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German Pages 371 Year 1995
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 673
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik Ein Verfassungsvergleich Deutschland – USA
Von
Henning Schwarz
Duncker & Humblot · Berlin
HENNING
SCHWARZ
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 673
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik
Ein Verfassungsvergleich Deutschland - USA
Von
Henning Schwarz
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schwarz, Henning: Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Aussen- und Sicherheitspolitik : ein Verfassungsvergleich DeutschlandUSA / von Henning Schwarz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 673) Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08352-0 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08352-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
Vorwort Foreign Relations Law - das "Recht der auswärtigen Beziehungen" - hat in den USA den rechtlichen, insbesondere den verfassungsrechtlichen Rahmen zum Gegenstand, der der auswärtigen Gewalt des Staates durch das nationale Recht gesetzt wird. Neben dem Völkerrecht - wenn auch stets in direktem Bezug zu diesem - ist es heute als eigenständiges Rechtsgebiet ausgeprägt. Als zentraler Bestandteil der juristischen Diskussion in Wissenschaft und Praxis reflektiert es den politischen Stellenwert der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Erfahrungen seit der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und der deutschen Einigung lassen - freilich nicht in den amerikanischen Dimensionen - in Zukunft eine gesteigerte internationale Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland erwarten. Dementsprechend prägt die zunehmende Zahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur auswärtigen Gewalt das bislang wenig beachtete "Verfassungsrecht der auswärtigen Beziehungen", zu dessen Ausdifferenzierung die vorliegende Studie einen Beitrag leisten möchte. Sie konzentriert sich dabei in rechtsvergleichender Sicht auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Träger der auswärtigen Gewalt. Einer Uberanstrengung der Verfassung, die immer stärker auch für die Lösung von Detailfragen herangezogen zu werden droht, vermag die Verfassungsgerichtsbarkeit entgegenzuwirken, indem sie die grundlegenden verfassungsrechtlichen Leitlinien betont. Die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle und der Umfang der Eigenverantwortung der politischen Staatsorgane bedingen sich wechselseitig. Die gerade im außen- und sicherheitspolitischen Bereich immer wieder bemühten, gleichwohl schillernden Begriffe des "judicial activism" und des "judicial self-restraint" fordern schlagwortartig zu einer Standortbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf. Mit der Fertigstellung der vorliegenden Untersuchung, die der juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg im Sommer 1994 als Dissertation vorlag, gilt mein Dank in erster Linie meinem Doktorvater Herrn Professor Dieter Blumenwitz. Seine Offenheit, Erfahrung und konstruktive Diskussionsbereitschaft begleiteten meine Arbeit stetig auch in den Turbulenzen um die jüngsten verfassungsgerichtlichen Verfahren im außen- und sicherheitspolitischen Bereich. Für die politikwissenschaftlichen Bezüge bei der Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik und insbesondere bei der Analyse der internationalen Beziehungen bin ich meinem Vater Professor Jürgen Schwarz besonders verpflichtet.
6
Vorwort
Herrn Professor Hugo J. Hahn danke ich für sein Interesse an meinen Arbeiten und die Erstellung des Zweitgutachtens. Die Grundorientierung meiner Arbeit geht auf meine staats- und verfassungsrechtlichen Studien bei den Professoren Konrad Hesse, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Ernst Benda an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. zurück. Ihre Erfahrung als Richter des Bundesverfassungsgerichts begründete meine Faszination für die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten. Während meines Studiums am Law Center der Georgetown University, Washington, D.C., USA, konnte ich 1991/92 diese Grundorientierung unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten weiter ausbauen. Ein weiterer Forschungsaufenthalt im Frühjahr 1994 diente der Aktualisierung meiner Materialien. Nach der Fertigstellung der Doktorarbeit im Juni 1994 konnte auch das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 12. Juli 1994 zum Auslandseinsatz der Bundeswehr in einer abschließenden Analyse vor dem Hintergrund der Ergebnisse meiner Studie berücksichtigt werden. Allen, die durch ihre kritische Begleitung das Entstehen der vorliegenden Arbeit ermöglicht haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ohne die Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Fulbright-Commission und des Cusanuswerks in den verschiedenen Abschnitten meines Studiums wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung ebenso wie die praktische Unterstützung in allen Lebenslagen schulde ich ganz besonderen Dank meiner Frau Dagmar Mundani. Für alle Unzulänglichkeiten zeichne ich selbstverständlich allein verantwortlich.
München, September 1994
Henning Schwarz
Inhaltsübersicht
Einleitung
19
Erster Teil Gegenstand und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im außen- und sicherheitspolitischen Bereich A.
Außen- und Sicherheitspolitik: Die Rolle Deutschlands und der USA im internationalen System 24
B.
Entwicklung der Grundpositionen zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Zweiter
. . . . 46
Teil
Supreme Court, Foreign Affairs und W a r Powers A.
Zugang zum Gericht und Justiziabilitätsdoktrinen
B.
Foreign Affairs und War Powers nach der US-Verfassung
Dritter
65 104
Teil
Bundesverfassungsgericht und Außen- und Sicherheitspolitik A.
Zentrale Entscheidungen im außen- und sicherheitspolitischen Bereich
161
B.
Zugang zum Gericht - Verfahrensarten und Zulässigkeitsvoraussetzungen (Formellrechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit) 167
C.
Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten im außen- und sicherheitspolitischen Bereich (Materiell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit) 202
D.
Einschätzungsprärogative bei der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte . . . . 259
8
Inhaltsübersicht Vierter
Teil
Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im außen- und sicherheitspolitischen Bereich Rechtsvergleich A. Stellung und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefuge der Staatsgewalten
. 289
B.
Ausprägung einer Political Question Doctrine in Deutschland?
300
C.
Dynamische Kompetenzverteilung oder justizielle Ausgestaltung
314
D. Sicherung der Autorität des Rechts und Politik im System
Fünfter
321
Teil
Verfassungsgerichtsbarkeit und Außen- und Sicherheitspolitik Zusammenfassung und Ausblick A. Zusammenfassung: Parallelen und Divergenzen der deutschen und der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit 325 B.
Die Zukunft der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Urteil vom 12. Juli 1994 332
Literaturverzeichnis
351
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
19
Erster Teil
Gegenstand und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im außen- und sicherheitspolitischen Bereich A.
Außen- und Sicherheitspolitik: Die Rolle Deutschlands und der USA im internationalen System 24 I.
Staat und internationales System
24
II.
Stellung Deutschlands und der USA in der internationalen Politik
28
1. Deutschland
28
2. USA
32
Äußere Sicherheit und Sicherheitspolitik
34
1. Sicherheit und Sicherheitspolitik
34
III.
2. Sicherheit und Souveränität
,35
3. Zielsetzungen der Sicherheitspolitik und Erweiterung des Sicherheitsbegriffs
IV.
B.
a) Allgemeine Zielsetzungen
38
b) Abschreckung und Entspannungspolitik c) Kollektive Sicherheit und kollektive Verteidigung d) Erweiterter Sicherheitsbegriff und Stellungnahme
39 40 42
Sicherheitspolitik und Auswärtige Gewalt
Entwicklung der Grundpositionen zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit I.
. . 38
43
. . . , 46
Recht und Politik
46
1. Gegenüberstellung von Recht und Politik
48
2. Politische Verfassungsgerichtsbarkeit
49
Inhaltsverzeichnis
10 II.
Funktionell-rechtlicher Ansatz
52
1. Kriterien des funktionell-rechtlichen Ansatzes
53
2. Gewaltenteilungsverständnis und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . 54 3. Zwei Dimensionen funktionell-rechtlicher Argumente
58
4. Normativität des funktionell-rechtlichen Ansatzes und die Verantwortung der Verfassungsgerichtsbarkeit 63
Zweiter
Teil
Supreme Court, Foreign Affairs und War Powers A. Zugang zum Gericht und Justiziabilitätsdoktrinen I.
Grundlagen nach der US-Verfassung - Judicial Review und Judicial Restraint
IL
Political
65 . . . 65
question doctrine im außen- und sicherheitspolitischen Bereich
68
1. Zentrale Kriterien der political question doctrine nach Baker v. Carr
69
2. Spruchpraxis zur political question doctrine im außen- und sicherheitspolitischen Bereich 70 a) Rechtsprechung seit dem Vietnam-Krieg - War Powers Cases b) Golfkrieg aa) Ange ν. Bush bb) Dellums v. Bush
74 75
c) Goldwater v. Carter 3. Die political dung
question doctrine
72 73
76 im System der richterlichen Entscheidungsfin78
a) Normative Fundierung der political question doctrine 78 b) Zum Verständnis der verfassungsmäßigen Zuweisung an "die" politischen Gewalten ( Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1993, 3038; Klein, Maastrichter Vertrag und nationale Verfassungsgerichtssprechung, 1993. Vgl. auch Bleckmann/Pieper, Maastricht, die grundgesetzliche Ordnung und die "Superrevisionsinstanz", RÏW 1993, 969; Frowein, Das Maastricht-Ürteü und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), 1-16; Klein, Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 9 ff.; König, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht - ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, ZaöRV 54 (1994), 17-51; Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration, DVB1.1994,316; Schuppert, Zur Staatswerdung Europas. Überlegungen zu Bedingungsfaktoren und Perspektiven der europäischen Verfassungsentwicklung, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1994, S. 35-76; Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, Neue Justiz 1994, 1 ff.; Steinberger, Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 52 ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die deutsche Mitwirkung am Entscheidungsprozeß im Rat der Europäischen Gemeinschaften, 1990; Weber, Die Wirtschafte- und Währungsunion nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1994, 53. 3,0
BVerfG NJW 1993, 3047 (3052 und Leitsatz 5).
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
239
Bestimmbarkeit des Integrationsprogramms nicht die gleichen strengen Anforderungen gestellt wie bei innerstaatlichen Gesetzen. Die Bestimmbarkeit verbietet wesentliche Abweichungen vom im Vertrag und Zustimmungsgesetz vorgezeichneten Integrationsprogramm, insbesondere eine Ausdehnung der Kompetenzen der Europäischen Union. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Integrationsprogramm bilden die Grundlage für (1) die Bekräftigung des bereits bislang für die Europäische Gemeinschaft geltenden Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und - als logische Fortsetzung (2) die Verneinung einer Kompetenz-Kompetenz für die Europäische Union 3 1 1 , (3) die verfahrensrechtliche Präzisierung der Möglichkeiten für die Zuweisung weiterer Aufgaben und Befugnisse an Europäische Union und Europäische Gemeinschaft durch den Vertrag und verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Art. 23 Abs. 1 GG 3 1 2 sowie schließlich (4) der Ablehnung eines "unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus" bei der Herstellung der Europäischen Währungsunion 313. Von Art. 38 GG ausgehend kommt es darauf an, daß der deutsche Gesetzgeber die Kontrolle über den weiteren Integrationsverlauf nicht aus der Hand verliert. Künftige Kompetenzerweiterungen bedürfen der Bestimmung durch den nationalen Gesetzgeber 314. Kompetenzerweiterungen der Europäischen Union wären als wesentliche Abweichungen vom Integrationsprogramm aus verfassungsrechtlichen Gründen für die deutschen Staatsgewalten unverbindlich. Darüber hinaus betont das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz bzgl. der Einhaltung des Integrationsprogramms. Wenn bisher galt, daß Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft als solche der deutschen Jurisdiktion - und damit auch der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit - nicht unterliegen, weil es sich nicht um Akte der deutschen Staatsgewalt handelt, so wird das Bundesverfassungsgericht nach der MaastrichtEntscheidung auch unmittelbar durch die Europäische Union erlassene Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Verfassungsrecht prüfen 315 . Nur hinsichtlich der Prülungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich insoweit eine Abweichung gegenüber der Eurocontrol-Entscheidung. Die Rechtsprechung zum Integrationsprogramm wird dagegen bestätigt.
3n
BVerfG NJW 1993, 3047 (3053).
312
BVerfG NJW 1993, 3047 (3054).
3,3
BVerfG NJW 1993, 3047 (3055).
314
Vgl. auch H.H.Klein, Maastrichter Vertrag und nationale Verfassungsgerichtssprechung, 1993, S. 12. 3,5
BVerfGE NJW 1993, 3047 (Leitsatz 7 und S. 3052).
240
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
d) Bedeutung für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich aa) Anwendungsbereich Die Rechtsprechung zum Integrationsprogramm hat sich anhand des Art. 24 Abs. 1 GG entwickelt. Die Nachrüstungsentscheidung war der Kritik in der Literatur ausgesetzt einerseits, soweit in der Zustimmung zur Stationierung eine Übertragung von Hoheitsgewalt gesehen wurde, und andererseits, soweit sie die NATO als zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG qualifiziert 316 . Zuvor war für die Ausübung von Hoheitsgewalt der unmittelbare Durchgriff einer zwischenstaatlichen Einrichtung auf die deutschen Rechtsunterworfenen das entscheidende Kriterium, welches bei der Stationierung der Mittelstreckenwaffen nicht erfüllt war. In der Maastricht-Entscheidung ging es dann auch wieder um diesen unmittelbaren Durchgriff durch die supranationale Einrichtung der Europäischen Union. Ohnehin wird deutlich, daß die Voraussetzungen und Anforderungen an das Integrationsprogramm nicht an die Anwendung das Art. 24 Abs. 1 GG gebunden sind. Art. 23 GG n.F. ist jetzt speziell auf die europäische Integration bezogen mit besonderen inhaltlichen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen; Art. 24 GG bestimmt weiterhin die internationale Kooperation über den europäischen Rahmen hinaus. Der Anwendungsbereich der Rechtsfigur des Integrationsprogramms erstreckt sich auf alle Fälle des Abschlusses eines völkerrechtlichen Vertrags sowie den Vollzug einzelner Maßnahmen auf der Grundlage dieses Vertrags und kann insoweit zum festen Bestand der verfassungsgerichtlichen Analyse gezählt werden. Er umfaßt neben Art. 24 Abs. 1, 23 und 59 Abs. 2 GG im sicherheitspolitischen Bereich insbesondere auch die Einordnung in eine System gegenseitiger kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG. Erforderlich ist stets die völkervertragliche Konkretisierung eines Integrationsprogramms. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Auslegung des Zustimmungsgesetzes und damit mittelbar des Vertrags selbst - hinsichtlich der verfassungsrechtlich relevanten Zielsetzung des Integrationsprogramms 317. Es kontrolliert die Zielsetzung des Integrationsprogramms auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 318 , sowie beim Vertragsabschluß die Bestimmtheit des Integrationspro-
3,6 ifrytfe, Sicherheitspolitik zwischen Parlament und Regierung, S. 368 f.; Rauschning, Organstreit zur Nachrüstung, S. 867. 317 Zur Eigenständigkeit der Auslegung ohne Bindung an die Auffassung der Bundesregierung vgl. auch BVerfGE 68, 1 (95) - Nachrüstung. 3,8 Die Landesverteidigung wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als Staatsziel bzw. als verfassungsrechtliche Grundentscheidung anerkannt; BVerfGE 69, 1 (21 f.), abweichendes Sondervotum von Böckenförde und Mahrenholz, 57 (60 f.); 28, 243 (261); 32, 40 (46); 39, 50 f.; 48, 127 (129). Das Bundesverfassungsgericht stützt dies auf Art. 12a Abs. 1, 73
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
241
gramms und bei einer späteren Vollzugsmaßnahme, ob eine wesentliche Abweichung vom Integrationsprogramm vorliegt. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens besteht ein weiter Einschätzungs- und Bewertungsspielraum der politischen Gewalten. Diese legen die Zielsetzung des Integrationsprogramms fest und gestalten es im einzelnen.
bb) Ausgestaltung der Prüfung Die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts orientiert sich an den Besonderheiten des Sachbereichs. Die Gegenüberstellung des Nachriistungs- und des Maastricht-Urteils verdeutlicht, daß die Anforderungen nach den betroffenen Rechtsgütern und nach dem Grad der individuellen Betroffenheit unterschiedlich ausgestaltet sind. So sind die Anforderungen an den Fortgang der europäischen Integration mit der Bindung an die demokratische Legitimation durch die nationalen Parlamente zu Recht weit strenger gefaßt als die Ausgestaltung der Verteidigungsmaßnahmen im Rahmen des Nordatlantikpakts, denn die Rechtssetzungsbefugnisse der Europäischen Union und ihre Vollzugsakte wirken unmittelbar auf den einzelnen, während die Maßnahmen im Rahmen des Bündnisses auf das Verhalten anderer Staaten gerichtet sind. Letztere berühren den einzelnen nur mittelbar. Sie sind zudem mit der Dynamik der aktuellen politischen Entwicklungen in stärkerem Maße wandelbar als die langfristig auf die Integration der souveränenen Mitgliedsstaaten und die Öffnung der nationalen Rechtsordnungen 319 abzielende europäische Einigung. Schließlich tritt auch die im Eurocontro! dargelegte graduelle Stufung der Prüfung der Übereinstimmung mit dem Integrationsprogramm deutlich hervor, die Zustimmung zur Nachrüstung fügt sich in das Gesamtgefüge des Vertragswerks des Nordatlantikpakts ein, indem es ein neues Waffensystem einführt, das die bestehende Konzeption ergänzt und die wirksame Verfolgung bereits wahrgenommener Aufgaben gewährleistet. Demgegenüber konnte der Europäische Unions-Vertrag vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht so verstanden werden, daß der Integrationsprozeß durch die Stärkung der Kompetenzen der Europäischen Union auch gegen den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten irreversibel machen sollte und damit über das bestehende Gefiige der europäischen Integration hinaus eine neue Qualität der europäischen Integration erreichen sollte.
Nr. 1, 87a Abs. 1 S. 1, 115b GG. Vgl. auch F.Kirchhof Handbuch des Staatsrechts,, Bd. V I I , 1992, Rn. 7. 3,9
BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28).
16 Schwar/.
Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof,
242
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
cc) Vertragliche Bindungen Bedeutung fur Streit um den Streitkräfteeinsatz erlangt die Argumentationsfigur des Integrationsprogramms immer dann, wenn es auf die Bindung an eine völkerrechtlichen Vertrag ankommt. Bei den Einsätzen im Rahmen der NATO hat das Bundesverfassungsgericht zu beurteilen* ob damit die Zielsetzung als reines Verteidigungsbündnis um die Aufgabe der regionalen Friedenssicherung im Rahmen einer UN-Maßnahme ergänzt wurde oder ob diese Aufgabe von vorneherein im Vertragswerk des Nordatlantikpakts angelegt ist. Hinsichtlich des durch die UNO-Charta etablierten Programms der gemeinsamen weltweiten Friedenssicherung - auch durch militärische Maßnahmen, Art. 42 UNO-Charta - kommt es darauf an, ob die Abweichung von den in Art. 43 UNO-Charta vorgesehenen Sonderabkommen, mit denen der UNO Truppen zur Verfügung gestellt werden sollten, auf ein flexibles Zurverfügungstellen von Truppen in nationaler Regie eine wesentliche Abweichung bedeutet320. Im Streifall hätte das Bundesverfassungsgericht selbst hierüber zu entscheiden.
4. Völkerrechtsfreundliche Auslegung und internationale Offenheit des Grundgesetzes Wenn im Schrifttum 321 von der "Völkerrechtsfreundlichkeit" des Grundgesetzes die Rede ist, ist nicht in jedem Falle klar, ob es sich um einen verfassungsrechtlichen Grundsatz oder nur um ein politisches Postulat zur Orientierung an den völkerrechtlichen Normen handelt. Im Vordergrund aber steht hier die Offenheit des deutschen Verfassungsrechts für die Rezeption völkerrechtlicher Normen. Die "völkerrechtsfreundliche Auslegung" läßt sich in
320 Frowein, Der völkerrechtliche Status von VN-Friedenstruppen und seine Bedeutung für das deutsche Recht, und Stein, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen, beide in: Frowein/Stein, Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen, 1990, S. 1 ff. bzw. 17 ff.; Kersting, Kollektive Sicherheit durch Peace-KeepingOperations. Insbesondere: Zur Beteiligung der Bundeswehr an UN-Aktionen, NZWehrr 1983, S. 64 ff.; Brunner, Militärische Maßnahmen nach Kapitel V I I UN-Charta, NZWehrr 1992, S. 1 ff. 321
Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V I I , S. 499 ff.; Bernhardt, Bundesverfassungsgericht und völkerrechtliche Verträge, S. 160, 184; Bernhardt, Verfassungsrecht und internationale Lagen, DOV 1977, 457 f.; Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1979, 310 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 496; Geck, Das Bundesverfassungsgericht und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, S. 115 ff.; BVerfGE 58, 1 (34); 59, 63 (89); 64, 1 (20).
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
243
Anlehnung an die verfassungskonforme Auslegung als Auslegungsgrundsatz entwickeln. Nach der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ist eine Verfassungsbestimmung oder einfachgesetzliche Norm, die mehrere Auslegungsvarianten zuläßt, so auszulegen, daß sie gleichzeitig mit dem Völkerrecht übereinstimmt. Der Grundsatz resultiert zum einen aus dem internationalen Status des modernen Staates, zum anderen aus der wachsenden Bedeutung des Völkerrechts für die zunehmend interdependente internationale Ordnung. Wie bei den vorhergehenden Auslegungstopoi reflektiert er die "internationale Offenheit" der deutschen Verfassungsordnung. Der Auslegungsgrundsatz zielt insofern auf die Respektierung und Achtung des geltenden völkerrechtlichen Normenbestands ab 322 . Die Bundesrepublik Deutschland unterwirft sich mit ihrer Verfassung den allgemeinen Regeln des Völkerrechtes; das Verfassungsrecht wird in die Friedensordnung der internationalen Staaten- und Völkergemeinschaft eingebunden; die auswärtige Gewalt wird auf die Normen des Völkerrechts verpflichtet (Art. 24, 25, 26 GG). Die deutsche Verfassung übernimmt damit - ohne Kontrolle durch die nationale Legislative - Normen aus dem internationalen Bereich 323 . Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts werden - auch das ein maßgeblicher Aspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit - als rechtsschöpfende Leistung der internationalen Staatengemeinschaft betrachtet, die hinlängliche Gewähr für Substanz, Logik und Ausgewogenheit bietet. Die letztentscheidende Kompetenz hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Relevanz von Völkerrechtsregeln obliegt allerdings der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 324. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt die völkerrechtsfreundliche Auslegung nicht auf einzelne Begriffe oder Normen 325 . Vielmehr kommt sie auch zum Tragen, wenn es auf das Zusammenspiel mehrerer Verfassungsnormen ankommt, die nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung zu harmonisieren und optimal zur Geltung zu bringen sind. Der
322
Kritisch zu einem weitergehenden Gehalt der Völkerrechtsfreundlichkeit über die rechtlich verfestigten Regeln des Völkerrechts hinaus im Sinne eines allgemeinen Respekts vor fremden Rechtsanschauungen und Rechtsordnungen, Tomuschat, Staatliche Entscheidung für die internationale Offenheit, S. 487 m.w.N. 323
Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, S. 488.
324
BVerfGE 6, 309 (363); 37, 271 (279).
325 Das Bundesverfassungsgericht hat beispielsweise im Zusammenhang mit Art. 16 GG zur Auslegung des Grundrechts auf Asyl die Genfer Konvention (Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge v. 28.07.1951, BGBl. 1953 II, S. 560) herangezogen. BVerfGE 54, 341 (356 ff.) Vgl. auch K.Ipsen, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der NATO und der WEU, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 61.
1*
244
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung reflektiert und konkretisiert also die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in einem umfassenderen Sinne, so wie sie sich aus der systematischen Zusammenschau der Verfassungsbestimmungen ergibt. Zentral erscheint hier insbesondere das Friedensgebot des Grundgesetzes, welches auf den Friedenszustand zwischen Staaten abzielt und damit auf wesentliche Normen des Völkerrechts hinweist 326 . Wesentlich kommt die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in folgendem zum Ausdruck: Art.25 und 26 GG beinhalten die Grundsatzentscheidung für die Harmonisierung von Völkerrecht und staatlichem Recht; die allgemeinen Regeln des Völkerrechts werden unmittelbar zu Bestandteilen des Bundesrechts. Die auswärtige Gewalt wird damit zum Verhalten und Handeln gemäß dem Völkerrecht verpflichtet; auch das Individualverhalten der Bürger, in einer Demokratie auch für Außen- und Sicherheitspolitik von großer Bedeutung 327 , soll den völkerrechtlichen Anforderungen angepaßt werden. Eine disparate Entwicklung von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtslage soll verhindert werden. Insbesondere haben Handlungen, ob von der Staatsgewalt oder von Staatsbürgern intendiert, als verfassungswidrig zu gelten, die darauf gerichtet sind, das "friedliche Zusammenleben der Völker" zu stören (Art.26 GG). Diese, auf die Berücksichtigung völkerrechtlicher Normen zielende, internationale Offenheit des Grundgesetzes bedeutet den Verzicht auf eine Ausschließlichkeit der souveränen staatlichen Rechtsmacht zugunsten der Eingliederung in den Ordnungsrahmen der internationalen Gemeinschaft. Allerdings können umgekehrt die Völkerrechtsnormen die Verfassungsprioritäten (Grundrechte und unverzichtbare Verfassungsgrundsätze) auch nicht in Frage stellen; ihre Vorrangregel (Art.25 GG) gilt nicht für die Vorschriften des Grundgesetzes selbst 328 . In Art.24 GG ist die Außenpolitik Deutschlands zentraler Gegenstand einer materiellen Verfassungsnorm. Er ermöglicht Souveränitätsbeschränkungen bzw. die Übertragung von Hoheitsrechten nicht nur im Interesse der konkreten internationalen Kooperation, sondern auch in Respektierung des in der internationalen Ordnung zunehmend maßgebenden Völkerrechtes schlechthin, weil nur so eine "friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt" gesichert wird.
326 Doehring, Das Friedensgebot des Grundgesetzes, in: Ïsensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.VII, 1992, S.687-709. 327 328
Fastenrath,
Kompetenzverteilung, S. 35, 50 f.
Tomuschat, Internationale Offenheit, S.489, weist auf die theoretische Möglichkeit hin, Art.25 GG im Wege einer Verfassungsänderung zu beseitigen (seine Substanz sei durch Art.79 Abs.3 GG nicht geschützt), um die Grenzen der "internationalen Offenheit" des Grundgesetzes schärfer zu zeichnen.
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
245
In Art. 1 Abs. 2 GG wird die Außenpolitik des Staates und das internationale Verhalten des deutschen Volkes ebenfalls an eine zentrale Völkerrechtsnorm gebunden, nämlich die Wahrung der Menschenrechte als einer der "Grundlagen" des "Friedens in der Welt". Die Präambel verpflichtet die Staatsgewalt, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen". Auch hier wird im umfassenden Verständnis einer Präambel nicht nur die zentrale Funktion des Völkerrechtes - nämlich die Herstellung einer globalen Rechts- und Friedensordnung - aufgegriffen, sondern generell die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht. Insgesamt ist damit die "internationale Offenheit" im Sinne der "Völkerrechtsfreundlichkeit" des Grundgesetzes deutlich umrissen. Man könnte diese "völkerrechtsfreundliche Offenheit" näherhin als "normative Offenheit" bezeichnen, weil Verfassung und außen- und sicherheitspolitisches Handeln sich bis zur Grenze der staatlichen grundgesetzlichen Prioritäten durch die Normen des Völkerrechtes leiten lassen. Der auf "internationale Offenheit" hin eingestellte Staat unterstreicht damit sein ureigenstes Interesse, das Völkerrecht zu einer wahren und funktionstüchtigen Rechtsordnung fortzuentwickeln. Die internationalen Rechtsinstitute festigen sich - da mit einem Zuwachs an völkerrechtlicher Zwangsgewalt in der Form von Sanktionsmitteln der UNO zumindest kurz- und mittelfristig kaum gerechnet werden kann - ganz wesentlich durch den Zuwachs an Rechtsautorität. Autorität wiederum kommt dem Völkerrecht und den internationalen Rechtsinstituten nur in dem Maße zu, wie die Staaten bereit sind, Völkerrechtsnormen und ihre Anwendung über das grundsätzliche Postulat der Völkerrechtsfreundlichkeit hinaus außenpolitisch und im innerstaatlichen Recht zu respektieren und anzuwenden. Ein allgemeines Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts ist zwar im Text des Grundgesetzes nicht zu finden; jedoch macht die Systematik der erwähnten Verfassungsnormen die "völkerrechtlich normative Offenheit" der Verfassung unabweisbar deutlich und bietet für Verfassungsstreitfragen in Außen- und Sicherheitspolitik angemessene Auslegungsgrundsätze. Für die verfassungsgerichtliche Kontrolle im außen- und sicherheitspolitischen Bereich hat das Bundesverfassungsgericht die Konsequenzen aus der Völkerrechtsfreundlichkeit deutlich formuliert: Im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht in besonderem Maße darauf zu achten, daß Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Normen liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland begründen könnten, nach Möglichkeit verhindert oder beseitigt werden 329 .
246
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Es nimmt eine umfassende Prüfungskompetenz in Anspruch, um völkerrechtliche Verpflichtungen und innerstaatliches Recht in Einklang zu halten. In seiner europarechtlichen Rechtsprechung, zuletzt in der Maastricht-Entscheidung, hat das Bundesverfassungsgericht unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß sowohl dem außenpolitischen Ermessen als auch der Völkerrechts· bzw. in diesem Fall "europarechtsfreundlichen" Auslegung durch die unverzichtbaren Verfassungsgrundsätze Grenzen gezogen sind. So verbietet das Demokratieprinzip einen Automatismus der europäischen Integration und die Entleerung der Kompetenzen der nationalen Parlamente. Das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht damit prinzipiell, was für andere unverzichtbare Verfassungsgrundsätze entsprechend gilt. Wichtige Beschränkungen des Auslegungsgrundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich auch aus der Natur des Völkerrechts. Insbesondere für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts besteht die Schwierigkeit, den Inhalt des Völkerrechts eindeutig zu bestimmen, zumal eine Instanz zur letztverbindlichen Feststellung nicht existiert 330 . Auch muß zwischen den allgemeinen Regeln des Völkerrechts und dem Völkervertragsrecht differenziert werden. Denn die völkerrechtlichen Verträge sind in ihrer Entstehung an den verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes zu messen. Sie sind selbst der Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Sie zur Auslegung der Grundgesetzbestimmungen heranzuziehen würde in einen logischen Zirkelschluß führen 331 . Etwas anderes muß aber für diejenigen Verträge gelten, die - wie etwa die Europäische Menschenrechtskonvention - einen festen internationalen Wertekonsens widerspiegeln 332 oder die - wie die UN-Charta - universelle Geltung erlangt haben. Das Völkervertragsrecht kann zur inhaltlichen Konkretisierung von Verfassungsbestimmungen schließlich dann herangezogen werden, wenn die Verfassungsbestimmungen von vorneherein auf eine völkervertragliche Regelung bezogen waren bzw. im Zuge einer Verfassungsänderung erst nach dem Abschluß des völkerrechtlichen Vertrages in das Grundgesetz gelangt sind. Art. 24 Abs. 2 GG war seit der Entstehung des Grundgesetzes auf die aktive
329
BVerfGE 58, 1 (Leitsatz 4 und S. 34).
330
Vgl. auch BVerfGE 55, 349 - Rudolf Hess.
331
Vgl. auch Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Rn. 28 f. 332
Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung ftir die internationale Offenheit, S. 500.
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
247
Mitwirkung der Bundesrepublik in der UNO angelegt. Art. 87 a Abs. 2 GG sollte bei seiner Neuformulierung im Jahre 1968 die Erfüllung der Bündnisverpflichtungen der Bundesrepublik nicht unmöglich machen333.
5. Internationale Offenheit des Grundgesetzes und das Verfassungsziel der internationalen Kooperation Im Rahmen des Prinzips der internationalen Offenheit des Grundgesetzes läßt sich - im engen Bezug zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung - die "internationale Kooperation" als ein weiterer Auslegungsgrundsatz der Verfassung entwickeln. Die allgemeine "internationale Offenheit" des Staates kann dann neben der "normativen Offenheit" (Völkerrechtsfreundlichkeit) im hier diskutierten Zusammenhang präziser als "kooperative Offenheit" definiert werden 334 . Dieser Grundsatz resultiert generell ebenfalls aus der Einbindung des "modernen, offenen Staates" in die internationale Staatengemeinschaft und umgreift die rechtlichen Folgerungen aus der internationalen Interdependenz. Näherhin ist dieser Grundsatz im Grundgesetz - insbesondere auch unter den 1949 für die Bundesrepublik wirksamen historischen und politischen Bedingungen - verankert worden. Die "internationale Kooperation" wurde geradezu zur raison d'être der Bundesrepublik 335 und ist von dorther verfassungsrechtlich auch für das vereinigte und "voll souveräne" Deutschland336 - bis zur Gegenwart als Verfassungsziel fortentwickelt worden. Die Präambel verpflichtet die Staatsgewalt, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen". Beitritte zu zwischenstaatlichen Organisationen, denen nach ihrem Statut Hoheitsrechte zu übertragen sind, werden nach Art.24 GG aufgrund bestimmter Voraussetzungen ermöglicht. Im Regelfall
333 Die Auslegung der fiir den Streitkräfteeinsatz maßgeblichen Grundgesetzbestimmungen bedarf im folgenden noch der genaueren Betrachtung. Zum Verfassungsstreit vgl. ausfuhrlicher unten 3. Teil D.I. und II. 334
Vgl. auch Tomuschat, Internationale Offenheit, S.505 ff., der "das Bekenntnis des Grundgesetzes zur internationale Zusammenarbeit" als "zweite Hauptkomponente" unter die "staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit" subsumiert. 335 J.Schwarz, Deutschland im Strukturwandel Europas, in: Murswiek/Schwarz/Seiffert/Uschakow, Die Vereinigung Deutschlands, S. 83, 97 ff. 336 Blumenwitz, Rechtliche und politische Fragen der Souveränität Deutschlands, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 144-154; Blumenwitz, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 385-400.
248
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
bedarf die internationale Kooperation (Mitgliedschaft in einer Internationalen Organisation) eines Zustimmungsgesetzes nach Art.59 Abs.2 GG. Art.24 GG ermöglicht damit Souveränitätsbeschränkungen im Interesse der internationalen Kooperation, insbesondere auch im Bereich der Sicherheitspolitik und der Wahrung des Weltfriedens. Art.25 GG in Verbindung mit Art.26 GG und A r t . l Abs.2 GG verpflichten zur friedlichen internationalen Kooperation im Hinblick auf die Völkerrechtsordnung allgemein und insbesondere hinsichtlich der Sicherung der Menschenrechte als Grundlage des "Friedens in der Welt". Insgesamt gliedert sich der Staat damit nicht nur "passiv" - sozusagen unter ständigem nationalem Vorbehalt - der internationalen Ordnung ein, das Grundgesetz fordert vielmehr die Staatsorgane zu einer aktiven Mitwirkung bei der internationalen Zusammenarbeit auf. K.Vogel hat aus der "Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit" 337 auf einen Gestaltungsauftrag an alle maßgebenden Staatsorgane geschlossen, auf eine international "offene" Staatlichkeit im Sinne der internationalen Kooperation hinzuwirken 338 . Freilich beinhalte diese Zielvorgabe einen weitgespannten Gestaltungsspielraum für die politischen Organe, schon deshalb, weil jedes internationale Handeln weitgehend vom Verhalten anderer Staaten abhängig ist. Zunächst stellt das Grundgesetz eine entsprechende Handlungsermächtigung und das zur Führung der Außenpolitik notwendige Instrumentarium (Austausch von Botschaftern, Abschluß von Verträgen, Aufstellung von Streitkräften) zur Verfügung. Die Grenzen des Ermessens, die von der Rechtsprechung überprüft werden können, lassen sich - so K. Vogel - unter anderem mit dem Gebot der Wahrung und Sicherung des völkerrechtlichen Friedens, dem Bekenntnis zu einem vereinten Europa als den konkreten Zielvorgaben aus der Präambel und den Art.24 und 26 GG präzisieren 339. Aber auch hier hat das Bundesverfassungsgericht - zuletzt in seinem Urteil über den Vertrag von Maastricht (12.Okt.1993) 340 und unter Einbeziehung u.a. seiner Beschlüsse "Solange I" (29.Mai 1974) 341 und "Solange II" (22.Okt.1986) 342 - unmißverständlich deutlich gemacht, daß diesem außenpolitischen Ermessen und dem Auslegungsgrundsatz "internationale Kooperation" durch die unverzichtbaren Verfassungsnormen Grenzen gezogen sind (Art.23 Abs. 1 GG). Auch hier ist also alle in-
337 K.Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes fur eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 339
K.Vogel,
S.44 ff., 46.
339
K.Vogel,
S. 49, 51.
340
BVerfG NJW 1993, 3047.
341
BVerfGE 37, 271.
342
BVerfGE 73, 339.
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
249
ternationale Zusammenarbeit notwendigerweise an die Prioritäten der Verfassung anzupassen. Auf der anderen Seite aber verbindet sich im vorgegebenen Verfassungsrahmen mit dem Verfassungsziel und dem hier diskutierten Auslegungsgrundsatz auch eine Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit. Grenze des Ermessens und des Gestaltungsspielraums der politischen Organe ist - ebenso wie die unverzichtbaren Verfassungsgrundsätze, die durch die internationale und europäische Integration nicht gefährdet werden dürfen - auch ein (Mindest·) Standard internationaler Kooperation. Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik kann keine isolationistische oder nationalistische, ausschließlich auf die engen Interessen des Staates bezogene, Außenpolitik betreiben 343 . Als vorrangiges Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik wird im Grundgesetz die internationale Kooperation zwecks Wahrung des internationalen Friedens als Verfassungsziel festgeschrieben (Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2, Art. 25, Art. 26, auch Art. 9 Abs. 2 GG). In Art. 24 Abs. 2, 3 GG deutet zwar die "kann"-Formulierung auf eine bloße Ermächtigung hin; diese bezieht sich aber nach den gemeinsamen Grundgedanken und der Systematik der genannten Bestimmungen nur auf die Gestaltungsfreiheit der politischen Organe bei der Umsetzung des Verfassungsziels 344. Das weitreichende Gebot zur internationalen Kooperation kommt auch in der in Art.24 Abs.3 GG festgehaltenen Verpflichtung zum Ausdruck, sich den Institutionen der internationalen Gerichtsbarkeit anzuschließen345. Mit diesem Verfassungsziel ist auch Art. 87a Abs.2 GG in Bezug zu setzen. Insofern verbietet sich im Zusammenhang mit dem Streit über den Auslandseinsatz der Bundeswehr eine restriktive Auslegung des Art. 87a Abs.2 GG (im Sinne einer Beschränkung auf die Verteidigung des Bundesgebietes) angesichts der verfassungsrechtlichen Ermächtigung in Art.24 Abs.2 GG, sich zur Wahrung des Friedens in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Die Mitgliedschaft in NATO oder UNO umfaßt die Verpflichtung eines jeden Mitgliedstaates, den gemeinsamen Auftrag der internationalen Friedenssicherung, wozu vornehmlich humanitäre, aber auch Aufgaben des Peace keeping, des Peace making und des Peace enforcement gehören können, durch entsprechende, von der Staatengemeinschaft nach deren Grundsätzen
343
K.Vogel,
S. 51: Verbot einer Autarkiepolitik.
344
K.Vogel, S. 44 f., charakterisiert dieses Verfassungsziel als "dirigierenden" Verfassungsrechtssatz nach Lerche in Übereinstimmung mit Art. 20 GG, der Sozialstaatsentscheidung und dem Wiedervereinigungsgebot, ibid. S. 47. 345
Blumenwitz, Die mögliche Gestaltung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zum Internationalen Gerichtshof, in: G Y I L 21 (1978), 207 (229); kritisch Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, S. 502 Rn. 32.
250
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
(NATO-Vertrag, UNO-Charta) angeforderte Mittel, einschließlich der Gestellung von Streitkräften, zu unterstützen 346. Das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung und der Auslegungsgrundsatz der internationalen Kooperation in Verbindung mit den ohne Vorbehalt abgeschlossenen Verträgen über die Mitgliedschaft gebieten eine Auslegung der Art.87a Abs.2 und Art.24 Abs.2 GG, die die Bundesrepublik nicht der Mittel beraubt, mit denen sie ihren Verpflichtungen aus ihrem internationalen Status und aus der Mitgliedschaft in einem System kollektiver Verteidigung und kollektiver Sicherheit nachkommen kann 347 .
6. Wertungs- und Prognosespielraum und Sachverhaltsaufklärung Die Unterscheidung zwischen Rechtsfragen einerseits und Tatsachenermittlung und Wertungsfragen andererseits findet sich in der Verfassungsrechtsprechung ebenso wie in anderen Rechtsbereichen. Sie ist die Grundlage des Auslegungsgrundsatzes, nach dem sich politische Wertungen und Prognosen über künftige politische Entwicklungen einer verfassungsgerichtlichen Beurteilung entziehen.
a) Rechtsprechung zum Wertungs- und Prognosespielraum Im Saarstatut-Urteil etwa entzog sich die Frage, ob das Abkommen für die Übergangszeit bis zum Abschluß eines Friedensvertrags den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes entgegen Art. 23 GG a.F. erschwerte, der verfassungsgerichtlichen Beurteilung. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin eine politische Wertung 348 . Wenn das Saarabkommen tatsächlich - wie von den Antragstellern behauptet - eine definitive Lösung darstellte, hätte das Bundesverfassungsgericht zwar eine Annäherung an das Grundgesetz, aber eben auch ein Zurückbleiben hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen zementiert. Der Streit darüber, ob Frankreich letztlich bereit sein würde, der formellen zeitlichen Begrenzung des Saarabkommens durch den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland zu genügen, entzog sich als Prognose über
346
Vgl. auch Tomiischat, Staatsrechtliche Entscheidung fiir die internationale Offenheit, S. 501.
347
Zum Verfassungsstreit vgl. ausführlich 3. Teil D.I. S. 350 ff. und II.
348
BVerfGE 4, 157 (174).
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
251
eine künftige politische Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Beurteilung 349 . Das Beispiel offenbart, daß beide Gesichtspunkte nicht voneinander zu trennen sind 350 . Wertung und Prognose betreffen einen gegenwärtig bereits angelegten, in seiner künftigen Entwicklung jedoch noch nicht absehbaren Sachverhalt. Eine Aufklärung ist insoweit niemandem möglich. Das Bundesverfassungsgericht räumt deshalb der Einschätzung der Regierung den Vorrang ein gegenüber den Einschätzungen der Antragsteller und enthält sich selbst mangels objektiver Kriterien einer Bewertung. Im außen- und sicherheitspolitischen Bereich sind die künftigen Entwicklungen insbesondere von dem Verhalten anderer Staaten abhängig und entziehen sich daher der alleinigen Bestimmung durch die Bundesrepublik. Diese Abhängigkeit von dem Verhalten anderer Staaten stellt das Bundesverfassungsgericht auch in der Entscheidung zur NATO-Nachrüstung in den Vordergrund 351 . Ein Einschätzungs- und Prognosespielraum der Bundesregierung bestand hier hinsichtlich der Erforderlichkeit der Nachrüstung mit amerikanischen Mittelstreckenwaffen als Antwort auf sowjetische Rüstungsmaßnahmen 352 . Die Einschätzungsprärogative erstreckt sich auf die Ausgestaltung der militärischen Abschreckung im einzelnen353 und insbesondere auf die Frage, welche Reaktionen sie bei anderen Staaten hervorrufen würde 354 . Letztlich geht es um den Spielraum, der den politischen Gewalten bei der Entscheidung darüber zusteht, wie sie ihrer Pflicht zum Schutz der Bürger gegen Bedrohungen des Staates von außen gerecht werden können. Das Gericht stellt diese Rechtspflicht des Staates klar und läßt im übrigen bei der Wahl der Mittel einen weiten Spielraum, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen 355.
349
BVerfGE 4, 157 (175).
350
Anders offenbar Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 967; Billing , S. 170 f.; Schuppert, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 100 ff. 351
BVerfGE 68, 1.
352
BVerfGE 68, 1 (96 f.).
353
So etwa auf die Frage, ob eine qualitativ neue strategische Dimension durch die neue Waffentechnologie erreicht worden sei (S. 102 f.), ob die technischen Eigenschaften den Abschrekkungszweck stärken und ein "Krieg aus Versehen" durch technische Vorkehrungen ausgeschlossen sei (S. 104). 354
Risiko eines Präventivkriegs der Sowjetunion (S. 103) und Frage, ob sich die Bündnispartner an ihre völkerrechtlichen und bündnisvertraglichen Verpflichtungen, die einen Einsatz der Atomwaffen regeln, halten würden (S. 106). 355
Vgl. auch BVerfGE 77, 170 (Leitsatz 2, 214 f., 229 f.) - C-Waffen-Entscheidung.
252
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Vergleichbare Erwägungen stellt das Bundesverfassungsgericht im Hess-Urteil 3 5 6 in den Vordergrund 357 . Das Bundesverfassungsgericht ließ die Frage der Vereinbarkeit der Inhaftierung Hess' mit dem Völkerrecht mit der Begründung offen, nach Einschätzung der Bundesregierung seien die drei westlichen Mächte ohnehin nur humanitären Erwägungen zugänglich und hätten grundsätzliche Einwände dagegen, die Frage der Rechtmäßigkeit der Verurteilung und Inhaftierung des Beschwerdeführers aufzuwerfen 358. Selbst eine nach Auffassung eines deutschen Gerichts völkerrechtlich unzutreffende Rechtsauffassung, von der die Bundesregierung bei der Ermessensausübung ausgegangen sein mochte, hätte daher keinen Ermessensfehler dargestellt. Der Behauptung des eigenen Rechtsstandpunkts durch einen Staat komme auf der internationalen Ebene eine sehr viel größere Tragweite zu als in einer innerstaatlichen Rechtsordnung, da nur das Auftreten mit "einheitlicher Stimme" die Interessen der Bundesrepublik wahren könne 359 . Inhaltlich - und auch in der Formulierung 360 - wird die Parallele zur Argumentation der politicai question doctrine der amerikanischen Gerichte deutlich. Insoweit wird im Ergebnis der Einschätzungsspielraum der Bundesregierung sogar auf (völker-) rechtliche Fragen ausgedehnt361. Die vom Prognosespielraum umfaßten Fragen sind einer objektiven Beweiserhebung durch das Bundesverfassungsgericht nicht zugänglich. Die Entscheidungen in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes haben diesen Zusammenhang zwischen der Einschätzung der politischen Rahmenbedingungen und den Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts ebenfalls deutlich werden lassen. Bei der tatsächlichen Aufklärung der Zusammenhänge im außen- und sicherheitspolitischen Bereich ist das Bundesverfassungsgericht vor allem auf Informationen der Bundesregierung angewiesen. Es zieht jedoch soweit wie möglich auch von dieser unabhängige Informationen heran, so die Auskünfte durch andere Staaten362, von Vertretern internationaler Organisationen 363 oder
356
BVerfGE 55, 349 (365) im Wortlaut zitiert oben S. 273.
357
Zur vergleichbaren Frage des Ermessensspielraums beim Schutz gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen im Staatsinneren vgl. BVerfGE 46, 160 (165 f.) - Schleyer. 358
BVerfGE 55, 349 (366 f.).
339
BVerfGE 55, 349 (367 f.).
360
"one voice "-Argument siehe oben 2. Teil A.II. 1. Kriterium (6) in Baker v. Carr : "the potentiality of embarrasment from multifarious pronouncments by various departments on one question". 361 In der Regel entscheidet das Bundesverfassungsgericht selbst über Völkerrecht, vgl. nur BVerfGE 77, 137 (150 ff., 160 ff.). 362 Zum Maastricht-Vertrag beispielsweise die Entscheidungen anderer europäischer Verfassungsgerichte, H.H.Klein, Maastrichter Vertrag, S. 14 ff.
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
253
auch Presseberichte 364. Die Komplexität der Zusammenhänge verhindert jedoch eine umfassende unabhängige Aufklärung ebenso wie das Fehlen unabhängiger Sachverständiger 365. Informationen werden immer nur durch "interessierte " Parteien des Verfahrens bereitgestellt 366.
b) Sachverhaltsaufklärung als Kompetenzproblem Die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht die Wechselwirkung zwischen der verfassungsgerichtlichen Sachverhaltsaufklärung und der Bemessung des Wertungs- und Prognosespielraums der politischen Organe 367 . Zum einen bemißt sich letzterer nach den justiziellen Aufklärungsmöglichkeiten. Zum anderen beinhaltet die Befugnis zur Tatsachenfeststellung und zur Kontrolle von Prognoseentscheidungen ein Kompetenzproblem 368. Denn die Gegenüberstellung von Tatsachen und Rechtsfragen bedeutet nicht, daß die Prüfung "reiner Rechtsfragen" möglich wäre; diesen liegt immer ein konkreter Sachverhalt zugrunde 369. Ebenso wie die politischen Verfassungsorgane zunächst die Verfassungsmäßigkeit der ins Auge gefaßten Maßnahme selbst beurteilen müssen, haben sie den tatsächlichen Hintergrund zu klären und die Fol-
363
ïn der Verhandlung zum Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im AWACSVerfahren z.B. den Generalsekretär der NATO. Im Maastricht-Urteil v. 12.10.1993, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, Auskünfte zur Vertragsauslegung durch die Organe der Europäischen Gemeinschaft, S. 23 des Urteils, insoweit nicht in NJW 1993, 3047. 364 Der Fragenkatalog zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung im Somalia-Verfahren knüpfte in zahlreichen Aspekten an die Presseberichterstattung an. 365 Zur zunehmenden Abhängigkeit sachgerechter, moderner Staatstätigkeit von der Beratung durch Sachverständige vgl. allgemein Vierhaus, Sachverstand als Vierte Gewalt?, N V w Z 1993, 36 ff.. Eine stärkere Einbeziehung politikwissenschaftlicher Erkenntnisse läßt sich aus den bisherigen Verfahren des Bundesverfassungsgerichts nicht erkennen. Vgl. auch v.Beyme, Verfassungsgerichtsbarkeit und Policy Analysis, in: Festschrift für Rudolf Wassermann, 1985, S. 259-277. 366
Zum Saar-Statut etwa die Angaben der Vertragsschließenden über das Ausmaß des Erreichbaren, BVerfGE 4, 157 (178); Somalia-Anordnungsverfahren: Antworten auf den Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts durch die Bundesregierung. 367
Vgl. auch Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971.
368
Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. I, S. 467 ff. 369
Vgl. auch Kotinek, Die Tatsachenermittlung im verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Stern, 40 Jahre Grundgesetz. Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, 1990, S. 110 f., zu der Frage im Zusammenhang mit den Normenkontrollverfahren, ob der Gesetzgeber "nur das Gesetz", d.h. eine rechtlich korrekte Regelung schuldet und das Verfassungsgericht auf die Kontrolle der Wertungen des Gesetzgebers verzichten soll.
254
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
gen abzuschätzen. Das Verfassungsgericht darf sich nun nicht auf die Nachprüfung der Feststellungen und Prognosen der politischen Organe zurückziehen, sondern muß den tatsächlichen Hintergrund einer Maßnahme und ihre Folgen selbst beurteilen 370 . Die Sachverhaltsaufklärung wird in diesem Sinne zum essentiellen Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 371 . Die unterschiedliche Ausgestaltung der Methoden der Sachverhaltsgewinnung und ihre verfahrensrechtliche Einbindung beinhalten praktisch wichtige Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit angesichts der großen materiell-rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Dem entspricht auch das verfahrensrechtliche Instrumentarium des Bundesverfassungsgerichts. Es gilt nach § 26 BVerfGG der Untersuchungsgrundsatz 372 , bei dessen verfahrensrechtlicher Umsetzung das Bundesverfassungsgericht - insbesondere auch im internationalen Vergleich der Verfassungsgerichtsbarkeiten 373 - große Freiheit besitzt 374 . Der Kreis der Äußerungsberechtigten wird vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt wegen der politischen Bedeutung seiner Entscheidungen flexibler gehandhabt als vor anderen Gerichten. Die Erkenntnismöglichkeiten umfassen neben der Unterstützung aller Gerichte und Verwaltungsbehörden der Bundesrepublik (§ 27 BVerfGG) und der Einvernahme von Zeugen und Sachverständigen (§ 28 BVerfGG) auch die Außerungsrechte 375 der nicht unmittelbar am Verfahren beteiligten Bundes- und Landesorgane (z.B. §§ 77, 65 Abs. 2 BVerfGG) und das Ersuchen um Stellungnahmen von Personen mit besonderer Sachkenntnis (§22 Abs. 4 GeschOBVerfG) 376 . Über die Geheimhaltung von Informationen entscheidet das Bundesverfassungsgericht in eigener Verantwortung (§§26 Abs. 2, 28 Abs. 2 S. 2 BVerfGG, vgl. auch § 17 BVerfGG i.V.m. § 174 Abs. 2 GVG) 3 7 7 . Einen vor der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ausgenommenen Kernbereich des Regierungshandelns hat das Bundesverfassungsgericht
370
Korinek,
371
Ossenbühl, S. 469.
372
Benda/Klein,
373
Kotinek, S. 115 f.
S. 117.
Verfassungsprozeßrecht, Rn. 203 ff.; Maunz u.a., BVerfGG, Art. 26.
374
Diese erstarkt freilich nicht zu einer Verfahrensautonomie; vgl. Benda/Klein, ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 54. 373
Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 62.
376
Vgl. auch BVerfGE 54, 173 (203).
377 Maunz u.a., BVerfGG, Art. 26 Rn. 13; Vgl. auch Zeitler, kerrechtlicher Vertrag, S. 204 ff.
Rn. 124, 129
Verfassungsgericht und völ-
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
255
zumindest nicht ausdrücklich anerkannt 378. Im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Flick-Untersuchungsausschuß hat es allerdings auf einen vom Parlament grundsätzlich nicht ausforschbaren "Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich" der Bundesregierung verwiesen 379, der die Willensbildung der Regierung selbst, die Vorbereitung ihrer Entscheidungen und ihre internen Abstimmungsprozesse umfaßt. Wenn das Bundesverfassungsgericht hier das fragliche Aktenvorlagerecht des Untersuchungsausschusses zum Wesenkerns des parlamentarischen Enqueterechts zählt, dürfte die Argumentation auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle übertragbar sein und damit eine äußerste Schranke der verfassungsgerichtlichen Aufklärungsmöglichkeiten bezeichnen. Die weitreichenden, flexiblen Aufklärungsmöglichkeiten werden vom Bundesverfassungsgericht auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich ausgeschöpft 380. Daß die "Möglichkeit, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden" 381 hier aus tatsächlichen Gründen gleichwohl erheblich eingeschränkt ist, rechtfertigt - gemeinsam mit den weiteren Besonderheiten des Sachbereichs - unter funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten die Anerkennung eines Wertungs- und Prognosespielraums der politischen Organe 382.
7. Stellungnahme Nach der Analyse der einzelnen Auslegungsgrundsätze kann die zu Beginn getroffene Charakterisierung des bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs präzisiert werden. Evidenzkontrolle bedeutet keine Absage an die recht-
378
In BVerfGE 6, 309 - Konkordatsurteil - hielt das Gericht nach einer sehr umfangreichen Vorlage weitere Dokumente nicht fur erforderlich und berücksichtigte einen geschützten Kernbereich nur faktisch, ohne diesen rechtlich anzuerkennen. Vgl. dagegen die Argumentation von Grewe, in: Giese/ v. d. Heydte, Konkordatsprozeß (Dokumentation), 1959, S. 1499 ff.. Siehe auch BVerfGE 36, 1 (12) - Grundvertrag: Vorlage aller Protokolle aus Beratungen der gesetzgebenden Körperschaft. 379
BVerfGE 67, 100 (139). Vgl. auch BayVerfGH DVB1. 1986, 233.
380
Die Erfahrung der Verfahren zum Auslandseinsatz der Bundeswehr sprechen gegen die These von Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 210 f., daß im Organstreit eine Beweiserhebung in der Regel nicht erforderlich und das Bundesverfassungsgericht in der Praxis nicht besonders beweiserhebungsfreudig sei. 381
Zu diesem und weiteren Kriterien der Begründung des verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs vgl. 3. Teil C . L I . 382 Zu den Rückwirkungen des Evidenzmaßstabs auf die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung vgl. auch Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 216, die damit zugleich den engen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung bei der Wahl des Prüfungsmaßstabs verdeutlichen.
256
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
liehe Überprüfung im außen- und sicherheitspolitischen Bereich. Mit den genannten Auslegungsgrundsätzen paßt die Rechtsprechung die Kontrolldichte den rechtlichen und tatsächlichen Eigenarten des außen- und sicherheitspolitischen Bereichs an. Die Kontrolle des Ermessens der politischen Organe im außen- und sicherheitspolitischen Bereich erstreckt sich auf das mit der außen- und sicherheitspolitischen Maßnahme angestrebte Ziel, d.h. auf seine Verfassungsmäßigkeit und auf seine Vereinbarkeit mit einem hinreichend bestimmten Integrationsprogramm. Auf die bloße Willkürkontrolle beschränkt ist die Überprüfung des zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten Mittels. Unverzichtbare Verfassungsgrundsätze dürfen in keinem Fall angetastet werden. Die Auslegungsgrundsätze beinhalten verwandte Grundgedanken, so daß es zu Überschneidungen kommt. Insbesondere finden sich die Berücksichtigung der politischen Ausgangslage und die Folgenberücksichtigung in anderen Auslegungsgrundsätzen wieder. Die verschiedenen Topos greifen ineinander. In der Begründung des Maastricht-Urteils zieht das Bundesverfassungsgericht die verfassungskonforme Auslegung des Unions-Vertrags nach den aus Art. 38 GG entwickelten Anforderungen des Demokratieprinzips als einem unverzichtbaren Verfassungsgrundsatz zur Bestimmung des Integrationsprogramms der Europäischen Union heran. Innerhalb des so bestimmten Integrationsprogramms besteht ein Gestaltungsspielraum der zuständigen politischen Organe, der im Maastricht-Urteil weit enger gefaßt ist als etwa in dem für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich typischen Urteil zur NATO-Nachrüstung. Die spezifisch für außenpolitische Sachverhalte entwickelten Auslegungsgrundsätze ergänzen die herkömmlichen Auslegungsmethoden (Interpretation nach Wortlaut, Systematik, Gesetzgebungsgeschichte und Sinn und Zweck einer Verfassungsnorm). Sie sind nicht als formelle Regeln gegenüber der Sache verselbständigt, sondern wurden den spezifischen Gegebenheiten des außen- und sicherheitspolitischen Bereichs entsprechend entwickelt. Für die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind sie von Bedeutung, da sie die Verteilung der Aufgaben der Verfassungsinterpretation auf die verschiedenen Verfassungsorgane betreffen. Die Auslegungsgrundsätze beinhalten in diesem Sinne sachliche Entscheidungsregeln 383, insbesondere die Erwägungen zum
383 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 72 f., spricht von "am Problem entwickelten sachlichen Regeln für Problemlösungen" und unterscheidet funktionellrechtliche (verfassungskonforme Auslegung und political question doctrine) und materiell-rechtliche (im Grundrechtsbereich "in dubio pro libertate", Grundrechtseffektivität) Interpretationsprinzipien.
C. Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten
257
Integrationsprogramm, zur Völkerrechtsfreundlichkeit und internationalen Offenheit des Grundgesetzes haben einen materiellen Gehalt, der die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Kooperation bei der Anwendung einzelner Verfassungsbestimmungen konkretisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, je nach den Besonderheiten des Einzelfalls einen Ausgleich mit anderen unverzichtbaren Verfassungsgrundsätzen herzustellen. In diesem vom Bundesverfassungsgericht zu treffenden Ausgleich spiegelt sich stets das den außen- und sicherheitspolitischen Bereich prägende Spannungsverhältnis zwischen der internationalen Offenheit und Einbindung der Bundesrepublik und der Wahrung ihrer Eigenstaatlichkeit wider. Ein pauschaler Vorrang der internationalen Offenheit gegenüber anderen Grundentscheidungen der Verfassung läßt sich selbstverständlich nicht annehmen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag hat dies jüngst anschaulich gemacht. Das Verfassungsziel der europäischen Integration darf nicht auf Kosten der grundlegenden Gesichtspunkte des Demokratieprinzips, die auch auf der supranationalen Ebene durch das Grundgesetz verbürgt sind, realisiert werden. Unverzichtbare Verfassungsgrundsätze vor allem im Grundrechtsbereich und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz hat das Bundesverfassungsgericht auch zuvor in seinen Entscheidungen zur europäischen Integration konkretisiert 384 . Eine allzu unbefangene "integrationsfreundliche Auslegung" 385 kann nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr fortgeführt werden. Eine "immer engere Union" 3 8 6 kann nur über die doppelte demokratische Legitimation - durch den Ausbau der europäischen Demokratie und die fortdauernde Beteiligung der nationalen Parlamente mit Kompetenzen von substantiellem Gewicht - realisiert werden. Das bedeutet zwar entgegen der Befürchtung Meessens 387 kein "Festschreiben des Stillstands der Integration", denn das Urteil will nur eine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union und einen Automatismus beim Fortgang der Integration ausschließen, nicht aber eine Vertiefung der Integration, an der die nationalen Parlamente beteiligt werden. Richtig ist aber, daß die Tendenz deutlich wird, durch die Betonung der unverzichtbaren Verfas-
384 BVerfGE 37, 271 - Solange I; 73, 339 - Solange II. Im Überblick jüngst Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, NJW 1994, 549. 385
Meessen, S. 554.
386
Art. A Abs. 2 EUV.
387
Meessen, S. 553 f.
17 Schwarz
258
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
sungsgrundsätze auch die Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik und die Identität des Grundgesetzes zu wahren 388 . Diese Tendenz in der Rechtsprechung kontrastiert mit der Betonung der internationalen Kooperation und Integration, die durch die Interpretationsprinzipien der Völkerrechtsfreundlichkeit und Offenheit des Grundgesetzes geboten erscheinen. Sie rechtfertigt sich aber aus den unterschiedlichen Eigenheiten der Sachbereiche hinsichtlich der betroffenen Rechtsgüter und der normativen Ausgestaltung durch die Verfassung 389. Im Rahmen der europäischen Integration ist die nationale Verfassungsordnung durch die Übertragung von Hoheitsrechten und Rechtsetzungsbefugnissen bereits soweit geöffnet, daß der einzelne Bürger in vielfacher Weise durch die Hoheitsakte der Union unmittelbar berührt und die innerstaatliche Ordnung durch Gemeinschaftsakte entscheidend geprägt wird. Einer Eigendynamik der Integration kann aber und muß durch die Betonung der Verfassungsgrundsätze des Grundgesetzes vorgebeugt werden. Die Kooperation und Integration im außen- und sicherheitspolitischen Bereich ist dagegen anderer Prägung. Sie betrifft das Staatsganze und ist insofern nicht etwa von geringerem Gewicht. Jedoch ist der einzelne Bürger durch die nach außen gerichteten Maßnahmen im Regelfall allenfalls mittelbar, etwa durch die Reaktion anderer Staaten betroffen. Die Integration im Bündnis erlaubt keine Eingriffe in die innerstaatliche Ordnung ohne die Zustimmung der Bundesregierung 390. Die Integration und internationale Kooperation im Bündnis ist ebenfalls an die anderen Verfassungsgrundsätze gebunden. Sie ist aber (noch) nicht soweit fortgeschritten wie im europäischen Rahmen. Das Grundgesetz verdeutlicht diese unterschiedliche Qualität der internationalen Einbindung in Art. 23 n.F. und 24 GG. Die Verwirklichung eines vereinten Europa wird in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an materielle Vorgaben gebunden, die die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspiegeln. Art. 24 Abs. 1 und 2 GG knüpft die Übertragung oder Beschränkung von Hoheitsrechten an keine speziellen materiellen Voraussetzungen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist eine Beteiligung des Bundesrates nicht vorgesehen, während Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG diese für die Europäische Union stets vorsieht. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG indiziert darüberhinaus die
388 Kirchhof,\ Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V I I , 1992, S. 855-888. 389 Zu diesen Kriterien bei der Auswahl eines Kontrollmaßstabs durch das Bundesverfassungsgericht vgl. bereits oben 3. Teil C . I . l . 390 So deutlich das Bundesverfassungsgericht in den Nachrüstungs- und C-Waffen-Entscheidungen, BVerfGE 66, 39; 68, 1; 77, 170.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
259
Tragweite, die der europäischen Integration für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes bei der Neufassung des Art. 23 GG zugemessen wurde. Der Vertrag über die Europäische Union selbst unterstreicht schließlich die unterschiedliche Qualität der internationalen Kooperation im außen- und sicherheitspolitischen Bereich, in dem die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als allgemein formulierte Zielsetzung gefaßt und nicht zu einem Bereich mit eigener Rechtssetzungskompetenz der Union ausgestaltet ist. Von der Supranationalität des Europarechts wird die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anders als insbesondere der wirtschaftliche Bereich nicht erfaßt. Anders als in diesen Zentralbereichen der europäischen Integration, die nach der MaastrichtEntscheidung eine Betonung der Verfassungsgrundsätze geboten erscheinen läßt, ist im außen- und sicherheitspolitischen Bereich erst noch auf das nach dem Grundgesetz angelegte Maß einer internationalen Kooperation hinzuarbeiten.
D. Einschätzumgsprärogative bei der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte
Der Einsatz der Streitkräfte der Bundeswehr ist in der jüngsten Zeit sowohl unter politischem als auch unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel das Kardinalproblem der sicherheitspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. Die materielle Verfassungsrechtslage bildet das Fundament nicht nur der sicherheitspolitischen Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit, sondern vor allem auch der Analyse und Einordnung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im sicherheitspolitischen Bereich. Mit den Verfahren zum Auslandseinsatz der Bundeswehr nimmt das Bundesverfassungsgericht erstmals zum Streitkräfteeinsatz Stellung 391 . Den Ausgangspunkt bildet der Streit in der Verfassungsrechtslehre. Im Zusammenhang mit der Themenstellung der vorliegenden Arbeit kann es hier insoweit nicht um die vollständige Erörterung aller Varianten gehen 392 . Der folgende Überblick behandelt vielmehr die
391 Dies steht in deutlichem Gegensatz zur Konkretisierung und Fortbildung des US-Verfassungsrechts durch die Rechtsprechung seit der Verfassungsgebung 1787. 392
Zur eingehenden monographischen Behandlung vgl. aus jüngerer Zeit Bartice, Verteidigungsauftrag der Bundeswehr, 1991; v. Biilow, Der Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung, 1984; Coridaß, Der Auslandseinsatz von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee, 1985; Hoffmann , Bundeswehr und UN-Friedenssicherung, 1991; Riedel, Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland, 1989; Schopohl, Der Außeneinsatz der Streitkräfte im Frieden, 1991; zu Kommentarli17*
260
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
zentralen Interpretationsgesichtspunkte und faßt den Meinungsstand in der Verfassungsrechtslehre zusammen393. Gegenstand der Untersuchung sind vor allem die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Auslegung des materiellen Verfassungsrechts und die Konsequenzen der oben dargestellten Auslegungsgrundsätze. Wie bereits im Zusammenhang mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen der jüngsten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dargelegt wurde, sind nach dem Verfassungsrecht zwei Komplexe von einander zu unterscheiden. Zum einen geht es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Streitkräfteeinsatzes nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (Auslegung der Art. 87a Abs. 2 und 24 Abs. 2 GG), zum anderen um die Frage, welches Bundesorgan über den Streitkräfteeinsatz im konkreten Fall zu entscheiden hat (Organkompetenz).
/. Konsequenzen für den Streit um die Auslegung der Art. 87a Abs. 2 und 24 Abs. 2 GG 1. Politische Stellungnahmen und Meinungsstand in der Verfassungsrechtslehre Keine verfassungsrechtliche Bindungswirkung entfaltet die in der Vergangenheit von Politikern in verschiedenen Varianten stets wiederholte Behauptung, Bundeswehreinsätze im Ausland seien außer zur Verteidigung der Bundesrepublik aus verfassungsrechtlichen Gründen generell ausgeschlossen394. Ist die Entstehung von Verfassungsgewohnheitsrecht angesichts der positiven Bestimmungen des Grundgesetzes und des besonderen Schutzes seines Wortlauts durch Art. 79 Abs. 1 GG bereits an sich fraglich 395 , sind im hier zu entscheidenden Fall des Streitkräfteeinsatzes auch die allgemeinen Voraus-
teratur und Aufsätzen vgl. die folgenden Nachweise, richtungsweisend K. Ipsen, Einsatz der Bundeswehr, in: K. Schwarz, Sicherheitspolitik, S. 615 ff. 393 Uberblick mit Schwerpunkt auf "Blauhelm"-Einsätzen bei Gornig, Die Verfassungsmäßigkeit der Entsendung von Bundeswehrsoldaten zu "Blauhelm"-Einsätzen, JZ 1993, 123 ff.; Gomig, Eine Verfassungsänderung ist nicht erforderlich. Uber die Zulässigkeit des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten im Ausland, in: Truppenpraxis 5/1993, S. 571-579; zum Streitstand auch Bartke, S. 67 ff. 394
Zu "Blauhelm"-Einsätzen vgl. die Nachweise bei Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung ftir die internationale Offenheit, S. 501 Fn. 81. 393
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 446 ff., 432.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
261
Setzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht, die jedenfalls auch für die Entstehung von Verfassungsgewohnheitsrecht vorliegen müssen, nicht erfüllt 3 9 6 . Es fehlt sowohl an einer langandauernden Praxis als auch an einer diese Praxis tragenden übereinstimmenden Rechtsauffassung. Der Zeitraum seit der letzten Novelle der sogenannten Wehrverfassung des Grundgesetzes im Jahre 1968 ist relativ kurz und in ihm engagierte sich die Bundeswehr auch im Rahmen von UNO-Aktionen in verschiedenen Varianten 397 . Von Beginn war die Hauptaufgabe (Verteidigung) der Bundeswehr anerkannt, jedoch die nähere Abgrenzung dessen, was noch als Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes zu gelten habe, umstritten. In der verfassungsrechtlichen Literatur wurde stets eine strenge Restriktion von Bundeswehreinsätzen bestritten 398. Die Stellungnahmen spiegeln mithin lediglich die sicherheitspolitische Entscheidung wider, angesichts der ungeklärten Verfassungslage von den verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeiten eines Streitkräfteeinsatzes keinen Gebrauch zu machen. Eine verbindliche Aussage über die Verfassungsrechtslage konnten sie nicht beinhalten. Der Streit in der Verfassungsrechtslehre kreist insbesondere um die Auslegungen der zentralen Verfassungsvorschriften der Art. 87 a Abs. 2 und 24 Abs. 2 GG. Die Vielfalt der widerstreitenden Auslegungsvarianten entspricht dabei der Bandbreite denkbarer Einsatzkonstellationen. Sie reicht von restriktiven Auffassungen, die den Streitkräfteeinsatz auf die Verteidigung der Bundesrepublik im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das deutsche Territorium beschränken und von der förmlichen Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 115 a Abs. 1 GG abhängig machen wollen, über die Zulassung von Verteidigungseinsätzen auch zugunsten der Bündnispartner in NATO und WEU bis zu weitergehenden Interpretationen, die die Streitkräfteeinsätze als notwendigen Bestandteil des Engagements der Bundesrepublik in internationalen Organisationen betrachten und sie auch über die nationale Verteidigung im engeren Sinn hinaus für zulässig erachten. Friedenserhaltende und friedens-
396
Zur Entstehung von Gewohnheitsrecht allgemein vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S.
446 ff. 397 Zum UNO-Engagement der Bundeswehr durch Transporthilfe, Sanitäter u.a. Krüger-Sprengel, Fragen der Auftragserfüllung der Bundeswehr im internationalen Einsatz, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 115 und Diskussionsbeitrag auf S. 89. Siehe auch Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 123 Fn. 1; Arndt, Verfassungsrechtliche Anforderungen an internationale Bundeswehreinsätze, NJW 1994, 2197-2199; Nolte, Die "neuen Aufgaben" von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994), 95-123. 398 So bereits 1976 Klpsen, Der Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung, im Spannungs- und Verteidigungsfall sowie im internen bewaffneten Konflikt, in: K.-D. Schwarz, Sicherheitspolitik, S. 615-637.
262
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
schaffende Maßnahmen der UNO zählen hierher. Die extensivsten Auslegungen gehen hierüber noch hinaus. Nach ihnen steht dem Auslandseinsatz der Bundeswehr - auch unabhängig von einer Einbindung in internationale Organisationen - Art. 87a Abs. 2 GG nicht entgegen; verfassungsrechtliche Beschränkungen ergeben sich hiernach allein aus Art. 25, 26 GG und den allgemeinen Verfassungsgrundsätzen.
2. Regelungsbereich des Art. 87a GG Zentralnorm über die Aufstellung und die Befugnisse der Streitkräfte - und damit der Ausgangspunkt des Streits um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einsätze der Streitkräfte - ist Art. 87a GG 3 9 9 . Bereits in seinem Abs. 1 S. 1 wird die Verteidigung als die Hauptfunktion der Streitkräfte charakterisiert 400 . Indem Abs. 2 bestimmt, daß die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, wenn das Grundgesetz es ausdrücklich bestimmt, wird diese Hauptfunktion erneut klargestellt 401 . Über diesen "Minimalkonsens" hinaus ist jedoch umstritten, welche weiteren Aufgaben die Bundeswehr im internationalen Bereich noch übernehmen kann. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundlagen eines internationalen Streitkräfteeinsatzes ist bereits umstritten, ob der Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG sich nur auf die Einsätze im inneren bezieht oder auch die Außeneinsätze abschließend regelt. Für die Beschränkung des Regelungsbereichs auf die Inneneinsätze402 sprechen gewichtige Gründe. Insbesondere besteht ein enger systematischer Zusammenhang403 mit den Abs. 3 und 4 des Art. 87a GG, die sich ausschließlich auf die Inneneinsätze der Bundeswehr zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beziehen. Zweck der Regelung ist es, die Staatsbürger durch eine abschließende und ausschließliche Regelung nach dem Enumerations-
399
Im Jahre 1968 in den Verfassungstext eingeführt, BGBl. I, S. 709 ff., 711.
400
K.Ipsen, Einsatz, S. 615; F.Kirchhof,
Bundeswehr, Rn. 24.
401
K.Ipsen, Einsatz, S. 615. In den Art. 35 und 87a Abs. 3, 4 GG ist daneben der Einsatz zur Nothilfe und zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung besonders geregelt. 402
Blumenwitz, Einsatz, S. 135; Diirig in Maunz/Dürig, Art. 87a Rn. 33, 36; K.Ipsen, Einsatz, S. 615, 625; K.Ipsen in BK, Art. 87a Rn. 32; F.Kirchhof Bundeswehr, Rn. 31; Stein, Landesverteidigung, S. 941 ff.; Stein, Verfassungsrechtlich Zulässigkeit, S. 23 ff.; Thalmair, S. 204. 403 Hierzu zählt auch die Einordnung in das VIII. Kapitel des GG über die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
263
prinzip vor der Ableitung ungeschriebener Aufgaben oder Zuständigkeiten aus der Natur der Sache zu schützen404. Diese Auffassung sieht den Auslandseinsatz im Grundgesetz nicht geregelt und folgert daraus seine Zulässigkeit 405 . Sie führt gleichwohl nicht zu einer völligen Schrankenlosigkeit des Bundeswehreinsatzes. Vielmehr ergibt sich eine Begrenzung durch völkerrechtliche Grundsätze, insbesondere aus dem Verteidigungsbegriff und den Art. 25 und 26 GG. Maßgeblich sind dementsprechend insbesondere das Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 3, 4 UNO-Charta und die Schranken des Rechts der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 UNO-Charta. Ebenso bleibt die Bindung an andere Verfassungsgrundsätze und den Grundrechtsschutz bestehen. Daß der durch die Notstandsnovelle von 1968 neu gefaßte Art. 87a GG 4 0 6 den Art. 143 GG a.F. 4 0 7 ersetzte, der den Streitkräfteeinsatz in Fällen des inneren Notstands regelte 408 , spricht ebenfalls für die enge Ausle409
gung . Andererseits legt der allgemein formulierte Wortlaut, der Verteidigung und andere Einsatzformen gleichermaßen anspricht, die Unterscheidung von Inlands» und Auslandseinsätzen und damit die genannte Beschränkung des Regelungsbereichs auf Inneneinsätze nicht nahe410. Für die Gegenauffassungen ist
404 K.lpsen, Einsatz, S. 615. Vgl auch die Ausführungen des Rechtsausschusses des Bundestags, BT-Drucks. 5/2873, S. 13. 405 An sich ist mit der Feststellung, daß Art. 87a GG die Außeneinsätze der Bundeswehr nicht regelt, noch nichts über deren Verfassungsmäßigkeit gesagt. Denn die "Nicht-Regelung" der Einsatzmöglichkeiten kann ebensogut deren Freigabe bedeuten wie deren Ausschluß, etwa aufgrund systematischer oder historischer Erwägungen. Soweit ersichtlich wird letztere Konsequenz von den Vertretern der Beschränkung des Art. 87a Abs. 2 GG auf Inneneinsätze aber nicht gezogen. K.lpsen, Einsatz, S. 617 ff.; Blumenwitz, Einsatz, S. 135 ff.. Wie hier aufgrund der Analyse der Entstehungsgeschichte Hopfauj\ S. 324. 406 Art. 87a GG a.F. von 1956 hatte einen kompetenz- und haushaltsrechtlichen Regelungsgehalt: "Die zahlenmäßige Stärke der vom Bunde zur Verteidigung aufgestellten Streitkräfte und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben." 407
Eingefügt durch die Wehrnovelle von 1956.
408
v.Bülow, Einsatz, S. 202 f.; Kind, Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung, S. 139, 141 ff.; Thalmai r, S. 203. 409
Allerdings nehmen auch die gegenteiligen Auffassungen Argumente der Entstehungsgeschichte für sich in Anspruch. So auch Bartke, S. 51 ff., 101 ff.; vgl. auch Arndt, Bundeswehreinsatz für die UNO, 618 ff.; Arndt, Verfassungsrechtliche Anforderungen an internationale Bundeswehreinsätze, NJW 1994, 2197-2199. Zur historischen Entwicklung der Entscheidung über Krieg und Frieden seit dem Mittelalter vgl. Rieder, Entscheidung über Krieg und Frieden, besprochen durch Emde in NZWehrr 1992, S. 191 ff. 410
Preuß, Bundeswehr, S. 265; Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 124: Auch die Verteidigung ist nicht auf das Territorium der Bundesrepublik beschränkt. Zum Verteidigungsbegriff im einzelnen unten 3. Teil D.I.4.
264
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
aber vor allem ein weiteres Verständnis des Normzwecks maßgeblich. Die Eröffnung eines "Freiraums", der allein durch die genannten Völkerrechtsregeln und durch die Mitgliedschaft in Bündnissystemen begrenzt wird, ist danach "gänzlich unvorstellbar" 411 . In der Tat sprechen die schwerwiegenden Konsequenzen, die sich für Deutschland als Ganzes - und damit für alle Staatsbürger - aus einem internationalen Bundeswehreinsatz ergeben können, und die historischen Erfahrungen aus der Zeit des Militärregimes des "Dritten Reichs" eher für eine normative Einbindung der Bundeswehreinsätze auch auf der Ebene des Verfassungsrechts. Art. 87a Abs. 2 GG ist daher nach diesen Literaturmeinungen als Maßstabsnorm auch für die Außeneinsätze der Streitkräfte zu qualifizieren. Die erstgenannte Auffassung gewährt den politischen Organen einen maximalen Entscheidungsspielraum. Auch die letztgenannten Auffassungen beinhalten aber z.T. insbesondere hinsichtlich der Frage von UN-Einsätzen der Bundeswehr einen nahezu ebenso großen Entscheidungsspielraum, der sich aus dem im folgenden zu behandelnden Verständnis der Tatbestandsmerkmale "Einsatz", "Verteidigung" und aus dem systematischen Zusammenhang mit anderen Verfassungsbestimmungen ergibt.
3. Einsatz Dem in Art. 87a Abs. 2 GG geregelten Einsatz der Streitkräfte werden in der Lehre zum Teil andere Verwendungen der Streitkräfte ohne Einsatzqualität gegenübergestellt, für die ein Verfassungsvorbehalt nicht besteht. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 87a Abs. 2 GG wird zwar deutlich, daß die Formulierung "eingesetzt werden" bewußt gewählt wurde, um untergeordnete Verwendungen der Bundeswehr vom Enumerationsprinzip und seinen Restriktionen freizustellen, etwa die Ernte-"Einsätze" oder protokollarische Auftritte der Bundeswehr. Hiervon ausgehend ist in der Lehre ein heftiger Streit um eine positive Definition des Einsatzbegriffs entbrannt 412. Zum Teil wird für einen Einsatz entscheidend auf die Verwendung von Waffen abgestellt, so daß nur Gefechts- und Kampfeinsätze den Beschränkun-
4.1 Preuß, Bundeswehr, S. 265. Er bringt sein Unbehagen über eine mangelnde verfassungsrechtliche Begrenzung bereits in dem Titel "Die Bundeswehr - Hausgut der Regierung?" unmißverständlich zum Ausdruck. 4.2
Vgl. Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 125.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
265
gen des Art. 87a Abs. 2 GG unterfallen 413. Wortlaut und Entstehungsgeschichte sprechen jedoch gegen eine Differenzierung nach bewaffneten und unbewaffneten Einsätzen414. In der Praxis läßt sich diese Unterscheidung auch kaum durchführen 415 , denn zweifelhaft ist bereits, ob auf den einzelnen Soldaten, die Einheit, der er angehört, oder gar auf die Gesamtkonzeption der Mission, d.h. auf Ausrüstung anderer beteiligter Einheiten, mit denen die deutschen Soldaten etwa zusammenwirken, abzustellen ist 416 . Zudem sind die Soldaten selbst bei humanitären Aufgaben im Auftrag der UNO im internationalen Einsatz zur Selbstverteidigung - und gegebenenfalls auch zur Verteidigung ihres Auftrags 417 - bewaffnet 418. Begrifflich völlig unscharf und damit nur eine Verlagerung der Problematik bedeutet die nach einer anderen Auffassung maßgebliche Orientierung am Begriff des Militärischen 419 oder die Unterscheidung von hoheitlichem und nicht-hoheitlichem Tätigwerden 420 . A l l diesen Auffassungen ist gemeinsam, daß sie im Wortlaut des Art. 87a Abs. 2 GG keine Stütze finden. So liegt die Vermutung nicht fern, daß die jeweilige Definition des Einsatzbegriffs dem politischen Ziel entspringt, die Verwendung der Streitkräfte den Restriktionen des Art. 87a Abs.2 GG zu entziehen, denn nur für den Einsatz besteht ein Verfassungsvorbehalt. Der allgemein gehaltene Wortlaut legt es demgegenüber nahe, jede Verwendung der
4.3 Frank in: AK, Art. 87 Rn. 25; Hernekamp in: v.Münch, Art. 87a Rn. 12; Kersting, S. 69; E.Klein, Rechtsprobleme, S. 435; Nolle, S. 82. 4.4 Während noch im zweiten Regierungsentwurf zur Notstandsverfassung zwischen beiden Einsatzformen ausdrücklich unterschieden wurde, hat diese Unterscheidung in der jetzt gültigen Fassung nicht Eingang gefunden; vgl. BT-Drucks. ÏV/891, S. 16 zu Art. 115b Abs. 3; Blumenwitz, Einsatz, S. 141. 415
Zu den Schwierigkeiten vgl. auch Coridaß, S. 83; Gornig, S. 125; Preuß, Bundeswehr, S.
269. 416
In den Verfahren um den AWACS-Einsatz der Bundeswehr war zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig, daß Tätigkeit der deutschen Soldaten in den Aufklärungsflugzeugen einen Kampfeinsatz darstellte, da diese Tätigkeit unmittelbar auf die militärische Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch andere NATO-Verbände ausgerichtet war. 4.7
Neben dem Begriff self defence wurde in diesem Zusammenhang die Bezeichnung mission defence geprägt, ohne daß die rechtlichen Konsequenzen dieser Unterscheidung bislang verdeutlicht wurden. Vgl hierzu auch den Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der einstweiligen Anordnung zum Somalia-Einsatz. 4.8 Im Rahmen des Somalia-Einsatzes der Bundeswehr waren sowohl die deutschen Soldaten selbst bewaffnet als auch der indische Kampfverband, dem ihre logistische Unterstützung innerhalb derselben UNO-Mission dienen sollte. 4.9 420
Coridaß, S. 83; Nolle, S. 53.
v.Bülow, S. 200; Coridaß, S. 85; Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 125; Hernekamp, in: v.Münch, Art. 87a Rn. 12 f.; Mössner, S. 106.
266
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Streitkräfte als Einsatz zu begreifen 421. Es können nicht nur eingreifende, sondern auch neutrale oder leistende Tätigkeiten einen erheblichen Einfluß auf die Stellung der Bundesrepublik in der internationalen Staatengemeinschaft haben. In Orientierung an den erwähnten Ausnahmen vom Einsatzbegriff für die interne Verwendung der Bundeswehr können allenfalls - im Sinne einer de minimis-Grem& - untergeordnete Verwendungen technischer, unterstützender oder protokollarischer Natur vom Normbereich ausgenommen werden. Der Zweck der Vorschrift, die rechtliche Einbindung des Streitkräfteeinsatzes auch im internationalen Bereich zu gewährleisten, erfordert es aber, als Einsatz all diejenigen Maßnahmen zu begreifen, die in die Rechtssphäre eines Einzelnen 422 oder auch eines anderen Staates eingreifen 423. Die friedenserhaltenden Maßnahmen der Blauhelmsoldaten zählen daher ebenso zu den Einsätzen wie die friedensschaffenden Einsätze. Tatsächlich verdeutlichte die Situation im ehemaligen Jugoslawien, daß der Übergang von friedenserhaltenden Einsätzen zu friedenschaffenden Kampfeinsätzen fließend geworden ist. Im übrigen können logistische Aufgaben oder technische Hilfeleistungen nicht durch ihre Einbettung in eine humanitäre Einsatzkonzeption dem Einsatzbegriff entzogen werden, wenn sie mit einem militärischen Einsatz eng verknüpft sind. Der Bundeswehreinsatz in Somalia führte plastisch vor Augen, daß sich die Unterscheidung eines Einsatzes von humanitären Verwendungen in der Praxis nicht durchführen läßt. Grundsätzlich ist daher von einem Einsatz der Streitkräfte im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG auszugehen.
4. Verteidigung und Ausdrücklichkeitsvorbehalt a) Gleichsetzung von Verteidigung und Verteidigungsfall Eine verfassungsrechtliche Konkretisierung des Begriffs der Verteidigung in Art. 87a Abs. 2 GG wird bisweilen aus Art. 115a Abs. 1 GG hergeleitet und die Verteidigung auf den hier geregelten Verteidigungsfall beschränkt 424.
421 Düng in Maunz/Dürig, Art. 87a Rn. 32; Stern, Bd. II, S. 1476; kritisch Preuß, Bundeswehr, S. 269. 422
Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 126.
423
Blumenwitz, Einsatz, S. 141: "Verwendung der Streitkräfte zur Durchsetzung einer Position"; Preuß, Bundeswehr, S. 269 f.: Einsatz bei funktionalem Bezug auf den exekutivischen Kernbereich des Staates, d.h. Tätigwerden als Exekutivorgan. 424
Bänke, S. 67 ff.; Düng in Maunz/Dürig, Art. 87a Rn. 39 Fn. 1; Emde, S. 134 ff., 136; v.Mangoldt/Klein, Art. 87a Anm. III.3.b.; Menzel in BK, Art. 87a Rn. 86; Rieder, S. 348-354, 380.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
267
Die Vorschrift kennzeichnet als " Verteidigungsfall " ausschließlich eine Situation in der das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. Um Rechtswirkungen zu entfalten muß die förmliche Feststellung des Verteidigungsfalls durch Parlamentsbeschluß hinzukommen 425 . Gegen diese Verengung des Verteidigungsbegriffs des Art. 87a GG auf den Begriff des Verteidigungsfalls des Art. 115a GG spricht bereits der unterschiedliche Wortlaut 426 . In der Systematik des Grundgesetzes kommt beiden Begriffen darüber hinaus eine unterschiedliche Funktion zu 427 . Im Gegensatz zu Abs. 1 und 2 des Art. 87a GG, die auf die Hauptaufgabe der Verteidigung Bezug nehmen, sind die Nebenaufgaben gemäß den Abs. 3 und 4 ausdrücklich an den Verteidigungsfall geknüpft. Wie auch die Vorarbeiten des verfassungsändernden Gesetzgebers zur sogenannten Notstandsverfassung des Grundgesetzes offenbaren 428, zielt Art. 115a GG darauf ab, im Falle der äußeren Bedrohung der Bundesrepublik die Rechtsordnung der Bedrohungssitutation entsprechend auf eine Notrechtsordnung umzustellen429. Als ultima ratio für den Extremfall eines vorliegenden oder unmittelbar bevorstehenden Angriffs werden die weittragenden Rechtsfolgen der Umstellung an die Zustimmung der Legislative geknüpft. Mithin geht es in Art. 115a GG allein um die Anpassung der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik in einer äußeren Gefahrenlage unter verfahrensrechtlicher Beteiligung der Legislative. Der Regelungsgehalt ist dagegen von vorne herein nicht auf die nach außen gerichteten Verteidigungsaufgaben der Bundeswehr bezogen. Auch der Gesichtspunkt der völkerrechtsfreundlichen Auslegung spricht gegen die Verknüpfung des Bundeswehreinsatzes mit dem Verteidigungsfall des Art. 115a GG 4 3 0 , und zwar in doppelter Hinsicht 431 : Zum einen wäre ein präventiver Einsatz der Streitkräfte verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn der Verteidigungsfall neben dem gegenwärtigen auch bereits den unmittelbar
425 Regelmäßig ist ein Bundestagsbeschluß mit qualifizierter Mehrheit und die Zustimmung des Bundesrats erforderlich, die Fiktion des Art. 115a Abs. 4 GG ersetzt Beschluß und Verkündung für den Fall, daß die Bundesorgane zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben außerstande waren. 426
Riedel, Einsatz, S. 64 ff.
427
Blumenwitz,
Einsatz, S. 136; vgl. auch Busch, S. 198.
428
K.Ipsen, Einsatz, S. 618 m.w.N.
429
Riedel, Einsatz, S. 68 ff.
430
K.Ipsen, Einsatz, S. 617 f.; Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 31.
431
Vgl. über diese beiden Aspekte hinaus zu den völkerrechtlichen Bezügen Blumenwitz, Einsatz, S. 135-137.
268
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
drohenden Angriff umfaßte 432. Damit bestünde ein Widerspruch zum herrschenden Verständnis der Art. 2 Abs. 4 und 51 UNO-Charta. Er läßt sich vermeiden, wenn man zwischen Verteidigungsfall und Verteidigung konsequent unterscheidet. Der Verteidigungsfall legitimiert dann keine über das Völkerrecht hinausreichenden Außeneinsätze der Bundeswehr. Zum anderen schlösse das Merkmal des Angriffs auf das Bundesgebiet einen Einsatz der Streitkräfte zugunsten der Bündnispartner praktisch aus bzw. würde die Wahrnehmung der Bündnisverpflichtungen nur fur den Fall erlauben, daß zugleich das Territorium der Bundesrepublik angegriffen wird 4 3 3 . Abgesehen von den gravierenden praktischen bzw. politischen Konsequenzen einer Verknüpfung von Verteidigung und Verteidigungsfall kann sich ein Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen nicht seinen internationalen Verpflichtungen - insbesondere aus einem Bündnisvertrag - unter Berufung auf die Schranken nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entziehen434. Andererseits legitimiert eine völkerrechtliche Verpflichtung nicht zum Bruch des Grundgesetzes. Der Konflikt läßt sich ebenso wie der vorgenannte - vermeiden, soweit die Auslegung der Verfassung in völkerrechtskonformer Weise vorgenommen werden kann; hier indem die Voraussetzungen des Verteidigungsfalls nach Art. 115a GG von der Zulässigkeit des Außeneinsatzes der Bundeswehr nach Art. 87a Abs. 2, 24 Abs. 2 GG getrennt beurteilt werden 435 .
b) Verteidigung als Friedenssicherung gemäß der UNO-Charta Für die oben genannte Auffassung, die den Art. 87a Abs. 2 GG auf den innerstaatlichen Bereich beschränkt, bildet der Verteidigungsbegriff (bereits über Art. 87a Abs. 1 GG) die Verknüpfung zu den Beschränkungen der auswärtigen Gewalt nach dem Völkerrecht 436 . Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes kann demnach äußerstenfalls deckungsgleich sein mit der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UNO-Charta. Eine weitergehende Auffassung will zur Verteidigung alle die Maßnahmen zählen, die der Abwehr oder Abschreckung von Störungen des Völkerfriedens, die dem
432
Zu entsprechenden Schlußfolgerungen ausländischer Beobachter vgl. Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 31 m.w.N. 433
Preuß, Bundeswehr, S. 266.
434
Kriele, Auslandseinsätze der Bundeswehr, ZRP 1994, 103 (105 f.): Im Gegenteil besteht insoweit sogar eine völkerrechtliche Verpflichtung, ein verfassungsrechtliches Hindernis nötigenfalls durch eine Grundgesetzänderung zu beseitigen. 433
Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, Rn. 27.
436
K.lpsen, Einsatz, S. 616 f., 619-623; Blumenwitz,
Einsatz, S. 138.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
269
Gewaltverbot der UNO-Charta widersprechen 437, dienen. Der Bruch bzw. die Gefährdung des Friedens entgegen dem Gewaltverbot legitimiert Maßnahmen der Staatengemeinschaft gemäß Kap VII UNO-Charta, insbesondere auch den Einsatz militärischer Gewalt gemäß Art. 43 UNO-Charta. Eine Schranke bilden dann lediglich die förmlichen Verfahren der UNO. Die Ausrichtung auf den "Frieden in der Welt" in der Präambel und das "friedliche Zusammenleben der Völker" in Art. 26 GG sprechen für dieses Verständnis, nach dem Verteidigung neben der Landesverteidigung auch die "Friedensverteidigung" im Sinne der UNO bedeutet. Eine begrenzende Funktion kommt dem Tatbestandsmerkmal Verteidigung nach diesen Auffassungen also nur mittelbar über den Bezug zum Völkerrecht zu. Es ist inhaltlich nicht aus dem Grundgesetz, sondern in erster Linie unter Rückgriff auf die völkerrechtlichen Regeln über die Anwendung bewaffneter Gewalt zwischen Völkerrechtssubjekten bestimmt. Diese Orientierung läßt sich mit der völkerrechtsfreundlichen Grundhaltung des Grundgesetzes begründen, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung konkretisiert wurde 438 . Allerdings wäre mit einem so weiten Verständnis der völkerrechtsfreundlichen Auslegung eine weitgehende Entgrenzung des Mandats der Bundeswehr verbunden. Mit dem Zweck des Art. 87a Abs. 2 GG, justiziable Voraussetzungen für den Streitkräfteeinsatz zu normieren, ist die weite Auslegung letztlich unvereinbar.
c) Vermittelnde Auffassung Überwiegend werden daher - mit Abweichungen im einzelnen - Auffassungen vertreten, die zwischen den vorgenannten Auffassungen dergestalt vermitteln, daß sie einerseits die systemwidrige Bindung an den Verteidigungsfall vermeiden, andererseits aber nicht allein auf völkerrechtliche Schranken vertrauen, sondern auch aus dem Grundgesetz rechtliche Grenzen ableiten 439 . Verteidigung im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG beinhaltet demnach nicht eine territoriale Begrenzung des Einsatzraums der Bundeswehr, sondern ist funktional auf den politischen Einsatzzweck, d.h. die Verteidigung der Interessen der Bundesrepublik bezogen440. Verteidigung ist jedoch nicht jede "In-
437
Kritisch Randelzhof er in Maunz/Dürig, Art. 24 Abs. 2 Rn. 53 f.; Preuß, Bundeswehr, S.
266. 438 Vgl. bereits K.Ipsen, Einsatz, S. 616, und Geiger, GG und Völkerrecht, S. 210; Tomuschat, Internationale Offenheit, Rn. 27 ff. 439
Riedel, Einsatz, S. 79 ff.
440
F.Kirchhof
Bundeswehr, Rn. 25.
270
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
teressenwahrnehmung", sondern richtet sich allein gegen einen bewaffneten Angriff 4 4 1 . Sie umfaßt neben der Landesverteidigung 442 insbesondere den Einsatz zugunsten der Bündnispartner, auch wenn die Bundesrepublik selbst nicht unmittelbar geographisch oder sachlich betroffen ist 443 . Das Grundgesetz selbst bezieht sich in Art. 80a GG auf die Bündnisverpflichtungen 444, die derzeit konkret für die NATO gelten. Der Grundsatz der Einheit der Verfassung 445 gebietet innerhalb der Grenzen des Wortlauts eine Auslegung, die den Verfassungsbestimmungen zu optimaler Wirkung verhilft. Art. 87a Abs. 2 GG kann danach nicht in einem Sinne ausgelegt werden, der der verfassungsrechtlichen Entscheidung für eine Verteidigung im Bündnis entgegenstünde 446 . Hinzu tritt der Umstand aus der Entstehungsgeschichte, daß der heutige Art. 87a GG mit der sogenannten Notstandsnovelle (1968) zu einer Zeit in das Grundgesetz eingefügt wurde, als die Bundesrepublik bereits dreizehn Jahre Mitglied der NATO und an die entsprechenden Bündnisverpflichtungen gebunden war 4 4 7 . Ein Anhaltspunkt, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber auf Verfassungsebene diese völkerrechtliche Einstandspflicht beschneiden wollte, findet sich in der Entstehungsgeschichte nicht 448 . Die gleichen Erwägungen gelten soweit es - über den Einsatz zur Verteidigung hinaus - um andere Einsätze der Bundeswehr im Ausland geht.
441 Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 126; Blumenwitz, Einsatz, S. 134 f.; Kersting, Kollektive Sicherheit durch Peace-Keeping-Operations, S. 69 f.; Riedel, Deutsche als UNO-Soldaten?, DÖV 1989, 890 (893); Stein, Landesverteidigung, S. 940 ff.; Stein, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit, S. 20 f. 442 Die Landesverteidigung wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als Staatsziel bzw. als verfassungsrechtliche Grundentscheidung anerkannt; BVerfGE 69, 1 (21 f.), abweichendes Sondervotum von Böckenförde und Mahrenholz, 57 (60 f.); 28, 243 (261); 32, 40 (46); 39, 50 f.; 48, 127 (129). Das Bundesverfassungsgericht stützt dies auf Art. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1, 87a Abs. 1 S. 1, 115b GG. Vgl. auch F.KirchhofBundeswehr, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts,, Bd. V I I , 1992, Rn. 7. 443
Blumenwitz, Einsatz, S. 137 f.; Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, S. 683.
444
Art. 80a Abs. 3 GG gestattet die Anwendung von Rechtsvorschriften fur den Spannungsfall auch auf der Grundlage eines Beschlusses eines internationalen Organs im Rahmen eines Bündnisvertrags mit der Zustimmung der Bundesregierung. 445
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 1,14 (32); 49, 24 (56) m.w.N.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 20, 71. 446 Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, Rn. 23; K.lpsen, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der NATO und WEU, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 51 ff.; Mössner, Bundeswehr in blauen Helmen, S. 101 ff.; Tomuschat in BK, Art. 24 Rn. 170 ff. 447
Preuß, Bundeswehr, S. 266.
448
Hopfaufi
S. 324.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
271
Insbesondere Maßnahmen, die zum anerkannten Instrumentarium der UNO zählen 4 4 9 , gehören hierher 450 . Der Ausdrücklichkeitsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG ("soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt"), dem diese Einsätze nach der hier dargestellten Auffassung ebenfalls unterliegen, bedeutet nicht, daß diese Einsatzmöglichkeiten expressis verbis geregelt sein müssen 451 . Auch in diesem Zusammenhang ist vielmehr der systematische Zusammenhang mit anderem Grundentscheidungen des Grundgesetzes zu beachten. Das Grundgesetz erlaubt in Art. 24 Abs. 2 GG ausdrücklich den Beitritt zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit 452. Die Ermächtigung zum Beitritt zu einem System kollektiver Sicherheit ist kein bloßer Programmsatz und umfaßt die aktive Mitwirkung an der Wahrung des Friedens, der das System kollektiver Sicherheit dient. Im Jahre 1973 hat die Bundesrepublik mit dem Betritt zur UNO diesen Schritt vollzogen, ohne hinsichtlich des Instrumentariums der Friedenssicherung nach der UNO-Charta einen Vorbehalt zu erklären 453 . Art. 24 Abs. 2 GG kann daher nur so verstanden werden, daß er zur Wahrnehmung der Aufgaben der Bundesrepublik im Rahmen der UNO ermächtigt 454 . Er tritt - wie Art. 80a GG - selbständig neben Art. 87a Abs. 2 GG und ermächtigt zum Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von UN-Maßnahmen. Wie bei den Auffassung, die Art. 87a Abs. 2 GG allein auf den staatsinternen Einsatz anwenden will, bzw. bei der Theorie, nach der Verteidigung ganz im Sinne des Völkerrechts auszulegen ist, werden sich hier die Grenzen des Streitkräfteeinsatzes vornehmlich aus dem Völkerrecht ergeben. Zugleich verdeutlicht die Gegenüberstellung der Auffassungen, daß der Auslegungsgrundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung unterschiedlich intensive Ausprägungen finden kann. Das Grundgesetz gebietet einen Ausgleich zwi-
449 Während dies für die sogenannten friedenserhaltenden Maßnahmen anerkannt ist (vgl. Art. 51 S. 2 2. Halbsatz UNO-Charta "(Selbstverteidigungsmaßnahmen) berühren in keiner Weise (die) auf dieser Charta beruhenden Befugnis und Pflicht (des Sicherheitsrats), jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält"), wird über die rechtliche Grundlage der sogenannten friedenschaffenden Maßnahmen noch diskutiert. 450 Blumenwitz, Einsatz, S. 139 ff.; Doehring, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der UNO, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 67-73. 431 432
Bd. VII, 433 454
Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 126. Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, S. 669-686. Vgl. auch Kriele,
Auslandseinsätze der Bundeswehr, S. 105.
Gornig, Verfassungsmäßigkeit, S. 127; Nolte, Die "neuen Aufgaben" von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994), 95-123.
272
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
sehen einer weitgehenden rechtlichen Entgrenzung durch einen rein völkerrechtlich bestimmten Verteidigungsbegriff und einer engen nationalen Begrenzung auf die Verteidigung allein des Bundesgebiets entgegen dem Verfassungsgebot der internationalen Zusammenarbeit. Die Auslandseinsätze gemäß den Verpflichtungen der Bundesrepublik in der NATO, WEU und UNO bewegen sich in diesem verfassungsrechtlichen Rahmen455. Eine rechtliche Einbindung folgt aus der Bindung an die Vorgaben durch die Beschlußfassung in den internationalen Organisationen, die einen Alleingang der Bundesrepublik beim Einsatz ihrer Streitkräfte verhindert. Das Vertrauen in die internationale Willensbildung ist nicht nur hinsichtlich der Ausprägung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts gerechtfertigt, die im Rahmen der internationalen "normativen Offenheit" der Verfassungsordnung des Grundgesetzes auch ohne Kontrolle durch die nationale Legislative übernommen werden 456 , sondern auch hinsichtlich der "kooperativen Offenheit" für den international eingebundenen Streitkräfteeinsatz. Damit wird selbstverständlich nicht die Beteiligung an jeglichen international beschlossenen Maßnahmen verpflichtend. Vielmehr eröffnet das Grundgesetz hier Handlungsspielräume, die nur aufgrund des innerstaatlichen Willensbildungsprozesses ausgeschöpft werden können. Nationale und internationale Verfahrensregelungen ergänzen sich. Darüber hinaus ist der internationale Streitkräfteeinsatz auch materiellrechtlich bestimmt. Denn die internationale Kooperation wird durch die Integrationsprogramme der völkervertraglichen Verpflichtungen im Rahmen der U N O 4 5 7 und der NATO und WEU 4 5 8 inhaltlich vorgezeichnet 459. Der Vorteil dieser Sichtweise besteht darin, daß sie die internationale Offenheit des Grundgesetzes für die internationale Kooperation durch Bündnisse und Systeme kollektiver Sicherheit gewährleistet. Die genannten Grundgesetzbestimmungen lassen die Einbettung in die internationale Zusammenarbeit zu verfassungsrechtlichen Schranken erstarken.
455
Nolte, Die "neuen Aufgaben" von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994), 95-123. 456
Vgl. oben 3. Teil C.III.4.
457
Doehring, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der UNO, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 67-73 458 Ipsen, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der NATO und der WEU, in: J .Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 51-62. 459
Für die KSZE ist diese Präzisierung noch nicht absehbar, Bothe, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen des KSZE-Prozesses, in: J.Schwarz/Steinkamm, Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr "out of area", S. 82-88.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
IL Konsequenzen für die Kompetenzverteilung im außen- und sicherheitspolitischen
273
(Organkompetenz) Bereich
1. Auswärtige Gewalt Prärogative der Exekutive oder kombinierte Gewalt? a) Bestimmungen des Grundgesetzes Die Einordnung der auswärtigen Gewalt im Gewaltenteilungssystem des GG hat sich an den positiven Bestimmungen der Verfassung zu orientieren. Für die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsorganen beinhaltet das GG nur wenige ausdrückliche Bestimmungen - so für die vertikale Gewaltenteilung Art. 32 GG und für die horizontale Gewaltenteilung Art. 59, 24, 115a GG - und die Weite der Bestimmungen läßt Raum fur zahlreiche Zweifelsfragen. Zentrale Vorschrift für das Verhältnis von Exekutive und Legislative ist vor allem Art. 59 Abs. 2 GG. Daneben lassen aber auch Art. 24 Abs. 1 und 2 und Art. 115a Abs. 1 GG erkennen, daß die Kompetenzen zwischen Regierung und Parlament verteilt sind bzw. von beiden kooperativ ausgeübt werden müssen. Diese Beteiligung beider politischer Gewalten ist bis heute der Ausgangspunkt für die Frage nach der grundsätzlichen Zuordnung der auswärtigen Gewalt. Sie betrifft nicht nur die akademische Frage nach dem "Wesen" der auswärtigen Gewalt. Sie bildet vielmehr die Grundlage für die Kompetenzverteilung in den vom Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelten Fällen, nicht zuletzt für die Organkompetenz bei der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz.
b) Widerstreitende Auffassungen im Schrifttum Die widerstreitenden Auffassungen standen sich in den Berichten von Grewe und Menzel auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1953 gegenüber 460, die bis heute die Grundpositionen umreißen. Nach der traditionellen Lehre ist die auswärtige Gewalt eine Prärogative der Exekutive 461 . Die ausdrücklichen Bestimmungen des Grundgesetzes über eine Beteiligung des Parlaments, insbesondere Art. 59 Abs. 2 GG, stellen danach eine Ausnahmeregelung dar, die für die nicht geregelten Fälle nicht analogiefä-
460
Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, in: VVDStRL 12 (1954), S. 129 ff.; Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, in: VVDStRL 12 (1954) 179 ff. 461
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 937 ff., 941 ff.
18 Schwarz
274
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
hi g ist 4 6 2 . Unter dem Grundgesetz läßt sich diese Auffassung weniger ideengeschichtlich mit der "Tradition der europäischen Staatstheorie" begründen 463 . Einen Anhaltspunkt bietet die systematische Stellung des Art. 59 Abs. 2 GG im Abschnitt über den Bundespräsidenten, dessen Vertragsschlußkompetenz er begrenzt und die damit als Ausnahmenvorschrift gekennzeichnet ist 4 6 4 . M i t der Ausprägung der "Kanzlerdemokratie" 465 hat das Grundgesetz in seiner ganzen Systematik zu erkennen gegeben, daß vom Bereich der Gesetzgebung die Staatsleitung der Bundesregierung zugewiesen ist. Der Bundeskanzler bestimmt insoweit die Richtlinien der Politik nicht nur für die übrigen Mitglieder der Bundesregierung, Art. 65 GG. Gegen die Qualifikation der auswärtigen Gewalt als einer Prärogative der Exekutive wenden sich in der Lehre insbesondere Menzel - auswärtige Gewalt als "kombinierte Gewalt" 466 -, Baade - "gemischte Gewalt" 467 - und Friesenhahn - "gesamthänderische Wahrnehmung durch Regierung und Parlament" 468 . Einer "allgemeinen Tendenz zur zunehmenden Demokratisierung des Staatslebens"469 entspreche der Vorrang des Parlaments bei politischen Leitentscheidungen. Die parlamentarischen Mitwirkungsrechte beim völkerrechtlichen Vertragschluß oder bei der Feststellung des Verteidigungsfalls sind nach dieser Auffassung nicht Ausnahmebestimmungen, sondern Ausdruck eines allgemeinen Prinzips. Die Auseinandersetzung mit der Theorie einer "kombinierten Gewalt", die in der jüngeren Literatur verstärkt aufgegriffen wurde 470 , hat in der Staatsrechtslehre zumindest zu einer Überwindung einer schematischen, an traditionellen Betrachtungsweisen ausgerichteten Auffassungen beigetragen. Auf sie ist
462
Kewenig, Auswärtige Gewalt, S. 41.
463
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 924-933; Schuppen, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 38-40; Rieder, Die Entscheidung über Krieg und Frieden nach deutschem Verfassungsrecht. Eine verfassungshistorische und verfassungsdogmatische Untersuchung, 1984, und Emde, Voraussetzungen fiir die Zulässigkeit eines bundeswehreinsatzes innerhalb und außerhalb der NATO, in: NZWehrr 1992, S. 133-152. 464
Schuppen, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 46.
465
Kritisch Herzog, Separation and Concentration of Power, in: Kommers/Kirchhof, S. 397 f.
466
Menzel, Auswärtige Gewalt, S. 179 ff.
467
Baade, S. 118.
468
Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, S. 37 f., 70.
469
Menzel, Auswärtige Gewalt, S. 348.
470
Schuppen, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 49 ff.; Bryde, Sicherheitspolitik zwischen Regierung und Parlament - BVerfG v. 18.12.84 - 2 BvE 13/83 -, Jura 1986, S. 363-369; Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 71 ff.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
275
es insbesondere zurückzuführen, daß heute eine besonders enge Verknüpfung von Regierungs- und Gesetzgebungsfunktionen und damit die Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt im Grundsatz anerkannt ist, wenngleich das Schwergewicht auch weiterhin bei der Regierung angesiedelt wird 4 7 1 . Hier wie überall zeigt sich, daß eine formelmäßige Kategorisierung nicht weiterhilft. Das Schlagwort von der "kombinierten Gewalt" wird vielfach rein deskriptiv verwendet und besagt dann nicht mehr als, daß nach den Bestimmungen des Grundgesetzes dem Parlament bestimmte Mitwirkungsbefugnisse neben den Befugnissen der Regierung eingeräumt sind 472 . So vermeidet etwa Fastenrath eine generelle Zuordnung der auswärtigen Gewalt zur Exekutive oder zur Legislative. Als "Querschnitt durch die verschiedenen Staatsfunktionen" lasse sich die auswärtige Gewalt nur im Einzelfall zu Kompetenzen der Regierung oder des Parlaments konkretisieren 473. Konstitutive Bedeutung hat das Bekenntnis zur "kombinierten Gewalt" nur dann, wenn damit ein "Vorbehaltsgebiet für die Regierung" 474 in auswärtigen Angelegenheiten ausgeschlossen werden soll. In diesem Sinne haben die Begründer der Lehre in der Tat - so Baade - "jedenfalls rechtlich eine Vorrangstellung" des Parlaments in auswärtigen Angelegenheiten angenommen475. Auch Friesenhahn geht davon aus, daß das Votum des Parlaments in Lebensfragen der Nation Vorrang haben müsse und daß das Parlament auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens nur da von einer Einflußnahme ausgeschlossen sei, wo "eine Kompetenz absolut eindeutig durch spezielle Verfassungsvorschrift der Regierung zugewiesen ist" 4 7 6 . Das Regel-Ausnahme-Verhältnis der traditionellen Lehre kehrt er damit zugunsten einer Zuständigkeitsvermutung für das Parlament um. Bei Menzel begründet die Vorrangstellung des Parlaments eine rechtsverbindliche Weisungsbefugnis gegenüber der Regierung 477 .
471
Hesse, Grundzüge, Rn. 534.
472
Zu Recht verweist Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 937 Fn. 41, in diesem Zusammenhang darauf, daß in anderen Fragen der Gewaltenteilung aus dem Zusammenwirken verschiedener Organe an einem Verfahren - z.B. der Gesetzgebung - auch nicht auf eine "kombinierte Gesetzgebungskompetenz" geschlossen wird.
18*
473
Fastenrath,
Kompetenzverteilung, S. 215 f.
474
Fastenrath,
Kompetenzverteilung, S. 52 m.w.N.
475
Baade, S. 7.
476
Friesenhahn, Parlament und Regierung, S. 34 ff., 36, 38.
477
Menzel, Auswärtige Gewalt, S. 219.
276
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
c) Rechtsprechung zur horizontalen Gewaltenteilung Bislang aktualisierte sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt vornehmlich im Bereich des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge (Vertragsgewalt) 478. Soweit die Entscheidungen nicht bereits - wie etwa diejenige zum Petersberger Abkommen 479 und zum Deutschland- und EVG-Vertrag 480 - unmittelbar auf den sicherheitspolitischen Bereich bezogen sind, beinhalten sie gleichwohl allgemeingültige Aussagen zur Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt. Die Nachrüstungsentscheidung 481 verdeutlicht, daß die zur Vertragsgewalt eingeschlagene Linie vom Bundesverfassungsgericht auch für einseitige Akte im sicherheitspolitischen Bereich konsequent fortgesetzt wird. Bereits in den ersten Jahren seines Bestehens konnte das Bundesverfassungsgericht die Interpretation des Art. 59 Abs. 2 GG, der Zentralvorschrift für die völkerrechtliche Vertragsgewalt, autoritativ klären. In den Organstreitverfahren zum Petersberger Abkommen 482 , zu den deutsch-französischen Wirtschaftsabkommen 483 und zum Kehler-Hafen-Abkommen 484 rügte die Oppositionsfraktion im Bundestag jeweils, daß der Bundestag beim Abschluß der völkerrechtlichen Verträge entgegen Art. 59 Abs. 2 GG nicht mitgewirkt hatte. Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich für eine weite Auslegung des Vertragsbegriffs ausspricht und den mißverständlichen Wortlaut ("mit auswärtigen Staaten", Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG) auf Verträge mit allen Völkerrechtssubjekten ausdehnt485, bezieht es Abkommen mit den Besatzungsmächten als solchen (Alliierte Hohe Kommission) 486 und mit ausländischen Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ausschließlich staatlichem Recht
478
Billing , S. 159, 163 ff.
479
Das Petersberger Abkommen bezog sich unter Ziff. III auf die Aufrechterhaltung der Entmilitarisierung des Bundesgebiets; BVerfGE 1, 351 (355). 480 Unter anderem Beteiligung deutscher Soldaten an einer bewaffneten Streitmacht und Verpflichtung zum Wehrdienst; BVerfGE 1, 396 (398). 481
BVerfGE 68, 1.
482
BVerfGE 1, 351.
483
BVerfGE 1, 372.
484
BVerfGE 2, 347.
485
BVerfGE 1, 351 (366); 2, 347 (374). Obwohl die DDR nach dem Verständnis des BVerfG kein "auswärtiger Staat" war, hat das BVerfG Art. 59 Abs. 2 GG extensiv interpretiert und auch auf den Grundlagenvertrag angewandt, BVerfGE 36, 1 (13). 486
BVerfGE 1, 351 (366 f)·
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
277
unterstehen (Port Autonome de Strasbourg) 487, nicht mit ein. In beiden Fällen lehnte es auch eine Stellvertretung - der Hohen Kommissare als Vertreter ihrer Staaten bzw. des Port Autonome für Frankreich - ab, was die Abkommen zu Verträgen mit auswärtigen Staaten gemacht hätte, und verwirft auch eine entsprechende Anwendung des Art. 59 Abs. 2 GG. Andererseits legt das Bundesverfassungsgericht auch den Begriff des politischen Vertrags eng aus ("Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln", Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), indem es hierzu nur die Verträge zählt, die "wesentlich und unmittelbar den Bestand des Staates oder dessen Stellung und Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betreffen" 488 . Da als politische Verträge vor allem Friedens·, Neutralitäts-, Bündnis- und Sicherheitsverträge sowie Nichtangriffs- und Abrüstungsverträge genannt werden 489 , ist die Beteiligung des Parlaments beim Vertragsschluß im sicherheitspolitischen Bereich weitgehend sichergestellt. Dagegen sind Verträge, die - wie in der Regel Wirtschaftsabkommen ohne umfassenden Bezug zu den politischen Beziehungen der Bundesrepublik nur sekundäre Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zu auswärtigen Mächten haben, nicht erfaßt 490 . Wichtigste Konsequenz der engen Interpretation des Bundesverfassungsgerichts ist die Ablehnung eines Mitwirkungsrechts des Bundestages nach Art. 59 Abs. 2 GG für die genannten Abkommen. Das Bundesverfassungsgericht konnte dadurch die Verträge aufrechterhalten und vermied einen Eingriff in die Außenpolitik der Bundesregierung. Billing charakterisiert dies treffend als Stabilisierungseffekt 491. Er sieht in den genannten Entscheidungen zugleich eine exekutivfreundliche Grundhaltung verwirklicht, die alle Versuche zurückdrängt, die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten im Vertragsbereich zu stärken (Antiparlamentarisierungseffekt 492). In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht -jedenfalls in seinen frühen Entscheidungen - unterstrichen, daß "in der parlamentarischen Demokratie grundsätzlich dem Parlament die Rechtsetzung vorbehalten und der Exekutive die Regierung und Verwaltung über-
4ff 7
BVerfGE 2, 347 (374 0-
488
BVerfGE 1, 372 (382).
489
BVerfGE 1, 372 (382 f.). Vgl. Seifert/Hömig, GG, Art. 59 Rn. 6. Hinzu kommen Gebietsänderungsverträge, Verträge nach Art. 24 Abs. 1 GG, Wirtschafts- und Zollunionen u.a. 490
So auch für das Kehler-Hafen-Abkommen, obwohl hier auch Grenzverhältnisse geregelt wurden. BVerfGE 1, 372 (382 ff.). 491
Billing, S. 166.
492
Billing, S. 166.
278
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
tragen" ist 4 9 3 . Art. 59 Abs. 2 GG sieht es als Ausnahmebefugnis der Legislative an und ordnet die auswärtigen Angelegenheiten dem Bereich der Exekutive zu. Normativer Ausgangspunkt der Argumentation ist dabei Art. 65 GG (Richtlinienkompetenz) und die darin statuierte Rechtsvermutung einer ausschließlichen Befugnis des Bundeskanzlers und der Bundesregierung. Soweit dem Parlament Regierungsaufgaben nicht ausdrücklich durch das Grundgesetz zugewiesen sind, ist ihm daher nur die Rechtsetzung vorbehalten. Art. 59 Abs. 2 GG begründet eine Ausnahmebefugnis der Legislative im Bereich der Exekutive: Darüber hinaus hat Art. 59 Abs. 2 GG dem Bundestag kein Recht gegeben, in den Zuständigkeitsbereich der Regierung einzugreifen. Der Bundestag bleibt auf die allgemeinen verfassungsmäßigen Kontrollmöglichkeiten beschränkt. Er regiert und verwaltet nicht selbst, sondern er kontrolliert die Regierung. Mißbilligt er deren Politik, so kann er dem Bundeskanzler das Mißtrauen aussprechen (Art. 67 GG) und dadurch die Regierung stürzen. Er kann aber nicht selbst die Politik fuhren 494 .
Daß das Bundesverfassungsgericht Art. 59 Abs. 2 GG als die Zentralnorm der Gewaltenteilung im außen- und sicherheitspolitischen Bereich über die Vertragsgewalt hinaus betrachtet, wird deutlich, wenn es hieran auch für die Beurteilung einseitiger völkerrechtlicher Akte anknüpft. Es geht dabei aber nicht so weit, den sachlichen Anwendungsbereich auf diese einseitigen Akte zu erweitern bzw. Art. 59 Abs. 2 GG über die hier genannten völkerrechtlichen Verträge hinaus entsprechend anzuwenden, in der Nachrüstungsentscheidung 495 modifiziert das Bundesverfassungsgericht seine frühen Aussagen dahin, daß die parlamentarischen Mitwirkungsbefiignisse nach Art. 59 Abs. 2 GG politisch und wie rechtlich von solchem Gewicht sind, daß sie nicht als Ausnahmen angesehen werden können, sondern den Bundestag originär an der auswärtigen Gewalt beteiligen 496 . Gleichwohl macht es mehrfach deutlich, daß die auswärtigen Angelegenheiten "zentrale Entscheidungsbefugnisse exeku-
493
So zu den deutsch-französischen Wirtschaftsabkommen BVerfGE 1, 372 (394).
494
BVerfGE 1, 372 (394). Zur grundsätzlichen Zuordnung der Akte der auswärtigen Gewalt zum Kompetenzbereich der Exekutive (Bundesregierung und Bundespräsident) vgl. auch BVerfGE 1, 281 (282) - Einstweilige Anordnung im Verfahren zu den deutsch-französischen Wirtschaftsabkommen als unzulässige Einengung des Bundeskanzlers als dem "verantwortlichen Leiter der Außenpolitik" abgelehnt; BVerfGE 1, 396 (414) - Bundespräsident als Träger der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik; BVerfGE 2, 347 (379) - "Denn die Bundesregierung ist es, die im Zusammenwirken mit dem Bundespräsidenten fur die Ausübung der auswärtigen Gewalt zuständig ist und zwar allein, es sei denn, daß dazu das Mittel eines Vertrages im Namen des Bundes gewählt wird, der die Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 GG erfüllt. Nur in letzerem Fall steht dem Bundestag und dem Bundesrat ein Mitwirkungsrecht bei der Willensbildung an einem Akt der auswärtigen Gewalt zu". 495
BVerfGE 68, 1 (83 ff.).
496
BVerfGE 68, 1 (85).
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
279
tivischer Natur" 4 9 7 beinhalten und zum "Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung" 498 zählen. In Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG sieht das Gericht bestätigt, daß dem Parlament keine Initiativ-, Gestaltungs- oder Kontrollbefugnis im Bereich der auswärtigen Beziehungen zukommt. Weil die in Rede stehenden einseitigen Akte auf der Ebene des Völkerrechts als solche nicht schon innerstaatliches Recht erzeugen, ist dieser Handlungsbereich nicht funktionell Gesetzgebung. Es zieht den Schluß: Eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG auf nichtvertragliche Akte der Bundesregierung gegenüber fremden Völkerrechtssubjekten, auch insoweit diese Akte politische Beziehungen regeln, würde angesichts der überragenden Bedeutung, die heutzutage der Außenpolitik fur den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zukommt, einen Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive darstellen; sie verlagerte in weitem Umfang politische Macht zu Lasten der Exekutive auf den Bundestag in einem Handlungsbereich, der funktionell betrachtet nicht Gesetzgebung im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG darstellt 499.
Es begründet dies jedoch weniger mit historischen Argumenten 500 als vor allem mit funktionellen Gesichtspunkten: Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive beruht auf der Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfugt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahnzunehmen, bestmöglich zu erfüllen 501 .
d) Rechtsprechung zur vertikale Gewaltenteilung Ebenso dezidiert hat das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Stellung genommen502. Zentralnorm ist hier Art. 32 GG, zu dem bereits in der Entscheidung zum KehlerHafen-Abkommen festgestellt wurde, daß die Länder einerseits außerhalb der Vertragsgewalt keinen Anteil an der auswärtigen Gewalt haben (Art. 32 Abs. 1 bis 3 GG) und sie andererseits auch innerhalb der ihnen im Rahmen von Art.
497
BVerfGE 68, 1 (86).
498
BVerfGE 68, 1 (87).
499
BVerfGE 68, 1 (87).
500
BVerfGE 68, 1 (84 f.).
501
BVerfGE 68, 1 (87).
502 Vgl. auch Starck, Die deutschen Länder und die auswärtige Gewalt, in: Festschrift fur Peter Lerche, 1993, S. 553.
280
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
32 Abs. 3 GG verbliebenen Vertragsgewalt keine selbständige Außenpolitik betreiben können, da sie hierbei stets an die Zustimmung der Bundesregierung gebunden sind 503 . Unmittelbar auf den sicherheitspolitischen Bereich bezogen waren die Entscheidungen über die beabsichtigten Volksbefragungen in Hamburg, Bremen und Hessen zur Atombewaffnung der Bundeswehr 504. Das Bundesverfassungsgericht verweist die sicherheitspolitischen Fragen in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes und stützt sich dabei auf Art. 73 Nr. 1, 65a, 87a, 87b GG 5 0 5 . Diese umfaßt nicht nur die rechtsverbindliche Sachentscheidung. Vielmehr überschreiten die Länder bereits dann ihre Kompetenzen, wenn sie in der Sicherheitspolitik politischen Druck auf den Bund ausüben wollen, indem sie durch von ihnen angeordnete oder zugelassene Volksbefragungen die politischen Alternativen des Bundes beschneiden506. Die Gemeinden befassen sich dann nicht mehr mit den ihnen zugewiesenen Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises 507 . Das Bundesverfassungsgericht ist mit dieser Argumentation auf ein funktionsgerechtes Zusammenwirken der Staatsorgane in der föderativen Ordnung der Bundesrepublik bedacht. Von den Verwaltungsgerichten ist diese Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts für den Bereich der "kommunalen Außenpolitik" anhand der Auseinandersetzung um die Schaffung "atomwaffenfreier Zonen" im Gemeindegebiet konsequent fortgesetzt worden. Auch in diesen Fällen forderte bereits die potentielle Gefahr, die Entscheidungsfreiheit des Bundes zu beschneiden, den Ausschluß der Kommunen von sicherheitspolitischen Fragestellungen, die den örtlichen Wirkungskreis überschreiten 508.
303
BVerfGE 2, 347 (379).
304
BVerfGE 8, 104 - Hamburg und Bremen; 8, 122 - Hessen.
505
BVerfGE 8, 104 (116).
506
BVerfGE 8, 104 (117 f.).
507
BVerfGE 8, 122 (133 ff.).
508
Zur kommunalen Außenpolitik vgl. auch Blumenwitz, Kommunale Außenpolitik, in: Festgabe für Georg Christoph von Unruh, 1983, S. 747-761; Heberlein, Die Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG zu "kommunalen Außenpolitik", NVwZ 1992, 543-547; Heberlein, Kommunale Deutschlandpolitik, N V w Z 1991, 531-536; Gem, Zu den Grenzen der kommunalen Verbandskompetenz, N V w Z 1991, 1147, 1148.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
281
2. Justizielle Konkretisierung der Kompetenzverteilung nach funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offenbart, daß das Gericht zu Fragen der Kompetenzverteilung stets eindeutig Stellung nimmt. Ein irgendwie gearteter Einschätzungsspielraum oder Auslegungsvorrang zugunsten der politischen Organe wird hier nicht ersichtlich. Es ist jedoch Vorsicht dabei geboten, dies als Selbstverständlichkeit zu betrachten, wie es in der deutschen Verfassungslehre zumeist geschieht. Nach der Rechtsprechung der US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Kompetenzverteilung zwischen den politischen Organen der wichtigste Anwendungsbereich des judicial restraint. Bereits beim Zugang zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist in Deutschland durch das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz der Organstreit als spezielles Verfahren fur die Auseinandersetzung zwischen den Bundesorganen über ihre wechselseitigen Zuständigkeiten ausgestaltet, wodurch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzverteilung zwischen den Bundesorganen besonderer Nachdruck verliehen wird. Darüber hinaus ist das politische Potential der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bei der Ausgestaltung der Kompetenzordnung am geringsten ausgeprägt. Denn die Kompetenzverteilung ist die Grundlage der politischen Auseinandersetzung zwischen den anderen Staatsgewalten, ihre Konkretisierung daher die Grundlage zivilisierter Politik und der Konzentration auf deren inhaltliche Ausgestaltung durch die politischen Staatsgewalten. Mit der Nachrüstungsentscheidung hebt das Bundesverfassungsgericht mehrfach die grundsätzliche Zuordnung der auswärtigen Gewalt zur Exekutive hervor und steht damit im Ergebnis der traditionellen Auffassung deutlich näher als der Lehre von der kombinierten auswärtigen Gewalt. Gleichwohl wäre es falsch, den von Billing so gekennzeichneten "Antiparlamentarisierungseffekt" in der jüngsten Rechtsprechung bestätigt zu sehen oder diese pauschal als "exekutivfreundlich" abzutun 509 , Ebenso greift es andererseits zu kurz, mit Grewe den Bogen vom Anfang der 50er Jahre bis heute im Sinne einer "sehr gradlinigen, eindeutigen und konstanten Rechtsprechung, die im Gegensatz zu dem kontroversen Diskussionstand der Wissenschaft steht," zu spannen 510 . Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht in der Nachrüstungsentscheidung den Streit um die Lehre von der kombinierten Gewalt zum Anlaß genommen, die kompetentielle Zuordnung der auswärtigen Gewalt im Lichte
309
Billing , S. 166.
510
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 939 Rn. 46.
282
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
eines veränderten Gewaltenteilungsverständnisses und unter Berücksichtigung funktionell-rechtlicher Gesichtspunkte auf eine neue Grundlage zu stellen 511 . Nach heutigem Verständnis besteht die Gewaltenteilung des Grundgesetzes nicht vor allem aus "Ausnahmen" und "Durchbrechungen" einer vorgegebenen, starren Aufteilung materieller Staatsfunktionen, sondern in einer sich direkt aus dem Grundgesetz ergebenden Funktionenordnung 512. Art. 20 Abs. 2 GG normiert die organisatorische und funktionelle Unterscheidung der Staatsgewalten, d.h. er ordnet bestimmte staatliche Aufgaben bestimmten Funktionen und ihren Trägem zu. Die Verteilung staatlicher Macht und die wechselseitige Kontrolle der Machtträger dient nicht nur der Mäßigung der Staatsgewalt. Funktionell-rechtliche Kriterien stehen im Vordergrund, wenn es nach dem Bundesverfassungsgericht ein Ziel der Gewaltenteilung ist, "daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen" 513 . Damit wird der "pragmatisch-instrumentale" Charakter der Gewaltenteilung betont 514 . Die Verfassung ist nicht nur Fundamentalnorm im Sinne unverbrüchlicher Rechtsnormen, sondern ein rechtliches instrument zur Strukturierung der Willensbildung in den verschiedenen Sach- und Politikbereichen. Konsequenterweise steht somit die "funktionale Eigenart" des Sachbereichs im Vordergrund. Die vorgegebenen Sachstrukturen dieser Bereiche bewirken jeweils ein faktisches Schwergewicht der Exekutive oder der Legislative. Es ist charakteristisch für den funktionell-rechtlichen Ansatz, daß diese Ableitung unmittelbare verfassungsrechtliche Bedeutung erlangt. D.h. die vorgegebenen Sachstrukturen können herangezogen werden, um die durch die Auslegung der Verfassungsnormen gefundene Lösung zu stützen. So weist das Bundesverfassungsgericht auf die besseren personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten der Bundesregierung hin 5 1 5 . Den Mitgliedern und Ausschüssen des Bundestags stehen die Informationen im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten nicht in gleicher Weise zur Verfügung wie der durch die Ministerien und die professionelle Diplomatie tech-
511
BVerfGE 68, 1 (84) mit ausfuhrlichen Nachweisen zum Schrifttum u.a. Baade und Friesen-
hahn. 3.2 Hierzu grundlegend Hesse, Grundzüge, Rn. 475 ff.. Vgl. zum folgenden auch BVerfGE 68, 1 (85 f.). 5.3
BVerfGE 68, 1 (86).
3.4
Schuppen, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 55.
3,3
BVerfGE 68, 1 (86 f.) vgl. bereits oben 3. Teil D.II.i.c).
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
283
nisch und personell unterstützten Regierung 516. Die Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene erfordert die Konzentration der staatlichen Willensäußerungen in einem Organ. Zu diesem Zweck ist selbst die originäre Mitwirkungsbefugnis des Parlaments beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge auf eine "Ja-Nein-Al temati ve" beschränkt. Es kann dem Vertragsschluß nur entweder zustimmen oder ihn ablehnen517, aber nicht bestimmen, daß die Bundesregierung Vertragsverhandlungen aufnimmt oder abbricht oder einen bestimmten Inhalt herbeiführt 518 . Art. 59 Abs. 2 GG bietet damit den positivrechtlichen Anhaltspunkt dafür, daß Initiative und Gestaltung der Außenpolitik in den Bereich der Exekutive, genauer der Bundesregierung, fallen. Dagegen hat das Parlament vor allem normative Befugnisse im Rahmen der Gesetzgebung, d.h. es wird tätig "in einem Handlungsbereich, der funktionell betrachtet . . . Gesetzgebung im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG" 5 1 9 ist. Neben der normativen Ausgestaltung eines Sachbereichs durch Gesetze ist das Parlament auf seine allgemeinen parlamentarischen Kontrollbefugnisse gegenüber der Regierung (Haushaltskompetenzen, konstruktives Mißtrauensvotum) beschränkt 520. Das Demokratieprinzip kann unter dem Grundgesetz nicht dazu herangezogen werden, ein "Monopol demokratischer Legitimation" 5 2 1 für die Legislative zu begründen. Daß nach Art. 20 Abs. 2 GG alle politische Gewalt vom Volke ausgeht und damit auch die Exekutive demokratisch legitimierte und kontrollierte Staatsgewalt ausübt 522 , steht der "Suprematie des Parlaments" 523 entgegen524. Dies "schließt es aus, aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie einen Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber den anderen Gewalten als einen alle kon-
516
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 942.
517
Änderungsanträge sind nach § 82 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages ausgeschlossen. 318
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 942; Kewenig, Auswärtige Gewalt, S. 42; BVerfGE 68, 1
(85 f.). 5,9
BVerfGE 68, 1 (87).
520
BVerfGE 68, 1 (89). Vgl. auch BVerfGE 10, 4 (17): Bundestag als "Gesetzgebungs- und oberstes Kontrollorgan". Gerade die Sanktionsmöglichkeit des Mißtrauensvotums bezeugt, daß die Einflußmöglichkeit des Parlaments i.ü. begrenzt sein muß. Die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments beinhaltet die Verantwortung ftir einen eigenständigen Handlungsbereich und steht typologisch der weisungsgebundenen Führung der Regierungsgeschäfte gegenüber; eingehend Schuppert, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 53 f. 521
Böckenförde,
322
BVerfGE 68, 1 (88) nennt insbesondere Art. 38, 63, 64 und 67 GG,
323
Schuppert, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 52 ff. m.w.N.
324
Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 941.
Organisationsgewalt, S. 79.
284
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
kreten Kompetenzzuordnungen überspielenden Auslegungsgrundsatz herzuleiten" 525 . Wenn die positiven Bestimmungen der Verfassung keinen hinreichenden Anhaltspunkt für die Kompetenzverteilung bieten, stützt sich das Bundesverfassungsgericht daher weniger auf allgemeine Erwägungen aus den Grundprinzipien der Verfassung heraus, die einen Vorrang der einen oder anderen politischen Staatsgewalt nicht erkennen lassen, sondern argumentiert aus den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und der von Verfassungs wegen zugewiesenen Funktion heraus. Die Betrachtung des Funktionszusammenhangs ist vor allem dann bedeutsam, wenn die traditionellen Auslegungsgesichtspunkte zu keinem klaren Ergebnis führen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt damit typisch funktionell-rechtliche Kriterien, die auch in der Literatur - wenn auch oftmals nicht begrifflich als solche gekennzeichnet526 - den Vorrang der Exekutive begründen.
3. Organkompetenz bei der Entscheidung über den Auslandseinsatz der Bundeswehr Die Auseinandersetzung über die Kompetenzverteilung bei der Entscheidung über einen Auslandseinsatz der Bundeswehr steht in enger Verbindung mit der oben behandelten Frage 527 der generellen Zulässigkeit eines solchen Einsatzes. An dieser Stelle sei an das Spektrum der vertretenen Auffassungen erinnert. Sie ist die zentrale Frage in den aktuellen Organstreitverfahren (Adria, AW ACS, Somalia) vor dem Bundesverfassungsgericht. Diese allgemeine Entscheidungszuständigkeit ist von den in diesen Verfahren ebenfalls thematisierten Parlamentsvorbehalten nach Art. 59 Abs. 2 und 24 Abs. I, I I GG zu unterscheiden, die einerseits die Frage betreffen, ob die Einsatzentscheidung
325
BVerfGE 49, 89 (125 f.). Hieran anknüpfend auch BVerfGE 68, 1 (87):
Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip falschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden. 526 Dementsprechend argumentiert Fastenrath zur Begründung des Schwergewichts der auswärtigen Gewalt bei der Regierung mit der "Natur der Sache". Grewe stellt das "Wesen der Außenpolitik" und die technische und personelle Überlegenheit des Apparats der Regierungsbürokratie in den Vordergrund. Grewe, Auswärtige Gewalt, S. 942. 527
Siehe oben 3. Teil D.I.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
285
zugleich einen neuerlichen völkerrechtlichen Vertragsschluß 528 oder eine Abänderung eines bestehenden völkerrechtlichen Vertrags beinhaltet, und andererseits, ob die gewählte Befehls- und Kommandostruktur eine Übertragung oder Beschränkung von Hoheitsrechten bedeutet529.
a) Parlamentsvorbehalt de constitutione lata? Eine ausdrückliche Regelung der Organkompetenz fehlt im Grundgesetz. Nach dem oben zur Auslegung des Art. 87a Abs. 2 GG Gesagten ist der Einsatz der Streitkräfte zur "Verteidigung" nicht an die Feststellung des "Verteidigungsfalls" nach Art. 115a Abs. 1 GG gebunden530. Gleichwohl wird im Schrifttum aus der Entstehungsgeschichte des Art. 115a GG auf einen Parlamentsvorbehalt bei der Einsatzentscheidung geschlossen531. Der 1968 ersatzlos entfallene Art. 59a Abs. 1 GG a.F. 5 3 2 beinhaltete einen Parlamentsvorbehalt für einen weit verstandenen "Verteidigungsfall" und dem verfassungsändernden Gesetzgeber sei 1968 nicht an einer Entparlamentarisierung der Einsatzentscheidung gelegen533. Genauere Anhaltspunkte fehlen jedoch 534 . In Wortlaut und Systematik der grundgesetzlichen Regelung hat dieses Anliegen jedenfalls keinen Niederschlag gefunden 535. Art. 115a Abs. 1 GG beinhaltet nur einen Parlamentsvorbehalt für einen verfassungsrechtlich enger definierten Verteidigungsfall. Normzweck des Art. 115a GG ist nach dem oben Gesagten allein die Umstellung der innerstaatlichen Rechtsordnung nach den
328 Vgl. auch Riedel, Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr, DÖV 1993, 994 (997), gegen Mössner, Bundeswehr in blauen Helmen, in Festschrift ftir Hans Jürgen Schlochauer, 1981, S. 112. 329
Siehe bereits oben 3. Teil B.III.5.c)cc).
330
Siehe oben 3. Teil D.Ï.4.
531
Hoffmann , Bundeswehr und UN-Friedenssicherung, S. 128 ff.; Arndt, Bundeswehreinsatz fur die UNO, DÖV 1992, 618. Vgl. zur Kritik auch Riedel, Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr, DÖV 1993, 997 und Hopfauf\ Zur Entstehung des Art. 87a II GG, ZRP 1993, 321. 332 Eingefügt durch Grundgesetzänderung vom 11.3.1956, BGBl. I S . 24.6.1968, BGBl. I S . 709.
I I I ; aufgehoben
333
So auch die Fragestellung des Bundesverfassungsgerichts in den Erläuterungen zur Verhandlungsgliederung vom 16.3.1994 zur mündlichen Verhandlung am 19.4.1994, S. 3. 334 333
Hopfauf
S. 324.
Vgl. auch Kind, Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung, DÖV 1993, 141 ff.; Hoffmann , Bundeswehr und UN-Friedenssicherung, S. 128 ff.
286
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Erfordernissen des Angriffs oder der unmittelbaren Bedrohung des Bundesgebiets 536 . Eine Beteiligung des Parlaments läßt sich auch nicht damit begründen, daß durch die Einsatzentscheidung die Entscheidung über den Verteidigungsfall nach Art. 115a GG präjudiziell wird. Dies ist nur dann der Falle, wenn mit dem Einsatz eine unmittelbare Bedrohung des Bundesgebietes einhergeht. Bislang mag eine solche das vorrangig erwogene Szenario für den Streitkräfteeinsatz gewesen sein, für Einsätze zu anderen Zwecken als der Landesverteidigung ist diese Argumentation von vorne herein nicht gültig, im übrigen ist auch hier die rechtliche Unterscheidung zwischen der Einsatzentscheidung und der Umstellung der Rechtsordnung entsprechend der existentiellen Notlage des Staates zu beachten; allein letzterer dient die Regelung des Art. 115a GG. Eine Beteiligung von Bundestag und Bundesrat läßt sich auch nicht aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Grundgesetzes herleiten. Die Wesentlichkeitstheorie 537 - als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und des Vorbehalts des Gesetzes - beinhaltet keinen "Totalvorbehält" für alle objektiv wesentlichen Entscheidungen, mit dem sich die Kompetenzregelungen des Grundgesetzes überspielen ließe 538 . Aus dem Demokratieprinzip läßt sich eine generelle Vorrangstellung des Parlaments gegenüber der Regierung nicht ableiten, da auch die Exekutive demokratisch legitimiert ist 539 . Demgegenüber bestehen positivrechtliche Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit der Bundesregierung. Für den Einsatz der Bundeswehr bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen (Art. 35 Abs. 3 GG) und in einer Bürgerkriegssituation (Art. 87a Abs. 4 GG) bestimmt das Grundgesetz ausdrücklich, daß die Bundesregierung zu entscheiden hat. Die Bundesregierung entscheidet hier als Kollegialorgan (Art. 62 GG). Dabei kommt der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 S. 1 GG) eine besondere Bedeutung zu. Dem liegt der Normzweck zugrunde, zur Entscheidungen über
336 So auch Blumenwitz, Einsatz, S. 145; Riedel, Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr, S. 997; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 24 Abs. 2 Rn. 45 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 537 Vgl. auch v.Arnim, Zur "Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1987, 1241 ff. 338 339
BVerfGE 68, 1 (108 f.); 49, 89 (124 ff.); 1, 68 (108 ff.).
BVerfGE 68, 1 (88, 109); 49, 89 (124). Zu Aspekten der Wesentlichkeitstheorie in der SomaliaEntscheidung, BVerfG NJW 1993, 2038 f., vgl. auch Riedel, Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr, DÖV 1993, 998, der jedoch unberücksichtigt läßt, daß die Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren allein der vorläufigen Sicherung dient und daher andere Folgen berücksichtigen muß als die Hauptsacheentscheidung.
D. Einschätzungsprärogative und Einsatz der Streitkräfte
287
Exekutivmaßnahmen von außerordentlicher und ressortübergreifender Tragweite die Bundesregierung als Spitze der Exekutive zu berufen 540. Diese Logik ist auch für den Streitkräfteeinsatz im Ausland gültig. Dementsprechend bietet die analoge Anwendung der Art. 35 Abs.3 und 87a Abs. 4 GG nach der bestehenden Verfassungslage die überzeugendste Lösung 541 .
b) Parlamentsvorbehalt de constitutione ferenda Gegen die Regelung des Grundgesetzes werden verfassungspolitische Bedenken angemeldet, die von Ipsen insbesondere für den Fall der kollektiven Verteidigung formuliert wurden 542 . Da die Entscheidung über die Anwendung von Waffengewalt von existentieller Bedeutung für die Bundesrepublik und ihre Bevölkerung sein kann, sollte die Entscheidung in einem demokratischen Staat nicht der Legitimation durch die Volksvertretung entbehren. Wenn das GG schon für den sehr viel weniger einschneidenden Akt des Abschlusses eines politischen Vertrags die parlamentarische Legitimation nach Art. 59 Abs. 2 GG fordere, so müsse dies noch mehr bei der Entscheidung über die kollektive Verteidigung gelten. Es könne gerade die Entscheidung der Bundesregierung zur bewaffneten Beistandsleistung sein, die dazu führt, daß auch das Bundesgebiet angegriffen werde, womit die parlamentarische Feststellungsbefugnis nach Art. 115a Abs. 1 praktisch durch einen Akt der Exekutive präjudiziert würde. Diese und ähnliche Stellungnahmen bringen die Einsatzentscheidung mit den möglicherweise gravierenden Folgen für die Bundesrepublik und ihre Bevölkerung in Verbindung. Sie beruhen - vor allem auch aufgrund der historischen Erfahrungen Deutschlands - auf der Überlegung, daß eine möglichst breite Konsensbildung durch die parlamentarische Debatte vor unüberlegter Gewaltanwendung schützen kann. Die Grundgedanken legen es nahe, bei einer Änderung des Grundgesetzes nach der Einsatzform zu differenzieren 543. Die schnelle Reaktion bei einer unmittelbaren Bedrohung der Bundesrepublik oder eines ihrer Bündnispartner kann nur durch die Bundesregierung erfolgen, während Einsätze im Auftrag der UNO im Rahmen einer Grundgesetzänderung von der Zustimmung des
540
K.Ipsen, Einsatz, S. 626.
541
K.Ipsen, Einsatz, S. 626; Blumenwitz, Einsatz, S. 144; Riedel, Einsatz, S. 257 f.
542
KIpsen, Einsatz, S. 262 f.; Riedel, Einsatz, A. 260 ff.
543
Vgl. auch die Vorschläge bei Riedel, Entscheidung über eine Beteiligung der Bundeswehr, DÖV 1993, 999.
288
3. Teil: Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik
Bundestags abhängig gemacht werden können 544 . Soweit hier für "friedenserhaltende" und "friedensschaffende" UN-Maßnahmen unterschiedliche Mehrheiten gefordert werden (einfache bzw. Zweidrittelmehrheit), ist für die verfassungsgerichtliche Kontrolle aber nicht unproblematisch, daß nach dem bisherigen Stand des Völkerrechts die Übergänge zwischen beiden fließend sind, wie insbesondere die jüngsten Missionen in Bosnien und in Somalia verdeutlichen. Die Entscheidung fiele im Streitfall wiederum dem Bundesverfassungsgericht zu, das dabei nicht etwa an eine Qualifizierung durch die Organe der UNO gebunden wäre. In der Diskussion bislang nicht beachtet wird eine Lösungsalternative, die sich auch nach den amerikanischen Ansätzen zur Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative anbietet545. Danach könnte die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz in allen Fällen einheitlich durch die Bundesregierung getroffen werden, während die parlamentarische Kontrolle dadurch gesichert wird, daß ein Einsatz auf (nachträglichen) Beschluß des Bundestags hin zu beenden ist. In Art. 80a Abs. 3 S. 2 und 87a Abs. 4 S. 2 GG finden sich vergleichbare Regelungen für den Spannungsfall bzw. den innerstaatlichen Einsatz der Bundeswehr. Die parlamentarische Kontrolle und Beteiligung wird gesichert, ohne die funktionellen Vorteile der Bundesregierung bei der Einsatzentscheidung zu beeinträchtigen. Auch hier gilt es freilich die unterschiedlichen Konstellationen abzugrenzen und von unterschiedlichen Mehrheiten abhängig zu machen. Mit Blick auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist diese Lösung jedoch vorzugswürdig, da sie den Vorrang der politischen Verfassungsorgane stärker zur Geltung bringt und das Bundesverfassungsgericht nur nach einer ausdrücklichen Stellungnahme des Parlaments tatig werden müßte.
344 In allen Entwürfen zur Änderung des GG ist die Bindung an einen Beschluß des Bundestages vorgesehen, wenn auch im einzelnen große Unterschiede hinsichtlich der erforderlichen Mehrheiten und der zugelassenen Einsatzkonstellationen bestehen, die in der politischen Auseinandersetzung eine Einigung der Fraktionen verhinderte. BT-Drucks. 12/4107, 12/4135, 12/2895, 12/3055, 12/3014. 544
Vgl. insbesondere zur War Powers Resolution 2. Teil B.ÎV.2.
Vierter
Teil
Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im außen- und sicherheitspolitischen Bereich Rechtsvergleich A, Stellung und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten L Gemeinsame Verfassungsgrundsätze Die Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und der USA weisen Gemeinsamkeiten auf, die es rechtfertigen, sie der gleichen "Verfassungsfamilie" zuzurechnen1. Das Grundgesetz baut mit den Verfassungsprinzipien des Demokratie-, Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzips (Art. 20 GG) auf den gleichen Grundgedanken wie die US-Verfassung auf 2. Nicht zuletzt die amerikanische Einflußnahme im Zuge der Verfassungsgebung nach dem Zweiten Weltkrieg resultierte in Parallelen hinsichtlich der Grundrechtsgarantien (Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte), des föderativen Staatsaufbaus und der Gewaltenteilung3. Die wichtigste Vorbildfunktion kommt der amerikanischen Verfassungstradition indes im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit zu 4 . Die Verfassungsgerichtsbarkeit aktualisiert im deutschen Rechtskreis ebenso wie im amerikanischen die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Verfassung5. Ihre spezifische Funktion besteht darin, die politischen Organe auf die
1
Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, NJW 1989, 1333 ff.
2
Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984.
3
v.Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, 1986; Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung. Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung, 1987. 4 Pieroth, S. 1337; Steinberger, S. 33 ff.; vgl. auch Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? - Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1993, S. 319-347. 5 Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: K. Hesse / S. Reicke / U. Scheuner, Staatsverfassung und Kirchenordnung, 1962; H. Maier, Die Wohltat des Rechts und die Plage der Verrechtlichung. Gedanken zum Verhältnis Recht und Politik, in: M . Mols / H.O. Mühleisen / Th. Stammen / B. Vogel, Normativität und institutionelle Ordnungsprobleme des
19 Schwarz
290
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgeriphtsbarkeit im Rechtsvergleich
Respektierung der Verfassung hin zu kontrollieren. Der Vorrang der Verfassung und des Gesetzes sichert die Freiheit des Einzelnen. Freiheitssicherung durch die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit allen staatlichen Handelns ist demgemäß in Deutschland und in den USA die wichtigste Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie umfaßt neben der Präzisierung des Gehalts der Grundrechte insbesondere die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Kompetenz- und Verfahrensregelungen. Zugleich dient die Verfassungsgerichtsbarkeit dabei der Bewahrung und Fortbildung des Verfassungsrechts und bewirkt in diesem Sinne "Verfassungsstabilität" 6. Bei der Umsetzung dieser gemeinsamen Grundgedanken zeigen sich bereits an diesem Punkt wichtige Unterschiede, wenn man bedenkt, daß eine Verfassungsmäßigkeitskontrolle in den USA nur Inzident in einem Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchgeführt wird, sie in Deutschland jedoch beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert und in besonderen Verfahrensweisen ausdifferenziert ist. Der Freiheitssicherung des einzelnen dienen Organstreitund abstrakte Normenkontrollverfahren anders als die Verfassungsbeschwerde nurmehr indirekt. Die gemeinsame Tradition und die übereinstimmenden Grundgedanken lassen damit die unterschiedlichen Ausprägungen der deutschen und der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit umso deutlicher hervortreten. Dabei geht es im folgenden um die institutionellen, materiellen und funktionellen Unterschiede, die die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrem Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen entscheidend beeinflussen.
IL Rechtsprechung im herkömmlichen Sinn, Rechtsprechung besonderer Art oder Teilhabe an der Regierungsfunktion? Sowohl in Deutschland als auch in den USA bewirkt die allgemeine Verfassungsbindung der Gerichtsbarkeit, daß generell alle Gerichte mit Verfassungsrechtsfragen befaßt sind7. Soll "Verfassungsgerichtsbarkeit" keine bloß traditio-
modernen Staates, 1990, S. 127-136; H. Maier, Recht und Politik, in: Sitzungsbericht zum 57. Deutschen Juristentag 1988. 6
Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? - Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1993, S. 319-347. 7 Wenig Sinn macht es daher, Verfassungsgerichtsbarkeit "im weitesten Sinne" als "jedes gerichtliche Kontrollverfahren der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte" zu definieren. So aber Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984, S. 5; hierzu die Besprechung von
Α. Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefuge der Staatsgewalten
291
nell begründete Sammelbezeichnung sein8, kommen als systematische Kriterien des Begriffs einerseits die institutionelle Verselbständigung der Jurisdiktion in Verfassungsrechtsfragen und andererseits die schwerpunktmäßige, unmittelbare Befassung mit Verfassungsstreitigkeiten in Betracht 9. Hinsichtlich der institutionellen Grundlagen sind das Bundesverfassungsgericht und der Supreme Court Repräsentanten dieser beiden unterschiedlichen Grundformen der Verfassungsgerichtsbarkeit 10.
1. Zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland Mit dem Bundesverfassungsgericht 11 wurde in Deutschland ein institutionell verselbständigtes Gericht geschaffen, das ausschließlich spezifische Verfassungsrechtsfragen mit letztverbindlicher Wirkung für alle Staatsorgane entscheidet. Dem Bundesverfassungsgericht wird bereits formal im Grundgesetz durch die besondere Hervorhebung des Gerichts in Art. 92, 93 GG sowie durch § 1 BVerfGG eine Sonderstellung innerhalb der Rechtsprechung zugewiesen. Inhaltlich ist das Bundesverfassungsgericht ausschließlich mit Verfassungsrechtsfragen befaßt und nicht als "Superrevisionsinstanz" mit einfachrechtlichen Fragen ohne spezifisch verfassungsrechtlichen Gehalt. Die "klassischen" Verfassungsstreitigkeiten - neben dem Bund-Länder-Streit und der abstrakten und konkreten Normenkontrolle insbesondere der Organstreit 12 - sind bei ihm als allein zuständigem Gericht monopolisiert.
Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld der Rechtsvergleichung, 1992, S. 590-596. 8
Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 9.
9
Hesse, Grundzüge, Rn. 674.
10
Stern, Staatsrecht II, S. 936 f.; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992. 11 Stern, Staatsrecht II, § 44 Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 936 ff.; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgeftige, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, S. 665 ff. 12
Die Verfassungsbeschwerde wurde zunächst einfachgesetzlich durch das BVerfGG eingeführt und erst später auch verfassungsrechtlich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG abgesichert. Vgl. auch Stern, Staatsrecht II, S. 937. 19*
292
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
2. Dezentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA Der Supreme Court ist demgegenüber in erster Linie oberste Revisionsinstanz für die Gerichtsbarkeit des Bundes und der Einzelstaaten13. Durch den Text der amerikanischen Verfassung wird ihm keine hervorgehobene Rolle zugewiesen. Die Befugnis zur Normenkontrolle und zur Überprüfung aller Akte der Staatsgewalt wurde erst mit der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison 14 von Chief Justice Marshall durch den Supreme Court selbst aus dem System und den Grundgedanken der Verfassung abgeleitet15. Er ist nicht auf Verfassungsrechtsfragen spezialisiert, sondern diese gehören neben Rechtsfragen aus allen anderen Rechtsgebieten zu seinen Zuständigkeiten. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist hier nicht institutionell verselbständigt; in allen Verfahren haben zunächst die unteren Gerichte die Verfassungsstreitigkeit in den regulären Verfahrensarten zu beurteilen 16. Insbesondere beginnt daher jede gerichtliche Auseinandersetzung zwischen den obersten Staatsorganen und zwischen der Exekutive und der Legislative auf der untersten Instanzebene der District Courts, wie jede private Klage auch. Die Einordnung der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit in die "normale" Zuständigkeit und Rechtsprechungspraxis ist für die Autorität des Gerichts gegenüber den politischen Staatsorganen von kaum zu überschätzender Bedeutung. Für das Selbstverständnis des Supreme Court als Gericht im herkömmlichen Sinne ist sie entscheidend.
13 Millgramm, S. 23, zu einem Überblick über die Zuständigkeiten. Vgl. auch v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992. 14 Marke , Historical Background and Current Implications of Marbury v. Madison, in: Ch. P. Blackmore / A. Yeselson: The Fabric of Democracy, 2nd ed., New York 1969, S. 212-221. 13 16
Vgl. dazu auch Stern , Grundideen, S. 31 ff. und Anhang.
Zur Dezentralisierung der Verfassungsrechtsprechung vgl. auch Zweigert, Rechtsvergleichende Bemerkungen, S. 66; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992.
Α. Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefge der Staatsgewalten
293
3. Konsequenzen für die Autorität der richterlichen Entscheidung Die Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts hat die herrschende Lehre dazu veranlaßt, es als ein "Gericht besonderer Art" zu qualifizieren 17 . Das Bundesverfassungsgericht hat seine Stellung als "oberstes Verfassungsorgan" auf einer Ebene mit den anderen obersten Bundesorganen deutlich herausgestellt 18. Neben bestimmten Statusrechten (Selbstverwaltung, Haushalt, Stellung der Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts) ergibt sich hieraus als wichtigste Konsequenz die völlige Gleichstellung mit den anderen Verfassungsorganen wie Bundespräsident und Bundesrat, im außen- und sicherheitspolitischen Bereich vor allem mit der Bundesregierung und dem Bundestag19. Wie der Gesetzgeber unterliegt es nicht der Bindung des Richters an das Gesetz, sondern ist allein verfassungsgebunden 20. Im Verhältnis zu den Aufgaben der anderen Staatsorgane kommt es zu Überschneidungen, die das Gericht bisweilen zum "de facto Gesetzgebungsorgan"21 werden lassen22. Die Teilhabe des Bundesverfassungsgerichts an der Parlament und Regierung vorbehaltenen Regierungsfunktion im materiellen Sinne der Staatsleitung ist hiermit tendenziell vorgegeben 23. Sie mündet vereinzelt in Vorschlägen an das Gericht, sein Selbstverständnis in dieser Richtung zu erweitern 24. Geht es in Deutschland also um die Frage, ob die Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts die Zuordnung zur Judikative noch gestattet und wie
17
Hesse, Grundzüge, Rn. 670, vgl. auch Rn. 566; Leibholz, Bundesverfassungsgericht, S. 396.; Stern, Staatsrecht II, S. 941 ff.; Roellecke, Aufgaben und Stellung im Verfassungsgefuge, S. 668 f. 18
Vgl. BVerfGE 6, 300 (304); BVerfGE 7, 1 (14):
Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts ist eine andere als die der oberen Bundesgerichte. Es ist als Gericht zugleich ein oberstes Verfassungsorgan. 19
Roellecke, Aufgaben und Stellung im Verfassungsgefuge, S. 660.
20
Seuffert, Die Abgrenzung der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, NJW 1969, 1369. 21
Schefold,
Verfassungsgerichtsbarkeit, Sp. 2364.
22
Im Falle der Normenkontrolle insbesondere bei Appellentscheidungen mit konkreten Vorgaben an den Gesetzgeber, um bei künftigen Regelungen die festgestellten Gründe der Verfassungswidrigkeitzu vermeiden. Zum Grundlagenvertragsurteil sieheZweigert, Rechtsvergleichende Bemerkungen, S. 74. 23 Zweifelnd zur Gerichtsqualität etwa Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 1980, S. 24, 31 ff. 24
Hierzu kritisch Delbrück, Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, S. 86 f. m.w.N.
294
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
der Gerichtscharakter stärker zur Geltung gebracht werden kann 25 , verhält es sich in den USA gleichsam spiegelbildlich. Denn hier wird der Supreme Court selbstverständlich als Teil der rechtsprechenden Gewalt begriffen, jedoch provoziert jede Stellungnahme in politisch relevanten Rechtsstreitigkeiten den Vorwurf eines judicial activism . Die Befugnis zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle ist zwar im Grundsatz anerkannt. Je weiter sie sich aber von der primären Aufgabe des Individualrechtsschutzes löst bzw. je weiter sie sich in bestimmte traditionell als political questions qualifizierte Bereiche hineinbewegt, desto stärker gerät das Gericht unter Rechtfertigungsdruck. Dieser macht sich in noch verstärktem Maße bei den unteren Gerichten bemerkbar. Die für den Regierungssitz Washington, D.C., zuständigen Gerichte haben insoweit eine Aufmerksamkeit erfahren, die über diejenige anderer Instanzgerichte hinausgeht. Den außerordentlichen Herausforderungen entsprechend haben sie besondere Doktrinen für die Prozesse von Parlamentariern (neben der political question doctrine , standing v.a. die equitable discretion doctrine) entwickelt. Insbesondere anhand der Verfahren im außen- und sicherheitspolitischen Bereich wird deutlich, daß die in Deutschland und in den USA unterschiedliche Ausrichtung der Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten entscheidenden Einfluß auf die Autorität hat, mit der das Gericht gegenüber den anderen Staatsorganen Stellung beziehen kann. Die Verselbständigung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der übrigen Rechtsprechung und seine Gleichordnung mit den Verfassungsorganen, deren Verhalten es zu beurteilen hat, unterstreicht den Geltungsanspruch der Entscheidung in der Sache26. Der Supreme Court wird zwar in erster Linie als Verfassungsgerichtshof begriffen und gründet hierauf sein hohes Ansehen. Selbstverständnis und institutionelle Ausgestaltung als oberste Instanz der sonstigen Gerichte und die Eingliederung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die "reguläre" Rechtsprechung gebieten aber die Zurückhaltung bei politisch relevanten Rechtsstreitigkeiten.
///.
Funktion nach dem Rechtsstaatsprinzip
In materieller Hinsicht beruhen die unterschiedlichen Ausprägungen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf einem unterschiedlichen Verständnis von
25 26
Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 471 ff.
Auch in diesem Sinne dient die in der Ausdifferenzierung als selbständigem Gericht liegende "relative "Politisierung" eines besonderen Verfassungsgerichts gerade seiner politischen Neutralisierung", Roellecke, Aufgaben und Stellung im Verfassungsgefiige, Rn. 23.
Α. Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefge der Staatsgewalten
295
Rechtsstaatlichkeit. Das deutsche Rechtsstaatsprinzip und die amerikanische rule of law können nicht ohne weiteres inhaltlich gleichgesetzt werden 27 . Das Rechtsstaatsprinzip beinhaltet insbesondere den Vorrang und den Vorbehalt der Verfassung 28. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Konsequenz des normativen Rangs der Verfassung und ihrer uneingeschränkten Rechtsverbindlichkeit für alles staatliche Handeln29. Die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung aller Verfassungsstreitigkeiten durch das Verfassungsgericht ist danach eine "logische Konsequenz"30 der Verfassungsbindung aller Staatsgewalt. Das Bundesverfassungsgericht wird in diesem Sinne zum "Hüter der Verfassung" 31. Auch in den USA ist die Verfassung fur alle Staatsorgane "the supreme law of the land" (Art. V I § 2 US-Verf.). Aus einzelnen Verfassungsprinzipien wie der Gewaltenteilung und dem Grundrecht auf ein faires Verfahren {due process clause in Amendment V US-Verf.) wurde zwar eine gemeinsame Zielsetzung geschlossen, aber kein umfassendes Rechtsinsitut wie das Rechtsstaatsprinzip entwickelt 32 . Dem Rechtsstaatsprinzip entsprechende Grundsätze finden sich daher in der Rechtsprechung zu einzelnen Grundrechten, entfalten jedoch keine Wirkung auf der Ebene der Kompetenzverteilung zwischen den Staatsgewalten 33 . Der normative Höchstrang der Verfassung und ihr Vorrang bei allem staatlichen Handeln ist ein Problemkreis, der logisch und praktisch von der Frage der verfasssungsgerichtlichen Durchsetzbarkeit unterschieden werden muß 34 . Hiermit geht jedoch nach amerikanischem Verständnis nicht in jedem Fall eine umfassende Letztentscheidungsbefugnis der rechtsprechenden Gewalt
27
Fraenkel,
Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 171 ff.
28
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 192, 199 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 599 ff., 633 ff; Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 477 ff, 485 ff.; Doehring, Staatsrecht, S. 231 ff. 29
Stern, Staatsrecht II, S. 959.
30
Vgl. auch Stern, Grundideen, S. 23 f.
31 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein, 1931; C.Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931. Vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 559 ff.; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefuge, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, S. 665-682. 32
Fraenkel,
33
Ebenso Nolte , Ermächtigung der Exekutive zur Rechtsetzung, S. 406
4
ie
S. 196 ff.; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 558, 570 ff.
ricanst
S.
f.
.
296
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsvergleich
einher. Zumindest drei Ansätze zur Frage, wer die Verfassung letztverbindlich auszulegen hat, sind zu unterscheiden 35. (1) Nach dem ersten Ansatz hat die Rechtsprechung die Letztentscheidungsbefugnis über alle Fragen der Verfassungsinterpretation. Jedes Staatsorgan hat bei seinem Handeln die Grenzen der Verfassung zu beachten und hierzu die Verfassung selbst auszulegen. Aber nur die Rechtsprechung entscheidet auch für alle anderen Staatsgewalten autoritativ, solange diese Interpretation nicht durch eine Änderung der Verfassung (Amendment) vom Gesetzgeber seinerseits revidiert wird. Dieser Ansatz wird regelmäßig auf Marbury v. Madison gestützt36. Der Grundsatz "It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is" 3 7 läßt sich aber auch restriktiver interpretieren, als die kategorische Formulierung auf Anhieb nahelegt. Im konkreten Fall ging es um eine Frage der sachlichen Zuständigkeit, die von der Vereinbarkeit des Judiciary Act of 1789 mit Art. III US-Verf. abhing. Der Supreme Court hatte also eine konkrete Normenkontrolle im Bereich derjenigen Verfassungsbestimmung durchzuführen, die sich auf die rechtsprechende Gewalt bezieht. In dieser restriktiven Lesart ist die Entscheidung mit dem zweiten Ansatz zur Interpretationsbefugnis vereinbar. (2) Nach diesem zweiten Ansatz existiert zwar eine Letztentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns. Sie ist jedoch nicht einer Staatsgewalt zugeordnet und bei der Rechtsprechung konzentriert. Uber die unterschiedlichen Teile des Verfassungstextes entscheiden vielmehr die jeweils betroffenen Staatsgewalten selbst. Marbury v. Madison bezöge sich nach dieser Auffassung allein auf den die rechtsprechende Gewalt betreffenden Art. III US-Verf. und legt nicht generell den Vorrang der verfassungsgerichtlichen Interpretation fest 38. In ähnlicher Weise wären die politischen Gewalten und nicht die Rechtsprechung zur Entscheidung über die Auslegung von Art. I und II US-Verf., d.h. den Bestimmungen über die Exekutive und die Legislative, und insbesondere die Kompetenzverteilung zwischen ihnen berufen. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung formuliert
35
Vgl. auch zum Nachfolgenden Chemerinsky, Interpreting the Constitution, insbesondere Chapter 5 "Who Should Be the Authoritative Interpreter of the Constitution?", S. 81 ff. Vgl. allgemein Brugger, Verfassungsinteipretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, J.ö.R. N.F. 42 (1994), 571-594. 36 Stern, Grundideen, S. 31 ff.; Tribe , American Constitutional Law, S. 23 ff; Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 1 ff. 37
5 U.S. (1 Cranch) 137, 177 (1803).
38
Chemerinsky,
Interpreting the Constitution, S. 84 f.
Α. Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten
297
etwa Choper ein separation proposal* 9. Nach seinem "Trennungs-Vorschlag" sollen alle Fragen der Gewaltenteilung allein durch die politischen Gewalten und ohne die Beteiligung der Gerichte gelöst werden. The federal judiciary should not decide constitutional questions concerning the respective powers of Congress and the president vis-à-vis one another; rather, the ultimate constitutional issues of whether executive action (or inaction) violates the prerogatives of Congress . . . should be held to be nonjusticiable, their final resolution to be remitted to the interplay of the national political process40.
(3) Nach einem dritten Ansatz schließlich gibt es keinen Vorrang der einen oder anderen Staatsgewalt bei der Auslegung der Verfassung. Alle drei sind vielmehr bei der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen gleichgeordnet. Seit den Anfangen der Staatlichkeit der USA läßt sich diese Auffassung unter den Amtsträgem der Exekutive bis heute nachweisen. Der erstgenannte Ansatz entspricht auch in den USA der herrschenden Meinung der Verfassungsrechtslehre 41. Im außen- und sicherheitspolitischen Bereich wird aber auch deutlich, daß die übrigen Ansätze nicht bloß von theoretischem Interesse sind, sondern - zumindest in Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik - die Gerichtspraxis dominieren. Denn der zweite Ansatz bildet das normative Fundament der Justiziabilitätsdoktrin und der (Nicht-) Entscheidung über die Kompetenzverteilung zwischen den politischen Gewalten (bzw. das Konzept einer dynamischen Kompetenzverteilung). Die oben im einzelnen formulierte Kritik 4 2 der political question doctrine richtet sich gegen ein unreflektiertes Verständnis von rule of law und der entsprechenden Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nur der erste Ansatz entspricht dem deutschen Rechtsstaatsverständnis.
39 Choper , Judicial Review and the National Political Process: A Functional Reconsideration of the Role of the Supreme Court, 1980 40
Choper , S. 263.
41
Chemerinsky , Federal Jurisdiction, S. 124 ff.; Tribe , American Constitutional Law, S. 67 ff.; Henkin , Foreign Affairs, S. 208 ff.; Glennon , Foreign Affairs and the Political Question Doctrine, 83 AmJ.Int'l L. 814 (1989); Brugger, Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, J.ö.R. N.F. 42 (1994), 571-594; jeweils mit weiteren Nachweisen. Vgl. im übrigen die Nachweise zu political question doctrine oben 2. Teil A.II. 42
Siehe oben 2. Teil A.II.3. und III.
298
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
IV. Funktion nach dem Demokratieprinzip Eine unterschiedliche Funktion wird der Verfassungsgerichtsbarkeit auch bei der Sicherung des Gleichgewichts zwischen den politischen Gewalten zugewiesen. Das Demokratieprinzip hat in Deutschland und in den USA in unterschiedlichen Regierungssystemen Ausdruck gefunden. Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik stützt sich die Bundesregierung auf die Mehrheit im Bundestag. Die Parlamentsmehrheit ist zwar nicht rechtlich an die Position der Regierung in einem Verfassungsstreit gebunden, jedoch schließen die politischen Bindungen ein Abweichen in der Regel aus43. Daß sie auch die Stellungnahme des Bundestages als Organ gegenüber der Bundesregierung bestimmt, verdeutlicht die dem parlamentarischen System eigene Gefahr der schleichenden Selbstentmachtung des Parlaments 44. Die Rolle der Opposition fallt damit der Bundestagsminderheit zu, die die Kontrollfunktion des Parlaments gegnüber Bundesregierung und Bundestagsmehrheit ausübt45. Sie kann jedoch ihrer Auffassung keine rechtlich verbindliche Wirkung verleihen, da der Bundestag mehrheitlich entscheidet. Die parlamentarischen Kontrollinstrumente mit rechtsverbindlicher Wirkung (Mißtrauensvotum, Gesetzgebung oder Haushaltsrecht) stehen der Opposition nicht zu Gebote. Für die Opposition wird die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts damit zu einem wichtigen Mittel sowohl der politischen Auseinandersetzung als auch der rechtlichen Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht hat den Minderheitenschutz insbesondere im Organstreitverfahren als einen der zentralen Zwecke dieser Verfahrensart herausgestellt 46. Im Rechtsvergleich mit anderen Ausprägungen der Verfassungsgerichtsbarkeit erweist sich das Organstreitverfahren als die charakteristische Grundform der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit 47. Im präsidentiellen Regierungssystem der USA hingegen sind Parlament und Regierung nicht nur institutionell verselbständigt, sondern auch jeweils unmittelbar demokratisch legitimiert. Nicht selten bewirken die gesonderten Wahlen, daß beide auch politisch voneinander unabhängig sind, und zwar traditionell nicht nur wenn die politische Mehrheit in den beiden Häusern des Kon-
43
Doehring, Staatsrecht, S. 212 f.
44
Nolte , S. 408 f.
45
Stern, Staatsrecht II, S. 955.
46
Weiter Nachweise bei Stern, Staatsrecht II, S. 955 Fn. 95.
47
Friesenhahn, ZSchR 73 (1954), 134. Für den Supreme Court ist die (inzidente) Normenkontrolie im Anschluß an Marbury v. Madison , 5 U.S. (1 Cranch) 137, die charakteristische Grundform, vgl. Stern, Staatsrecht II, S. 938.
Α. Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefiige der Staatsgewalten
299
gresses nicht den Präsidenten stützt48. Legislative und Exekutive sind damit auf politisch tatsächlich miteinander konkurrierende Institutionen verteilte Staatsgewalten und der Kongreß verfügt über ein rechtliches Instrumentarium, um Einfluß auf die Regierung nehmen zu können. In einer derartigen Konstellation der "Waffengleichheit" ist das Vertrauen auf das "freie Spiel der politischen Kräfte", die Machtbegrenzung durch die institutionelle Trennung der Gewalten und damit die strengere Beschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit eher gerechtfertigt. Den Schutz der politischen Minderheit sieht der Supreme Court nicht als seine Aufgabe an. Ein Organstreitverfahren existiert nicht wie in Deutschland als eigene Verfahrensart und wird durch die Justiziabilitätsdoktrin und das Konzept einer dynamischen Kompetenzverteilung auch in den ordentlichen Verfahren praktisch ausgeschlossen49. Dabei geht der Supreme Court sogar soweit, bezüglich der Kompetenzverteilung der politischen Auseinandersetzung den Vorrang vor der gerichtlichen Entscheidung einzuräumen, während nach dem deutschen Verständnis die klare Entscheidung der Kompetenzverteilung als die Voraussetzung und Grundlage der politischen Auseinandersetzung angesehen wird und nicht als deren Gegenstand.
V. Konsequenzen Die prinzipiellen Unterschiede hinsichtlich der Stellung und Funktion der deutschen und der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten haben Konsequenzen für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der staatlichen Tätigkeit. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit im außen- und sicherheitspolitischen Bereich haben die Untersuchungen im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit die unterschiedlichen Ansätze bei der Frage des Zugangs zur gerichtlichen Entscheidung und deijenigen der Ausgestaltung der materiellrechtlichen Verfassungsbestimmungen, insbesondere der Kompetenzverteilung deutlich gemacht. Die unterschiedlichen Ansätze sind die justiziellen Antworten auf vergleichbare Herausforderungen, die sich für die deutsche ebenso wie für die amerikanische Verfassungsrechtsprechung aus einem immer wieder neu auszubalancierenden Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und äußerer Machtkon-
48
So zuletzt unter Präsident Bush, der als Republikaner zahlreiche Konflikte mit dem durch die Demokraten beherrschten Kongreß auszufechten hatte. 4
ch
e r ,
v i n d e e r u n g e ,
S. 6 .
300
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
stellation ergeben 50. Aufgabe und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ist es, die verfassungsrechtlichen Grenzen aller Staatstätigkeit mit der gebotenen Entschiedenheit zu bestimmen und zugleich den Freiraum der politischen Gestaltung durch die politischen Staatsgewalten offenzuhalten. Ohne eine Absage an die Grundsätze der Verfassung gilt es, den Vorrang des politischen Prozesses vor der justiziellen Staatsleitung zu gewährleisten. Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Letztentscheidungsbefugnis kann nur das Verfassungsgericht selbst im Einzelfall seine eigenen Grenzen ziehen. Legt man die unterschiedlichen Ausgangspositionen zugrunde, die sich für die deutsche und für die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit aus ihrer jeweiligen Zuordnung zu den politischen Gewalten nach dem oben Gesagten ergibt, lassen sich letztendlich auch die Gemeinsamkeiten beim Versuch der Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Verfassungsbindung und außenpolitischer Zwangslage genauer erkennen. Die Gegenüberstellung der deutschen und der amerikanischen Lösungsansätze mündet daher im Rechtsvergleich in der Frage, ob die Anerkennung und Ausgestaltung einer Einschätzungsprärogative der Regierung im außen- und sicherheitspolitischen Bereich letztlich eine deutsche Variante der political question doctrine beinhaltet bzw. zu einer solchen weiter entwickelt werden sollte.
Bo Ausprägung einer politicai question doctrine in Deutschland? /. Regelung des Zugangs zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung und political question doctrine Gemeinsam mit den übrigen Justiziabilitätsdoktrinen ist es in den USA die zentrale Aufgabe der political question doctrine , den Zugang zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu regeln. Sie haben in der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit die dem deutschen Organstreit entsprechenden Kon-
30
Billing, Bundesverfassungsgericht und Außenpolitk, in: H.-P. Schwarz, Handbuch der deutschen Außenpolitik, S. 158; Bracher, Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik, in: Festschrift fiir Ernst Fraenkel, 1963, S. 115-148.
Β. Political Question Doctrine in Deutschland?
301
stellationen bislang weitgehend verhindert 51. Die verschiedenen Doktrinen neben der political question doctrine , insbesondere auch standing , equitable discretion doctrine und ripeness - wirken zusammen in dem Bestreben, den Vorrang der politischen Auseinandersetzung vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu wahren. Hierbei schließen sie auch den verfassungsgerichtlichen Schutz der parlamentarischen Minderheit praktisch aus. Dem Bundesverfassungsgericht ist ein vergleichbarer Ansatz durch die ausdrückliche Normierung des Organstreitverfahrens von vorneherein verwehrt. Der Minderheitenschutz ist aufgrund der Antragsbefugnis auch für Organteile zu Recht zu einem der Hauptzwecke des Verfahrens entwickelt worden 52 . Darüber hinaus tendiert die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch zu einer zu weitgehenden "Verobjektivierung" des Verfahrenszwecks, d.h. der Loslösung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung von der konkreten Streitsituation zugunsten einer Fortentwicklung des objektiven Verfassungsrechts. Der Blick auf die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit kann in diesem Zusammenhang die Ansatzmöglichkeiten fur eine Stärkung des politischen Prozesses verdeutlichen. Sie gilt es, den Gegebenheiten der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit entsprechend umzusetzen. Wie dargelegt bildet die Betonung der kontradiktorischen Ausgestaltung der verfassungsgerichtlichen Verfahren (Verfahrenserledigung, Rechtsschutzbedürfnis u.a.) hier den systemgerechten Ansatzpunkt, ohne daß es der pauschalen Übernahme der political question doctrine bedürfte 53. Gleichzeitig darf nicht verkannt werden, daß die political question doctrine über ihre Funktion als Zulässigkeitsvoraussetzung amerikanischer Prägung (" political question doctrine im engeren Sinne") hinaus geht. Ihre Grundgedanken prägen auch die amerikanische Verfassungsrechtsprechung zu den Fragen des materiellen Verfassungsrechts ("political question doctrine im weiteren Sinne"), insbesondere die Ausprägung einer dynamischen Kompetenzverteilung zwischen den politischen Gewalten. Im Bereich des materiellen Verfassungsrechts sind auch die wichtigsten Ansätze zu suchen, mit denen die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit die funktionell-rechtlichen Anliegen der political question doctrine durch die Ausgestaltung des Prüfungsmaßstabs im außen- und sicherheitspolitischen Bereich umsetzt. Beide Aspekte sollen noch kurz aufgegriffen werden.
51
Vgl. oben 2. Teil A.II.
ff.
32
Siehe oben 3. Teil B.III.S.a).
33
Siehe oben 3. Teil B.III.
302
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
IL Lehre vom jus titfreien Hoheitsakt, political question doctrine und Einschätzungsspielraum 1. Rechtsprechung und herrschende Lehre Eine political question doctrine als solche existiert in Deutschland nicht. Die Stimmen, die sich wie etwa Ehmke 54 oder Dolzer* 55 fiir die Übernahme der amerikanischen oder Ausprägung einer entsprechenden deutschen Lehre ausgesprochen haben, sind in der Minderheit geblieben. Rechtsprechung und herrschende Lehre gehen davon aus, daß alle Verfassungsstreitigkeiten unter dem Grundgesetz einer juristischen Lösung zugänglich sein müssen, wenn sie in den entsprechenden Verfahrensarten vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden 56 . Die Bundesregierung hat sich in verfassungsgerichtlichen Verfahren mehrfach ausdrücklich auf die amerikanische political question doctrine bezogen, um die Nichtjustiziabilität eines Regierungsakts zu begründen 57. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Argumentation nicht aufgegriffen 58. Bei einer Umfrage sprachen sich 1983 nur zwei von 16 Richtern des Bundesverfassungsgerichts für die Übernahme der Doktrin aus59. Allerdings erscheint diese Minderheit vor dem Hintergrund der Zurückweisung doch beachtlich. Eine differenzierte und abwägende Erörterung der political question doctrine im
54
Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (75 f.).
55
Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane. Die Geeignetheit des Entscheidungsverfahrens als Kriterium verfassungsgerichtlicher Kompetenz, Heidelberg 1982, S. 27 ff., 48 ff.; Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1972, S. 100 ff. 56 Blumenwitz, Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der auswärtigen Gewalt, DVB1. 1976, 464, 469; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 309 ff., 311; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 171 ; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 314; Rinken, in: Alternativkommentar, vor Art. 93 Rn. 91 f.; Stern, Staatsrecht II, S. 961; Tomuschat, Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle, DÖV 1973, 801, 806; Zuck, Political-Question-Doktrin, Judicial-self-restraint und das Bundesverfassungsgericht, JZ 1974, 361 ff.. Aus der amerikanischen Lehre zum deutschen Recht: Franck , Political Questions/Judicial Answers, S. 107 ff.; Kommers, Constitutional Jurisprudence, S. 163 f. 57 Vgl. die Argumentation der Bundesregierung im Saarstreit, Schuppen, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 96. 5g 59
BVerfGE 4, 157 (161); 68, 1 (62).
Landfiied, Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 200; v.Beyme, Verfassungsgerichtsbarkeit und Policy Analysis, S. 262.
Β. Political Question Doctrine in Deutschland?
303
Hinblick auf das deutsche Verfassungsrecht 60 tritt in der Literatur zumeist hinter nur kurz begründete, dafür umso kategorischer formulierte Zurückweisungen zurück 61 . Ein Grund mag darin liegen, daß eine political question doctrine deutscher Prägung unmittelbar mit der deutschen Lehre vom justizfreien Hoheitsakt gleichgesetzt wird 6 2 und die Diskussion insoweit als abgeschlossen gilt.
2. Lehre vom justizfreien Hoheitsakt Die Lehre vom justizfreien Hoheitsakt steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung eines materiellen Begriffs der Regierung. "Regierung" hebt sich danach als eigenständiger Bereich der Staatstätigkeit von der bloßen Staatsverwaltung durch den Bezug zur Staatsleitung und durch ihren "hochpolitischen" Charakter ab 63 . Zu den Regierungsakten in diesem Sinne zählen neben den Akten im Verhältnis der Staatsgewalten untereinander vor allem die Akte der auswärtigen Gewalt (diplomatische Akte, Abschluß völkerrechtlicher Verträge, Kriegshandlungen u.a.) 64 . Zentrales Motiv der Kategorisierung als Regierungsakt ist es, bestimmte Handlungen der obersten Staatsorgane der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen65. Im Vordergrund steht die Argumentation mit der "Natur" der Regierungsakte. Der materielle Begriff der Regierung, wie er insbesondere von Smend herausgearbeitet wurde, bezieht sich auf einen Bereich, in dem der "Staat sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt" 66.
60 Scharpf\ Grenzen richterlicher Verantwortung. Die political-question- Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, Karlsruhe 1965, leistet eine umfassende systematische Analyse der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, die auch in den USA als Standardwerk zur political question doctrine gilt. Vgl. auch Scharpf, Judicial Review and the Political Question: A Functional Analysis, 75 Yale L.J. 517-597 (1966). Malier, Supreme Court und Politik in den USA. Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1972. Zu einer intensivierten Diskussion in der deutschen Verfassungslehre haben diese Beiträge indes nicht geführt. 61
Zu dieser Einschätzung gelangt auch Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 14 f. m.w.N.
62
Siehe auch die Erörterung bei Zeitler, Verfassungsgericht und völkerrechtlicher Vertrag, S. 120 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 170 f. 63 Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Festschrift Smend, 1952, S. 253 ff.; H.Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte im deutschen Recht, 1955, S. 41, 49 ff. 64
Stern, Staatsrecht II, S. 685 f.; Kassimatis, Der Bereich der Regierung, S. 100 ff.
63
G.Müller, Reservate staatlicher Willkür - Grauzonen zwischen Rechtsfreiheit, Rechtsbindung und Rechtskontrolle, in: Festschrift Hans Huber, Bern 1981, S. 109 ff. 66
Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, 1923, S. 79.
304
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsvergleich
Bezugspunkt ist dabei die "staatliche Integration". Die einheitsstiftende Wirkung der staatsleitenden Akte gehe verloren, wenn diese zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung gemacht würden 67 . Dabei knüpfte die deutsche Lehre vor allem an die Vorbilder des anglo-amerikanischen Rechtskreises (i act of state- im englischen und political question doctrine im amerikanischen Recht) an. Daneben spielten die französischen Wurzeln eine wichtige Rolle 68 . Die historischen rechtsvergleichenden Bezüge bei der Entstehung der Lehre vom justizfreien Hoheitsakt dürfen aber heute nicht ohne weiteres zu einer Gleichstellung mit der political question doctrine herangezogen werden. Eine "wesenmäßige" Gegenüberstellung von Recht und Politik macht nicht den Kern der heutigen Anwendungsfälle der political question doctrine aus. Die grundlegende Untersuchung von Scharpf hat bereits in den 60-er-Jahren deutlich gemacht, daß vor allem funktionelle Erwägungen den Grund der political question doctrine ausmachen69. Für Scharpf ist das Kardinalproblem, das die Gerichte zur Anwendung der political question doctrine im außen- und sicherheitspolitischen Bereich veranlaßt, die Beschaffung der relevanten Informationen einerseits und - bei "reinen Rechtsfragen" - die überragende Bedeutung der Maßnahme fiir das Staatsganze andererseits 70. Nicht die Natur des zu beurteilenden Akts leitet die richterliche Entscheidung, sondern das Wissen um die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts für die Zusammenhänge und Geschehensabläufe im außen- und sicherheitspolitischen Bereich.
3. Gemeinsame funktionell-rechtliche Grundlagen von amerikanischer political question doctrine und deutscher Lehre vom Einschätzungsspielraum In der Literatur wird weithin nicht berücksichtigt, daß die political question doctrine keine isolierte Frage der Zulässigkeitsprüfung ist, sondern - als umfassendes Konzept - in anderen Justiziabilitätsdoktrinen weiter ausgestaltet und auf der Ebene des materiellen Verfassungsrechts durch das Konzept einer dynamischen Kompetenzverteilung fortentwickelt wird 7 1 . Sie wirkt sich damit
67
H.Schneider,
Gerichtsfreie Hoheitsakte, S. 32
68
Zur geschichtlichen Entwicklung im einzelnen vgl. Zeitler, Verfassungsgericht und völkerrechtlicher Vertrag, S. 121 f. m.w.N., und Kassimatis, Der Bereich der Regierung, S. 68 ff. 69
Scharpf \ Grenzen richterlicher Verantwortung, 1965.
70
Scharpf Grenzen richterlicher Verantwortung, S. 145 ff., 207 ff., 404 ff.
71
Siehe oben 2. Teil A.ÏV. und B.IIL3.
Β. Political Question Doctrine in Deutschland?
305
auf allen Ebenen der richterlichen Entscheidungsfindung aus. Im Vordergrund stehen mit den Erwägungen zur Geeignetheit des richterlichen Erkenntnisverfahrens funktionell-rechtliche Erwägungen. Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt ganz ähnliche Erwägungen bei der Wahl und inhaltlichen Ausgestaltung seines Prüfungsmaßstabs im außen- und sicherheitspolitischen Bereich, wie oben im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes und den Auslegungsgrundsätzen deutlich geworden ist 72 . Damit werden die Parallelen in der funktionell-rechtlichen Argumentation der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der political question doctrine der amerikanischen Gerichte deutlich. In den Entscheidungen zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge geht es wiederholt um das notwendige Zusammenwirken der Bundesrepublik mit anderen Staaten - und insoweit ihre mangelnde Autonomie - bei der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen. So sehen etwa Blumenwitz und Tomuschat im Grundlagenvertragsurteil Ansätze einer political question doctrine , soweit dort 73 auf Grund des Sachvortrags der Regierung und ohne nähere Substantiierung eine außenpolitische Risikosituation anerkannt wird 7 4 , im übrigen aber zur Einschätzung der auch von der Bundesregierung nicht näher substantiierbaren Risiken ein "non possumus" erklärt und der Regierung damit die Verantwortung zugeschoben wird. " 7 5 Die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit argumentiert ganz ähnlich mit einem "lack of judicially discoverable and manageable standards" 76. In der Hess-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des Auftretens der Bundesrepublik mit "einheitlicher Stimme" unterstrichen und mit einem weiteren typischen political question doctrine- Argument den weiten Ermessensspielraum der Bundesregierung begründet. In der Tat sieht Bolzer in den Urteilen zu Kalkar 77 und Hess78 sogar die Entwicklung einer political question doctrine in Deutschland79. Die hierin zentrale Begründung, daß es bei der Entscheidung der betreffenden Rechtsfrage nicht Aufgabe der
72
Siehe oben 3. Teil C.II., III.
73
BVerfGE 35, 257 (261).
74
Blumenwitz, Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der Auswärtigen Gewalt. Zur Rezeption eines amerikanischen Rechtsbegriffs durch das Bundesverfassungsgericht, DVB1. 1976, 464 (467). 75
Tomuschat,
Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle, DÖV 1973, 801
(807). 76
Vgl. die Baker-Kriterien oben 2. Teil A.II.l.
77
BVerfGE 49, 89.
78
BVerfGE 55, 349.
79
Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 29 f.
20 Schwarz
306
4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
Gerichte sei, mit ihrer Entscheidung an die Stelle der dazu berufenen Organe zu treten, entspreche beim gleichzeitigen Verzicht auf eine eingehende richterliche Prüfung der Entscheidungstechnik, die in der amerikanischen Verfassungslehre als charakteristisch für die Anwendung der political question doctrine angesehen werde. Das gleiche gelte für die Methode der Begründung des Hess-Beschlusses80. Deutliche Anklänge finden sich auch in der Nachrüstungsentscheidung, wenn das Gericht für die Beurteilung der Bedrohung der Bundesrepublik und der Abschreckungsdoktrin dem Grundgesetz keine rechtlichen Standards entnimmt, sondern die politische Verantwortung der Bundesregierung betont 81 . Damit wird deutlich, wie stark sich die political question doctrine in der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit und die Ausgestaltung einer Einschätzungsprärogative der politischen Gewalten im außen- und sicherheitspolitischen Bereich durch das Bundesverfassungsgericht angenähert haben. Interessanterweise hat der amerikanische Verfassungsrechtler Franck für die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit jüngst eine rule of evidence - im Sinne einer Beweislastregelung für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich und der Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die Ausgestaltung materiell-rechtlicher Standards - als Ersatz für die political question doctrine vorgeschlagen 82. Bemerkenswert ist vor allem, daß er hier mit der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts argumentiert, in der er ein tragfähiges Modell auch für die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit sieht 83 . Die dogmatische Annäherung könnte damit künftig eine wechselseitige werden.
///.
Unterschiedliche Sichtweise der internationalen Ordnung
Allerdings geht die political question doctrine in entscheidenden Aspekten über die funktionell-rechtliche Argumentation hinaus. Sie offenbart zugleich auch ein bestimmtes Verständnis der internationalen Ordnung und der Beziehungen zwischen den Staaten. Sie ist bei bewußt schematisierender Betrachtung
80
Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 30.
81
Vgl. auch Franck , Political Questions/Judicial Answers, S. 118.
82
Franck , Political Questions/Judicial Answers, S. 129 ff.
83 Franck , Political Questions/Judicial Answers, S. 107 ff.; kritisch zur "teutonic solution" Slaughter Burley, Are Foreign Affairs Different?, S. 1986 ff.
Β. Political Question Doctrine in Deutschland?
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der Ausdruck eines "politischen Realismus" (political realism)* 4, einer Theorie der internationalen Politik, nach der das internationale Handeln der Staaten in erster Linie durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. Das internationale Handeln der Staaten ist nach dieser Sichtweise unbeeinflußt von internen Strukturen. Für den Bereich des Rechts hat dies eine strikte Unterscheidung von internem und internationalem Handeln des Staates zur Folge. Die political question doctrine kann für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich eine faktische Freistellung der politischen Organe von den Bindungen des Verfassungsrechts bewirken, beispielsweise indem sie mit der überragenden Bedeutung einer Maßnahme für das Staatsganze und der damit verbundenen Notwendigkeit, eine einmal getroffene Entscheidung nicht mehr in Frage zu ziehen, argumentiert. Verfassungsrechtliche Bindungen sollen danach den Erfolg des Staates im internationalen Machtkampf nicht hindern 85 . Diese Argumentation liegt im übrigen auch der deutschen Lehre vom justizfreien Hoheitsakt zugrunde. Rechtliche Bindungen müssen als schädlich erscheinen, wo international der "Naturzustand" in Hobbes' Sinne herrscht und - nach Treviranus - "Grundsatzlosigkeit vielfach Gebot der Staatsraison" ist 86 . Diese Sichtweise ist nicht diejenige des Grundgesetzes. Mit seiner Ausrichtung auf normative Offenheit gegenüber dem Völkerrecht und internationale Kooperation erteilt es dem nationalen Alleingang der Bundesrepublik eine Absage87. Interne Rechtsbindungen nach dem Grundgesetz bedeuten nach dieser "optimistischeren" Sichtweise der internationalen Ordnung nicht per se ein Hindernis beim internationalen Agieren der Bundesrepublik. Das Grundgesetz in seiner völkerrechtsfreundlichen Grundhaltung erlegt den politischen Organen sogar eine entsprechende Handlungspflicht auf. Ihr weites Ermessen in diesem Bereich wird durch den völkerrechtlich ausgestalteten Rahmen und die Pflicht zur internationalen Kooperation begrenzt. Für den europäischen Rahmen hat sich die internationale Zusammenarbeit bereits zu einer supranationalen Ordnung verdichtet. Ein autonomes Handeln der Mitgliedstaaten soll zumindest nach dem längerfristigen Ziel - hinter eine gemeinsam definierte Politik zurücktreten. Diese Ausrichtung des Grundgesetzes an materiellen Ziel-
84
Vgl. Slaughter Burley, Are Foreign Affairs Different?, S. 1999 f.
85
Auch die Theorie einer sole organ power des Präsidenten nach der Entscheidung Curtiss Wright bewegt sich auf dieser Linie. Denn nach ihr vertritt allein die Exekutive den souveränen Staat auf internationaler Ebene; dies im Interesse größtmöglicher Effektivität im internationalen Konflikt. Vgl. auch Slaughter Burley, S. 2000. 86
Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 170 f., mit Zitat Treviranus, demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 28. 87
20*
Vgl. oben3. Teil C.ÏII.4., 5.
Außenpolitik im
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4. Teil: Grenzen der Verfassungsgerihtsbarkeit im Rechtsvergleich
vorgaben, die im übrigen in der US-Verfassungs völlig fehlen, steht einer Ausprägung der political question doctrine entgegen.
IV. Legitimierungseffekt
versus kalkulierte
Unsicherheit
Nach Alexander Eickel - als einem der wichtigsten Vertreter der political question doctrine 88 - beruht die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie auf ihrer Fähigkeit, die unverbrüchlichen Grundwerte der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen 89 . Auf dieser Basis erfülle sie ihrerseits eine "Legitimierungsfunktion", indem sie den Geltungsanspruch der Verfassung und die Kontinuität der Verfassungsgrundsätze unterstreicht. In der konkreten Entscheidung legitimiere sie zugleich den Rechtsstandpunkt einer der Streitparteien, dem sie zur Durchsetzung verhilft 90 . In diese größere Verantwortung gestellt, könne es für die Verfassungsgerichtsbarkeit aber ebenso wichtig sein, von einer Entscheidung abzusehen, wenn tragfähige Prinzipien noch nicht ausgeprägt seien, sondern sich erst im politischen Prozeß entwickeln müßten. In diesem Sinne sei die political question doctrine nur eine Technik aus einer Vielzahl von "techniques that allow leeway to expediency without abandoning principle" 91 . Näherhin seien "politische Fragen" also solche, für die es zwar eine Antwort in der Gestalt von Rechtsregeln gebe, bei denen aber diese Rechtsregeln nur einen Gesichtspunkt in einer umfassenderen Abwägung darstellen sollten. Zwar bestehe die Möglichkeit einer regelgerechten Entscheidung, diese Möglichkeit müsse aber im konkreten Fall hinter die praktischen, politischen Notwendigkeiten zurücktreten: (E)ven though there are applicable rules, these rules should be only among the numerous relevant considerations. . . . These are discretionary functions of the political institutions which are unprincipled on principle, because we think that the job is better done without rules 92.
Dieser Grundgedanke kommt in Situationen zur Anwendung, in denen die Rechtsprechung aufgrund des faktischen Drucks einer politischen Zwangslage gar nicht anders könne, als die Regierungsmaßnahme aufrechtzuerhalten. Statt
88
Bichel, The Least Dangerous Branch, 1986.
89
Bichel, S. 24 ff.
90
Bichel, S. 30 ff.
91
Bichel, S. 70 f.
92
Bichel, S. 185 f. unter Verwendung eines Zitats von Louis L. Jaffe, Judicial Review: Public Actions, 74 Harv.L.Rev. 1265, 1303 (1961).
Standing to Secure
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hier die Rechtsgrundsätze überzustrapazieren und damit Präzedenzfalle für eine expansive Auslegung zu schaffen, könne es besser sein, von einer Entscheidung Abstand zu nehmen. Müßte mit einer Entscheidung zwangsläufig - aus politischen, nicht aus rechtlichen Gründen! - der Exekutive Recht gegeben werden, könne die political question doctrine dazu dienen, die Rechtsfrage offen zu halten, um sie in Zukunft, nach dem die Zwangslage beseitigt ist, unbeeinflußt entscheiden zu können. Die berüchtigte Entscheidung Korematsu v. United States 93 veranschaulicht die Zusammenhänge94. In ihr ging es während des Zweiten Weltkriegs um die Internierung amerikanischer Staatsbürger japanischer Abstammung allein unter Berufung auf die war powers des Präsidenten. Sie wurde durch den Supreme Court für Rechtens erklärt. Justice Jackson wendet sich in seinem abweichenden Sondervotum dagegen, die Verfassung nach dem zu bestimmen, was nach der Auffassung der Militärs das Gebot der Stunde sei 95 : (A) judicial construction of the due process clause that will sustain this order is a far more subtle blow to liberty than the promulgation of the order itself. A military order, however unconstitutional, is not apt to last longer than the military emergency. . . . But once a judicial opinion rationalizes such an order to show that it conforms to the Constitution, or rather rationalizes the Constitution to show that the Constitution sanctions such an order, the Court for all times has validated the principle of racial discrimination in criminal procedures and of transplanting American citizens. The principle then lies about like a loaded weapon ready for the hand of any authority that can bring forward a plausible claim of urgent need. 96
Jackson plädierte dafür, die Intemierung für verfassungswidrig zu erklären. Nur so könne die Verfassungsgerichtsbarkeit ihrer Aufgabe gerecht werden. Die Mehrheit der Richter bestätigte dagegen die Intemierungsmaßnahme. Die political question doctrine hätte nach Eickels Argumentation zumindest die zweitbeste Lösung dargestellt 97. Nach ihr wäre die Frage der Verfassungsmäßigkeit zwar offen geblieben, aber auch so wären die Anliegen beider Auffassungen erfüllt worden, nämlich einerseits, in einer Notsituation die Exekutive nicht zu beschneiden, und andererseits, keinen Präzedenzfall für die künftige Auslegung der war powers zu schaffen. Die Rechtsprechung nimmt damit zwar nicht ihre Kontroll funktion wahr (