzgeber Normen in Form der Generalklausel vor, an einem "außergesetzlichen Ordnungsbereich" orientieren. Er wird auf nicht-juristische Normenkomplexe verwiesen, die für ihn so zum verbindlichen Urteilsmaßstab werden. 156 Für ein rechtsstaatliches Strafgesetz, das bekanntlich dem Zwang zu Bestimmtheit unterliegt, eine mit äußerster Skepsis und Argwohn zu betrachtende Form. '57 Gleichwohl wird schon seit Jahrzehnten eine Tendenz zur strafrechtli154 Rolf Lamprecht, Außerrechtliche Einflüsse auf die richterliche Entscheidungstindung, S. 11. 155 Vgl. dazu Franz Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz, JZ 61, S. 337 ff. (341); am Beispiel des § 34 StGB zeigen dies auf: Reinhard Merkei, Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswissenschaft, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 tr (176 ff.); Klaus Lüderssen, AbschatTen des Strafens?, S.201. 156 Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz "nullum crimen sine lege", .JuS 1968, S. 249 ff. u. 304 ff. (250). 157 Weniger kritisch dagegen Lenckner, aaO, S. 255, der die Ursache für die Zunahme von Generalklauseln im Strafrecht nicht in einem Versagen des Gesetzgebers. SOI1-
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chen Generalklausel beobachtet. 158 Justus Wilhelm Hedemann hat das Wort von der "Flucht in die Generalklausel" geprägt. 159 Diese Entwicklung wird auch vom BGH erkannt und von einzelnen Richtern offen kritisiert: 160 So wird vom "Druck der irrationalen Fassung der einzelnen Tatbestandsmerkmale" gesprochen, die erst "die Schleusen moralisierender, häufig sogar gefühlsbetonter Wertung" öffneten. 161 Die Folge ist: "In Wirklichkeit erklärt der Richter bewußt oder unbewußt sich selbst zum unverbildeten Beobachter und seine eigenen moralischen Anschauungen zum Bestandteil des Rechts .... Der Kampf der Ideen findet nicht im Parlament statt, wo er hingehört, sondern im Intellekt des Richters oder im Beratungszimmer."162 Somit weist die Rechtsprechung die Verantwortung insoweit von sich und macht den Gesetzgeber für die "außerrechtlichen" Bewertungen verantwortlich: Mit Hilfe von Generalklauseln oder unbestimmten Gesetzesbegriffen schiebe der Gesetzgeber die Problematik, die er selbst zu regeln hätte, an die Gerichte weiter. Nicht die Richter drängten sich nach Entscheidungen in diesen Bereichen, sondern das Verhalten des Gesetzgebers nötige sie ihnen auf. 163 An den Gesetzgeber wird damit ein Problem herangetragen, das er eigentlich schon bei Erlaß der Norm reflektieren muß und das sich jedem Rechtsanwendenden stellt: die Legitimation der Norm. Die Generalklausel ist aber gerade das Gestaltungsmittel eines Gesetzgebers, der den politischen Konflikt nicht "löst", sondern ihn notdürftig unter Zuhilfenahme "dehnbarer" Begriffe und nahezu inhaltsloser Floskeln verdeckt. Oft ist die Generalklausel in einem auseinanderstrebenden Gesellschaftssystem die "Ietzte Klammer, welche die auseinanderklaffenden Teile noch zusammenzuhalten scheint". Sie bietet wenigstens den äußeren Anschein einer Überbrückung. l64 Dieser Zusammenhang zwischen Generalklauseln im Strafrecht und bestimmten Individuierungsten-
dem im .. vorgegebenen Rechtsstoff selbst" sieht. der .. mehr denn je die elastische Lösung des ius aequum" verlange. Ob ausgerechnet ein generalklauselartiges Strafgesetz zur Verwirklichung dieses Rechts führt bzw. führen kann, darf bezweifelt werden. 15~ Vgl. nur Wilhelm Class, Generalklauseln im Strafrecht, in: FS für Eberhard Schmidt. Göttingen. 1961. S. 122 ff. (124 ff.). 15" .Iustus Wilhelm Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Tübingen, 1933, ebenfalls mit der Prognose, daß die Generalklauseln weiter zunehmen würden. aaO, S.60. IhO Vgl. Horst Woesner. Moralisierende Mordmerkmale. NJW 1978, S. 1025 ff. 161 Woesner. aaO. S. 1025 f. 162 Woesner. aaO. S. 1026. 16J Vgl. Hans Joachim Faller, Die richterliche Unabhängigkeit im Spannungsfeld von Politik. Weltanschauung und öffentlicher Meinung, in: FS für Wolfgang Zeidler, Band I. Berlin, New York, 1987, S. 81 ff. (84 f.). )(,4 Class. aaO, S. 128. 4 Roos
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denzen in unserer Gesellschaft wird im letzten Teil dieser Arbeit noch eingehend betrachtet werden. 165 Wird der Gesetzgeber nicht tätig oder erschöpft sich seine Tätigkeit in der Kreation von äußerst unbestimmten, generalklauselartigen Gesetzen, ist es aber kein Wunder, daß die Rechtsprechung hier tätig wird und so die Grenzen der Gewaltenteilung verschwimmen: 166 Hier bestimmt der Richter ganz offen den "Inhalt" der Norm. Einer solche Entscheidung hat aber keinen rechtswissenschaftlichen Erkenntnischarakter mehr: "Sie ist wesensmäßig ein politischer Akt und bestimmt die gesetzgeberische Tätigkeit."167 Manche sehen bei Gesetzen, deren Fassung inhaltlich so unbestimmt ist, daß sie sich Generalklauseln nähern, die verfassungsrechtliche Legitimation des Gesetzgebers entfallen: Die Eingrenzung des von den vorgegebenen Normen belassenen Entscheidungsspielraums stelle sich nicht mehr als Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers, sondern als Entscheidung des Richters selbst, d. h. als richterliche Normsetzung dar, die an der demokratischen Legitimation nicht mehr teilhabe. Der Umstand, daß richterliche Normsetzung sich meistens innerhalb eines, mehr oder weniger weiten, vorgegebenen rechtlichen Rahmens abspiele, schaffe keine hinreichende Legitimationsbasis, denn erst die richterliche Normkonkretisierung bestimme den Inhalt der Entscheidung und stelle sich damit für den Rechtsunterworfenen als der relevante politische Akt dar. Eine weitere Verschärfung des Legitimationsproblems bestehe darin, daß der unter Entscheidungszwang stehende Richter ständig politisch handeln müsse, dieses Handeln aber prinzipiell unverantwortet bleibe. Die Regelung der Rekrutierung der Richter und die ihnen verfassungsrechtlich zugesicherte Unabhängigkeit schlössen jede gesellschaftliche Kontrolle aus. 168 Erhebt der Richter seine persönliche Moral zur objektiven Norm, sind, so Theodor Lenckner zutreffend, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Rechtssi-
165 Zu einem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Auflösungsprozessen und einem mit Generalklauseln arbeitenden Strafrecht vgl. schon Class, aaO, S. 127. 166 Vgl. dazu Ingeborg Maus, aaO, S. 154 f.: "Der herrschende Trend zur Verselbständigung der Rechtspraxis ist Ausdruck einer Situation, in der Tätigkeit wie Untätigkeit des Gesetzgebers zur Kompetenzerweiterung der Justiz beitragen. '" Produktion solcher Gesetze, die inhaltliche Entscheidungen der Anwendungssituation überlassen. Daß das entstehende Vakuum unter Berufung auf das Rechtsverweigerungsverbot von der Justiz besetzt wird, die nach eigenen Zwecksetzungen operiert und sich in ihrer Detailarbeit der Legislativfunktion, im Urteilsermessen der Verwaltungstätigkeit annähert, ist also nicht ihr anzukreiden." 167 Brüggemann, aaO, S. 82. 16M Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, Berlin, 1974, S. 18.
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cherheit in Gefahr. 169 Lenckner beschreibt die Pole, zwischen denen der Richter steht: "Der Richter wäre nämlich kein Richter, wenn er nicht versuchen würde, eine offensichtlich ungerechte Entscheidung des Gesetzes zu korrigieren, selbst wenn er dabei Wege beschreiten muß, die, um an jenes berüchtigte Wort anzuknüpfen, ,etwas außerhalb der Legalität' liegen."17o Aber wer bestimmt denn, ob die Entscheidung des Gesetzgebers "offensichtlich ungerecht" ist? Und nach welchen Kriterien? Von Rechtssicherheit und Gewaltenteilung bliebe jedenfalls wenig übrig, wenn der Richter so "frei" mit dem Gesetz umgehen dürfte. Mit einer solchen Lösung wird der Richter "auf Wege gedrängt, die für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats nicht weniger gefährlich sind, weil hier der Eindruck erweckt wird, als seien die Begriffe des Rechts beliebig manipulierbar. Auch für die Rechtssicherheit ist unter diesen Umständen nichts gewonnen: Hier wird das System an einer Stelle gewahrt, um an einer anderen eingerissen zu werden."171 Die Kritik an Generalklauseln greift auch auf Erkenntnisse der Richtersoziologie zurück: Der soziologische Befund, daß Juristen aus sehr homogenen sozialen Schichten, hauptsächlich der oberen Mittelschichten, stammten, mache es sehr wahrscheinlich, daß vor allem die Generalklauseln mit moralischen und rechtlichen Standards ausgefüllt würden, welche die schichtspezifischen Ansichten der "bürgerlichen Mittelklassen" widerspiegelten. 172 Aus rechtssoziologischer Sicht wird ergänzt, die Ergebnisse der Justizsoziologie drängten die Vermutung geradezu auf, daß der "mittelklassengebundene" Richter die Umstände falsch sehe, die einen nicht in seinem Milieu wurzelnden Streitfall konstituieren, oder daß er die Mentalität der Betroffenen verkenne, und deshalb für sie unverständliches oder unbrauchbares Recht spreche. Es entstehe das Problem einer diskriminierenden Rechtsanwendung. Einfallstor richterlicher Wertvorstellungen in die Judikatur bildeten vor allem die unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln der Gesetze und es liege nahe, sie im Sinn von moralischen und rechtlichen Standards auszufüllen, welche die schichtspezifischen Ansichten der bürgerlichen Mittelklassen wider-spiegelten. 173 Das ist durchaus plausibel: Was liegt für den zum Werten gezwungenen Richter näher, als die Wertmaßstäbe seines eigenen sozialen Umfelds zu verwenden?
11>9 Vgl. Lenckner, aaO, S. 252. 17
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B. "Inhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
nen Text zu verstehen, ohne mit ihm (iSv Zustimmung) einverstanden zu sein. 162 Gerade diese These vom "Einverständnis" ist nachhaltiger Kritik ausgesetzt. Konsequent befolgt, machte sie Ideologiekritik, aber eigentlich jede Form von inhaltlicher Kritik, unmöglich. Denn dann müßte "die hermeneutische Klärung unverständlicher oder mißverstandener Lebensäußerungen stets auf einen Konsensus zurückfUhren ... , der vorgängig durch konvergierende Überlieferung verläßlich eingespielt ist. Diese Überlieferung ist fUr uns objektiv in dem Sinne, daß wir sie nicht einem prinzipiellen Wahrheitsanspruch konfrontieren können."163 Und: "Die Vorurteilsstruktur des Verstehens verbietet nicht nur, sondern läßt es als sinnlos erscheinen, jenen faktisch eingespielten, unserem Mißverständnis und Unverständnis jeweils zugrunde liegenden Konsensus wiederum in Frage zu stellen. 164 Dabei ist oft dieser Konsens unter Bedingungen zustande gekommen, die Jürgen Habermas als verzerrte Kommunikation charakterisiert hat. Er nimmt sogar an, daß ,jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht (steht, d. Verf.), pseudokommunikativ erzwungen zu sein"16s und setzt hierzu seinen Wahrheitsbegriff in Beziehung: den "eigentümlichen Zwang zu zwangloser universaler Anerkennung", die an die "ideale Sprechsituation" gebunden sei, also an eine "Lebensform, in der zwanglose universale Verständigung möglich ist. "166 Weitere Konsequenz dieser Einverständnis-These sei, daß Gadamer aus der "hermeneutischen Einsicht in die Vorurteilsstruktur des Verstehens eine Rehabilitierung des Vorurteils" ableite. 167 Letzteres ist sicher der schwerste Vorwurf aus ideologiekritischer Perspektive. 168 Im Kern wird Gadamer vorgehalten, er verkenne zum einen die Gefahren "systematisch verzerrter Kommunikation", zum anderen, daß diese Verzerrung die Regel ist. 169 Er lasse sich durch den "objektiven Schein der Gewaltlosigkeit Ih2 So z. B. auch Ulrich Schroth, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), S. 350, der zutreffend darauf hinweist, daß umgekehrt auch Zustimmung zu Texten möglich sei, ohne diese verstanden zu haben. Ih3 Habermas, aaO, S. 151 f. IM Habermas, aaO, S. 152. IhS Habermas, aaO, S. 153. Ihh Habermas, aaO, S. 154. Ih7 Habermas, aaO, S. 156. IhM Gadamer selbst sieht hier den gewichtigsten Einwand gegen seine Theorie, vgl. Bd. 2, S. 465. IhY Habermas, aaO, S. 158.
BI. Hermeneutik - Basis sozialwissenschaftlicher Inhaltsanalyse?
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eines pseudokommunikativen Einverständnisses" blenden, hinter der sich nichts anderes verstecke als Gewalt. In Anlehnung an Max Weber stellt Habermas schließlich fest, daß diese so "legitimierte" Gewalt "Autorität" sei. 170 Gadamer wiederum hält dem von Habermas propagierten Konzept eines zwang freien Dialoges die "tiefe Skepsis" entgegen, die er gegen die "phantastische Selbstüberschätzung" hege, die sich das "philosophische Denken für seine Rolle in der gesellschaftlichen Wirklichkeit" anmaße. 171 Im vorliegenden Kontext ist nun besonders bedeutsam, wie Gadamers Hermeneutik mit Ideologie in Textform umgeht. Zwar verläßt sich Gadamer, wie gesehen, letztlich auf den manifesten Text. Daß Texte aber nicht immer diesen sicheren Halt bieten räumt Gadamer am Beispiel bestimmter Spezial formen von Texten ein: Diese widersetzten sich einem Verständnis. 172 Eine Form dieser Texte sind nach Gadamer die sog. "Prätexte", d. h. Texte, "die wir gerade auf etwas hin interpretieren, was sie gerade nicht meinen. Das, was sie meinen, ist ein bloßer Vorwand, hinter dem sich der ,Sinn' verbirgt, und damit stellt sich die Interpretationsaufgabe, den Vorwand zu durchschauen und das wahrhaft darin zum Ausdruck Kommende zu ermitteln. Solche Texte liegen etwa in der öffentlichen Meinungsbildung vor, die ideologischen Einschlag zeigt. Der Begriff der Ideologie will gerade das sagen, daß hier nicht eine wirkliche Mitteilung verbreitet wird, sondern ein dahinterstehendes Interesse, dem sie als Vorwand dient."173 Die hier evidente Notwendigkeit einer Ideologiekritik legt die Frage nahe, wie nach Gadamers Auffassung eine solche Kritik betrieben werden müßte. Viel Konkretes erfährt man allerdings nicht. Für Gadamer steht - folgerichtig - auch Ideologiekritik unter dem Primat des allgegenwärtigen Vorurteils: Eine Ideologiekritik, die sich selbst aus aller ideologischen Präokupation herauszuhalten meine, sei nicht minder dogmatisch als eine positivistische Sozialwissenschaft, die sich als Sozialtechnik verstehe. 174 Als solches Vorurteil sieht Gadamer z. B. bei Habermas eine marxistische Inspiration. 17S
17() Habermas, aaO, S. 157. 171 Gadamer, Bd. 2, S. 466. 172 Gadamer. Bd. 2, S. 347. m Gadamer, Bd. 2, S. 349. 174 Gadamer, Bd. 2, S. 114. 175 Gadamer, Bd. 2, S. 114. 7*
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B. ,Jnhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
Und auf Habennas' Idee der idealen Sprechsituation eingehend, konstatiert er, daß die Ideologiekritik selbst den "rationalen Diskurs" einfuhren müsse, um sich auf zwangfreie Weise zu verständigen. 176 Die Chancen, durch solche Ideologiekritik letztlich große Veränderungen herbeizufuhren, schätzt Gadamer eher skeptisch ein: "Begriffe wie der der ,Aufklärung', der ,Emanzipation', des ,zwangfreien Dialogs' enthüllen sich in der Konkretion der henneneutischen Erfahrung als anne Abstraktionen. Die henneneutische Erfahrung realisiert nämlich, wie tief Vorurteile eingewurzelt sein können und wie wenig ein bloßes Sich-Bewußtwerden derselben imstande ist, ihre Gewalt aufzulösen."177 Im Kern sieht Gadamer auch in der Ideologiekritik, sei es die der Aufklärung oder die des Marxismus, eine vorurteilsgeleitete Denkrichtung, die gerade dies nicht anerkennen wolle. 178 Auch sei die gerade von Habennas entwickelte Parallele zwischen der Gesellschaft und Ideologiekritik einerseits und einem Patienten und seinem Arzt bzw. Psychoanalytiker andererseits verfehlt. 179 Zumindest die Parallelen zwischen Henneneutik und Psychoanalyse sind aber unverkennbar: Auch der Psychoanalytiker will bestimmte Vorverständnisse des Patienten offenlegen, um ihnen durch diese Offenlegung und ihre bewußte Reflexion durch den Patienten ihre Wirksamkeit zu nehmen. 180 Gleichwohl wollen auch Vertreter der philosophischen Henneneutik "Ideologie" kritisieren und durch "Verstehen" auflösen: "Eine Ideologie als solche Gadamer, Bd. 2, S. 115. Gadamer, Bd. 2, S. 115, vgl. aaO auch: "Die Ideologiekritik beansprucht, emanzipatorische Reflexion zu sein, und entsprechend beansprucht der therapeutische Dialog, die Maskierungen des Unbewußten bewußt zu machen und dadurch aufzulösen. Alle beide setzen dabei ihr Wissen voraus und halten sich flir wissenschaftlich fundiert. Im Unterschiede dazu enthält die hermeneutische Reflexion keinerlei inhaltlichen, vorgängigen Anspruch solcher Art." ... In bei den Fällen (Ideologiekritik und Psychoanalyse) ... meint die Interpretation von einem vorgängigen Wissen geleitet zu sein, von dem aus sich die vorgefaßten Fixierungen und Vorurteile auflösen lassen .... Im Gegensatz dazu betrachtet die hermeneutische Erfahrung jeden Anspruch vorgängigen Wissens mit Skepsis." 17K Vgl. Gadamer, Bd. 2, S. 182 f. u. 349. IN Gadamer. Bd. 2. S. 500: "Der Reflexionsbegriff, der der Ideologiekritk zugrunde liegt. impliziert ... einen abstrakten Begriff von zwangfreiem Diskurs, der die eigentlichen Bedingungen menschlicher Praxis aus dem Auge verliert. Ich mußte das als illegitime Übertragung der therapeutischen Situation der Psychoanalyse zurückweisen." Vgl. dazu exemplarisch Habermas. Technik und Wissenschaft als "Ideologie", 2. Aufl., Frankfurt a. M., 1969, S. 158 f. u. Karl-Otto Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, in: Apel u. a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 7 ff. (39 ff.); vgl. auch die Replik von Habermas in: ders., Theorie und Praxis, 2. Aufl., Frankfurt a. M., 1980. S. 35 f. IKO Vgl. Z. B. Andre Haynal, aaO, S. 79, der die Psychoanalyse als "Variante" der Hermeneutik bezeichnet (aaO, S. 77). m
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III. Hermeneutik - Basis sozial wissenschaftlicher Inhaltsanalyse?
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verstehen heißt: sie zu durchschauen, d. h. die Unverläßlichkeit ihres Wahrheitsanspruches aufzudecken. Die der Ideologie entsprechende Verstehensfonn ist also gleichbedeutend mit der Kunst, den ideologischen Schein kritisch aufzulösen."181 Aber auch in dieser Variante der Henneneutik tritt die "Vorurteilsstruktur" al1en Verstehens in den Vordergrund l82 und bietet als Lösung eben die Reflexion der eigenen Vorverständnisse an. IS3 Hier sol1 nur angemerkt werden, daß der "Kritischen Theorie" die Vorurteilsproblematik keineswegs verborgen geblieben ist. So stel1te etwa Th. W. Adorno fest: "Die wohlfeile Genugtuung darüber, daß es wirklich so kommt, wie sie es geargwöhnt hatte, darf die gesel1schaftliche Theorie nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie, sobald sie als Hypothese auftritt, ihre innere Zusammensetzung verändert. Die Einzelfeststellung, durch die sie verifiziert wird, gehört selbst schon wieder dem Verblendungszusammenhang an, den sie durchschlagen möchte."IS4 Und, so Max Horkheimer: "Jede Untersuchung, rein empirisch, wie sie sich geben mag, trägt subjektive, das Material bestimmende Momente an sich ... Diese Momente bewußt zu machen, gehört selbst in den Bereich der Soziologie."ls5 Unterstellt, man folgte Gadamer darin, daß alles Verstehen vorurteilsgeleitet sei und auch darin, daß die Offenlegung dieser Vorverständnisse dem "richtigen" Verstehen eines Textes zumindest förderlich ist, bleibt der Mangel fehlender Methodik bestehen. "Gadamer kommt der positivistischen Abwertung der Henneneutik unfreiwillig entgegen. Er trifft sich mit seinen Gegnern in der Auffassung, daß die henneneutische Erfahrung ,den Kontrol1bereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt. "'186 Diese Feststel1ung von Jürgen Habennas ist m. E. bis heute gültig. Denn "der Anspruch, den Henneneutik gegen den auch praktisch folgenreichen Absolutismus einer al1gemeinen Methodologie der Erfahrungswissenschaften legitim zur Geltung bringt, dispensiert nicht vom Geschäft der Methodologie überhaupt". IS7
1'1 Helmut Kuhn, Ideologie als hermeneutischer Begriff, in: Rüdiger Bubner u. a. (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik I, Tübingen, 1970, S. 343 ff. (343 f.). 1'2 Kuhn. aaO, S. 344: ..... ist nicht zu leugnen, daß die ideologiekritische Operation eine Tendenz zum Amoklauf in sich trägt. Wie alles, was Midas anrührte, zu Gold wurde, so droht alles, worauf diese Kritik ihre Hand legt, sich in Ideologie zu verwandeln." u. S. 348 f. 1.3 Kuhn, aaO, S. 356. IK4 Soziologie und empirische Forschung, in: Adomo/Horkheimer, Sociologica, S. 205 ff. (206). . 1.5 Soziologie und Philosophie, in: Adorno/Horkheimer, Sociologica, S. 5 ff. (13). IK(, Jürgen Habermas: Zu Gadamers .. Wahrheit und Methode", in: Apel u. a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 45 ff. (45) unter Hinweis auf Gadamer, Bd. I, S. 1. IK7 Habermas, aaO, S. 46.
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B. "Inhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
Statt auf die Offenlegung dieser Vorverständnisse zu vertrauen, müßte - wie bereits oben im ersten Teil der Arbeit gefordert - geklärt werden, ob die Vorverständnisse, die offengelegt werden, auch wirklich die sind, die der betreffende Interpret hatte. Wenn dies überhaupt zu kontrollieren ist, was ich sehr bezweifle, dann am ehesten mit konsentierten Methoden. Sonst besteht die Gefahr einer bloßen Zuschreibung von Vorverständnissen mit Folgen, die gerade an ideologische Verzerrungen erinnern: "Wir schreiben einem anderen ein Vorverständnis zu (und) fordern ihn auf, dieses aus seinem Hinterkopf zu explizieren ... Schließlich können wir den anderen noch diffamieren, weil es ihm nicht gelingt, das Vorverständnis vollständig zu explizieren - wobei wir uns natürlich vorbehalten, wann es vollständig expliziert ist. ... Wir können dann sagen, der andere wisse ja im Grunde gar nicht, was er da meint."188
2. Das hermeneutische Fundament des Modells einer qualitativen Inhaltsanalyse Auf diesen theoretischen Hintergrund bezieht sich nun Jürgen Ritsert, ohne allerdings Gadamers "konservative Geschichtsphilosophie oder henneneutische Universalitätsansprüche" zu übernehmen. 189 Dies geschieht, um dies in Erinnerung zu rufen, gerade im Zusammenhang mit Ausführungen, die sich mit der Gewährleistung von "Triftigkeit" der inhaltsanalytischen Ergebnisse befassen. Er greift damit auf einen philosophischen Ansatz zurück dem es ausdrücklich in der Hauptsache nicht um den Aufbau "einer gesicherten Erkenntnis (geht), die dem Methodenideal der Wissenschaft genügt."190 Damit bedarf aber Ritserts Verweis darauf, daß seine letztlich henneneutisch fundierte Methode einer qualitativen Inhaltsanalyse der "Reflexion auf die Bedingungen der Triftigkeit von Aussagen ... nicht entzogen" sei, zumindest einer genaueren Überprüfung. 191 Daß eine solche Reflexion nicht dasselbe ist wie die Sicherstellung von Triftigkeit, ist offensichtlich. Und ebenso klar betont Ritsert immer wieder, daß er letztlich nur Indikatoren für die Verbindlichkeit einer Inhaltsanalyse aufzeigen will, diese aber nicht geWährleisten kann. 192
IMK Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 33; vgl. auch ders., Rechtstheorie und Rechtssoziologie, S. 121 ff. IM" Vgl. Ritsert, S. 86. l'lil Vgl. Gadamer, Bd. I, S. I. 191 Ritsert, S. 86. 192 Vgl. nur aaü, S. 83 u. 87.
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In Anlehnung an Gadamer sollen sich "die Sinnvorentwürfe, die Vorverständnisse, die an die Texte herangetragen werden ... an deren tatsächlicher Sinn- und Bedeutungsstruktur bewähren."193 Diese "objektive" Struktur ist für Gadamer, wie gesehen, die eigentliche, letzte Sicherheit. Um sie zu erkennen und beurteilen zu können, damit sich Vonneinungen "am Text bewähren", muß man sich aber notwendig bestimmter, "richtiger" Vorverständnisse bedienen, deren Richtigkeit man nur erkennen kann, ... usw. Der henneneutische Zirkel. Ritsert stellt zu Recht die Frage, wie dann Texte vor "Mißverständnis" geschützt werden können, um dann die bekannte Gadamersche Fonnel zu übernehmen, daß der Interpret sich seiner Voreingenommenheit bewußt sein müsse. 194 Dem diene in seinem Konzept die Vorfonnulierung des "theoretischen Rahmens". 195 Auf die mit dieser Vorgehensweise verbundenen Probleme wurde bereits oben hingewiesen. Mit dem Rückgriff auf die philosophische Herineneutik steht Ritsert in der qualitativen Sozial forschung, wie bereits oben erwähnt, nicht allein. So sieht z. B. Siegfried Lamnek im "metatheoretischen Hintergrund" qualitativer Sozial forschung ebenfalls die "Tradition von Phänomenologie und Henneneutik" wirken. 196 Denn auch die qualitativen Ausprägungen der Sozialwissenschaften wollen in ihrem Bereich, wie ausgeführt, "verstehen". 197 Sich dann der "Kunstlehre" des Verstehens zu bedienen, liegt nahe. Damit wird aber, wie gesehen, ein "objektives" Sinnverstehen problematisch: "Wissenschaftliche Ergebnisse müssen danach wiederholbar, jederzeit nachprüfbar und intersubjektiv sein, was ... beim hermeneutischen Verstehen nicht zutreffen kann."198 Die begehrte Intersubjektivität wird von der Henneneutik zum einen als Vorverständnis, dessen es zum Verstehen bedarf, vorausgesetzt (z. B. die notwendigen Sprachkenntnisse, Fachwissen usw.). Andererseits liegt diese Intersubjektivität bereits
Ritsert. S. 86: vgl. dazu Gadamer Bd. I. S. 272. Ritsert. S. 87. 10; Freilich hilft auch das in bestimmten Fällen nicht weiter: "Wer hartnäckig an dem vorbeiliest. was in einem Text steht. wird die aufgefaßten Gehalte letztlich nicht mit seinen Sinnerwartungen in Einklang bringen können, wenn er überhaupt einen Inhalt aufzufassen in der Lage ist.", Ritsert, S. 87. 1% AaO. Bd. I, S. 71: vgl. auch Mayring, aaO, S. 25 ff. 107 Vgl. Lamnek, Bd. 2, S. 202, der dies als "Prinzip der Interpretativität" bezeichnet. Zudem wende der Forscher "mit der qualitativen Inhaltsanalyse eine wissenschaftlich modifizierte Form des alltagsweltlichen Fremdverstehens an, um aus der naturalistischen. quasi-alltagsweltlichen Untersuchungssituation Handlungsmuster herauszufiltern." lOK Lamnek. Bd. I, S. 85. Zudem liefert die Hermeneutik, wie gesehen. "keine methodischen Instrumente zur objektiven Erkenntnis", sondern lediglich "Regeln", die beim "höheren Verstehen. z. B. bei Textinterpretationen beachtet werden sollten." (Lamnek. aaO. S. 86). 103 104
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B. "Inhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
dem Objekt zugrunde, das erst verstanden werden soll, "was im Verständnis traditioneller Methodologie einen logisch unzulässigen Zirkel darstellt."199 Wo qualitative Sozialforschung aber Texte zu interpretieren hat, sollen die Erkenntnisse der Hermeneutik als "sozialwissenschaftliche Hermeneutik" beachtet werden. 20o Speziell für die qualitative Inhaltsanalyse hat Philipp Mayring folgende Punkte aus der Hermeneutik extrahiert: 201 Zunächst müßte eine gen aue Quellenkunde bzgl. des zu analysierenden Materials betrieben, dessen Genesis freigelegt werden. Außerdem müsse der Inhaltsanalytiker sein Vorverständnis explizieren, implizite Vorannahmen offenlegen. Schließlich dürfe die Analyse nicht beim manifesten "Oberflächeninhalt" stehenbleiben, sondern müsse auch auf latente Sinngehalte abzielen.
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, auf weIchen Gebieten in den Rechtswissenschaften inhaltsanalytische Verfahren bisher eingesetzt wurden und - an Beispielen - mit weIchem Erfolg. Bisherige, mehr oder weniger systematische, "Inhaltsanalysen" von höchstrichterlichen Entscheidungen und anderen juristischen Texten sind eher qualitativ orientiert. Als Klassiker gilt eine Studie von Otto Kahn-Freund über das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, in der er die Urteile aus den Anfangsjahren dieses Gerichts darautbin untersuchte, ob in ihnen ein faschistisches Sozialideal zu erkennen sei, was er bejahte. 202 Sie gilt freilich aus heutiger Sicht als methodisch überholt. 20J Vom Thema her war sie Vorbild für eine Untersuchung von Wolfgang Däubier über "Das soziale Ideal des BAG"204 die zu dem Ergebnis gelangte, daß den Unternehmerinteressen durchgehend der Vorrang vor den Belangen der Arbeitnehmer eingeräumt werde. 205 Ein Vergleich mit der Studie von KahnFreund ergab, daß, wie schon die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichtes, auch die Rechtsprechung des BAG die Interessen von Unternehmern durch 199 Lamnek, Bd. I, S. 85; vgl. auch Früh, S. 104. 200 Vgl. Lamnek, Bd. I, S. 89 m. w. Nachw. 201 Vgl. Mayring, aaO, S. 27. 202 Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, Mannheim, 1931,
wieder abgedruckt bei: Thilo Ramm (Hrsg.), Arbeitsrechts und Politik, Neuwied, 1966, S. 149 ff. 20J Vgl. dazu: Jutta Limbach, Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Entscheidungen, JA 1976 S. 353 ff. (358). 204 Frankfurt/Köln, 1975. l05 Däubler, aaO, S. 126.
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft
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Reduzierung kollektiver Interessenwahrnehmung seitens der Arbeitnehmer fördere, was "angesichts der Vorherrschaft des Kapitals auf eine Unterwerfung unter dessen ,Logik' hinauslaufe. Insoweit gebe es "keinen Unterschied zwischen Bonn und Weimar."206 Hier erschiene eine ideologiekritische Inhaltsanalyse der Urteilsanalysen interessant. Bei den genannten Untersuchungen handelte es sich allerdings nicht um Inhaltsanalysen im Sinne der empirischen Sozialforschung, sondern um Ideologiekritik, die auf methodische Triftigkeit verzichtet und nur auf die Plausibilität ihrer Erklärungen setzt. Sie sind folglich aus Sicht der Soziologie als "essayistisch" bzw. "impressionistisch" anzusehen.
1. Juristische Literatur als Objekt inhaltsanalytischer Untersuchungen Im Bereich der Rechtswissenschaften fanden inhaltsanalytische Verfahrensweisen in verschiedenen Bereichen Anwendung, von denen im folgenden zunächst Analysen juristischer Literatur dargestellt werden sollen. Ekkehard Klausa untersuchte unter Verwendung der Erkenntnisse und Methoden sozialwissenschaftlicher Inhaltsanalytik Texte von Rechtslehrern im Hinblick auf ihre politischen Inhalte. 207 Dabei wurden wissenschaftliche Aufsätze von Rechtsprofessoren auf Textelemente hin untersucht, die Rückschlüsse auf die politische Einstellung der Autoren erlauben sollten, wobei der jeweilige Autor auf einer Rechts-Links-Skala einzuordnen war. Die daraus gewonnenen Ergebnisse wurden dann mit einer entsprechenden Untersuchung von Texten amerikanischer Rechtslehrer verglichen. Dritte Vergleichsgröße waren Soziologie und Politologie. Forschungshypothesen waren u. a., daß sich auf einer Skala "mit der professionellen Orientierung als linkem Pol und der akademischen Orientierung als rechtem" die amerikanische Rechtswissenschaft links anordnen, die deutsche in der Mitte und eine Sozialwissenschaft wie Soziologie oder Politologie ganz rechts lasse. 2os Weiterhin wurde angenommen, daß die allgemeine ideologischpolitische Dimension bei den deutschen Rechtslehrern "mit ihrer akademischen Sozialorganisation die Theoriebildung deutlich stärker beeinflussen müßte als in der amerikanischen Fachgemeinschaft mit ihrer professionsnahen SozialorDäubler, aaO, S. 127 f. Ekkehard Klausa, Politische Inhaltsanalyse von Rechtslehrertexten, ZfSoz 1979, S. 362 ff. 20S Klausa, aaO, S. 363. 20h 201
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ganisation." Als Indikator sollte die Nachweisbarkeit einer Links-RechtsSpaltung in akademischen Bewertungsstandards und in der rechtswissenschaftlichen Argumentation dienen. 209 Zunächst wurde dann eine Befragung deutscher und amerikanischer Rechtslehrer über ihre Meinung zur akademischen Qualität von 28 juristischen Fakultäten (bzw. Law Schools) "auf beiden Seiten" durchgeführt, wobei zunächst auf allgemeinpolitische Einstellungsfragen zu antworten war, woraus sich als Ergebnis zwei "Extremgruppen" auf einer Rechts-Links-Skala isolieren ließen. Hier muß aber bereits die Frage erlaubt sein, ob die Möglichkeit bedacht wurde, daß die Befragten die Intention der gestellten Fragen durchschaut und nicht unbedingt in jedem Punkt zutreffend beantwortet haben. 2lO Danach wurde die Inhaltsanalyse der Rechtslehrertexte vorgenommen, wobei Untersuchungsgegenstand eine "Zufallsstichprobe von Zeitschriftenaufsätzen deutscher und amerikanischer Rechtslehrer" war, die nach den Ergebnissen der o. g. Befragung einer politischen "Extremgruppe" zuzuordnen waren. Ergänzend hierzu wurde eine "Sonderstichprobe" bei amerikanischen und deutschen Rechtslehrern durchgeführt, die ihre Fragebogen mit Namensnennung einsenden sollten. Eine Hypothese zu der "Sonderstichprobe" war, daß sich die Zugehörigkeit zu den Extremgruppen in den deutschen Texten zuverlässiger, d.h. mit höherer "Trefferquote" inhaltsanalytisch rekonstruieren lasse als in den amerikanischen Texten. 2Il Die Rücklaufquoten der Bögen mit Namensnennung lagen bei 30 % (am.) bzw. 15 % (dt.).212 Daß es sich dabei um einen systematisch verzerrten Rücklauf handelt, dem kein repräsentativer Charakter zukommen kann, wird von Klausa zutreffend gesehen. Auf repräsentative Ergebnisse kam es Klausa nach eigenem Bekunden aber insoweit auch gar nicht an, sondern lediglich auf die Ermittlung von rechten bzw. linken Autoren, deren Texte exemplarisch untersucht werden konnten. 21 ) Auch hier sind einige kritische Einwände angebracht. Zunächst fragt sich, welche Aussagekraft eine, selbst aus Sicht der Analytiker, nicht repräsentative Untersuchung haben kann. Bestenfalls einen heuristischen Wert. 214 Gerade die geringe Rücklaufquote bei den Bögen, die unter Na-
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210 211 212 213
214
Klausa, aaO, S. 264. Vgl. dazu nur Hartmann, aaO, S. 111. Klausa, aaO, S. 365. Klausa, aaO, S. 364, FN 5. Klausa, aaO. Das wird von Klausa sogar ausdrücklich eingeräumt, vgl. aaO, S. 369.
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mensnennung zurückgesandt werden sollten, bestärkt m. E. die oben geäußerte Vermutung, daß das offene Bekenntnis der eigenen politischen Anschauungen zumindest einem Teil der Befragten widerstrebte. Dann ist es aber auch durchaus denkbar, daß diejenigen, die unter Namensnennung geantwortet haben, nicht in jedem Fall ganz offen waren. Das soll keine Unterstellung, sondern lediglich ein kritischer Einwand sein. Träfe diese Annahme zu, wäre der Erkenntniswert der Untersuchung weiter gemindert. Zudem ist zu bedenken, daß lediglich aus den Stellungnahmen einer Millderheit der ursprünglich Befragten die Rechts-Links-Skala gebildet wird. 215 Auch darin liegt eine Grobrasterung, die u. U. in die Nähe einer Simplifizierung politischer Anschauungen geraten kann, die sich nur marginal von der angeprangerten "Trivialität" anderer Hypothesenbildungen unterscheiden könnte. Immerhin wird von Klausa konzediert, daß der "Operationalisierung flir die grobkörnige Erhebungstechnik der Meinungsumfrage" einige "ideologische Komplexität" zum Opfer falle. 216 Als sachliche Rechtfertigung flir sein "grobkörniges Schema" mit den Polen Links und Rechts nennt Klausa, daß über die Bedeutung dieses Schemas ein gewisser allgemeiner Konsens herrsche. Das ist zwar sicher zutreffend. Gleichzeitig dürfte dieser Konsens aber auch hinsichtlich der Undifferenziertheit und Vagheit dieser Klassifizierung bestehen, so daß dieses Argument keine allzu große Überzeugungskraft hat. Zentrale Bedeutung hat die Frage, ob und welche Textelemente in juristischen Zeitschriftenaufsätzen die politische Einstellung des Autors indizieren bzw. wie die (politischen) Einstellungen und Überzeugungen der Autoren in die Textform transponiert werden und dort kenntlich sind. Vor allem geht es um die Frage, welche Textelemente aufweiche Einstellung schließen lassen. Klausa benennt zwei mögliche Vorgehensweisen: Der politische Inhaltsanalytiker könne zum einen den Text "ohne Vorannahmen über die Einstellung des Autors" lesen, wobei ihm bestimmte Textelemente "ins Auge springen" müßten, da sie ihn "irgendwie" an eine allgemeine politische Einstellung erinnerten. 217 Oder er lese den Text mit einer Vorannahme über diese Einstellung des im bekannten Autors. Nicht zuletzt deshalb versuche er dann, bestimmte Textelemente mit einer bestimmten politischen Idee in Verbindung zu bringen.
215
21~ 217
Vgl. Klausa, aaO, S. 369. Klausa, aaO, S. 365. Klausa, aaO, S. 369.
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Daß auf solche Weise keine wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse gewonnen werden können, sieht Klausa natürlich. Auch er fordert, um den Erfordernissen der soziologisch fundierten Inhaltsanalyse zu genügen, eine systematische, ausdifferenzierte Vorgehensweise. Dabei müsse die Forschungshypothese über die spezifischen Textelemente und ihre Bedeutung so weit ausgearbeitet sein, daß der Text nur noch mechanisch unter einen standardisierten Code zu subsumieren sei. Die Frage, woher eine solche Hypothese, die nicht trivialer Natur ist, sondern der Komplexität der erwarteten Erkenntnisse entspricht, kommen soll, kann Klausa allerdings auch nur resignierend stellen beantwortet wird sie nicht. Aus der Geschichte der Inhaltsanalyse· verweist er auf die Frühphase dieses Instrumentes, in der, wie oben dargestellt, vornehmlich Propagandatexte und ähnlich plakativ formulierte Texte analysiert wurden. 218 Es folgt eine Stellungnahme, die man als fast "Offenbarungseid" einer sich anspruchsvollen Texten mit nicht völlig trivialen Hypothesen nähernden Inhaltsanalytik bezeichnen könnte: Schließe man von Elementen eines rechtswissenschaftlichen Textes auf A (eine allgemeinpolitische Einstellung, d. Verf.) zurück, so könne der Einwand kaum entkräftet werden, daß aus einem Vorurteil über die Einstellung des bekannten Autors (oder einer Autorengartung, z. B. Richter) A in Textelemente hineingelesen werde, die keinerlei offensichtlichen Bezug zu A haben. 219 Entsprechend nimmt Klausa fiir seine Untersuchung dann auch nur in Anspruch, heuristische Hypothesen zu entwickeln. 220 Die Codierung wurde von "Beurteilern" durchgeführt, die nicht mit vorgegebenen Codes arbeiteten, sondern ohne Kenntnis vom Autor und seiner Einstellung den Text der rechten oder der linken Autorengruppe zuordnen (oder sich mangels Erkennbarkeit dazu außerstande erklären) sollten. 22I Den Beurteilern war des weiteren bekannt, daß der jeweilige Autor der einen oder anderen "Extremgruppe" angehört. Beantwortet werden sollte die Frage, ob der Autor den allgemeinpolitischen Fragebogen in dieser oder jener (operational vorgegebenen) Richtung beantwortet hat. Der Versuchsleiter konnte dann die Zuordnungen der Beurteiler überprüfen und feststellen, ob die politische Identifizierung der Autoren aufgrund ihrer wissenschaftlichen Texte mit einer Trefferquote oberhalb der Zufallswahrscheinlichkeit gelungen war. Nach einem be-
Klausa, aaO, S. 369. m Klausa, aaO, S. 369. 220 Klausa, aaO. 221 Klausa, aaO, S. 369, vgl. z. B. S. 377: "Selbst mit einer Codeanweisung von Telefonbuchdicke ließe sich nicht festlegen, in welcher Art von Texten das Fehlen welcher Textelemente als eo ipso konservativ zu gelten habe." 21K
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stimmten Punktesystem fiir richtige und falsche Antworten konnten die deutschen Beurteiler immerhin 45 % der Maximalpunktzahl fiir richtige Antworten erreichen, die amerikanischen nur 26,2 %.222 Damit fand man die Forschungshypothese bestätigt, daß die nach rechts und links polarisierte allgemeinpolitische Einstellung der Autoren in Rechtslehrertexten, in deutschen mehr als in amerikanischen, erkennbar ist. Allerdings stellt Klausa zutreffend fest, daß es mehr Einwände gegen die Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit dieses Verfahrens gibt, als er widerlegen könne. 223 Das gilt z. B. für die Zuordnung durch die BeurteileT. Klausa selbst gibt zu bedenken, daß es nicht sicher sei, "daß die Beurteiler selbst genau wissen oder klar formulieren können, welche Kriterien ,in ihrem Hinterkopf wirksam waren."224 Damit ist der Bereich der Vorurteilsstruktur gemeint, dem nach den Lehren der philosophischen und juristischen Hermeneutik alles Verstehen unterliegt. Klausa sieht das Erfordernis, durch den Einsatz von "Beurteilern" anstelle von bloßen Codierern ,jeweils eine Art von hermeneutischer Rechtfertigung fiir die Subsumtion eines Textelements unter eine vorgegebene, aber allgemein gehaltene Kategorie" zu geben. 225 Wie bei allen anderen inhaltsanalytischen Arbeiten im Bereich der deutschsprachigen Rechtswissenschaft wird dieser Aspekt aber nur am Rande gewürdigt, so wenn Klausa einräumt, daß man die Fähigkeit, die Textgestalt zutreffend zu deuten, gerade nicht in einen kontextfreien Code aus standardisierten Elementen übersetzen könne und er wegen dieses "Gestaltrestes" bei der Wahrnehmung (der politischen Tendenz) eines Textes ("ein Rest, den auch unsere Systematisierung von Textpartikeln nicht beseitigt") gegenüber einer vollständigen Kodierbarkeit skeptisch bleibe. 226 Es bleibt die Erkenntnis, die sich auch in der inhaltsanalytischen Literatur fast stereotyp findet, daß sich Komplexitätsniveau und Präzisionsniveau bei inhaltsanalytischen Experimenten häufig umgekehrt proportional verhalten. 227 Hinzu kommt die pessimistische Prognose, die konsequente Standardisierungsmethode bleibe gegenüber juristischen Texten auf absehbare Zeit "eher ein Forschungshinderungsprogramm. ,,228 Insgesamt bleibt festzuhalten, daß Klausa die Grenzen der Anwendung inhaltsanalytischer Instrumente (auch) in der Rechtswissenschaft klar erkennt m Klausa, aaO, m Klausa, aaO, 224 Klausa, aaO, 215 Klausa, aaO, m Klausa, aaO, 221 Klausa, aaO, 22" Klausa, aaO,
S. S. S. S. S. S. S.
371. 371. 374. 378. 374. 371. 374.
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und, was fast noch wichtiger ist, ehrlich benennt. Das mag zwar zu einer "Entzauberung" dieses Instrumentes beitragen229 und die Resignation fördern, auch mit dieser Methode keine wirklich wissenschaftlich-"objektive" Interpretation von inhaltlicher Tiefenschärfe liefern zu können. Der, um ein vielleicht pathetisches Wort zu gebrauchen, Wissenschaftsethik dient diese Offenheit sicher.
2. Die Anwendung inhaltsanalytischer Verfahren auf Urteile deutscher Gerichte In diesem Abschnitt soll geprüft werd~n, ob und wie sich inhaltsanalytische Methoden zur Analyse von Gerichtsurteilen verwenden lassen. In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich etliche Stimmen, die eine Anwendung inhalts analytischer Instrumentarien auf Gerichtsurteile für möglich halten und empfehlen. Ausgehend von der Feststellung, daß selbst ausführliche Begründungen letztinstanzlicher Gerichte "abkürzende Leerformeln und Stereotype" beinhalten und wird behauptet, daß es möglich sei, "die hinter diesen Floskeln stehenden Einstellungen inhaltsanalytisch zu verarbeiten.'mo Hierfür wird die qualitative Inhaltsanalyse als Instrument genannt. 231 Soweit ersichtlich, wurde dieser Versuch einer Anwendung inhaltsanalytischer Methoden auf Urteilstexte in größerem Umfang bisher, wie ausgeführt, nur in zwei Untersuchungen unternommen. Im folgenden wird zunächst die Arbeit von Hans-Jürgen Hopp "Qualitative Inhaltsanalyse höchstrichterlicher Entscheidungen" im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, da mit ihr der erste Versuch einer umfassenden Übertragung eines sozialwissenschaftlich-inhaltsanalytischen Verfahrens in den rechtswissenschaftlichen Bereich unternommen wurde. Anschließend soll ein Beispiel untersucht werden, bei dem eine qualitative Inhaltsanalyse von Urteilen, auf Hopps inhaltsanalytischem Modell basierend, ergänzend herangezogen wurde. 232 Schließlich soll die bislang wohl umfangreichste, von Dirk Fabricius durchgeführte, inhaltsanalytische Untersuchung von höchstrichterlichen Entscheidungen im deutschsprachigen Raum näher betrachtet werden.
22~ Vgl. Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: Th. W. Adorno/Max Horkheimer, Sociologica, Ausg. Frankfurt, 1984, S. 205 ff. (205), der zu diesem Drang zur Entzauberung bemerkte: "Gegen solchen Drang sträubt sich die soziologische Tatsachenforschung." 23U Christina Coles, aaO, S. 162. 231 Röhl, Rechtssoziologie, S. 118. m Christina Coles, aaO, S. 160 ff., bes. 165 ff., deren theoretisch-methodischen Erwägungen insoweit auf Hopp gestützt werden, vgl. S. 164, FN 1.
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a) Qualitative Inhaltsanalyse von richterlichen Entscheidungsbegründungen aus soziologischer Perspektive Im Vorgriff auf diese Betrachtungen sei bemerkt, daß ich Hopps Modell einer qualitativen Inhaltsanalyse (höchst-)richterlicher in weiten Teilen nicht zustimmen kann. Die Gründe werde ich im einzelnen darlegen. Das ändert allerdings nichts daran, daß Hopp mit seiner Arbeit gerade auch rur die Rechtswissenschaften "Neuland" betreten und neue Wege einer Urteils- und Ideologiekritik aufgezeigt hat. Es ging um den Versuch, die Bedeutung und Möglichkeiten eines Instrumentes der empirischen Sozial forschung, der qualitativen Inhaltsanalyse, rur die Analyse der Rechtspraxis zu demonstrieren. 2J3 Exemplarisch untersuchte Hopp die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den §§ 1634, 1666 und 1671 BGB hinsichtlich des Begriffs "Wohl des Kindes" mit dem Anspruch, eine Methode zur "kritischen Analyse" von Entscheidungsbegründungen zu verwenden, mit deren Hilfe latente Bewertungsmaßstäbe generalisierbar aufgedeckt und der Untersuchungsprozeß nachvollziehbar dargestellt sowie Verbindlichkeit rur die auf diese Weise gewonnenen Aussagen beansprucht werden könne. 234 Wichtigste Aufgabe war rur Hopp dabei die ideologiekritische Analyse von unterschwellig eingeflossenen Werturteilen. 235 Hierzu schien ihm kein anderes Instrument der empirischen Sozialforschung besser geeignet als die qualitative Inhaltsanalyse. Dieser Anspruch soll im folgenden vor allem hinsichtlich der Verbindlichkeit der Aussagen überprüft werden. Zunächst erörtert Hopp "das richterliche Vorverständnis".236 In Anlehnung Erkenntnisse der Richtersoziologie und der Hermeneutik stellt Hopp fest, daß unbewußte, unartikulierte und blind tradierte "Interpretationsfolien" in kaum kontrollierbarem Ausmaß in die Rechtspraxis einfließen. 237 Ferner wird zu der' Frage, die bereits im ersten Teil dieser Arbeit erörtert wurde, eingeräumt, daß diese latenten Urteilsdeterminanten "allenfalls indirekt" aus den schriftlichen Gründen zu erschließen seien. 238 Unter "indirektem" Schließen wird der "sinnvolle Einsatz von sozialwissenschaftlichen Methoden" verstanden. 239 Und genau das ist bereits oben allgeHopp, aaO, S. 5. AaO, S. 20, vgl. auch S. 34 f. 235 Hopp, S. 3 I. 236 AaO, S. 7 ff. 237 AaO, S. 8. m AaO, S. 8. m AaO, S. 9. 233
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mein für die soziologische Inhaltsanalyse untersucht worden und soll hier speziell im Hinblick auf Urteilsanalysen thematisiert werden: Der sinnvolle Einsatz inhaltsanalytischer Methoden zur Ideologiekritik und zum Aufspüren latenter Sinnstrukturen in Urteilen. Die Erwartungen an die Soziologie und das Vertrauen in ihre Methoden sind hier enorm: Die Integration soziologischer Methoden und Erkenntnisse erscheine geradezu als eine "conditio sine qua non der Realitätsbewältigung durch das Rechtssystem." Auch habe eine sozialwissenschaftliche Orientierung der Rechtswissenschaften vorrangig zur Aufdeckung der entscheidungsleitenden, aber außerrechtlichen Gründe, Motive und Einstellungen in der juristischen Argumentation beizutragen. 24o Die Notwendigkeit einer solchen Analyse ist evident, wenn man mit Hopp die höchstrichterliche Rechtsprechung als "Anpassungsapparat des Rechtssystems an sich wandelnde gesellschaftliche Wertstrukturen" begreift. 241 Zentrale Bedeutung für die exemplarische, ideologiekritische Analyse des Begriffs "Kindeswohl" in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat nun die Methode der Analyse.
aa) Einzelheiten der Methode und ihrer Anwendung Bezugnehmend auf Rüdiger Lautmanns Untersuchung der "stillen Gewalt" verweist Hopp nicht zu Unrecht darauf, daß sich Lautmann mit seiner Methode der "teilnehmenden Beobachtung" nur auf der Stufe subjektiver Zufälligkeit bewegte und sich dem Verdacht willkürlicher Interpretation ausgesetzt sah. 242 Im Gegensatz dazu wollte Hopp "verbindliche, triftige Aussagen" durch Beachtung der Standards der empirischen Sozial forschung erreichen, "weil erst abgesicherte Erkenntnisse Lernprozesse ermöglichen, die letzten Endes die Glaubwürdigkeit des bestehenden Rechtssystems erhöhen".243 Diesem Anliegen kann hier nur vorbehaltlos zugestimmt werden. Ebenfalls wird völlig zutreffend gesehen, daß die Verbindlichkeit inhaltsanalytischer Aussagen umfassend von der Präzision der verwendeten Instrumente abhängt. 244 Deshalb wird im folgen-
Hopp, aaO, S. 11. 241 AaO, S. 13 f. 242 AaO, S. 18. 24JAaO,S.19. 244 Hopp, S. 39, im Anschluß an Ritsert, S. 73 f.
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den näher zu untersuchen sein, wie es um die Beachtung dieser "Standards" und die Präzision der Instrumente in den Urteilsanalysen bestellt ist. 245 Hopp bediente sich im wesentlichen des von Jürgen Ritsert entwickelten Modells einer qualitativen Inhaltsanalyse,z46 das er im Hinblick auf eine Anwendung auf die zu untersuchenden Urteile bzw. Beschlüsse modifizierte. Deshalb wird auch dieses Modell in Teilen Gegenstand der Untersuchung sein. Ersten Bedenken begegnet bereits die Einengung des zu untersuchenden Materials durch Hopp. So argumentiert er, daß Beschlußbegründungen nur in einzelnen Textpassagen zugänglich seien. Das ist insoweit richtig, als zumindest die bloße Wiederholung des Gesetzestextes im Beschluß noch keine richterlichen Wertungen verraten kann. Es ist aber eine noch weitgehendere Restriktion vorgenommen worden - mit der Begründung, die Beschlüsse enthielten überwiegend Rechtsauslegungen, die inhaltsanalytisch deshalb irrelevant seien, weil "Rechtsvergleiche, die Überprüfung von Gesetzesverletzungen, von Verfahrensfehlem zwar juristisch sehr bedeutsam sind, aber keine sozialwissenschaftliche Analyse" erlaubten. 247 Deshalb könnten Sachverhalt und Begründungen nur ausgewertet werden, soweit sie über den Hinweis auf das geltende Recht hinausgingen. 248 Ob dies zutrifft, erscheint mir zweifelhaft. Schließlich kann gerade die Auslegung eines Gesetzes und die Art und Weise, wie dies geschieht, zumindest dem Juristen einen Einblick in die Wertvorstellungen der urteilenden Richter ermöglichen, wie im ersten Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde. Es sei hier an die Ausflillung von Generalklauseln erinnert. Aber auch die häufigen kontroversen Auffassungen über die Auslegung einer Norm bieten reichen Stoff, über die Motive der Beteiligten zu spekulieren. Ebenso kann schon
~45 Paul F. Lazarsfeld hat in einem Aufsatz das Spannungsfeld ,.Wissenschaftslogik und empirische Sozial forschung" behandelt und darin mit ironischem Unterton festgestellt: .. Die Wissenschaftstheoretiker sind unfair gegenüber der empirischen Sozialforschung .... in: Ernst Topitsch (Hrsg.). Logik der Sozialwissenschaften, S. 37 ff. (37). Daß sich empirische Sozial forschung methodischen und wissenschaftstheoretischen Anforderungen stellen muß. ist auch für deren Vertreter selbstverständlich. Und zumindest wenn explizit auf methodische Standards verwiesen wird, ist deren Überprüfung nicht nur zulässig. sondern m. E. auch geboten. 241, Hopp. S. 23. 247 Hopp. S. 25. ~4K Ähnlich: Christina Coles. aaO, S. 162, die allerdings nur diejenigen Passagen von Urteilen von vornherein ausscheiden will, die sich in einem Hinweis auf das geltende Recht erschöpfen. Sicher können Urteile im Einzelfall auch nur einige, wenige Sätze von inhaltsanalytischer Relevanz aufweisen wie Coles zutreffend feststellt. 8 Roos
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B. "Inhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
eine vergleichsweise schlichte Argumentationsfigur wie der bloße Hinweis auf die "herrschende Meinung" Erhellendes über die Urteilenden verraten. 249 Daß dies aus Sicht eines Soziologen anders beurteilt wird, soll im folgenden natürlich akzeptiert werden, wenngleich Hopp selbst annimmt, daß sich hinter Leerformeln und Stereotypen in den richterlichen Begründungen bestimmte Einstellungen verbergen können, die er mit Hilfe der Inhaltsanalyse decouvrieren will. 250 Ausgehend von dem dieser Arbeit zugrunde liegenden methodologischen Interesse, sollen im folgenden nicht die inhaltlichen Festlegungen und Kategorien der Untersuchung Hopps betrachtet werden, sondern lediglich sein Modell einer qualitativen Inhaltsanalyse richterlicher Beschlüsse und Urteile.
(1) Die" Gütekriterien ": Kontext, Singularität, Latenz und Präsenz
Der qualitativen Ausrichtung seines Ansatzes entsprechend, benennt Hopp zunächst vier Untersuchungskriterien, die die Analyse allgemein leiten sollen. Es sind dies, in Anlehnung an Jürgen Ritserts inhaltsanalytisches Modell, Kontext, Singularität, Latenz und Präsenz. 251 Unter Kontext wird verstanden, daß "der Sinngehalt eines Wortes oft erst richtig zu erfassen (ist), wenn zugleich der Kontext berücksichtigt wird, in dem es steht."252 Daß dieses Kriterium für einen qualitativen Ansatz äußerst wichtig ist, erscheint ohne weiteres einsichtig.
Singularität meint in diesem Zusammenhang die Rücksichtnahme "auf einzelne Ereignisse, die nicht gehäuft auftreten, aber dennoch zur Charakterisierung der untersuchten Texte beitragen können."253 Diesem Kriterium mißt Hopp selbst nur untergeordnete Bedeutung bei. Nach seinem Konzept soll aber auch "der flüchtige, singuläre Hinweis" dann von den Codierern registriert werden, wenn ihm im Kontext, in dem er zu finden ist, die "entsprechende Bedeutung" zufalle. 254 Die Gewichtung dieser Textelemente bleibe den "dialogischen" Prozessen unter den Codierern vorbehalten. Diese letzte Aussage erscheint mir problematisch. Die Bedenken hierzu sollen aber weiter unten in Zu-
249 Vgl. dazu Thomas Drosdeck, Die herrschende Meinung. Autorität als Rechtsquelle. Funktionen einer juristischen Argumentationsfigur, Berlin, 1989. 250 Vgl. Hopp, S. 27. 251 Vgl. Hopp S. 31; Ritsert, S. 28. 252 Hopp, S. 32; vgl. Ritsert, S. 28. 253 Hopp, S. 32. 254 Hopp, S. 33.
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft
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sammenhang mit der generellen Beurteilung solcher Diskussionen vorgetragen und erläutert werden. Schwieriger wird es bereits beim Kriterium Latenz. Gemeint ist damit das, "was am Text über die vordergründige Bezeichnung und Beurteilung hinausgeht. ,,255 Gerade auch im rechtswissenschaftlichen Bereich fmden sich kritische Stellungnahmen im Hinblick auf die Möglichkeiten, mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren latente Inhalte offenlegen zu können. 256 Präsenz "soll darauf hinweisen, daß auch das beachtet wird, was zwar theoretisch als erforderlich angesehen werden kann, aber nicht im Textmaterial erscheint", wodurch Rückschlüsse auf eine systematische Vernachlässigung "spezifischer Teilbereiche" möglich sei. 257 Dabei geht es um "das Auftreten oder Nicht-Auftreten bestimmter Argumente" als wichtiger Indikator daflir, "was realiter unter dem Kindeswohl verstanden wird."258 Von einer bestimmten Theorie des Kindeswohls ausgehend 259 soll danach folglich geprüft werden, was zwar in den Gerichtsbeschlüssen stehen müßte, sich dort aber gerade nicht finden läßt. 260
Damit gilt auch hier, daß sich "soziale Wirklichkeit ... eben niemals pur, sondern nur durch die soziale Wirklichkeit des Erhebungsprozesses gebrochen erfassen" läßt. 261 Die Codierer können nur das als im Text "fehlend" oder "präsent" ermitteln, was ihnen aufgrund der Kategorien als "Interpretationsfolie" vorgegeben ist. Damit hängt aber nahezu alles von der Qualität dieses theoretischen Rahmens ab, also von der explizierten Gesamtheit der "informationsgestützte(n) Sinnantizipationen über die ausgewählten Texte."262 "Theorie" ist danach "ein Kanon wie auch immer artikulierter Erfahrungen über historisch-gesellschaftliche Zusammenhänge und Denkmuster und der Erwartungen über ihren Reflex in den ausgewählten Texten".263 Das sind dann die" Vorverständnisse" .
Ritsert S. 28, zit. v. Hopp, S. 32. Vgl. Wasserburg, aaO, S. 502; vgl. auch Limbach, aaO, S. 125, die bzgl. der Erforschungen von Einstellungen etc. der Richter zumindest die Verwendung weiterer Verfahren "aus dem Arsenal der empirischen Sozialforschung" verlangt. m Hopp, S. 32. m Hopp, S. 34. m Vgl. etwa Hopp, S. 70 ff.; zur Bedeutung dieser flir den theoretischen Bezugsrahmen, vgl. S. 52 ff. 260 Vgl. auch Ritsert, S. 29. 201 Klaus Merten, Inhaltsanalyse, S. 90. 262 Vgl. Hopp, S. 35, Ritsert, S. 85. 263 Vgl. Ritsert, S. 85 f.; Hervh. v. Verf. m
25h
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B. "Inhaltsanalyse" richterlicher Entscheidungen
(2) Hermeneutik als (latente) Basis dieses inhaltsanalytischen Modells Als Basis von "Theorie" wird hier sichtbar, was bereits oben als Hintergrund dieses inhaltsanalytischen Ansatzes gezeigt werden konnte: Die philosophische Hermeneutik. In seinen Darlegungen zur "Rolle der Theorie" spricht Ritsert auch ausdrücklich von einer "hermeneutisch reflektierten Inhaltsanalyse", deren jeweiliger "Sinnvorentwurf' zu Beginn der Analyse "klar herausgestellt" werden müsse. 264 Daß ein solcher Ansatz, wie Ritsert schreibt, "der Reflexion auf die Bedingungen der Triftigkeit von Aussagen ... nicht entzogen" ist/65 ist zwar sicher zutreffend. Zugleich sieht sich ein so fundierter Ansatz aber mit den bereits gegen die Hermeneutik vorgebrachten, bereits erläuterten, Einwänden konfrontiert. Allein die Offenlegung des "Sinnvorentwurfs" macht diesen noch nicht zur kritikfesten Ausgangsbasis des Ansatzes, sondern ermöglicht erst überhaupt eine Kritik der theorietischen Vorannahmen - allerdings unter der bekannten Prämisse, daß die Offenlegung zutreffend und vollständig erfolgt ist. Wie wird nun aber diese "hermeneutische Relativierung" der Analysen von Hopp berücksichtigt? Auffällig ist zunächst, daß, während sonst zu fast allen methodischen Fragen auf Jürgen Ritsert verwiesen wird, dessen bedeutsame Aussagen zur hermeneutischen Fundierung seines Ansatzes mit keinem Wort erwähnt werden. 266 Die Vorverständnisproblematik wird nur verklausuliert zum Ausdruck gebracht, so etwa wenn gesagt wird, die theoretischen Ausführungen deckten auch die "erkenntnisleitenden Interessen" auf,267 die auch als zu explizierende "Vorverständnisse" bezeichnet werden. 268 Über die Bedeutung der Vorverständnisse der Codierer wird unten weiteres ausgeführt. In bezug auf die ihrer Arbeit zugrunde liegenden Kategorien, nach denen die Texte verschlüsselt werden sollten, sei hier nur auf folgendes hingewiesen: Wie ein Codierer eine bestimmte Texteinheit zu verstehen hat, wird ihm nicht weiter vorgegeben. Der "Zwang, für jede Codierung eine entsprechende Texteinheit angeben zu müssen", wird ausdrücklich zurückgewiesen, da er nur "zu einer Dokumentation nichtssagender, aus dem Sinnzusammenhang
Vgl. Ritsert. S. 85. Ritsert. S. 86. 2hh Und das. obwohl sie Hopp kaum entgangen sein können. da er gerade zur .. Bedeutung des theoretischen Rahmens" Zitate der Seiten verwendet, auf denen diese Problematik unmißverständlich offen legt. Vgl. Hopp. S. 35 ff. und hierzu Ritsert, S. 85 ff. 2h7 Hopp. S. 35. 2M Hopp, S. 36. 2M
2h5
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft
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herausgerissener Aussagen" führe. 269 Hopp erscheint es für die Analyse von Gerichtsbeschlüssen vielmehr "sinnvoller, die Gewichtung und Bedeutung einzelner Begriffe von jedem Codierer für jeden Beschluß festlegen zu lassen, statt rigide Definitionen der Texteinheiten vorzugeben .... Der Codierer beantwortet die Kategorie unter dem Eindruck des gesamten Beschlusses, ohne im einzelnen festlegen zu müssen, was ihn zu seiner Einschätzung veranlaßt.'mo Dieses Vorgehen erscheint mir, wie unten noch begründet wird, durchaus der Interpretation von Urteilen angemessen. Fraglich ist allerdings, ob ein solches Vorgehen dann nicht letztlich doch nur verbrämter "Impressionismus" ist, zumal gerade die hier besonders interessanten Vorverständnisse der Codierer nicht weiter expliziert werden. Dies leitet über zu der Prüfung, wie Validität und Reliabilität der Analysen sichergestellt wurden, die, wie bereits ausgefuhrt, die Verbindlichkeit der Ergebnisse verbürgen sollen.
(3) Reliabilität der Urteilsanalysen Zunächst wird zutreffend dargelegt, daß Verläßlichkeit die Stabilität eines Meßinstrumentes zu unterschiedlichen Zeitpunkten meint und "ein Konsensmaß fur die Codierer angibt."27\ Problematisch wird die Darstellung aber schon mit der Feststellung, Verläßlichkeit bezeichne den Grad der "eingespielten" Intersubjektivität. 272 Der Autor bezieht sich hier auf eine Definition Ritserts, nach der eine Inhaltsanalyse in dem Maße verläßlich werde, wie die Codierer sich "in eine Intersubjektivität der Auffassungen über Regeln bzw. Sinn- und Bedeutungsstrukturen ,einspielen' können."273 Nach Ritsert sind Verläßlichkeitskontrollen aber auch "nicht ... methodische Vorgehensweisen, die Triftigkeit gewährleisten. sondern sie indizieren. in welchem Maß ein ... eingespieltes Situationsverständnis vorausgesetzt werden kann oder tatsächlich erreicht wurde."274 Was ist hier unter "einspielen" zu verstehen und wann hat dieses mit welchen Konsequenzen zu geschehen? Daß es gewisser Einweisungen und Instruktionen, also einer "Schulung", fur die Codierer bedarf, ist fur die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse unbe-
Hopp, S. 46. Hopp, S. 47. 271 Hopp, aaO, S. 38. m Hopp, aaO. 273 Ritsert, S. 83. 274 AaO, S. 83. 2fi"
27 321
Welzel, Strafrecht, S. 171. In: FS für Erik Wolf, Frankfurt am Main, 1962, S. 337 Ir. Würtenberger, aaO, S. 349.
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
det" ist - nicht nur sittliche Forderungen, sondern zugleich auch solche des Rechts. Dann wäre das Gewissen im Grundsatz doch geeignet, dem Menschen das Unrecht seines HandeIns vor Augen zu führen. Es gilt zunächst, sich in Erinnerung zu rufen, wie der Große Senat das Unrechtsbewußtsein definierte: Es bedeute "weder die Kenntnis der Strafbarkeit, noch die Kenntnis der das Verbot enthaltenden gesetzlichen Vorschrift. Andererseits genügt es auch nicht, daß der Täter sich bewußt ist, sein Tun sei sittlich verwerflich. Vielmehr muß er, zwar nicht in rechtstechnischer Beurteilung, aber doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Wertung das Unrechtmäßige der Tat erkennen oder bei gehöriger Gewissensanspannung erkennen können. ,,322 Damit wird auf deR Bereich der sog. Parallelwertung in der Laiensphäre verwiesen. Mit Sittlichkeit ist hier aber offenbar nur der Bereich des "Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden" gemeint. Denn anders wäre nicht zu erklären, warum der Senat dem "abgestumpften Gewohnheitsverbrecher" in derselben Entscheidung gerade vorhält, er habe "durch strafbare Lebensführung die Ansprechbarkeit durch sittliche Werte und damit die Fähigkeit eingebüßt, durch Gewissensanspannung zur Unrechtserkenntnis zu gelangen. .. 32) Damit ist grundsätzlich zwischen drei Formen der "Sittenwidrigkeit" zu unterscheiden: Auf der einen Seite steht die bloße "Sittenwidrigkeit" in einem dem Strafrecht vorgelagerten Bereich, also Verstöße gegen die "öffentliche Ordnung" usw. Diese ist für das Strafrecht grundsätzlich irrelevant. 324 Deshalb ist ein diesbezügliches Bewußtsein des Täters, wie der Senat richtig feststellt, nicht mit dem Unrechts bewußtsein iSd Strafrechts identisch. Wie aber bereits festgestellt, bezog sich die Rechtsprechung des BGH in den fünfziger Jahren idR auf eine andere Sittlichkeit, nämlich das objektive Sittengesetz. Dieses soll, wie ausgeführt, den o. g. Kernbereich umfassen, der schlechthin unantastbar ist. Entscheidende Bedeutung kam diesem Kernbereich, wie gesehen, in den Fällen zu, in denen der BGH Taten zu beurteilen hatte, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden. Und hier erfolgten die Verurteilungen unter Hinweis darauf, daß den Tätern ihr Gewissen bei gehöriger Anspannung den rechten Weg hätte weisen müssen bzw. können. 325 Dies wurde Z.B. auch von Angehörigen des sog. Judenreferats der "Gestapo" verlangt. 326 Wer dort tätig war, was wohl in den meisten Fällen keinesBGHSt 2, 194 ff. (202). BGHSt 2, 194 tI (209). 324 Ausnahmen bestehen, wenn das Strafgesetz selbst auf diese Sittenwidrigkeit verweist, wie etwa in § 226 a StGB. m Vgl. BGHSt 2, 234 ff. (240 tf.) u. BGHSt 3, 357 ff. (365 f.). 321, BGHSt 2, 234 t1 (241). 322 323
I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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wegs unter Zwang geschah, mußte (zumindest aus heutiger Sicht) ein enormes Maß an "Gefühlskälte" und Fanatismus mitbringen, womit man wieder bei der Problematik einer "Lebensführungsschuld" angelangt wäre. Schließlich ist aber auch an ein Sittengesetz zu denken, das nicht notwendig einer "höheren Ordnung" verpflichtet ist, sondern - im Anschluß an die genannte Position Welzels - bereits in der Gesellschaft aufgrund tradierter Erfahrungen und Werte existiert und gleichsam das Fundament bildet, auf dem die Rechtsnormen erst entstehen. Hier soll es allerdings um ein anderes Problem gehen, das in diesen Entscheidungen zum Ausdruck kommt: In dem genannten Kembereich waren für den BGH Recht, das in der Gesellschaft vorgefundene und tradierte sowie ein "objektives" Sittengesetz zu einer Einheit verschmolzen: Hier lagen naturrechtlich fundierte Rechtssätze vor, die "sittliche Werte" schützten. Diese Werte waren nach Auffassung des BGH, wie ebenfalls oben gezeigt, für den Menschen evident - aufgrund einer behaupteten Erkenntnis der "vorgegebenen und hinzunehmenden" höheren Ordnung transzendenter Provenienz oder aufgrund der Erkenntnis in tradierte Werte und Erfahrungen der Gesellschaft. In beiden Fällen mußte die Anlage des Menschen auf freie sittliche Selbstbestimmung und die Fähigkeit, "sittliche" Werte als "richtig" bzw. schützenswert zu erkennen, mußten für den BGH vom naturrechtlichen Standpunkt aus eine notwendige Einheit bilden. Diese Auffassung hatte Max Ernst Mayer zu Beginn dieses Jahrhunderts in seinem Werk "Rechtsnormen und Kulturnormen"327 ausgearbeitet.
aa) Exkurs: Die Beziehungen von Rechts- und Kulturnormen nach Max Ernst Mayer Nach Mayers Auffassung beruhen die "Rechtfertigung" des Rechts und die Verbindlichkeit der Gesetze darauf, daß die Rechtsnormen mit den Kulturnormen übereinstimmten. Denn die Verbindlichkeit der Kulturnormen kenne und anerkenne das Individuum. 328 Kulturnormen sind nach dieser Auffassung alle Gebote und Verbote, "die als religiöse, moralische, konventionelle, als Forderungen des Verkehrs und des Berufs an das Individuum herantreten."329 Den Rechtsnormen sei nur also nur eine besondere Form eigen, ihr Inhalt aber notwendig mit den vorausliegenden Kulturnormen identisch: "Es gibt kein Verhal-
327
Breslau, 1903.
m Mayer, aaO, S. 16. 32'1
Mayer, aaO, S. 17.
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
ten, welches der Staat verbietet, ohne daß es vor ihm die Kultur verboten hat.'mo Mayers Schlußfolgerung war folgende: "Wenn nun die Pflichten, die dem Einzelnen aus der Rechtsordnung erwachsen, identisch sind mit den Pflichten, die ihm von der Kultur auferlegt sind, so kann sich keiner beklagen, er werde nach Normen gerichtet, die ihm nicht mitgeteilt worden sind. Vielmehr wird jeder nach Gesetzen beurteilt, deren Verbindlichkeit er anerkannt hat; seine Anerkennung bezieht sich nur nicht auf die in Rechtsform gegossene Norm, sondern auf die gleichlautende, die er aus der Kultur, unter der er lebt, kennen gelernt hat."33! Aus dieser Übereinstimmung der Gesetze mit den Kulturnormen rechtfertige es sich, daß die Gesetze auch rur denjenigen verbindlich seien, der sie nicht kenne. 332 Mit dieser Theorie verband Mayer einen rigorosen Standpunkt: Derjenige, der von den religiösen und moralischen Vorschriften nichts wisse, sei schlicht ein Idiot. Es folgt der bekannte Automatismus, der auch die Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit des Verbots irrtums wie ein "roter Faden" durchzieht: Der Zurechnungsfahige kenne seine Pflichten und erkenne sie an. Zumindest wisse jedoch derjenige, der sich auf eine abweichende "Privatrnoral" berufe, um diese Abweichung und wisse somit, daß er gegen anerkannte Kulturnormen kämpfe. 333 Die Kenntnis der Kulturnormen wird folglich beim Zurechnungsfahigen zwingend vorausgesetzt. Dabei komme es auf die genauen Wege der Tradierung dieser Normen nicht weiter an, da sie "wie die Luft" überall hin gelangten. 334 Dagegen sei es der Normalfall, daß der Angeklagte das Strafgesetz nicht gekannt habe. 33S Solche Unkenntnis des Gesetzes sei jedoch nicht gleichbedeutend mit der Unkenntnis der Verptlichtungen: "Daß aber die Untertanen ihre rechtlich relevanten Pflichten regelmäßig kennen, auch ohne über die Gesetze Bescheid zu wissen, das erklärt sich aus der Übereinstimmung der Rechtsund Kulturnormen."336 Das Bewußtsein, verpflichtet zu sein, sei demnach iden-
330 Mayer, aaO, S. 20; freilich mit der Einschränkungen, so z.B. für Verstöße gegen entlegene Spezialnormen, Verwaltungsnormen etc.: aaO, S. 22, \09 ff. 331 Mayer, aaO, S. 17. 332 Mayer, aaO, S. 21; Nach Mayers Auffassung richteten sich die Rechtsnormen ohnehin nicht an den Bürger, sondern an den Staat bzw. die Justiz, vgl. aaO, S. 6 ff., 30 ff. 333 Mayer, aaO, S. 18. 334 Mayer, aaO, S. 18. 335 Mayer, aaO, S. 75. m Mayer, aaO, S. 76.
1. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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tisch mit der Kenntnis der Kulturnormen, da letztere dem Individuum seine Pflichten auferlegten. 337 Vor Strafe zu schützen bzw. zu entschuldigen vermag nach dieser Konzeption allenfalls die fehlende Kenntnis der Kulturnormen. 338 In Parallele zu den bekannten Theorien wird dieser Schutz demjenigen versagt, der es versäumt hat, sich über die Pflichten, auf die er hätte achten sollen, zu unterrichten. Bereits die Möglichkeit des Bewußtseins der Pflichtwidrigkeit schließt demnach einen unverschuldeten Irrtum aus, wobei schon hier die Unterscheidung "vermeidbar/ unvenneidbar" verwendet wird. 339 An dieses Modell knüpft Arthur Kaufmanns Lehre vom Unrechtsbewußtsein an: 340
bb) Exkurs: Unrechtsbewußtsein, Schuld und "Parallelwertung in der Laiensphäre" in der Lehre Arthur Kaufmanns. Darstellung und Kritik Auch Kaufmann geht davon aus, daß die "fremde Welt der Gesetzesparagraphen, der abstrakten Normen" und die "dem Täter bekannte Welt des Dekalogs, der kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung" zu unterscheiden sind, aber so in Entsprechung gebracht werden müßten, daß sich eine Parallelität zwischen den Laienvorstellungen des Täters und den Intentionen des Gesetzes ergebe.341 Diese Entsprechung soll nun im Regelfall durch "Kommunikation" und "Sprache", letztlich durch Erziehung erreicht werden: Auf diese Weise erlerne der Mensch "die Regeln, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft bestimmen."342 Der heranwachsende Mensch begegne der "Sphäre des Normativen" also nicht in Gestalt abstrakter Normen, sondern in Form konkreter Verhaltensmuster, die sich ihm in der alltäglichen Kommunikation, "in der Konfrontation mit der Welt der anderen, durch das Tradieren von Lebensformen erschließen."343 Solche einmal verinnerlichten - um im Sprachgebrauch Mayers Mayer. aaO. S. 76. Mayer. aaO. S. 76. 339 Mayer. aaO. S. 79 u. 82. 34tl Kautinann, Parallelwertung. S. 16 ff. 341 Kaufmann. Parallelwertung, S. 26 f. 342 Kaufmann, Parallelwertung, S. 28; dabei nimmt Kaufmann, aaO, S.32 f. - wie schon Mayer - von diesem Grundsatz diejenigen Normen aus, über die regelmäßig kaum Vorstellungen in der Bevölkerung bestehen, wie z.B. im Verkehrs- oder Wirtschaftsstrafrecht oder dem Ordnungswidrigkeitenrecht. W Kaufmann, Parallelwertung, S. 29. 337
m
15 Roos
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
zu bleiben - Kulturnormen werden dann nach Kaufmanns Auffassung so verinnerlicht, daß sie im Augenblick der Tat "gewußt werden, ohne daß es eines besonderen Denkvorganges"· bedürfe. 344 Unrechtsbewußtsein wird nach diesem Ansatz auf das "Bewußtsein der Sozialschädlichkeit" reduziert. 345 Zur Problematik der "Gewissensanspannung" führt nun Kaufmanns Verständnis von strafrechtlicher Schuld, das zugleich offenbart, daß Kaufmann neben dem Sittengesetz im Sinne Mayers, also der tradierten Kulturnormen, ein weiteres, noch stärker verpflichtendes, Sittengesetz voraussetzt: das objektive. Ebenso wie der BGH geht Kaufmann davon aus, daß der Mensch auf freie, sittliche Selbstbestimmung und -verwirklichung hin angelegt und in dieser Freiheit wiederum beschränkt sei, weil er "auf eine transzendente Ordnung des Seins hingeordnet" sei. 346 Der Mensch sei folglich als Kreatur den Gesetzen der Schöpfungsordnung unterworfen, die ihn moralisch bänden. Die Freiheit des Menschen zur Selbstbestimmung sei Freiheit zur Verwirklichung des eigenen Wesens nach Maßgabe des objektiv vorgegebenen Sittengesetzes. Dieses könne sich der Mensch, da es gemäß der "Analogie des Seins" für ihn kein "Fremdgesetz" sei, im Gewissen zu eigen machen. 347 Kaufmruin greift auf "das Ewige im Recht"348 zurück und meint damit die Existenz "überzeitlicher und absoluter Rechtsgehalte, die aller Positivierung bindend voraus liegen", unveränderliche "Prinzipien der Gerechtigkeit". Hierzu zählt er das Gleichheitsprinzip, die Forderung des "suum cuique tribuere", das Tötungsverbot und das Schuldprinzip sowie die meisten Grund- und Menschenrechte. 349 Kaufmann setzt also, ebenso wie der BGH zumindest in den frühen Jahren seiner Rechtsprechung, eine objektive Sittenordnung voraus. Folglich finden sich auch bei ihm die Ablehnung eines "ausweglosen Subjektivismus"35o und der Hinweis, das Gewissen müsse, wenn es nicht "barer subjektiver Willkür Vorschub leisten" solle, an etwas "Objektives" gebunden sein, das "außerhalb seiner selbst" liege. 351 Dies sind dann eben jene "Gewißheiten, die zwar kein mechanisches Instrument je nachgewiesen hat, die sich aber dennoch unserem Bewußtsein mit ... zwingender Kraft aufnötigen".352 Halte man dagegen das 344 Kaufmann, Parallelwertung, S. 29. 345 Kaufmann, Parallelwertung, S. 32, 40. 34h
Kaufmann, Schuldprinzip, S. 127.
347 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 127. Vgl. Kaufmann, Schuldprinzip, S. 108 ff. Schuldprinzip, S. 110. 350 Arthur Kaufmann, Das Gewissen ... , S. 4. 351 Kaufmann, Das Gewissen ... , S. 6. 352 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 110. 34K
34~
I. Das Kriterium der .. Gewissensanspannung"
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"subjektive Gewissen" für die letzte Instanz, sei nicht ersichtlich, wie aus dieser Perspektive die Anarchie vennieden werden könne. J5J Aus der Objektivität des Sittengesetzes resultiere dann der Begriff der Pflicht. Und eine Pflicht könne immer nur durch einen objektiv gegebenen sittlichen Wert begründet werden, aber "niemals durch das subjektive Wollen eines Menschen oder einer Vielheit von Menschen und schon gar nicht durch bloßen Zwang."354 Entsprechend könnten Pflichten, die das Gewissen binden, immer nur sittliche Pflichten sein, da nur sie "ein inneres Sollen und nicht lediglich ein erzwungenes Müssen" erzeugen könnten. 355 Der Begriff der Pflicht sei aber zugleich Grundlage fiir Verantwortung und Schuld: Denn die Forderungen des Rechts sind solche des "SolIens". "Gesolltes" kann nach dieser Auffassung aber nur sein, was den Forderungen der objektiven Sittlichkeit entspricht. Demnach gibt es Rechtspflichten nur als sittliche Pflichten und folglich rechtliche Schuld nur als sittliche Schuld, weshalb auch der Inhalt des Schuldprinzips in Recht und Ethik grundsätzlich gleich sei, wobei der Bereich der ethischen Schuld den der Rechtsschuld als Teilmenge mit umfasse. 356 Schuld könne es deshalb nur als "materiale Schuld" geben, als "sittliche" Schuld: "als freie, selbstverantwortliche Willensentscheidung gegen eine erkannte sittliche Pflicht."m Wie läßt sich nun von diesem Standpunkt aus strafrechtliche Schuld als sittliche Schuld begründen? Kaufmann greift hierzu auf die bereits geläufige Unterscheidung zwischen einem Kernbereich des Strafrechts und Nebengebieten zurück. Zu dem Bereich des Kernstrafrechts, des "eigentlichen kriminellen Unrechts", rechnet Kaufmann die meisten Tatbestände des StGB und ihre vorsätzliche Begehung. Er nennt explizit Mord, Diebstahl, Betrug und Brandstiftung358 und führt dazu aus, diese Tatbestände beinhalteten "als solche eine sozialethische Wertwidrigkeit des Verhaltens und des dadurch herbeigefiihrten Erfolges", so daß es nicht erst des strafrechtlichen Verbotes bedürfe, um die Pflicht zu ihrer Unterlassung zu
Kaufmann, Das Gewissen ... , S. 11; ders., Grundprobleme, S. 181 . Kaufmann, Schuldprinzip, S. 128; eine wichtige Unterscheidung zu einer Position. die gerade auf die tradierten Kulturnormen und auf die Anerkennung durch eine solche .. Vielheit"; vgl. dazu Mayer, aaO. S. 18. 355 Kaufmann. Schuldprinzip, S. 128. 35. Kaufmann. Schuldprinzip. S. 128. 357 Kautinann, Schuldprinzip, S. 129, der ausdrücklich auf die entsprechende Auffassung des Großen Senats in BGHSt 194 ff. (200 f.) verweist. 35X Vgl. dazu auch ders., Schuldprinzip, S. 110. 353
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IS"
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C. Rechtsprechung des BOH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StOB
begründen. Wer also bewußt solches Unrecht tue, lade zweifellos sittliche Schuld auf sich. J59 Bei diesen "echten Kriminaldelikten" liege mithin die Strafwürdigkeit nicht in einem rechtlichen Verbot, die Strafdrohung folge ihr also nicht nach, sondern gehe ihr voraus: Unrecht sei hier nicht deshalb Unrecht, weil es verboten sei, sondern deshalb verboten, weil es Unrecht sei. 360 Diese Auffassung hat viele gute Gründe für sich. Doch scheint bei genauerem Hinsehen ihr Fundament nicht tragfähig genug. Zunächst kann der Rückgriff auf ein "objektives Sittengesetz" nicht überzeugen. Man braucht nicht erst auf die unsäglichen Thesen v. Hippels zurückzugreifen, der ja, wie oben dargestellt, die Rettung eines Kunstwerkes der eines Menschenlebens unter Hinweis auf das "objektive Sittengesetz" diesen Inhalts vorziehen wollte,l61 um die "Dehnbarkeit" dieses Begriffes zu demonstrieren. Auch soll Kaufmanns Position keinesfalls in die Nähe solcher Ideen gerückt werden. Die große Unsicherheit einer Berufung auf das Sittengesetz zeigt sich jedoch auch in seinen Ausführungen: So nennt Kaufmann neben den oben erwähnten Straftaten auch den Ehebruch. Zwar war Ehebruch zur fraglichen Zeit nach § 172 StGB a. F. noch strafbar. Doch schon in der zeitgenössischen Kommentarliteratur findet sich der Hinweis darauf, daß die Strafwürdigkeit des Ehebruchs zu den kriminalpolitisch umstrittenen Fragen gehörte. 362 Die Abschaffung dieses Straftatbestandes hat gezeigt, daß sich die Argumente, die diese Fragwürdigkeit ausmachten, durchgesetzt haben. Dann erscheint es aber zumindest zweifelhaft, ob man den Ehebruch wirklich dem unverzichtbaren Kernbereich des Strafrechts zurechnen konnte. Offenbar war die "sozialethische Wertwidrigkeit" nicht so ausgeprägt, daß man sich einen Verzicht auf diesen Straftatbestand nicht "leisten" konnte (unbeschadet der Frage, wie Ehebruch sittlich zu beurteilen ist). Erkennen kann man an diesem Beispiel, daß auch der vermeintlich sichere Kernbereich des Strafrechts wieder unsichere "Randbereiche" aufweist. Es besteht dann die Möglichkeit, wie am Beispiel Ehebruch zu sehen, daß ehemals konsentierte ethische Normen nicht mehr mit der "sozialethischen Wertwidrigkeit" übereinstimmen. Wie steht es mit der Legitimation des Strafens in diesen Fällen, wo das "objektive Sittengesetz" seine Kraft zu verlieren scheint? Schuldprinzip, S. 130. Kaufmann, Schuldprinzip, S. 131; Die Parallele zu Mayer ist deutlich: "Es gibt kein Verhalten. welches der Staat verbietet. ohne daß es vor ihm die Kultur verboten hat.", vgl. Mayer. aaO. S. 20. Jhl Vgl. v. Hippe!. Rechtstheorie, aaO, S. 126 f. 3h2 V gl. Schönke-Schröder, 11. Aufl .. 1963. § 172. Anm. 1. J54
JhO
I. Das Kriterium der .,Gewissensanspannung"
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Dieser Einwand entkräftet die genannte Auffassung aber eben nur für die unsicheren "Randbereiche" des verhältnismäßig sicheren Kembereichs der "echten Kriminaldelikte", in deren Tatbeständen "der sozialethische Unwert des Verbrechens zum Ausdruck kommt". Für diesen Bereich bleibt dann die Frage, wie man dort mit fehlerhaften oder fehlenden Vorstellungen über diese "Wertwidrigkeit", also das Unrecht, umgehen soll. Hier nimmt Kaufmann an, daß bereits die volle Tatbestandskenntnis das nötige Unrechtsbewußtsein vermittle. Denn mit Kenntnis des Tatbestandes sei im Bereich der "echten Kriminaldelikte" auch der in diesem zum Ausdruck kommende "sozialethische Unwert" der Tat dem Täter bekannt. 363 Damit vermittle die volle Tatbestandskenntnis auch "diejenige Bedeutungskenntnis, die geeignet ist, die sittliche Nichtswürdigkeit der Tat und damit die Pflicht zu ihrer Unterlassung zum Bewußtsein zu bringen", weshalb es auf das Bewußtsein des rechtlichen Verbotenseins nicht ankomme. 364 Der Vorteil dieser Auffassung soll nun u.a. darin liegen, daß zur vorsätzlichen Schuld eben nur die Kenntnis der im Tatbestand ausgedrückten Bedeutung der Tat verlangt wird, nicht aber auch, daß der Täter selbst sein Verhalten als Unrecht bewerte und empfinde. Denn damit könne man gerade ohne Schwierigkeiten auch die "Abgestumpften" erfassen, die sonst gerade nicht schuldhaft handeln würden. 365 Man sieht daran zunächst, daß, über alle Unterschiede zwischen den einzelnen Auffassungen hinweg, die Gruppe der eben nicht mehr normativ Ansprechbaren, der "abgestumpften Gewohnheitsverbrecher", einer dem Schuldprinzip verpflichteten Rechtsordnung nicht unerhebliche Schwierigkeiten in ihrer zutreffenden normativen Behandlung bereitet. Kaufinann sieht jedoch seinen Ansatz gerade als Lösung eines Problems an, vor dem insbesondere die sog. Schuldtheorie mit ihrem "verantwortungsethischen Anliegen" bisher noch stehe: Die Frage nach der Schuldhaftigkeit des Verbotsirrtums. Diese Lösung scheint einfach: im Bereich des echten Kriminalstrafrechts sei die Nichtkenntnis des Verbots immer dann schuldhaft, wenn der Täter mit voller Tatbestandskenntnis handele. "Anders ausgedrückt: ist dem Täter die tatbestandsmäßige Bedeutung der Tat bewußt, so könnte und sollte er auch wissen, daß solches Tun verboten ist."366
363 364 365 366
Kaufmann: Schuldprinzip, Kaufmann, Schuldprinzip, Kaufmann, Schuldprinzip, Kaufmann, Schuldprinzip,
S. S. S. S.
131. 131. 132. 132.
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Im Bereich des oben skizzierten Kernstrafrechts ist also der Tatbestandsvorsatz "notwendig Unrechtsvorsatz, also dolus malus ... Der strafrechtliche Vorsatz ist nicht ein rein psychologisches Merkmal jenseits von Gut und Böse, sondern er hat normativen Gehalt, weil ihm das ,ethische Schuldelernent' des Unrechtsbewußtseins inhärent ist."367 Danach bleibt aber für einen Verbotsirrtum praktisch kein Raum mehr. Und erst recht ist damit die Annahme der Unvermeidbarkeit eines solchen Irrtums ausgeschlossen. Entsprechend konzediert Kaufmann zwar noch, daß doch einmal die Verbotskenntnis fehlen könne, sieht jedoch keine Möglichkeit mehr, sich auf einen entschuldbaren Verbotsirrtum zu berufen. 368 Denn der "moralische Irrtum", der auf einem Mangel an Wertgefühl beruhe, entschuldige nie. 369 Dies gelte mit Einschränkungen auch fur Verbote, die nicht dem genannten Kernbereich zuzurechnen seien. Auch sie sind nach Kaufmann (er nennt hier z. B. das Ordnungswidrigkeitenrecht) Ausdruck einer "materialen, sozialethischen Grundlage", weil "auch die ethisch scheinbar farblosen Gebote und Verbote des Nebenstrafrechts" dem Schutz und der Verwirklichung sittlicher Güter dienten. Folglich handele es sich auch hier um sittliche Pflichten und sittliche Schuld. 370 Im Unterschied zum Bereich des Kernstrafrechts könne hier von "voller vorsätzlicher Schuld" aber nur gesprochen werden, sofern der Täter im Bewußtsein des gesetzlichen Verbots gehandelt habe. 371 Wenn aber - in beiden Bereichen ist dies möglich - die Internalisierung dieser sittlichen (und rechtlichen) Anforderungen mißlingt, steht das (wohl irrende) Gewissen des einzelnen im Gegensatz zur Sitten- und Rechtsordnung: "Ein Recht, das dem Menschen das ihm in seinen Beziehungen zu den anderen und zu den Dingen Zustehende gewährt, hat Anspruch darauf, im Gewissen des einzelnen anerkannt zu werden. Ein solches Recht ist konsensfähig und intersubjektiv gültig."m Und mit diesem Recht tritt nun der Richter auf:
361 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 135, der hier Vorzüge der sog. Vorsatztheorie erkennt, weil diese den strafrechtlichen Vorsatz als das nehme, was er immer gewesen sei: "als die schwerere Schuldform, als den dolus malus, flir den die Kenntnis des spezifischen Unwerts der Tat wesentlich ist." 3M Kaufmann, Schuldprinzip, S. 135. 369 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 132, FN 65. 310 Kaufmann, aaO, S. 136 f. 311 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 137; Parallelwertung, S. 33. 312 Kaufmann, Grundprobleme, S. 184; damit liegt aber nach Kaufmann eine Form von "Anerkennenmüssen" vor. Zumindest in Auseinandersetzung mit Hegels Positionen zur Gewissensproblematik lehnt Kaufmann aber ein "logisch-notwendiges Anerkennenmüssen" ausdrücklich ab, weil ein solches "Anerkennenmüssen kraft logischer Folgerichtigkeit kein wirkliches Anerkennen" sei (vgl. Das Gewissen ... , S. 12). Wenn es aber eine "objektive Ordnung" gibt, wo liegt dann formal gesehen noch der Unterschied, ob man vom Sittengesetz, einer "richtigen Ordnung" oder von einer konsentier-
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Die Zurechnung von Schuld wird nach Kaufmanns Modell als ein "Kommunikationsprozeß zwischen Richter und Täter (Angeklagtem)" angesehen, in dem die "Entsprechung der beiden Verstehenshorizonte, desjenigen des Täters und desjenigen des Richters" hergestellt werde, wobei ein "ausreichendes Maß an Ähnlichkeit" als "Entsprechung" genüge. 373 Daß der Angeklagte im Strafprozeß keineswegs zur "Kommunikation" mit dem Richter verpflichtet ist, wird dabei durchaus gesehen. Darauf komme es jedoch auch gar nicht an, weil das Wort vom "Schulddialog" in Wahrheit "anders gemeint" sei. Die Antwort auf die Frage, wie dieses Wort denn nun gemeint ist, bildet den Schlüssel zum Verständnis der "Gewissensanspannung" als Kriterium zur Feststellung der Vermeidbarkeit des Verbots irrtums und damit auch zur einschlägigen BGH-Rechtsprechung: "Ein Urteil über die Schuld eines Menschen ist auch im Strafrecht nur als Gewissensurteil möglich".374 Kann und darf der Richter als Basis der Schuldfeststellung (oder besser: Zuschreibung) ein "stellvertretendes Gewissensurteil" anstelle des Täters flillen und erkennen, was ihm sein Gewissen in der Tatsituation "zugerufen" hat bzw. hätte zurufen müssen? Wie kann der Richter diesen Prozeß der Gewissensbefragung beurteilen?
b) Das .. stellvertretende Gewissensurteil" des Richters oder: Das .. gesollte" Gewissen
aa) Die Lehre vom "stellvertretenden Gewissensurteil" des Richters Kaufmann beschreibt - im Anschluß an die Fundierung der Rechtsnormen als Kulturnormen - die Beziehung zwischen Recht und Gewissen dahingehend, daß das Recht dem Menschen nicht als etwas "Artfremdes" gegenübertreten dürfe, die Forderungen des Rechts - zumindest die des oben bereits beschriebeten Ordnung zur Anerkennung gezwungen wird? Auch in Kaufmanns "Anspruch" auf Anerkennung ist doch für den, der diesem Anspruch eben nicht folgt, der Zwang durch die von einzelnen negierte Ordnung impliziert, die Anerkennung fordert. Ein "Anerkennenmüssen" ist eben niemals mit "Anerkennung" gleichzusetzen. Folgerichtig ist für Kaufmann .. im Normalfall (im Rechtsstaat)" der "Konsens der Gesellschaft" ausreichende Legitimation der Rechtsordnung (Das Gewissen ... , S. 15). Ich habe keine bessere Antwort anzubieten. Es darf nur nie aus dem Blick geraten, das auch in der Gesellschatl unseres Rechtsstaats die Durchsetzungsmacht keineswegs gleichmäßig verteilt ist. Von einem .. suum cuique tribuere" sind wir m. E. noch deutlich entfernt. 373 Kaufmann, Parallelwertung, S. 37 f. 374 Kaufmann, Parallelwertung, S. 38.
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nen Kembereichs - müßten also mit den "Gesetzen der menschlichen Natur" so übereinstimmen, "daß der sittliche Wille sie sich im Gewissen zu eigen machen kann."375 Kaufmann erkennt dabei das Spannungsverhältnis zwischen seinem Gewissensbegriff und dessen Funktion bei der Unrechtseinsicht und den Unwägbarkeiten und vielfältigen Einflüssen, denen die Gewissensausbildung des einzelnen unterliegt, indem er fragt ob das Gewissen nicht "per definitionern" gerade ein subjektives Urteilsorgan sei, es also gerade kein "objektives Gewissen" gebe. 176 Und: "Sind also rechtliche und moralische Schuld nicht eben darum doch wesensverschieden, weil die Instanzen verschieden sind, von denen das Schuldurteil gefeHlt wird: hier das eigene Gewissen des Schuldigen, dort die Gemeinschaft, repräsentiert durch Gesetzgeber und Richter?"m "Aber wie ist dann strafrechtliche Schuld als Tatschuld, über die vor dem Forum eines staatlichen Gerichts das Urteil gesprochen wird, überhaupt möglich?"378 Hier greift Kaufmann zunächst auf die von ihm angenommene Übereinstimmung des Strafrechts ieS mit dem Sittengesetz zurück: Was man als juristische Schuld bezeichne, sei en~eder ein sittliches Phänomen oder es sei überhaupt keine Schuld. 379 Zudem habe man es im Bereich des "eigentlichen Kriminalstrafrechts" mit den "einfachsten und elementarsten sittlichen Forderungen" zu tun, die die Erhaltung der allernotwendigsten Bedingungen menschlichen Zusammenlebens" beträfen. Deshalb seien strafbare Handlungen solche, bei denen "einem jeden, auch dem Primitivsten, das Gewissen wenn nicht tatsächlich schlägt, so doch schlagen müßte".J80 Das Gewissen sei also, so stellt er - im Anschluß an die Lehren des Thomas von Aquin und die "abendländische" Tradition der Gewissenslehren - fest, zu einer objektiven Größe, den sittlichen Werten hingeordnet. J81 Und, wie oben bereits ausgefUhrt, setze die Möglichkeit eines Gewissensirrtums die Existenz eines "richtigen" Gewissensinhalts notwendig voraus. J82 Diesen "richtigen Gewissensin375 Kaufmann, Grundprobleme, S. 184; vgl. auch ders., Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, Mainz, 1949, S. 127: Die Akzeptierung eines Rechtssatzes als Sollenssatz durch das "autonome Gewissen" des Rechtsunterworfenen könne nur erwartet werden, wenn der Rechtssatz diejenigen Werte zu verwirklichen strebe, "die das autonome Gewissen verpflichten." m Kaufmann, Das Gewissen ... , S. 6 und S. 7 ff. in Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Position Hegels. J77 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 197. m Schuldprinzip, S. 198. m Schuldprinzip, S. 197 f. 3KO Schuldprinzip, S. 198; vgl. auch S. 200, wo Kaufmann diesen Bereich des Kriminalstrafrechts als "gewissermaßen naturrechtlich sanktioniert" bezeichnet. 3KI Kaufmann, Das Gewissen, S. 9; Grundprobleme, S. 53. m Vgl. Kaufmann, Das Gewissen, S. 11.
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halt" repräsentiere aber auch das Strafrecht, das die "allgemeinsten sittlichen Grundanforderungen" beinhalte und schütze, über die sich alle einig seien. 383 Aus diesem Grunde könne die Gewissenentscheidung in diesem Bereich weitgehend generalisiert werden.· 384 Auch im Strafrecht gelte, "daß das Schuldurteil nur das Gewissen fallen kann, aber das Gewissen ist im Bereich des ,ethischen Minimums' - besser: der elementaren Sittlichkeit - gewissermaßen eine vertretbare Sache, d. h., es ist möglich, daß ein anderer - der Richter - den Täter stellvertretend, in der inneren Verbundenheit, als ob er es selbst wäre', richtet. ,,385 An dieser Stelle wird deutlich, daß Richtern also sehr wohl ein "stellvertretendes Gewissensurteil" - und gemeint ist hier unstreitig das Gewissen ieS - zugebilligt wird: Bei "zweifelsfrei unsittlichen Handlungen" soll der Richter demnach "unbedenklich seine Gewissensentscheidung für die des Täters nehmen", denn in der gewollten Begehung einer strafbaren Handlung liege "eine so eindeutige, rational erkennbare und geistig versteh bare sittliche Verfehlung, daß hier der Richter sagen kann: dies hätte der Täter vor seinem Gewissen nicht tun dürfen. "386
bb) Kritik der Lehre vom "stellvertretenden Gewissensurteil" des Richters Wie oben an Kaufmanns eigenen Beispielen gezeigt, ist diese Evidenz manchmal doch nur eine scheinbare. Eben im Hinblick auf Kaufmanns zutreffende Äußerungen zur Idee einer Lebensführungs- oder Charakterschuld muß man sich fragen, ob man denn letztlich im Strafverfahren in die Seele eines Menschen und sein Gewissen blicken kann. Kann man diese Frage nicht ohne Einschränkung mit "Ja" beantworten, darf das Gewissen auch keine Rolle fur eine Schuldzuschreibung im strafrechtlichen Sinne spielen. Daß man die gestellte Frage nur mit "Nein" beantworten kann, folgt schon daraus, daß nicht erst bei einem so komplizierten und verhältnismäßig wenig erforschten psychischen Faktum wie dem Gewissen die Feststellungsmöglichkeiten der Wissenschaft und erst recht der Strafjustiz versagen: "Die Feststellung fremdpsychischer Abläufe bestimmter Art aber ist nicht selten so gut wie unmöglich."387
Kaufmann, Schuldprinzip, S. 198; Parallelwertung, S. 38. Kaufmann, Parallelwertung, S. 38. m Kaufmann, Schuldprinzip, S. 198 f.; Parallel wertung, S. 38 f. 3XI> Kaufmann, Schuldprinzip, S. 199, der dieses Urteil in scharfen Kontrast zur sog. Lebensflihrungs- oder Charakterschuld stellt, die gerade nicht so evident sei, daß hierüber dem Richter eine stellvertretende Gewissensentscheidung zustehe. Die Gegenmeinung zwingt für ihn den Richter zu einem "heuchlerischen Pharisäertum". 3X7 Felix Kaufmann, aaü, S. 109. 3K3
3M
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Kaufmann selbst räumt zudem ein, daß dem Richter häufig schon nicht der geforderte Wechsel in die parallele Laiensphäre gelinge. 388 Die Lösung rur dieses Problem erblickt Kaufmann zum guten Teil in der Mitwirkung von Laienrichtern, die dem Berufsrichter die entsprechende Sicht vermitteln sollen. 389 Dies würde - abgesehen von vielfaltigen anderen Bedenken - aber voraussetzen, daß die Laienrichter dem Berufsrichter gerade "die" Parallelwertung der Laiensphäre vermitteln könnten. Doch "den" Laien" gibt es so wenig wie "den" Richter. Unter Rückgriff auf die Wertungen der Laienrichter reproduziert man selbstverständlich nur deren Anschauungen, die in einer pluralistischen Gesellschaft, wie hier nicht nochmals näher ausgeführt werden muß, erheblich differieren. Statt eines sicheren "Indikators" erhält man alle bekannten Probleme, die das "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" bzw. das Rechtsgeruhl mit sich bringen. Damit soll keinesfalls einem von jeglicher Ethik losgelösten Recht das Wort geredet werden. Es gilt nur, beide Bereiche - den des Rechts und den sittlicher Überzeugungen - dort zu trennen, wo die Erkenntnis des Menschen aufhört. Kommt man schon im Bereich der inneren Tatseite nicht ohne Zuschreibungen und Fiktionen aus, sollten diese dann doch wenigstens auf das Unumgängliche beschränkt bleiben. Und das Gewissen des einzelnen ist eben der Bereich, der sein Innerstes mitbestimmt und der sich völliger menschlicher Erkenntnis wohl immer entziehen wird. Hierüber zu richten, tendiert dann zumindest zur Anmaßung. Hans Welzel ist deshalb nachdrücklich beizupflichten: "Über das Gewissen gibt es keinen Richter".39o Vomsystemtheoretischen Standpunkt aus gelangt Niklas Luhmann zum selben Ergebnis: Danach enthält und reproduziert das Gewissen eben nicht den gesamten, sondern nur einen - je nach Persönlichkeit - verschiedenen Bereich der internalisierten sozialen Normen und "Habitualitäten": Es handele sich um ein "personales Steuerungssystem", das streng vom sozialen System und seinen Normen zu unterscheiden sei. Gerade in modernen, hochkomplexen Gesellschaften sei das Gewissen des einzelnen häufig geradezu eine "individualisierte Gegenerwartungsstruktur" zu den immer unübersichtlicher werdenden Normen und Anforderungen der Gesellschaft. 391 Dieser häufig zu beobachtende Gegensatz zeige, daß das Gewissen kein "Organ natürlicher sittlicher Erkenntnis"
Kaufmann, Parallel wertung, S. 39. Kaufmann, Parallel wertung, S. 39. 39U Welzel. Strafrecht, aaO, S. 177. 391 Niklas Luhmann, Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: Franz Böckle/Ernst-Wol(gang Böckenförde (Hrsg.). Naturrecht in der Kritik, Mainz, 1973, S. 223 ff. (231 ff.) u. S. 236: "Das Gewissen läßt sich nicht daran erkennen, daß es dieselben oder doch ähnliche Normen verkündet wie die öffentliche Moral oder das Recht." 3KK
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oder Offenbarungsquelle eines Naturrechtes sei. Vielmehr schlössen die komplizierten Beziehungen von Moral, Recht und Gewissen in der modemen Gesellschaft eine einfache Einordnung in einen "hierarchischen Leges-Katalog" ebenso aus wie die These, daß das Gewissen ein Organ sei, das natürlich-sittliches Recht erkenne oder danach urteile. 392 Man muß den systemtheoretischen Ansatz· Luhmanns nicht teilen. Seine Einwände gegen eine Gleichsetzung von Gewissensurteil und dem Ausdruck einer "objektiven Sittlichkeit" sind gleichwohl nicht leicht zu entkräften. Die Widersprüchlichkeit der These vom "stellvertretenden Gewissenurteil" des Richters verschärft sich, wenn das Gewissen des Richters in den Blickpunkt gerät: Anknüpfend an das berühmte Radbruch-Wort vom schlechten Gewissen als Voraussetzung eines guten Juristen, hat Alexander Mitscherlich die Praxis des Richters als Kompensationsversuch dieses schlechten Gewissens gedeutet: Das "lch" des Richters müsse, angesichts der erlebten Anfechtbarkeit der Grundlagen seines Richtens, "zur Selbstverteidigung schreiten und Selbstschutzmechanismen in Kraft setzen. "393 Er unterscheide sich darin nicht von anderen Menschen "in ähnlich bedrängter Lage."394 "Der Alltag" zwinge den Richter zu Entscheidungen, die "von (der) quälenden Einsicht in die Nutzlosigkeit der hergebrachten Art zu strafen wegfuhren."395 Die Folge: In dieser Defensivhaltung könne "die Stimme des Gewissens noch so laut rufen, das Individuum ist leider taub für sie geworden. Professionell ist man ,abgebrüht'. Also nicht nur mancher Rückfalltäter ist es, der Jurist muß es auch werden."396 Ein äußerst prekärer Gesichtspunkt, wenn ausgerechnet bei solcher psychischer Disposition vieler· Richter dem Angeklagten angesonnen wird, er habe sein "Gewissen" anspannen müssen. 397 Ein "stellvertretendes Gewissensurteil" von demjenigen, der sein Gewissen, um seine Funktion ausüben zu können, vorsorglich - in diesem bestimmten Bereich - nicht mehr "anspannt"? Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, irgendwelche Vorwürfe zu erheben, sondern das Bewußtsein dafur zu schärfen, "daß die um
m Luhmann, aaO, S. 233 u. 240 f.
Vgl. auch Fabricius, aaO, S. 432. Vgl. Alexander Mitscherlich, Das schlechte Gewissen der Justiz, in: ders., Das Ich und die Vielen, S. 264 ff. (264 f.). m Mitscherlich, aaO, S. 267. 3% Mitscherlich, aaO, S. 265. 3"' Vgl. auch Fabricius, aaO, S. 448: "Während man vom Straftäter verlangt, daß er mit schlechtem Gewissen - sofern dies auf eine Rechtsnorm bezogen ist - nicht handeln dürfe, verlangt man vom Strafrichter oder erlaubt ihm jedenfalls, mit dem Richten gleichwohl fortzufahren." 393
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die Rechtsfindung Bemühten, wie jeder andere auch, einem gewissen psychisch kostspieligen, aber zwingend sich anbietenden Mechanismus des Selbstschutzes unteriiegen".J98 Gerade weil man sich diesen Selbstschutz "leistet", sollte man Angeklagten nicht ausgerechnet mangelnden Einsatz ihres Gewissens vorwerfen. Hinzu kommt, daß Kaufmann selbst - wenn auch an anderer Stelle - das Gewissensurteil des Richters in die Schranken weist: "Überall käme es zu den widersprüchlichsten Urteilen, und alle würden sie mit Gewissensgründen gerechtfertigt. Die letzte Konsequenz wäre die Anarchie. Denn wenn man dem Richter die Befugnis gewährt, sein persönliches Gewissen dem Gesetz vorzuordnen, dann muß man dasselbe Recht mit zwingender Notwendigkeit auch dem einzelnen Rechtsgenossen zubilligen. Das wäre aber das Ende des Gesetzes überhaupt. Ein Gesetz, über dessen Geltung das Gewissen des einzelnen entscheidet, ist kein Gesetz mehr." Die Folge sei die Auflösung des Rechtsgedankens "überhaupt".399 So zutreffend dies ist - beruht nicht die Entscheidung über die Vermeidbarkeit eines Verbots irrtums aufgrund eines "stellvertretenden Gewissensurteils" in ganz ähnlicher Weise auf subjektiver Anmaßung? Umgekehrt gefragt: Was stünde denn zu befiirchten, wenn das Gewissen des einzelnen ein getreues Abbild der sittlichen Grundnormen lieferte und die Rechtsnormen wiederum nur Abbild eines Teils dieser sittlichen Normen wären? Dann müßte die Gewissensentscheidung des juristischen Laien doch als "Parallelwertung" mit der dem Recht nach dieser Auffassung innewohnenden objektiven Sittlichkeit übereinstimmen. Gleichwohl differenziert Kaufmann in früheren Ausfiihrungen - zutreffend - klar zwischen verschiedenen Schuldformen und den fiir ihre "Feststellung" zuständigen Instanzen: "Instanz fiir die religiöse Schuld ist Gott, für die moralische ist es das Gewissen, für die juristische Schuld sind Instanz die staatlichen Gerichte".40o Danach wäre den staatlichen Gerichten aber ein "stellvertretendes" Gewissensurteil verwehrt. Selbst wenn man Kaufmanns verschiedentlich gemachte Einschränkung, ein solches "stellvertretendes Gewissensurteil" und ein Schuldurteil komme nur dort in Betracht, wo es sich um so eindeutige Tatbestände handele, "daß ein Verstoß von allen rechtlich Gesinnten als schuldhaft und strafwürdig erkannt" werde 40I , akzeptierte, wäre damit nicht viel gewonnen: Bleibt doch ungeklärt, wer diese "rechtlich Gesinnten" überhaupt sind, was eine "rechtliche" Gesinnung ist usw. Man kann doch schlecht eine Rechtsnorm durch ein GewissensMitscherlich, aaO, S. 265. Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt am Main, 1972, S. 135 tI. (148/150). 400 Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, aaO, S. 85 401 Arthur Kaufmann: Recht und Sittlichkeit, in: ders.: Rechtsphilosophie im Wandel, S. 219 ff. (249) 39K
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urteil konkretisieren und diese Konkretisierung bzw. die Befugnis dazu dann wieder damit begründen, der oder die Konkretisierenden seien "rechtlich" gesinnt! Ein weiterer Umstand kommt hinzu, der den Strafrichtern ein steter "Stachel im Fleisch" sein dürfte: Die Möglichkeit eines Irrtums auf Seiten des Richters der "Justizirrtum". Zu Recht wurde die Frage gestellt, wie es komme, daß "gerade viele anständige und rechtskundige wie rechtsbewußte Menschen an die Möglichkeit von Justizmord und Justizirrtum nicht glaubten und noch immer nicht glauben?"402 Weil die Sicherheit im eigenen Urteil Voraussetzung dafiir ist, um über andere richten zu dürfen. Allerdings hielt auch der Fragesteller einen großen Teil dieser Irrtümer fiir unvermeidbar unter Hinweis auf die niemals völlig auszuschließende "Folge der Unzulänglichkeit alles Menschlichen".403 Wenn dies aber so ist - hätte dann nicht der Richter allen Anlaß, die Frage der Unvermeidbarkeit eines Verbots irrtums mit hoher Sensibilität zu prüfen, wo sie im Raume steht?
cc) Gesellschaftliche Bedingungen der Gewissensausbildung - ohne Einfluß auf die Berechtigung eines "stellvertretenden Gewissensurteils"? Noch einmal gerät das Gewissen in den Blick: Weil das Gewissen der Ausbildung und Formung bedarf - wird man nicht leicht in die Richtung einer "LebensfLihrungs- oder Charakterschuld" getrieben, wenn der Richter dem einzelnen vorhalten darf, was ihm sein Gewissen hätte sagen müssen? Im Prozeß der "Ausbildung", "Anleitung" oder "Erziehung" des Gewissens werden fremde Normen internalisierfo4 und in der Folge zu einer "Stimme", einem "Ruf', dem sich das Individuum (nach wohl allen Auffassungen) nicht mehr entziehen kann. Ob es dieser Stimme folgt, ist eine andere Frage. Der Blick in die Psychoanalyse bestätigt diese dargestellte Struktur des Gewissens: Nach Sigmund Freud kann "alles zum Inhalt des Gewissens werden, sofern es zufällig dem System von Verboten und Geboten angehört, die im väterlichen 4112 Herrmann Mostar: Der Justizirrtum. in: Burghard Freudenfeld. Schuld und Sühne. Dreizehn Vorträge über den deutschen Strafprozeß. München. 1960. S. 128 ff. (128) 403 Mostar. aaO, S. 134 4114 Das die Internalisierung zunächst fremder den Autbau und die Ausbildung des sittlichen Urteils bestimmt, wird von Kaufmann ja auch gerade zugestanden: vgl. nur ders., Parallel wertung, S. 28 ff.
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Über-Ich und in der kulturellen Überlieferung enthalten sind. In solcher Sicht ist das Gewissen nichts anderes als internalisierte Autorität.''405 Die oben dargestellte Auffassung der katholischen Kirche zu den Fragen des Gewissens könnte man deshalb der "autoritären Ethik" zurechnen, denn "in einer autoritären Ethik bestimmt eine Autorität, was für den Menschen gut ist, und stellt die Gesetze und Normen der Lebensführung auf."406 Diese Aufgabe übernahm dann in den fünfziger Jahren, wie ausgeführt, die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen. Ein fern liegender Vergleich? "Die meisten politischen und religiösen Systeme, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, könnten als Illustrationen des autoritären Gewissens dienen.''407 Man wird einwenden, daß zumindest in der demokratischen Bundesrepublik dieses Phänomen keine Rolle gespielt habe. Wirklich? Zeigen nicht die obigen Beispiele aus der Strafrechtsprechung des BGH in den fünfziger Jahren genau dieses Gesicht einer "autoritären Ethik" mit dem Glauben an die "vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte"? Moralischer Rigorismus im Dienste einer bestimmten "Sittlichkeit" als (letztlich vergeblicher) Stabilisierungsversuch. Man hat sich eben daran gewöhnt, "daß eine autoritäre Haltung lediglich autoritäre, nicht-demokratische Kulturen charakterisiere. Eine solche Ansicht unterschätzt jedoch die Stärke autoritärer Elemente, insbesondere die Rolle, welche die anonyme Autorität in unserer heutigen Familie und im gesellschaftlichen Leben spielt."408 Erich Fromm schrieb diese Sätze 1947 und seither hat sich bekanntlich auch in bezug auf die beschriebenen Autoritätsverhältnisse einiges geändert. Wie steht es aber mit der Autorität staatlicher Organe? Und wie sieht es mit anderen Werten aus, die eventuell heute "konserviert" werden sollen? Am Ende dieser Untersuchung werden Versuche einer Antwort auf diese Fragen stehen. An dieser Stelle ist nur festzuhalten, daß der "Ruf' des Gewissens dem Betreffenden nur zurufen kann, was zuvor in irgendeiner Weise internalisiert, also zum Inhalt des Gewissens gemacht, wurde. Gelänge dem Täter eine vollständige Internalisierung der "richtigen" Normen, bedeutete das:
4115 Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik. Bausteine einer humanistischen Charakterologie, 3. Aufl., München, 1990, S. 36. 41l~ Fromm, aaO, S. 17; vgl. auch S. 114: "Das autoritäre Gewissen ist die Stimme einer nach innen verlegten äußeren Autorität, also der Eltern, des Staates oder was immer in einer bestimmten Kultur als Autorität gelten mag." 4C17 Fromm, aaO, S. 120. 41lX Fromm, aaO, S. 120.
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Er kennt sie nicht nur, sondern hat auch gelernt, sie als "richtig" zu akzeptieren. Es ist dann jedoch zu bedenken, daß die Nonnen, die der Täter internalisiert hat, eben nicht notwendig die "richtigen", d. h. die von der "Autorität", dem Staat oder der Gesellschaft akzeptierten oder von einem "objektiven Sittengesetz" vorgegebenen, sein müssen. Dies ist ein Gesichtspunkt, der offenbar von einigen übersehen wird. Es sei nur an Max Ernst Mayers Auffassung erinnert, wer "die" religiösen und moralischen Vorschriften nicht kenne, sei ein Unzurechnungsfähiger, ein Idiot, jeder Zurechnungsfähige kenne dagegen "die" Kulturnonnen und erkenne sie zugleich an. 409 Gerade weil es der "Ausbildung" des Gewissens bedarf, kann diese auch im Sinne der allgemein anerkannten Werte oder einer "objektiven Sittlichkeit" scheitern. Man denke an bestimmte "Subkulturen" mit eigenen "Werten", Statussymbolen, "Gesetzen". Man denke an Menschen, die, wie z. B. in den SlumVierteln und Ghettos der Großstädte in Süd- und Nordamerika, in einem Klima aus fehlenden Bildungschancen, lebenslanger Arbeitslosigkeit, alltäglicher Kriminalität, Verelendung, grassierender Drogensucht und nackter Gewalt aufwachsen: "Ein Kind, das in kriminellem oder verwahrlostem oder schwer psychisch gestörtem Milieu die erste Phase des Lebens verbrachte, ist meist in seinen seelischen Entwicklungen, speziell seiner Lernfähigkeit, seinen Fähigkeiten der Realitätswahrnehmungen gestört. Die Besserung, welche' die Strafe herbeifilhren soll, wird besonders durch diese psychischen Defonnierungen noch stärker eingeschränkt. ,,410 Denn in der Kindheit finden nach heute verbreiteter Überzeugung die entscheidenden Internalisierungen moralischer Nonnen statt. 411 Nun kann man einwenden, das seien weit hergeholte Beispiele, die jedenfalls unsere relativ "heile Welt" nicht beträfen. ' Damit verändern sich jedoch nur die Beispiele, das Problem bleibt: Auch in Mitteleuropa gibt es faktisch" rechtsfreie Räume ": "Im Englischen gibt es den Ausdruck no-go-area für Bezirke, in die man, in die vor allem auch die Polizei nicht geht. Die Behörden leugnen dies natürlich, aber tatsächlich gibt es Teile der Innenstädte, aber auch Untergrundbahnen und Bahnhöfe, die (im Bild der Hamburger Erfahrungen gesprochen) ,Hafenstraßen' geworden sind, so daß
Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, aaO, S. 16 u.18. Mitscherlieh, Das schlechte Gewissen der Justiz, S. 274. 411 Vgl. dazu nur John Rawls Theorie über die Entstehung des "Gerechtigkeitssinns", in: ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit, 8. Aufl., Frankfurt a.M., 1994, S 502 ff., der auf die Arbeit von Jean Piaget, "Das moralische Urteil beim Kinde", zurückgreift. 409
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nichts, das in ihnen geschieht, den normalen Sanktionen der Rechtsgemeinschaft unterliegt."412 Auch auf anderen "Ebenen" sind konsentierte Antworten schwierig geworden. Zu erwähnen sind z. B. der Streit um die Abtreibungsfrage oder die Fragen, die sog. "Ethik-Kommissionen" entscheiden müssen, eben weil das individuelle Gewissen jeweils unterschiedliche Antworten diktiert. So wird etwa der strikte, bedingungslose Abtreibungsgegner die Abtreibung, ungeachtet aller staatlichen Regelung, als "Mord" betrachten usw. 413 Dem steht die Erkenntnis gegenüber, daß "die Chance der Befolgung des Rechts dann am größten ist, wenn es im Gewissen der rechtlich Verpflichteten anerkannt wird."414 Ebenso sicher ist aber auch, da die letztbegründete Ethik und die Einsicht aller in diese Ethik Utopie sind, daß man sich "häufig mit einem geringeren Grad von Geltung bescheiden" muß. 415 Hier den bestmöglichen Ausgleich zu schaffen ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Aufgabe der Rechtsetzung. Diese Einwände sind selbstverständlich nicht neu, am Beispiel der Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern aber bisher kaum diskutiert worden. Nur HansWilhelm Schünemann hat die spezifische Problematik des Kriteriums der "Gewissensanspannung" im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedingungen zur Ausbildung dieses Gewissens gesehen und aus Sicht des Jugendrichters einem breiteren Publikum bewußt zu machen versucht. 416 Es ging Schünemann darum, "die realen Bedingungen der Vermeidbarkeit besser ins Blickfeld zu rücken."417 Zu diesem Zweck stellte er einige unbequeme Fragen, die hier teilweise erneut gestellt werden sollen, weil sich bisher keine bzw. keine befriedigende Antwort auf sie ergeben hat, sie aber gleichwohl die Fundamente der bisherigen Praxis zur Beurteilung der Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern betreffen: 412 Ralf Dahrendort: Der moderne soziale Kontlikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart, 1992, S. 241. 413 Schon die genannten Beispiele zeigen, daß "Gewißheit" und Konsens in der Einschätzung selbst des Rechtsgutes Leben zunehmend schwieriger werden. Ergänzend sei auf die Kontroverse um die Theorien des australischen Philosophen Peter Singer verwiesen, der in seinem Werk "Praktische Ethik" (Stuttgart, 1984) Lebensrechte in bestimmten Fallgruppen nach dem vermutlichen "Wert" diese Lebens relativiert. Vgl. hierzu: Dieter Birnbacher, Utilitaristische Ethik und Tötungsverbot, Analyse & Kritik (12. Jhg.) 1990, S. 205 tr. und die daran anschließenden Beiträge von .lean-Claude Wolf(aaO, S. 219 t1) und Norbert Hoerster(aaO, S. 226 t1). 414 Arthur Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 177. 41S Kautinann, aaO, S. 177. 41" Hans-Wilhelm Schünemann, Verbotsirrtum und faktische Verbotskenntnis, N.lW 1980, S. 735 ff. 417 Schünemann, aaO, S. 742.
I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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Zunächst ist nach den Bedingungen darur zu fragen, daß jemand überhaupt in die Lage versetzt wird, sein Gewissen "auszubilden, seine Geisteskräfte anzuspannen, die gesetzgeberischen Wertungen nachzuvollziehen oder den normativen Kern der Strafvorschriften zu erfassen": "Sind die Mechanismen und Möglichkeiten zur Gewissensbildung und zur Anspannung des Gewissens in allen sozialen Schichten gleich? Haben beispielsweise in verschiedenen Schichten die gleichen Sachgehalte die gleiche Auslösefunktion rur Zweifel?"418 Soziologie und die Sozialpsychologie sind gefordert, wenn es um Probleme wie Normkenntnisse und Motivationen im Zusammenhang mit den Sozialisationsbedingungen und schichtspezifischen Sozialisationen geht. Im nachfolgenden Teil dieser Arbeit wird dieser Rückgriff erfolgen und der Versuch einer ansatzweisen Beantwortung der gestellten Fragen unternommen werden. Speziell auf das Kriterium der "Gewissensanspannung" bezogen, sollen an dieser Stelle aber bereits die oben geltend gemachten Bedenken gegen die Anforderungen der Rechtsprechung des BGH insoweit fundiert werden. Hierzu ist auf die oben angesprochenen Beispiele zurückzukommen, die die Ghettostrukturen, die Wertorientierungen der sog. Unterschicht und das Aufwachsen unter diesen Bedingungen betreffen. Schünemann weist zutreffend darauf hin, daß es die Strafjuristen überwiegend mit Angehörigen der sozialen Unterschicht zu tun haben, weshalb die allgemeinen Fragen zur "Gewissensbildung" unter dem besonderen Akzent der schichtspezifischen Sozialisation näher zu betrachten seien. 4i9 Allerdings sind die Bedenken im Hinblick auf die Bedingungen der Gewissensbildung keineswegs auf diese "Schicht" beschränkt, da die Erziehung des Kindes als insoweit maßgeblicher Faktor bekanntlich in allen "Bereichen" unserer Gesellschaft iSd anerkannten Normen scheitern kann. So beginnt auch Schünemann seine Kritik anhand der soziologischen "Mikroebene" der Familie. 420 Seine Ansicht, daß bereits "funktionale Desorganisation (z. B. Versagung, Zurückweisung, Streit) die Gewissensbildung negativ beeinflussen" können,421
Schünemann, aaü, S. 742. Schünemann, aaü, S. 743. 42(1 Ähnlich z. B. auch Rawls, aaü, S. 503 ff., der den Beginn des "Erlernens" von Moral ebenfalls in der Familie vermutet und als wesentlichen Faktor die vom Kind erlebte Autorität der Eltern bezeichnet. 421 Schünemann, aaü, S. 742. 41K
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
erscheint ohne weiteres einsichtig. 422 Sollen die Eltern dem Kind doch die zu erlernende Moral gerade vorleben. Dieses Beispiel der Eltern sei - so John Rawls - nötig, um bei dem Kind die Bereitschaft zu wecken, diese Grundsätze später anzuerkennen und um ihre spätere Anwendung auf konkrete Probleme vorzubereiten. Entsprechend nimmt Rawls an, daß die moralische Entwicklung in dem Maß ausbleibe, wie die soeben angesprochene Anleitung und Ausbildung des Gerechtigkeitssinnes versäumt werde. Dies gelte vor allem, wenn die elterlichen Vorschriften nicht nur streng und ungerechtfertigt seien, sondern mit (u.U. körperlichen) Strafen durchgesetzt würden. 423 Es ist einsichtig, daß ein Kind, das in einem Klima von Gewalttätigkeit "erzogen" wird, wohl eher selten "von allein" gewaltfreie Strategien zur Vermeidung und zum Abbau von Konflikten lernt. Deswegen ist der Auffassung zuzustimmen, daß für die Gewissensbildung die Erziehungsmittel (Schläge, Liebesentzug, Überzeugung etc.) und die "Konsistenz, mit der erzogen wird" von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. 424 Ist nun im Wege der Erziehung ein bestimmtes Wertekonzept internalisiert worden, ist ferner von Bedeutung - und auch das leitet sich maßgeblich aus den verwendeten "Erziehungsrnaßnahmen" ab -, "in welcher Weise der Mensch das vermittelte Wertkonzept erlebt: ob als orientierende Hilfe oder als befehlende Instanz; dies wird besonders seine Autonomie im Umgang mit den normativen Erwartungen der Gesellschaft bestimmen."42s Die sog. Unterschicht betreffend stellt Schünemann (wohl nicht zuletzt gestützt auf seine Erfahrungen als Jugendrichter) fest, daß es Folge des in dieser Schicht gebrauchten Sprach- und Erziehungsstils sei, "daß in Unterschichten eher außengeleitetes Anpassungsverhalten (,externalisierte Moral') zu finden ist, nicht dagegen Wertverinnerlichung."426 Die Vorsicht, die Schünemann durch die Verwendung des "eher" übt, ist durchaus am Platze. Wie auch sonst, sind Pauschalurteile in diesem Bereich kaum angebracht. Und bei Betrachtungen zur Schuld eines Menschen sollte man sich - moralisch wie juristisch - ebenfalls vor groben Maßstäben hüten, da es um etwas sehr Individuelles geht. Nehmen wir gleichwohl an, daß Schünemanns Auffassung zutreffend ist und vieles spricht dafür - ist es dann nicht zumindest problematisch, solchen Menschen einen "Gewissensspiegel" vorzuhalten, in dem sie sich nicht erken422 Vgl. dazu statt vieler: Luhmann, Gewissen und normative Selbstbestimmung, aaO, S. 230. 423 Rawls, aaO, S. 507. 424 Schünemann, aaO, S. 742; ebenso Rawls, aaO, S. 507. 425 Schünemann, aaO, S. 743. 421> Schünemann, aaO, S. 743.
I. Das Kriterium der ,.Gewissensanspannung"
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nen können? Konfrontiert man sie nicht mit Erwartungen an die Entwicklung eines Nonnbewußtseins, das zwar einem Idealbild christlicher Ethik oder der oberen Gesellschaftsschichten entsprechen mag, den Lebensrealitäten ihrer "Schicht" aber denkbar fern liegt? Wendet man sich dem Ziel der Resozialisierung des Täters zu, scheinen weitere Fragen auf: War der Täter überhaupt jemals idS "sozialisiert"? Hat sich vor seiner Tat jemand ernsthaft um die Behebung seiner erziehungs- und "schichtbedingten" Defizite gekümmert? Schließlich: Kann man wirklich erwarten, daß ein Täter, der schon die Anforderungen an die "Gewissensbildung" verfehlt hat, durch oder auch nur anläßlich der auferlegten Strafe nun den Prozeß der Gewissensbildung weiterführt? Wird er nicht nach dem oben Gesagten die Strafe und ihre Gründe als ebenso "extern" und "außengesteuert" empfinden, wie zuvor die von ihm innerlich abgelehnten Nonnen? Denn indem die im "Ritual" des Strafprozesses "angesprochenen kulturellen Werte individuell nicht mehr handlungsleitend sind, die Individuen ihre e'motionale Besetzung davon abziehen, verliert auch das System insgesamt die Eigenschaften, die es brauchte, um seine Ziele zu realisieren."427 Daraus ist zunächst folgende Konsequenz zu ziehen: "Wenn wir davon ausgehen müssen, daß z. B. die Fähigkeit zur Gewissensanspannung von zahlreichen Bedingungen abhängt (etwa: der Rechtsordnung korrespondierendes Wertsystem, konsistente Vennittlung durch die EItern, Autonomie erlaubende Vennittlung), die durchaus verschieden ,verteilt' sind, so ist der Begriff ,zumutbare Anspannung der Geisteskräfte' nicht differenziert genug, um dem Rechtsanwender eine Anleitung zu geben, mit deren Hilfe er die real vorhandenen Differenzierungen einigennaßen zutreffend abbilden kann."428 Vor allem die unsicheren Fragen im Kembereich des Strafrechts haben auch Arthur Kaufmann im Zusammenhang mit seiner Theorie vom stellvertretenden Gewissensurteil des Richters beschäftigt. Problematisch erscheinen indessen die Argumente zur Rechtfertigung seines Standpunktes gegenüber den oben genannten Einwänden: Er ist der Meinung, man brauche sich "gar nicht auf das Glatteis subtiler ethischer Erörterungen zu begeben. Denn solche Grenzfalle sind denkbar ungeeignet, die Richtigkeit unseres Standpunktes in Frage zu stellen. Ja, ganz im Gegenteil, gerade die Tatsache, daß der Richter dort, wo es um ethisch schwierige und umstrittene Sachverhalte geht, in seinem Urteil schwankend und unsicher wird, beweist, daß das strafrechtliche Schuldurteil nur da fest fundiert ist,
427
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Fabricius, aaO, S. 146 f. Schünemann, aaO, S. 743.
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C. Rechtsprechung des BGH zur Verrneidbarkeit nach § 17 StGB
wo es auf klarer und eindeutiger sittlicher Grundlage beruht, wo der Richter nicht in Verlegenheit gerät, wenn er sagen muß: der Täter kann das, was er getan hat, vor seinem Gewissen nicht verantworten."429 Zu diesem vermeintlich sicheren Standpunkt paßt es dann aber nicht recht, wenn Kaufmann es andererseits wieder dahinstehen läßt, welche Schuld der Straftäter denn nun auf sich geladen habe: nur rechtliche, oder auch Schuld im moralischen, sozialethischen oder "gesellschaftlichen" Sinne. 43o Müßte nicht all dies - nach seinem Ansatz eine Einheit bilden? Hatte nicht der Große Senat in jener "monströsen" Entscheidung gerade behauptet, das "objektive Sittengesetz" gleichsam unfehlbar erkennen und auslegen zu können? Zudem: Was ist schon "Grenzfall", was noch nicht? Besteht denn wenigstens hier immer ein eindeutiges Urteil? Nein. Was schließlich den "sicheren" Bereich des Kernstrafrechts anlangt: Der Richter wird niemals genug über den Angeklagten, sein Leben und seine Erziehung wissen können, um ihm berechtigt sagen zu können: "Das hat Dir Dein Gewissen gesagt!" oder "Das hätte Dir Dein Gewissen sagen müssen!" Staat, Gesellschaft und Strafrichter interessiert auf der Ebene der "Zurechnung" einer Tat, wie gesehen, nicht, ob den Täter sein Gewissen zu seiner Tat getrieben hat. Der Überzeugungs- und Gewissenstäter wird bestraft. Es gibt gute Gründe hierfiir. Kaufmann selbst hat am Beispiel der Sitzblockaden-Entscheidungen des BGH zu § 240 StGB beklagt, daß die ethisch anerkennenswerten Ziele der Demonstranten und ihre Überzeugungen nicht entsprechend gewürdigt wurden. 431 Wenn der Staat sich aber schon dafiir entscheidet, ethische Motivationen und Gewissensgründe hier - wo sie den Angeklagten ja zum Vorteil gereichen würden - nicht zu berücksichtigen, dann muß er zumindest die Konsequenz aufbringen und dem einzelnen nicht bei anderen Taten, wo es ihm u. U. zum Nachteil gereichen würde, gerade sein Gewissen vorzuhalten! Anderenfalls entstünde der Eindruck eines gezielt-selektiven Vorgehens zum Nachteil des Angeklagten. Selektivität und (scheinbare) Inkonsequenz sind jedoch schon den "klassischen" Konzeptionen des Gewissens eigen: In der Geschichte des Gewissensbegriffes ist "die zunehmende Ausdifferenzierung der Persönlichkeit aus der Gesellschaft, die zunehmende Autonomie subjektiver Verhaltenssteuerung anerkannt - und zugleich wieder zurückgenommen (worden), indem nur m Kaufmann, Schuldprinzip, S. 199 f. 430 Vgl. Kaufmann. Parallelwertung. S. 40. 431 Vgl. nur in Grundprobleme, S. 56 f. u. Problemgeschichte, S. 156 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausfllhrungen Kaufmanns zur ethischen Fundierung der bloßen "Ordnungsstrafen" (heute Ordnungswidrigkeiten) in: Schuldprinzip. S. 200 f. Hier wird auf die Idee, der legitimen Obrigkeit untertan sein zu müssen. als sittliche Pflicht und damit als Gewissenspflicht zurückgegriffen.
I. Das Kriterium der ,.Gewissensanspannung"
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die Faktizität, nicht aber die Nonnativität des Gewissens subjektiviert und individualisiert wird. ,,432
4. Einordnung der BGH-Rechtsprechung Ist es nach allem nun bloße Spekulation, die Rechtsprechung des BGH zur Venneidbarkeit des Verbots irrtums hier einzuordnen? Schließlich hat sich der Große Senat und nach ihm nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch der Gesetzgeber mit Schaffung des § 17 StGB n. F. eindeutig fur die sog. Schuldtheorie und gegen die sog. Vorsatztheorie entschieden. Widerspricht dem nicht Kaufmanns Auffassung, zur vorsätzlichen Schuld gehöre nur die Kenntnis der im Tatbestand ausgedrückten Bedeutung der Tat, nicht aber, daß der Täter selbst sein Verhalten als Unrecht bewerte und empfinde?433 Kaufmann selbst jedenfalls sah gerade die Rechtsprechung des BGH zum Verbotsirrtum als seiner Auffassung entsprechend an, fugte allerdings einschränkend hinzu, der BGH habe zwar "regelmäßig - wenn vielleicht auch nicht voll bewußt - in diesem Sinne entschieden".434 In diesem Zusammenhang nennt er u. a. die oben besprochenen Urteile zu während des Nationalsozialismus begangenen Taten. 4J5 Da der BGH also ebenfalls die Kenntnis des materiellen Unrechts der Tat fur den Vorsatz verlangt, sei auch für ihn letztlich der Tatbestandsvorsatz notwendig auch Unrechtsvorsatz und enthalte das "ethische Schuldelernent", das Unrechtsbewußtsein mit. 436 Hieraus folgt dann die oben dargestellte Konsequenz, demjenigen, der mit diesem "dolus malus" handele, die Berufung auf einen entschuldbaren Verbotsirrtum zu versagen. Eine so verstandene Rechtsprechung des BGH zur Venneidbarkeit des Verbotsirrturns fügt sich dann nahtlos in die aufgezeigten Traditionen der "Naturrechtsrenaissance" ein und paßt stimmig zur Annahme eines "objektiven Sittengesetzes" bzw. unifonner Kulturnonnen, die mit den real existierenden "Gesetzen" und Nonnen vor allem der sog. Unterschicht in scharfen Kontrast gerät. Vom zum Guten hin prägenden Nonnerlebnis kann ersichtlich vielfach nicht die Rede sein. Als letzten Beleg fur dieses Ergebnis sollen noch einmal die Thesen Thomas Würtenbergers herangezogen werden. Er war, wie oben bereits angesprochen, Luhmann, Gewissen und normative Selbstbestimmung, aaO, S. 236. Vgl. Kaufmann, Schuldprinzip, S. 132. 414 Kaufmann, aaO. 435 Kaufmann, aaO, S. 133. 43~ Kaufmann. aaO, S. 135. 432 433
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C. Rechtsprechung des BGH zur Verrneidbarkeit nach § 17 StGB
der Auffassung, daß das Gewissensurteil des einzelnen als Teil der Rechtsgemeinschaft "primär an den Normen des Rechtsgesetzes als einer wichtigen Instanz orientiert ist."4J7 Mehr noch: Unter Bezugnahme auf Positionen Hegels fiihrt er aus: Mit dem Rang des Allgemeinen und zugleich Objektiven gewinne das Gesetz als Instanz der Rechtsgemeinschaft Macht innerhalb der Gewissensvorstellung des einzelnen. Das individuelle Gewissen bedürfe stets des Haltes an "festen Grundsätzen", die der einzelne in den "objektiven Bestimmungen und Pflichten" des Gesetzes finde. 438 Zudem offenbare sich nicht nur in der Gewissensregung, sondern auch im SchulderIeben des Menschen, wie sehr es auf eine Anerkennung des Gesetzes der Rechtsgemeinschaft ankomme. "Gewissen, Verantwortung und Schuld des Menschen gründen letzthin in seiner inneren Verbundenheit mit dem Gesetz."439 Damit wird die Rechtsordnung zum Leitfaden des Gewissens. Nur der Gewissensinhalt, der mit ihr übereinstimmt, kann Beachtung verlangen. Und übertragen auf die Vermeidbarkeit des Verbots irrtums wird deutlich, daß nach einem so verstandenen Gewissen, was es anzuspannen gilt, ein unvermeidbarer Irrtum nicht vorliegen kann. Denn das "richtige" Gewissensurteil, auf das der Angeklagte verpflichtet wird, stimmt mit den Forderungen der Rechtsordnung immer überein. Hier fällt ein "stellvertretendes Gewissensurteil" des Richters dann leicht. Gerade der Rekurs Würtenbergers auf Hegel erhellt aber, welche Ideen hinter diesem Postulat der Übereinstimmung von Rechtsordnung und dem subjektiv-persönlichen Gewissens stehen. Denn Hegel ging von einem objektiven Gewissensbegriff aus: "Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung, das, was an undfür sich gut ist, ZU wollen .... Ob aber das Gewissen eines bestimmten Individuums dieser Idee des Gewissens gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden .... Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen nicht anerkennen, sowenig als in der Wissenschaft die subjektive Meinung, die Versicherung und Berufung auf eine subjektive Meinung, eine Gültigkeit hat."440 Das Gewissensurteil des einzelnen ist demnach nur von Belang, wenn es mit den objektiven Werten, staatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben übereinstimmt. Ein von diesen Vorgaben abweichender Gewissensruf ist nach Hegel nur Ausdruck eines letztlich irrelevanten "irrenden Gewissens": "Wenn ich Würtenberger, aaO, S. 354. Würtenberger, aaO, S. 353 f. m Würtenberger, aaO, S. 351. 44U Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main, 1986, § 137, S. 254 f. 437
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vorauszusetzen hätte, sie wären irrende Gewissen, anerkennten nur das Recht, was sie nur in ihrem subjektiven Gewissen fanden, so daß sie darin das Gegenteil von allem, was recht und sittlich, fänden, so befände ich mich ärger als unter Räubern, denn von diesen weiß ich, daß sie Räuber sind, - jene aber haben den äußerlichen Anschein und alle Redensarten - selbst der Religion, des Rechts, des Guten, des Gewissens _".441 Das Gewissen sei demnach "als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse umzuschlagen. ,,442 Würtenberger sah selbst, daß die postulierte Koinzidenz von Recht und subjektivem Gewissensurteil eine Idealvorstellung ist, von der die gesellschaftlichen Realitäten weit entfernt sind: Mit der Säkularisierung des Rechtsdenkens in der Neuzeit habe die Vorstellung einer aus dem Bereich des Transzendenten kommenden Herrschaft des Gesetzes mehr und mehr an Macht über die Menschen verloren. Die Folge sei eine ernste "Krise des Gesetzesdenkens" bzw. eine "Krise der Herrschaft des Rechtsgesetzes über die Menschen". Diese offenbare sich in einer Schwäche und Unsicherheit des Rechtsbewußtseins sowie einem Verwischen der Grenzen zwischen Recht und Unrecht und einer Lockerung der verbindlichen Autorität der Rechtsordnung. Ferner konstatierte er eine "zunehmende Verflachung des Gewissenserlebnisses, zumal mit der wachsenden Kollektivierung des Menschen einzelne soziale Gewissensvorstellungen miteinander in Widerstreit treten können. Oder es fehlt, wie vornehmlich bei jugendlichen Rechtsbrechern, vielfach an der Gewissensregung überhaupt."443 Angesichts dieser Phänomene, die unter dem Begriff "Individualisierung" unten noch ausführlich behandelt werden, dürfte dann doch äußerst fraglich erscheinen, ob gerade das Gewissen des einzelnen weiterhin Maßstab für die Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern sein kann. Statt diesen Fragen nachzugehen, bietet Würtenberger ein Konzept an, das ebenfalls weiter unten in Zusammenhang mit den Positionen des BGH noch eingehend betrachtet wird: Erziehung zur Rechtstreue. Es müsse vordringlichste Aufgabe sein, "dem Rechtsgesetz wieder jenen Rang zuzuerkennen, den es sowohl für Leben und Bestand der Gemeinschaft als auch für Bildung und Vertiefung des individuellen Gewissenserlebnisses besitzt."444 Die Ähnlichkeit der Positionen Würtenbergers mit derjenigen, die der BGH zumindest in seinen Entscheidungen aus den fünfziger und sechziger Jahren vertreten hat, zeigt sich schließlich im Rekurs auf ein religiös fundiertes Naturrecht: Das Streben nach Anerkennung des Gesetzes nehme zu und dessen
441 442 443 444
Hegel, aaO, S. 258. Hegel, aaO, § 138, S. 261. Würtenberger, aaO, S. 352. Würtenberger, aaO, S. 352.
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
"Macht im Gewissenserlebnis des Einzelnen" wachse, "wenn in einer Epoche das Rechtsgesetz als Teil oder Zeichen des" göttlichen Gesetzes" erscheint. Im Verstoß gegen das von Gott gegebene und durch seine Allmacht und Weisheit legitimierte Gesetz steigert sich die individuelle Gewissensqual."445
5. Die "Anspannung" des Gewissens Folgt man der oben dargestellten Auffassung, daß der BGH auf das "Gewissen" als "seelisches Faktum" abstellt, bleibt noch zu klären, daß auch der andere Teil der "Formel" nicht geeignet ist, den vermeidbaren Verbotsirrtum vom unvermeidbaren zu scheiden. Denn das Gewissen läßt sich eben nicht "anspannen", sich also nicht durch bewußte Einwirkungen des Betreffenden dazu zwingen, ihn in bestimmter Weise zu beeinflussen: 446 Die Stimme des Gewissens wird gerade als "ein ursprüngliches Phänomen des Daseins" mit "Instanzfunktion" gedacht. 447 Es "gibt ,etwas' zu verstehen, es erschließt."448 Es trifft den Menschen als "Ruf der Sorge".449 Damit ist aber schon das wesentliche Phänomen genannt: die Passivität des Menschen im Erleben dieses "Rufes". "Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst C... ) geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ,Es' ruft, wider Erwarten und gar wider Willen C... ) Der Ruf kommt aus mir und doch über mich."450 Dabei bleibt Z.B. nach Martin Heidegger der "Rufer des Rufes" dem Angerufenen unbekannt, denn er "hält jedes Bekanntwerden schlechthin von sich fern."451 Heidegger sieht als diesen Rufer "das Dasein selbst"452, für die katholische Kirche ist es, wie oben gesehen, Gott,45J der in einer "ganz persönlichen, unüberhörbaren Weise kundtut, was er (der Mensch) tun und lassen soll."454 Einigkeit besteht also zwischen so verschiedenen Positionen wie der Heideggers und derjenigen der katholischen Kirche darin, daß der Mensch den Ruf
Würtenberger, aaO, S. 351 f. Vgl. nur Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 35. 447 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 268. 44K Heidegger, aaO, S. 269, vgl. auch S. 270. 44~ Heidegger, aaO, S. 272 ff., insb. S. 274 ff. 450 Heidegger, aaO, S. 275; vgl. auch Arthur Kaufmann, Das Gewissen ... , S. 6: "Ist das Gewissen nicht eben jene innere Stimme, die ohne Rücksicht auf das spricht, was von außen kommt?" 451 Heidegger, aaO, S. 274. 452 Vgl. aaO, S. 275. 453 Nicht anders natürlich auch flir Vertreter einer katholisch ausgeprägten Naturrechtstheorie wie Tomberg, vgl. aaO, S. 27. 454 Walter Brugger, Philosophisches Wörterbuch, S. 144. 445
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I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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des ausgebildeten Gewissens eben nicht mehr beeinflussen kann. Dabei wird zwar auf die Möglichkeit und Pflicht des Menschen zur Gewissensbildung durch Nachdenken, Belehrung, Um-Rat-Fragen usw. verwiesen. 455 Von einer "Anspannung" des Gewissens ist jedoch aus guten Gründen nicht die Rede. Deshalb kann auch der Ansicht nicht zugestimmt werden, der von der Rechtsprechung verwendete Ausdruck "Gewissensanspannung" klinge zwar "etwas altertümlich", treffe aber die Sache im Kern: Es werde durch ihn nämlich angesprochen, daß der Täter durch eigene Leistung sich hätte vergewissern können, daß seine Zweifel berechtigt waren. 456 Vielmehr ist der Begriff, wie ausgeführt, gerade hierfür unzutreffend. Damit bleibt zum verfehlten Kriterium der "Gewissensanspannung" nur die bittere Erkenntnis: "Das Paradoxe und Tragische der menschlichen Situation liegt darin, daß das Gewissen dann am schwächsten ist, wenn der Mensch seiner am meisten bedarf."457 Und dies dann vorwerfen?
6. Die "Mauerschützenfälle" - verkannte Anwendungsfälle für den unvermeidbaren Verbotsirrtum?
In diesem Abschnitt der Arbeit soll an Urteilen des BGH zur sog. Mauerschützenproblematik untersucht werden, ob es sich - entgegen der Rechtsprechung des BGH - nicht doch um Anwendungsfalle für den "unvermeidbaren Verbotsirrtum" handeln könnte. Weiter soll der Frage nachgegangen werden, warum und mit welcher Argumentation der BGH in diesen Fällen keinen unvermeidbaren Verbotsirrtum annehmen wollte. Schließlich soll versucht werden, eine V~rbindung zwischen der Rechtsprechung des BGH zur "Gewissensanspannung" und den Mauerschützenfallen zu finden, in denen, soviel sei schon hier gesagt, das Wort "Gewissensanspannung" nicht zu finden ist. Es darf aber bei der Kritik an der Rechtsprechung des BGH zu diesen Fragen nicht vergessen werden, daß es sich um eine außergewöhnliche historische Situation handelte, durch die der BGH in die Lage versetzt wurde, über diese Taten zu urteilen. Wie die weitere Darstellung zeigen wird, sollte man dem auch bei der Beurteilung der Angeklagten und ihrer Taten mehr Beachtung als bisher schenken. Aber auch für die Urteilskritik bleibt immer zu beachten, daß die Richter des 5. Senats vor einer außergewöhnlich schwierigen Aufgabe standen und es aus der ex-post-Perspektive und ohne die Last der Verantwortung immer leicht ist zu sagen, was alles hätte besser gemacht werden können. 455 Brugger, aaO. 456 Rainer Zaczyk, Der verschuldete Verbotsirrtum - BayObLG, NJW 1989, 1744, in:
JuS 1990, S. 889 ff. (893).
457 Fromm, aaO, S. 126.
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
Der BGH räumt in seinen diesbezüglichen Urteilen und Beschlüssen458 , die vorsätzliche Tötung von "Republikflüchtlingen" betreffen, der Frage der Vermeidbarkeit eines Verbots irrtums verhältnismäßig geringen Raum ein, wie im einzelnen noch dargestellt werden soll. Gleiches gilt für das Vorliegen eines iSd § 5 WStG "offensichtlichen" Unrechts. Beide Punkte werden nachfolgend behandelt. Soweit es sich allerdings "nur" um gefährliche Körperverletzung durch Einsatz einer Schußwaffe mit Verletzungsvorsatz handelte, nimmt der 5. Strafsenat des BGH, der auch in nahezu allen anderen Fällen entschied, an, daß die Angeklagten entschuldigt waren - und zwar wegen Handeins auf Befehl gern. § 258 I iVm § 81 III DDR-StGB, § 5 WStG (analog) bzw. wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums. 459 Anderen Problemen dieser Entscheidungen wird dagegen - im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit - nicht nachgegangen werden, so etwa der Frage der Anwendbarkeit des StGB auf die "Mauerschützenproblematik". Im Schrifttum zu dieser Problematik und den Anmerkungen und Arbeiten zu den einschlägigen Entscheidungen des BGH werden ebenfalls vor allem andere Fragen als diejenigen hinsichtlich der Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern behandelt. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob das Handeln der Angehörigen der DDR-Grenztruppen gerechtfertigt war. 460 Es gibt ersichtlich nur eine Abhandlung, die den Verbotsirrtum und die Frage eines schuldhaften Verhaltens der betreffenden Soldaten zum hauptsächlichen Gegenstand des Interesses wählte, wobei auch dort Fragen der Rechtfertigung breiten Raum einnehmen. 461 Beide Problembereiche können auch, wie noch zu zeigen sein wird, nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Neben einer kritischen Darstellung der Rechtsprechung des BGH zu Fragen der Rechtfertigung der Grenzsoldaten soll hier im folgenden noch untersucht werden, ob nicht - selbst vom Standpunkt des BGH aus - der Frage unvermeidbarer Verbotsirrtümer bei den ehemaligen Grenzsoldaten mehr Beachtung ge-
tr.
45K BGHSt 39, 1 tf. u. 168 tf.; BGH NJW 1993, S. 1938 f.; NJW 1994, 267 2237 ff., 2240 f., 2703 ff. u. 2708 ff. 450 BGH, Besch!. v. 7. 2.1995,5 StR 650/94, N.lW 1995, S. 1437 f. (1437). 460 Vg!. nur Friedrich-Christian Schroeder. Die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen zwischen Transzendenz und Immanenz, JR 1993, S. 45 ff.; Robert Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg, 1993. S. 9 ff.; Klaus Günther: Anm. zu BGHSt 39, I ff., StV 1993, S. 18 ff. 461 Olaf Miehe, Rechtfertigung und Verbotsirrtum, Zum Stand der Diskussion über die Strafbarkeit der Todesschützen an Berliner Mauer und innerdeutscher Grenze, in: FS für Wolfgang Gitter, Wiesbaden, 1995, S. 647 ff.
I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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schenkt werden müßte. In diese Richtung tendieren auch weite Teile des Schrifttums. 462
a) Die Rechtswidrigkeit der Schüsse an der innerdeutschen Grenze Der 5. Strafsenat prüft in seinem ersten "Mauerschützenurteil" v. 3. I I. 1992 u.a., ob eine Rechtfertigung der Angeklagten, die 1984 an der Berliner Mauer auf einen "Republikflüchtling" geschossen und diesen tödlich getroffen hatten, aus § 27 11 des DDR-Grenzgesetzes iVm § 213 III StGB-DDR folge und ob dieser Rechtfertigungsgrund auch heute noch zugunsten der Angeklagten beachtet werden müsse. Denn bei seinem Eingreifen wäre dieser Rechtfertigungsgrund aus dem Recht der ehemaligen DDR das mildere Gesetz iSd § 2 III StGB iVm Art. 3 15 I EGStGB idF des Einigungsvertrages gewesen. 463 Der Senat gelangte zu dem Ergebnis, daß die Angeklagten zwar nach der zur Tatzeit praktizierten Auslegung den Anforderungen des § 27 11 des Grenzgesetzes entsprochen hätten, ihnen eine Rechtfertigung aber gleichwohl versagt bleiben müsse. Es folgt die Schilderung der Praxis in der DDR, nach der bereits völlig harmlose Versuche, diesen Staat zu verlassen, als "Verbrechen" nach § 2 I 3 III StGB-DDR gewertet wurden, zu deren Verhinderung die Grenzsoldaten nach § 18 11 Grenzgesetz verpflichtet waren. 464 Der Senat kommt dann zunächst zu dem Ergebnis, daß auch eine Auslegung "nach dem Wortsinn" der einschlägigen Bestimmungen möglich sei, nach der das Handeln der Grenzsoldaten gerechtfertigt gewesen sei: Denn der ungesetzliche Grenzübertritt habe nach damaliger Auslegungspraxis regelmäßig den Verbrechenstatbestand des § 2 I3 III StG B-DDR erfüllt, weshalb der Einsatz der Schußwaffe als "ultima ratio" nach § 27 VI Grenzgesetz in Betracht gekommen sei. 465 Darüber hinaus berücksichtigt der Senat die damalige Befehlslage der DDR-Grenztruppen.
462 Vgl. Miehe, aaO, S. 664 ff.; Knut Amelung, Strafbarkeit von "Mauerschützen" BGH NJW 1993, 141, JuS 1993, S. 637 ff. (642 f.); Alexy, aaO, S. 37 f.; Klaus Adomeit, Die Mauerschützenprozesse - rechtsphilosophisch, NJW 1993, S. 2914 ff. (2915); Gerhard Dannecker, Die Schüsse an der innerdeutschen Grenze in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, JURA 1994, S. 585 ff. (594); Wilfried Fiedler, Anm. zu BGHSt 39, I ff., in JZ 1993, S. 206 ff. (208); Heiner Wilms/Burkhardt Ziemske, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht?, ZRP 1994, S. 170 ff. (171 f.); vgl. auch Jörg Arnold/Martin Kühl, Probleme der Strafbarkeit von "Mauerschützen", JuS 1992, 991 ff. (996); a. A. Günter Spendei, Bundesgerichtshof und "Mauerschützen"-Prozeß, Recht und Politik (29) 1993, S. 61 ff. (65), der zudem findet, die Betreffenden seien noch viel zu milde bestraft, aaO, S. 66. 41,3 BGHSt 39, I ff. (8 ff.), so auch in den anderen diesbezüglichen Urteilen, vgl. nur BGHSt 39, 168 ff. (181 ff.). 464 BGH aaO, S. 9 f. 465 BGH aaO, S. 10 ff.
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Diese Befehlslage schloß zur Vereitelung der "Republikflucht" auch als letztes Mittel die vorsätzliche Tötung des Flüchtlings ein. Grenzdurchbrüche seien, so der Inhalt der immer wieder erneuerten "Vergatterung" der Grenzsoldaten, "auf keinen Fall zuzulassen", Grenzverletzer seien zu stellen oder zu vernichten. 466 Leitlinie war der Grundsatz "Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt". Entsprechend dieser Befehlslage wurden die Schützen bei "erfolgreicher" Fluchtverhinderung keinerlei strafrechtlichen oder disziplinarischen Konsequenzen unterzogen, sondern im Gegenteil auch für Todesschüsse noch "ausgezeichnet und belohnt".467 Gerichte, Staatsanwaltschaften oder andere staatliche Instanzen unterstützten folglich den Schußwaffengebrauch an der Grenze. 468 Aus diesen Umständen schließt der Senat, "daß die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens zurücktraten. Der Senat gelangt deswegen zu dem Ergebnis, daß nach der zur Tatzeit in der DDR geübten Staatspraxis die Anwendung von Dauerfeuer ohne vorgeschaltetes, auf die Beine gerichtetes Einzelfeuer nicht als rechtswidrig angesehen worden wäre." Somit entsprach nach Ansicht des Senats das Verhalten der Angeklagten der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 11 des Grenzgesetzes, "so wie sie in der Staatspraxis angewandt wurde."469 Der Senat läßt eine solche Rechtfertigung für die Mauerschützen aber nicht gelten, indem er den "so verstandenen" Rechtfertigungsgrund aus § 27 11 Grenzgesetz wegen "Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip" für unbeachtlich erklärt. 470 Denn dieser zur Tatzeit angenommene Rechtfertigungsgrund beinhalte in offensichtlicher Weise einen groben Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, der so schwer wiege, "daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen
4~~ BGH aaO, S. 11; vgl. auch BGHSt 39,168 ff. (181 f.) zu einem Fall, in dem die "Vergatterung" der Grenzsoldaten nicht ausdrücklich die Anweisung zur Vernichtung der Flüchtlinge beinhaltete. Auch in diesem Fall galt jedoch die Maxime, daß .. kein Flüchtling durchkommen dürfe": "Daß Tötungen in diesem Sinne hingenommen werden würden, wurde den Soldaten ,unterschwellig' klargemacht. Ihnen wurde ,suggeriert', der Tod eines Flüchtlings sei besser als eine gelungene Flucht; kein Flüchtling dürfe durchkommen" (aaO, S. 183); diese Befehlslage wird auch in den nachfolgenden Urteilen jeweils zugrundegelegt, vgl. BGH NJW 1995, S. 2728 ff. (2729). 4~7 BGH aaO; BGHSt 39, 168 ff. (183). 46X BGHSt 39, I ff. (14). 469 BGHSt 39, I tf. (13 f.); so auch in den nachfolgenden Urteilen, vgl. nur BGHSt 39, 168 ff. (183). 470 BGHSt 39, I ff. (15 ff.); BGHSt 39 168 ff. (183 f.).
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Rechtsüberzeugungen" verletze. 471 Diese Maßstäbe konkretisiert der Senat unter Rückgriff auf die sog. Radbruchsehe Fonnel, die bereits oben erläutert wurde: Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit müsse so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe. 472 In Auseinandersetzung mit der Verwendung· dieser Fonnel zur Beurteilung von unter dem Nationalsozialismus begangenen Taten stellt der Senat ausdrücklich klar, daß ihm eine Vergleichbarkeit zwischen den Massenmordl:!n und anderen Greueltaten dieser Zeit und den in der DDR begangenen Taten fernliegt. Gleichwohl bleibe aber "die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist."473 Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen werde, müßten deshalb auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben. 474 Ein solcher Ausnahmefall wird im folgenden vom Senat bei Todesschüssen an der Mauer angenommen: Da sich der Senat der Weite und Ungenauigkeit dieser Maßstäbe offenbar bewußt war, wählte er als Präzisierung dieser Anforderungen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBI. 11 1973, S. 1534 ff.), dem zwar auch die DDR beigetreten war, ihn aber nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt hatte 475 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948. Daß über die Frage der Menschenrechte gerade zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und den demokratischen Staaten erhebliche Meinungsunterschiede bestanden, wurde dabei vom Senat nicht übersehen. .
471 BGHSt 39, I tr. (15 f.) unter Hinweis auf die oben im Rahmen des Problemkreises "Naturrechtsrenaissance" bereits besprochene Entscheidung BGHSt 2, 234 ff. (239); diese Erwägungen legt der Senat auch allen folgenden Urteilen zu Mauerschützen-Fällen zugrunde, vgl. BGH N1W 1995,2728 ff. (2730 f.). 472 BGH aaO, S. 16. 47J BGHSt 39, I ff. (16); der Senat behält in der Folge diese Argumentation bei, vgl. BGH NJW 1995,2728 ff. (2730 f.). 474 BGHSt 39, I ff. (15). 475 BGHSt 39, I ff. (16 tn; auf die Frage der Transformation völkerrechtlicher Vereinbarungen in innerstaatliches Recht soll es nach Auffassung des Senats auch gar nicht ankommen, vgl. aaO, S. 16 f. und BGH NJW 1995, 2728 ff. (2731); a. A. aus völkerrechtlicher Sicht z. B. Hermann Ott, Die Staatspraxis an der DDR-Grenze und das Völkerrecht. NJ 1993, S. 337 ff. (340 tf.); Arnold/Kühl, aaO, S. 995; aufschlußreich zu bestimmten "Auslassungen" des BGH in bezug auf die Rezeption von Schrifttum aus der DDR zum dortigen Menschrechtsverständnis: Herrmann, aaO, S. 119.
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Gerade im Hinblick auf das "Grenzregime" der DDR fuhrt er aber aus, dieses habe seine besondere Härte dadurch empfangen, daß "Deutsche aus der DDR ein besonderes Motiv flir den Wunsch, die Grenze nach West-Berlin und Westdeutschland zu überqueren hatten: Sie gehörten mit den Menschen auf der anderen Seite der Grenze zu einer Nation und waren mit ihnen durch vielfältige ... Beziehungen verbunden." Hinzu kamen die "tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze ... : Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl."476 Zur Frage der Rechtfertigung der Grenzsoldaten stellt der Senat deshalb fest: Die Verletzung der in den Artikeln 6 und 12 des Internationalen Pakts garantierten Menschenrechte in ihrem spezifischen, durch die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze gekennzeichneten Zus~mmenhang mache es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften des § 27 des Grenzgesetzes sowie des § 213 III StGB-DDR in dem Umfang, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden seien, als Rechtfertigungsgrund zugrunde zu legen. Denn diese Praxis sei Ausdruck einer Einstellung gewesen, die das Lebensrecht der Menschen niedriger einschätzte als das Interesse, sie am Verlassen des Staates zu hindern. Der im DDR-Recht vorgesehene, in § 27 Grenzgesetz bezeichnete Rechtfertigungsgrund habe deswegen von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt. 477 Diese Begründung bietet Anlaß zu genauerer Betrachtung: Bei der Darstellung der "Naturrechtsrenaissance" wurde erwähnt, daß diese offenbar nur den Charakter einer "Episode" hatte und sich als Reflex auf die Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus erklären läßt. Die Mauerschützenurteile scheinen nun zu einer Art "Re-Renaissance" des Naturrechts zu flihren. 478 Denn obwohl die Radbruchsche Formel nicht allein vom Senat zur Begründung herangezogen wird, greift er zumindest auch auf diese zurück. Sie ist nun aber unbestritten naturrechtlicher Provenienz. Die Ausflihrungen des Senats zu den völkerrechtlichen Erklärungen und Vereinbarungen sind lediglich Versuche, den Inhalt der Radbruchschen Formel irgendwo positiviert zu finden, um sich den bekannten Einwänden gegen naturrechtliche Argumentationen entziehen zu können. 479 So spricht der Senat, wie gesehen, in bezug auf die "menschenrechtswidrige" Auslegung des Grenzgesetzes und die entsprechende Staatspraxis der DDR von einem "offensichtlichen, unerträglichen Verstoß ge-
476 BGH aaO, S. 20; ebenso in den folgenden Urteilen, vgl. BGH NJW 1995. 2728 ff. (2731). 477 BGH aaO, S. 22; vgl. auch BGH NJW 1995, S. 2728 ff. (2730 0. 47K Zur Einordnung der Radbruchschen Formel in die Zusammenhänge der "Naturrechtsrenaissance" vgl. Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht, N.lW 1995, S. 81 tl (82). 47Y Vgl. dazu Dannecker, aaO, S. 590.
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gen elementare Gebote der Gerechtigkeit". In diesem Fall müßten diese Praktiken nach der Radbruchschen Formel "der Gerechtigkeit weichen" und ergänzt: "Diese Grundsätze werden durch Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes konkretisiert. "480 Damit bilden die naturrechtlichen Gedanken der Radbruchschen Formel gleichwohl den Kern der Argumentation des BGH. Wie der Senat selbst ausführt, verbietet sich - angesichts des Ausmaßes und der Schwere der nationalsozialistischen Verbrechen - der Vergleich mit den Taten in der DDR fast von selbst. Einwände aus dem Schrifttum betrafen nun gerade diesen absoluten Ausnahmecharakter der nationalsozialistischen Verbrechen. Denn die Anwendung der Radbruchschen Formel sollte - so die Argumentation - auf diese nahezu unfaßbaren Verbrechen beschränkt bleiben. 481 Aber selbst wenn man wie der BGH annimmt, die Radbruchsche Formel sei mit gewissen Modifikationen - auf die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze und die sie betreffenden Gesetze anwendbar, bleiben weitere Fragen. Insbesondere der Unterschied zwischen der zu Zeiten der DDR geübten Praxis und einem "westlichen" Menschenrechteverständnis läßt es nicht unproblematisch erscheinen, nun aus einer ex-post-Perspektive den Grenzsoldaten zuzumuten, sie hätten sich damals eben nicht an der Praxis der DDR orientieren müssen, sondern an jenen Grundsätzen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot des Art. 103 11 GG wollte der Senat wohl den Anschein vermeiden, die damaligen Taten nun mit anderen Maßstäben zu messen, als sie zur Zeit der Tatbegehung angelegt werden konnten. 482 Er prüft deshalb zusätzlich, "ob § 27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, daß die genannten Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden", wozu die Vorgaben berücksichtigt werden sollten, "die im Recht der DDR für eine menschenrechtsfreundliche Gesetzesauslegung angelegt waren." Der Senat bejaht im folgenden eine solche Auslegungsmöglichkeit und sieht das Verhalten der Angeklagten als nicht mehr von dem so interpretierten § 27 des Grenzgesetzes gerechtfertigt an. 483 Er interpretiert dabei den Wortlaut des § 27 des Grenzgesetzes dahingehend, daß er mit dem "auch im Recht der DDR (eingeschränkt) vorhandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz" noch in Einklang zu bringen ist, nimmt also die sog. "menschenrechtsfreundliche Auslegung"
4'" BGH N.lW 1995, S. 2728 ff. (2730); vgJ. auch BGHSt 39, 1 ff. (16): "Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen." (Hervorh. v. Yerf.) 4.1 So etwa Ott, aaO, S. 339; Arnold/Kühl, aaO, S. 995; ähnlich: Miehe, aaO, S. 660, 665 f. 4'2 YgJ. auch aaO, S. 23: "Der Senat legt bei dieser Auslegung nicht die Wertordnung des Grundgesetzes oder der Menschenrechtskonvention zugrunde". 4M3 BGH aaO, S. 23; vgJ. BGHSt 39,168 ff. (184 f.).
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vor - mit dem Ergebnis, daß das Verhalten der Angeklagten nach dieser Auslegung nicht mehr vom Rechtfertigungsgrund des § 27 II des Grenzgesetzes gedeckt ist. 484 Die "menschenrechtsfreundliche" Auslegung ist für den Senat zugleich die einzig "richtige" Auslegung. Diese Auslegung bewirkt nun ein unübersehbares Auseinanderklaffen zwischen der damaligen "Realität" der Gesetzesauslegung, mit der sich die Soldaten konfrontiert sahen und der Auslegung, die jetzt als die schon damals einzig "richtige" behauptet wird. Welche dieser Sichtweisen zugrundegelegt wird, ist damit die entscheidende Frage: "Wird ... bei der Würdigung der Rechtslage, die zur Tatzeit bestand, hauptsächlich auf die tatsächlichen Machtverhältnisse im Staat abgestellt, so kann die Anwendung des Art. 103 11 GG zu einem anderen Ergebnis fuhren. Das gilt vor allem, wenn den Angeklagten von einer staatlichen Stelle befohlen worden ist, ein allgemein anerkanntes Recht, zumal das Recht auf Leben, zu verletzen. Hier kann sich die Frage stellen, ob und unter weIchen Umständen aus einem solchen Befehl zugunsten der Angeklagten die Annahme hergeleitet werden muß, die Strafbarkeit sei zur Tatzeit nicht gesetzlich bestimmt gewesen."485 Der im Schrifttum geäußerten Annahme, daß ein zur Tatzeit praktizierter Rechtfertigungsgrund, auch wenn er übergeordneten Normen widerspreche hier also die Regelung des § 27 des Grenzgesetzes in ihrer damals praktizierten Auslegung -, nicht zum Nachteil der Angeklagten außer Betracht bleiben dürfe, da sonst entgegen Art. 103 II GG rückwirkend eine Strafbarkeit begründet werde486 , folgt der Senat nicht. Er ist vielmehr der Ansicht, daß die Strafbarkeit der betreffenden Taten schon vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war: 487 Der Richter sei "nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden" habe. Denn schließlich habe ja - "im Lichte der Verfassung der DDR" und der völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf die Menschenrechte - das Tatzeitrecht (wie vom Senat gezeigt) in menschenrechtsfreundlicher Weise ausgelegt werden können. Das Tatzeitrecht sei folglich in dieser menschenrechtsfreundlichen Auslegung als das Recht zu verstehen, das die Strafbarkeit zur Zeit der Tat iSd Art. 103 II GG "gesetzlich bestimmt" habe. 488 Dem "richtig" interpretierten Gesetz hätte deshalb schon zur Tatzeit kein Rechtfertigungsgrund entnommen werden dürfen.
4K4 BGH aaO, S. 25 f. 4K5 BGH aaO, S. 26. 4K6 Vgl. nur Miehe, aaO, S. 656 m. w. Nachw. 4K7 BGHSt 39 1 t1 (28 f.) u. 168 ff. (185). 4KK
BGH aaO, S. 29.
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Das Problematische einer solchen Vorgehensweise hat der Senat selbst gesehen, indem er - schon in einer Art Verteidigung gegen mögliche Einwände feststellt: "Wer heute den Inhalt der Gesetze der DDR unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung und der Bindung der DDR an die internationalen Menschenrechtspakte zu ermitteln sucht, unterschiebt demnach nicht dem Recht der DDR Inhalte, die mit dem eigenen Anspruch dieses Rechts unvereinbar wären."489 Ist dies so? Oder ist nicht vielleicht genau eine solche "Unterschiebung" vorgenommen worden?490 Und was ist mit dem Vertrauen der Angeklagten auf solche nicht (mehr?) anerkannten Rechtfertigungsgründe? Die Meinungen hierüber gehen - auch im Schrifttum - auseinander: Zustimmung wird vor allem damit begründet, daß der "kommunistische Gesetzgeber" den von ihm begründeten Anschein der Rechtsstaatlichkeit nun in Form der "menschenrechtsfreundlichen" Auslegung gegen sich selbst gelten lassen müsse. 491 Das mag man fur zutreffend halten. Erklärt ist damit aber noch immer nicht, ob und warum auch der auf Befehl handelnde Mauerschütze, der ja gerade der innerstaatlichen "Realität" der DDR verpflichtet war, diesen angeblichen "Schein" gegen sich gelten lassen muß. Bestritten ist schließlich auch, daß die Staatspraxis der DDR zur Verhinderung von Ausreisen gegen die internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte verstieß 492 : Die Schließung der Grenzen wird in Zusammenhang mit der damaligen weltpolitischen Lage gesehen, in der die DDR wie deren "Schutzmacht" Sowjetunion im "offenen Wettbewerb der Systeme, insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland" stand. 49J Und da es ein allgemeines, weltweit anerkanntes, unbestrittenes Naturoder Menschenrecht auf Ausreise nicht gebe, stellten ausreisebeschränkende und die Grenzbewachung sichernde Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR kein evidentes "Nichtrecht" dar, sondern könnten auch die Schußwaffenanwendung und ihre Folgen rechtfertigen. 494 Dem Senat wird deswegen von anderen vorgehalten, er greife auf eine in der politischen und sozialen Wirklichkeit so nicht existierende "richtige" bzw. BGH aaO. S. 24. SO Z. B. die Vermutung von Klaus Günther. aaO, S. 21 und Joachim Herrmann, aaO. S. 118. 491 Spendei. aaO. S. 63; ähnlich Ralf Dreier, aaO, S. 69. 492 Vgl. dazu im einzelnen: Ott, aaO, S. 339 ff. 49) Roggemann. DtZ 1993. S. 10 ff. (17). 494 Roggemann. aaO; vgl. dazu auch Klaus Günther, aaO, S. 21. der annimmt, daß es dem BGH hier vor allem darauf angekommen sei, ,.die Menschenrechte auf Ausreise und auf Schutz vor willkürlichen Eingriffen in das Leben als für alle Staaten verbindliche Rechtsgrundsätze anzuführen:' m
49"
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"menschenrechtsfreundliche" Interpretation des Grenzgesetzes flir die Tatzeit zurück. Die zugrunde gelegte "richtige" Interpretation sei mithin eine "Fiktion".495 Auch im Hinblick auf Art. 103 II GG kann nicht völlig vernachlässigt werden, ob die nun als "richtig" angesehene Auslegung auch zum Zeitpunkt der Taten in der DDR anerkannt war, was, soviel dürfte klar sein, in der Realität der DDR gerade nicht der Fall war. 496 Insgesamt bleibt der Perspektivenwechsel, den der Senat vollzogen haben will, zweifelhaft. Zu einem Gelingen eines solchen Perspektivenwechsels wäre erforderlich, daß der Senat die Grundsätze der "sozialistischen Gerechtigkeit" beachten müßte, die sämtlicher Auslegung der Gesetze in der DDR als oberste Maxime dienten. 497 In der Verfassung der DDR vom 7. 10. 1974 ist schon in der Präambel davon die Rede "unbeirrt auch weiter auf dem Weg des Sozialismus und Kommunismus" zu gehen. In Art. 1 dieser Verfassung wurde die DDR als "sozialistischer Staat" bezeichnet, als "politische Organisation" unter "Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei". In Art. 4 finden sich als Staatsziele u.a. der Schutz der "sozialistischen Gesellschaft" und die Gewährleistung der "sozialistischen Lebensweise" der Bürger. In Art. 19 wird schließlich die "sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit" gewährleistet. 498 Richter konnte nach Art. 94 I nur sein, "wer seinem Volke und dem sozialistischen Staat treu ergeben" war. Müßten nicht deshalb konsequent die Gesetze der ehemaligen DDR aus sozialistischer Perspektive beurteilt werden? Was dies flir die Frage der Menschenrechte bedeutet, zeigt sich noch heute am Beispiel der "Volksrepublik China": Immer wieder wird von chinesischer Seite betont, man habe eben ein anderes Verständnis vom Inhalt der Menschenrechte als die demokratischen Staaten. Regimegegner werden mit hohen Haftstrafen für Äußerungen belegt, die nach demokratischer Auffassung selbstverständlich erscheinen, weil darin "Umsturzversuche" gesehen werden, bzw. Versuche, den Marxismus chinesischer Prägung zu schwächen. Angesichts dieser Realität sozialistischer Gesetzlichkeit, die - wie auch die "real existierende" Rechtsordnung der DDR - alle
4~5 Fiedler, aaO, S. 208; Roggemann, aaO, S. 19; idS wohl auch Schroeder, aaO,
S.49. 4~6
Vgl. Dannecker, aaO, S. 590.
m Vgl. Wilms/Ziemske, aaO, S. 171, die von einem "abstrusen Versuch" sprechen,
"die Normen eines Unrechtsstaates, der über keine Gewaltenteilung verfugte, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen anzugehen."; ähnlich z. B. Dannecker, aaO, S. 592; vgl. auch Herrmann, aaO, S. 119, zum sozialistischen Rechtsverständnis. 4~H Vgl. auch Art. 87 der DDR-Verfassung.
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Rechte der Bürger dem politischen Fernziel unterordnet, wirkt die Annahme einer "menschenrechtsfreundlichen" Auslegung der Gesetze realitätsfremd. 499 Bekanntlich gab es diese Möglichkeit der Gesetzesauslegung in der DDR allenfalls abstrakt. Keine staatliche Stelle der DDR und auch kein Gericht hat diese abstrakt möglichen Maßstäbe angelegt. Konkret existierte eben nur eine andere Auslegung der DDR-Gesetze. Und an welche "Auslegung" der Gesetze sollte sich nun der Grenzsoldat halten?5°O Etwa an die kunstvoll und unter erheblichem Aufwand vom Senat entwickelte? Was wäre mit einem Grenzsoldaten geschehen, der diese "menschenrechtsfreundliche" Auslegung eingefordert und sich nach ihr gerichtet hätte? Eine Freiheitsstrafe - und zwar unter den bekannt "humanen" Umständen fur "politische" Häftlinge in der DDR - konnte durchaus die Folge sein. Wer so gehandelt hätte, verdiente auch heute noch Respekt und Bewunderung rur seinen außergewöhnlichen Mut, da es das "schlimmste Vergehen in der autoritären Situation" ist, sich gegen die Herrschaft dieser Autorität aufzulehnen. "Der Respekt, den man der Autorität schuldet, schließt jeden Zweifel an ihr aus."SOI Aber: Können Helden Maßstab des Strafrechts sein? Ist nicht vielmehr das Vertrauen der Grenzsoldaten auf die "Stabilität" der Machtverhältnisse und auf das Fortbestehen ihrer Realität doch schutzwürdig?'02 Nur diese Umstände waren für sie, auch das gilt es im Rahmen des Art. 103 II GG zu beachten, vorhersehbar. 50J Sicher kann man mit guten Gründen der Auffassung sein, daß Rechtfertigungsgründe nicht dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 11 GG unterfallen. Gute Gründe gibt es allerdings auch dafür, daß zum Garantietatbestand im Sinne des Grundsatzes "nulla poena sine lege" mit "negativem Vorzeichen" auch die Merkmale der Rechtfertigungsgründe gehören. 504 Der 5. Strafsenat hat zwar bereits in seiner ersten Entscheidung beachtet, daß im Hinblick auf Art. 103 II GG die Frage zu beantworten ist, welches VerVgl. dazu auch Herrmann, aaO, S. 119. Vgl. Miehe. aaO. S. 664. ,01 Fromm. aaO. S. 117. '02 In diesem Sinne etwa Dannecker. aaO, S. 592. 50J Vgl. Dannecker. aaO, S. 592 f.; zur angeblichen Evidenz des Unrechts, die gerade die Vorhersehbarkeit einer Strafverfolgung begründen soll, vgl. noch weiter unten eingehend. 504 Kaufmann. Radbruchsche Formel, aaO, S. 83, der am Beispiel der Mauerschützen feststellt: .. Wägt man Gründe und Gegengründe ab, so neigt sich die Waagschale in Richtung Verbot rückwirkender Rechtfertigungsgründe, zumindest in mal am partern. Die rückwirkende Beseitigung eines Rechtfertigungsgrundes wirkt sich zu Ungunsten des Täters ja kaum anders aus als die rückwirkende Einführung eines Straftatbestandes"; vgl. dazu auch Arnold/Kühl, aaO, S. 995. 4~~
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ständnis vom Recht der Tatzeit zugrunde zu legen ist und daß dieser Entscheidung eine enorme Bedeutung zukommt. sos Seine Lösung, die Strafbarkeit sei schon im Tatzeitpunkt gesetzlich bestimmt gewesen, gelingt dem Senat allerdings nur durch einen "Perspektivenwechsel" besonderer Art: Der Senat bemüht sich im Wege einer "nachträglichen hermeneutischen Anstrengung", die Perspektive der fremden Rechtskultur einzunehmen. Da die Auslegung des fremden Rechts jedoch "Iosgelöst von der für die DDR-Justiz typischen organisatorischen Einbindung in das politische System der DDR" erfolgte, ergaben sich bemerkenswerte Unterschiede: "Man spielt nur DDRJustiz, macht aber nicht alles mit, was DDR-Rechtswirklichkeit war."S06 Damit wird aber "verdeckt, daß das sozialistische Recht, das im Grenzgesetz und Schießbefehl zum Ausdruck gekommen ist, gegen ein aus rechtsstaatlicher Sicht bestimmtes Grenzgesetz ausgetauscht wurde. Hierin liegt jedoch ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich gewährleistete Rückwirkungsverbot, das einer nachträglichen Umwertung von § 27 Grenzgesetz im Wege einer menschenrechtskonformen Auslegung entgegensteht."s07 Statt mit Fiktionen dieser Art zu arbeiten, erschiene es vielleicht doch im Sinne einer offenen und transparenten Begründung besser, die betreffenden Gesetze der DDR erst gar nicht ernst zu nehmen, sie zum "Scheinprodukt" zu erklären. 508 Dazu müßte man sich natürlich der so bewirkten "Selektivität· bewußt sein und dies offen eingestehen - mit der Folge, daß man den Anspruch fallen läßt, das Recht der DDR ,richtig' auszulegen."s09 Gerade das würde aber den Blick freimachen auf naturrechtliche Gedanken, die im Hintergrund der Entscheidung stehen: Konnte man bei den ersten Entscheidungen des Senats noch annehmen, er lasse letztlich offen, ob er die Schüsse wegen eines Verstoßes gegen überpositives Recht für Unrecht halteS 10, gelingt dies heute wohl nicht mehr. sll Denn der Senat stellt in seinem Urteil vom 20. 3. 1995 eindeutig klar:
sos BGHSt 39, I ff. (26). Monika FrommeI, Die Mauerschützenprozesse - eine unerwartete Aktualität der Radbruch 'sehen Formel, in: FS rür Arthur Kaufmann, Heidelberg, 1993, S. 81 ff (84 f.); Vgl. auch Miehe, aaO, S. 656 f S07 Dannecker, aaO, S. 592; ebenso Herrrnann, aaO, S. 120; Miehe, aaO, S. 656. SOK SO wohl FrommeI, aaO, S. 85 f, für die in den Mauerschützen-Fällen relevanten Normen. SO" Günther, aaO, S. 23. SIO Vgl. Amelung, aaO, S. 640. SII Viele haben dies allerdings schon anhand der ersten Mauerschützenurteile gesehen, vgl. z. B. Klaus Adomeit, aaO, S. 2914, der zutreffend feststellte, daß schon in diesen Urteilen die Radbruchsche Formel ,.keineswegs als Dekor, sondern zur Abweisung SOl>
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"Einen extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen ,Unerträglichkeitsformel' zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, hat der Senat bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtbewertung des Grenzregimes hergeleitet. Diese Bewertung bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechtes der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten; in die Bewertung sind auch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze eingegangen, die durch ,Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl' gekennzeichnet waren .. ,. Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR - gleichviel ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz von 1982 zurückgeführt wurde - ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich bleiben."m In diesem Zusammenhang verweist der Senat darauf, daß sich seine Bewertung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze auch an den materiellrechtlichen Grundlagen des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30.9./1.10.1946 orientiere und diese "weiterentwickelt" habe. 5I3 Auch der Kritik an dem Rückgriff auf völkerrechtliche Vereinbarungen, insbesondere im Hinblick auf ihre innerstaatliche Verbindlichkeit für die Grenzsoldaten, tritt der Senat entgegen: Nach Überprüfung kritischer Stellungnahmen im Schrifttum halte er daran fest, daß bei der Bewertung des Grenzregimes auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes zurückgegriffen werden dürfe, ohne daß es darauf ankäme, ob die DDR den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 in innerstaatliches Recht transformiert habe. 514 Die Frage der Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen ist hier, wie erwähnt, nicht das eigentliche Thema. m Eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesbezüglichen Positionen des BGH soll deshalb an dieser Stelle auch nicht vorgenommen werden. Wichtig schien insoweit nur, die naturrechtliche Basis der Argumentation des BGH aufzuzeigen. Was die Normen des Völkerrechts und ihre Verwendung durch den BGH anlangt, hat Hermann Ott das Entscheidende herausgearbeitet, noch bevor der BGH sich selbst deutlicher als in den früheren Urteilen zu den naturrechtlichen des einzigen in Frage kommenden Rechtfertigungsgrundes aus § 27 des Grenzgesetzes der DDR" verwendet wurde. m BGH NJW 1995.2728 ff. (2731); ebenso in NJW 1995,2732 f. (2733). 513 BGH NJW 1995, 2728 ff. (2731). 514 BGH NJW 1995,2728 ff. (2731). 515 Ausftihrlich dazu: Ralf Dreier, Gesetzliches Unrecht im SED-Staat? Am Beispiel des DDR-Grenzgesetzes, in: FS ftir Arthur Kaufmann, S. 57 ff.
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Fundamenten seiner Mauerschützen-Rechtsprechung bekannte: Daß es auf völkerrechtliche Verbindlichkeiten offenbar nicht im einzelnen ankommen soll, lasse sich nur damit erklären, daß diese Völkerrechtsnormen im Grunde als Naturrechtsnormen verwendet werden sollen. sl6 Indem der BGH nun, noch deutlicher als früher, auf die Radbruchsche Formel zurückgreift, lassen sich alle Bedenken, die bei den ersten Mauerschützen-Urteilen schon genannt wurden, damals aber wegen der ergänzenden Ausruhrungen zu Grundsätzen des Völkerrechts durch den BGH beiseite gelassen wurden, erneut erheben: "Es gibt nicht nur ,ein' Naturrecht, an dem die Todesschüsse gemessen werden können, sondern eine Vielzahl von Naturrechtssystemen, z. B. ein katholisches ... und ein marxistisches. Aus solchen Systemen ist allein schon in unserem Kulturkreis nicht nur die Menschenwürde und die Auswanderungsfreiheit, sondern z. B. auch die Todesstrafe und die Strafwürdigkeit der Ermöglichung des Geschlechtsverkehrs Verlobter abgeleitet worden, von dem, was außereuropäische aus ihren naturrechtlichen Rechtsvorstellungen folgern, ganz zu schweigen. Hält man sich die inhaltliche Vielfalt naturrechtlicher Wertungen vor Augen, so zeigt sich, daß es sich hierbei letztlich stets um mehr oder minder partikulare Moralvorstellungen handelt. Die Selbstkennzeichnung als geltendes Recht soll ihnen zur Allgemeinverbindlichkeit und zwangsweisen Durchsetzung verhelfen, ohne daß die darur anerkannten Rechtserzeugungsverfahren durchlaufen wurden. Das ist eine letztlich unwahrhaftige und insoweit auch ungerechte Vorgehensweise, muß sie doch bei demjenigen, der solcherart begründetem Zwang unterworfen wird, das Geruhl hervorrufen, einer ,Siegermoral' zum Opfer zu fallen."sI7 Dagegen wird der Rückgriff auf ein derart wandelbares "Naturrecht" von manchen keineswegs rur unzulässig erachtet: So konstatiert Gerhard Sprenger neuestens, der Begriff "Naturrecht" sei letztlich eine bloße Worthülle die "rur uns keinen Inhalt mehr hat." Wo dieser Begriff heute verwendet werde - zum al in den Mauerschützen-Entscheidungen des BGH - erfolge dies in einem "funktionalen" Sinne: Es komme darin ein "Wille zur Optimierung des Rechts" zum Ausdruck bzw. der Begriff "Naturrecht" sei ein "Symptom rur Rechtsbesserung, und wo sie in Freiheit und mit Verantwortung auf sittlich anerkannte Ziele hin versucht wird, sollten wir nicht von ,Offenbarungseid' sprechen."sI8 Selbstverständlich ist das Ziel einer Optimierung des Rechts wünschenswert. Die Frage ist aber, ob dies tatsächlich Aufgabe des Strafrichters ist und -
Ott, aaO, S. 340. Amelung, aaO, S. 640. 51M Sprenger, aaO, S. 7. 51~
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I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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wenn dies angenommen wird - aufweIche Inhalte hin das Recht dann optimiert wird. Was sind denn die "sittlich anerkannten Ziele"? Wer hat sie anerkannt? Wenn der Begriff "Naturrecht" eine Leerformel ist, ist dies der Begriff "Rechtsverbesserung" wohl auch. Die Verwendung des "Naturrechts" ist eher Symptom für etwas anderes, das Sprenger zutreffend analysiert hat: "Wir sind wieder einmal rat- und sprachlos bei der Suche nach dem Maß für das Gerechte."'19 Wird diese fehlende Tragfähigkeit von den Betroffenen erkannt, ist der Weg zum Vorwurf einer konstruierten Strafbarkeit aus politischen Gründen und dem bösen Wort von der "Siegerjustiz" nicht mehr weit. Der "einfache" Mauerschütze bekommt in Presse und Fernsehen kaum Gelegenheit, seinen Standpunkt darzustellen. Wenn jedoch ehemalige "Größen" der DDR vor den Kameras Gelegenheit erhalten, ihre Sicht der Dinge darzustellen - und das geschieht bekanntlich ungleich häufiger - fällt nahezu automatisch der Begriff "Siegerjustiz". Was wäre fiir unseren demokratischen Rechtsstaat wohl schlimmer als wenn sich dieser Vorwurf als nicht ganz unberechtigt erwiese? Dieser Gesichtspunkt wird im Rahmen der Erörterungen zur Frage der Schuld der Grenzsoldaten noch einmal aufgegriffen werden. Eines aber zeigt sich gerade am Rekurs des BGH auf ein Naturrecht deutlich: Der vom BGH an seine Rechtsprechung gestellte Anspruch, das Recht der DDR mit den ihm eigentümlichen Auslegungsmethoden "richtig" auszulegen, ohne zugleich doch eine (mehr oder weniger latente) Wertung nach einer anderen, der westlich-demokratischen, Rechtsordnung vorzunehmen, wurde nicht eingelöst. '20 Insoweit helfen auch die Grundsätze der "Nürnberger Prozesse" nicht weiter: Von der fehlenden Vergleichbarkeit der Verbrechen einmal abgesehen, gab es damals "eine nachträglich geschaffene gesetzliche Grundlage, in der die Normen formuliert waren, auf deren Anwendung die spätere Bestrafung gestützt werden konnte. Dergleichen existiert gegenwärtig nirgends. Die von Radbruch damals sehr wirkungsmächtig ... vorgetragene Relativierung des nullum crimen sine lege-Grundsatzes ist auf das Deutschland nach dem Beitritt der DDR nicht übertragbar. Es fehlt der internationalrechtliche Bezug. Der Einigungsvertrag ist eine nationale Angelegenheit ... Die Entscheidung hätte ja auch anders - durch direkte Übernahme menschenrechtlicher Aspekte in ein neues Strafrecht - ausfallen können. >I"
;20
Sprenger. aaO. S. 5. Günther. aaO, S. 23.
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Das ist aber nicht geschehen. Und dies nicht wahrhaben zu wollen - unter Berufung auf höhere Rechtsgrundsätze - wäre undemokratisch; kein leicht zu nehmender Vorwurf. Wer· es schwer hat, das zu akzeptieren, mag sich damit trösten, daß es für das Strafen ohnehin immer weniger Legitimation gibt."521 Die Auffassung des BGH zur Frage des Unrechts der Flüchtlingserschießungen an der innerdeutschen Grenze ist also in mancher Hinsicht Zweifeln ausgesetzt. Gleichwohl hat sich, nach Auseinandersetzung des BGH mit den Gegenargumenten, die Rechtsprechung des 5. Strafsenats zu diesen Fragen als wohl ständige Rechtsprechung durchgesetzt. 522 Das BVerfG hat in seinem Beschluß vom 24.10.1996 523 im Ergebnis die Auffassung des BGH bestätigt und insbesondere einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 II GG, dessen absolute Geltung in der Entscheidung besonders betont wird, verneint. In der Entscheidungsbegründung wird vor allem der hohe Rang, der dem Vertrauensschutz als Kern des Rückwirkungsverbots zukommt, bestätigt. Das Vertrauen darauf, nur nach Strafgesetzen beurteilt zu werden, die zum Tatzeitpunkt bereits existierten, sei die Grundlage dafür, sein, Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, daß eine Stratbarkeit vermieden werde. Ebenso schütze Art. 103 II GG davor, daß die Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat nachträglich zum Nachteil des Täters geändert werde. 524 Auch sei diese Garantie nicht auf geschriebene Rechtfertigungsgründe beschränkt: Der Schutzbereich des Rückwirkungsverbotes umfasse auch gewohnheitsrechtliche oder durch die Rechtsprechung anerkannte Rechtfertigungsgründe. Die Frage, ob im Tatzeitpunkt anerkannte ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nachträglich außer acht gelassen werden dürfen bzw. ob Art. 103 II GG auch das Vertrauen in den Fortbestand solcher Rechtfertigungsgründe schütze, wird dagegen vom BVerfG nicht abschließend entschieden. Zur Begründung wird dann eine Relativierung des zuvor als absolut charakterisierten Rückwirkungsverbots vorgenommen: Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG finde seine Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Diese besondere Vertrauensgrundlage entfalle jedoch, wenn der "andere Staat" für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert,
521 Klaus Lüderssen, Der Staat geht unter - das Unrecht bleibt?, Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, Frankfurt am Main, 1992, S. 116. 522 V gl. die Urteile des 5. Strafsenats vom 20. 3. 1995, NJW 1995, 2728 ff. u. 2732 ff. 523 StV 1997, S. 14 ff. 524 BVerfG, aaO, S. 15.
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die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgriinde für bestimmte Bereiche wieder ausgeschlossen habe, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte "und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsrnacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur so lange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsrnacht faktisch besteht."525 Auch untersage in dieser Situation das Gebot materieller Gerechtigkeit die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes mit der Folge, daß der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG zuriicktreten müsse. 526 Der nach der Staatspraxis der DDR bestehende Rechtfertigungsgrund für die Tötung von "Grenzverletzern" wird dabei vom BVerfG ausdrücklich verworfen: "Die Unterordnung des Lebensrechtes des Einzelnen unter das staatliche Interesse an der Verhinderung von Grenzübertritten führte zur Hintansetzung des geschriebenen Rechts gegenüber den Erfordernissen politischer Zweckmäßigkeit. Sie war materiell schwerstes Unrecht."527 Diese Begründungen sind in vielfaltiger Hinsicht problematisch. Da hier allerdings nicht die Rechtsprechung des BVerfG untersucht werden soll, beschränkt sich die folgende Kritik auf einige, wenige Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung. Tragende Erwägung für eine Versagung des Schutzes von Art. 103 11 GG für den in der Staatspraxis der DDR geübten Rechtfertigungsgrund ist die Rückführung des Art. 103 11 GG auf seine "rechtstaatliche Rechtfertigung": Diese soll in der "besonderen Vertrauensgrundlage" bestehen, die Strafgesetzen zukomme, die von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. 528 Ein Entfallen dieses Schutzes soll darin begründet sein, daß in der DDR "für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert", die Strafbarkeit dann aber für Teilbereiche durch· ungeschriebene Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen wurde, indem der Staat "über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte" und damit die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet habe. 529 Gerade unter dem auch vom BVerfG besonders betonten Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes erscheint diese Argumentation problematisch.
525 BVerfG, aaO, S. 16. m BVerfG, aaO. 527 BVerfG, aaO, S. 17. m BVerfG, aaO, S. 16. m BVerfG, aaO.
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Der Staatspraxis der DDR wird jede rechtfertigende Wirkung abgesprochen: Art. 103 II GG schütze nur das Vertrauen in Strafgesetze, die von einem an die Grundrechte gebundenen, demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß ein Vertrauen in Strafgesetze eines nicht an Grundrechte gebundenen, nicht demokratischen Gesetzgebers von vornherein ausgeschlossen ist. Daß die Gesetze der DDR nicht auf einer demokratischen Willensbildung des Volkes beruhten, wird wohl heute nicht mehr bestritten. Es bestätigt sich nun das bereits am Beispiel der einschlägigen BGH-Rechtsprechung gewonnene Ergebnis: Es findet eben nicht die behauptete Auslegung des DDR-Rechts nach den der DDR angeblich "eigentümlichen" Verfahrensweisen" statt, sondern eine Auslegung am Maßstab unseres Grundgesetzes. Das Rückwirkungsverbot dient "nur braven westlichen Demokraten als besondere Vertrauensgrundlage."53o Es wird unter Rückriff auf das rein "westlich" geprägte Verständnis von Menschenrechten und Gerechtigkeit "schwerstes materielles Unrecht" festgestellt. Das geschriebene Recht der DDR bzw. sein Wortlaut wird ohne Rücksicht auf seine praktische Anwendung in 40 Jahren DDR zum alleinigen Maßstab erklärt. Das Gebot "materieller Gerechtigkeit" wird zur Basis des Strafens. Mit diesem Begriff läßt sich bekanntlich nahezu alles begründen. Wer aber erklären muß, weIchen Inhalt dieser Begriff haben soll, gerät, wie die Geschichte der (Rechts-)Philosophie zeigt, in uferloses Fahrwasser. Das BVerfG nennt als einzige Konkretisierung dieses Begriffs die völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte. Noch heute zeigen Staaten wie China, Burma und viele andere, wie wenig sie alle Menschenrechtsdeklarationen interessieren, daß sie die Menschenrechte westlicher Prägung geradezu ablehnen. Im Ergebnis bleibt es nach der Entscheidung des BVerfG dabei, daß sich die Bürger der DDR nicht an dem von ihnen täglich erlebten Maßstab der "sozialistischen Gesetzlichkeit" hätten orientieren sollen, sondern an den Maßstäben eines demokratischen Rechtsstaates und einem westlich geprägten Verständnis der Menschenrechte. Daß dieses strikte Rechtswidrigkeitsurteil in der vermeintlichen Gewißheit eines richtigen Verständnisses materieller Gerechtigkeit nur vorgespiegelte Stringenz und Konsequenz bedeutet, wird sogleich zu zeigen versucht: In jüngster Zeit hat diese Rechtsprechung zur Rechtswidrigkeit der Schüsse an der innerdeutschen Grenze eine beachtliche Modifizierung erfahren, die in beispielhafter Deutlichkeit nicht nur die bereits ausgeführten Schwierigkeiten des "Einfühlens" in eine vergangene, fremde Rechtsordnung nochmals klar vor Augen führt, sondern auch eklatante Widersprüche offenbart: 53() Peter-Alexis Albrecht, Das Bundesverfassungsgericht und die strafrechtliche Verarbeitung von Systemunrecht - eine deutsche Lösung. N.J 1997. S. I f (2).
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Es geht um den Fall der Erschießung eines fahnenflüchtigen Angehörigen der DDR-Grenztruppen an der innerdeutschen Grenze.5J\ Der Fahnenflüchtige war bei seinem Fluchtversuch uniformiert und flihrte eine geladene Maschinenpistole mit sich. Von der Waffe machte er während der Flucht keinen Gebrauch, er drohte nicht einmal damit. Bis auf den Gruppenflihrer hatten die Angeklagten aber weder die Uniform des Flüchtlings noch seine Waffe bemerkt und hielten ihn flir einen "normalen Flüchtling". Dieser lief, auch nach seiner Entdeckung und unter Beschuß der Angeklagten aus deren auf Dauerfeuer eingestellten Maschinenpistolen, bis zu seiner Erschießung zielstrebig auf die Grenze zu, um diese zu überwinden. Während die anderen Angeklagten zu keinem Zeitpunkt gezielt auf den Flüchtling schossen, sondern in die Luft bzw. zwischen den Fliehenden und die Grenze, schoß der Gruppenführer von Anfang an gezielt auf den Körper des Flüchtlings. Auch gab jeder der anderen Angeklagten lediglich ca. zehn Schüsse ab. Der Gruppenführer verschoß dagegen insgesamt zwei volle Magazine (ca. sechzig Schuß) und wechselte sogar während des Weiterrennens das Magazin aus. Schließlich gab er auch den tödlichen Schuß auf den Flüchtling ab, der diesen am Kopf traf. Er zielte von Beginn der Verfolgung an auf den Körper des Fliehenden, zunächst allerdings nur auf dessen Beine. Das Landgericht hatte zwei der vier Angeklagten freigesprochen, da ihnen kein Tötungsvorsatz nachzuweisen sei. Der Gruppenführer wurde mit der Begründung freigesprochen, auch die bedingt vorsätzliche Abgabe tödlicher Schüsse zur Verhinderung der Flucht eines bewaffneten Fahnenflüchtigen sei nach - insoweit nicht wegen eklatanter Menschenrechtswidrigkeit nichtigem DDR-Recht gerechtfertigt gewesen. Dagegen wurde der vierte Angeklagte, der Fahrer des Gruppenführers, wegen Totschlags in Mittäterschaft verurteilt. Er müsse sich die tödlichen Schüsse des Gruppenflihrers zurechnen lassen und eine Rechtfertigung bleibe ihm versagt, da er, der geglaubt hatte, einen "normalen Flüchtling" zu verfolgen, sich in einem umgekehrten Tatbestandsirrtum befunden habe. Er habe also einen solchen unbewaffneten "normalen Flüchtling" erschießen wollen, was in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung wegen offensichtlichen Verstoßes gegen die Menschenrechte und offensichtlicher Rechtswidrigkeit eines dahingehenden Befehls auch nach DDR-Recht rechtswidrig gewesen sei. Der 5. Strafsenat hat den Gruppenführer und seinen Fahrer freigesprochen. Ob der Gruppenführer rechtswidrig gehandelt habe, könne im Ergebnis dahinstehen. Er sei jedenfalls entschuldigt, weil eine Rechtswidrigkeit des auf die Erschießung eines bewaffneten Fahnenflüchtigen gerichteten Befehls entspre-
531
BGH 5 StR 137/96, Urteil vom 17.12.1996, NJW 1997, S. 1245 ff.
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chend § 5 I WStG flir den Angeklagten nach den ihm bekannten Umständen nicht offensichtlich gewesen sei. 532 Der Senat setzt sich gleichwohl - wenn auch nicht abschließend - mit der Frage auseinander, ob ein Befehl auf Schußwaffeneinsatz mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen einen bewaffneten Deserteur nicht doch rechtmäßig gewesen sei. Zumindest kämen "gewichtige" Gesichtspunkte für eine Rechtmäßigkeit in Betracht. So nimmt der Senat, trotz erkennbar erheblicher Zweifel an der Beweiswürdigung des Landgerichts, deren Ergebnis hin, der Angeklagte habe nur "Sperrfeuer" mit bedingtem Tötungsvorsatz schießen wollen. Es sei immerhin nicht auszuschließen, daß er geglaubt habe, der Fluchtversuch sei in der konkreten Situation ohne Gefährdung. seiner selbst und der anderen Grenzsoldaten nicht anders als durch den konkreten Schußwaffeneinsatz sicher zu verhindern. S33 Dann bleibt jedoch zu fragen, ob eine Tötung des Flüchtlings zur Verhinderung der Flucht gerechtfertigt sein konnte, was der Senat, wie dargestellt, flir die Fälle "normaler", unbewaffneter Flüchtlinge in ständiger Rechtsprechung wegen eines offensichtlichen und unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verneint. Im Hinblick auf diese Grundsätze liegt eine Rechtswidrigkeit des Schußwaffeneinsatzes gegen fahnenflüchtige Grenzsoldaten der DDR an der innerdeutschen Grenze nach Auffassung des Senats "nicht ganz fern". Andererseits könne das Ausmaß des von dem Flüchtling aus Sicht der Grenzsoldaten ausgehenden Rechtsbruchs als deutlich gewichtiger angesehen werden als das Recht des Fahnenflüchtigen auf Leben und die Ausreisefreiheit. Insbesondere wird darauf verwiesen, daß die Fahnenflucht nach § 4 11 ades Militärstrafgesetzbuches der DDR vom 24.1.1962 bzw. später nach § 254 11 StGB-DDR ein Verbrechen gewesen sei (vgl. dagegen § 16 I WStG). In ständiger Rechtsprechung hat der BGH, wie ausgeflihrt, auf die Unmenschlichkeit und die Grausamkeit des DDR-Grenzregimes verwiesen, um die Rechtswidrigkeit der Tötungen, die der Sicherung dieser Grenze und dem Erhalt des SED-Staates dienen sollten, zu begründen. Gleiches gilt nach Auffassung des Senats, wie er in der betreffenden Entscheidung bestätigt, für Fälle, in denen bewaffnete "Zivilisten" fliehen, ohne mitgeführte Waffen einzusetzen oder zumindest Anstalten hierzu zu machen. Damit bleibt als maßgeblicher, für den Senat im vorliegenden Fall beachtlicher Unterschied nur die Soldatenei532 BGH, aaO, S. 1246; auf diesen Gesichtspunkt wird unten noch näher eingegangen. Der Freispruch des anderen Angeklagten wird darauf gestützt, daß ihm ein Tötungsvorsatz nicht mit der nötigen Sicherheit nachweisbar sei. Da er nur wenige Schüsse auf den Flüchtling abgab und keiner dieser Schüsse traf, liege in diesem "Erfolgsmangel" ein wichtiges Indiz gegen einen Tötungsvorsatz. 533 BGH, aaO, S. 1246.
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gen schaft des Flüchtlings. Diese kann m.E. - bei konsequenter Anwendung der genannten Grundsätze des BGH und der Radbruchschen Formel - jedoch nicht zu einer Rechtfertigung der Todesschüsse fUhren: Wäre der Fahnenflüchtige bei der Truppe geblieben und hätte seinen Dienst konsequent versehen, hätte er ohne weiteres auf Flüchtlinge schießen müssen und ihm wäre nach ständiger Rechtsprechung die Rechtfertigung versagt worden. Durch seine Flucht entzog er sich gerade dem Dienst und der aktiven Mitwirkung im "Grenzregime" der DDR, das vom BGH ja als menschenrechtswidrig gebrandmarkt wird. Schutzgut des Straftatbestandes Fahnenflucht ist aber die Erhaltung der Schlagkraft der Truppe bzw. der Erhalt des Wehrwillens der Soldaten. Nun sollte also die Tötung desjenigen, der sich der aktiven Mitwirkung in einem - so die Rechtsprechung - menschenrechtswidrigen, gegen elementare Grundsätze der Menschlichkeit verstoßenden, System entzieht, gerechtfertigt sein, während die Tötung von in diesem System "passiven" Zivilisten offensichtlich rechtswidrig sein soll? Im Ergebnis würde dann zum einen die Stärkung bzw. Erhaltung des Wehrwillens und der Schlagkraft der DDR-Grenztruppen als Rechtfertigung für Todesschüsse auf Fahnenflüchtige anerkannt. Damit wird die Erhaltung desselben Systems, das man als menschenrechtswidrig und krassen Rechtsbruch darstellt, als Grundlage einer Rechtfertigung für die Angehörigen dieses Systems benutzt. Ein zumindest widersprüchliches Ergebnis. Zum anderen wird man doch nicht annehmen wollen, daß das Menschenrecht auf Leben deshalb obsolet wird, weil der Betreffende eine Uniform trägt. Die Begründung des Landgerichts läuft jedoch darauf hinaus: Der Gruppenführer gab weit mehr Schüsse ab als alle anderen Angeklagten zusammen. Im Gegensatz zu den anderen Angeklagten schoß er gezielt auf den Körper des Fliehenden. Er wechselte sogar im Laufen das Magazin, um weiterschießen zu können. Er schoß weiter, als die anderen schon aufgegeben hatten und er gab den tödlichen Schuß ab. Sein Tun soll gerechtfertigt sein, weil er die Uniform des Fliehenden erkannte. Die Erschießung von Fahnenflüchtigen soll kein offensichtlicher und unerträglicher Menschenrechtsverstoß sein? Insgesamt bleibt festzustellen, daß nicht einerseits die offensichtliche Menschenrechtswidrigkeit des Grenzregimes als Begründung für die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen dienen und zugleich demjenigen, der dieses System in besonders krasser Weise dadurch stärken und bestätigen will, indem er den Deserteur erschießt, statt dessen Flucht zuzulassen, eine Rechtfertigung zugebilligt werden kann. Andernfalls würde der besonders diensteifrige Scherge eines die Menschenrechte verletzenden Systems auch noch privilegiert. Dann hätte aber die Auffassung, daß die Schüsse an der innerdeutschen Grenze rechtswidrig waren, nicht einmal mehr den Gesichtspunkt der Konsequenz fUr sich.
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Dabei gibt es für die Auffassung der generellen Rechtswidrigkeit der Todesschüsse auf die Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze - auch jenseits aller Strafrechtsdogmatik - beachtliche Gründe: Das (von der soeben erörterten Entscheidung abgesehen) eindeutige strafrechtliche Unwerturteil der erstinstanzlichen Entscheidungen und die Rechtsprechung des BGH entsprechen doch gerade in den "alten Bundesländern" einer verbreiteten Auffassung. Auch im strafrechtlichen Schrifttum findet sich diese Auffassung wieder: So schreibt Günter Spendei, wenn man sehe, wie hier "willfahrige Handlanger des ,Arbeiter- und Bauernstaates'" als staatliche Todesschützen am Werk waren, werde sich der juristische Laie, der sich noch ein "unverbildetes Rechtsgefühl" bewahrt habe, wundem, welche rechtlichen Fragen dieser Fall für Juristen aufwerfe. 534 Diese Verwunderung dürfte es zumindest im Westen der Republik in Teilen der Bevölkerung geben. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob die Rechtsprechung solchen Auffassungen Raum geben darf - und sei es auch nur verdeckt. Denn Bestrafungsbedürfnisse und das "Rechtsgefühl" der Bevölkerung sind bekanntlich eine viel zu unsichere Sache, als daß sich ein rechtsstaatliches Schuldstrafrecht - von vielen anderen Gründen einmal abgesehen - auf sie beziehen dürfte. 535 Statt Legitimation schaffen solche Bezugspunkte nur neue, vielleicht noch schlimmere, Unsicherheit. Und auch im Fall der Mauerschützen gibt es keineswegs dieses eindeutige "Rechtsgefühl", das eine Bestrafung der Täter fordern würde. 536 Selbst wenn es ein allgemeines Rechtsgefühl diesen Inhalts gäbe, wäre es damit noch immer nicht unproblematisch. Denn hier kommen Überlegungen ins Spiel, die im Bereich der Psychoanalyse so beschrieben werden: Die Frage, ob "wir nicht unser unbewußtes Rachebedürfnis in Urteil und Behandlung des Kriminellen befriedigen wollen" bzw. versuchen, "den irrationalen Wunsch der Rache hinter ritualisierten Gerichtsverfahren zu verber534 Spendei, aaO, S. 62, der im Hinblick auf die Gefühle der Angehörigen der Opfer eine deutlich härtere Bestrafung für angebracht hält (S. 66), und in diesem Zusammenhang zu den verhängten Freiheitsstrafen auf Bewährung anmerkt, sie zeigten, daß mit der Bestrafung "nicht Ernst gemacht" worden sei. Als ob eine Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung keine "ernste" Strafe wäre! 535 Man denke nur an die Szenen, die sich während der RAF-Prozesse vor dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim abgespielt haben. Dort wurde von "aufgebrachten Bürgern" vor laufenden Fernsehkameras "Lynch-Justiz" gefordert. Geht man den Gründen solcher Strafbedürfnissen nach, gerät man allerdings auf das Feld grundsätzlicher Legitimationszweifel des Strafens, vgl. Lüderssen, Der Staat geht unter ... , S. 138 m Vgl. dazu Amelung, aaO, S. 642, FN 56, der auf entsprechende Ergebnisse einer Umfrage unter den Hörern seiner strafrechtlichen Vorlesung (zumeist ehemalige DDRBürger) im WS 1992/93 in Dresden, verweist.; ähnlich auch die mitgeteilten Erfahrungen von Olaf Miehe aus Gesprächen an der Leipziger Juristenfakultät, aaO, S. 647
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gen."m Gegenüber solchen Bestrebungen muß der Richter gerade "als Organ dieser Gesellschaft, in der er amtiert, seine Aufgabe auch darin erblicken, zu sehen, wie die Gesellschaft am jeweiligen Straffall direkt oder indirekt mitgewirkt hat". 538 Um wieviel mehr muß das gelten, wenn der Richter Fälle zu beurteilen hat, die, wie die Mauerschützenflille, in einer anderen Gesellschaft stattgefunden haben!
b) Die persönliche strafrechtliche Schuld der Mauerschützen
"Auch die Begründungen zur Schuld, insbesondere zur Entschuldbarkeit des Verbots irrtums, haben Philosophie in sich, nicht nur wie eigentlich alle Fragen zu ,Schuld und Sühne', sondern in neuartiger Weise bei Tätern, die wegen ihrer Taten von dem Staat, nach dessen Gesetzen sie bestraft werden sollen, belobigt und vielleicht sogar befördert worden waren. ,,539 Eventuell gelingt es in diesem Abschnitt der Arbeit zu zeigen, welche "Philosophie" das ist. Vorab sei allerdings klargestellt, daß es "den" Mauerschützen nicht gibt. Vielmehr existiert eine ganze Reihe unterschiedlicher Fallgestaltungen. 54o Es kann schon deshalb im folgenden nicht Aufgabe sein, eine "richtige" Lösung für alle Fälle aufzuzeigen. Es geht vielmehr um eine - notwendig - typisierende Betrachtung der Mauerschützenfälle und um Gedanken ·zu einer anderen Bewertung als sie der BGH in den bisherigen Urteilen vorgenommen hat. In seinen Entscheidungen zu diesem Problem greift der 5. Strafsenat zunächst auf § 5 WStG zurück, dessen Regelung im Vergleich zu § 258 I StGBDDR für Handeln eines Soldaten aufgrund eines rechtswidrigen Befehls die mildere war. 541 Nach § 5 WStG trifft den Untergebenen eine Schuld nur; wenn er erkennt, daß es sich bei dem ihm Befohlenen um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. In den Mauerschützenprozessen konnten die Angeklagten nun in fast allen Fällen glaubhaft dartun, daß sie das Verbotensein ihrer Handlungsweise nicht erkannt hatten. 542 Ausnahmen bestehen nur bei Exzeßtaten, bei denen sich
Vgl. Alexander Mitscherlich, Das schlechte Gewissen der Justiz, S. 274 Mitscherlich, aaO, S. 282 m Adomeit, aaO, S. 2914. 540 Vgl. dazu Herwig Roggemann, Zur Strafbarkeit der Mauerschützen, DtZ 1993, S. 10 ff. (12); vgl. auch Dreier, aaO, S. 67 f. 541 BGHSt 39, I ff. (32 f.) u. 168 ff. (186 ff.). 542 So z. B. in BGHSt 39, I ff. (32) u. 168 ff. (188 ff.); BGH NJW 1995, 2728 tf. (2732); vgl. zu diesem Umstand: Miehe, aaO, S. 664. 537 53K
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C. Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit nach § 17 StGB
Flüchtlinge nach gescheitertem Fluchtversuch bereits ergeben hatten und gleichwohl erschossen wurden. 543 Trotzdem wurde den Soldaten in nahezu allen Fällen 544 auch schuldhaftes Verhalten vorgeworfen: Den Soldaten wird zunächst im Hinblick auf die Regelung des § 5 WStG vorgeworfen, daß nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich gewesen sei, daß die Schießbefehle und deren konkrete Umsetzung an der Grenze "rechtswidrige" Taten iSd Strafgesetzbuchs (§ 11 I Nr. 5 StGB) waren. 54, Dabei ist dem Senat bewußt, daß an die Offensichtlichkeit idS "im Interesse der militärischen Disziplin und wegen des hohen Drucks, den ein militärischer Befehl auf den Untergebenen ausübt" hohe Anforderungen zu stellen sind: Offensichtlich sei der Strafrechtsverstoß nur dann, wenn er jenseits aller Zweifel liege. 546 Den Soldaten treffe also keine Prüfungspflicht. Habe er Zweifel, die er nicht beheben könne, dürfe er dem Befehl folgen. 547 Deshalb sollen auch bloß "formelhafte" Erwägungen zur "Offensichtlichkeit" in Urteilen nicht ausreichen. Vielmehr stellt der Senat ausdrücklich fest, daß im einzelnen zu prüfen sei, ob flir den Angeklagten nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich gewesen sei, daß das befohlene Verhalten strafrechtswidrig war.,48 Wie wird nun diese "Offensichtlichkeit" begründet? Der Senat greift, wie schon die Vorinstanz, auf "Gebote der Menschlichkeit" zurück, zu denen gehöre, daß auch der Straftäter ein Recht auf Leben habe, d. h. es sei "ohne weiteres ersichtlich gewesen, daß der Staat nicht daß Recht habe, einen Menschen, der, ohne andere zu bedrohen, unter Überwindung der Mauer von einem Teil Berlins in einen anderen hinüberwechseln wollte, zur Verhinderung dieses unerlaubten Grenzübertritts töten zu lassen.",49 Dabei wird vom BGH auch berücksichtigt, daß "die Anwendung des Merkmals ,offensichtlich' hier sehr schwierig" sei, da unbestritten nicht nur keine staatliche Ahndung der Todesschüsse in der DDR stattgefunden habe.'50 Im Gegenteil: Orden und Belobigungen waren die Folge.
543 Vgl. zu einem solchen Fall: BGH, Urt. v. 20. 10. 1993, NJW 1994, S. 267 tT. (270). 544 Von dem bereits erwähnten Fall der Erschießung eines Fahnenflüchtigen abgesehen, worauf noch näher eingegangen wird. 545 SGHSt 39, 1 tT. (33). 546 SGHSt 39, 1 ff. (33) u. 168 tT. (189). 547 SGHSt 39, 168 ff. (189). 54' SGH NJW 1993, 1938 f. (1939). 54"SGHSt39,1 ff. (33 f)u. 168 tl (190). 5.'" SGHSt 39, 1 ff. (34).
I. Das Kriterium der "Gewissensanspannung"
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Auch Vorwürfe wie "Rechtsblindheit", "Bequemlichkeit" oder einen "Verzieht auf eigenes Denken" läßt der Senat nicht gelten, sondern hält es durchaus für möglich, daß erst die "Konfrontation mit den Folgen der Schüsse das Gewissen der Angeklagten erstmals geweckt" habe. 5s1 Es soll auch nicht darauf ankommen, ob der Angeklagte Anlaß zum Nachdenken und zur Erkundigung über die Zulässigkeit tödlicher Schüsse gehabt haben könnte. Entscheidend sei, ob der Verstoß gegen das Strafrecht "derart auf der Hand lag, daß er für einen durchschnittlichen Soldaten" unter Berücksichtigung des Kenntnisstandes der Angeklagten ohne weiteres und ohne weitere Erkundigungen einsichtig war. 552 Wie kommt der Senat bei diesen Vorannahmen dann zu dem Urteil, der Strafrechtsverstoß sei trotzdem "offensichtlich" gewesen? Die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings sei "ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun" gewesen, "daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war. ,