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German Pages 386 Year 2019
Thorsten Carstensen (Hg.) Die tägliche Schrift
Lettre
Thorsten Carstensen (PhD), geb. 1979, lehrt als Associate Professor of German an der Indiana University-Purdue University Indianapolis. Seine Forschungsschwerpunkte sind die österreichische Literatur seit 1900, Kulturkritik der Wiener Moderne, Architekturdiskurse in der Literatur und englischsprachige Gegenwartsliteratur. Er hat u.a. zu Peter Handke, Hermann Bahr, Thomas Bernhard, Ernst Jünger, J.M. Coetzee, Paul Auster und dem Kino der Coen-Brüder publiziert.
Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4055-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4055-1 https://doi.org/10.14361/9783839440551 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
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T HORSTEN C ARSTENSEN
„Manchmal, die Geistesverwandten lesend, kann man in der Zeit sitzen wie in einem (niemand sonst sichtbaren) Fürstenzelt“1 PETER HANDKE
Die 221 Notizbücher, die Peter Handke von 1975 bis 2015 gefüllt hat, erweisen sich als beredte Zeugnisse einer auf das tägliche Schreiben und Lesen ausgerichteten Lebensführung.2 Das außergewöhnliche Spektrum der Einträge illustriert die Weltanschauung eines Schriftstellers, dessen Werk das Vorrecht der Phantasie, die Gabe zur kindlich-naiven Freude und Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit zelebriert. Wollte man das Projekt der Journale auf einen Nenner bringen, so ließe sich sagen: Hier wird der Autor zum passionier-
1
Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salz-
2
Die in diesen Jahren entstandenen Notizbücher umfassen etwa 33.000 Seiten und bil-
burg/Wien 1998, S. 528. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle FF.) den das Herzstück des Handke-Vorlasses im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Siehe hierzu neuerdings Katharina Pektor, „Leuchtende Fragmente. Über Peter Handkes Notizbücher und Journale“, in: Attila Bombitz/dies. (Hg,), „Das Wort sei gewagt“. Ein Symposium zum Werk von Peter Handke, Wien 2019, S. 253–287; Ulrich von Bülow, Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke. Gespräch mit dem Autor und Essays von Ulrich von Bülow, Marbach am Neckar 2018. Vgl. ders., „Die Tage, die Bücher, die Stifte. Peter Handkes Journale“, in: Klaus Kastberger (Hg.), Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift, Wien 2009, S. 237–252.
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ten, geradezu pflichtbewussten Sammler, dem das genaue Lesen einen Rahmen zur Selbstvergewisserung bietet und der im Schreiben seine „schriftliche Existenz“3 in Beziehung zum Gelesenen setzt, stets darauf bedacht, fruchtbare Zusammenhänge „frei[zu]phantasieren“.4 Karl Wagner hat diese „Osmose von Schreiben und Lesen“5 treffend beschrieben: „Indem er [Peter Handke] liest, reflektiert er, was schreibend heute möglich sein könnte oder sollte.“6 Zwar findet man in den Notizbüchern auch Federn und getrocknete Pflanzen, Zeichnungen, Fotos, Briefmarken und Eintrittskarten. In erster Linie aber manifestiert sich Handkes Sammelleidenschaft auf der Ebene der Schrift: Die Einträge reichen von Selbstermahnungen und rhetorischen Fragen bis zu Auszügen aus Wörterbüchern;7 Traumbilder, Bewusstseinsreflexe und Selbstgespräche notiert der Autor ebenso wie Erinnerungsfetzen, Textbausteine für Roman- und Dramenprojekte, imaginierte Kurzdialoge oder auf der Straße aufgeschnappte Bemerkungen der Passanten. So gewähren die Notizbücher Einblicke in die Denkweise des Schreibenden, der festhalten will, „was einem so nebenbei als Form, als Sprachform begegnet“,8 und der dabei zum beherzt Eingreifenden wird, im Stile jener meist einsamen Helden, wie er sie an den Filmen John Fords schätzt: Damals habe ich kleine Notizbücher gezogen wie eine Art von Waffe. Wie im Western James Stewart, oder wer auch immer, plötzlich einen Revolver zieht. Aber eine Waffe, die eigentlich eine freundliche ist, was ein Paradox ist, das in dem Fall aber eigentlich stimmt. Und so ist es bis jetzt geblieben.9
3
Tanja Angela Kunz, „Volo ut sis. Konnotationen des Anderen im Werk Peter Handkes“, in: Anna Kinder (Hg.), Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen, Berlin/Boston 2014, S. 73–92, hier S. 83.
4
Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 100. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.)
5
Karl Wagner, „Handke als Leser“, in: ders., Weiter im Blues. Studien und Texte zu Pe-
6
Ebd., S. 202. Der Leser Handke sei „eine der besten Schulen des Lesens“ (S. 191), so
ter Handke, Bonn 2010, S. 191–205, hier S. 193. Wagner; sein Werk vermittele eine unvergleichliche „Bestärkung im und für das Lesen“ (S. 193). 7
Die Beschäftigung mit mehreren Sprachen – Slowenisch, Spanisch, Griechisch, Arabisch – kommt in den Auszügen aus den jeweiligen Wörterbüchern zum Ausdruck; auch auf diese Einträge hat Handke für den Druck weitestgehend verzichtet.
8
Ulrich von Bülow, „‚Wait and see!‘ Peter Handke im Gespräch“, in: ders., Das ste-
9
Ebd.
hende Jetzt, S. 5–64, hier S. 9.
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Zu einem ganz wesentlichen Teil setzt sich die Textmasse der Notizbücher allerdings aus Zitaten zusammen. Diese offenbaren, wie umfassend und zugleich eigentümlich Peter Handke sich in den Jahrzehnten seines Schreibens mit der Literatur- und Philosophiegeschichte auseinandergesetzt hat. Friedrich Hölderlin, Adalbert Stifter, Hermann Lenz, Ilse Aichinger, Patricia Highsmith, Meister Eckhart, Blaise Pascal, Baruch de Spinoza, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, der Koran, das Johannesevangelium: Handke liest kreuz und quer all jene Bücher, die das eigene Schreiben begleiten, beglaubigen und produktiv erweitern können. Seine Lektüren folgen dabei jener Vorgehensweise des Sammlers, die Aleida Assmann als „spezifische und spezialisierte Form von Aufmerksamkeit“ beschrieben hat und die „zu Entdeckungen und Formen von unabhängiger, selbstbestimmter Wertschätzung“ führt: „Aufgrund der Verengung seines Visiers ist die Welt für den Sammler nicht unübersichtlich, sondern geordnet, denn er oder sie weiß ganz genau, was für sie relevant, interessant, wichtig oder wertvoll ist und was nicht.“10 Nachvollziehen lässt sich Handkes intensive Beschäftigung mit den „Genossen“11 anhand der unzähligen Lektürespuren in den Notizbüchern,12 welche sein emphatisches „Lese-Verlangen“ (FF 240) widerspiegeln. Beharrlich exzerpiert er Textstellen, versieht sie mit Kommentaren und setzt sie in Relation zum eigenen Schaffen, wobei bereits die Niederschrift eines Zitates Bedeutsamkeit stiftet: „Zitierte literarische Sätze sind [bei Handke] Bestätigungen ihrer Geltung.“13 Bemerkenswert ist der Umstand, dass gerade die anhaltende Lektüre von Vorgängertexten hilft, die eigene Autorschaft zu behaupten. Durch das geduldige Sich-Vergleichen mit den Klassikern, so notiert Handke einmal in den Phantasien der Wiederholung, könne er sich selbst finden – und damit zu einer eigenen Sprache für die Darstellung der Welt gelangen.14 Als „jemand ohne Geschichte
10 Aleida Assmann, „Sammeln, Sammlungen, Sammler“, in: Kay Junge/Daniel Šuber/Gerold Gerber (Hg.), Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld 2008, S. 345–353, hier S. 346. 11 So nennt Handke die „Klassiker“. Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982, S. 232. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GB.) 12 Beim Übertragen aus den Notizbüchern in die Journale hat Handke auf das Gros der Lektürezitate ebenso verzichtet wie auf zahlreiche werkbezogene Einträge und Bildund Skulpturenbeschreibungen. Vgl. Bülow, „Die Tage, die Bücher, die Stifte“. 13 Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß, Wien 1984, S. 124. 14 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main 1983, S. 53. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle PW.)
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aus einer Familie ohne Geschichte“,15 der sich aufgrund seiner Heimatlosigkeit offen „für jede Art Heimat der Anderen“16 wähnt, liest Handke die Werke ebendieser ‚Anderen‘ nicht zuletzt im Vertrauen darauf, das eigene Vorgehen beglaubigt zu sehen. Betrachtet man das Werk Peter Handkes als ein großes „Abenteuer der Varianten in der Wiederholung“,17 dann lassen sich die einzelnen Texte als Ergebnisse jener existentiellen „Gefühle einer geistigen Beheimatung, einer ‚Wahlverwandtschaft‘“,18 lesen, die sich bei der Beschäftigung mit den Vorgängern einstellt. Folglich schwinden die drängenden Zweifel an der Berechtigung des Schreibens, die das Journal Ende der siebziger Jahre verzeichnet, im Zuge der bewussten Arbeit an und mit der Tradition, in der künstlerische und biographische Herkunftsgeschichte zur Synthese gelangen – einer Tradition, die Handke selbst entwerfen muss und fortan immer wieder aufs neue hinterfragen und justieren wird: „Mein Ausruf ist: Ich brauche dich! Aber wen rede ich an? Ich muß zu Meinesgleichen. Aber wer ist Meinesgleichen? In welchem Land? In welcher Zeit?“19
15 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – 1977), Salzburg 1977, S. 182. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GW.) 16 Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016, S. 258. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle BAU.) 17 So Handkes umschreibende Charakterisierung der romanischen Baukunst des Mittelalters. Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Wien/Salzburg 2005, S. 167. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GU.) 18 Oswald Panagl, „Übersetzen als Entdeckungsreise. Peter Handkes Auseinandersetzung mit den griechischen Tragikern“, in: Anna Estermann/Hans Höller (Hg.), Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung, Wien 2014, S. 257–271, hier S. 257. Zum Schreiben als Heimatsuche vgl. Ulrich Weinzierl, „‚Kummer ist ein schönes Wort‘“, Gespräch mit Peter Handke, in: Die Welt, 7. November 2009: „Ich weiß, dass ich eine Pflicht habe: Die ganze Welt sollte Heimat sein. […] Aber es gelingt mir nicht. Für mich sind alle Orte Flüchtigkeiten. Irgendwann merkt man, dass man nirgendwo wurzelt, die Orte keine Dauer haben. Außer Sprache vielleicht. Wenn ich am Schreibtisch sitze, das mache ich wirklich nicht jeden Tag, es ist eher die Ausnahme, dann denke ich: Das ist Heimat jetzt, ja […].“ 19 Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 141. Vgl. dazu Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Berlin 2013, S. 34–36.
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Seit seinen Anfängen vollzieht sich Peter Handkes Schreiben als so ernsthaftes wie spielerisches Weiterdenken der „vorsichtig schönen“ (GW 150) Wahrnehmungs-, Schreib- und Lebensformen vergangener Epochen. Handke begreift sein Schreiben als Auseinandersetzung mit den „großen alten Geschichten“20 und deren Erzählweisen; sein Umgang mit der Tradition ist als variierende Fortschreibung der als tauglich identifizierten Modelle gestaltet. Schon der Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) erkennt in der Beschäftigung mit den Vorgängern ein konstruktives Bildungsprogramm: „Und solange ich dieses Vergnügen eines meinetwegen vergangenen Jahrhunderts empfinde, solange möchte ich es auch ernstnehmen und überprüfen.“21 Dem Verfahren der „Wiederholung als Arbeit an der kulturellen Überlieferung“22 korrespondiert jener Schulterblick, den Handkes Protagonisten durchgängig praktizieren. Abgeschaut hat sich der Autor diesen Blick aus der Lektüre von Thomas Wolfes autobiographischem Bildungsroman Look Homeward, Angel. A Story of the Buried Life (1929).23 Dessen deutsche Übersetzung (Schau heimwärts, Engel! Eine Geschichte vom begrabnen Leben, 1932) gehört zu jenen Texten der amerikanischen Literatur, die Handke nachhaltig beeinflusst haben. Die Reihe der von ihm verehrten amerikanischen Erzähler reicht von Walt Whitman, Henry David Thoreau und Nathaniel Hawthorne bis zu William Faulkner, Walker Percy und John Cheever – Schriftsteller, die er nicht zuletzt deshalb schätzt, weil in ihren Werken „keinerlei Kunstgriff oder Kniff“ (BAU 267) zu spüren sei. Das Gros der amerikanischen Literatur des späten 20. Jahrhunderts und der Gegenwart – namentlich die Romane von Philip Roth und Jonathan Franzen – erscheint ihm dagegen wie gut gemachtes Handwerk, das „einem Strickmuster, einem Schema“ folge: Lesen ist doch ein Abenteuer. In einem Buch, auch in einem Gesellschaftsroman, muss sprachlich die Suchbewegung drin sein. Es gibt keine epische Literatur ohne lyrisches
20 Peter Handke, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, Frankfurt am Main 1989, S. 26. 21 Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt am Main 1972, S. 142. 22 Jürgen Egyptien, „Die Heilkraft der Sprache. Peter Handkes Die Wiederholung im Kontext seiner Erzähltheorie“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Peter Handke. Text + Kritik 24 (5. Auflage), München 1989, S. 42–58, hier S. 43. 23 Peter Handke, Versuch über den Stillen Ort, Berlin 2012, S. 48f.
14 Element. Aber das ist aus der amerikanischen Literatur völlig verschwunden. Es muss Ausbrüche geben, ein beherrschtes Sichgehenlassen, nicht dieses rezepthafte Schreiben. Es muss vom Autor etwas ausgehen, ob das nun aus seiner Verlorenheit oder aus seinem Schmerz kommt. Wenn man beim Autor nur das Machen sieht, um das Wort Mache zu vermeiden, genügt das nicht.24
„Mir fehlt das Wittern des Romanciers. Aber ich habe einen epischen Geist?“ (BAU 254): Gegen die amerikanische „Shortstoryhaftigkeit“, die „amerikanische Aufbereitung des Stoffes“ setzt Handke bis heute ein Schreiben, das „Abweichungen“ machen will und sich von „tief empfunden[en]“ Bildern leiten lässt.25 Indem sein Schreiben die Abkehr vom „Romangehabe“26 als permanente Anbindung an die „Überlieferung“27 herausstellt, entfaltet es eine moderne Dialektik, der zufolge der radikale Bruch mit früheren Ordnungen ein „Begehren nach Ersatzordnungen“28 freisetzt. Angefangen mit dem programmatischen Aufsatz „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ (1967), der von der Literatur „ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder“ forderte und in Heinrich von Kleist, Gustave Flaubert, Fjodor Dostojewski, Franz Kafka, William Faulkner und Alain Robbe-Grillet auch gleich einige künftige Leitsterne benannte,29 hat Handke sich im Laufe der Jahrzehnte seinen eigenen Kanon ‚großer‘ Literatur erschaffen. Beständig kreisen die Journale um die Frage, worin die ‚Größe‘ von Literatur denn eigentlich bestehe. „Ein großes Buch ist auch jenes, das einen dazu bringt, andere große Bücher zu lesen“ (FF 240), heißt es diesbezüglich einmal. Solche Bücher sind
24 Ulrich Greiner, „Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris. ‚Erzählen‘, so sagt er, ‚ist eine Offenbarung‘“, Gespräch mit Peter Handke, in: Die Zeit, 25. November 2010. 25 Peter Handke/Michael Kerbler, …und machte mich auf, meinen Namen zu suchen: Peter Handke im Gespräch mit Michael Kerbler, Klagenfurt 2007, S. 35. 26 Peter Handke/Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987, S. 41. 27 Ebd., S. 147. Zum Begriff der „Überlieferung“ vgl. Peter Handke, Über die Dörfer, Frankfurt am Main 1981, S. 100. 28 Cornelia Blasberg, „Peter Handke und die ewige Wiederkehr des Neuen“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 185–204, hier S. 204. 29 Peter Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ [1967], in: ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main 1972, S. 19–28, hier S. 20. Vgl. PW 95: „Ich bin erlöst – seit ich mit fünfzehn William Faulkner las […]“.
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„durchleuchtet und luftig genug“,30 um im Leser Gleichmaß,31 Staunen und Geduld (BAU 89)32 zu erzeugen, und machen doch zugleich „tatenlustig und tatenfreudig“ (BAU 250). Zurück bleibt ein Leser, der „nicht mehr einsam“ ist bzw. die Einsamkeit als „herrlich“ begrüßt: „Und der Leser fühlt sich schön werden – so schön, wie er ist“ (BAU 62f.). ‚Groß‘ und somit zitierfähig ist Literatur für Handke dann, wenn sie ästhetisch – vor allem durch den Rhythmus der Sätze33 – fasziniert und sich dank ihrer „Form des Kindlichen“ (GU 123) allen Ideologien widersetzt. So konfrontiert sie den Leser mit einer „Suchbewegung“ (BAU 114) und lässt ihn „benommen“ und doch „erholt“ (GB 26) zurück. Damit der Literatur dies gelingt, muss die Architektur der Sätze beim Lesen jene „Verlangsamung (Stauung, Besänftigung)“ (GB 145) des Bewusstseins erzeugen, die nach Handke Voraussetzung für die produktive Kraft der Phantasie ist. Anstatt eine „im nachhinein zurechtarrangiert[e]“34 Historie erzählen zu wollen, solle sich die Literatur auf das Gewöhnliche, Nebensächliche besinnen. Denn große Schriftsteller, so Handkes unerschütterlicher Anspruch, nähmen die „Verpflichtung der Alltäglichkeit“ (GB 80) ernst: „Alle Lektüre hat keinen Sinn, wenn sie nicht die Tagtäglichkeit lehrt (das ruhige Erleben der Tagtäglichkeit)“ (GB 225). Dem Autor Peter Handke geht es darum, sich innerhalb dieser globalen Gemeinde Gleichgesinnter zu verorten, sich unter die „Großen“ zu mischen, wenngleich als „kleiner, kleiner Angehöriger“ (GU 210).35 Handkes Werk gleicht mittlerweile einem „Echoraum der Fremd- und Selbstbespiegelungen“,36 da der Beschäftigung mit dem Fremden immer auch das Bedürfnis innewohnt, Eigenes
30 Peter Handke/Jože-Jaki Horvat, Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jože Horvat, Klagenfurt/Salzburg 1993, S. 65. 31 Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 109. 32 Vgl. Handke/Kerbler, …und machte mich auf, meinen Namen zu suchen, S. 37f. 33 Vgl. Bartmann, Suche nach Zusammenhang, S. 124: „‚Hommage‘ an Stile anderer Autoren und Restauration einer Poetizität der Rede, die sich an klassischen Vorbildern orientiert, sind Aspekte des Zitierens bei Handke.“ 34 Vorbildlich erachtet Handke in dieser Hinsicht Hermann Lenz’ während des Nationalsozialismus angesiedelten Roman Andere Tage (1968). Peter Handke, „Jemand anderer: Hermann Lenz“ [1973], in: ders., Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt am Main 1974, S. 81–100, hier S. 97. 35 Immer wieder verzeichnet das Journal auch Momente der Dankbarkeit angesichts einer Lektüre: „Von Dürrenmatt ‚Das Versprechen‘ gelesen: ein Bedürfnis, sich zu bedanken; für den Entwurf eines nicht den Tatsachen gehorchenden Lebens“ (GW 129). 36 Gerhard Melzer, „Die immerwährenden Regentropfen im Wegstaub. Wieder gelesen: Der kurze Brief zum langen Abschied“, in: literatur/a, Jahrbuch 12 (2011), S. 78–80.
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wiederzuerkennen. Handkes Lektüren der ‚Vorfahren‘ gestalten sich selten systematisch; im Sinne eines dichterischen ‚Ahnenkults‘37 zielen sie vielmehr auf die Etablierung von geistigen Verwandtschaftsverhältnissen. Exemplarisch belegt dies Handkes Heidegger-Rezeption, die sich kaum als direkter ‚Einfluss‘ im Werk niederschlägt. Vielmehr erwartet er, in den Texten des Philosophen eine „theoretische Bestätigung“ der eigenen Schreibpraxis zu finden.38 Generell zeichnen sich die intertextuellen Anspielungen bei Handke dadurch aus, dass sie dem schreibenden Subjekt Autorität verleihen und „den Dichter alten Typs“39 in seiner Position stärken sollen. Wenn es in dem Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) heißt, der Leser mittelalterlicher Epen könne sich sicher sein, dass dem Loblied auf eine Landschaft unmittelbar „ein Schreckensbild“40 folge, ist damit ein ganz wesentliches Prinzip von Handkes Erzählen benannt, das den Hang zur Idyllik immer dann konterkariert, wenn am Horizont einer scheinbaren Friedenslandschaft Militärflugzeuge sichtbar werden oder die Regentropfen im Staub eines Feldwegs „Krater“ (IN 78) hinterlassen. Dass Handke insbesondere jene Texte liest und zitiert, die ihn dazu anregen, seine Ideen von der angemessenen Wahrnehmung und Weitergabe der Welt zu überprüfen und fortzuentwickeln, veranschaulicht auch seine Beschäftigung mit den Briefen des englischen Romantikers John Keats. So zitiert er im Mai 1988 aus dem berühmten poetologischen Brief, den Keats am 22. November 1817 an seinen Freund Benjamin Bailey richtet:
37 Die Suche nach „Meinesgleichen“ ist durchaus als doppeldeutig zu verstehen: Handkes variierende Wiederholung jener Weltzugänge, wie sie die „Großen“ der Literatur-, Philosophie-, Religions-, Kunst-, Architektur- und Filmgeschichte entwickelt haben, verläuft parallel zum fortwährenden Dialog mit den familiären Vorfahren und der heilsamen Aufarbeitung der Dorfkindheit: „Ich bin ein Anhänger des Ahnenkults, ich möchte mit den Vorfahren in ein Gespräch kommen, weil das großartige Menschen waren, die zugrunde gegangen sind. Deswegen fühle ich mich ihnen verpflichtet, meinetwegen.“ Greiner, „Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris.“ 38 Ulrich von Bülow, „Raum Zeit Sprache. Peter Handke liest Martin Heidegger“, in: Kinder (Hg.), Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen, S. 111–140, hier S. 112. Ähnliches hat die Forschung für Handkes durchaus umfangreiche Nietzsche-Lektüre festgestellt: Michael Vollmer, Das gerechte Spiel. Sprache und Individualität bei Friedrich Nietzsche und Peter Handke, Würzburg 1995. 39 Anne-Kathrin Reulecke, Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur, München 2002, S. 80f. 40 Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, Frankfurt am Main 1997, S. 72. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle IN.)
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„Sicher bin ich mir nur der Heiligkeit der Neigungen des Herzens und der Wahrheit der Imagination. Was die Imagination als Schönheit ergreift, das muß Wahrheit sein, ob es zuvor existiert hat oder nicht“ (John Keats); und weiter: „Ich (konnte) noch nie erfassen, wie man durch folgerndes Denken etwas als Wahrheit fassen kann“; und weiter: „Oh, alles für ein Leben der Empfindungen statt der Gedanken!“ (GU 181)41
Man könnte sich diese Sätze durchaus Handkes Journal als Motto vorangestellt denken, ist es doch die von Keats beschriebene, vor jeder begrifflichen Festlegung angesiedelte Konstellation von Wahrheit, Schönheit und dichterischer Imagination, die sein Werk nachhaltig prägt. Die Traditionslinien, in die Peter Handke sich mit seiner „Frohbotschaft von der Erneuerungsfähigkeit der Welt“42 fortwährend einschreibt, entstehen stets aufs Neue durch den Zusammenhang der geborgten Motive und Konstellationen. Da die Beiträge des vorliegenden Bandes die rigorosen, auch im Spätwerk andauernden „Auf- und Umräumarbeiten am Kanon“43 ausführlich behandeln, seien diese hier nur kursorisch beschrieben. Wie man aus Interviews und Journaleinträgen weiß, sind Handkes schriftstellerische Anfänge durch die Lektüre von Autorinnen und Autoren wie Patricia Highsmith, Georges Simenon und Raymond Chandler sowie den oben genannten Robbe-Grillet und Faulkner begleitet. Schon Der kurze Brief zum langen Abschied entwirft dann jenes Nebeneinander von Popkultur und Weltliteratur, das Handkes Lesen und Schreiben bis heute bestimmt. So steht diese Bildungsgeschichte auch nur teilweise im Zeichen von Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und Gottfried Kellers Der grüne Heinrich; mit John Ford tritt als weiterer Lehrmeister jener amerikanische Western-Regisseur auf, dessen Filme erheblichen Einfluss auf Handkes Vorstellung eines epischen Storytellings ausgeübt haben.44 In den siebziger Jahren fungieren insbesondere
41 Vgl. die von Handke zitierten Passagen im Original: John Keats, Selected Letters, hg. von Robert Gittings, Oxford 2002, S. 35–38. 42 Helmuth Kiesel, „Verklärung und Heilszuversicht. Peter Handkes ‚Über die Dörfer‘“, in: Jan-Heiner Tück/Andreas Bieringer (Hg.), „Verwandeln allein durch Erzählen“. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft, Freiburg im Breisgau 2014, S. 55–68, hier S. 67. 43 Karl Wagner, „‚I’m not like everybody else‘. Handke und die Weltliteratur (in Auswahl)“, in: ders., Weiter im Blues, S. 206–220, hier S. 216. 44 Vgl. demnächst: Thorsten Carstensen, „Learning from John Ford: History, Myth, and Geography in the Fiction of Peter Handke“, in: Tim Zumhoff/Nicholas Johnson (Hg.), Show, don’t Tell: Education and Historical Representations on Stage and Screen in Germany and the USA, Bad Heilbrunn 2020.
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Franz Kafka und Johann Wolfgang von Goethe als wesentliche Bezugspunkte für das Bedenken der eigenen ästhetischen Verfahren. In dem Filmbuch Falsche Bewegung (1975) dienen wiederum Gustave Flauberts L’éducation sentimentale und Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts als Begleittexte für Wilhelms Bildungsreise, und aus den Journalen wird ferner ersichtlich, dass zu Handkes Lektüren dieser Zeit auch so disparate Texte wie Homers Odyssee, Jean-Jacques Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire, Henry James’ The Europeans und Hermann Hesses Unterm Rad zählen. Als Handke Ende der 1970er Jahre im Zuge seiner Schreibkrise nach Vorbildern für ein neues episches Erzählen sucht, das er mit Attributen wie ‚Ruhe‘, ‚Freude‘ und ‚Gleichmaß‘ kennzeichnet, treten Franz Grillparzer, Adalbert Stifter, Paul Cézanne und Baruch de Spinoza (Die Lehre der Sainte-Victoire, 1980) als Deutungsmuster und sinnstiftende Instanzen hinzu. Dass Handke Anfang 1979 auch Friedrich Hölderlins Hyperion intensiv rezipiert, weiß man nicht erst seit Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), wo der „Leser“ sich allerdings von der Deutschtümeligkeit der Hölderlinschen Gedichte abgestoßen fühlt.45 Der Chinese des Schmerzes (1983) ist in seinem Fokus auf die schöne Alltäglichkeit als Wiederbegegnung mit Vergils Georgica angelegt, die im Übrigen auch für Die Wiederholung (1986) einen wichtigen Intertext darstellen.46 Konkrete Impulse für die Neuausrichtung der Erzählform gehen darüber hinaus nicht nur von den „URBILDER[N]“ (FF 113, Herv. i.O.) der Vorsokratiker aus, sondern auch von Homers Erzählweise, die „[j]ede noch so kleine Zwischenhandlung“ besingt (GB 85), und Thukydides’ spezieller Art der chronologischen Verknüpfung (GB 227). Der antike griechische Historiker, dessen Vorbildfunktion bereits in der Kindergeschichte (1981) durchschien, wird zur Referenz für die Epopöen des Alltags, die Handke in Noch einmal für Thukydides (1990) sammelt. In der langen spanischen Reiseerzählung Der Bildverlust (2002) spielt Handke mit Bezügen auf Cervantes’ Don Quixote;47 neben den Texten der Mystikerin Teresa von
45 Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 1994, S. 487ff. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle NB.) Zu einer zweiten einschneidenden Hölderlin-Lektüre kommt es zur Jahreswende 1987/88 (vgl. GU 27–67). 46 In der Wiederholung ist Handkes Arbeit an der Tradition besonders evident. Vgl. dazu Werner Michler, „Teilnahme. Epos und Gattungsproblematik bei Peter Handke“, in: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 117–143, hier S. 119f. 47 Vgl. Georg Pichler, „‚Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten‘. Peter Handke und Cervantes“,
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Ávila findet außerdem die arabische Tradition Eingang in dieses Epos. Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) fügt der Stoffgeschichte um die titelgebende Figur eine weitere Variation hinzu. Und in Die morawische Nacht (2008) wird wiederum dem österreichischen Dramatiker Ferdinand Raimund, diesem „Orakel“ und „Zaubermärchenschreiber“,48 ein zentraler Platz in der Riege der Vorgänger zugewiesen; er gilt Handke vor allem als Referenz für das eigene Theaterschaffen.49 In den mittlerweile fünf Versuchen ist die Liste der intertextuellen Verweise schließlich zu umfangreich, als dass man diese hier aufzählen könnte. Besondere Bedeutung kommt Wolfram von Eschenbachs Parzival zu. Der mittelalterliche Roman ist, wie Katharina Pektor gezeigt hat, seit den 1980er Jahren durch „eher unterschwellige Rekurse auf Formen, Motive und Strukturen“50 in Handkes Werk allgegenwärtig. Nicht um eine inhaltliche Wiederholung des Parzival-Mythos geht es Handke, sondern um die Aneignung zentraler Formenelemente des Romans, insbesondere seiner spezifischen ‚epischen‘ Erzählweise,51 die als ertragreiches Modell für jenes „Gaukelspiel“52 mit den Weltlandschaften erkannt wird, wie es die großen Reiseepen betreiben. Selbst in der Obstdiebin (2017), dem „Letzten Epos“, werden Wolframs Erzähllandschaften noch einmal evoziert. Die andere Achse der Parzival-Rezeption betrifft das Fragemotiv, mit dem Handke nicht nur im Theaterstück Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1989), sondern auch in Erzählungen wie dem Bildverlust erkenntnistheoretische Aspekte ästhetisch realisiert, indem er ein „kontrolliert skeptisches, selbstbezügliches Fragen“53 inszeniert. Bereits in der Lehre der Sainte-Victoire, in der Handke die Begegnung mit dem Werk Cézannes in eine Erzählung von familialer und künstlerischer Soziali-
in: Handkeonline (30.1.2013), http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/pichler2007.pdf (Stand: 10.3.2019). 48 Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008, S. 364f. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle MN.) 49 Handke/Kerbler, …und machte mich auf, meinen Namen zu suchen, S. 42. 50 Katharina Pektor, „‚Schütteln am Phantom Gottes‘. Handkes Wiederholung von Wolframs Parzival“, in: Kinder (Hg.), Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen, S. 93– 107, hier S. 93. 51 Vgl. ebd., S. 97f. 52 Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt am Main 2002, S. 243. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle BV.) 53 Ebd., S. 102.
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sation verwandelte,54 zeigte sich, dass sich der „Mythos der Nachfolge“55 keineswegs auf die literarisch-philosophische Tradition beschränkt. Die Notizbücher der späten achtziger Jahre machen die ganze Palette der Aneignung deutlich, wobei Handke immer wieder auch, wie Anja Pompe gezeigt hat, „aus dem Reservoir des Profanen“56 schöpft. Zu den schönen Formen der Vergangenheit gehören neben den Filmen, die Handke in Kinos und auf Hotelzimmern sieht, auch die Lieder der unbeirrt aufgesuchten Jukeboxen. Somit verwundert es nicht, dass seine Texte immer wieder, ausdrücklich oder paraphrasiert, Klassiker des modernen Pops und Schlagers zitieren.57 Darüber hinaus zieht es Handke zu den romanischen Sakralbauten Frankreichs und Spaniens, wo er in der aufmerksamen Betrachtung jener szenischen Darstellungen, wie sie beispielsweise an den Portalen der Kathedrale Saint-Trophime in Arles und der Kirche Santo Domingo in Soria zu bestaunen sind, die Prinzipien des eigenen Erzählens überdenkt.58 Die Auseinandersetzung mit der Romanik, die ihren Niederschlag in zahlreichen ekphrastischen Beschreibungen und gelegentlichen Bleistiftskizzen findet, gestaltet sich nicht als kunsthistorische Rezeption, sondern als begeistertes SichEinfühlen in eine ästhetische Tradition, als deren Nachfolger und Vermittler sich der Autor selbst versteht. Das Betrachten der Kirchen und Klöster aus der Entfernung, die schrittweise Annäherung und schließlich das Studium der Reliefs und Wandmalereien – bei Handke wird all dies zum körperlichen Erlebnis. Sich an der „Überlieferungskette“59 abzuarbeiten, heißt für Handke freilich auch, Elemente dieser Kette – etwa die oben erwähnten amerikanischen Gegenwartsautoren – bewusst aus der eigenen ästhetischen Ordnung zu verbannen. Während er Franz Grillparzer für „eine verehrungswürdige Gestalt“60 hält und
54 Vgl. grundlegend Ingeborg Hoesterey, „Mit Cézanne auf der Hochebene des Philosophen. Der visuelle und philosophische Intertext in Handkes Lehre der SainteVictoire“, in: dies., Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne, Frankfurt am Main 1988, S. 101–129. 55 Rolf Günter Renner, Peter Handke, Stuttgart 1985, S. 158. 56 Anja Pompe, Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 12. 57 Handkes Hinweis, er fühle sich „mehr den Sängern zugehörig als den Dichtern (Van Morrison, Neil Young, Bob Dylan, John Fogerty …)“ (GU 419), sollte man ernst nehmen, macht dieser Widerstand gegen eine automatische Präferenz für den intellektuellen Höhenkamm doch einen wesentlichen Aspekt seiner Arbeit am Kanon aus. 58 Ausführlich dazu: Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013. 59 Wagner, „‚I’m not like everybody else‘“, S. 214. 60 Handke/Kerbler, …und machte mich auf, meinen Namen zu suchen, S. 42.
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Heimito von Doderer ihm als der einzige Österreicher gilt, der es „vielleicht fast geschafft hat“, episch zu schreiben,61 lehnt er Robert Musil ab, da dieser eben „überhaupt kein Epiker“ gewesen sei, sondern ein referierender „Essayist“.62 Thomas Mann gilt ihm derweil als „schrecklich schlechter Schriftsteller“, der in bürgerlicher Selbstgefälligkeit beim Schreiben stets seine „Gemeinde“ der Leser vor Augen gehabt habe.63 Der „Sammler“ Peter Handke weiß also in der Tat ganz genau, wer und was für ihn und sein Tagewerk des Schreibens relevant ist – und wo die Grenzen zu ziehen sind: „Zum Schreiben gehört ein lyrischer Grund, der mich auffängt, oben und unten (Goethe und Hölderlin; aber nicht Kleist oder Büchner); es ist die Weltliebe“ (GB 246).
„Natürlich: nicht sich messen an oder mit Goethe. Aber an ihm doch das eigene Maß finden“ (FF 523): Zweifelsohne nimmt das Werk Johann Wolfgang von Goethes in Handkes Lesekosmos eine herausragende Rolle ein, ist es doch ein verlässlicher Lebensbegleiter bzw. „Reiseerhalter“ (GB 194) und eine stetig sich erneuernde Inspirationsquelle: „Mit Heraklit kann man sagen: Mit jeder GoetheLektüre steigt man in einen anderen Fluss.“64 Dabei fungiert die Weimarer Instanz nicht als strenger Maßstab, sondern als „schwergewichtige ästhetische Orientierungsgröße“ einerseits und „literaturpolitische Beglaubigungsinstanz“ andererseits.65 Die Texte dieses oft spielerischen „Angeber[s]“66 halten das Koordinatensystem bereit, innerhalb dessen Handke Ende der siebziger Jahre seine Wende
61 Ebd., S. 48 (Herv. i.O.). Vgl. GW 312: „Zeichen eines großen Schriftstellers (Doderer): man nimmt von ihm auch praktische Ratschläge für den Alltag an“. 62 Handke/Kerbler, …und machte mich auf, meinen Namen zu suchen, S. 48f. Zu Handkes vehementer Musil-Kritik vgl. Karl Wagner, „Musil und Handke: kein Vergleich“, in: ders., Weiter im Blues, S. 235–250. 63 Peter Handke/André Müller, André Müller im Gespräch mit Peter Handke, Weitra 1993, S. 63f. 64 Von Bülow, „‚Wait and see!‘ Peter Handke im Gespräch“, S. 49. Vgl. PW 41: „Wenn ich Goethe lese, habe ich auch Lust zu den eigenen Sachen (auch diese nachzulesen); er macht sie nicht nichtig, wie das so viele Zeitungssätze tun.“ 65 Norbert Christian Wolf, „Der ‚Meister des sachlichen Sagens‘ und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung“, in: Amann/Hafner/Wagner (Hg.), Poesie der Ränder, S. 181–199, hier S. 183. 66 Von Bülow, „‚Wait and see!‘ Peter Handke im Gespräch“, S. 53.
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zum Klassischen einleitet.67 Goethe ist damals einer jener „Retter“ (GB 170), die Wege aus der Schreibkrise weisen, sein Werk ist monumental und einladend zugleich: „Ich stellte mir gerade vor, daß […] man seine Tage ganz mit Goethe verbringen könnte, und daß es im Leben nichts Besseres gäbe als das.“ (GB 167) Die vor diesem Hintergrund formulierte Maxime hat ihre Gültigkeit auch Jahrzehnte später nicht verloren: „Bei Goethe bleiben (auf ihm bestehen)“ (GB 233). Wie die Forschung hinlänglich gezeigt hat, sind nicht wenige Texte Handkes als Umschreibungen und Anverwandlungen von Themen und Konstellationen gestaltet, die dem Werk Goethes entnommen sind.68 Erstmals zeigt sich diese „affirmative intertextuelle Bezugnahme“69 in der Filmerzählung Falsche Bewegung, indem der Text ein an der Ästhetik Goethes geschultes Wahrnehmungskonzept zur Schau stellt, das sich aus einer „ganzheitlichen Erkenntnisbewegung“70 ableitet; strukturelle Goethe-Bezüge sind aber beispielsweise auch noch in Mein Jahr in der Niemandsbucht zu erkennen. Ferner ließe sich Handkes Projekt der Dauer als Anknüpfung an Goethes in der Farbenlehre formulierte Vorstellung „einer Art Naturlangsamkeit“ verstehen, mit der „stationäre Völker“ wie die alten Ägypter bei der Beherrschung von Techniken wie der Färberei einen Grad der Vollkommenheit erreicht hätten, der für „schnell vorschreitende“ Völker mit höherer theoretischer Bildung unerreichbar sei.71 Und schließlich folgt
67 Vgl. zur Bedeutung Goethes in diesem Zusammenhang das Resümee von Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945, S. 60–68. Vgl. außerdem Anke Bosse, „‚Auf ihrer höchsten Stufe wird die Kunst ganz äußerlich sein‘: Goethe bei Handke“, in: dies./Bernhard Beutler (Hg.), Spuren, Signaturen, Spiegelungen: Zur GoetheRezeption in Europa, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 381–397 sowie Georg Pichler, „‚Der Goethesche Nachvollzug des Schriftstellers auf Erden‘. Handke und Goethe“, in: Kastberger (Hg.), Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift, S. 281–293. 68 Mit Handkes intertextuellen Reaktionen auf Goethes Werk haben sich u.a. beschäftigt: Nikolas Immer, „Goethes Erben. Wahlverwandtes bei Handke, Walser, Wellershoff“, in: Helmut Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung, Berlin/New York 2010, S. 459–475, hier S. 462–465; Juliane Vogel, „‚Wirkung in die Ferne‘. Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Goethes Wanderjahre“, in: Amann/Hafner/Wagner (Hg.), Poesie der Ränder, S. 167–180; John Pizer, „Goethe’s Presence in Handke’s Langsame Heimkehr Tetralogy“, in: Michigan Germanic Studies 17:2 (1991), S. 128–145. 69 Wolf, „Der ‚Meister des sachlichen Sagens‘ und sein Schüler“, S. 183. 70 Ebd., S. 191f. 71 Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre [1810], in: ders., Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 14: Naturwissenschaftliche Schriften
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Handkes Poetologie auch der bei Goethe angelegten Vorstellung, dass ein Kunstwerk „um sein selbst willen“ zu erschaffen sei, „aus einem frommen Begriff, unbekümmert um den Effekt“.72 Vor allem die in die Journale aufgenommenen Zitate – aus den Maximen und Reflexionen, aber auch aus den Romanen73 und Dramen – belegen die intensive Auseinandersetzung mit Goethes Schriften. Handke bewundert nicht nur Goethes Fähigkeit zur Aufmerksamkeit (GB 8) und seine Kenntnis von Materialien (GB 9); er sieht bei ihm auch den epischen Leitgedanken vorgeprägt, der in den großen Reiseerzählungen des Spätwerks zum Ausdruck kommt, nämlich dass die „allesumfassende Kunst“ darin bestünde, „von sich selber märchenhaft zu erzählen“ (FF 307). Ebenso führt er die Überzeugung, die Dichtung müsse „aus Bildern im Rhythmus“74 entstehen, auf Goethe zurück. An Goethe das eigene Maß zu finden, heißt für Handke, die geduldige Anschauung und Beschreibung alltäglicher Dinge zur genuinen Kunst-, wenn nicht gar Lebensaufgabe zu erheben:75 „In der Anschauung leben, länger und länger am Tag: das wäre eine Entwicklung“ (PW 46). Sie ist die Basis für Handkes Neuausrichtung seiner Ästhetik im Zuge der Lehre der Sainte-Victoire. Auch bei Handke ist die Geduld die wichtigste Tugend des Künstlers, der „vielleicht jahrelang“ warten müsse „auf die Offenbarung des Geheimnisses“ (FF 65) – auf einen Augenblick, da sich die Phänomene dem Schauenden zeigen, ohne sich diesem unterzuordnen. Den wartenden Betrachter überrascht die Welt als „Ort des Geschehens“,76 an dem das Subjekt eine „seltsame Heimatlichkeit und Freundschaftlichkeit“77 spürt und von den Dingen belebt wird.78
II, 9., durchges. Auflage, München 1994, S. 7–269, hier S. 13. Diesen Hinweis übernehme ich von Dorothee Fuß, „Bedürfnis nach Heil“. Zu den ästhetischen Projekten von Peter Handke und Botho Strauß, Bielefeld 2001, S. 28f. Fuß erkennt darüber hinaus in Valentin Sorgers subjektiver Lektüre der Landschaft in Langsame Heimkehr eine Anspielung auf die Zuwendung zur Naturgeschichte, wie sie in Goethes Aufsätzen zur Geologie zum Ausdruck kommt (ebd., S. 26–28). 72 Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, S. 261. 73 Vgl. etwa die Lektüre von Wilhelm Meisters theatralische Sendung, BAU 62–77. 74 Von Bülow, „‚Wait and see!‘ Peter Handke im Gespräch“, S. 52. 75 Vgl. Rolf Günter Renner, „Literarische Innerlichkeit. Naturgefühl und ästhetische Anschauung bei Goethe und Handke“, in: Text und Kontext 1/1982, S. 9–46. 76 Peter Handke, Noch einmal für Thukydides, Salzburg/Wien 1995, S. 91. 77 Ebd., S. 101. 78 Grundlegend hierzu: Carsten Zelle, „Parteinahme für die Dinge. Peter Handkes Poetik einer literarischen Phänomenologie (am Beispiel seiner Journale, 1975–1982)“, in:
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Handkes Lob auf die emphatische Anschauung der „sichtbaren Dinge“, die Bedingung dafür ist, dass die Welt dem Menschen „Beistand, Aufenthalt und Schatz“ werden kann,79 offenbart die geistige Nachkommenschaft, auf die seine Texte seit Ende der siebziger Jahre rekurrieren. Mit dem Grundsatz, dass Denken und Reflexion der Anschauung entspringen sollen, schreibt sich Handke in die Tradition Goethes ein, dessen Mahnung aus der Farbenlehre er mehrfach zitiert: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selber sind die Lehre“ (GB 82). Goethe hatte schon im elften Buch von Dichtung und Wahrheit darüber reflektiert, dass sein Zugang zu einem Verständnis der Welt auf der Komplementarität von sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis fuße. Vor dem Hintergrund seines Straßburger Architekturerlebnisses hatte er betont, stets „durch Anschaun und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriffe gelangen“ zu können.80 Der Auffassung Goethes, dass ein solcher Begriff „vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte“,81 folgt auch Handkes poetologisches Programm des handelnden Zuschauens, das an der Rettung des Sichtbaren teilhat und „[i]n die Gegenwart Glanz hineinbringen“ (GB 180) will. Handkes Überzeugung, ein tieferes Verständnis der Welt aus der sinnlichen Erfahrung der Phänomene ableiten zu können, erinnert an Goethes Bestreben, formuliert 1786 in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, „mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann“.82
Euphorion 97:1 (2003), S. 99–117, hier S. 106. Vgl. zur phänomenologischen Methode Handkes außerdem Jürgen Wolf, Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa, Opladen 1991, S. 132–164 und S. 174–180. 79 Die affirmativ eingesetzten Zitate stammen aus Philippe Jaccottets Essay Der Spaziergang unter den Bäumen. Peter Handke, „Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet“ [1988], in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt am Main 2007, S. 358–370, hier S. 361. 80 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. von Hendrik Birus u.a., Frankfurt am Main 1987ff., Band XIV, S. 544. 81 Ebd. 82 Goethe, Sämtliche Werke, II. Abteilung, Band II, S. 629. Dem schauenden Menschen, insistierte Goethe noch im Jahr 1827 in einer Besprechung von Jacobis Briefwechsel, offenbarten sich deshalb „die geheimsten Gesetze“ der Welt: „In dieser Consequenz des unendlich Mannichfaltigen sehe ich Gottes Handschrift am allerdeutlichsten.“ Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 143 Bände. Weimar 1887–1919. Nachdruck München 1987, hier Band XXXXII, 2, S. 85. Vgl.
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Der Kluft, die sich zwischen ihm und dem Ahnherrn auftut, ist sich Handke schon früh bewusst. An Goethes Naturbeschreibungen, so heißt es in der Geschichte des Bleistifts, sei zu spüren, „wie frisch die Landschaft damals noch war; so daß die einfachsten Wörter genügten, das bloße Benennen und ‚Ansagen‘“ (GB 169). Anders als wenige Jahre später bereits Hölderlin habe Goethe sich noch nicht im Gestus der Beschwörung mitteilen müssen (ebd.). Dass der Schriftsteller der Spätmoderne den zu beschreibenden Raum zuallererst konstruieren muss, da ihm die naive „Raumgewissheit“,83 mit der Goethe sich Landschaften widmen konnte, nicht mehr zur Verfügung steht, ändert nichts an der Gültigkeit seines Unterfangens: „Goethe stand der Raum, in den er hineinschreiben konnte, im großen und ganzen frei da; einer wie ich muß diesen Raum erst schreibend schaffen (wiederholen), daher ist das, was ich tue, vielleicht lächerlich? Nein.“ (PW 75)
Das Lesen gilt Peter Handke als „Welterfahrung“ und „Urerfahrung“, die schon der Jurastudent während der Vorlesungen „in den hinteren Reihen“ machte, bei der Lektüre von Eugène Ionesco, Anton Tschechow, Arthur Miller und Tennessee Williams.84 So ist das Lesen bei Handke, wenn es provokativ als ‚nutzlos‘ apostrophiert wird, wohl auch als bewusster Widerstand gegen die provinzielle Herkunft zu verstehen, in der manch einer das Lesen tatsächlich als „tendenziell gefährliche Beschäftigung“ verstanden haben mag, wie Evelyne Polt-Heinzl anmerkt: „Es lenkt von der Arbeit ab und bringt auf dumme Ideen.“85 Schon als 21Jähriger rezensierte Handke für das ORF Landesstudio Steiermark in der Sen-
Peter Handke/Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006, S. 31f., wo Goethe als Vorbild für ein Erzählen genannt wird, das auf der Anschauung fußt: „Wie Goethe sagt: Du mußt einmal anfangen mit der Anschauung, und aus der Anschauung ergibt sich das Denken, die Reflexion, das Zusammendenken und vielleicht sogar das Theoretisieren, nicht?“ 83 Torsten Hoffmann, Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauß), Berlin 2006, S. 72. 84 Peter Handke/Thomas Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater, Berlin 2014, S. 34. 85 Evelyne Polt-Heinzl, „‚Der Leser als der Lebendige‘“, in: Katharina Pektor (Hg.), Peter Handke. Dauerausstellung Stift Griffen, Salzburg/Wien 2017, S. 84–85, hier S. 84.
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dung „Bücherecke“; zwischen 1964 und 1966 entstanden 16 Radiofeuilletons, in denen er sich Werken von Roland Barthes, John dos Passos oder Martin Walser widmete, während er gleichzeitig die Schablonenhaftigkeit journalistischer Sprache thematisierte.86 In nahezu allen epischen Erzählungen Handkes trifft man auf aufmerksame Leserinnen und Leser, die der „tägliche[n] Schrift“ (LSV 9) bedürfen. Das Lesen gehört bei Handke zu jenen „Riten oder selbstgegebene[n] Vorschriften“ (IN 43), mit denen die Charaktere ihren Alltag strukturieren. Das wirkliche Lesen, das sich durch die Lektüre der richtigen Bücher immer wieder neu einüben lässt (FF 85), ist für Handke „das große Innehalten und dann Innewerden“ (GU 212). Es fungiert als Chiffre für jenen Zustand der Offenheit, in dem der Mensch in der epischen Welt aufgeht und „das Rauschen“ vernimmt, „auch wenn kein Rauschen hörbar ist – und auch wenn du gar nicht tatsächlich liest“ (BAU 39). Zugleich umfasst der Akt des Lesens gerade bei Handke, wie Katharina Pektor zeigt, die ganze etymologische Bandbreite des Wortes: Das Lesen ist demnach ein „Gewahrwerden und Vergegenwärtigen von Formen durch Sprache“.87 Der staunende Blick Handkes ist der des Lesenden, der die Schrift der Welt zu „entziffern“ trachtet, ohne sich dabei auf eine definitive „Entzifferung“ festzulegen (BAU 250). So kann der Erzähler im Versuch über den Stillen Ort eine öffentliche Toilette als System von „geometrischen“ Formen ‚lesen‘, um es als „Raumvermesser“ zu erfassen und weiterzugeben.88 Das Lesen wirkt in Handkes Texten als Gegenmittel zu jener beschleunigten Übermittlung von Nachrichten, als deren Sinnbild der Autor immer wieder die Tageszeitung angeführt hat.89 Wer aufmerksam liest, übt sich in Achtsamkeit
86 Zu Handke als ‚Literaturkritiker‘, der die Probleme der Gattung reflektiert, vgl. Lothar Struck, „Der Begleitschreiber. Einige Bemerkungen zum Kritiker und Leser Peter Handke“, in: ders., Erzähler, Leser, Träumer. Begleitschreiben zum Werk von Peter Handke, mit einem Vorwort von Klaus Kastberger, Klipphausen 2017, S. 13–27. 87 Katharina Pektor, „Lesen“, in: dies. (Hg.), Peter Handke, S. 80–83, hier S. 80. 88 Handke, Versuch über den Stillen Ort, S. 81. 89 Vgl. GU 470: „Eines weiß ich: Die Welt im Gehen, Schauen, Bedenken, Betrachten, Weitergehen stellt sich anders dar als die Welt in den Zeitungen“. Handkes epische Geschichten spielen denn auch, wie es in In einer dunklen Nacht ausdrücklich heißt, nicht in der „Zeitungszeit“ (IN 75). Zur Verachtung des Zeitungslesens bei Handke vgl. Wagner, „Handke als Leser“, S. 198. Auch mit seiner Polemik gegen die mediale Beschleunigung und Zuspitzung von Wirklichkeit schreibt sich Handke gewissermaßen in die Tradition ein, galt die Tageszeitung doch schon bei ihrer Einführung am Ende des 18. Jahrhunderts als ein Sinnbild für gesellschaftliche Dynamisierung.
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und lernt, der „verfluchte[n] Aktualität“, wie es in der Erzählung Kali heißt, „das Leben“ entgegenzusetzen:90 „Es gibt ein Lesen, das übergeht in ein Lauschen; auf ein solches Lesen bin ich aus“ (FF 355). Handkes Figuren tragen Bücher bei sich, in denen sie sich jederzeit, selbst im größten Lärm, vertiefen können, als existiere ihre Umwelt überhaupt nicht. Gerade um die Idee eines Lesens, mit dem man der Welt entfliehen könnte, geht es bei Handke indes nicht. Seine Figuren lesen, um sich neu mit der Welt, deren Orten und Dingen zu verbinden. „Nichts, was besser beim Schauen hilft und es lenkt, als das gute Lesen, Wort für Wort“ (FF 386), lautet die vielfach variierte Maxime. In dem Stück Das Spiel vom Fragen ist es der Mauerschauer, der nach der Lektüre des japanischen Dichters Matsuo Basho verkündet: „Also lesen! Zwar gibt die Wissenschaft dem Volksmund recht, Lesen verderbe die Augen, aber ich habe es anders erfahren. Kein beweglicheres und schärferes Schauen als durch das Lesen. Ganz Auge. Hervor, Buch, Frucht und Keim des Lichts!“91 Das Lesen als „Existenzform“92 ist für Handke weder Zeitvertreib noch Weltflucht, sondern „verstärktes Dasein“ (FF 350), denn: „Das Buch verlängert die Sonne ins innerste Herz“ (FF 351). Dem Akt des Lesens wird dabei die Kraft einer alltäglichen Erleuchtung zugeschrieben, die den Lesenden transformiert, indem sie zugleich den Raum belebt, in dem das Lesen stattfindet: Gestern, beim Lesen am Felsfenster morgens, fühlte ich mich in einem Licht- und Farbenraum, der das ganze verzweigte Haus, bis in die hintersten Kammern und Nischen, erschloß, und ich, lesend, war die diesem Raum entsprechende Farben- und Licht-Komplementärfigur, eine Form festen Lichts bis in die innersten Gehirnwindungen. (FF 360)
Lesen heißt für Handke, dass der „Sonnengeruch“ aus dem Buch steigt (BAU 11). Der Bezug auf die Tradition des mittelalterlichen Epos ist in dem Roman In einer dunklen Nacht darum keineswegs nostalgisch motiviert; vielmehr ermöglicht das Lesen im Iwein die „tägliche Raumfahrt“ (GB 176) zu den Naturdingen und frischt damit – in Analogie zum Projekt der tätigen Erinnerung – den Sinn für die Gegenwart auf. Dem namenlosen, „lesehungrige[n] Apotheker“ (IN 114),
Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 191f. 90 Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt am Main 2007, S. 57. 91 Handke, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land, Frankfurt am Main 1989, S. 89. Entsprechend gilt im Umkehrschluss: „Er hat sich die Augen verdorben vom Nicht-Lesen“ (BAU 41). 92 Polt-Heinzl, „‚Der Leser als der Lebendige‘“, S. 84.
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dem die Lektüre das nahrhafte und durch nichts zu ersetzende „Morgenbrot“ (ebd.) ist, helfen die Beschreibungen der Sommerlandschaft in Chrétien de Troyes’ französischer Fassung des Yvain, „die jetzige, heutige Sommerwelt“ zu erkennen, sie „klarer vor Augen“ zu sehen (IN 47). So wie er sich „bis in die Scheitelspitzen“ (IN 46) massiert fühlt, wenn er barfuß über die Wurzelrillen und Bucheckern des Waldbodens schreitet, ist auch das Lesen der „mittelalterlichen Ritter- und Zauberepen“ (IN 47) eine Strategie, um jenem meist zur Mittagszeit einsetzenden Gefühl der Entfremdung, das viele Protagonisten Handkes erleben, zu begegnen. Im Lesen fühlt sich auch der Apotheker bereit „zur nächsten Aventüre“ (ebd.). Kann es also überraschen, dass dieser unwahrscheinliche Held, nachdem er rasch „noch eine Seite im Epos“ (IN 75) gelesen hat, prompt – kaum dass er sich, ganz der moderne Ritter, hinter das Lenkrad seines Autos geschwungen hat – zum Protagonisten einer kontemporären Aventüre gerät? Auch in Kali ist es mit Chrétien de Troyes’ Lancelot ein mittelalterlicher Artusroman, dessen Lektüre paradoxerweise ein anderes Bild unserer Gegenwart, verankert in der Vorstellung einer langen Dauer, sichtbar macht: Aber das ist ja von jetzt! Das handelt ja klar von heute. Und ich dachte, es gehe um Längstvergangenes. Es ist die Geschichte von Europa, dem anders aktuellen, von unserem Europa. Jeder noch so kleine Landstrich, von dem das Buch erzählt, jede Furt durch einen Bach, jede Brücke, jede Passhöhe, jeder Nebenweg, jeder Viehsteig ist jeweils das ganze Europa, steht, liegt, fließt, verläuft in ganz Europa. Und in dieses von damals bis jetzt, und jetzt, andauernde unsrige Europa ist Deutschland ebenso eingebettet wie Flandern, wie die Pyrenäenhalbinsel, wie die Karpaten, wie Konstantinopel. 93
Eine schöpferische Bekräftigung der Gegenwart bewirkt das nächtliche Lesen – als „Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen“ (BV 174) – auch für die Bankfrau in Der Bildverlust. Weit entfernte Dinge werden auf wundersame Weise hörbar, die Dinge im Umkreis zeigen sich in ihren Einzelheiten und gar wie „augenblicks neugeschaffen“ (BV 175): Da stand der Stuhl, mitsamt seinen Holzwurmlöchern. Dort bog sich die Türklinke. Dort lehnte, lehnte wie nur je, die Leiter, was für eine Erfindung, eine Leiter! Auf der Landstraße der Milchlastwagen mit den enggeschichteten, aneinanderklickenden vollen Milchkannen […]. Im hintersten Horizont der aufratternde Zug – schon die längste Zeit unterwegs, doch hörbar geworden erst jetzt durch ihr Lesen […]. (BV 174)
93 Handke, Kali, S. 43f.
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Als Vorbild für ein Schreiben, dem es gelingt, die Welt so zu versprachlichen, dass sie dem Leser in authentischen Bildern neu vor Augen steht, evoziert Handke die Georgica Vergils – jenes Lehrgedicht über den Landbau, das dem Leser überlieferte Regeln für die Bewirtschaftung der Natur an die Hand gibt. In Der Chinese des Schmerzes ist es der Sprachkundler und Hobby-Archäologe Andreas Loser, der regelmäßig „am Ende des Tages, langsam, Wort für Wort“94 einige Zeilen aus dem Gedicht liest.95 Ihn fasziniert vor allem Vergils begeisterte Versprachlichung der in ihrer inneren Gesetzmäßigkeit erfassten Natur sowie der „friedlichen Gerätschaften“, mit deren Hilfe der Mensch die Erde kultiviert: „die Sonne, der Erdboden, die Flüsse, die Winde, die Bäume und Büsche, die Nutztiere, die Früchte (mit den Körben und Krügen), die Geräte und Werkzeuge“ (CH 44). Die Lektüre Vergils ermöglicht Loser eine doppelte Weltaneignung. Zum einen wird ihm, dem heutigen Leser, die im antiken Gedicht beschriebene Welt dadurch wiederholbar, dass es Vergil in seinem Schreiben gelungen sei, „das dem Ding gerechte Beiwort“ zu finden: „die langsamwüchsigen Ölbäume, die leichte Linde, der helle Ahorn, die harte Hasel, der lockere Mergel, der feurige Ostwind, der klärende Nordwind, der tauspendende Mond“ (CH 45; vgl. FF 80). Demnach steht dem antiken Dichter jener naive Zugang zur Natur offen, den Handkes Erzähler sentimentalisch zurückerobern müssen. Damit hängt auch der zweite Effekt des Vergil-Erlebnisses zusammen, denn das Lesen – also der Umweg über eine Archäologie der schönen Formen – führt Loser zur Ergriffenheit von den eigentlich nur noch banalen Dingen seiner eigenen Gegenwart: „Im Aufschauen bog gerade ein Auto von irgendwoher auf die Kanalbrücke, welches dank der Verse Vergils jetzt von einem besonderen Blau schimmerte“ (CH 46). „Lesen zur Ablenkung? Ja! Um aus der Ablenkung zurückzukehren. Zurückzukehren wohin? Zurückzukehren (siehe: ‚die Kunst als die wesentliche Ablenkung‘)“ (BAU 178) Die ‚Leserlangsamkeit‘ führt bei Handke mithin nicht fort vom Wesentlichen, sondern lenkt die Aufmerksamkeit vielmehr zurück zu den Menschen und ihren alltäglichen Verrichtungen. Das Lesen sorge für eine „Bekräftigung und Steigerung des Hierseins“ (GU 553), verspricht darum die programmatische Notiz auf der letzten Seite des Reisejournals Gestern unterwegs, das zugleich ein Lesetagebuch ist.
94 Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1983, S. 42. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle CH.) 95 Zur Vergil-Lektüre vgl. Barbara Feichtinger, „‚Glänz mir auf, harte Hasel‘. Zur Georgica-Rezeption in Peter Handkes Der Chinese des Schmerzes“, in: Arcadia 26 (1991), S. 301–321.
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„Der erleuchtet-leuchtende Leser: Ideal“ (BAU 171): Diese Sentenz verweist auf die doppelte Funktion, die Handke dem Lesen von Beginn an zugeschrieben hat. Erleuchtet ist der Leser, da der Prozess des Lesens nicht nur die Wahrnehmung der Außenwelt schärft, sondern auch den Blick für die eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse sensibilisiert: „Mitgehen und den eigenen Weg zu sehen, das ist Lesen.“96 Das Lesen verleiht der Erforschung des eigenen Ichs einen größeren, produktiven Rahmen und wirkt somit identitätsbildend: „‚Und‘: Lektüre des Buches und Lektüre des Selbst“ (BAU 194). Diese Konstellation prägt Handkes Werk von Beginn an. Schon im frühen „Elfenbeinturm“-Aufsatz hatte er eingangs erklärt, dass erst die Literatur ihm sein Ich zu Bewusstsein gebracht und ihm gezeigt habe, dass dieses Selbstbewusstsein „kein Einzelfall, kein Fall, keine Krankheit“97 sei. Die dort formulierte Einsicht, er habe sich immer schon „von der Literatur verändern lassen“,98 entfaltet Handke einige Jahre später in Der kurze Brief zum langen Abschied, wo sich der Protagonist, wie oben angedeutet, auf seiner Bildungsreise an literarischen (und cineastischen) Vorbildern orientiert. Wenn der ideale Leser darüber hinaus auch leuchtet, so ist damit auf das charakterbildende Potential99 einer täglichen Schrift verwiesen, die das Ich beflügelt und begeistert, es innerlich erfüllt: Durch das Lesen „beseelt sich“ die Seele „und wird beseelt“ (BAU 157). Das Lesen der richtigen Bücher – aber auch die ‚Lektüre‘ von Filmen, Gemälden, Bauwerken und Landschaften – eröffnet Möglichkeitsräume. Indem der Lesende das Gelesene zum Anlass dafür nimmt, seine eigene Geschichte neu zu bedenken, erlebt er „Expeditionen an Ort und Stelle“, die dem Ich durchaus gefährlich werden können, denn sie führen entweder „aufs offene Meer“ oder direkt in „die Jauchengrube, wo du ersäufst“, wie die Mutter in Immer noch Sturm warnt.100 An das Lesen ist bei Handke auch die Idee der „Brüderlichkeit“101 geknüpft, bilden doch die Repräsentanten des „verstreuten, verborgenen Volk[s] der Leser“ (LSV 89) eine alternative Gemeinschaft, die dem vereinzelten Menschen
96 Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 87. 97 Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, S. 19. 98 Ebd. 99 Vgl. hierzu Lothar Struck, „‚Wie soll man leben?‘ ‚Volk der Leser‘, Enklave, Familie – Peter Handke und das menschliche Zusammenleben“, in: ders., Erzähler, Leser, Träumer, S. 115–146, hier S. 124. 100 Peter Handke, Immer noch Sturm, Berlin 2010, S. 49. 101 Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 109.
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der Moderne eine Ersatzheimat bietet.102 Der Utopie des Erzählkollektivs, wie es etwa in Die morawische Nacht aufgerufen wird, korrespondiert somit die Erinnerung an „den oder die Lesenden“ im nächtlichen Haus, die im Journal eine charakteristische Erhöhung erfährt, ist sie doch „das reinste, klarste, schönste Bild der Menschheit“ (FF 361f.). Zahlreich sind in Handkes Erzählungen die Beschreibungen von allein Lesenden, die man sich als Bestandteile einer epischen „Phänomenologie des Lesens“103 denken könnte, wobei das Lesen immer auch als körperliche Tätigkeit verstanden wird. In Die Abwesenheit (1987) ist es der Soldat, der solchermaßen als Leser charakterisiert wird: Der Leser zeigt sich als Handwerker, ebenso wie seine Kleidung, gerade noch ungewohnt an dem bis dahin ständig Uniformierten, sich nun sehen läßt als das entsprechende, dem Lesen den Raum verschaffende Gewand: Unter dem Leser-Rock hebt sich der Brustkorb, verbreitern sich die Schultern, und am Hals, dessen Adern anschwellen, kann der Perlmuttknopf des Leser-Hemds schimmern. Die Augen des Lesers sind schmal und in den Winkeln geschweift, wie verlängert hinauf in die Schläfen, so als bildeten die doch nahen Buchstaben und Wörter einen sehr fernen Horizont. An diesen Augen wird deutlich, daß nicht er das Buch aufnimmt, sondern das Buch umgekehrt ihn; allmählich geht er auf es über, bis er – die Ohren legen sich förmlich zurück – in ihm verschwunden und ganz Buch geworden ist. Dort wird es heller Tag sein, und ein Reiter wird an der Furt des Rio Grande stehen. (AB 102f.)
In Mein Jahr in der Niemandsbucht wird der Sohn dadurch charakterisiert, dass es ihm mit seiner Art des teilnehmenden Lesens gelingt, an jedem Ort der Welt „übersehen zu werden“: „Eine Zone um sich, gerade breit genug für das Umschlagen einer Seite, wovor sogar die Polterer einen Abstand bewahrten; er wurde tabu; lenkte sogar das Geschehen.“ (NB 501) Umso verstörender nimmt sich der für Handkes Texte typische Umschlag, sein Aus-der-Rolle-Fallen aus: Nicht
102 Vgl. Struck, „‚Wie soll man leben?‘“, S. 122–128. 103 Wagner, „Handke als Leser“, S. 193. Treten also bei Handke immer wieder Leserfiguren auf, deren tätiges Lesen im Modus phänomenologischer Beobachtungen überliefert werden soll, trifft man naturgemäß auch auf den entgegengesetzten Typus, jenen vorgeblichen Leser, bei dem es sich, wie DER WILDE MANN im Untertagblues moniert, lediglich um das „Zerrbild eines Lesers“ handelt: „He du, nimm Abstand von den Büchern. Befingere endlich anderes als die Werke. Befingere, was dir entspricht. Befingere die Fernbedienung.“ Peter Handke, Untertagblues. Ein Stationendrama, Frankfurt am Main 2003, S. 19f. Vgl. zu dieser Textpassage Wagner, „Handke als Leser“, S. 195f.
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nur verliert der Leser seine eigene Aura, ohne die Fähigkeit zum wahrhaftigen, achtsamen Lesen ist er auch nicht länger imstande, Deutschland als Friedenslandschaft zu imaginieren: Es verwandelt sich zurück in ein Land der „Usurpatoren“ (NB 504), denen jegliches organisches Verhältnis zur Außenwelt fehlt, was sich darin ausdrückt, dass sie entweder zu laut oder zu leise sprechen. Erst als er beim Besuch eines Fußballspiels Zeuge eines idealen Lese-Aktes wird, ändert sich die Situation abermals: Es war eine junge Frau, im Profil. Und sie streckte das Buch, noch geschlossen, zunächst von sich weg, was etwas von der Position eines Ringkampfs hatte, der gleich losgehen würde, auch durch die zurückgelehnten Schultern und die zu Boden geschlagenen Augen. Der ganze Körper der Frau war beteiligt und blieb ebenso, als sie schon beim Lesen war. Er wurde nur um ein kleines stiller, zugleich beweglicher, zusätzlich unter lautlosen, wie befeuernden Ausrufen oder Hauchen. (NB 505)
Innerlich angestoßen durch den Anblick der Leserin, gelingt es dem Sohn nun doch, in die Welt des Buches hineinzufinden, das er bereits seit längerem mit sich führt, die Novelas ejemplares des Miguel de Cervantes: Und so „las und buchstabierte [er], buchstabierte und las weiter und weiter“ (NB 505). Es ist das gemeinschaftliche Lesen, Seite an Seite mit der Ideal-Leserin, welches das erneute Freiphantasieren einer friedlichen Wirklichkeit erlaubt: „Und der Leser konnte denken, es gebe ein Deutschland, welches noch erst wachgeküßt werden müsse.“ (NB 506) In Die morawische Nacht wird die Frau, mit der der Ex-Autor „das andere Zeitmaß“ (MN 264) der Liebe erlebt, als ideale Leserin freiphantasiert, wobei sich das Buch als Projektion erweist: Und jetzt in der Nacht kam ihm das Erinnerungsbild, wie er, angesichts ihrer gesenkten Augenlider in der Sonne, bevor sie ihn zuletzt anblickte, überzeugt gewesen war, sie lese da vor der Herberge in einem Buch, eines, das, so schloß er aus ihren keinmal zuckenden Wimpern, ein Buch war von der Art, wie er es sich immer erträumt hatte in der Hand eines erträumten Lesers – und wie die auf den Knien liegenden Hände der Frau, die Handteller gewölbt und nach oben gekehrt […], leer gewesen waren. (MN 265)
Die Vorstellung eines wahrhaftigen Lesens, wie sie Handke in den Journalen anhand von Leitsätzen entfaltet, wird in Die morawische Nacht mehrfach ins epische Bild gesetzt. So begegnet der Ex-Autor auf einer Zugfahrt einem Mädchen, das auf den ersten Blick wie eine typische Jugendliche wirkt, zugleich aber eine vollkommen Andere darstellt:
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Was sie aber sofort unterschied, war, wie sie da saß und wie sie las. Er sah sie zunächst nur zwischen den Beinen der Umstehenden durch und von dem Buch auf ihren Knien einen bloßen Ausschnitt, ohne den Titel. Aber wie sie las: Das war dir einmal eine Leserin. Sie lebte sichtlich mit dem Buch da, buchstabierte es nach, befragte es, befragte sich, war mit ihm verbunden, wurde und war mit ihm eins. Indem sie auf diese Weise las und indem das augenscheinlich ein Buch war, das sich auf solche Weise lesen ließ, zeigte sich der junge Mensch entrückt von der Umgebung – in einem anderen Element? Nein, überhaupt, im Gegensatz zu den übrigen, in einem Element, dem ihren, dem allein ihr entsprechenden, worin sie erst sie selber wurde. Und war dabei nicht etwa versunken, Entrückung hieß ja nicht Versunkenheit oder Abkapselung: bekam zugleich mit, was im Zuggang und draußen sich mitzubekommen lohnte, siehe ihre zeitweisen Aufblicke von dem Buch und die Rückblicke über die Schulter zur Glastür hinaus, beides wie veranlaßt durch ihr Lesen, nichts als das Lesen. Und er konnte sich nicht daran satt sehen, wie die Jugendliche, fast noch ein Kind?, nein, kein Kind mehr, las, und las und las. (MN 380f.)
Diese Szene des idealen, ernsten Lesens liefert eine komprimierte Fassung von Handkes Ästhetik. Das Lesen ist eben kein Moment der Weltflucht, sondern ermöglicht, im Gegenteil, eine Neuverknüpfung von Innen- und Außenwelt, denn: „Die Literatur setzt mir die Lebensbrillen auf“ (PW 88). Die Beschreibung der Leserin im Zug versammelt jene Attribute, die bei Handke beständig mit der idealen Wahrnehmungshaltung assoziiert werden: Sie „strahlt“ einen Ernst aus und scheint doch zugleich „gewichtslos“ über dem Boden zu schweben; sie erhält sich die Offenheit für „ein Überraschtwordensein, ein inneres Augenaufgehen“; sie scheint mit dem Gelesenen „mitzumusizieren“ und bringt ein „Offen- und Schönwerden“ (MN 382) hervor, das auch den Betrachter ergreift: Geduld ging über von „seiner“ Leserin auf ihn; und in der Folge die umfassende Vorstellung: ihr Lesen sei ein Beschützen; indem sie so las, wie sie las, half sie jemandem, der in Gefahr war. Schutz gebend wirkte solches Lesen, Geleit gebend, bewahrend. Mütterlich, so wirkte diese Leserin, die doch halb noch ein Kind war, und das auch ihren Lebtag lang bliebe. (MN 383)
Dass sich das Nachlesen des Fremden und das Horchen auf das Eigene in den Texten Handkes produktiv ergänzen, belegt auch eine Lektüreszene in dem 2017 erschienen Epos Die Obstdiebin. Wenn Alexia in ihrer „Kraftkammer“ unter der Stiege in ihrem Buch liest, „in der Haltung einer Läuferin vor dem Start“,104 dann gleicht dieses Lesen der Vorbereitung zu einem Aufbruch: „Indem sie auf
104 Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, S. 450.
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dem Feldbett in der Geschichte von dem Fastkind weiterlas […], ging die Erzählung in der Leserin in eine andere über, bekam, während sie im Lesen innehielt, eine neue Variante, eine, die nicht im Buch stand, jedoch ohne das Buch nicht hätte entstehen können.“105 Die Passage zitiert aber auch eines jener wiederkehrenden Leitmotive, die Handkes Werk eine innere Einheit verleihen: die Geschichte des Heiligen Alexius, der seine letzten Jahre der Legende nach unerkannt unter der Treppe des Elternhauses verbringt und schon in der Lehre der Sainte-Victoire mit einer fensterlosen Kammer im „Großelternhaus“ (LSV 69) assoziiert wird. Mit der Obstdiebin Alexia knüpft Handke nicht nur abermals an die Legende an, sondern er variiert auch die Geschichte der eigenen Sozialisation, geht doch dem „guten Recht, zu schreiben“ (LSV 71), die unstillbare Lust am Lesen voraus.
Der vorliegende Band präsentiert Peter Handke als einen Autor, für den das Lesen stets auch Weltaneignung ist – und der dabei insbesondere solche Werke zitiert, die ihm Möglichkeiten aufzeigen, wie die Welt im Schreiben „lesbar“ gemacht werden könnte. Die Beiträge des ersten Teils (Lesestrategien) untersuchen, wie und warum Handke liest, gehen indirekt aber auch der von Peter Strasser (Graz) aufgeworfenen Frage nach, „was das Lesen aus dem Leser macht, der sich auf Handke einlässt, um mit ihm, und sei’s angesichts einer Krokusblüte, zum Weltkundigen zu werden“. Im Spiegel des Lesens, so Strasser, zeige sich etwas vom künstlerischen Wollen Handkes. Strasser beschreibt Handke als einen Dichter, dessen sakrale Ästhetik darin besteht, dass er seinen Lesern die Wahrheit der Natur als zu liebende Schöpfung zu öffnen versucht. Die heilsame Fähigkeit, am Hier und Jetzt teilzuhaben und dabei achtsam das oft Übersehene in Augenschein zu nehmen, stellt einen wesentlichen Leitgedanken von Handkes literarischem Schaffen dar. Heike Polster (Memphis) analysiert Momente des langsamen Lesens und des Innehaltens in Handkes Werk, in denen das Ich bei sich ist, geschützt vor jedweder Bedrohung durch moderne Schnelligkeit, Rationalität und Quantifizierung. So wird deutlich, dass die Langsamkeit ein kreatives Potential freilegt, das durch das Lesen – auch von Landschaften – eng an die Zeiterfahrung der Gegenwart gebunden ist. Wie eine solche Erfahrung von Zeit poetisiert werden kann, das ist eines der Grundthemen Handkes.
105 Ebd.
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Jutta Heinz (Freiburg) argumentiert in ihrem Beitrag, dass dem existentiellen Schreiben Handkes, welches Texte als sinnlich erfahrbare, individuell beglaubigte Lebens- und Erfahrungsspeicher entwirft, ein existentiell verwurzeltes und ethisch aufgeladenes Lesen korrespondiert. Besonders eindrücklich lässt sich diese Lesestrategie anhand der Ende der achtziger Jahre entstandenen Versuche beobachten, schließlich sind dort nur solche Texte und Autoren versammelt, die Handke ein bestimmtes Leseerlebnis bescheren. Diese Autoren, denen er einen „Geist des Vertrauens“ entgegenbringt, müssen deshalb auch nicht umfangreich zitiert oder gelehrt gedeutet werden. Wie Heinz darlegt, verweisen ihre Namen vielmehr auf die Gemeinschaft der wahrhaft Lesenden: Ihre Werke erschließen exemplarische Lesarten des Buches der Welt. Anna Estermann zeigt anhand des frühen Kinofeuilletons „Sacramento (Eine Wildwestgeschichte)“, wie Handkes transmediale Lektüren darauf bedacht sind, Darstellungsformeln freizulegen. Ausgehend von eigenen Lektüreerfahrungen, will Handke bei seinen Lesern ein Bewusstsein schaffen für Funktionsweisen von Erzählmodellen und deren Geschichtlichkeit, so dass sie lernen, Verfahren zu erkennen, die Wirklichkeit nicht nur beschreiben, sondern auch festschreiben. Handkes variierende Wiederholung von Sam Peckinpahs Hollywoodfilm Ride the High Country zielt darauf, Routinen der Rezeption zu durchbrechen. Dem Western attestiert Handke ein Formbewusstsein, das den Genre-Film gegenüber sogenannten „Problemfilmen“ auszeichne, an denen ihn vor allem ihr Anspruch auf Realismus stört. Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit Handkes Anrufungen unterschiedlicher literarischer Autoritäten. Anlässlich der Entgegennahme des Grillparzer-Preises im Jahr 1991 verkündet er: „Ich liebe Franz Grillparzer, durch das, was ich von ihm erfahre an der Hand seines Werks, sehr.“ Birthe Hoffmann (Kopenhagen) spürt in ihrer spiegelbildlichen Lektüre der beiden Autoren formalen und thematischen Analogien nach, wobei sie Literatur als einen chronotopisch offenen Raum der Begegnung und des Gesprächs betrachtet. Auf diese Weise kann sie eine Frage erhellen, die für Handkes Schreiben ganz zentral ist: Wie lässt sich die subjektive Erfahrung von Zusammenhang und Ganzheit als sinnvolle Form durch die Sprache herstellen bzw. intersubjektiv vermitteln? Hoffmann zeigt, dass Handke diese Frage nach der Lektüre von Grillparzers Der arme Spielmann dahingehend beantwortet, dass er Zusammenhänge nicht anhand von Kausalität oder Chronologie erzählt, sondern als Reihe von analogen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Reflexionen, wodurch schließlich dem Leser der Auftrag gegeben wird, den tieferen Zusammenhang zu begreifen. Wie intensiv sich Handke mit der Literatur des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, illustriert auch Maria Luisa Rolis (Mailand) Beitrag zu den Stif-
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ter-Lektüren des Autors. Handke greift in seiner Ablehnung der „großen Stoffe“ und der damit einhergehenden Suche nach einer Sprache für ekphrastische Annäherungen an Landschaften auf eine Traditionslinie der Moderne zurück, die exemplarisch durch die Erzählkunst Adalbert Stifters verkörpert wird. In Stifters Prosa sieht Roli jenes Ideal einer sich selbst erzählenden Welt vorgeprägt, das Handkes Texte seit der Lehre der Sainte-Victoire beharrlich anstreben. Bekanntlich setzt Handkes polemische Moderne-Kritik den Akzent auf die Gattung des Romans, dessen Möglichkeiten realistischer Repräsentation er für erschöpft hält. Vor allem die ‚klassischen‘ Vertreter – Joyce, Proust, Musil, Thomas Mann – markieren für ihn eher eine Sackgasse des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts als einen Weg zu neuen Möglichkeiten des Schreibens. Wie Karl Wagner (Wien/Zürich) erläutert, zieht Handke die Prämissen eines Kanons der Moderne in Zweifel, dem die Auffassung zugrunde liegt, dass der Roman den Triumph über das 19. Jahrhundert repräsentiere. Für Handke werden dadurch Werke interessant, die einen Übergang anzeigen – Werke von Autoren wie Thomas Hardy, William Faulkner, John Cheever oder Samuel Beckett, die mithilfe der alten Zeichen eine neue Weltwahrnehmung ermöglichen. Modernekritisch zu lesen, heißt deshalb auch, das Neue an alten Texten zu erkennen. Derweil vertritt Helmut Moysich (Cagliari) die Auffassung, dass Handkes Lesen Anderer als Tätigkeit einer umfassenden Selbstverständigung als Künstler zu verstehen ist. Handke gehe es nämlich keineswegs darum, durch das Lesen Anderer einfach die eigenen Positionen bestätigt zu finden. Vielmehr diene ihm das Lesen dazu, Abweichungen im Ähnlichen zu entdecken, gemäß der Maxime von den Varianten in der Wiederholung. Moysich demonstriert diese Vorgehensweise an Handkes Lektüre der Werke Heimito von Doderers, die von einer grundsätzlich poetologischen wie auch existentiellen Selbstversicherung geleitet erscheint. Zentrale Parallelen zwischen Doderer und Handke betreffen dabei vor allem die poetisch-poetologischen Themenkomplexe des Ortes/Schauplatzes, des „Auratischen“, des „Sphärischen“ und der „Durchlässigkeit“. Dass der im Journal notierte Ausruf „Ibn ‘Arab lebt“ einen bislang wenig beachteten Zugang zu Handkes Denkweise eröffnen kann, zeigt Chiheb Mehtelli (Tunis). So lässt sich Handkes Rekurs auf die islamische Mystik und den Koran auch durch jene Beschwörung des poetischen Menschen erklären, wie sie im Werk Ibn ‘Arabs anzutreffen ist. Freilich löst Handkes Re-Lektüre dessen Sichtweisen aus der arabisch-islamischen Tradition heraus und bindet sie in neue Kontexte ein. Ibn ‘Arabs theosophische Weltanschauung, sein Konzept von der Einheit des Seins, seine Sehnsucht nach Entwerdung, Auflösung und Verschmelzung bilden, so Mehtelli, ästhetische Perspektiven, mit denen Handke seine Werke anreichert, ohne sich auf das Göttliche berufen zu müssen. Handkes
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Bruch mit Ibn ‘Arabs Denktradition geht somit einher mit einer das eigene Schreiben revitalisierenden Übersetzung. Indem er sich auf jene Aspekte bezieht, die ihn als zeitgenössischen Leser und Dichter ansprechen, kommt es zu einer fruchtbaren Annäherung, die zugleich eine kritische Distanz wahrt. Die Beiträge des dritten Teils, Variierende Wiederholungen, untersuchen die unterschiedlichen Strategien, mit denen Handke nicht nur die Texte Anderer fort- und umschreibt, sondern auch das eigene Werk konsequent zitiert und in wechselnden Kontexten befragt. Zunächst liest Eleonora Ringler-Pascu (Temeswar) Handkes dramatischen Text Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts als kritisch-poetische Auseinandersetzung mit Samuel Becketts monologischem Drama Das letzte Band. Dabei zeichnet sie nach, wie Handke Becketts Text auf seine spezifische Weise adaptiert, deren Ziel darin besteht, überlieferte literarische Formen durch Neuschreibungen zu retten. Im Vergleich zu Becketts akribischem Schreibverfahren, dem ausgeklügelten, perfekten Textkonstrukt, erweckt Handkes Monolog den Anschein eines Textgefolges von Gedanken und Gefühlen, auf der Suche nach Zusammenhang – ein Merkmal, das für sein gesamtes Werk gilt. Zugleich führt er die Reduktion des Theaters noch einen Schritt weiter, indem er die traditionelle Dramaturgie demontiert und einen Monolog auf die Bühne bringt, der als Geflecht von Philosophie- und Literaturverweisen, von Krypto- und Selbstzitaten gestaltet ist. Und schließlich ist Handkes Stück auch inhaltlich als frei phantasierende Wiederholung des BeckettDramas lesbar, präsentiert es doch mit der Frauenstimme eine Art feministische ‚Korrektur‘ des Ausgangstexts. Einen komparatistischen Ansatz wählt Anja Pompe (Münster), indem sie mit Blick auf Edgar Allan Poes Essay The Philosophy of Composition drei Aspekte der Wiederholung thematisiert, um Parallelen zwischen Peter Handke, Martin Heidegger und Bob Dylan zu erhellen. So zeigt sie erstens, wie die Wiederholung als abweichende Duplizität, die Poe in der Betonung des Wechselspiels von Gleichheit und Variation entwirft, mit den Prämissen von Handkes Don JuanReplik konvergiert. Zweitens legt sie dar, wie Handke die Vorstellung von der Inspiration des Dichters unterläuft und stattdessen in der Lehre der SainteVictoire die Wiederholung als kreativen Ausgangspunkt begreift. Und drittens kehrt die Wiederholung als genussvolle Komplexität, die Poe geltend macht und in seinem Gedicht „The Raven“ inszeniert, auch in Handkes Texten wieder. Wie Pompe ausführt, bilden diese drei Aspekte der Wiederholung ein Modell der Autorschaft, das Handke im Anschluss an Poe mit Dylan und Heidegger teilt. Dass epische Erzählungen wie Mein Jahr in der Niemandsbucht Orte der Reflexion über das Schreiben und dessen Gesetzmäßigkeiten darstellen, zeigt Oliver Kohns (Luxemburg), indem er sich Handkes Poetik der fortlaufenden Selbst-
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zitate widmet. Wie seine Ausführungen verdeutlichen, wird die Vorstellung einer Werkeinheit der Texte Handkes durch Eigenzitate und -kommentare verstärkt bzw. zuallererst hervorgebracht. Überdies gelingt durch die Selbstzitate mitunter auch eine selbstironische Durchbrechung des Handkeschen Pathos: Das intertextuelle Spiel eröffnet nicht nur Raum für Multiperspektivität, sondern erlaubt auch Humor auf eigene Kosten. Wie sehr Handkes Schreiben seit Mein Jahr in der Niemandsbucht ein Projekt der ‚Selbst-Vernetzung‘ ist, zeigt Alexander Honold (Basel) mit Blick auf den Roman Die Obstdiebin. In seinem, so das Journal, „Letzten Epos“, verwebt Handke die Zeitreise ins eigene Werk mit der höfischen, durch Wolfram von Eschenbach repräsentierten Erzählkultur des Hochmittelalters. Der kritischen Zeitgenossenschaft tut diese werk- und literaturgeschichtliche Verankerung, wie Honold betont, jedoch keinen Abbruch, denn gerade aus der Perspektive der Obstdiebin lassen sich die großen Landschaftserzählungen des Spätwerks, die auffallend oft Flüchtlingsgemeinschaften in den Blick nehmen, als dezidiert weltzugewandt und politisch verstehen. Oliver C. Speck (Richmond) widmet sich den Filmprojekten, die Handke im Laufe der Jahrzehnte gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Wim Wenders realisiert hat. Speck betrachtet Filme wie Drei amerikanische LPs, Die linkshändige Frau, Falsche Bewegung und Die schönen Tage von Aranjuez jedoch nicht als Kooperationen zweier Autoren und ihrer erfahrenen Teams, sondern als Übersetzungsarbeiten eines vielschichtigen ästhetischen Prinzips, welches er den Handke/Wenders-auteur nennt. Ein filmischer Text von Handke/Wenders steht demnach nicht primär in einem Spannungsverhältnis zu seinen literarischen Vorlagen und Intertexten, sondern zu sich selbst. Mit anderen Worten: Die Verfilmung stellt paradoxerweise einen eigenständigen Urtext dar, der unabhängig von der Vorlage gewürdigt werden muss. Das Ziel eines solches Kinos ist nach Speck eine Grenzerfahrung, die Handke als „Fastergriffensein“ bezeichnet. Seit fast drei Jahrzehnten macht Handke Spanien wiederholt zum Ort epischen Geschehens. Wie Anna Montané Forasté (Barcelona) veranschaulicht, verbindet sich die epische Eignung des Landes jedoch nicht so sehr mit konkreten Lokalitäten – Spanien erscheint bei Handke eher als „Buchland“ –, sondern vielmehr mit einer Erfahrung der Leere, die wiederum Teil einer poetologischen Konstellation ist. Mit Handkes Annäherung an Spanien und die spanische Literatur geht zugleich eine Reflexion über das Lesen einher. Umgekehrt ist in Spanien auch das Werk Handkes variierend wiederholt worden: Essayisten und Literaten wie José Luis Pardo, Miguel Morey und Felix de Azúa haben in dem österreichischen Autor einen Weggefährten entdeckt, dessen Texte sie in ihre jeweiligen Schreibprojekte integrieren.
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Im letzten Teil, Das Buch der Welt, versammelt dieser Band Beiträge, die sich Handkes Lektüren von Landschaften und Stadträumen und deren poetologischen Voraussetzungen und Implikationen widmen. „Die allesumfassende Kunst wäre es, von sich selber märchenhaft zu erzählen; wie Rembrandt, wie Goethe“ (FF 307), heißt es im Journal. Dass Märchen und das Märchenhafte in Handkes Werk in der Tat einen hohen Stellenwert besitzen, hebt Werner Bies (Berlin) hervor. Als Tagebuchschreiber, Übersetzer und Literaturkritiker liest Handke in den Werken vieler Autoren Märchenhaftes; zugleich erhebt er das Märchenlesen in seinen Journalen und Briefen zu einem Akt des Widerstands. Faszinierend ist ferner, wie Handke bei der Wahrnehmung des Märchens immer wieder den eingeschränkten Raum des Lesers flieht und sich in einem weiten Raum des Gehens und Wanderns, einem programmatischen Unterwegssein, dem Märchen öffnet: Das Märchen tut sich vor allem draußen auf, sowohl Landschaften als auch Stadtszenerien werden, meist augenblicksweise, als „Märchen“ gelesen. Wie Handkes Prosatexte den Prozess des Sehens und der Verarbeitung des Wahrgenommenen episch nacherzählen, analysiert Christoph Parry (Vaasa). Das Verfahren der Landschaftslektüre, aus dem sich ihre Erzählbarkeit ergibt, hat bei Handke zur Evolution einer besonderen Poetik beigetragen – einer Poetik, die allerdings immer wieder an Grenzen stößt. Handkes Versuche, Landschaften zu erzählen, kollidieren nämlich oft mit der Schwierigkeit, das Erlebnis, die Landschaftslektüre, anderen wirklich mitzuteilen. Das Gesehene lässt sich nicht einfach erzählen: Erzählt werden kann nur der Prozess des Sehens, der Wahrnehmung und der Verarbeitung des Wahrgenommenen. Wie Parry zu bedenken gibt, gerät das im Zuge der Langsamen Heimkehr entwickelte Programm im Kontext der Jugoslawien-Schriften der neunziger Jahre in Rechtfertigungsnot – und wird daraufhin durch die Zugabe einer gewissen Ironie abgemildert. Immer wieder hat Peter Handke mit Übersetzungen, Beiträgen in Feuilletons und Geleitworten zu Neuausgaben für Autorinnen und Autoren Partei ergriffen, deren Werk im deutschsprachigen Diskurs bis dahin oft keine bedeutende Rolle gespielt hatte. Ein facettenreiches Beispiel hierfür ist der Westschweizer Dichter Philippe Jaccottet, in dem Handke einen Seelenverwandten erkennt, der die Welt in seinen Gedichten, Kurzprosatexten und journalähnlichen Notizbänden ebenfalls „von den Rändern her“ wahrnimmt und weitergibt, wobei er seine Beschäftigung mit alltäglichen Vorgängen in der Natur als ein bewusstes Innehalten begreift. Wie Thorsten Carstensen (Indianapolis) zeigt, verstehen beide Autoren das Schreiben als emphatische Suche nach einer „gerechten“ Versprachlichung des Gesehenen, die einer Haltung des Staunens und Ahnens korrespondiert und auf die Etablierung von Hierarchien ausdrücklich verzichtet. Sowohl Jaccottet als auch Handke entwickeln dabei ihre ganz eigenen „Farbenlehren“.
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Handke liest Literatur, und er liest Paris – und er übersetzt Paris in Literatur: Zu dieser Erkenntnis gelangt Jörg Wormer (München), der sich abschließend den Paris-Aufenthalten Handkes zuwendet. Wormer setzt sich dabei mit der Frage auseinander, auf welche Weise die Stadt prosapoetischen Niederschlag in Handkes Texten seit den siebziger Jahren gefunden hat. Dabei zeigt sich, wie der zu durchquerende Raum in den Erzählungen nicht nur zum Handlungsträger wird, sondern auch zum Ort der poetologischen Reflexion. In und mit der französischen Metropole entwickelt der schreibende Spaziergeher Peter Handke sein Konzept der langsamen Annäherung an die Dinge, in der festen Überzeugung, die schöne Alltäglichkeit in der Literatur aufheben und bewahren zu können.
P ETER S TRASSER Welche biblische Geschichte spielt an einem Sonntagnachmittag? Eine solche täte not („gottloser Sonntagnachmittag“ – es sei denn, du liest)2 PETER HANDKE, GESTERN UNTERWEGS
Die Frage danach, wie es der größte lebende Dichter deutscher Sprache mit dem Lesen halte, ist vor allem deshalb von Interesse, weil im Spiegel des Lesens sich etwas vom künstlerischen Wollen Handkes zeigt. Kein Dichter seines Formats liest unschuldig. Alle Worte, Sätze, Satzfolgen, auf die er trifft, lassen ihn mit der Frage zurück: Öffnet das Gelesene den Raum der Welt? Fügt es ihm etwas Unentbehrliches hinzu? Bejaht oder verneint es durch seine schiere Existenz als Geschriebenes die Weltaneignung und Weltentfaltung des Lesers? – desjenigen, der beim Lesen ja immer auch Autor bleibt. Aber ich muss gestehen, dass mir kein klares Bild von Handke als Lesendem vorschwebt. Liest Handke Philosophen, dann dreht er einzelne Begriffe, die ihn berühren – etwa „Monade“ –, wie kleine Schatzkästchen, in denen eine verborgene Seinsperle klackert. Liest er die großen und kleinen Dichter der Vergan-
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht veränderte Fassung von: Peter Strasser, „Wär nicht das Auge sonnenhaft. Der Philosoph liest den Dichter, der das Buch der Schöpfung liest“, in: manuskripte 217 (2017), S. 107–113.
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Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg/Wien 2005, S. 304.
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genheit und Gegenwart, dann wird daraus ein Beschwingungsmoment, beredt auch, so wenn es heißt: „Nach dem tatsächlichen und tatkräftigen Lesen (nur dieses lass gelten als ‚lesen‘): die Fensterlädenzeilen jenseits des Kanals ‚sprechen mich an‘ – sprechen zu mir.“3 Und freilich auch Handkes unwirsches Aufstöhnen, sobald er, anlässlich einer Festveranstaltung, einen „Kollegen“ ehren soll: Da muss er in das Werk des anderen hineinkriechen, was ihm regelrecht körperliche Schmerzen zu bereiten scheint. Und dann wiederum der pöbelhafte Umgang mit seinen Kritikern! Warum sollte es den lesenden Handke überhaupt geben? Ist das nicht germanistische Mythenbildung? Außerdem denke ich, wenn ich an Handke, den Lesenden, denke, ums Eck: Der Philosoph, der den Dichter liest, der das Buch der Schöpfung liest. Ich denke an mich und an die Zeit, da Handke meine Leseliebe wurde, was ich in einem Buch mit dem Titel Der Freudenstoff (1990) zum Ausdruck brachte.4 Ich las Handke damals, weil dieser sich aufgemacht hatte, uns Mittelmäßigen, Lauwarmen, die nicht aus ihrer schlauen skeptischen Haut herauskonnten, die Welt wieder lesbar zu machen. Das ist ein Bild, worin eine Ästhetik aus der Tiefe der Zeiten fortlebt; romantisch gesprochen: sakrale Ästhetik. Warum also wurde Handke meine Leseliebe? Es lag daran, dass er gegen alle Modernismen darauf beharrte, er sei weder ein Wortarbeiter noch ein Sozialkritiker, sondern einer, der das innerste Anliegen des Erzählers und Dichters keinem zeitgeistigen Verrat aussetzen wollte, auf keinen Fall! Handke hatte, als Erzähler, ein zutiefst religiöses Anliegen, nämlich die Wahrheit der Natur als Schöpfung, die man lieben können sollte, uns Kleingeistern zu öffnen. Und das tat er spätestens seit der Lehre der Sainte-Victoire (1980) über eine Reihe wundersamer Schriften und Notizensammlungen hinweg. Meine Leseliebe wurde Handke, seit er zum Naturleser, zum Weltleser5 geworden war.
In meiner Jugend hieß es, man solle lesen, weil Lesen bilde. So sprachen meine Lehrer. Ich war schon vorher das gewesen, was man eine Leseratte nannte. In meinen Märchenbüchern, Ritterbüchern, Karl-May-Büchern konnte ich versin-
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Ebd., S. 92f.
4
Peter Strasser, Der Freudenstoff. Zu Handke eine Philosophie, Salzburg 1990.
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Oder, um mit Alexander Honold zu sprechen, zum „Erd-Erzähler“: Vgl. Alexander Honold, Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften, Stuttgart 2017.
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ken. Ich wurde aus dem Alltag, der eintönig war, herausgehoben und mitgenommen in Welten, die mich verzauberten und meine Sehnsüchte anstachelten: die Sehnsucht nach Weite und Ferne, nach Abenteuern, vor allem die Sehnsucht nach einem unbestimmten Ich-weiß-nicht-was; und erste erotische Fantasien werden sich wohl daruntergemischt haben. Gewiss, das alles hatten meine Lehrer nicht im Sinn, während sie uns, die Schüler des höheren Bildungsbetriebs, mit klassischen Texten langweilten. Ich rebellierte innerlich dagegen. Ich wollte anders sein. Man kann durch Lesen zeigen, dass man ein anderer ist, selbst wenn es die Mitschüler nicht merken. Also las ich für mich „moderne Literatur“, was tatsächlich meinte, dass ich Autoren mit mir herumtrug, die „anders“ schrieben und von denen ich mir damals nicht eingestand, dass mich ihre moderne, gar „experimentelle“ Art des Schreibens ebenfalls nur langweilte. Ich gefiel mir in der Rolle des rebellischen, Weltverdruss sprühenden, oberschlauen Intellektuellen, der Sartres Ekel ebenso goutierte wie Oswald Wieners Verbesserung von Mitteleuropa. Als ich Handke zu lesen begann, war ich bereits tief eingetaucht in eine Literatur anderer Art. Es wimmelte damals von sozialkritischen Analysen, Traktaten, Romanen, Gedichten. Erich Fried, der Ideologisches reimte, stand hoch im Kurs. Und dabei gilt es klarzustellen, dass diese Art von oppositioneller Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse nichts ist, was ich hätte missen wollen. Es war der – wie auch immer besserwisserische – Aufstand einer Generation, die sich des Muffs und der Bürgerverlogenheit der Jahrzehnte nach dem Nazi-Krieg erwehren musste; es war die rabiate Antwort auf die Nachkriegsverstocktheit unserer Elterngeneration. Natürlich führte man die Blechtrommel im Munde und viele andere, weniger hochgepriesene Werke der alten und neuen Linken, doch es ließ sich nicht vermeiden, dass die ganze Antifaschismus-Debatte schließlich erstarrte und letzten Endes auch keine Literatur mehr hervorbrachte, die von der Sehnsucht nach Lebendigkeit durchdrungen gewesen wäre. Man war längst formelhaft erstarrt. In dieser Phase war Peter Handkes Losung, er sei ein Bewohner des Elfenbeinturms – so der Titel eines seiner berühmten Essays –, nicht nur eine Kampfansage an den „Realismus“ der deutschen Gruppe 47, sondern auch das Versprechen, die Literatur unter ein neues Vorzeichen zu stellen. Fortan sollte es darum gehen, nicht bloß die „Verhältnisse“ zu kritisieren, sondern sie mit neuen Augen anzuschauen, damit uns, den verbiesterten Achtundsechzigern, ein neuer Gerechtigkeitssinn erwüchse: eine poetische Gerechtigkeit, welche die Dinge, „trotz allem“, in ihrem Sein und – warum nicht? ja, jetzt erst recht – ihrer Unschuld „entzifferbar“ machte.
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Ich erinnere mich heute noch, beispielhaft gesprochen, dankbar an die Begegnung mit der Geschichte des Bleistifts, an das Eintauchen in den Nachmittag eines Schriftstellers oder die Großerzählung Die Wiederholung. Es ist schwer zu beschreiben, was das Lesen aus dem Leser macht, der sich auf Handke einlässt, um mit ihm, und sei’s angesichts einer Krokusblüte, zum Weltkundigen zu werden. Das wichtigste Gefühl, das mich, den Leser, zu durchdringen begann, war zunächst eine ausholende, atemholende Abwehr einer gewissen schönrednerischen Schwarzfärberei: war Theodor W. Adornos Unrecht, wenn er in seinen Minima Moralia und anderswo der Ansicht Ausdruck verlieh, es gäbe im falschen Leben kein richtiges. Denn gerade unter der Bedingung, dass die Welt The Devil’s Party – oder um es mit E. M. Cioran auszudrücken: eine Hölle voller Wunder – ist, sollte sich der wahre, wahrhaftige Autor verpflichtet fühlen, hinter die Kulissenschiebereien des Teufels zu blicken. Mit reaktionärem Denken hat das nichts zu tun; auch nicht mit dem Existenzialkitsch eines Paulo Coelho und ähnlich spiritueller Faktenverschleimer. Nein, die Kunst hatte, so schien mir (und so scheint mir), die Aufgabe, den irdischen Teufeln nicht das Feld der Schöpfung und der Seele zu überlassen. Der inspirierte Dichter ist es seinen Lesern, das heißt im Grunde: der Menschheit, schuldig – obwohl er ursprünglich nur sich selbst verpflichtet sein mag –, die Dinge in einem Licht zu zeigen, so dass wir altüberkommene Begriff wie „Schöpfung“ und „Seele“ wieder verwenden können, ohne uns dafür genieren zu müssen. Wie ist das möglich? Wollte ich für das Leseerlebnis, das uns Handke beschert, eine Formel finden, dann würde ich sagen: Angesichts der Weise, wie er uns an das Sein der Dinge heranführt, werden wir befähigt, mit offenen Augen die Augen aufzuschlagen. Es ist, als ob dem alten, müden Abendländer mit all seiner Schlauheit und abgedroschenen Weisheit ein neuer Blick zuwüchse und sich davor ein neuer Horizont eröffnete. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief hatte uns mit einer Gestalt vertraut gemacht, einem jungen vielbelesenen, hochbegabten adeligen Mann, der unter der Tradition verkümmert, bis er zu spüren meint, die Worte zerfielen ihm wie „modrige Pilze“ im Mund. Alles nur Konvention, alles durchdrungen von Leblosigkeit! Schließlich wird dem gepeinigten Lord Chandos angesichts der einfachen Dinge auf dem Feld, einer daliegenden Egge und Ähnlichem, eine mystische „Erhebung“ zuteil: Er gerät außer sich, hat das Gefühl, alles neu zu sehen und mit allem eins zu werden.6 Die Sache hat nur einen Haken: Seine Ekstasen spielen im Jenseitsbegrifflichen. Chandos fehlt die Sprache, das radikal Neuge-
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Hugo von Hofmannsthal, „Ein Brief“, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. von Ellen Ritter, Frankfurt am Main 1991, S. 45–55.
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sehene, Neuerlebte auszudrücken, in lebendige Begriffe zu fassen. Und so kommt es, dass, nach dem Abklingen der Entrückung aus aller Banalität von Kultur und Kultiviertheit, sich tiefste Depression einstellt. Der Himmel hat sich zurückgezogen, und das, was übrigbleibt, ist erst recht bedeutungsloses Zeug. Handke, so darf man vielleicht sagen, ist ein Verwandter des Lord Chandos, allerdings einer, dem es gegeben wurde, den drohenden Abgrund des Wortverlusts in neue dichterische Energie umzuwandeln. Nur wenn die tiefe Freude und das reine Staunen im Anschauen der Dinge dessen eingedenk bleibt, dass – wie es biblisch heißt – am Anfang das Wort war, logos, also die Welt aus dem Wort, das Geist ist, geboren und nur als solche dem menschlichen Blick zutraulich wird: nur dann wird das Anschauen zur Anschauung, zu begeisterter, weil begeisteter Wahrnehmung und Erkenntnis. Und nur sofern die Begeistung, und die ihr innewohnende Begeisterung, als Sprache zur Welt kommt, wird die Fülle der Welt wahr, „trotz allem“, trotz all der Gräuel, der Langeweile und dem Stumpfsinn, der rundum waltet. Der Leser, der sich Handkes Episteme, das Prinzip seines Erkenntniswollens, zusammenreimen möchte, wird zwangsläufig – und dabei zwanglos – auf Goethe verwiesen. Zu Beginn von dessen „Entwurf einer Farbenlehre“ heißt es: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“7 Es ist diese hier ausgedrückte Wahlverwandtschaft zwischen dem Subjekt, das sich der Welt zuwendet, und dem innersten Sein der Dinge, wodurch diese „lesbar“ werden und so erst der Anschauung zugänglich. Es geht stets um die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Zutraulich fremd offenbaren sich die Dinge demjenigen, der bei offenen Augen die Augen aufschlägt. In Handkes mäandernd epischem Werk treffen wir auf Stellen von der Leichtigkeit und Tiefe eines Haiku: Tageslauf in einem Sommergarten Am Nachmittag fielen ein paar Blätter von den Akazien Und am Abend schwankte die Lampe im leeren Esszimmer8
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Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Farbenlehre, hg. von Ernst Beutler, Zürich 1949 (Gedenkausgabe, Bd. 16), S. 20.
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Peter Handke, „Gelegenheitsgedichte aus den Jahren 1976/77“, in: manuskripte 58 (1977), S. 51; auch als: ders., „Tageslauf in einem Sommergarten“, in: ders., Leben ohne Poesie. Gedichte, Frankfurt am Main 2007, S. 149.
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Ist das nun ein zartes Epos des Inneren oder des Äußeren? Es ist beides, und darin liegt seine Wahrheit. Jener Tageslauf lässt den Leser ganz draußen, bei den Dingen, sein, wodurch diese sich ihm anverwandeln und zur Schrift seiner Seele werden. Die Seele spiegelt sich im Seelenhaften des Sommergartens und wird so, was sie ist: lebendiger Grund eines lebendigen Kosmos.
„Lebendiger Grund eines lebendigen Kosmos“: Der Philosoph, der eine solche Wendung niederschreibt, muss heutzutage damit rechnen, dass er gescholten wird, sich in der Dichtkunst einzunisten, als ob es keine objektive Sicht der Welt gäbe. Diese, so der Kritiker des Philosophen, verbiete eine derart idealistische Sicht der Dinge. Nicht nur war am Anfang der Wasserstoff – oder irgendetwas vergleichbar Lebloses –, am Ende wird, soweit uns die heutige Wissenschaft lehrt, der Grund des Grundes immerfort tote Materie und Energie gewesen sein, das Meiste davon uns ohnehin unerkennbar, dark matter, dark energy. Was also soll die Rede vom lebendigen Kosmos? Wird nicht gerade durch sie der Dichter in ein Eck gedrängt, wo es nicht mehr um Wahrheit, sondern bloß noch um Gefühligkeit geht, wie stilstreng verpackt auch immer? Und heißt „Lesen“ als ein Vorgang, der sich in der schönen Literatur vollzieht, dann nicht eigentlich, sich einer – im Wesen intellektuell unredlichen – Illusion hinzugeben: dass es nämlich gar nicht auf die Tatsachen im Leben, sondern darauf ankäme, den Tatsachen ein Mäntelchen aus herbeigeschriebenen Bedeutungen umzuhängen, wodurch das Leben als ein Ausfluss von leblosen Tatsachen, brute facts, erst lebendig und so erträglich gemacht werden soll. Obwohl ich, aus einer akademischen Perspektive betrachtet, gegen derartige Einwendungen keineswegs immun bin, konnten sie mich nie vollends überzeugen. Und dieser mein innerster Widerstand gegen den Materialismus – oder wie man heute zu sagen pflegt: Physikalismus – des Blicks auf die Welt ist durch die Lektüre von Werken wie jenes, das wir Handke verdanken, entschieden bestärkt worden. Was nämlich der wissenschaftliche Blick seinerseits, der ja einer strengen Methode der Abstraktion verpflichtet bleibt, prinzipiell nicht nachzuvollziehen vermag, ist dem Leser Handkes unmittelbar vertraut. Es gibt ein geistiges Band zwischen den Dingen und dem Subjekt, dem sie erscheinen, und dieses Band wird durch die Sprache gestiftet, die kein bloßes Mittel der Kommunikation ist. Was dann? Nun, die inspirierten Menschen aller Zeiten waren sich dessen bewusst, dass die Sprache nicht nur beschreibt, sondern – insofern in ihr Geistiges „anwest“ – auch stiftet. Die Sprache stiftet Welt, indem sie das unaussprech-
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bar Absolute, dem sich alles Sein verdankt, aussprechbar macht, freilich bloß im Modus dunklen Ahnens: videmus nunc per speculum in aenigmate … Wir sehen jetzt, so Paulus, durch einen Spiegel ein rätselhaftes Zeichen, tunc autem facie ad faciem. Dann aber – wann aber? – von Angesicht zu Angesicht. Es steckt in den Dingen, als ihr Sehnsuchtshorizont, das Versprechen, der Geist, der ihnen begriffslos innewohnt, werde dann – wann dann? – aussprechbar werden, und dann werden wir sehen, „von Angesicht zu Angesicht“. Man muss die Stelle im Ersten Korintherbrief nicht kennen, um als Leser Handkes ständig an die Schwelle jenes Versprechens geführt zu werden, in allen wahrhaftigen Passagen seines Werkes, die eine rîte de passage eröffnen. Was immer uns der wissenschaftliche Blick auf die Welt zu lehren meint, er bleibt außerstande, uns aus dem Reich der toten Materie, der toten Energie empor- und herauszuheben, hin zum Licht jenes Geistes, das uns aus den inspirierten Zeilen des Dichters entgegenleuchtet. Handkes Blick vermag es, die Elevation steckt in oft einfachen, bisweilen geschachtelten, durch allerlei Interpunktionen verlangsamten Sätzen. Im folgenden Frühjahr, an einem für den Breitengrad ungewohnt lauen, winddurchfächelten Sonnentag steht das Kind vor dem Haus in einem sandigen Hof. Das Gelände steigt leicht an und wird hinten gesäumt von einer Gebüschreihe. In dem Buschwerk öffnen und entfalten sich tiefe, schwarze Zwischenräume, in Übereinstimmung mit den im Vordergrund fliegenden Haaren […]; und durch diese Räume geht es jetzt, in einem allgemeinen wilden Wehen, bis an das Ende der Welt. Nie durften solche Augenblicke vergehen, oder vergessen werden: sie verlangten einen Zusatz, in dem sie weiterschwingen könnten; eine Weise; den GESANG. 9
Und so endet Handkes Kindergeschichte (1981) mit einem Satz, von dem es heißt, er sollte für „jede Geschichte eines Kindes“ gelten, „nicht nur für eine geschriebene“.10 Der Satz stammt aus Goethes Maximen und Reflexionen: „‚Cantilene: die Fülle der Liebe und jedes leidenschaftlichen Glücks verewigend.‘“11 Es ist zwar eine Metapher, wenn gesagt wird, es sei die Aufgabe der großen Dichtung (worunter selbstverständlich nicht nur die Lyrik fällt), die Welt für uns „lesbar“ zu machen. Und doch steckt eben darin jene tiefe Wahrheit, die in philosophisch abstrakter Form vom Idealismus bis zu Heidegger und darüber hinaus die Denker bewegte. Dass wir, als Menschen, in das Weltgeschehen nicht nur als
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Peter Handke, Kindergeschichte, Frankfurt am Main 1981, S. 136.
10 Ebd., S. 137. 11 Ebd. (Herv. i.O.).
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Maschinen, sondern zuallererst als sinnsuchende Bewusstseinswesen verstrickt sind, führt den Philosophen dazu, von einem „Primat des Geistes“ zu sprechen. Er ist auf der richtigen Spur, solange er diesen Primat nicht als Theorie abhandelt. Denn es handelt sich dabei um ein – sozusagen – regulatives ontologisches Prinzip, das uns in unseren Bemühungen, die Welt „lesbar“ zu machen, nicht bloß als Idioten dastehen lässt. Wenn wir vor dem Absoluten auch Idioten sein mögen, so sind wir eben doch Idioten des Absoluten. Und dass uns die Welt als ein sinnreicher Raum begegnet, worin wir uns zuhause fühlen möchten, gründet im Paradox unserer Weltfremdheit: Wir sind nicht von hier, solange das ewige Hier und Jetzt nichts weiter als eine Ansammlung in ihrer Substanz bedeutungsloser Fakten ist. Handkes Weltfremdheit wurde ja oft zum Gegenstand des Spottes. Darin äußert sich die Dummheit des Feuilletons. Denn nur jener Künstler, der das „Nicht von hier“ als Strebung seiner Seele nicht abdrängt, wird zu den Dingen jenseits ihrer bloßen Faktizität – ihrer opaken, undurchdringlichen Präpotenz des blanken Daseins – zugelassen. Sartre ließ im Ekel seinem Protagonisten Roquentin vor dem puren Sein einer riesigen Baumwurzel erstarren. Ja, sie fährt ihm, in einem Moment mystischer Mimikry, regelrecht in den Rachen, so dass er keine Begriffe mehr hat und existenziell zu ersticken beginnt. Das sind wuchtige, gequälte Bilder für einen Zustand, der das Sein nicht mehr als Heideggers Lichtung, als das Offenbarwerden der Wahrheit (aletheia) vorführt, sondern als das Viel-zuviele, welches die Seele tötet.
Das Viel-zu-viele: Dieses findet sich, in gewandelter Form, neuerdings auch bei Handke. 2015 erschien dessen Theaterstück Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Die Unschuldigen – das sind für Handke die Blind-Bösen, wie sie sich schon bei Nietzsche in der Gestalt der „letzten Menschen“ finden, von denen es heißt, sie seien unaustilgbar wie die Erdflöhe. Später trifft man sie wieder bei Spengler und Heidegger, Autoren, die an den Untergang des Abendlandes die Hoffnung knüpften, der Durchschnittsmensch mit seiner vermassten Empfindungs- und Denkfähigkeit werde einer neuen Menschheit Platz machen. Bei Handke ist, unter Verwendung einer Seuchenmetapher, gar von der „Pandemie der Unschuldigen“ die Rede: Wärt ihr doch wenigstens schuldig. Aber ihr seid nur ein Übel, das Übel der Übel. […] Einer allein von euch: Er wimmelt, und wimmelt. Dabei will ich ja glauben, ihr seid, wie
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ihr seid, gottgewollt, aber es gelingt mir nicht. Ihr könnt nicht Gottes Wille sein, anders als die Bösen vor euch. Hitler, Adolf und Stalin, Josef, kommt zurück, da hätte man wenigstens einen zu bekämpfen, wenigstens einen mit einem Namen, einen Dschingis, einen Dschugaschwili. 12
Die Bedrohung, die von den „Unschuldigen“ ausgeht, ist mit säkularen Begriffen allein nicht zu ermessen. Unter den archetypischen Ängsten findet sich die Urangst allen individuellen, selbstbewussten, sensiblen Lebens, seiner Lebendigkeit als einer notwendigen Bedingung seines In-der-Welt-Seins verloren zu gehen. Jeder von uns ist in der Lage, diese Angst zu verstehen. Wo sie sich jedoch mit einer Radikalkritik der demokratischen Massengesellschaft verbindet, gerät sie, ihrer eigenen Witterung folgend, auf eine schiefe Bahn, die bei einer wenig beachteten Form des Faschismus endet – dem Zombiefaschismus: Nur wer gegen die wimmelnden, gierigen, Ausgeburten des „Man“ in den Kampf zieht, tut das Werk der Seele, dient dem Lebendigkeitsrecht des Lebens, fast so, als ob man in göttlicher Mission handelte – und tut man es denn nicht? Nun, das sind Fragen, die sich dem altgewordenen Leser Handkes (mir) stellen. Die Figur im Stück, die bei Handke über die „Unschuldigen“ urteilt, heißt ICH – „ich“ großbuchstabiert. Man könnte diese Figur als ein Alter Ego des Autors verstehen. Und damit hätte man, so mutmaße ich, nicht völlig Unrecht. Handke ist nämlich alles andere als ein mimetischer Autor: einer, der eine besondere Fähigkeit und darüber hinaus Lust hätte, gleichsam in die Haut anderer Figuren zu schlüpfen, um ihrer inneren „Physiognomie“ gerecht zu werden. Handke, der ja den Begriff der Gerechtigkeit als ein Kriterium seines dichterischen Urteilens – und er urteilt nicht ungerne, am liebsten als ein verwackelter Prophet vom Berge oder aus der Laubhütte! – oft verwendet, verkörpert sich irgendwie in allen seinen Figuren selbst. Er ist im Schreiben nicht mimetisch, er ist das, was ich gerne „projektiv“ nennen möchte. Aber die Projektionen dürfen nicht bloß etwas Herbeigeschriebenes zum Ergebnis haben, einen Popanz, sondern müssen Ausdruck einer medialen Grundsituation sein: Im Dichter offenbart sich eine Wahrheit, deren schriftstellerischer Ausdruck die Wahrheit der Welt „lichtet“. Die Wahrheit der Welt wird gegen das bloß Faktische, von dem sich sagen ließe, „es ist, wie es ist, und es ist schlecht“, freigestellt. Das eben macht die Größe des medial-projektiven Künstlers aus: sein unbedingter Wunsch, den Dingen gerecht zu werden in einem höheren als bloß moralischen Sinne, nämlich den Dingen gerecht zu werden als Gestalten in
12 Peter Handke, Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten, Berlin 2015, S. 127.
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einer unendlichen Fülle des Geistes, als schöpferische Mitgestaltungen jener Tapisserie, deren Name traditionell „Schöpfung“ lautet. Und so entsteht Handkes literarischer Kosmos, dessen innere Kohärenz zugleich als eine Vision gelesen werden darf: Es geht um nicht weniger als darum, wie alles sein sollte, damit sich davon erzählend, dichtend handeln ließe, im Guten wie im Bösen – denn nur so, im Dichten und Erzählen, öffnet sich die Welt dem Blick als etwas Lebendiges, das vom Atem der Schöpfung beseelt ist. Demgegenüber verkörpert das Viel-zu-viele eine absolute Grenze: An ihr zerschellt alles, was der Dichter an Aufschließungsmagie besitzt. Die „Unschuldigen“ als die viel zu Vielen sind die lebenden Toten, welche, während sie sich ihren ebenso harmlosen wie geistlosen Vergnügungen hingeben, aus der Welt ein Beinhaus des Allerleibunten machen, das bei näherem Hinsehen als zombieartiges Gewurle sinnloser Fakten den Blick und damit alle Lesbarkeit der Welt zerstört. Hier beginnt für den projektiven Dichter, der mittels seiner eigenen Lebendigkeitssehnsucht den Dingen entgegenschreibt, auf dass sie sich ihm öffnen mögen, das radikale Böse, von dem es bei Kant – sehr zum Ärger Goethes, der ein Nachwirken der alten Erbsündenlehre witterte – kapitulierend heißt: Unbegreiflich! Der passionierte Handke-Leser wird hier nicht damit konfrontiert, wie ein Dichter, kraft einer inspirierten Natur, auch noch die widersinnige, ja böse Welt aufschließt, wie er im Rahmen seines Gerechtigkeitswollens sogar in den banalsten, trübsten Fakten des Alltags das Seelenmoment aufleuchten lässt; der Leser muss vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass der Autor durch den Mund einer seiner Figuren konstatiert, die „Unschuldigen“ seien die Seelenlosen. An diesem Punkt rückt uns der Dichter, der zu keiner Mimesis an das Viel-zu-viele fähig ist, nicht als Leser des Buches der Natur, der Schöpfungstapisserie nahe, sondern wendet sich vom Gegenstand seiner Betrachtung schroff ab – und er fordert den Leser auf, es ihm gleichzutun. Diese Geste Handkes irritierte mich, und zwar deshalb, weil der namenlosen Figur namens ICH in den Mund gelegt wird, Hitler und Stalin trügen immerhin einen Namen … Doch dass die viel zu Vielen, als Ausdruck des „Man“, für jeden Autor, der aufs Lebendige, Geistige, Seelenvolle dringt, eine fürs Schreiben tödliche Mauer bilden: das kann ich, der Leser Handkes, verstehen. Denn es ist die Mauer des Viel-zu-vielen, welche alles Wahlverwandte trennt. Gemeint ist jene Goethe’sche Wahlverwandtschaft („Wär nicht das Auge sonnenhaft …“), die den Dichter erst in die Lage versetzt, das Buch der Natur, worin alle Geschöpfe als Individuen einbegriffen sind, zu „lesen“ – nicht ohne Goethes Kantilenen-Klang: „… die Fülle der Liebe und jedes leidenschaftlichen Glücks verewigend.“
H EIKE P OLSTER
Als ich 36 Jahre alt war, hatte ich die Erleuchtung der Langsamkeit. Die Langsamkeit ist für mich seitdem ein Lebens- und Schreibprinzip. […] Ich verstehe, daß diese Langsamkeit viele enerviert, die ein Überfliegen, ein Verschlingen, ein bloßes Story-Aufnehmen der Bücher oder der Sprache gewohnt sind. Vielleicht sagt man statt Langsamkeit noch treffender Bedachtsamkeit. Nie, nie schnell werden, nie suggerieren, immer Abstand halten zu den Dingen und scheu sein.1 PETER HANDKE
Langsamkeit und Entschleunigung stellen wesentliche Leitgedanken von Peter Handkes literarischem Schaffen dar. Nur durch sie lässt sich ein genaues und bewusstes Wahrnehmen der Welt ermöglichen. Die auf diese Weise erlebten Zufälligkeiten und spontanen Begegnungen würden in der Hektik der modernen Gesellschaft andernfalls nicht verwirklicht. Das bewusst langsame Gehen erlaubt es Handkes Figuren, Welt- und Naturereignisse neu zu entdecken, was wiederum zur Folge hat, dass Umwelt und Landschaft als Text bzw. Intertext gelesen werden. Die Wirklichkeit verwandelt sich grundlegend durch diese gesteigerte Aufmerksamkeit. Sie wird gewissermaßen als Prozess statt als Konstantes oder bereits
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Lothar Schmidt-Mühlisch, „Peter Handke: Ich denke wieder an ein ganz stummes Stück“, in: Die Welt, 9. Oktober 1987.
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Gegebenes wahrgenommen, indem die gegenwärtige Zeit als räumliches und zeitliches Gebilde gesehen wird. Von besonderem Interesse ist in diesem Beitrag, inwiefern Handke die ontologische Erkundung der Zeit – und damit meint er die Gegenwart, die immer die Vergangenheit mitbirgt – als eine poetologische Fragestellung begreift, wie also, um es anders zu formulieren, die Wirklichkeits- und somit auch die Zeiterfahrung poetisiert werden können.2 Im Folgenden werden zunächst die Grundzüge dessen dargelegt, was Tim Lörke als „sinnstiftende Zeiterfahrung“ Handkes versteht.3 Sein Verständnis von Zeit und deren Erfahrung wird anhand der Journale erörtert, entwickelt der Autor hier doch jene Ideen vom „Zeithaben“, die seine künstlerische Sehweise bis heute bestimmen. In einem zweiten Schritt wird dann die Langsamkeit als poetisches und lebenspraktisches Prinzip herausgearbeitet.
„‚Was ist dein Ziel?‘ – ‚Jetzt!‘“:4 Handkes Journale, von Am Felsfenster morgens5 bis Vor der Baumschattenwand nachts, bezeugen die Suche des Autors nach der Dauer im erfüllten Augenblick. Indem er seine Gedanken kurz und bündig formu-
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Die Forschung hat Handkes Poetisierung der Zeiterfahrung bislang nicht systematisch untersucht, obgleich schon die Titel vieler Werke seine fortwährende intensive Beschäftigung mit der Zeit und der ihr verbundenen Phänomene – Dauer, Wiederholung, Tageszeiten – nahelegen: Chronik der laufenden Ereignisse (1971), Die Stunde der wahren Empfindung (1975), Das Ende des Flanierens (1977), Langsame Heimkehr (1979), Phantasien der Wiederholung (1983), Die Wiederholung (1986), Nachmittag eines Schriftstellers (1987), Noch einmal für Thukydides (1990), Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum (1991), Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten (1992), Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992 (1992), Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994), Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Königsdrama (1997), Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990 (2005), Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007 (2007), Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010).
3
Tim Lörke, „Dauernde Augenblicke: Sinnstiftende Zeiterfahrungen bei Peter Handke“, in:
4
Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peri-
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Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salz-
Anna Kinder (Hg.), Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen, Berlin 2014, S. 59–72. pherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016, S. 221. burg/Wien 1998.
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liert, bildet er sprachlich die immense Verdichtung des Augenblicks ab und animiert den Leser damit, wie Lörke beobachtet, „zu einer intensiveren Lektüre“: „Denn die kurzen Formen verlangsamen das Lesen […], führen zum Gestus des Innehaltens und widerstehen so nicht allein dem raschen Lesen, sondern auch der Beschleunigung der Zeit.“6 Hierdurch bringt Handke die zwei grundlegenden Formen der Erfahrung konzentrierter Augenblicke zusammen: einerseits das Erleben des Augenblicks selbst, andererseits die Erfahrung der Dauer, die durch Lektüre, Traum und Hinsehen bedingt ist und die dann „zur Schrift drängt“.7 Ein tieferes Sehen wird durch die Reduzierung auf die Oberfläche erreicht. „Gelingt ein solches Sehen, dann gelingt der Schritt von der permanenten Gegenwartsschrumpfung hin zu einer erfüllenden Gegenwartsdehnung“.8 Sinnstiftende Zeiterfahrungen werden in Handkes Werk im epischen Erzählen festgehalten. Wie Thorsten Carstensen zeigt, ist die Einstellung des Autors „eine meditative Lebens- und Wahrnehmungshaltung, die mit den Begriffen der ‚Verlangsamung‘ und des ‚Zeithabens‘ veranschaulicht wird und ihr poetologisches Pendant im epischen Ideal findet“.9 Handke beschreibt das Zeithaben als „schönstes Alltagserlebnis“10 und „Weise der Gnade“.11 Es dient zur „Einübung der Gelassenheit“, setzt Geduld voraus und erfordert beharrliche „Selbsterziehung“.12 Tatsächlich ist das Zeithaben von existentieller Bedeutung, denn, so Carstensen weiter, nur die „im ruhigen Gleichmaß erfahrene Zeit [als das, was] das Ich stabilisiert und mit der Gegenwart verknüpft“, ermöglicht die „anmutige, entschleunigte Teilhabe an der Welt“.13 Carstensen erkennt in dem Zeithaben aber auch eine „kulturkritische Vokabel“, denn Momente „des harmonischen Aufgehobenseins in der Erzählzeit können als Angriffe auf eine Moderne verstanden werden, deren Zeitstruktur im Zeichen einer allgemeinen und scheinbar unaufhaltsamen Dynamisierung steht“.14 Das Prinzip des Zeithabens sei mithin ein Beleg dafür, dass
6
Lörke, „Dauernde Augenblicke“, S. 70.
7
Ebd., S. 70.
8
Ebd., S. 71.
9
Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 190. Vgl. auch Heiko Christians, „Der Roman vom Epos. Peter Handkes ‚Poetik der Verlangsamung‘“, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 10 (2002), S. 357–389.
10 Handke, Am Felsfenster morgens, S. 145. 11 Handke, Vor der Baumschattenwand nachts, S. 225. 12 Carstensen, Romanisches Erzählen, S. 189 und 194. 13 Ebd., S. 191 und 189. 14 Ebd., S. 194 und 192.
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Handkes Kritik an der Moderne von ihrem ästhetischen Kern her zu begreifen ist: Seine „Ästhetik der Langsamkeit“ werde in den Journalen „in den Rang des Politischen gehoben“.15 Als poetisches Prinzip und Basis der Lebenspraxis soll die Langsamkeit eben dort „Zeiträume“ schaffen, wo sich durch Besinnung und Achtsamkeit noch ein „Jetzt“ erfahren lässt, an dem der Mensch teilhaben kann. Diese Gegenwartserfahrung ist grundlegend für wahre Freiheit und wird durch das „Lesen“ – insbesondere das „Lesen“ der Welt – kultiviert. Der Leser ist laut Handke „Herr der Zeit; der Nichtleser: Sklave der Zeit“.16 Im Folgenden soll nun verdeutlicht werden, wie die Langsamkeit das befreiende Potential freilegt, das durch das „Lesen“ eng an die Zeiterfahrung der Gegenwart gebunden ist.
Handkes Gedicht- und Kurztextsammlung Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) sind drei Zitate von Jean Paul vorangestellt; eines lautet: „– und in dieser zitternden Minute knisterte der Monatszeiger meiner Uhr...“17 Nicht nur wird damit der erzählerische Rahmen vorgegeben, auch das Problem der Versprachlichung der Zeiterfahrung ist hier schon formuliert: Die Zeitmessung durch Chronometer erfasst wenig, wenn nicht sogar gar nichts von dem Erleben von Zeit. Die „zitternde Stunde“ als metaphorischer Ausdruck suggeriert eine emotional belegte Dauer, die im Gegensatz steht zur Nüchternheit der mathematisch-physikalischen Zeitmessung. Im zweiten Segment der Gedichtsammlung, dem kryptischen Kurztext „Das Wort Zeit“, nähert sich Handke dem Versuch, die Bedeutung einzelner Wörter mit ihrer grammatischen Kategorie zu kontrastieren: Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit. Wie das Hauptwort keine Zeit bildet, bildet das Hauptwort keine Leideform. Die Zeit ist ein Hauptwort. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Leideform. Die Leideform ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Leideform. Da die Leideform ein Hauptwort ist, bildet die Leideform keine Leideform. Aus demselben Grund bildet die Leideform keine Zeit.18
15 Ebd., S. 194. 16 Handke, Vor der Baumschattenwand nachts, S. 324. 17 Peter Handke, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt am Main 1969, S. 5. 18 Peter Handke, „Das Wort Zeit“ [1965], in: ders., Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 14f., hier S. 14.
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Der Klappentext von Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt vermerkt, dass die Texte des Bandes „ein grammatisches Modell benutzen und dieses mit Sätzen, die nach dem Modell formuliert sind, verwirklichen“. Die Sätze sind demnach als „Beispiele, Satzspiele“ (Herv. i.O.) intendiert. „[J]eder Satz hat eine Geschichte“, heißt es weiter, woraus folge, dass „die satzweise Beschreibung der Außenwelt sich zugleich als Beschreibung der Innenwelt, des Bewußtseins des Autors erweist, und umgekehrt und wieder umgekehrt“. Vor diesem Hintergrund zeigt der zweiseitige Text „Das Wort Zeit“ letztlich die Selbstreferentialität des Zeichensystems Sprache und die nur bedingt mögliche Darstellung der Zeiterfahrung.19 Handke nähert sich der Überschneidung von Wörtern und ihrer grammatischen Kategorie durch die Auswahl und ständige Wiederholung der Worte „Leideform“ und „Möglichkeitsform“, deren Bedeutung über die grammatischen Bezüge hinausgeht. Beide könnten sowohl als zeitphilosophische als auch zeitpsychologische Begriffe verstanden werden. Das 34. Segment der Sammlung, „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“,20 stellt die Versprachlichung von Zeit in den Mittelpunkt. Anhand von Metaphern wird versucht, das Erleben der Zeit – für Handke bedeutet das hier wieder Gegenwart – erzählbar zu machen. Die drei im Titel genannten Begrifflichkeiten erscheinen auf den ersten Blick als Kategorien des objektiven Zeitverständnisses, doch der Autor macht sie sich als subjektive Zuordnungen zu eigen. Erstens werden „Zeitmaße“ je nach der sie gebrauchenden Beschäftigung unterschiedlich dargestellt; zweitens behandeln „Zeiträume“ das von Einzelnen erlebte Verhältnis von Raum und Zeit und daher auch der Bewegung; drittens weisen „Ortszeiten“ auf die heterogenen Tempi hin, wie sie an verschiedenen Orten erlebbar sind.21 Das Gedicht beginnt mit einer Frage und endet mit der Antwort darauf: „Wieviele Straßenschluchten dauert es / bis die Nacht vorbei ist?“ Am Ende des Textes schließt sich der Kreis: „Die Nacht dauert von der ersten bis zur hundertsechsund-
19 Vgl. dazu Marcel Vuillaume, „‚Das Wort Zeit.‘ Au Sujet d’un Texte de Peter Handke“, in: Cahiers d’Etudes Germaniques 21 (1991), S. 125–135. 20 Peter Handke, „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“ [1968], in: ders., Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 115–118. 21 Zeitverständnis und Geschwindigkeit des Alltags – man könnte es auch soziale Taktung nennen – sind kulturell abhängig. Das erfahren auch Handkes Erzähler in anderen Texten auf ihren weiten Reisen. Da sie oft zu Fuß unterwegs sind, wird die Entschleunigung zum wichtigen Werkzeug ihrer Wirklichkeitserfahrung. Das Jetzt und Hier wollen sie mit all ihren Sinnen erleben, woraus sich die Fülle sinnlich erfassbarer Details im Schreiben Handkes ergibt.
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zwanzigsten Straße.“22 Die in der Wortwahl inhärenten Andeutungen auf subjektive Zeiterfahrung werden daher nicht durch ihre grammatikalische Ausdrucksweise wiedergespiegelt.23 „Zeitmaße, Zeiträume, Ortzeiten“ erkundet das subjektive Zeitempfinden und die Temporalität des Erlebens, wobei die bei Handke überall vorherrschende Konzentration auf die Gültigkeit körperlicher Erfahrung auch hier im Vordergrund steht. Diese wird mit einer reichen Anzahl an Aspekten verbunden, welche das namenlose sprechende bzw. schreibende Ich mit Zeit assoziiert. Dauer, Endlichkeit, Eigenzeit, Entschleunigung und die stetige Kontrastierung von subjektiver zu objektiver Zeit sind hier zu finden, wobei das sprechende Ich eine Reihe verschiedener idiosynkratischer Zeitmaße darlegt. Das bewusste Erleben von Zeit – per definitionem nur in der Gegenwart möglich – wird als Intention des sprechenden Ichs präsentiert. „Um etwas zu erleben“, verrichtet die Erzählerperson ganz alltägliche Handgriffe: „ich mache die Tür zum Flur auf / und mache im Flur die Tür zum Zimmer zu / und mache im Flur die Tür zum Zimmer auf / und mache im Zimmer die Tür zum Flur zu“.24 Durch die Wiederholung einzelner sprachlicher Elemente wird die Aufmerksamkeit ganz auf die gegenwärtige Handlung gerichtet: „indem ich / um etwas zu erleben / in den Flur hinaustrat / habe ich / das Hinaustreten lang / erlebt / daß ich hinaus in den Flur trat.“ Handke wiederholt diese Strophe formal und inhaltlich für die Tätigkeit des Aufknüpfens eines „Schuhbands“, wobei der Erzähler „einen Strick voll Wäscheklammern“ ansieht. Wieder beginnt die Strophe mit der Versicherung seiner Intention „um etwas zu erleben.“ Die bewusste Entschleunigung dient hier der gesteigerten Wahrnehmung des Augenblicks – einem Verfahren, das durchaus an die Praxis des Buddhismus erinnert.25 Die Wahl eines trivialen Moments einer Alltagshandlung unterstreicht die grundlegend anti-intellektuelle Haltung dieser
22 Handke, „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“, S. 118. 23 Vgl. Linda C. DeMeritt, „The Question of Relevancy: New Subjectivity and Peter Handke“, in: Modern Language Studies 16:4 (1986), S. 22–38. 24 Dieses und die folgenden Zitate: Handke, „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“, S. 115 (Herv. i.O.). 25 So zielt die Praxis des Buddhismus darauf, ganz im Jetzt zu sein und jeden Handgriff, jeden Schritt zu entschleunigen und dadurch bewusster zu erleben. Im Gespräch mit Gamper weist Handke darauf hin, dass der Chinese des Schmerzes von Kans – Anekdoten bzw. Sentenzen im Zen-Buddhismus – „durchsetzt“ sei. Peter Handke/Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987, S. 72. Zum Einfluss des Zen-Buddhismus auf Handkes Werk vgl. z.B. Jürgen Wolf, Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa, Opladen 1991, S. 159f.
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Praxis: Um die Natur des Daseins zu begreifen, bedarf es, so suggeriert der Text, keiner philosophischen Gedankenexperimente. Das zur Sprache gebrachte Zeitverständnis verdeutlicht den Widerstand gegen die chronometrisch regulierte Zeit der Kultur. Gegen diese wird die „Dauer“ als „Eigenzeit“ positioniert, was ähnlich wie Henri Bergsons Theorie der „durée“ zu verstehen ist, die Zeit als Intensität begreift, deren „reine Dauer“ keine Größe oder Quantität, sondern eine Qualität darstellt.26 In Handkes oben erwähntem Gedicht aus Innenwelt wird Dauer u.a. als „Maiskolbenpfeifen“ beschrieben, die geraucht werden, „bis das Märchen zuende erzählt ist“.27 Als Frage formuliert, gleicht die Suche nach Dauer einer Herausforderung, die ihren emotional dichten Inhalt hervorhebt. Es wird beispielsweise gefragt, „[w]ieviele Freudensprünge“ getan werden, „bis der Fröhliche still stehen muß,“ und „[w]ieviele Geisterstunden“ verstreichen müssen, „bis das Fürchten endlich verlernt ist“. Wie der Text hervorhebt, folgen Gefühle ihrer eigenen Zeitlogik. Dieser Widerstand gegen die allgemein gültige Zeit – nämlich die, die sich objektiv durch Uhren messen lässt – wird noch weiter verstärkt: Auf die wiederholte Frage „‚Wie spät ist es?‘“ bzw. „‚Wie spät ist es jetzt?‘“ wird niemals eine Uhrzeit gegeben. Stattdessen – und auch hierin liegt die Verweigerung der Gültigkeit objektiver Zeit – wird etwas erzählt, was die Dauer eines Augenblicks mit der gleichzeitig geschehenden Gegenwart einer sich ereignenden Erfahrung oder Geschichte parallelisiert. Es wird beispielsweise berichtet, dass Philip Marlowe gerade im gleichen Moment „zum zweiten Mal von der Polizei verprügelt“ wird, dass der russische Fotograf „das vierte ausgeschlüpfte Küken“ fotografiert, dass Philip Marlowe gerade den Polizisten verprügelt und dass Cliff Richard Massiel „zum dritten Mal auf die Wange“ küsst. Jede Antwort liefert einen Moment, der die Dauer eines Vorgangs lang anhält, dessen Länge nicht anhand von Sekunden gemessen wird. Stattdessen folgen diese Zeitmaße ihrer eigenen Dauer und Geschwindigkeit, und die Gegenwart wird als vielschichtiger Erlebnisraum um multiple, sich ereignende Geschichten erweitert. Der Begriff „Zeiträume“, im Titel des Gedichts als zweites genannt, trägt bereits das kognitive Problem der Zeitlichkeit im Verhältnis zum Raum in sich. Da Zeit keine eigene repräsentative Sphäre besitzt, verlassen wir uns auf den Raum, um ihr Vergehen zu beobachten. Die räumliche Darstellung von Dauer erfolgt daher oft durch die Beschreibung einer Distanz. Handkes Distanzen sind jedoch ebenfalls nicht objektiv gemessen. Der Textabschnitt wird diesmal in Klammern eingerahmt. „Wieviele Stufen lang“, wird gefragt, „dauert die Verfolgung des Kirchenschänders?“ Ebenso raum-zeitlich erscheint die Frage, „[w]ieviele Notdurf-
26 Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Frankfurt am Main 1989. 27 Dieses und die folgenden Zitate: Handke, „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“, S. 116f.
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ten lang“ die Fahrt „der Gastarbeiter hin in das Gastgeberland“ dauere. Die zurückgelegte Distanz in einer Formulierung wie „‚Achtzehn Stockwerke später‘“ dient der Darstellung von Zeiterfahrung. Der letzte Begriff des Titels, „Ortszeiten“, ist hier nur mit einem Satz, „Memphis ist ein Zeitmaß“,28 geographisch verortet. Handke bezeichnet sich selbst als „Orts-Schriftsteller“, denn am Ausgangspunkt einer Erzählung steht für ihn „nie eine Geschichte oder ein Ereignis, ein Vorfall, sondern immer ein Ort. Ich möcht den Ort nicht beschreiben, sondern erzählen.“29 Nicht um die kulturgeschichtliche Aufarbeitung eines Ortes oder einer Landschaft geht es ihm. Vielmehr wird die Wahrnehmung dem sich gerade Ereignenden angepasst. Beispielsweise versucht Handkes Ich-Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) aktiv, seine alten Wahrnehmungsmuster abzulegen. Die Auseinandersetzung mit der Zeit bildet dabei einen zentralen Punkt. So spricht der namenlose Ich-Erzähler vom fehlenden „Zeitsinn“30 seiner Noch-Ehefrau, wobei sein eigener, übertriebener Zeitsinn ihn an Aufmerksamkeit und Gelöstheit hindert. In beiden Fällen ist damit die Konsenszeit, die Uhrzeit gemeint. Er reist nach Amerika, um sich seiner angewohnten Erlebnismuster zu entledigen und stattdessen das Jetzt und Hier zu erleben. Amerika bildet hierzu eine Sphäre, welche die Selbstfindung des Erzählers unterstützen soll und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte Amerikas ausführt. Eine Freundin des Erzählers stellt fest, er sei „wie mit einer Zeitmaschine“ nach Amerika gereist, jedoch nicht, um der Vergangenheit zu begegnen – die ihn auch in Form seiner Frau verfolgt, von der er sich vor kurzem getrennt hat –, sondern „um in die Zukunft zu fahren“ (KB 85). Was dem Erzähler jedoch am schwersten fällt, ist der Bezug zur Gegenwart, die angeschaut wird „in einem unbelehrbaren Zustand der Erwartung“.31 Ungeduldig wartet er darauf, „möglichst schnell anders zu sein“ (KB 23). Seine Neigung, die Umgebung als „amerikanische Buchwelt“ zu begreifen,32 die als intertextuelles Zeichensystem aus Bildern und Geschichten (auch aus Filmszenen) anderer besteht, hindert ihn an der angestrebten Erfahrung vollkommener „Körper- und Geistesgegenwart“ (KB 142). Erschwert wird dies durch das Gefühl einer ontologisch anderen Realität, einer
28 Ebd., S. 118. 29 Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 19 (Herv. H.P.). 30 Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt am Main 1972, S. 23. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle KB.) 31 Reinhard Baumgart, „Vorwärts, zurück in die Zukunft“, in: Michael Scharang (Hg.), Über Peter Handke, Frankfurt am Main 1972, S. 90–94, hier S. 94. 32 Ebd., S. 92.
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„ANDEREN ZEIT“, die eine Parallelwelt darstellt, „in der es auch andere Orte geben mußte als irgendwo jetzt, in der alles eine andere Bedeutung haben mußte als in meinem jetzigen Bewußtsein, in der auch die Gefühle etwas anderes waren als jetzt die Gefühle“ (KB 28). Die Entwicklung des Erzählers geht allerdings nur so weit, als dass er aufhört, „ein Widerstand zu sein“ (KB 100). Er bekommt Lust, in dem, was „zu einer Landschaft auseinander“ rückt, „ein Buch zu lesen“ (KB 51). Damit hat Handkes „Poetisierung der Welt“33 begonnen. Von nun an wird die Suche nach Erkenntnis und Wahrnehmung der Welt – die ontologische Suche – als poetologische dargestellt. Es gilt fortan, in der Gegenwart zu lesen und die Zeiterfahrung poetisch entstehen bzw. wirken zu lassen.
In Bezug auf Peter Handkes Poetisierung von Zeiterfahrung ist der Roman Langsame Heimkehr (1979) von größtem Interesse. Die erzählerische Verwendung der Gleichzeitigkeit ist durch Verlusterlebnisse und -ängste begründet. So sind die Protagonisten oft in alltäglichen Augenblicken reaktiv betroffen vom Verlust von Gefühlen und Bildelementen, imaginären und fiktionalen Schöpfungen. Anhand der aus ihnen resultierenden Gedankengänge bestimmen solche spontanen Verlusterfahrungen den weiteren Handlungsverlauf. Handke stellt dabei die „wahre Empfindung“ in den Vordergrund, eine veränderte Perspektive gegenüber sich selbst und der Welt, die aus den freien Gedanken über erlebte Momente im Tagesgeschehen die Wahrnehmung der Welt beeinflusst und bewusstseinsverändernde Wirkung besitzt.34 Allerdings verweigert sich der Text einem Verständnis von Gleichzeitigkeit, bei deren Überlagerung verschiedener Zeitebenen es darum geht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sorger geht es nicht darum, die Landschaft Alaskas kulturgeschichtlich zu betrachten und sich auf diese Weise den dort lebenden Ureinwohnern zu nähern. Sein Interesse gilt stattdessen den Spuren erdgeschichtlicher Entwicklungen. Durch diese Verweigerung stellt sich Handke gegen den im modernen Roman häufig herrschenden Diskurs, der die Vergangenheit als Gebäude von Erinnerungen imaginiert, das einer sorgfältigen Kultivierung im Gedächtnis des Helden bedarf, einer Realität, die die Gegenwart in jeder Beziehung ästhetisch übertrifft.
33 Ebd., S. 94. 34 Vgl. Erika Tunner, „Wenn einer spazierengeht von Paris nach Paris“, in: Gerhard Fuchs/Gerhard Melzer (Hg.) Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993, S. 81–94.
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Nicht die Wirklichkeit samt komplizierter sozialer und ethischer Konflikte konstituiert Sorgers Gegenwart, vielmehr basieren seine Wirklichkeitserfahrung und Zeiterkenntnis auf der nordamerikanischen Landschaft und deren Wahrnehmung. Adolf Haslinger hat in seiner Untersuchung der Rolle der Erinnerung an literarische und erinnerte Wirklichkeit in Handkes Werk bemerkt, dass dessen künstlerisches Konzept darauf beruht, dem Leser zu zeigen, „daß alles Erzählen künstlich und jede literarische Welt eine nur sprachlich vermittelte sei. Erfahrenes und Gelesenes sind bei dieser Bewußtseinsarbeit gleichwertig und nicht klar voneinander zu trennen“.35 Die Erinnerung liefert hier vorrangig eine Möglichkeit zum Vergleich mit dem gerade zu Sehenden. Erfahrungen und Erinnerungsbilder werden, wie Gerhard Fuchs erklärt, mit gegenwärtigen Momenten „verglichen“ und „verschmolzen“, woraus ein neues gedankliches Konstrukt entsteht.36 Die Erinnerung dient somit als „zusätzliches Vorstellungsreservoir“, zum besseren Verständnis neu entstandener Zusammenhänge.37 Sorger wünscht sich nichts sehnlicher als die Fähigkeit, sich selbst im Hier und Jetzt zu verorten, d.h. gegenwärtig zu sein. Bei dieser Gegenwärtigkeit handelt es sich jedoch nicht vollkommen um eine Geistesgegenwart, da der Vorgang durch die Sinne – und vorrangig das Sehen – wahrgenommen wird. Wie auch in späteren Texten thematisiert Handke hier die mögliche Überbrückung der Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt. Sorger hat die Landschaft durch das Studium geologischer Vorgänge und genaues Observieren verinnerlicht, hat sie „durch die Monate der Beobachtung, in der (annähernden) Erfahrung ihrer Formen und deren Entstehung, zu seinem höchstpersönlichen Raum“ werden lassen (LH 11). Dieser Vorgang der Verortung geschieht nicht durch intellektuelle Anstrengung, wie mehrfach betont wird, sondern vielmehr „indem ihm die verschiedenen an dem Landschaftsbild beteiligten Kräfte, ohne daß er sie in der Vorstellung erst herbeibemühen mußte, schon im bloßen Wahrnehmungsvorgang, zugleich mit dem Erfassen des großen Wassers, dessen Strömens, dessen Wirbel und Schnellen, gegenwärtig waren“ (ebd.). Ihre Wirkung auf Sorger, „stärkend und beruhigend“, obgleich sie „in der Außenwelt einst auch zerstörerisch gewesen sein (und die Zerstörung immer noch fortsetzen)“ mögen, kommt „durch ihre Gesetze“ zustande, die sie „zu einer guten Innenkraft“ verwandeln (LH 11f.).
35 Adolf Haslinger, „‚Achtung, Hornissen!‘ Zu Peter Handkes früher Prosa“, in: Fuchs/ Melzer (Hg.), Die Langsamkeit der Welt, S. 95–113, hier S. 109. 36 Gerhard Fuchs, „Sehnsucht nach einer heilen Welt: Zu einer ‚Schreib-Bewegung‘ in den späteren Prosatexten Peter Handkes“, in: Fuchs/Melzer (Hg.), Die Langsamkeit der Welt, S. 115–131, hier S. 126. 37 Ebd.
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Sorgers geologisches Wissen und die Methoden seiner Wissenschaft helfen bei dieser Verortung, da er sie soweit verinnerlicht hat, dass sie seinen Wahrnehmungsapparat kalibrieren. Sie tragen dazu bei, dass er „fühlen“ kann, „wo er jeweils war“ (LH 12). Die dadurch entstehende Gegenwärtigkeit ist die Fähigkeit der Wahrnehmung gleichzeitig ablaufender Vorgänge – der Naturereignisse. Das Innewerden ist also einerseits an diese besondere Art des Zeitdenkens gebunden und andererseits an Sinneseindrücke, die es Sorger ermöglichen, „sich nicht denken, sondern sinnlich miterleben“ (ebd.) zu können bei dem ihn umgebenden Naturgeschehen. Diese Erfahrung benötigt die „Augenblicksvorstellung“ seiner Gegenwart, die an die Gewissheit gekoppelt ist, dass „gleichzeitig mit den über die Landschaft treibenden Pappelsamen auf dem Boden der Stromrinne gerade im Verborgenen die Schotterkugeln dahinglitten, sich rollend überschlugen oder sogar langsame Bogensprünge vollführten, eingehüllt in Schlammwolken und weiterbefördert von natürlichen Wasserwalzen“, die „tief unter der stillen Oberfläche in der Gegenrichtung“ rotieren (ebd.). Die Wahrnehmung „solcher burleske[n], winzige[n] Abläufe“ (ebd.) ist mehr als eine Angewohnheit; sie dient auch der bewusst gewollten Zerstreuung und Konzentration seiner Aufmerksamkeit. Wo beginnt nun der Kreis der Gleichzeitigkeit, durch deren sinnliches Erleben oder durch die „Augenblicksvorstellung“? Oder geschehen auch diese Vorgänge gleichzeitig? Handkes Text formuliert diese Fragen nicht als Problem, werden sie doch beide als bewusstseins- und aufmerksamkeitssteigernd gleichwertig begrüßt. Zusammen bilden die Sinneswahrnehmungen und die Vorstellung von Gleichzeitigkeit einen raumzeitlichen Moment, der nicht der Aufarbeitung der eigenen oder erdgeschichtlichen Vergangenheit dient, sondern vielmehr jener der Gegenwart. Hierdurch wird eine Offenheit geschaffen, die Sorger einerseits als „Moment der naiven Raumvertrautheit“ versteht und andererseits als „Heiligtum“, als ein sakral konnotiertes, parareligiöses Raumzeitgebilde, das eine Beziehung der Außenwelt und Innenwelt zueinander überhaupt erst ermöglicht. Ferner handelt es sich dabei nicht nur um ein „privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum“, in dem Sorger „in der seligen Erschöpfung“ seinen Frieden findet (LH 15). Die Vorstellung dieses Raumzeitgebildes hängt jedoch davon ab, dass Sorger eine „Anstrengung“ aufbringen muss, „das Befremdende jeder Erdgegend auszuhalten“ und dabei „mit den verfügbaren Methoden in der Landschaft zu lesen und das Gelesene in einer strengen Ordnung weiterzugeben“ (LH 16). Dieses Verfahren wird auch „die immer angemessene Ausübung seines Berufs“ (ebd.); als solches geschieht es „zugleich als eine Weltvertrauens-Übung, wobei die Gemessenheit in den technischen und auch den alltäglichen Handhabungen ein steter Versuch zur Meditation war“ (ebd.). Das „Lesen“ in der Landschaft und dessen systematische Wiedergabe bilden somit das Verfahren der Gegenwartsfindung, welche sich,
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falls erfolgreich, in einem „Teilhaftigwerden“ äußert, das Sorger wiederum befähigt, „sich dann einfach seine Welt“ näher anzusehen (LH 17). Durch „Betrachtung und Aufzeichnung“ (LH 14) lassen sich Räume zurückgewinnen, die zuvor als leer empfunden wurden. In diesem Prozess dient Sprache dazu, in den „Zeiträumen der selbstlosen Zuneigung (in den flüchtigen Momenten der Hoffnung)“ das, was „verewigbar durch Formen“ ist, so zu gestalten, dass das, was „schön und gut“ ist, beschreibbar, andauernd, authentisch und ästhetisch verarbeitet wird (LH 17). Die „Sprachformeln seiner Wissenschaft“ erscheinen Sorger unzulänglich, da er „ihre Riten der Landschaftserfassung, ihre Beschreibungsund Benennungsübereinkünfte, ihre Vorstellung der Zeit und Räume“ für fragwürdig hält (LH 18). Der sprachkritische Ansatz ist vor allem auf die Darstellbarkeit der Zeit gerichtet. Sorger fällt es schwer zu akzeptieren, dass „in seiner Sprache, welche sich aus der Menschheitsgeschichte gebildet hatte, die Geschichte der unvergleichlich anderen Bewegungen und Gebilde des Erdballs gedacht werden sollten,“ und es ist ihm oft fast unmöglich, „mit den zu untersuchenden Orten die Zeit mitzudenken“ (ebd.). Durch das genaue „Lesen“ ahnt er jedoch „die Möglichkeit eines ganz verschiedenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen“ (ebd.). Die Darstellbarkeit von Zeit – der Gegenwart – scheitert vorerst daran, dass ein Raumereignis, in dem Sorger sie zu finden versucht, davon abhängt, dass selbst der Raum sich lange genug nicht verändert, um über ihn etwas ausdrücken zu können. Den Raum aber versteht Sorger nun als sich fortwährend verändernde Dimension, „ohne Vorder- und Hintergrund, bei endlich sich verlierender Perspektive, eine mächtig und sanft sich erhebende Offenheit“, ein Geschehen also, das „widersprüchliche Einzelheiten“ in sich trägt (LH 27). Der Raum, wie Sorger ihn kannte, verschwindet. Er versucht noch, „die Naturerscheinung und die in ihr geschehende Selbstvergessenheit am Vergehen zu hindern, indem er die widersprüchlichen Einzelheiten geradezu wild aus dem Bild herausdachte“ (ebd.). Sorger vermag es jedoch nicht, die raumzeitliche Gegenwart als solche gelten zu lassen, da er spürt, „wie sich aus all dem Gleichzeitigen und doch Unvereinbaren die wohlbekannte Unwirklichkeit um ihn zusammenzog und ihn gleich wegfegen würde“ (LH 33). Die Schuld daran gibt er sich selber, denn sein Zutrauen in das „Raumgefühl“ (ebd.) dominiert seine Wahrnehmung. Hier werden die tief sitzenden Vorstellungen von Raum und Zeit zum Problem. Die wiederkehrende alte Konzeption des Raums als statischer, zeitleerer Dimension widerspricht hier dem tatsächlichen Erleben der raumzeitlichen Gegenwart.38
38 Vgl. Doreen Masseys ausgezeichnete Studie For Space, in der sie die durch jahrtausendealten Diskurs und tagtäglichen Sprachgebrauch geprägte Vorstellung von Raum und
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Handke zeigt unterdessen die sich verändernde Wahrnehmung Sorgers, welcher im Laufe der Erzählung der Gegenwart als räumlich und zeitlich generierter und sich generierender Dimension näherkommt. Endlich nennt er seinen Aufenthaltsort in der Wildnis Alaskas, ein Dorf, das nur von amerikanischen Ureinwohnern bevölkert ist, einen „Zeitraum“, der für ihn eine „ständige Gegenwart, ständige Allerwelt, ständige Bewohntheit“ (LH 50) darstellt. Er konzeptionalisiert die Gegenwart dort als eine gleichzeitige Präsenz von Lebenden und Toten, ohne Bezug auf Religion oder die Kultur der Ureinwohner, „eine Allgegenwärtigkeit, wo die einst geliebten Toten mitatmeten und die entferntesten Lieben in einem zugänglichen Nebenraum geborgen und guter Dinge waren“ (ebd.). Obwohl er dort als Fremder lebt, empfindet Sorger diese „Allerwelt“ als Ort, an dem es „keinen Flucht- und Heimkehrzwang mehr gab, aber auch nicht die zwanghafte Teilnahme an den Gewohnheiten der Alteingesessenen“ (ebd.). Dieser Zustand ermöglicht es ihm, als Beobachter unter den Menschen dort zu leben, nicht aber, am dortigen Leben teilzunehmen. Die hier von Handke entwickelte Zeitvorstellung ist bildlich und räumlich konfiguriert, so dass die aufmerksame Beobachtung stets Wiederholungen identifiziert. Die Metaphorik der Sprache wird herangezogen, um die Vorgänge zu beschreiben, wie sich der Betrachter den Begriff „Jahreskreis“ vorstellt, der Momente, die sich „aus einsinnigen zeitlichen Abläufen in vielfältige räumliche Ereignisse“ (LH 51) verwandelt haben, darzustellen versucht. Die Wahrnehmung der Umwelt, der nordamerikanischen Landschaft, basiert auf der elementaren Vermischung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit: Die Landschaft, Sorgers besondere Geschichte mit dem Geschehen des nördlichen Herbstes sich einverwandelnd, wurde von dieser menschlichen Geschichte wieder gekehrt in ein zeitliches Gewölbe, wo der selbstvergessene Mann, ohne Schicksal, aber auch ohne Mangelgefühl (überhaupt von Wechselgefühlen erlöst), auch noch da war (ebd.).
Diese Gegenwärtigkeit erfährt Sorger als Zustand ohne extreme Gefühlsschwankungen, aber besonders als Moment ohne Verlangen nach dem Unbenennbaren, das kurz danach als „Glückszustände“ identifiziert wird.39 Thorsten Carstensens aufschlussreiche Studie zu Don Juan hat sich den Erzählstrategien gewidmet, mit denen Handke jene „geglückten Augenblicke“ beschreibt, in denen das Ich an
Zeit dekonstruiert und einen Gegenentwurf dazu beschreibt, dem die Verzeitlichung des Raumes und der Verräumlichung von Zeit zu Grunde liegen. Hierdurch wird erst der Raum als sozialer Erlebnisraum eröffnet. Doreen Massey, For Space, London 2005. 39 Auch hierin liegt wieder eine Parallele zur buddhistischen Praxis.
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einer „mühelosen Gegenwart“ teilhat.40 Diese Augenblicke sind auch in Langsame Heimkehr bereits vorhanden. Sorgers eigene „Fähigkeit zum Glück“, von anderen gerne für deren eigene Zwecke genutzt, sieht er selbst nicht als Notwendiges an. Er erfährt durch sie höchstens die Gewissheit, „auch gegen die Zeit ein richtiges Leben“ (LH 57) führen zu können. Dieser Widerstand gegen das Vergehen der Zeit ist als Beharren auf der Gegenwart zu verstehen, was, weil es „nicht für Fortdauer sorgte“, Sorger schuldbewusst werden lässt. An der folgenden Kernstelle des Textes wird der Widerstand gegen das Vergehen der Zeit noch deutlicher formuliert. Die Passage liest sich wie die Beschreibung eines Menschen, der es nach erfolgreichem Studium und Praxis der Meditation nun vermag, komplett in der Gegenwart zu leben und seine Aufmerksamkeit stetig auf das „Jetzt“ zu richten, wobei ihm seine Sinne ebenso hilfreich sind wie sein Denken: Leidenschaft zu sammeln; Lust an der Ordnung (auch an einem rechteckigen Tisch); Genuß am bloßen Wohnen; wiederentdeckte Lernfreude; Vergnügen am Körper: dessen Bedürfnissen, auch nur Tätigkeiten. Daß nichts mehr zu wollen ist: kein Unglück. Die Erfüllung: nichts Übernatürliches. Nicht weggedacht, doch ohne Eigensinn. Die Empfindung eines stetig warmen Kopfes: ohne persönliche Gedanken und auf keinen Schluß zu und von niemandem vorgedacht atemlos („hilf mir“) und dann tief atmend („wem dankbar sein?“) nur noch mitdenkend. Mitdenkend mit der Erde die Erde denkend als denkende Welt ohne Ende. Die mit meinem Kreislauf erst kreisende Welt mit mir, dem endlich Gedachten, als nur noch Gedachtem. Kein Blut mehr, kein Herzschlag mehr, keine Menschenzeit mehr: nur noch die mächtig pulsende und vom eigenen Puls erzitternde Alldurchsichtigkeit. Kein Jahrhundert mehr, nur die Jahreszeit. (LH 61f., Herv. i.O.)
Handelt es sich hier um Gegenwart als Gleichzeitigkeit? Scheinbar ja, obwohl die Gegenwart nun als Vorgängerin der Zukunft, einer „bilderlosen, warmen Phantasie“ (LH 83), viel der in ihr und für sie kultivierten Aufmerksamkeit einbüßt. In diesem „geglückten Augenblick“ fehlen die Verben – Sorger erlebt eine Gleichzeitigkeit, in der die Verben in eigenständige, progressive Eigenschaften und Zustände umgewandelt wurden. Er erfährt eine „mitdenkend[e]“, „kreisende“, „pulsende“, „erzitternde“ Gegenwart. Alles ist gleichzeitig, und alles ist gleich-gültig. Als Sorger sich aufmacht, über die Ostküste Amerikas nach Europa zurückzukehren, spürt er bei der Abreise im Flugzeug „Neugier, aus der dann ein Hunger-
40 Thorsten Carstensen, „Herr seiner Zeit: Peter Handkes ‚Don Juan‘ und das heilsame Abenteuer des Erzählens“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128:2 (2009), S. 281– 299, hier S. 281.
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gefühl wurde, nicht nach etwas Handgreiflichem, sondern überhaupt nach dem Kommenden“ (LH 83). Dieser Wunsch ist im Zusammenhang mit seiner früheren Äußerung, er erwarte „keine Erleuchtungen mehr, sondern Gleichmaß und Dauer“ (LH 69), zu betrachten. Es wird deutlich, dass es sich dabei gleichermaßen um Wunschdenken handeln kann wie auch um eine echte Änderung der Perspektive, da Sorger nach dem wetterbedingten Reiseabbruch nicht mehr in der Lage ist, seinen vorherigen Wohnort in der Wildnis Alaskas als reale Gegenwart zu begreifen: „In eine solche Unwirklichkeit war er noch nie zurückgekehrt.“ (LH 84) Im folgenden Textabschnitt, der mit „Das Raumverbot“ betitelt ist, kämpft Sorger auch bei seiner Rückkehr in die westliche Welt – womit die amerikanische Ostküste gemeint ist – mit dem Problem, sich in der Realität zu verorten. Er fühlt sich „allein ohne Welt“ und „von der Sprache verlassen“ (LH 98), ein Zustand, der jedoch nicht lange anhält: Sorger gewinnt seine Sprache zurück, nachdem er auf den „Grund gesehen“ (LH 100) hat, d.h. sich seiner Sterblichkeit bewusst geworden ist. An dieser Stelle zeigt sich nun endgültig die Gewichtung der ontologischen Frage nach dem Dasein in der Zeit als poetische Frage nach der Versprachlichung der Welt: Versöhnlich betrachtet wird sie nun, die „Sprache, die Friedensstifterin: sie wirkte als der ideale Humor, der den Betrachter mit den äußeren Dingen beseelte“ (ebd.). Durch die Fähigkeit zur Sprache gewinnt Sorger stabilere Wahrnehmungsgewohnheiten zurück. Handkes Auseinandersetzung mit der Sprache entwickelt sich generell zur Entfremdung gegenüber bestehender sprachlicher Begriffe und Verwendungsweisen, die als Kommunikationsmittel fungieren. Die übermäßige Objektivierung der Sprache im gesellschaftlichen Nutzen führt dazu, dass Natürlichkeit und Emotionalität im Bewusstsein nicht mehr gegeben sind. Subjektivität und assoziatives Denken sind unabhängig vom Sprachgebrauch, da dieser von der natürlichen und ursprünglichen Empfindung ablenkt. Deren Wiedergabe durch den allgemein üblichen Gebrauch von sprachlichen Formulierungen und Begriffen ist keineswegs wahrheitsgetreu, da sie in der Sprache generell zu schnell geschieht und somit grundlegende Einzelheiten im Weltgeschehen übergeht. Letztendlich gibt Sorger im Hinblick auf sein geplantes Projekt „Über Räume“ die Treue zu den Übereinkünften seiner Wissenschaft auf, die ihm nur noch helfen können, indem sie seine Phantasie strukturieren (LH 107). Seine neu gewonnenen Wahrnehmungsgewohnheiten und -fähigkeiten sollen dazu beitragen, dass sich dem Bewußtsein in jedem beliebigen Landstrich, wenn es nur die Zeit hatte, sich mit ihm zu verbinden, eigentümliche Räume auftaten, und daß, vor allem, diese Räume nicht von den gleich augenfälligen, landschaftsbeherrschenden, sondern von den ganz und gar unscheinbaren, mit keinem wissenschaftlichen Scharfblick wahrnehmbaren Elementen geschaffen
66 wurden (die tatsächlich erst mit der alltäglich da verbrachten Zeit, die dann in der gleichsam von einem bewohnten Natur als Lebenszeit verging, erfahren werden konnten – vielleicht nur in einem sich wiederholenden Stolpern an einer gewissen Erdstelle […]. (LH 108)
Sorger begibt sich durch das aufmerksame Erfassen einer Landschaft in diese Räume, die ihm zeitweise aufgrund seines eigenen „Raumverbots“ unzugänglich sind. Nachdem er diese „gelesen“ hat, versucht er sie durch eine Zeichnung festzuhalten. Mithilfe dieser Fixierung des „Textes“ der Landschaft erkennt er – und er schreibt dies unter eine Landschaftszeichnung –, dass Geistesgegenwart tatsächlich möglich ist als „der Zusammenhang“, in dem „[j]eder einzelne Augenblick meines Lebens“ mit jedem anderen zusammen geht, also eine Gleichzeitigkeit „ohne Hilfsglieder“ entsteht: „Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur frei phantasieren“ (LH 112f.). Sorger sieht diese Erkenntnis als den „Triumph vollkommener Geistesgegenwart“ (LH 113), die er letztlich doch nicht konsistent beibehalten kann. Kam er sich früher in Gesellschaft wie „zerstreut in verschiedene, abschweifende Bilder“ vor, gelingt es ihm nun, sich in der Gegenwart zu verorten durch „eine einzige, umfassende Phantasie, womit er sich seinen Umkreis gegenwärtig hielt und ihn in sich einbezog. Ganz Aufmerksamkeit […]“ (LH 102). Die oben erörterte Erzählform der Gegenwärtigkeit nutzt Handke häufig. Durch das Ausblenden von Zukunft und Vergangenheit wird die Gegenwart als relationierende Dimension konstituiert, in der disparate sinnliche Erlebnisse zueinander in Bezug gesetzt werden. Wie Walter H. Sokel gezeigt hat, wirkt sich die gleichzeitige Beschreibung von Erlebnissen und materiellen Dingen auf die Konstruktion der Erzählzeit aus, denn „die Schilderung des Gleichzeitigen, wenn es auch gar nicht zu einer Handlung gehört, vermindert das Gerichtetsein der Erzählzeit“.41 Sokel zufolge versucht Handke erst seit Langsame Heimkehr, das „Verräumlichungs- und Vergegenwärtigungsprinzip zur konsequenten Maxime seines Schreibens zu machen. […] Es ist das Stilmittel der Gleichzeitigkeit, der beiordnenden Erzählweise“.42 Wie ich im ersten Teil meiner Ausführungen gezeigt habe, experimentierte Handke mit diesen Prinzipien allerdings bereits bei der Niederschrift des Kurztextes „Zeitmaße, Zeiträume, Ortszeiten“. Bei der Schilderung von Gleichzeitigkeit wird in Langsame Heimkehr nicht die Vergangenheit aufgearbeitet, sondern die Gegenwart. Auf der Suche nach der „wahren Empfindung“
41 Walter Sokel, „Das Apokalyptische und dessen Vermeidung: Zum Zeitbegriff im Erzählwerk Peter Handkes“, in: Fuchs/Melzer (Hg.), Die Langsamkeit der Welt, S. 25– 46, hier S. 45. 42 Ebd., S. 43.
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konzentriert sich Handke darauf, die Welt durch Phantasie und Vorstellung zu erleben. Da die Wissenschaft nur „begrifflich repräsentiert“, „erscheint im Bild“ das, was sinnlicher und natürlicher zu begreifen ist, als es mit Worten beschrieben werden kann. Handke hat folglich, bedingt durch seine Überzeugung, dass Bildverlust „Weltverlust“43 ist, das Sinnlich-Imaginative zu seiner Schreibprogrammatik erhoben. In Bildern ist eine Überlagerung verschiedener Zeitebenen und auch gleichzeitig geschehender Ereignisse möglich, und verschiedene Bilder verwirklichen eine synoptische Verbindung, die bewirkt, dass in der Zusammenschau Inhalte, die außerhalb dieser nicht bemerkt worden wären, erfasst werden können. Die Besonderheit von Handkes Schreibarbeit, die er auch in Langsame Heimkehr thematisiert, liegt vor allem in dem Ineinanderfließen von Wirklichkeit und Fiktion, die oft im Bild existiert. Durch die Beschreibung der bevorzugten Wahrnehmungsweise, dem Lesen in der Landschaft, wird deutlich, dass eine klare Trennung von „Erfahrenem“ und „Gelesenem“ nicht vorgesehen ist. Handke, der VielLeser, erkannte früh die raumzeitlichen Modalitäten des Lesens in einer Dimension der Tiefe, in der der Leser die ontologische Frage nach der Zeit mit der poetologischen verknüpfen kann: Das langsame Lesen ist nicht nur ein Versuch, der Geschwindigkeit des modernen Lebens entgegenzuwirken, sondern ermöglicht uns vielmehr als Modus der Bewegung, Wahrnehmung und Erfahrung, dem Jetzt in all seiner temporalen Multiplizität unsere Aufmerksamkeit schenken zu können. Handkes langsames Lesen erhält das aufrecht, was die Phänomenologien der Geschwindigkeit scheinbar zu verhindern suchen, nämlich das Jetzt als Ort der Kontingenz und Möglichkeit zu verstehen.
43 Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt am Main 2002, S. 746.
J UTTA H EINZ Immer wieder geht zuweilen das Denken in den gleichen Schriften oder bei eigenen Versuchen auf dem Pfad, den der Feldweg durch die Flur zieht. MARTIN HEIDEGGER, DER FELDWEG1 Werner Frick zum 65. Geburtstag
Peter Handkes Umgang mit Lesefrüchten und Autorennamen erinnert ein wenig an eines seiner Lieblingsdinge, nämlich an die im nach ihr benannten Versuch beschriebene Jukebox. Versammelt sind die unterschiedlichsten Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern und Sprachen, aus Populär- wie Hochkultur; ihre Auswahl erfolgt über Namen, Schlüsselwörter, Zitatfetzen – und schon purzeln Homer, Theophrast, Paulus, Georges Simenon, William Faulkner, Antonio Machado, Eduard Mörike, Guiseppe Ungaretti und, natürlich: immer wieder Goethe, übereinander, und nie hätte man geglaubt, so Disparates in einer kleinen Box vereint zu finden. Es handelt sich zudem um eine Art intermediale Jukebox: Neben den Dichtern stehen die Denker, häufig nur einfach als „der Philosoph“ tituliert (Platon und Spinoza beispielsweise), die Künstler (William Hogarth, Edward Hopper, Paul Cézanne), Filmregisseure und Schauspieler (Paolo Pasolini, Marilyn Monroe) und
1
Martin Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt am Main 1953, S. 2.
70
Pop-Musiker (die Beatles, van Morrison).2 Wie hängt das alles zusammen – denn Zusammenhang ist bekanntlich ein zentraler Begriff für Peter Handke, vor allem in der Zeit der Versuche? Wie schreibt sich all das ein in den „Traum vom umfassenden, alldurchlässigen Buch“ (VT 153), den Handke als Fernziel im Versuch über den geglückten Tag anvisiert? Und welche Rolle spielt speziell das Lesen dabei? Ich möchte mich im Folgenden diesen Fragen widmen, indem ich die Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre entstandenen Versuche – den Versuch über die Müdigkeit (1989), den Versuch über die Jukebox (1990) und den Versuch über den geglückten Tag (1991) – auf Lektürespuren im (mit Handke gesprochen) „vorleuchtenden“ (VT 172) Licht der Idee vom umfassenden und alldurchlässigen Buch untersuche.3
2
Alle Beispiele sind den drei Versuchen entnommen, die hier nach der gemeinsamen Ausgabe zitiert werden: Peter Handke, Die drei Versuche, Frankfurt am Main 1991. (Nachfolgend wird für den Versuch über die Müdigkeit die Sigle VM, für den Versuch über die Jukebox die Sigle VJ sowie für den Versuch über den geglückten Tag die Sigle VGT verwendet). Gelegentlich werde ich außerdem auf Die Lehre der Sainte-Victoire (Frankfurt am Main 1980, zitiert unter der Sigle LSV) verweisen, die vergleichbare Probleme behandelt und ähnliche Lösungen entwirft.
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Die Versuche sind schon wiederholt in der Forschungsliteratur behandelt worden. Vgl. besonders: Klaus Modick, „Inbilder. Kleiner Versuch über Peters Handkes Versuche“, in: Merkur 47 (1993), S. 332–339; Ernst Ribbat, „Peters Handkes Versuche: Schreiben von Zeit und Geschichte“, in: Herbert Arlt/Manfred Diersch (Hg.), Sein und Schein – Traum und Wirklichkeit: zur Poetik österreichischer Schriftsteller/innen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 167–179; Samuel Moser, „Das Glück des Erzählens ist das Erzählen des Glücks. Peter Handkes Versuche“, in: Gerhard Fuchs/Gerhard Melzer (Hg.), Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993, S. 137–153; Stefan Braun, „Konstellative Bildästhetik in Peter Handkes Versuchen“, in: Ralph Köhnen (Hg.), Denkbilder: Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt am Main/Berlin u.a. 1996, S. 279–295; Burghard Damerau, „Das Gesetz vom Ähnlichen. Zu Peter Handkes drei Versuchen“, in: Zeitschrift für Germanistik NF VI (1996), S. 641–646; Uwe C. Steiner, „Das Glück der Schrift. Das graphisch-graphematische Gedächtnis in Peter Handkes Texten: Goethe, Keller, Kleist […]“, in: DVjs 70 (1996), S. 256–289; Thomas W. Kniesche, „Utopie und Schreiben zu Zeiten der Postmoderne: Peter Handkes Versuche“, in: Rolf Jucker (Hg.), Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft. Zur Kontroverse seit den achtziger Jahren, Atlanta 1997, S. 313–336; David N. Coury, „Handke’s Versuche: Essaying Narration“, in: ders./Frank Pilipp (Hg.), The Works of Peter Handke. International Perspectives, Riverside 2005, S. 176–193 (hier finden sich auch eine gute
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Der Versuch über die Müdigkeit wird wie alle Versuche von einem Zitat als Motto eingeleitet; schon äußerlich sind die drei Essays in einen intertextuellen Rahmen gestellt, der einen weiten Bogen von der Antike und dem frühen Christentum bis hin zur Popkultur der Gegenwart aufspannt.4 In Dialogform reflektiert ein Erzähler gegenüber einer fragenden zweiten Figur, einer Art alter ego, seine vergangenen und gegenwärtigen Erlebnisse mit der Müdigkeit, einer meist nicht gerade mit positiven oder gar schöpferischen Assoziationen verbundenen menschlichen Grunderfahrung. Nachdem der Erzähler zunächst die Gefahren der „gewalttätigen Müdigkeit“ (VM 19) beschrieben hat, kommt es zu einer überraschenden Wende; der Erzähler kündigt an: Es soll mir genügen, den Bildern nachzugehen, die ich habe von meinem Problem, mich dann jeweils, wörtlich, ins Bild zu setzen und dieses mit der Sprache, samt seinen Schwingungen und Windungen, zu umzirkeln, möglichst herzlos. Im Bild zu sein (zu sitzen), das genügt mir schon als Gefühl. (VM 19f.)
Bezeichnenderweise geht diese Wende von einem „Bild“ aus, das in einen engen Zusammenhang zur Sprache gesetzt wird: Erzählt werden sollen erlebte Bilder, keine „Meinungen“: „denn was ich dachte, sah ich zugleich“ (VM 26).5 Das damit verbundene Ideal des „herzlosen“ Erlebens wird zur Voraussetzung eines Schreibens, in dem sich aus der Erfahrung der Müdigkeit eine besondere Form der „Geistesgegenwart“ (VM 28) quasi automatisch ergibt: Gerade weil man zu müde ist, um die Dinge, die Umwelt, sich selbst mit den bewährten Mitteln des Geistes wahrzunehmen, zu kategorisieren und den eigenen Interessen gemäß zu überformen („die Müdigkeit als das Mehr des weniger Ich“, VM 54), beginnen die Dinge von selbst zu sprechen, werden sinnliche Kapazitäten frei, die dafür „feinhörig“
Einführung in die Forschungsdiskussion sowie ein umfassendes Literaturverzeichnis); Alexander Honold, „‚Things We Said Today‘: Peter Handkes Versuch über die Jukebox“, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 12 (2013), S. 113–138. 4
Vgl. zur Gattungsbestimmung als Essay und ihre Einordnung in die literarische Tradi-
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Vgl. zum Bildbegriff auch Moser, „Das Glück des Erzählens“, der zu Recht festhält:
tion Coury, „Essaying Narration“, S. 177f. „Handkes Bilder sind nie metaphorisch. Sie sind Erscheinungen, sind die Sache, wenn auch nicht die Sache selbst. Sie sind ihr 'analog'. Sie sind ihre Wirkung, ihre Wirklichkeit“ (S. 148). Zum Konzept des Denkbildes und seinen Funktionen bei Handke vgl. umfassend Braun, „Konstellative Bildästhetik“.
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(VM 28) und hellsichtig machen. Die Welt spricht zu dem Erschöpften, und zwar in Bildern, in Bedeutungserlebnissen, die nicht vom Ich willentlich gemacht sind, sondern von ihm gefunden werden.6 Müdigkeit erzeugt, rein physio-logisch und in einem Akt der „Verwandlung“,7 ein „selbstloses Schauen“, aus dem, ebenso ohne Zutun des Schauenden, von allein die „Wohltat der Form“ hervorgeht. Diese spezielle, formgebende und wohltuende Müdigkeit ist das Gegenteil der anfangs erzählten, gewalttätigen Müdigkeit, die das Ich überwältigt und seine sozialen Beziehungen zerstört; sie ist die „Müdigkeit im Frieden, in der Zwischenzeit“, sie erzeugt „das Mitgefühl als Verständnis“,8 wirkt also auch heilend auf die immer gefährdeten sozialen Beziehungen zwischen Menschen. Die positive, schöpferische und verbindende Müdigkeit ist nicht nur Voraussetzung einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Ich und Welt, sie bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt einer neuen Poetik. In einer zentralen Passage des Textes unterscheidet der Erzähler „vier Verhältnisweisen meines Sprach-Ichs zur Welt“: In der ersten bin ich stumm, schmerzhaft ausgeschlossen von den Vorgängen – in der zweiten geht das Stimmengewirr, das Gerede, von draußen, auf mein Inneres über, wobei ich aber noch immer gleich stumm, höchstens schreifähig bin – in der dritten kommt endlich Leben in mich, indem es da unwillkürlich, Satz um Satz, zu erzählen anhebt, ein gerichtetes Erzählen, an jemand Bestimmten meist, ein Kind, die Freunde – und in der vierten dann,
6
Vgl. Braun, „Konstellative Bildästhetik“, S. 288: „Wahrnehmungen von Kunst und Natur ohne vermittelnde Bewußtseinstat sind seiner Ansicht nach die intensivste Form des Erlebens […].“
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Die hier verwendeten Begriffe, besonders „Verwandlung“ und herzloses Schauen, erinnern an Paul Cézanne, mit dessen Ästhetik und Werk sowie seiner Rezeption in Rainer Maria Rilkes Briefen an Cézanne sich Handke grundlegend in der Lehre der SainteVictoire (1980) beschäftigt hatte; vgl. dazu im Einzelnen Jutta Heinz, „Cézanne-Erlebnisse bei Rainer Maria Rilke und Peter Handke. Ansätze zu einer literarischen Phänomenologie“, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 21 (2013), S. 367–389. Der Begriff der Verwandlung taucht bereits im Versuch über die Müdigkeit auf (vgl. VM 38), wird wieder aufgenommen im Versuch über die Jukebox (vgl. VJ 99) und dann zentral für den Versuch über den geglückten Tag (vgl. u.a. VT 177 und 195).
8
Alle Zitate im Absatz aus VM 39f. Auch hier drängt sich die Nähe zum phänomenologischen Konzept der Urteilsenthaltung als Voraussetzung für die Wesensschau auf; vgl. dazu Modick, „Inbilder“, S. 336: „Es handelt sich um nichts anderes als eine extrem subtile Form der Phänomenologie, man könnte auch von sympathetischem Humanismus sprechen, in der das Undefinierbare der Welt Ereignis wird […].“
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wie ich es bisher am nachhaltigsten damals in der klaräugigen Müdigkeit erlebte, erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selbst. (VM 41f.)
Die poetische Entsprechung dieser sich selbst erzählenden Welt, die der herzlose, aber klaräugige Erzähler mehr notiert denn erfindet, ist das „Epos“: „sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte“ (VM 42). Epos ist hier als ursprüngliche, nicht-individualistische Erzählform zu verstehen: Es erweckt im Erzähler ein „episches Atmen“ (VM 47), einen formgebenden natürlichen Rhythmus, in dem die Dinge wieder in ihren ursprünglichen natürlichen Zusammenhang eintreten und dadurch – wie im antiken Epos und Mythos – vereinend und gemeinschaftsbildend werden.9 Diese sozusagen epische Müdigkeit wird nun nicht nur aus der eigenen Erfahrung (vor allem der Kindheit und der dörflichen Gemeinschaft) beschrieben, sondern auch mit literarischen Gestalten verbunden; in der Exempelkette stehen nach dem Jukebox-Prinzip Orpheus und Odysseus neben Philip Marlowe, dem schlaflosen Privatdetektiv (vgl. VM 53f.). Als Bild entsprechen ihr niederländische Blumen-Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts mit ihrem Beieinander der unterschiedlichsten Sachen in einem Augenblick (vgl. VM 50); als Erzählung korrespondieren ihr beispielsweise die biographische Überlagerung verschiedener Feldwege und deren Formprinzipien, welche sich im herzlosen Schauen kenntlich machen (vgl. VM 51f.).10 Und als Vision entspricht ihr am Ende dieses Versuchs das Bild „der Menschheit: versöhnt in ihren allerletzten Augenblicken, in kosmischer Müdigkeit“ (VM 56) – womit der Mythos der Müdigkeit in die Zukunft ausgedehnt und das Menschheits-Epos auch zeitlich im wahrsten Sinne des Wortes „umfassend“ wird. Es bleibt jedoch auch „alldurchlässig“ für all das, was einem im „Durcheinander“ (VM 53) des Tages und der Lektüre und der Welt begegnet
9
Zur Idee des Epischen bei Handke vgl. Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013.
10 Eine wichtige Rolle spielen unterschiedliche Wege und Straße auch in der Lehre der Sainte-Victoire, vor allem im Schlusskapitel, „Der Wald von Morzg“ (vgl. dazu Heinz, „Cézanne-Erlebnisse“, S. 26–28). Den engen sowohl inhaltlichen als auch programmatischen Zusammenhang der Versuche zur früheren Lehre der Sainte-Victoire betont auch Damerau („Das Gesetz vom Ähnlichen“, S. 642). Auch hier drängt sich im Übrigen eine Assoziation zu Heideggers im Motto zitierter Feldweg-Schrift auf. Vgl. zu weiteren Beziehungen Handkes zu Heidegger grundlegend Ulrich von Bülow, „Raum Zeit Sprache. Peter Handke liest Martin Heidegger“, in: Günter Figal/Ulrich Raulff (Hg.), Heidegger und die Literatur, Frankfurt am Main 2012, S. 128–137 sowie den Aufsatz von Anja Pompe in diesem Band.
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– genau wie in einer Jukebox, und damit leitet das Ende des ersten Versuchs in einem relativ flüssigen Übergang hin zum zweiten Versuch, den der erste durch seine Entdeckung der produktiven Müdigkeit freiphantasiert hat.
Der Versuch über die Müdigkeit weist ein für Handkes Werke eher unterdurchschnittliches Maß an Intermedialität im Allgemeinen oder Lektürespuren im Besonderen auf. Offensichtlich gehört zu dem durch die Müdigkeit induzierten, hellsichtigen und schöpferischen Zustand stärker die Konzentration auf die zum Sprechen gebrachten Dinge und Bilder und deren Durchformung zum Epos der sich selbst erzählenden Welt; sie ist die erste Variante eines ultimativen ‚Buchs der Bücher‘,11 das in allen drei Versuchen unterschiedlich aufscheint. Das ändert sich im Versuch über die Jukebox: Hier wird die Theophrast-Lektüre leitmotivisch, umspielt wird sie von anderen Namen und Kurzzitaten, häufig nur einem einzelnen Wort, einem Songfetzen: Georges Simenon, Jorge Luis Borges, Teresa von Ávila, William Faulkner und Antonio Machado. Dazu gesellen sich die Bilder Edward Hoppers und die Musik von Bob Marley, den Beatles und van Morrison. Noch dringlicher erhebt sich damit die Frage nach dem Zusammenhang all dieser Nennungen sowie ihrer Verbindung mit dem Thema des Essays: ausgerechnet der Jukebox nämlich, einem eher unbedeutenden, zudem reichlich veralteten Ding aus der Populärkultur. Der Erzähler selbst stellt sich diese Frage, und zwar bezeichnenderweise vor dem Hintergrund seiner Vorstellung von dem Buch an sich, dem „Ding Buch“: War in seiner Vorstellung das Ding Buch doch bestimmt für den Widerschein, Satz um Satz, des natürlichen Lichts, der Sonne vor allem, nicht aber für so etwas wie das Beschreiben des von den Drehzylindern eines Elektrogeräts in der Düsternis schimmernden Kunstlichts. (So entsprach es jedenfalls seinem althergebrachten, nicht loszukriegenden Bild von einem Buch.) (VJ 76)
Bücher haben, so die hier aufgerufene und gleich als traditionell bezeichnete Vorstellung, eigentlich andere, bedeutendere Gegenstände; sie haben aber vor allem eine Erfahrung im Licht einer Idee darzustellen, die sich in einen Text als Zusammenhang, als Verbindungsprinzip zwischen den Sätzen einschreibt. Auch die Idee
11 Die Formulierung ist angelehnt an das Kapitel vom ‚Bild der Bilder‘ in der Lehre der Sainte-Victoire.
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vom sich selbst erzählenden Epos der Menschheitsgeschichte aus dem Versuch über die Müdigkeit taucht im zweiten Versuch als „weltumspannendes Epos“ wieder auf, das sich dem Erzähler in der Welt seiner nächtlichen Träume offenbart, bei denen er, ebenso wie im vorhergehenden Versuch, nur als „Zuschauer und Zuhörer“ (VJ 73f.) agiert. Dieses „epische Träumen“ (VJ 74) verleiht ihm einen weit ausschwingenden Rhythmus, den er nach dem Aufwachen als Schreibimpuls zu erhalten versucht. Auch zu dieser weltumspannenden Erfahrung scheint die Jukebox, ein „bloßes Spielzeug“ vor allem der Amerikaner (VJ 73), zunächst in einem extremen Widerspruch zu stehen. In seinem kreisenden und vielfach neu ansetzenden Verlauf etabliert der Essay jedoch nun diese triviale Jukebox als ein vielschichtiges, mit Bedeutung beinahe unbegrenzt aufladbares Objekt des Erlebens. Sie löst, zum ersten, durch ihr Dröhnen ein besonders intensives Gefühl von Körperlichkeit aus; der Klang kommt aus einem „den Raum durchvibrierenden Innern“ (VJ 103).12 Sie findet sich, zum zweiten, in eher unauffälligen räumlichen „Zwischenbereichen“ (VJ 88f.),13 die sich für den Erzähler mit verschiedenen Erlebnissen und Orten aus seinem Leben überlagern und einen Erinnerungszusammenhang herstellen; eine Jukebox ist ein „Ding der Ruhe“, das in ihm „einzig seine Möglichkeitsbilder“ weckt und zum Oszillieren bringt (VJ 106f.).14 Jukebox-Orte sind, zum dritten, auch Räume eines unvermittelten sozialen und friedlichen Kontakts von völlig Fremden (vgl. VJ 113f.). Insgesamt können Jukeboxen dadurch beim Erzähler sogar Epiphanien auslösen. Solche quasi-religiösen, intensiven Augenblickserfahrungen, meist in Gang gesetzt durch Naturerfahrungen oder Werke der Kunst, durchziehen Handkes Werke dieser Phase spätestens seit der Lehre der Sainte-Victoire; und auch angesichts der Jukebox erfährt er nun etwas, das er mit den Begriffen der „Levitation“, „Auffahrt“, „Entgrenzung“ oder „Weltwerdung“ (VJ 108) selbst nur unzureichend bezeichnet findet.
12 Die Formulierung erinnert erneut an Rilkes Konzept des „Weltinnenraums“ (vgl. dazu auch Ribbat, „Schreiben von Zeit und Geschichte“, S. 177). 13 Zur Idee des „Zwischenraumes“ und seiner existentiellen Bedeutung vgl. Jutta Heinz, „Zwischenräume. Zu einem Motivkomplex in Rilkes zweiter Duineser Elegie und dessen Tradition“, in: World Literature Studies 5 (2012), S. 38–49, bes. S. 44f. 14 Das Oszillieren oder die kreisförmige Bewegung ist ein Merkmal von Epiphanien, wie sie Handke in der Lehre der Sainte-Victoire beispielsweise angesichts eines dicht gefügten Holzstoßes am Ende des Textes erlebt; auch hier geht die Bewegung im Übrigen von den Zwischenräumen zwischen den einzelnen Hölzern aus (vgl. LSV 138f.). Vgl. zum Unterschied zwischen einem mystischen Erlebnis und der Beschreibungsepiphanie bei Handke Moser, „Das Glück des Erzählens“, S. 147.
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All diese Eigenschaften machen die Jukebox schließlich zu einer ganz besonderen, nämlich dinghaften poetologischen Inspirationsquelle. Der Erzähler entwirft aus ihrem Erleben eine neue Schreibform, eine Poetik des Versuchs:15 Der ‚Versuch‘ schwebte ihm als ein unverbundenes Miteinander vieler verschiedener Schreibformen vor, wie es ja, schien ihm, auch den so, wie sollte er es nennen?, ungleichen? arhythmischen? Weisen entsprach, in denen er eine Jukebox erlebt hatte und sich an sie erinnerte: Augenblicksbilder sollten wechseln mit weit ausholenden, dann jäh abbrechenden Erzählläufen; auf bloße Stichworte würde eine vollständige Reportage über eine einzelne Musicbox zusammen mit einem bestimmten Ort folgen; von einem Block Notizen käme, ohne Übergang, ein Sprung zu einem von Zitaten, welcher, wiederum übergangslos, ohne harmonisierende Verknüpfung, Platz machen sollte vielleicht allein dem litaneihaften Registrieren der Titel und Sängernamen eines besonderen Fundgegenstandes – wobei er sich, als die Grundform, die dem Ganzen eine Art Zusammenhalt gäbe, weiter das Frage-Antwort-Spiel vorstellte. (VJ 96f.)
In dieser neuen Schreibform sind sowohl intermediale als auch intertextuelle Aspekte leitend, die eng mit dem Bild der Jukebox verbunden sind:16 Zitate tauchen in ihr auf, aber auch Songtitel und Sängernamen, fragmentarische Filmszenen und Stillleben, vielleicht sogar eine zu schreibende „Ballade von der Jukebox“ (VJ 97). Diese neue Poetik wird direkt im Anschluss an die zitierte Passage nun wieder mit der Idee des Buches in Verbindung gebracht: Vielseitige kleine und größere Annäherungen, und zwar, statt in den üblichen Einfang-, in Durchlaß-Formen, waren es, was jetzt, gerade durch seine vollständigsten, innigsten, eine Einheit stiftenden Erfahrungen mit Gegenständen, für ihn bei Büchern der Fall sein sollte: den Abstand wahren; umkreisen; umreißen; umspielen – deiner Sache von den Rändern her den Begleitschutz geben. (VJ 98)
Durchlaß-Formen – das neue, noch zu schreibende weltumspannende Epos, das ‚Buch der Bücher‘, es zehrt gerade von der Aura des Unscheinbaren, Zufälligen, aber konkret Gegenständlichen und in Raum und Zeit Verorteten. Im Umfeld der Jukebox tritt ein ähnlicher Effekt auf wie bei der herzlos, klaräugig und feinhörig machenden guten Müdigkeit: Die Dinge beginnen ganz allein zu sprechen; alles gewinnt von der Jukebox als dem geheimen, aber selbst ganz unbedeutenden, sich 15 Von einer „Jukebox des Erzählens“ spricht schon Braun („Konstellative Bildästhetik“, S. 289). 16 Auch Steiner bezeichnet die Jukebox als intertextuelles Gedächtnis („Das Glück der Schrift“, S. 287).
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selbst zurücknehmenden Zentrum her neue Bedeutung. Das Erzählen findet seinen Rhythmus (vgl. VJ 98), die „alleserwärmende Phantasie“ (VJ 99) nimmt ihre belebende und beseelende Arbeit auf, ohne dass sie dazu bewusst gezwungen werden muss, es entsteht eine „Art des Gewärtigwerdens wie sonst nur bei einem die Bedachtsamkeit weckenden Buch“ (VJ 117). Und der Erzähler findet endlich das erlösende, konkrete, körperliche Bild für diesen Vorgang: „Ja, das war es, der Gegenwart wurden die Gelenke eingesetzt!“ (ebd.) Es gehört zur Ironie des Textes und seinem Versuchs-Charakter, dass der Erzähler ausgerechnet in Soria, der abgelegenen und geradezu programmatisch bedeutungslosen spanischen Stadt, in der er den Winter verbringt und seinen Versuch über die Jukebox niederschreibt, keine Jukebox findet. Aber es stellt sich heraus, dass das auch gar nicht nötig ist. Sie ist auch so das geheime, abwesende, versteckte Zentrum eines Textes, der für viele Orte und Erfahrungen, Lektüren und Worte durchlässig ist; sie ruft in dem nicht gewaltsam suchenden, sondern gelassen lauschenden Erzähler (vgl. VJ 115) längst vergessen geglaubte Momente und Erlebnisse hervor; sie gibt ihm seinen Erzählrhythmus und sein Erzählprinzip, das mal das des langen, episch atmenden, dem Leben die Gelenke einsetzenden und Zusammenhänge stiftenden Erzählens ist und mal das des zusammenhanglosen, fliegenden Übergangs von einem Titel auf der Jukebox zur nächsten. Und niemals wird man künftig über Jukeboxes schreiben oder denken oder sprechen können, ohne den Namen Handke dort eingeschrieben zu finden, in einer Liste mit anderen Namen und Werken und Wörtern.
Der Versuch über den geglückten Tag ist der am stärksten organisierte, strukturierte und intertextuell angereicherte Text der drei Versuche;17 er greift zudem in vielen Themen und Motiven auf die beiden anderen Versuche zurück. Am Anfang steht wie beim Versuch über die Müdigkeit ein Bibelzitat als Motto; der Essay endet mit Zitaten aus den Paulus-Briefen. Der eigentliche Text beginnt mit einer Jukebox-artigen Überlagerung von Bedeutungserlebnissen in verschiedenen zeitlichen und räumlichen Kontexten: Ausgehend von der „Line of Beauty and Grace“
17 Vgl. zur Intertextualität im Versuch über den geglückten Tag die Aufzählung bei Coury, „Essaying Narration“, S. 190.
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des englischen Malers William Hogarth (VT 141)18 reiht der Erzähler weitere Wellenmotive aneinander, von einem am Ufer des Bodensees gefundenen Stein bis hin zum körperlich erlebten weiten Bogen auf einer Zugfahrt westlich von Paris – Erfahrungen, die, wie die Linie von Hogarth, gleichzeitig zwei Hälften trennen und zusammenhalten und körperlich als Schwingen erlebbar machen. Damit verbindet sich nun im Bewusstsein des Erzählers die schon seit einiger Zeit verfolgte Idee vom geglückten Tag,19 von der in diesem Moment noch nicht klar ist, ob sie in einer „Beschreibung, oder Aufzählung, oder Erzählung der Elemente und Probleme eines solchen Tages“ (VT 142) poetisch umgesetzt werden wird.20 Kann man eine Idee überhaupt erzählen?21 So fragt sich der Erzähler, um es dann natürlich zu versuchen. Er beschreibt sie zunächst als „Licht“, als „Leuchtspur“; fassbar ist sie aber vor allem als sowohl körperliches wie geistiges Bedeutungserlebnis: Sie stellt mir kein Bild zur Ausflucht vor. Und trotzdem war sie leibhaftig, leibhaftiger als je ein Bild oder eine Vorstellung, alle die zerstreuten Sinne des Körpers durch sie zusammengefaßt zu Energie. Idee hieß: Es gab kein Bild, nur Licht. (VT 151)22
Die Idee ist also selbst kein Bild, sie ist auch kein Text; aber in ihrem Licht tauchen konkrete Elemente, Bilder, Texte, persönliche Erlebnisse auf, werden erkannt und in eine Zusammenhang stiftende Form gebracht. Sie ist damit auf eine ähnliche Art und Weise ein Werkzeug der Inspiration wie die Müdigkeit oder die Jukebox, gerade durch ihre Abstraktheit. Und die Idee ist es auch, die nun den „Traum vom umfassenden, alldurchlässigen Buch“ hervorruft, der längst „ausgeträumt“ schien; sie verleiht ihm neue Gegenwart, so dass er sogar konkret gezeigt
18 Das gleiche Problem wird in der Lehre der Sainte-Victoire am Beispiel des „Mantels der Mäntel“ diskutiert, von dem seine Schöpferin weiß: „Der Übergang muß für mich klar trennend und ineinander sein.“ (LSV 119; Herv. i.O.) 19 Vgl. zur Vorgeschichte der Idee vom geglückten Tag die Rekonstruktion aus den Tagebüchern auf https://handkeonline.onb.ac.at/node/2541 (aufgerufen am 15.7.2018). 20 Vgl. zu einer genauen Analyse der intertextuellen Bezüge der Anfangspassage Steiner, „Das Glück der Schrift“, S. 275f. 21 Die Frage hängt aufs engste mit der Gattungstradition des Essays zusammen. Coury, „Essaying Narration“, S. 179, betont die poetologische Gemeinsamkeit der drei Versuche unter diesem Gesichtspunkt: „so too is it a reflection of the narrative act: namely an attempt to narrate an idea or emotion (successful day), a concept (tiredness) or an object (jukebox).“ 22 Die Allusion zum Schöpfungsgeschehen („es werde Licht“) ist durchaus beabsichtigt.
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werden kann: „da, in der Tagwelt, und da, und da“ (VT 153).23 Dabei wird die „Idee“ nun auch mit ihrem intertextuellen Urheber verbunden, nämlich über ein verdecktes und recht eigenwillig übersetztes Platon-Zitat: „Alles sich Zeigende (in unser Heutiges, Weltliches übersetzt: jede Form) ist ein Licht“ (VT 154).24 Im Licht dieser leitenden Idee und formal geleitet vom ästhetischen Prinzip der Hogarth-Linie versucht sich der Erzähler nun an einer Erzählung des geglückten Tages – ein Unternehmen, das aus unterschiedlichen Gründen mehrmals scheitert, aber immer wieder aufs Neue angegangen wird. Ein besonders aufschlussreiches Scheitern ist dabei das Versagen des erlebenden Erzählers angesichts eines plötzlich aufscheinenden Übermaßes an Sinn: Doch einmal, in der Ekstase, fand er nicht mehr in sich zurück: Da, der gelbe Schnabel der Amsel! Und am Ende der Allee der bräunliche Rand der allein noch blühenden Malve! Und das im Fallen an einer unsichtbaren Schnur ruckende und zum Schein wieder auf in die Sonne steigende Blatt als ein leuchtfarbiger Drachen! Und der Horizont schwarz von einem Schwarm so monumentaler wie nichtssagender Wörter! Aufhören, Ruhe! (Ekstase hieß für ihn Panik.) Aber Punkt, Schluß, es – das Lesen, das Schauen, das Mit-im-Bild-Sein, der Tag – ging nicht mehr weiter. (VT 170)
In dieser ins Bedrohliche umschlagenden, sich verselbständigenden Epiphanie zeigt sich einmal mehr der enge Zusammenhang von Schauen, Erleben und Lesen für das poetische Konzept, das Handke in den Versuchen erprobt und das im „geglückten Tag“ seine intensivste Ausdrucksform findet: Die Lesbarkeit der im herzlosen Schauen und im gelassenen Erfahren zum Sprechen gebrachten Welt kann auch obsessiv werden, kann den gleichzeitig Schauenden und Lesenden und Empfindenden überwältigen mit ihrer allzu umfassenden Gegenwärtigkeit. Der Tag, der Text, sie beide müssen deshalb durchlässig bleiben – durchlässig auch für das „Nichts unsrer Tage“ (VT 172), durchlässig für „Sprachlosigkeiten“ (VT 174), durchlässig für die Erfahrung des Todes (vgl. VT 187). Deshalb muss die ursprüngliche Idee selbst sich verwandeln können: nämlich von einer „Lebens- in eine Schreibidee“ (VT 177). Den geglückten Tag kann man nicht erleben wollen, man hat ihn schon erlebt; es ist der längst vergangene Tag der Idee selbst, der sich
23 In Rilkes Briefen über Cézanne gibt es eine ganz parallel deiktisch formulierte Stelle (vgl. Heinz, „Cézanne-Erlebnisse“, S. 17f.). Die Metapher vom umfassenden, allgegenwärtigen Buch bezieht sich insgesamt natürlich auf die traditionelle Metapher vom ‚Buch der Natur‘ (Augustinus), dessen Autor Gott ist. 24 Vgl. zu den Quellen Gerhard Faden, Platons dialektische Phänomenologie, Würzburg 2005, S. 10f.
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nun in der Erinnerung, in der Wiederholung durch das Schreiben zu einer einzigen langen wellenförmigen Linie, einem „bleibenden Umriß“ (VT 178f.) geformt hat. Gleichwohl bleibt der deutlich als utopisch markierte Anspruch,25 einen jeden zukünftigen, möglichen Tag auch real und nicht nur in der Phantasie glücken zu lassen, ihn bei all seiner Zufälligkeit und mit all seinen Fremdheiten zu einem beglückenden Umriss zu formen, durchaus erhalten, wenn auch nur als Vorwurf: „Ich selber bin mein Feind geworden, zerstöre mir das Licht des Tags; zerstöre mir die Liebe; zerstöre mir das Buch“ (VT 181) – wieder ist es an dieser Stelle das zu schreibende Buch, in dem sich das Licht der Idee und die Liebe als Prinzip des gewaltfreien Zusammenlebens zusammenschließen und das durch deren Nichtgelingen ebenso bedroht ist. Ein Modell für einen zukünftig zu lebenden geglückten Tag wird gegen Ende des Textes aus einem intermedialen Zusammenklang verschiedener Texte, Bilder und Lieder entwickelt. Seine Beschreibung beginnt mit der Erwähnung einer „ungeschriebenen Folge des Don Quijote“ mit dem Titel „Die sieben Tage des Gartens“ (VT 187), zieht einen Vergleich mit dem „Tag Hiobs“ (VT 188), zitiert den gegen die Trägheit und das „Wortkämpfen“ wetternden Apostel Paulus (VT 189) herbei und einen Ausspruch der Frau von Picasso, die nur in seinem Atelier „anwesend“ sein wollte (ebd.). Doch auf einmal findet der Schreibende seine eigenen Worte, „Lichtwelle“ ist eines davon (ebd.); sie liegen greifbar vor ihm im Garten mit seinen Farben und Formen, sie erschließen sich ihm in seinen Geräuschen, und er findet immer Worte, die „mit dem Tag gleichreden“ (VT 192): „Schauen und weiterschauen mit den Augen des richtigen Wortes“ (VT 189). Aber um schauen und Wörter sammeln zu können wie Pilze,26 muss man zuvor das Haus verlassen, das das „Zelt des Buchs“ (VT 190) ist; nur im Freien wird man das Gelesene „beherzigen“ (ebd.) können. Goethe wird herbeigerufen mit einem Spruch, und direkt im Nachsatz Marilyn Monroe mit einer Liedzeile (vgl. VT 191); beide werden getrennt und zusammengehalten durch die Linie von Hogarth, zu der der Erzähler erneut zurückkehrt. Und die Linien tauchen nun überall wieder auf; sie bringen ihn nach Paris, sie erschließen ihm andere Muster („das Rautenmuster“, VT 192), sie machen ihm die Farben hell, sie lassen ihn Spuren sehen, Fußspuren, Vogelspuren (vgl. ebd.). Van Morrison tritt für einen Augenblick auf, seit Beginn des Essays gemeinsam mit Paulus der leitende Genius des geglückten
25 Vgl. zum utopischen Aspekt der Versuche Kniesche, „Utopie und Schreiben“. 26 Vgl. den vorläufig letzten Versuch, den Versuch über den Pilznarren (2013).
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Tages; die Rauchsäulen der Häuser malen Bilder am Nachthimmel, Ingrid Bergman preist den Sonnenaufgang, und dann ziehen startende Bomber herauf, und es rückt der Krieg heran.27 An dieser Stelle taucht das lange verschwiegene alter ego des ersten Essays wieder auf und macht dem immer wilder freiphantasierenden Erzähler den berechtigten Einwurf: „Und jetzt verlierst zu zuletzt ganz die Linie“ (VT 194) – und es ist natürlich die Hogarthsche Linie, die er meint, aber auch die Linie des Erzählens und des Zusammenhangs, die Linie, die sich vom ersten Versuch untergründig hinzog bis zum Ende des letzten. Und deshalb empfiehlt das alter ego, ganz am Schluss dieses letzten Versuches, die Heimkehr: „Heim zum Buch, zum Schreiben, zum Lesen. Zu den Urtexten, wo zum Beispiel gesagt wird: ‚Laß klingen das Wort, steh zu ihm – günstiger Moment oder ungünstiger‘“ (ebd.). Das ist wieder eine sehr eigenwillige Paulus-Übersetzung,28 aber es geht hier nicht um gelehrte Auslegung von vor langer Zeit gesprochenen Machtworten einer positiven Religion; es geht um ihre Anverwandlung ins Heutige, ins Diesseits der Form, als für sich selbst sprechende Worte, als erfahrungsleitende Worte, als „mit dem Tag gleichreden (Homologie)“.29 Gleichwohl klingt der Text scheinbar mit einer Wendung ins Transzendente aus: Der Versuch, einen geglückten Tag zu erleben, ihn
27 Vgl. VT 194. Auch die Schlussepiphanie angesichts des Holzstoßes in der Lehre der Sainte-Victoire weist ein ähnlich breites Assoziationsspektrum und eine vergleichbare Mischung gewalttätiger und friedlicher Elemente auf (vgl. LSV 108). 28 Vgl. 2 Tim 4,2. 29 Vgl. VGT, S. 192. Die Bedeutung der Analogie als Denkfigur für Handke betonen auch Damerau („Das Gesetz vom Ähnlichen“, S. 642) und Steiner, der sie auf das traditionelle Modell der Signaturenlehre zurückführt („Das Glück der Schrift“, S. 277). Im Versuch über den geglückten Tag hingegen wird an der zitierten Stelle explizit von der „Homologie“ gesprochen. Der Unterschied zwischen Homologie und Analogie ist beispielsweise in der Biologie, dass Homologie nur bei einem gleichen Ursprung zweier Phänomene vorliegt, während die Analogie eine rein äußerliche Ähnlichkeit ist, die z.B. auf eine vergleichbare Funktion hinweist. Damit würde sich die Frage stellen, ob Handke seine Assoziationsreihen ähnlicher Phänomene auch auf einen gemeinsamen Urgrund von Erfahrung bezogen wissen will (wie es beispielsweise in der romantischen Naturphilosophie oder der alchemistischen Signaturenlehre der Fall ist), oder ob sie ein reines Formprinzip sind, das dementsprechend auch für jeden Leser unterschiedlich sein kann (was letztlich, wenn überhaupt, nur im Blick auf das Gesamtwerk beantwortet werden kann). Es ist aber auch möglich, dass er den Begriff „Homologie“ an dieser Stelle in seinem konkreten linguistischen Sinn verwendet: Eine Homologie ist dort ein Ausdruck, der durch seine Form ein Beispiel für das ist, was er meint.
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zu „haben“, ist wiederholt gescheitert; der Versuch ihn zu schreiben, ihn zu „machen“, hat immerhin etwas hervorgebracht, und sei es nur „die Haufen vom Bleistiftholz unterm Fenster“, Wendungen um Wendungen, im Leeren, für nichts und wieder nichts, an etwas Drittes, Unfaßbares, ohne das wir beide aber verloren sind. Immer wieder, in seinen Briefen nicht an die Gemeinden, sondern an die einzelnen, seine Helfer, schreibt der in Rom gefangene Paulus vom Winter: ‚Beeile dich, vor dem Winter zu kommen, lieber Timotheus. Und bring mir den Mantel mit, den ich in Troas bei Karpos gelassen habe…‘ – Und wo ist der Mantel jetzt? Verlaß den Traum. Schau, wie der Schnee vorbeifällt am leeren Vogelnest. Auf zur Verwandlung. – Zum nächsten Traum? (VT 194f.)
Die Passage mutet, wie so viele Handke-Romanschlüsse, etwas kryptisch an. Man muss nicht nur sehr genau lesen, sondern man muss bereits sehr genau gelesen haben; man muss die Motive der drei Versuche gegenwärtig haben, die Probleme, die Vorwürfe, denen sie sich gestellt haben, die temporären Lösungsversuche ebenso wie ihr Scheitern, die ohne Gelenke knirschenden Übergänge zwischen disparaten Teilen und Formen ebenso wie die verbindlichen sanften Wellenlinien eines rhythmisierten Erzählens. Dann lässt sich, vielleicht, erkennen, dass Wendungen, und seien sie „im Leeren“, beruhigende und besänftigende und nötige Erfahrungen sein können; dass das Bleistiftholz unterm Fenster die greifbare Daseinsberechtigung des Schriftstellers ist, nicht mehr und nicht weniger. Das Bleistiftholz hat gemeinsam mit dem „klein gewordenen Radiergummi“ (VT 194) das Buch hervorgebracht. Dieses aber richtet sich über das mitlaufende Gespräch von Erzähler und alter ego hinaus an einen Dritten, der gar nicht unbedingt ein Gott sein muss (aber auch sein kann): Es könnte genauso gut der Leser sein. Denn der Paulus, von dem Handke am Ende des Essays spricht, wendet sich nicht nur an die Gemeinden, sondern „an die einzelnen, seine Helfer“ (vgl. VT 194); er spricht zu ihnen vom Winter (der auf der Erzählebene inzwischen eingetreten ist), einer Bedrohung wie der Gefangenschaft, und er bittet um etwas sehr Konkretes: seinen Mantel nämlich. Und während der Leser noch darüber grübeln mag, was es denn nun mit dem Mantel auf sich habe, da macht Handke verstohlen etwas ganz Unauffälliges und scheinbar Unnötiges, das man erst gar nicht bemerkt: Er setzt ans Ende des eigenwillig übersetzten Paulus-Zitates drei Punkte. Er hat den Satz nicht zu Ende zitiert. Paulus bittet nämlich im Urtext Timotheus nicht etwa nur um seinen Mantel, sondern auch – um seine Bücher, besonders die Pergamente.
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Ist es zu viel gedeutet, dass Peter Handke, ein sorgfältiger, Wort für Wort lesender, auf die Originalsprachen setzender und gelegentlicher eigenwillig übersetzender Vielleser, der einmal den Traum von einem „verstreuten, verborgenen Volk der Leser“ (LSV 89) träumte, hier auf den Leser hofft, den genauen, sorgfältig, Wort für Wort lesenden Leser, der sein Buch, Handkes Pergament mitbringt und ihm, dem Autor, ein schützender Mantel sein wird in den bevorstehenden kalten Zeiten? Denn der Traum vom geglückten Tag ist jetzt vorbei. Er ist geschrieben und gemacht, und nicht nur der Schnee und das leere Vogelnest (so viele Vögel sind durch die drei Versuche geflogen und haben ihre Spuren hinterlassen, man kann sie nicht alle aufzählen) zeigen an, dass es Zeit ist für die nächste „Verwandlung“ (VT 195), für das nächste Buch; ob sie wieder ein Traum sein wird, lässt das Ende offen.30
Ist damit auch der „Traum vom umfassenden, alldurchlässigen Buch“ beendet? Wohl kaum. Die Vorstellung einer einvernehmlichen, verschworenen Leserschaft, die das Tun des Autors als gemeinschaftsbildendes ethisch und nicht nur poetisch rechtfertigt, hat Handkes Werk schon länger begleitet. In seinem Gespräch mit Herbert Gamper im Jahr 1985, also unmittelbar vor der Entstehung des ersten Versuches, spricht er von einer durchs Lesen entstehenden „Brüderlichkeit“31 und von dem emotionalen Gleichmaß, das durch eine konzentrierte Lektüre hergestellt wird und Leser und Autor zu Ebenbürtigen macht.32 Und noch in einem bisher ungedruckten Manuskript im Band Tage und Werke (2015) findet sich ein Kurztext mit dem bezeichnenden Titel Drei Zitterer an der homerischen Quelle, der vielfach an die Versuche erinnert, vom Gestus des Zeigens über das religiöse Sprechen und das Motiv der Reise und des Aufbruchs bis hin zur Wendung an die Gemeinschaft:
30 Eine ähnliche offene Frage steht am Ende der Lehre der Sainte-Victoire: „Zu Hause das Augenpaar?“ (LSV 139) Werkintern stellt sie den Anschluss an das folgende Werk, Kindergeschichte (1981), her; darüber hinaus verweist sie aber genauso auf den Leser als dem Autor korrespondierendes und mit dem Text kommunizierendes Augenpaar. 31 Peter Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987, S. 109. 32 Vgl. ebd., S. 110.
84 In seiner Aufforderung an den Propheten Mohammed zu dessen ‚Nächtlicher Reise‘ bedeutet ihm der Engel Gabriel: ‚Leg dein Gewand an und beruhige dein Herz!‘ Und entsprechend vielleicht: Ein Lesen Hand in Hand mit Aufregung und Ruhigwerden? Zerstreuung und Sammlung? Lösung und Anknüpfung? Versinken und Auftauchen? Wegdriften und Andocken? Sich-Entwurzeln und Sich-Eingemeinden? Weite-Suche, Verschwinden, und Dasein, da, da und da!?33
Die Versuche sind vor diesem Hintergrund als wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Poetologie des umfassenden, alldurchlässigen Buches zu lesen, das Peter Handke in seinem Gesamtwerk geschrieben hat und noch weiter schreibt. Sie erproben nacheinander verschiedene Weltverhältnisse und ihnen gleichredende Schreibformen nach dem Muster der Homologie. In der Müdigkeit wird die Welt im herzlosen Schauen zum eigenen Sprechen gebracht; die Idee der ‚sich selbst erzählenden Welt‘ taucht auf. Mit der Jukebox werden aus dem Kontingenzprinzip eines bedeutungsarmen Gegenstandes heraus vielfältige räumliche, zeitliche, sinnliche, ästhetische, lebensgeschichtliche Zusammenhänge entwickelt und erfahrbar gemacht, die jedoch durchlässig bleiben müssen. Im geglückten Tag schließlich scheitert zwar die Utopie einer tatsächlich lebbaren, durchgängig sinnerfüllten Lebensgestaltung mittleren Maßes, angesiedelt zwischen den antiken Konzepten des erfüllten Augenblicks und der christlichen Ewigkeit; es gelingt aber eine Rechtfertigung des Schreibens am umfassenden, alldurchlässigen Buch im Blick auf die herzustellende Gemeinschaft zwischen Autor(innen) und Leser(innen). Dass das Lesen dabei eine Schlüsselstellung einnimmt, ist zwar auch, aber nicht nur dem trivialen Umstand geschuldet, dass es sich bei Handke um einen Wort-Künstler (im wörtlichsten Sinn) handelt. In einer Welt, die insgesamt als lesbare aufgefasst wird, ist Lesen vielmehr sozusagen die menschliche Kernkompetenz der Bedeutungserschließung: Ob wir ein Bild betrachten oder einen Baum, einen Popsong hören oder das Rascheln von Blättern auf einem Feldweg, ob wir die Szene eines Filmes sehen oder mit unserem Kind eine Gutenachtgeschichte lesen – wir erleben alltäglich die Lesbarkeit der Welt, wir erleben die Welt als ein Buch, das alles Sein umfasst und in das alles Sein ein- und wieder ausgehen kann, und das ist wichtig: Die Welt wird nicht nur im Buch lesbar gemacht, sondern das Buch intensiviert und vertieft wiederum für den sorgfältig und wörtlich Lesenden die Lesbarkeit der Welt, öffnet ihm die Augen für neue Erfahrungen und Zusammenhänge. Handkes Schreiben kann auf der allgemeinsten Ebene als existentielles Schreiben aufgefasst werden. Es ist ‚existentiell‘ in einem nicht-technischen Sinn, also
33 Peter Handke, Tage und Werke, Frankfurt am Main 2015, S. 186.
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nicht etwa im engen Sinne der existentialistischen Philosophie. Existentielles Schreiben ist unmittelbarer Lebensvollzug, nicht eine isolierbare, rein intellektuelle Praxis; es ist zugleich sinnlich, körperlich, geistig. Der auf diese Weise geschriebene Text ist mehr ein sinnlich erfahrbarer, individuell beglaubigter Lebensund Erfahrungsspeicher als ein fiktionales Werk mit einem autonomen Geltungsanspruch. Und die Formen, die Handke dafür entwickelt, sind zum Teil Lebensbzw. Naturformen (der epische Atem, die natürliche Wellenform), zum Teil Alltagsformen (die Jukebox). Dem existentiellen Schreiben korrespondiert ein existentiell verwurzeltes und ethisch aufgeladenes Lesen. In der Lehre der Sainte-Victoire spricht der Erzähler vom „Hellen und Erhebenden, das beim Lesen erst den Geist des Vertrauens gibt. Nichts anderes ist lesenswert.“ (LSV 102) In Bezug auf Handkes eigenes Lesen heißt das: Nur solche Texte und Autoren gehen in die Versuche ein, die dieses Leseerlebnis bei ihm evozieren, denen er einen „Geist des Vertrauens“ entgegenbringt. Sie müssen daher auch nicht umfangreich zitiert oder gelehrt gedeutet werden. Ihre Namen sind Chiffren für die Gemeinschaft der wahrhaft Lesenden, ihre isolierten Worte erschließen exemplarische, jeweils persönlich beglaubigte Lesarten des Buches der Welt und stiften eine gemeinschaftsbildende literarische Überlieferung – und gleichzeitig eine Rechtfertigung für das einsame Tun des Schriftstellers, der am Ende eines langen Tages ein wenig melancholisch auf die sich kringelnden Bleistifthölzer zu seinen Füßen blickt. Das ist, gewiss, ein heroisches, vielleicht im Schiller’schen Sinn ein naives Konzept des Lesens; und im Einzelnen könnte man darüber streiten, ob sich die herbeizitierten Autoren, Künstler, Musiker wahrhaft verstanden fühlen würden oder doch ein wenig – herbeizitiert, in einer altmodischen Jukebox auf Namensschilder reduziert, auf aus dem Kontext herausgerissene Einzelworte, auf Zeugenschaft für eine Mission, die nicht unbedingt die eigene ist.34 Andererseits machen die Versuche zur Genüge kenntlich, dass es beim Lesen – sei es von Büchern oder Bildern, sei es beim Lesen der Welt als solcher – nicht darum geht, den Lesenden abzuschotten gegen unwillkommene Erfahrungen oder ihm fremde Auffassungen
34 So kritisiert Kniesche das Ziel als geistesgeschichtlich längst überholt: „Das von Handke postulierte Einssein von Wahrnehmung und Schreiben, die sich selbst erzählende Welt ist nichts anderes als die Einheit von Anschauung und Begriff, jenes utopische Ideal, das laut Adorno im Essay noch einmal Auferstehung feiert.“ („Utopie und Schreiben“, S. 336). Das wäre für Handke jedoch wohl kaum ein gültiger Einwand; gerade in seinem Intertextualitätskonzept wird ja deutlich, dass historische Differenz im Angesicht existentieller Grunderfahrungen keine Rolle spielt und es insofern auch keine Richtung in der Geschichte gibt, die Konzepte überholt erscheinen lassen könnte: Das Buch der Welt veraltet nicht, sondern wird ständig weitergeschrieben.
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und Lebensweisen. Das erträumte Buch ist zwar „umfassend“: Es stellt einen Rahmen her, es gibt einen Umriss, es schafft Formen, Übergänge und Zusammenhänge, es lässt sich leiten vom Leuchten einer Idee. Aber es ist ebenso „alldurchlässig“, nicht abgeschlossen zur Außenwelt, aufnahmebereit auch für bedrohliche Erfahrungen, im Hier und Jetzt verankert, dem Kleinen und Unscheinbaren zugeneigt, veränderlich, verwandelbar.35 Letztlich handelt es sich auch bei diesem Lesen immer nur um einen Versuch – und den Zusammenhang muss jeder Leser, jede Leserin sowieso für sich selbst freiphantasieren.
35 So betont auch Braun: „Durchgehend scheint es Handkes Bestreben zu sein, die Möglichkeit der Kohärenz und die Möglichkeit der Kontingenz nebeneinander bestehen zu lassen“ („Konstellative Bildästhetik“, S. 281).
A NNA E STERMANN
Für Peter Handke ist seit jeher die ‚lebenspraktische‘ Dimension des Lesens bedeutsam gewesen. Die Lektüre kann den Blick auf die Welt neu ausrichten, sie kann Möglichkeitsräume eröffnen, indem sie eine „noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt“ macht, „eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren“.1 Kritisch und aufmerksam „gegenüber der Literatur, die ja wohl zur Wirklichkeit gehört“,2 setzt sich Handke mit literarischen Darstellungsweisen auseinander. In seinem Frühwerk geht es ihm vornehmlich darum, die wechselseitige Durchdringung von Literatur und Gesellschaftlichem, Kulturellem und Sozialem, Kunst und Leben aufzuzeigen. Ziel seiner Kritik sind literarische Verfahren, die vorgeben, die Wirklichkeit abzubilden, ‚wie sie ist‘, und dabei auf erzählerische Konventionen zurückgreifen, die zur Routine geronnen sind und dem Leser keinen Möglichkeitsraum eröffnen, sondern Bestehendes bestätigen. Für Handkes eigenes poetologisches Programm der 1960er Jahre bringt das den Anspruch mit sich, bei seinen Lesern ein Bewusstsein zu schaffen für Funktionsweisen von Erzählmodellen und deren Geschichtlichkeit. Ausgehend von eigenen Lektüreerfahrungen (Lesen sei hier immer schon transmedial gedacht) will er seinen Lesern Wissen vermitteln, das es ihnen ermöglicht, Verfahren zu erkennen, die Wirklichkeit nicht nur beschreiben, sondern auch festschreiben.
1
Peter Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ [1967], in ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main 1972, S. 19–28, hier S. 19f. (Herv. i.O.).
2
Ebd., S. 19.
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Peter Handkes Sozialisation als Autor fällt in einen Zeitraum, in dem ein kultureller Bruch zu beobachten ist, in dessen Verlauf sich ein neuer Begriff von „Kultur“ etabliert, der über den engeren Bereich der Kunst hinausgeht und den gesamten Alltag umfasst. In Mythen des Alltags entwickelt Roland Barthes sein Konzept des Mythos in Anknüpfung an Ferdinand de Saussure als triadisch gedachtes sekundäres semiologisches System.3 Er denkt „Kultur“ als ein Gewebe von arbiträren Bedeutungen, das ähnlich wie Sprache funktioniert; ihre ‚Lesbarkeit‘ setzt bewusstes oder unbewusstes Wissen voraus. Angesichts des Stellenwerts, der diesem neuen Begriff von Kultur in Handkes Frühwerk zukommt, darf vermutet werden, dass die Mythen des Alltags für den 23-jährigen Autor ein intellektuelles Lektüreereignis darstellten, wenngleich die Signatur dieses Ereignishaften seiner Besprechung des Bandes im Grazer Rundfunk nicht abzulesen ist.4 Es geht im Folgenden nicht so sehr darum, konkrete Lektürespuren der Barthes’schen Theorien in Handkes Texten zu entdecken,5 vielmehr sollen zeitgenössische Problematiken aufgezeigt werden, die sich durch das neue Kultur-Verständnis ergaben und in erster Linie als Krise der (künstlerischen) Repräsentation wahrgenommen und verhandelt wurden. Handke ‚liest‘ die Kultur seiner Zeit als Semiologe. Seine Essays wie seine literarischen Werke der 1960er Jahre stellen mit jeweils unterschiedlichen Mitteln dar, dass Bedeutungen von kontingenten symbolischen Ordnungen abhängig sind. Nach seinem vom Nouveau Roman beeinflussten Debütroman Die Hornissen
3
Roland Barthes, Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 1964. In Barthes’ Konzept des Mythos überkreuzt sich „eine marxistische Ideologiekritik mit einer strukturalistischen Sprachtheorie“ (Dirk Quadflieg, „Roland Barthes: Mythologe der Massenkultur und Argonaut der Semiologie“, in: Stephan Moebius/Ders. (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 2. erw. u. akt. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 21–33, hier S. 23).
4
Peter Handke, „‚Bücherecke‘ vom 11.10.1965“, in: ders., Tage und Werke. Begleitschreiben, Berlin 2015, S. 240–248. Zu Handke und Barthes vgl. Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß, Wien 1984, S. 88ff. und passim.
5
Das wäre im Übrigen nicht möglich, da Sacramento der Datierung in einem KorrekturTyposkript zufolge am 4./5. Jänner 1964 entstand und damit bevor Handke die Mythen des Alltags gelesen haben konnte. (Peter Handke, Begrüßung des Aufsichtsrats, Typoskript. Literaturarchiv Salzburg – Forschungszentrum von Universität, Land und Stadt Salzburg (LAS), Archiv Residenz Verlag, ohne Signatur).
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(1966) verlegte sich Handke neben der Arbeit an Theaterstücken für einige Zeit ganz auf die Entlarvung ‚falscher Natürlichkeiten‘. Keine neuen Fiktionen sollten geschaffen werden, die auf bestehende Bedeutungen zurückgreifen, vielmehr seien die Regeln offenzulegen, nach denen vorhandene Zeichenstrukturen funktionieren. Dem ‚geschichtlichen‘ Charakter kultureller Bedeutungszusammenhänge sei mit einer neuen Ästhetik zu begegnen, so Handke in einer Kritik zum Berliner Theatertreffen 1969, die „mit so etwas wie Kunst gar nichts mehr zu tun“6 hat und dazu befähigen soll, die Künstlichkeit alles Gesellschaftlich-‚Natürlichen‘ zu erkennen: „Die Zuschauer müßten lernen, Natur als Dramaturgie zu durchschauen, als Dramaturgie des herrschenden Systems, nicht nur im Theater, auch sonst. Aber im Theater sollten sie […] mit dem fremden Blick anfangen.“7 Die Beschäftigung mit Ästhetik sei wichtiger denn je: „Nur die Ästhetik kann den Wahrnehmungsapparat so genau machen, daß die Natur in dieser Gesellschaft als gemacht, als manipuliert erkennbar wird, nur eine neue Ästhetik kann auch Beweise und Argumente liefern.“8 Handke zeigt auf, wie in der künstlerischen Praxis soziale Ungleichheiten und Machtgefüge bestätigt werden. Das Theater ist für ihn der Ort, an dem für den Zuschauer klar werden müsste, wie sehr eine Dramaturgie, die so was als natürlich ausgibt, nur die in der Wirklichkeit herrschende Dramaturgie nachzieht. Wie ist ein Arbeiter auf einer Gesellschaft von feinen Leuten angezogen? Er hat einen zu engen Anzug mit zu kurzer Jacke und klobige Schuhe. Was macht ein Dichter bei einer Dichterlesung? Er tätschelt sich ab und zu vorsichtig auf dem Hinterkopf. Was macht eine burschikose Frau aus dem Volk? Sie steht breitbeinig da.9
Neben dem Theater bot sich die Literatur an, um zu erforschen, wie sich Bedeutungen stabilisieren bzw. wie sie transportiert werden. Handkes Realismus-Kritik der 1960er Jahre spiegelt seine Skepsis gegenüber einem literarischen Erzählen
6
Peter Handke, „Beobachtungen bei den Aufführungen des Berliner Theatertreffens“, in: ders., Bewohner des Elfenbeinturms, S. 88–101, hier S. 100. Der Essay erschien zuerst unter dem Titel „Natur ist Dramaturgie. Beobachtungen bei den Aufführungen des Berliner Theatertreffens“, in: Die Zeit, 30. Mai 1969, der die theoretische Nähe zu Barthes’ Konzept des Mythos aufruft.
7
Ebd., S. 99 (Herv. i.O.).
8
Ebd.
9
Ebd.
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wider, das auf das Einverständnis des Lesers zählt, indem es auf bekannte Bedeutungsschemata zurückgreift, um Erfahrungen zu modellieren und zu vermitteln.10 Auch im Bereich des Kinos richtet sich Handkes Kritik gegen den bewussten oder unbewussten Einsatz von konventionellen Verfahren der Darstellung, die dem Publikum vertraut sind. Durch „das vielfältige Zeigen von Bildern“ sei der Film, der lange vorgegeben habe, anders als die Literatur nicht beschreiben zu müssen, sondern einfach Bilder zeigen zu können, mit der Zeit zu einer „Ordnung von Bildern gelangt“, die man als „Filmsyntax“ bezeichnen könne.11 Sichtbar werde diese genormte „Filmsyntax“ vor allem in Genre-Filmen, in „Kriminalfilmen, Agentenfilmen, Western, Horrofilmen und so weiter“12 – in Filmen also, die nach bestimmten Regeln funktionieren. Das ist aus Handkes Sicht insofern unproblematisch, als diese Filme gar nicht erst versuchten, einer existierenden Wirklichkeit zu gleichen. Genre-Filme sind als künstliche Gebilde, als Bündel konventioneller Erzählregeln, gesellschaftlich anerkannt. Nun zeige sich aber, und das ist der Punkt, um den es Handke geht, „daß auch die sogenannten unbefangenen Filme (man nennt sie wohl Problemfilme oder gar künstlerische Filme), die gerade unbefangene Bilder zu zeigen vorgeben, die also vorgeben, nicht zu beschreiben, keine Normsprache zu haben, ziemlich schlimm in sterilen Einstellungen, die sie mechanisch wiederholen, befangen sind“.13 Handkes Kritik richtet sich gegen Regisseure, die seiner Ansicht nach in ihren Filmen „übliche Verfilmungsweisen von Welt als wahre Bilder der Welt selber ausgeben“.14 Warum aber nimmt Handke ausgerechnet Genre-Filme aus dieser Kritik aus, die doch eigentlich als Inbegriff der ideologisch fragwürdigen kulturindustriellen Produkte gelten können? Seine bis heute andauernde Vorliebe für den Western teilte Handke mit dem Freund Wim Wenders, der in seiner Rezension „Vom Traum zum Trauma. Der fürchterliche Western Spiel mir das Lied vom Tod“ (1969) den Italowestern als Tod eines Genres verwarf:
10 Vgl. dazu z.B. Peter Handke, „Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit“ [1968], in: ders., Bewohner des Elfenbeinturms, S. 203–207, oder ders., „Bei Abschied Regen. Peter Handke über den Sammelband ‚Wochenende‘“, in: Der Spiegel, 12. Juni 1967. 11 Peter Handke, „Theater und Film: Das Elend des Vergleichens“ [1969], in: ders., Bewohner des Elfenbeinturms, S. 65–77, hier S. 69. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 70 (Herv. i.O.). 14 Peter Handke, „Ein verzweifelter Film. Peter Handke über Klaus Lemkes ‚48 Stunden bis Acapulco‘“, in: film 6 (1968), H. 2, S. 10.
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Ich mag keine Western mehr sehen. Dieser hier ist der letztmögliche, das Ende eines Metiers. Dieser ist tödlich. Kracauer hat vom Film als „Errettung der physischen Realität“ gesprochen und damit die Zärtlichkeit gemeint, die der Film der Realität gegenüber aufbringen kann. Viele Western haben diese Zärtlichkeit in einer traumhaft schönen und ruhigen Weise spüren lassen. Sie haben sich selbst geachtet: ihre Figuren, ihre Geschichten, ihre Landschaften, ihre Regeln, ihre Freiheiten, ihre Wunschträume. In ihren Bildern haben sie eine Oberfläche ausgebreitet, die nie mehr war als das, was man ihr ansehen konnte. […] Der Film von Leone ist sich selbst völlig gleichgültig.15
In einem Gespräch über den Western, das er 1967 mit den Studenten Klaus Ramm und Dierk Rodewald führte, äußerte auch Handke Kritik an den italienischen Western, in denen die Bild-Schemata des Genres einfach automatisch reproduziert würden, ohne dass eine produktive Auseinandersetzung damit stattfinde.16 Es wird sich zeigen, dass die Leidenschaft für den Western bei Handke wie bei Wenders aus dessen ‚Klassizität‘ resultiert, die wiederum eine Stabilität bzw. Kontinuität der Gattung voraussetzt; der Italowestern als Sub-Genre, das seine gattungstypologischen Konturen aus der Ironisierung und Persiflage der ‚Metagattung‘ erzielt, ist inakzeptabel, insofern er das wirklichkeitskonstituierende Potential zugunsten eines ‚unernsten Spiels‘ verabschiedet. Eine Analyse des 1964 entstandenen Kinofeuilletons „Sacramento (Eine Wildwestgeschichte“ wird im Folgenden zum Ausgangspunkt, um Handkes Vorliebe für den Western näher zu untersuchen. Angesprochen auf diesen Text, der 1967 im Kurzprosaband Begrüßung des Aufsichtsrats erschien,17 erklärte Handke, er habe darin lediglich versucht, die Intensität der Bilder in Literatur zu übertragen, ohne sich der medialen Differenzqualitäten bewusst zu sein.18 Selbst wenn es
15 Wim Wenders, „Vom Traum zum Trauma. Der fürchterliche Western ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘“ [1969], wiederabgedruckt in: Wim Wenders, Emotion Pictures. Essays und Filmkritiken, Frankfurt am Main 1986, S. 38f., hier S. 38. 16 Klaus Ramm/Dierk Rodewald, „Der Western. Journaille Interview. Peter Handke im Gespräch mit Klaus Ramm und Dierk Rodewald am 9.11.1967“, in: Journaille. Neue Würzburger Studentenzeitung 6 (1968), S. 21–24, hier S. 21. Für seine Hilfe bei der Beschaffung des gedruckten Gesprächs sei Klaus Ramm ganz herzlich gedankt. 17 Peter Handke, „Sacramento (Eine Wildwestgeschichte)“, in: ders., Begrüßung des Aufsichtsrats. Prosatexte, Salzburg 1967, S. 84–92. 18 „Das habe ich vor vier Jahren nacherzählt, und ich war mir noch nicht im klaren darüber, daß Bilder im Film viel genauer sind und auch viel effektiver. Ich versuchte einfach, weil die Bilder mich so beeindruckt haben, sie zu beschreiben, habe aber nicht
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sich tatsächlich so verhalten sollte, der Text also letztlich mehr wüsste als sein Autor, ist bemerkenswert, welche Verbindungslinien sich hier ziehen lassen zwischen dem Problembewusstsein, das Handkes „Wildwestgeschichte“ abzulesen ist, und zeitgenössischer Theorie; im Spannungsfeld der Überführung von Strukturmerkmalen der Filmerzählung in Literatur entsteht eine Art narratologisches Reflexionstableau, das auf die Aktivierung der Rezipienten setzt und damit der im Klappentext von Begrüßung des Aufsichtsrats skizzierten Poetik der Wissensvermittlung entspricht: In den kurzen Texten dieses Bandes spielt der Autor nicht den Erzähler, der Begebenheiten in der Absicht schildert, sie den Leser nachempfinden zu lassen, sondern wird zum Interpreten von Verfahren. Ihre Variabilität und das System ihrer Anspielungen sollen nicht zur Identifizierung zwingen, sondern zum Mitspielen, Mitkombinieren – und Mitlesen auffordern.
Der Autor lädt dazu ein, einen ‚praktischen Lektüre-Sinn‘ zu objektivieren und unbewusst-konsumierende Routinen der Rezeption zu durchbrechen, um stattdessen die Leserin zur individuellen Produzentin des gelesenen Textes werden zu lassen. Eine solche produktive Lektüre der „Wildwestgeschichte“, die selbst auf einer Lektüre beruht – auf jener des Western Ride the High Country (Sam Peckinpah, 1962; deutscher Titel: Sacramento) –, soll im Folgenden unternommen werden, um in einem weiteren Schritt Handkes Western-Begeisterung näher zu untersuchen und abschließend seine Beschäftigung mit dem Western im Kontext zeitgenössischer Positionen zu verorten.
In seinem acht Druckseiten langen Text Sacramento bearbeitet Handke den Western Ride the High Country (1962), die zweite Arbeit des US-amerikanischen Regisseurs Sam Peckinpah (1925–1984). Handkes genaue Detailkenntnis lässt darauf schließen, dass er das Werk viele Male gesehen hat. Noch 1969 sah er diesen „unendlich schönen, ruhigen und traurigen Film, in dem man aufatmen und schauen konnte“, im Kino und schätzte ihn überaus.19
einkalkuliert, daß Sprache, auch wenn sie das gleiche beschreibt, gar nicht dieselbe Evokation haben kann.“ (Ramm/Rodewald, „Der Western“, S. 24). 19 Peter Handke, „Dummheit und Unendlichkeit“ [1969], in: ders., Bewohner des Elfenbeinturms, S. 153–157, hier S. 156.
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Peckinpahs Spätwestern erzählt die Geschichte des gealterten Cowboys Steve Judd (Joel McCrea), der sich als anachronistische Figur im ‚neuen‘ Wilden Westen nur schwer zurechtfindet. Er nimmt den Auftrag an, einen Goldtransport aus einem Camp in den Bergen durchzuführen. Als Begleiter wählt er seinen alten Freund Gil Westrum (Randolph Scott), der seinen Lebensunterhalt mit Performances als Revolverheld verdient, sowie dessen jungen Compagnon. Auf einer Farm – die drei Männer übernachten dort auf ihrem Weg ins Goldgräberlager in der Scheune – treffen sie auf Elsa Knudsen (Mariette Hartley), die Tochter des Farmers. Am nächsten Tag reitet sie den drei Männern nach, um sich ihnen auf ihrer Reise zum Goldgräberlager anzuschließen, wo sie einen flüchtigen Bekannten heiraten möchte, um von ihrem streng-religiösen Vater loszukommen. Der zukünftige Ehemann Billy Hammond erweist sich als gewalttätig, sodass Elsa nach der Trauung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Lager mit den drei Männern wieder verlässt. Der Ehemann verfolgt die Gruppe gemeinsam mit seinen vier Brüdern. Ein weiterer Handlungsstrang, den Handke in seiner literarischen Bearbeitung ausspart, betrifft das Verhältnis der beiden alten Cowboys: Westrum plant von vornherein, das Gold nicht bei der Bank abzuliefern, sondern zu stehlen. Der junge Mann ist in seinen Plan eingeweiht, und Westrum beabsichtigt, Judd im Verlauf des Transports als Komplizen zu gewinnen, was dieser jedoch brüsk ablehnt. Die Entzweiung der Männer ist auch der Grund dafür, dass Westrum erst zur Farm von Elsas Vater kommt, als der Showdown bereits begonnen hat und die beiden anderen Männer verwundet sind. Schließlich versöhnen sich Westrum und Judd während der Schießerei auf der Farm und duellieren sich gemeinsam mit den übrigen Hammond-Brüdern (zwei starben zuvor bei einer Schießerei in den Bergen), die dabei getötet werden. Auch Judd wird erneut verwundet; Westrum verspricht dem sterbenden Freund, das Gold wie geplant abzuliefern. Mit dem namenlosen Neffen von Elsas Vater führt Handke in Sacramento eine neue Figur ein und wertet einen Nebenschauplatz der im Film dargestellten Handlung auf. Elsas Cousin wird als Ich-Erzähler in der Diegese an einem Ort fixiert und damit handlungsunfähig gemacht (er kann Bibelverse nicht rezitieren, woraufhin der Onkel ihn zur Strafe an einen Pflock hinter dem Maisfeld bindet). Dieser Erzähler beschreibt Handlungsabfolgen, die er aufgrund seiner Position in der Geschichte nicht miterlebt haben kann; darüber hinaus gibt er Szenen wieder, die im Film nicht gezeigt werden, sondern als Leerstellen enthalten sind. Der Ich-Erzähler vereint somit zwei Dimensionen in sich: Er ist als (handlungsunfähige) Figur, die autodiegetisch erzählt wird, Teil der Handlung, die sie erlebt, und zugleich Erzählinstanz, d.h. erzählendes Ich, das sich an diese Erlebnisse erinnert. In Handkes Text kommt es nun zur Dezentrierung dieses erzählenden Ich, das seine Wahr-
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nehmungen aus der Erinnerung schildert. Jenes Ich, das sich hier neben dem Protagonisten-Erzähler bemerkbar macht – etwa wenn es in der Beschreibung des Kampfes in den Bergen unvermittelt heißt: „[I]ch sah, daß es ein Karabiner war“20 – ist der Kino-Zuschauer. Die Erinnerungen des Ich-Erzähler-Neffen und die Erinnerungen des Kino-Zuschauers verschränken sich wiederum in einem neuralgischen Punkt, der außerhalb des Kinos liegt: in Handke als Autor, der sich an sein Kino-Rezeptionserlebnis erinnert und sich die im Film nicht gezeigten Szenen aus der Perspektive der Figur des Neffen ausdenkt.21 Das Prinzip der verschwimmenden Grenzen zwischen Autor, Erzählinstanz und Figur wendet Handke auch in Die Hornissen an, wie aus dem Klappentext der Erstausgabe hervorgeht.22 Damit ist implizit der problematisch gewordene Status
20 Handke, „Sacramento“, S. 89. 21 Die Ko-Präsenz des „Zuschauer-Ich“ und des „Autor-Ich“ wird im Text zunächst nur angedeutet, etwa wenn es heißt: „Wie lange habe ich geschlafen, dachte ich vielleicht, während ich auf die gestreckten Arme auf dem Buch schaute.“ (Ebd., S. 84, Herv. A.E.) Erst gegen Ende der Erzählung wird sie konkreter. Dies entspricht auch der Erzählanlage – die Handlung des Films kehrt zurück zum Nebenschauplatz der Farm (die nun zum Hauptschauplatz wird). In einer früheren Korrekturstufe des Typoskripts streicht Handke den folgenden Satz, der im Zusammenhang mit dem Showdown steht: „Etwas trieb die Augen auseinander und lähmte sie“ (Handke, Begrüßung des Aufsichtsrats, Typoskript LAS). Schließlich heißt es: „Die Musik schwoll an. Als jedoch die Schüsse gefallen waren, brach sie jäh ab. Ich hörte sie erst wieder, nachdem mit gesenktem Haupt der andere alte Mann hinter dem Mais hervorgekommen war.“ (Handke, „Sacramento“, S. 92) Dieser Einschub mit einer (übertriebenen) Beschreibung der physischen Reaktion beim Zuschauer im Moment der größten Spannung muss Handke dann doch zu plakativ erschienen sein. 22 „Die ‚Hornissen‘ sind der erste Roman eines jungen, 1942 in Kärnten geborenen Autors. Sie sind der Versuch, die Entstehung eines Romans zu beschreiben. Ein Mann hat vor Jahren ein Buch gelesen; oder er hat das Buch nicht einmal gelesen, sondern es ist ihm nur von anderer Seite von dem Buche erzählt worden. Nun aber, eines Tages in einem Sommer, wird er, vielleicht durch eine Übereinstimmung dessen, was ihm selber zustößt, mit dem, was dem blinden Helden des Romans zugestoßen ist, eben an jenes verschollene Buch gemahnt, von dem er meint, es vorzeiten gelesen zu haben. Aus den zerbrochenen Stücken, an die er sich zu erinnern glaubt, aus Worten, aus Sätzen, aus halb verlorenen Bildern, denkt der Mann den Roman aus, und zwar derart, daß unentscheidbar bleibt, ob das Geschehen in dem „neuen“ Roman nur den Helden des alten Romans betrifft, oder auch ihn, der ihn ausdenkt. Dieser neue Roman sind ‚Die Hornissen‘“ (Peter Handke, Die Hornissen, Frankfurt am Main 1966, Klappentext).
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des Schreibenden als kultureller Praktiker thematisiert, der, indem er das Bedeutungsgewebe einer Erzählung spinnt, auf ein System bestehender Bedeutungen zurückgreift und sich darin einschreibt. Ein schreibendes Ich geht von der eigenen Erfahrung, dem eigenen Wissen von der Welt und eigenen Wahrnehmungen aus; es denkt sich eine Geschichte aus, installiert eine Erzählinstanz, die diese Geschichte vermittelt und die eine fiktive Figur ‚spricht‘.23 Dieser Figur werden Erfahrungen und Wissen unterstellt, der Erzähler (der letztlich immer auf ein individuelles schreibendes Ich zurückgeht) lässt sie auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmen, die als ‚wahrscheinlich‘ gelten kann und ein ‚allgemeines Wissen‘ adressiert. Im Akt des Erzählens wird also „eine Sache“, die nur das schreibende Ich betrifft, „zu einer allen gemeinen [ge]macht“.24 Handkes Texte reflektieren diese Problematik, indem sie Erzählen als Praxis des Bedeutens ausstellen. An zahlreichen Stellen in den Hornissen wird das grundlegende Problem des Verhältnisses zwischen dem Besonderen der subjektiven Erfahrung, dem, was positiv gewendet „allen gemein“ sein könnte, und dem als problematisch erkannten ‚Allgemeinen‘ herrschender kultureller Bedeutungszusammenhänge verhandelt. Die Unhintergehbarkeit einer gemeinsamen Erfahrungsdimension war Handke von Anfang an bewusst: „Was nur ihn angeht, denkt er bei sich, […] ist ihm gleich; wovon er reden möchte, ist etwas, von dem er dafür hält, daß es für eine Mehrzahl bestimmt ist.“25 Gleichzeitig weiß er, wie problematisch künstlerische Verfahren sind, die ein Besonderes auf ein vorausgesetztes ‚Allgemeines‘ hin darstellen, die also ausgehend von der eigenen Erfahrung ‚automatisch‘ auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont schließen. Die Frage, welches „Allgemeine“ es ist oder sein könnte, auf das eine Darstellung abhebt, wird als Problem ein wesentliches künstlerisches Movens in Handkes Werk bleiben. Sowohl in den Hornissen als auch in Sacramento ist die Wahrnehmung der Zentralfigur als deviant markiert – Gregor Benedikt, der Protagonist in Die Hornissen, ist blind, der Neffe in Sacramento erscheint als ‚Idiot‘ in der Tradition von
23 In Die Hornissen changiert die Erzählhaltung zwischen 1. und 3. Person Singular. Vgl. Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto/Buffalo/London 32009, S. 21, die darauf hinweist, dass die Unterscheidung zwischen Ich-Erzähler und personalem Erzähler aus ideologiekritischer Perspektive kein adäquates Kriterium ist – beide Erzählhaltungen seien letztlich „Ich-Erzählungen“. 24 Handke, Die Hornissen, S. 228f. 25 Ebd., S. 241.
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Faulkners Benjy.26 Die idiosynkratische Wahrnehmung des Ich-Erzählers wird gleich zu Beginn der Erzählung eingeführt: Eines schönen Tages erwachte ich in meiner Kammer auf dem Fußboden; die Hände waren verkrallt in das Hundefell. Die Gegenstände waren mir noch unverständlich. Ich setzte mich auf, bohrte die Zeigefinger in die Ohren und bohrte darin. Die Ohren rauschten. Ich drückte die Augen heftig zusammen und schaute wieder hinaus auf die Sonne: sie sprang am Himmel auf und nieder.27
Die Wahrnehmungen des Ich-Erzählers stehen quer zur habitualisierten GenreLogik. Mit dieser Perspektive bringt Handke ein Element in die generische Erzählung des Western ein, dessen Eigensinn in ein Spannungsverhältnis zu den übrigen nacherzählten Elementen der Handlung tritt. Handke implementiert eine Figur in die Erzählung, die zum einen handlungsunfähig ist, zum andern die Geschehnisse so wahrnimmt, als verfüge sie über keinerlei Gattungs-Wissen. Gerade Handlungsroutinen, die auf implizitem Wissen gründen, sind Handke zufolge aber kennzeichnend für Figuren der Genre-Filme, wie aus seinem Text Das Märchen
26 Clemens Özelt, „Unterwegs mit Faulkner, Ford und Van Morrison. Amerikanische Formtranspositionen im Werk Peter Handkes“, in: Georg Gerber/Robert Leucht/Karl Wagner (Hg.), Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft 1945–1989, Göttingen 2012, S. 291–319, hier S. 298, der in seiner Analyse von Handkes Sacramento eine Faulkner’sche „Entdramatisierung“ des Geschehens konstatiert und mit Verweis auf Ute Müller in Faulkners „indirekte[m] Erzählen“ das Modell für Handkes Text ausmacht (Ute Müller, William Faulkner und die Deutsche Nachkriegsliteratur, Würzburg 2005, S. 58ff.). Zur Figur des ‚Idioten‘ bei Handke und der mit ihr assoziierten Wahrnehmungshaltung vgl. Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 196f., der einen Bezug zu Nietzsches Tier in den Unzeitgemäßen Betrachtungen herstellt, das an den „Pflock des Augenblicks“ gebunden sei. 27 Handke, „Sacramento“, S. 84; vgl. auch ebd., S. 85: „[I]ch hatte die Arme auf den Tisch gestützt und betrachtete die Ameise, die in der Stirnfalte meines Onkels emporstieg“; „Während meine Kusine bei den Goldgräbern war, pflegte ich Tag um Tag angepflockt hinter dem Maisfeld im Gras zu stehen, vom Frühstück bis zum Mittagessen; ich hörte meinen Onkel mit der Peitsche knallen, wenn er pflügte auf den Feldern unter dem Haus; der Hahn schrie, der Mais rauschte, es waren schöne Tage.“ (Ebd., S. 86).
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von James Bond (1965) hervorgeht: „Die Abenteuer von James Bond sind spannend, weil er handelt, ohne im Handlungsspiel über sein Tun nachzudenken“.28 Der eigensinnige Blick des Erzähler-Protagonisten wird auch durch die sprachliche Überstrukturierung jener Passagen markiert, in denen Handke Leerstellen des Films füllt: Während dies geschah, stand ich hinter dem Maisfeld am Pflock und ging gemach hin und her; mein Gesicht war gerichtet nach Pasadena, nach Santa Barbara, nach Santa Cruz, nach San Francisco, nach Santa Rosa; zu den Schlehen, zu den wilden Kirschen, zu den Granatapfelbäumen. 29
Der Text inszeniert hier paradigmatische Serialität; vom Fixpunkt Sacramento aus zeichnen die Ortsnamen in einer geographisch nachvollziehbaren Reihenfolge eine Bewegung von Süden nach Westen nach. Dass die Ortsnamen im Western ihrer geographisch-realen Denotation beraubt sind und das Klischee ‚Wilder Westen‘ konnotieren, wird durch die zweite Serie bedeutet: an der ‚Bewegung‘ des „Gesichts“ anhand von Pflanzen, die von der Figur ‚unmittelbar‘ wahrgenommen werden, für den Leser des Textes jedoch als ‚Anhaltspunkte‘ nicht greifbar sind. Umgekehrt bleiben die konkret auf der Landkarte auszumachenden Städte in der Figurenwahrnehmung abstrakt. In den zwei Paradigmen – den kartographisch lokalisierbaren Städten und den innerdiegetisch unmittelbar präsenten Pflanzen – wird das Verhältnis Besonderes-Allgemeines in Bezug auf die Figur bzw. den Leser thematisch.
28 Peter Handke, „Das Märchen von James Bond“ [1965], in: protokolle 1973/2, S. 175– 178, hier S. 178. (Der Text erschien gemeinsam mit zwei weiteren unter dem Sammeltitel „Für den Mann von Welt“ mit einer Widmung für Alfred Holzinger). Handke konzentriert sich in seiner „Wildwestgeschichte“ auf strikt formalisierte Praxen der Figuren; sämtliche Elemente, in denen ‚psychologisiert‘ wird, spart er hingegen aus. Peckinpahs Western thematisiert die anachronistische Stellung seiner Figuren am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die gealterten Helden finden sich in der neuen Umgebung nur schwer zurecht. In der Stadtszene zu Beginn des Films findet sich Judd in einer ihn überfordernden Situation der Dynamik und Beschleunigung (Automobile) sowie generell in einer veränderten kulturellen Umgebung wieder. Peckinpah inszeniert zudem die Hysteresis (Bourdieu) der Körper der alt gewordenen Westernhelden, etwa in Judds Handhabung der Brille, ohne die er den Vertrag nicht lesen könnte (was er in Anwesenheit anderer aber zunächst verbirgt). 29 Handke, „Sacramento“, S. 89.
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Erzählungen, die auf konventionelle Verfahren des Plot-Realismus zurückgreifen, lassen den Leser bzw. den Zuschauer souverän über die Erzähldiskurse verfügen und machen ihn zum Besitzer des in der Fiktion zirkulierenden Wissens. Sie erfüllen eine entlastende Funktion: Am Ende erweist sich alles als sinnhaft, alle Einzelheiten fügen sich zu einem schlüssigen Ganzen. Dass dieser Effekt eintritt bzw. mit welchen Mitteln er erzeugt wird, bleibt aufseiten der Rezipienten meist im Unbewussten. Handkes Sacramento macht diesen Effekt sichtbar. Über den räumlich fixierten Ich-Erzähler wird darauf aufmerksam gemacht, wie der Blick des Zuschauers im Film gelenkt wird: Aus der Perspektive der neu geschaffenen Figur wird erzählt, was der Film nicht zeigt. Während die Kamera (und mit ihr der Blick des Zuschauers) Elsa und den Männern ins Goldgräberlager folgt, geht die Handlung auf der Farm von Elsas Vater weiter, allerdings – wenn überhaupt – nur in der Phantasie des Rezipienten. So in der folgenden Szene, die im Film eine Leerstelle bleibt: Gegen Mittag (diese Zeit ist gewiß) schirrte der Onkel die Pferde aus, wusch sich die Hände am Brunnen und rief dann die Hühner herbei. Ich sah sie in einer Reihe mit vorgeschobenen Köpfen aus dem Mais brechen; ich hockte mich hin und starrte zum Wald hinauf; dann stieg mein Onkel aus den Blättern hervor und schritt zum Grabstein hinauf; am Rücken das Hemd war dunkel von Schweiß. Hinter dem Stein lagen schon die (übrigen) Brüder nebeneinander auf dem Bauch; die Gewehre waren auf ihn gerichtet. Er hielt den Kopf schief, fast auf der Schulter, und stapfte müde den Hang empor: der schwarze Hut in seiner Rechten scheuerte an der Hose. Die Brüder waren gedeckt durch die Schlehen und die Schatten der Bäume, so daß sie ihn leicht erschießen konnten, als er dort kniete. Er fiel vornüber; seine Finger tasteten um die Kanten des Steins; sie lösten sich und fielen mit dem Körper zur Erde, usw.30
Auch im Film kommt es hier zu einem Wechsel der Perspektive. Während die Erzählperspektive in Ride the High Country nicht fest an eine bestimmte Figur gebunden ist, wird nun, um die Spannung zu erhöhen, die ‚auktoriale‘ Erzählhaltung suspendiert, um die Wahrnehmung des ahnungslosen Steve Judd mit der des Zuschauers zu synchronisieren: Bevor er mit Elsa und Heck auf die Farm reitet, vergewissert er sich, dass dort keine Gefahr droht. Aus der Ferne sieht er – und mit ihm der Zuschauer – Elsas Vater am Grab seiner Frau knien und beten. Judd gibt also Entwarnung, die drei werden jedoch in einen Hinterhalt der HammondBrüder geraten. Kurz davor, als sie bei der Farm ankommen und die Pferde in die
30 Ebd., S. 89f.
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Koppel führen (samt den Gewehren in den Satteltaschen), sagt Elsa mit Blick auf den Vater am Grab, es sei seltsam, dass er bete, das tue er zwar jeden Tag, jedoch immer nur früh morgens, nie am Nachmittag. Darauf folgt ein Bild von im Wind geplusterten Hühnern, schließlich wird das Gesicht von Elsas totem Vater am Grab kurz eingeblendet, mit offenen Augen und dem Einschussloch in der Stirn.31 Gleich darauf fallen die ersten Schüsse, der junge Mann und Judd werden verwundet und gehen hinter einer Böschung in Deckung. In seinem Text führt Handke die Chronologie wieder ein und ‚verdirbt‘ die Pointe, indem er aus der Sicht des Ich-Erzählers schildert, wie die Hammond-Brüder vor Judd, Heck und Elsa bei der Farm ankommen, den Onkel erschießen und die Leiche am Grab positionieren, um die anderen zu täuschen und in falscher Sicherheit zu wiegen. Judd stirbt, weil er die Zeichen nicht lesen kann, da er die Gebetsgewohnheiten des Farmers nicht kennt. Verhandelt werden hier Routinen und spezifische Alltagspraxen, die individuell, stabil und auf Wiederholung ausgerichtet sind, wodurch Strukturmerkmale der Gattung metafiktional zum Thema werden.32 Die Szene vor dem Showdown, in der der Ich-Erzähler vergeblich versucht, sich aus seiner Lage zu befreien, um die anderen zu warnen, stellt nicht nur Körperlichkeit theatralisch-übertrieben dar (sie erscheint cartoonhaft überzeichnet), hier wird außerdem ein „unbefangenes“ Bild aus dem Film aufgenommen, das nicht beschreibt, sondern zeigt (und dabei dieses Zeigen auch ausstellt): Ich rannte mit dem gespannten Strick im Kreis und trampelte das Gras; der Schwung trieb mich noch einmal um den Pflock und warf mich auf den Rücken. Während ich jedoch still lag und mich mit den Fingern im Gras hielt, spürte ich das Drehen der Erde. Ich rutschte an ihr herab und stemmte mich mit dem Absatz in einen Maulwurfshügel; unter dem Himmel,
31 Vgl. dazu Handke im Gespräch mit Ramm und Rodewald, „Der Western“, S. 24: „Der [vermeintlich betende Vater, A.E.] wird aber plötzlich hineingeschossen, so wie ein Schuß kommt der ins Bild.“ 32 Das Ensemble formalisierter Handlungsabläufe als Konstituens des Western wird bei Handke implizit und explizit verhandelt. Dies geschieht erstens im Hinblick auf Rituale und Konventionen: „Nachdem auch sie das Wort (dies ist so üblich) verschämt gesprochen hatte“ (Handke, „Sacramento“, S. 86) sowie: „Die Eingangstür flog auf (auch dies ist üblich)“ (ebd., S. 87). Zweitens wird die formalisierte Körperrhetorik des Western markiert, indem Verhaltens-Konventionen nur ‚anerzählt‘ werden, gefolgt von „usw.“. Drittens hebt der Text Alltagsroutinen hervor, die auch ein wichtiges Handlungselement des Films darstellen: „Gegen Mittag (diese Zeit wird nur angenommen), holten sie die anderen ein“ (ebd., S. 88) sowie: „Gegen Mittag (diese Zeit ist gewiß) schirrte der Onkel die Pferde aus“ (ebd., S. 89).
100 der jetzt ohne Bewegung war, trieb die Erde dahin. Mein Kopf wurde emporgerissen; ich wurde herumgezerrt und erbrach mich. Als ich aufstand, war die Erde still. Den Kampf hatte ich wieder versäumt.33
Das Bild aus dem Film, auf das Handke hier Bezug nimmt, stammt aus jener Szene, in der Judd, Elsa und der junge Mann auf die Farm reiten, ohne zu ahnen, dass sie in Gefahr sind. Die Kamera schwenkt schräg hinauf in den Himmel, das Bild wird in der Geste des Zeigens augenfällig, es steht aufgrund seiner im Wortsinn schrägen Ästhetik quer zum restlichen Film. Im unteren Teil sieht man aus der ‚Froschperspektive‘ nacheinander die drei Reiter vorübergleiten, die vom Hügel hinunter zur Farm reiten; die oberen zwei Bilddrittel werden vom weiten bewölkten Himmel eingenommen. Warum Handke ausgerechnet dieses Bild faszinierte, soll im Folgenden erläutert werden.
Aus Peter Handkes Anmerkungen zum Western geht hervor, dass ihn vor allem der Traditionszusammenhang der Gattung interessiert. Im Laufe der Zeit habe sich ein Repertoire an Formen herausgebildet, aus dem Regisseure schöpfen, die sich mit ihren Filmen in die Geschichte der Gattung Western einschreiben. Ein Western sei umso besser, so Handke, „je subtiler er sich innerhalb der Bildschemata bewegt“.34 Die Qualität eines Films richtet sich für ihn danach, wie ausgeprägt sein Bewusstsein für die Geschichte der Formen ist. Anthony Mann nennt Handke als jenen Regisseur, der am subtilsten mit Bildern gearbeitet habe. Im Hinblick auf die Bildschemata des Western betont er die schöpferischen Möglichkeiten, die die „Syntax“ des Genres dem einzelnen Regisseur biete: So sind die Schemata des Western aus Handkes Sicht zwar insofern Klischees, als ein Bild, das einmal gefunden worden sei, reproduziert werde für andere Filme; diese Schemata seien aber insofern keine Klischees, „als der Regisseur für das festgesetzte Bild, das Bild-Klischee […], eine andere subtilere Bildmöglichkeit findet, und sich so innerhalb des Schemas nicht im Klischee bewegt“.35 Es komme „sehr, sehr selten vor“, so Handke, aber
33 Ebd., S. 91. 34 Ramm/Rodewald, „Der Western“, S. 21. 35 Ebd.
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das ist eben die Möglichkeit des Western, innerhalb eines festen Bildschemas durch die Bildphantasie des Regisseurs eine Art von Zeichensetzung zu erreichen, wo dann Bilder entstehen, die sich festhaken. Da werden die Bilder einer Außenwelt zugleich die Bilder einer Innenwelt, was also das Äußerste ist, was ein Film überhaupt erreichen kann, wie man es sonst höchstens bei frühen Stummfilmen finden kann, bei Murnau zum Beispiel, oder vielleicht jetzt auch bei Godard.36
Jenes von Handke in Sacramento aufgegriffene Bild, das mit seiner formalen Auffälligkeit in Peckinpahs Ride the High Country zum Zeichen für die Gefahr wird, die aus dem Hinterhalt droht, ist exemplarisch für eine solche subtile Bildmöglichkeit. Auch an anderer Stelle beschreibt Handke ein neu erfundenes Bild-Zeichen, das in Auseinandersetzung mit der Tradition selbst Teil der Tradition der Western-Formen wird: Ich erinnere mich nicht nur oft an die Szene, ich erlebe sie oft: die Szene in Anthony Manns Western „Winchester 73“, in der, während außerhalb des Bildes eine Schießerei mit einigen tödlichen Ausgängen vor sich geht, nur eine leere Kutsche auf der Straße zu sehen ist, mit Pferden davor, die die Kutsche immer wieder ein wenig anrucken, worauf die Kutsche immer wieder ein wenig zurückrollt, und ich erlebe es, während ich die Schüsse knallen und außerhalb des Bildes die Sterbenden aufschreien höre, wie die Türen der Kutsche durch das Anrücken und Zurückrollen immer wieder mit einem kurzen Klatschen aufgehen und zufallen, aufgehen und zufallen, aufgehen und zufallen. Dieses Bild, ohne ‚Tiefe‘, ohne ‚Oberfläche‘ und ohne Symbolik, erlebe ich als Zeichen, als Bildzeichen für Sterben und Tod immer wieder, in der Wirklichkeit, in meiner Wirklichkeit. […] Dieser Film hat nicht die Wirklichkeit wie sie ist gezeigt, aber nach diesem Film hat sich mir viel von der Wirklichkeit so gezeigt, wie der Film war. Die Wirklichkeit hat sich dem Film angepaßt. Und mit jedem Film, in dem ich so ein Bildzeichen finde, wird mir die Wirklichkeit erlebbarer. Sie wird offener; genauer; beziehungsvoller; sie wird jedesmal, wenn man so sagen kann, möglicher.37
Anders als in den sogenannten „Problemfilmen“ gerieten diese Bilder im Western nicht in Gefahr, zu „Bild-Symbolen“ zu werden, so Handke, weil das Bild Teil der völlig artifiziellen Sphäre des Western sei, die keinen Referenzbezug zur Wirklichkeit des Zuschauers aufweise.38 Im „Problemfilm“ dagegen, der eine offene Form habe, seien durch diese Offenheit schon wieder alle Bedeutungen möglich
36 Ebd., S. 22. 37 Peter Handke, „Abgedankte Metaphern, in: film 11/1967, S. 10. 38 Ramm/Rodewald, „Der Western“, S. 21.
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und der Zuschauer „wäre schon wieder auf Geheimnisse angewiesen“.39 Das ist für Handke deshalb problematisch, weil es hier keine Orientierung über ein Wissen von der Geschichte der Formen gibt. Bevor dieser Aspekt näher erläutert wird, soll ein Blick auf den Status des Western um 1968 geworfen werden.
Die Tatsache, dass Handke sein Sacramento-Feuilleton, nachdem es auch in der „Volksausgabe“ (R. Baumgart) von 1969 erschienen war, 1970 Renate Matthaei für den von ihr herausgegebenen Band Grenzverschiebung zur Verfügung stellte, spricht für die Wichtigkeit, die er diesem Text zumaß.40 Der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler hatte 1968 für die Nivellierung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur plädiert und in den Genres Western, Science Fiction und Pornographie die Kerngattungen einer neuen postmodernen Literatur gesehen: „Am geeignetsten ist die Wildwestgeschichte, da sie viele Jahrzehnte ausschließlich in den Rahmen von Groschenblättern, billigen TV-Serien und BFilmen gehörte und rein als Mythos und Unterhaltung aufgenommen wurde, nicht als Literatur.“41 Handkes Affinität zum Western und seine „Wildwestgeschichte“ erschienen in diesem Kontext höchst aktuell. Fiedlers Freiburger Stegreif-Vortrag „Close the Gap – Cross the Border: The Case for Post-Modernism“ löste die sogenannte „Fiedler-Debatte“ aus.42 Fiedlers
39 Ebd. 40 Peter Handke, Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze, Frankfurt am Main 1969, S. 68–74; Peter Handke, „Sacramento (Eine Wildwestgeschichte)“, in: Renate Matthaei (Hg.), Grenzverschiebung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur der 60er Jahre, Köln 1970, S. 181–185. Sie ist außerdem enthalten in: Peter Handke, Der Rand der Wörter. Erzählungen, Gedichte, Stücke, Auswahl u. Nachw. von Heinz F. Schafroth, Stuttgart 1975, S. 13–19. 41 Leslie A. Fiedler, „Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne“ in: Christ & Welt, 13.9.1968, wiederabgedruckt in: Uwe Wittstock (Hg.), Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig 1994, S. 1439, hier S. 22. 42 Fiedler war Gast eines Symposiums zum Thema „Für und wider die zeitgenössische Literatur in Europa und Amerika“, das im Juni 1968 an der Universität Freiburg abgehalten wurde. Die Debatte wurde in der Wochenzeitschrift Christ & Welt ausgetragen. Unter dem Titel „Cross the Border, Close the Gap“, der heute meist zitiert wird, erschien eine geänderte Fassung in: Playboy, Dezember 1969. Am heftigsten angegriffen wurde Fiedler von Martin Walser, der in ihm den Vertreter eines amerikanischen „Neo-
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Einsatz ist als Intervention gegen die herrschende literarische Doxa zu lesen und wandte sich gegen ein Literaturverständnis, das bestrebt war, Literatur als Hochkultur gegen die triviale Massenkultur abzugrenzen. Inbegriff dieses als überholt kritisierten Literaturverständnisses war der angloamerikanische New Criticism. Die Folie, auf der dieser Angriff zu lesen ist, bildete zum einen die Pop-Kultur bzw. die Pop-Avantgarde, die als Kunst für die Masse wahrgenommen wurde, ohne Massenkunst zu sein. Zum anderen reagierte Fiedler auf die Legitimationskrise, in die die Literatur in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre geraten war: Studentische Aktivisten, Happenings, Pop-Kultur und ein sich ausdifferenzierendes subkulturelles Milieu machten der Literatur als (gesellschafts-)kritischer Instanz in einer Art und Weise Konkurrenz, der mit herkömmlichen literarischen Mitteln nicht beizukommen war. Fiedlers Entwurf einer „postmodernen Literatur“ ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu verstehen, die Literatur (und seine eigene Position als Literaturkritiker) unter den geänderten Bedingungen zu adaptieren. Er geht bis ans Äußerste, indem er einerseits bestrebt ist, die Grenzen zwischen Literatur und literarischer Kritik zu nivellieren und damit die eigene Position als professioneller Leser zu nobilitieren, und andererseits für eine ‚Trivialisierung‘ und ‚Mythisierung‘ der Künste eintritt. Was die genannten Gattungen als potentielle Leitgenres einer neuen kulturellen Bewegung prädestinierte, war die Tatsache, dass sie seit jeher Teil der Populärkultur waren bzw. in ihr entstanden sind und als relativ junge Genres im 20. Jahrhundert in gewissem Sinne als ‚nachbürgerlich‘ angesehen werden konnten. Ihre Indienstnahme für eine neue nicht-elitäre Massenkunst bot sich von daher an. In der Freiburger Tagungs-Diskussion geriet Fiedler mit westdeutschen Autoren und Kritikerinnen aneinander, die seine Position vehement ablehnten. Der schwierigste Ort, an dem der Intellektuelle die Massen erreichen könne, sei Fiedler zufolge das Buch.43 Anders als die Literatur in ihrer elitären, hochkulturellen
Eskapismus“ sah. (Vgl. Martin Walser, „Mythen, Milch und Mut“, in: Wittstock (Hg.), Roman oder Leben, S. 58–60; vgl. in diesem Zusammenhang auch ders., „Über die neueste Stimmung im Westen“, in: Kursbuch 20 (1970), S. 119–139, in dem Walser v.a. Handke und Rolf Dieter Brinkmann angreift). 43 Ralf Bentz/Sabine Brtnik/Christoph König/Roman Luckscheiter/Ulrich Ott/Brigitte Raitz (Hg.), Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, 9. Mai bis 30. November 1998 [Katalog], Marbach am Neckar 1998, S. 380–385, hier S. 382. (Abgedruckt ist ein Ausschnitt aus dem Typoskript des Tonbandprotokolls zur Tagungs-Diskussion).
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Spielart habe die Pop-Musik das Potential, avancierte formale Mittel auf eine Art und Weise zu präsentieren, die von den Rezipienten angenommen wird. In dem Moment, in dem sich die Intellektuellen auf die Massen zubewegten, bewege sich erstaunlicherweise die Massenkunst auf die Intellektuellen zu, so Fiedler: „Wenn also der Schriftsteller als populärer Sänger – Bob Dylan – anfängt, beginnt er, mit immer ausgefeilterem Material zu arbeiten, ohne daß er dabei sein Publikum oder sein Konzept verliert. Wie sie sehen, machen die Beatles genau dasselbe.“44 Auf Martin Walsers energische Einwände, die sich mit Blick auf die jüngste deutsche Vergangenheit des Nationalsozialismus vor allem gegen Fiedlers Forderung nach neuen kollektiven Mythen richten, antwortet dieser: Was Sie meines Erachtens nicht verstehen, weil Sie noch immer gewissen Klischees, die es schon seit Jahren nicht mehr zu geben bräuchte, über Funktionsweisen der Massenkultur unterliegen, ist die Tatsache, daß Massenkultur in jeder Gesellschaft subversiv wirkt … Wenn man gesellschaftliche Verhältnisse ändern will, muß man meiner Meinung nach die Träume der Menschen verändern. Und Träume kann man nicht mit der Vernunft verändern, auch wenn sie dabei eine Rolle spielen kann. Die Träume der Menschen verändert man, indem man ihr Unterbewußtsein berührt und ihnen radikale Antworten anbietet. Und genau das ist eine mythische Erfahrung – wenn ihnen das Wort nicht gefällt, verwenden Sie ein anderes.45
Walsers Entgegnung, Literatur sollte entmythologisierend wirken, anstatt neue Mythen zu schaffen, lässt Fiedler nicht gelten: „Nein, niemand kann leben, ohne ein paar Träume zu haben. […] Ich denke, wir haben hier wieder ein grundlegendes Mißverständnis vorliegen… für Sie bedeutet Mythos Lüge, für mich bedeutet es einen gemeinsamen Traum.“46 Aus Gründen, die nachvollziehbar sind, ist die Position des amerikanischen Intellektuellen für die westdeutschen Schriftsteller und Kritiker nicht akzeptabel.47
44 Ebd. 45 Ebd., S. 383. 46 Ebd. 47 Vgl. Hilde Domin: „Es ist für mich sehr interessant, einen Amerikaner hier sprechen zu hören, der die Entwicklung in Deutschland nicht mitbekommen hat. Ich möchte sagen, nur wir, die wir immer noch mit dem Phänomen des Nationalsozialismus zu ringen haben, können überhaupt begreifen, wie gefährlich das ist, was Sie hier vortragen.“ (Bentz u.a., Protest!, S. 383f.). Fiedler hatte jüdische Wurzeln, seine Familie war vom Holocaust betroffen.
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Wolfgang Ignée, Feuilletonredakteur bei der Wochenzeitschrift Christ und Welt und Initiator der „Fiedler-Debatte“, bat auch Handke um einen Beitrag. In seinem Antwort-Brief vom 13. Oktober 1968 schreibt Handke, er könne sich zu „einer Stellungnahme nicht überwinden“.48 Die Probleme der Literatur, von denen Fiedler spreche, seien ihm bekannt, so Handke, „in der Art, in der Mr. Fiedler von ihnen spricht, erscheinen sie mir doch wieder fremd“.49 Er begründet seinen Verzicht auf eine Stellungnahme damit, dass Fiedlers Sprache zu wenig selbstreflexiv sei und von vornherein auf das Einverständnis des Lesers setze.50 Bei allen Vorbehalten gegen seine Ausdrucksweise seien Fiedlers Argumente jedoch „wohl vielen aus dem Herzen gesprochen, vielleicht auch mir“.51 Handkes Skepsis gegenüber Fiedlers Position dürfte daher rühren, dass sich sein Zugang zum Western wie zur Literatur generell in wesentlichen Punkten von Fiedlers Sichtweise unterscheidet, in der das Individuell-Besondere in einer kollektiven mythischen Erfahrung aufgeht. Seine Betonung des irrationalen Moments und der transitorischen Qualität der Erfahrung von Teilhabe lässt sich als Antwort lesen auf die Unmöglichkeit, eine bewusste gemeinsame Erfahrung zu explizieren.52 Um Handkes Position demgegenüber klarer konturieren zu können, sei auf einen zeitgenössischen Theoretiker verwiesen, der aus marxistischer Sicht ein
48 Peter Handke an Wolfgang Ignée, Brief vom 13. Oktober 1968, abgedruckt in: Bentz u.a., Protest!, S. 420–423, hier S. 420. Fiedler war Handke bereits bekannt – er war 1966 im Rahmen der Tagung der Gruppe 47 in Princeton Teilnehmer an einer Diskussion zum Thema „Der Schriftsteller in der Wohlstandsgesellschaft“. Ohne Fiedler zu erwähnen, leitet Handke seinen Aufsatz „Die Literatur ist romantisch“ mit einem Hinweis auf die Diskussion ein, an der auch Peter Weiss teilgenommen hatte. 49 Ebd. 50 „So gesehen, sind Mr. Fiedlers Sätze, seine Kritik, seine Literatur, wenn nicht schlecht, so doch sicher nicht ganz auf der Höhe dessen, was sie proklamieren.“ (Ebd., S. 423). 51 Ebd. 52 Vgl. Fiedler, „Überquert die Grenze, schließt den Graben“, S. 16 (Herv. i.O.): „Eine neue Literaturkritik wird selbstverständlich nicht in erster Linie befaßt sein mit Fragen der Struktur, Diktion oder Syntax; diese setzen ja voraus, daß das Kunstwerk ‚wirklich‘ existiert auf der Seite Papier und nicht in der Aneignung und dem Verständnis des Lesers. Nicht Wörter auf dem Papier, sondern Wörter im Leben, oder besser, Wörter im Kopf, in der intimen Verknüpfung von tausend Zusammenhängen – sozialen, psychologischen, historischen, biographischen, geographischen – im Bewußtsein des Lesers (für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick durch die ekstasis des Lesens aus all jenen Zusammenhängen gelöst): Sie werden der Gegenstand zukünftiger Kritiker sein.“
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Problem behandelt, das Überschneidungen mit der Thematik aufweist, die Fiedlers Einsatz zugrunde liegt, der jedoch zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen kommt.
1958 erschien die Studie Culture and Society des walisischen Kultur- und Literaturwissenschaftlers Raymond Williams. Er unternimmt darin eine Rekonstruktion der Begriffsgeschichte des Wortes „Kultur“ und deutet die Kulturidee als „a general reaction to a general and major change in the conditions of our common life“53 zwischen 1780 und 1950. Für den hier zu entwickelnden Zusammenhang ist vor allem das letzte Kapitel des Buches von Interesse, in dem Williams versucht, die Ergebnisse seiner Untersuchung für eine Analyse seiner Gegenwart als einer Übergangsgesellschaft fruchtbar zu machen. Er analysiert Funktionsweisen der zeitgenössischen Massenmedien und hinterfragt das herrschende pejorative Verständnis von „Masse“ als anonymem Mob. Er pocht darauf, den individuellen Erfahrungsreichtum Einzelner anzuerkennen und in der Vermittlung von Kultur zu berücksichtigen, ohne das bürgerliche kulturelle Erbe zu verwerfen, schließlich sei „any real theory of communication […] a theory of community“.54 Als einer der wichtigsten Denker der New Left, der mit seiner Konzeption von „Kultur“ als „a whole way of life“ die britischen Cultural Studies mitbegründete, entwirft Williams die konkrete Utopie einer „common culture“, die nicht in den irrationalen Erfahrungsbereich verlegt wird, sondern um Fragen der Ethik, der Wissensvermittlung, des Lernens, der Bildung und um Möglichkeiten der individuellen Entfaltung kreist: We lack a genuinely common experience, save in certain rare and dangerous moments of crisis. What we are paying for this lack, in every kind of currency, is now sufficiently evident. We need a common culture, not for the sake of an abstraction, but because we shall not survive without it.55
1961 führt Williams seine Überlegungen im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft in The Long Revolution fort. Die Künste definiert er als
53 Raymond Williams, Culture and Society 17801950, New York 1960, S. 314. 54 Ebd., S. 332. 55 Ebd., S. 336.
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„certain intense forms of general communication“.56 Produzenten wie Rezipienten sieht er als Teile desselben einmal erlernten Kommunikationssystems, sowohl Künstler als auch Leser/Betrachter/Hörer sind kommunikativ Handelnde. Unter Kommunikation versteht Williams „the process of making unique experience into common experience“.57 Künstler hätten mit anderen Menschen die „kreative Imagination“ gemeinsam: „that is to say, the capacity to find and organize new descriptions of experience.“58 Die menschliche Gemeinschaft entwickle und organisiere sich über die Entdeckung gemeinsamer Bedeutung und gemeinsamer Kommunikationsmittel: The individual creative description is part of the general process which creates conventions and institutions, through which the meanings are shared and made active. This is the true significance of our modern definition of culture, which insists on this community of process.59
So präsent die Kategorie des „Allgemeinen“ bei Williams ist, so sehr tritt sie bei Fiedler zugunsten einer individualistischen Position zurück, die jeden Anspruch auf das Exemplarische verabschiedet. Den historisch gewachsenen ‚allgemeinen‘ Institutionen und Konventionen einer überkommenen Moderne erteilt er eine Absage zugunsten einer neuen postmodernen Kultur des Traums und der Ekstase, die auf das transitorische Erleben ästhetischer Intensitäten aus ist. Williams dagegen plädiert für eine „gemeinsame Kultur“ jenseits der Grenze zwischen „bourgeois culture“ und „working class culture“, die sich in Auseinandersetzung mit der gemeinsamen kulturellen Tradition entwickeln solle, die Williams zufolge nie nur als Produkt einer einzigen Klasse angesehen werden kann.60 Handke betont im Zusammenhang mit dem Western gerade die Überzeitlichkeit von Formen und den Zusammenhang ihrer Überlieferung, die einen gemeinsamen Erfahrungsraum und geteiltes Bedeutungswissen voraussetzen. Wenn dem künstlerischen Impuls mit Raymond Williams wie jedem anderen menschlichen Kommunikationsimpuls eine als bedeutend empfundene Erfahrung zugrunde liegt, die auf ein Erkennen seitens des Lesers zielt und bei diesem im Idealfall eine Veränderung in Gang setzt, dann kristallisiert sich in Handkes Western-Ästhetik modellhaft-abstrakt jene Interdependenz von community und communication, die
56 Raymond Williams, The Long Revolution, Harmondsworth 1965, S. 41. 57 Ebd., S. 55. 58 Ebd., S. 42. 59 Ebd., S. 55. 60 Williams, Culture and Society, S. 339.
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Williams als wesentlichstes Kriterium des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft definiert.61 Ein Künstler (der Regisseur) findet ein neues Bild als Ausdruck einer spezifischen Erfahrung – hier des Sterbens und des Todes; dieses Bild geht in den kulturellen Traditionszusammenhang ein und wird somit zum Zeichen, indem es von einem Rezipienten (Handke) aufgegriffen und als Ausdruck dieser Erfahrung anerkannt wird. Darüber hinaus hat dieses Zeichen das Potential, individuelle Erfahrungen des Zuschauers außerhalb des Kinosaals zu prägen. Handke verweist immer wieder auf die ästhetische Autonomie des Western, die zur Voraussetzung für die mögliche Anerkennung einer Form von gemeinsamer Erfahrung gemacht wird. In Anbetracht seines Wissens um die Kontingenz von Bedeutungen wäre das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft hier anders nicht denkbar. Das Formbewusstsein, das er dem Western attestiert, sowie die Vertrautheit der Western-Regisseure mit der Geschichte der Gattung zeichnet den Genre-Film gegenüber sogenannten „Problemfilmen“ aus, an denen Handke ja gerade ihr Anspruch auf Realismus stört. Angesichts der Mythen des Alltags in der Werbung und in der Populärkultur, die aus ideologiekritischer Perspektive dafür kritisiert werden, ihre Geschichtlichkeit zu verschleiern, fordert Handke von Künstlern, dass sie wissen, in welche formale Tradition sie sich einschreiben und eingedenk ihrer ideologischen Verantwortung auf der Autonomie ihrer Kunst bestehen. In dieser autonomen Sphäre wird ein ‚kommunikativer Prozess‘ zwischen Produzent und Rezipient möglich, der auf der gemeinsamen Orientierung über ein Wissen von der Geschichte der Formen beruht. Gegen Ende der 1960er Jahre war die Subversionskraft der Pop-Kultur erschöpft, die von einer jungen Generation – jedenfalls für kurze Zeit – als neue „common culture“ wahrgenommen werden konnte. Die Frage, wie man leben soll,62 die das Pop-Lebensgefühl beantwortet zu haben schien, musste neu gestellt werden. Handke wird nach einer Antwort fortan in der Literatur suchen. Ins Ästhetische verlagert, ist die Thematik einer gemeinsamen Erfahrungsdimension Handkes poetologischen Denkfiguren eingeschrieben. Seine Poetik betrifft dabei weiterhin nicht nur das Schreiben, sondern immer auch das Lesen. Der Zusammenhang von Lesepraxis und Lebenspraxis war für ihn von Anfang an evident und ist es bis heute geblieben.
61 Zum Zusammenhang von Literatur und Lernen bzw. individueller Entwicklung bei Handke vgl. Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“. 62 Vgl. Peter Handke, Chronik der laufenden Ereignisse, Frankfurt am Main 1971, S. 10f.
B IRTHE H OFFMANN Will unsere Zeit mich bestreiten Ich laß es ruhig geschehn Ich komme aus andern Zeiten Und hoffe in andre zu gehn.1 FRANZ GRILLPARZER, 1859
„Ich liebe Franz Grillparzer, durch das, was ich von ihm erfahre an der Hand seines Werks, sehr.“2 Dies verkündet Peter Handke anlässlich der Entgegennahme des Grillparzer-Preises im Jahr 1991. Dass es sich hierbei nicht nur um die Höflichkeitsformel eines Preisträgers handelt, zeigt seine Charakterisierung Franz Grillparzers (1791–1872) und dessen Werks, die sich von den üblichen ideologischen Ausbeutungen und Verzerrungen in der Rezeption (etwa durch Hugo von Hofmannsthal, Joseph Roth oder Karl Kraus) distanziert und ein sehr persönliches, feinsinniges Verständnis dieses Autors verrät, der sein Leben lang gegen den Strom und nicht zuletzt gegen sich selbst kämpfte. Zu Beginn der Rede geht Handke auf den Universalitätsanspruch seines Vorgängers ein. Grillparzer sei in seiner Arbeit ‚aufs Ganze‘ gegangen – ein Aspekt, in dem Handke eine gewisse Verwandtschaft erblicken dürfte: „Er erscheint mir als einer der problematischesten unter den gar nicht vielen aufs Gan-
1
Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1964, S. 557.
2
Peter Handke, „Franz Grillparzer und der Clochard von Javel“ [1991], in: ders., Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt am Main 1995, S. 49–54, hier S. 54.
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ze gehenden großen Abenteurern des Schreibens – jedes seiner Abenteuer damit, ob bestanden oder nicht, öffnet den Sinn für ein Problem –, und so als einer der interessantesten oder ‚nächsten‘.“3 Gleichzeitig geht Handke über sein persönliches Interesse an diesem Autor hinaus, indem er die „Lebensprobleme“ Grillparzers als exemplarisch bezeichnet, „die wohl jeder von seiner Sache Begeisterte und dabei Gewissenhafte“ bestehen müsse.4 Überhaupt wird das literarische Werk in der Rede nur in enger Verknüpfung mit der Biographie Grillparzers thematisiert, z.B. in seiner Darstellung der prekären Situation des Autors, in Bezug auf seinen geschichtlichen Kontext und auf sein Publikum: Alleinbleiben mit dem, was man tut, oder dazu sich ein Volk suchen? Es erfinden? Welches Volk? Auf eigene Faust wirken oder im Zusammenhang? Und in welchem? Einem tatsächlichen, wie dem eines Staats oder gar eines Reichs, oder einem eingebildeten – einer erträumten Einheit, eben kraft Abseitsbleibens und Alleinschaffens, als dem Abglanz des ursprünglichen Einheitstraums, in Gestalt eines von der Historie energisch losgesagten und so vielleicht um so tatkräftigeren Werks?5
Die zeitlose Form löst diese etwas unvermittelt auftauchenden Fragen zugleich von der Situation Grillparzers und verleiht ihnen etwas Allgemeines, was sie für den Autor der Gegenwart anschlussfähig macht. Wer das Werk Handkes und dessen Rezeption kennt, weiß, wie sehr auch er aus dem Abseits eine Einheit erträumen und erschreiben möchte und wie wichtig auch ihm eine kollektive Geltung bzw. der Zusammenhang des Individuellen mit dem Überindividuellen ist. Dass im Werk Grillparzers auf die großen Fragen oft nur schwache Antworten gegeben werden, macht ihn für Handke als „Ahnherr“ nur noch interessanter: Die Dringlichkeit, geradezu Wildheit, mit der Grillparzer in seinem Lebenswerk diese Fragen sozusagen auf die Jagd schickt, und zugleich die so anders schöne Zagheit, Zahmheit, Fasttonlosigkeit und Schwachheit, in der er dann diese und jene eher kümmerliche Antwort heimbringt, das macht diesen Schaffer zu einem großen, herzlieben, verbiesterten – beispielhaften und auch immer wieder abschreckenden – Ahnherrn, sicher nicht allein für mich.6
3
Ebd., S. 49.
4
Ebd.
5
Ebd., S. 49f. Vgl. Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 141: „Mein Ausruf ist: Ich brauche dich! Aber wen rede ich an? Ich muß zu Meinesgleichen. Aber wer ist Meinesgleichen? In welchem Land? In welcher Zeit?“ (Langsame Heimkehr nachfolgend zitiert unter der Sigle LH.)
6
Handke, „Franz Grillparzer und der Clochard von Javel“, S. 50.
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Als Leser der Selbstbiographie und der Tagebücher Grillparzers, die er in seiner Rede besonders hervorhebt, entwirft Handke das Bild eines durch viele Gegensätze geprägten Reisenden und im weitesten Sinne Heimatlosen: Der unter seinem Ruhm, dessen österreichischer Abart zumindest, litt, und auf wieder einer Reise, in Boulogne-sur-mer auf das Schiff nach England wartend, allein, abseits, gleichzeitig litt unter der Namenlosigkeit, Heimatlosigkeit, Verlorenheit (im Bild sehe ich ihn dort nach hundertfünfzig Jahren noch neben dem Hafen auf einer Düne stehen, im Wind, ein anderer Januskopf – gesichtslos nach vorn zum Wasser ebenso wie zurückgewendet zu seinem Kontinent).7
Auf eine für Handke typische Weise wird in diesem viele Aspekte verdichtenden Bild Grillparzers der Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart in einer Art Gegenwärtigkeit aufgehoben – als sei der Alte für ihn doch noch lebendig. Das trifft in noch radikalerer Weise auf die kleine Anekdote zu, mit der er gegen Ende seiner Rede aufwartet. Er behauptet, er hätte „[v]or drei Tagen […] Franz Grillparzer tatsächlich gesehen, spät am Abend, unten in der Métrostation Javel am Pont Mirabeu in Paris“, und zwar in Gestalt eines Clochards, im langen, zugeknöpften Mantel, inmitten von mehreren prallen Plastiksäcken. Aus diesen zog er, nach jeweils langem Hineinlugen, in einem fort andere Plastiksäcke, gefaltete, schlug sie auf wie Landkarten, studierte sie, erst starr, dann kopfschüttelnd, faltete sie mit Sorgfalt wieder zusammen, schichtete sie um und um, und so fort.8
Der Alte, so Handke, hätte ihn bei dieser Tätigkeit, in seiner „Gemessenheit und eigensinnigen Treue, seinem Schüttelkopf und seinem vollkommenen Auf-sichallein-Gestelltsein“, an eine der „entrückten, stark-schwachen Heiligenfiguren“ des spanischen Malers Francisco de Zurbarán erinnert, und gleichzeitig „äugte“ dieser zum Betrachter herüber: „er brauchte für das, was er tat, mich, den Zuschauer; halb versteckt in den lichtschwächsten Winkel, suchte er ‚mich‘.“9 Handkes ungewöhnliche Würdigung Grillparzers hat ihre Vorlage offensichtlich in dessen Novelle Der arme Spielmann (1847), und zwar in der lächerlicherhabenen Figur des Bettelmusikanten Jakob. Über die Rede hinaus finden sich im Werk Handkes nur wenige konkrete Hinweise auf Grillparzer. Aus den No-
7
Ebd., S. 52.
8
Ebd., S. 53.
9
Ebd., S. 53f.
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tizbüchern10 geht hervor, dass Handke zur Zeit der Entstehung der Tetralogie Langsame Heimkehr (1979–1981) Grillparzer besonders intensiv studierte – und zwar nicht nur die autobiographischen und ästhetischen Schriften, sondern auch die Spielmann-Erzählung, aus der das einzige explizite Grillparzer-Zitat in Handkes Prosa stammt. In Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) stellt Handke seiner Suche nach einem ‚eigenen‘ Formgesetz eine Bemerkung von Grillparzers Rahmenerzähler, die dieser beim Anblick des Spielmanns macht, zur Seite: In Grillparzers Armem Spielmann las ich dann: „Ich zittere vor Begierde nach dem Zusammenhange.“ Und so kam wieder die Lust auf das Eine in Allem. Ich wußte ja: Der Zusammenhang ist möglich. Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur freiphantasieren.11
Überzeugend hat Christoph Bartmann12 diese Suche als roten Faden im Gesamtwerk Handkes dargestellt – vom Frühwerk, wo der fehlende Zusammenhang zwischen Subjekt und (objektiver) Welt, Wahrnehmung, Sprache und Sinn sich auch in der Abwesenheit eines narrativen Zusammenhangs äußert, über einen neuen, leichter zugänglichen Stil in Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) und Wunschloses Unglück (1972), wobei beide Texte weiterhin den (möglichen) Zusammenhang zwischen individueller Identität und kollektiven Sinnsystemen und das Problems des Erzählens thematisieren, bis zur großen, mit Langsame Heimkehr (1979) eingeleiteten Wende. Hier werde, so Bartmann, die sich seit dem Kurzen Brief schon hin und wieder offenbarende Möglichkeit einer ästhetischen Konfliktlösung, in der das Subjekt momentweise einen raum-zeitlichen Zusammenhang erlebt bzw. sich „einen natürlichen Zusammenhang der wahrnehmbaren Phänomene“13 einbildet, zum permanenten „Willen zur Form“14: Weder der Autor noch seine Romanfiguren befreien sich mittels Psychoanalyse, sozial verantwortlichen Handelns oder theoretische Systemhilfen von ihren permanenten Mangel-Erscheinungen; statt dessen finden ästhetische Momente statt, in denen für das Subjekt
10 Vgl. https://handkeonline.onb.ac.at/node/1610 (zuletzt aufgerufen: 1.4.2019). 11 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 100. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.) 12 Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang: Handkes Werk als Prozess, Wien 1984. 13 Ebd., S. 215. 14 Ebd.
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alles möglich wird: Es kann seine Beschränktheit abschütteln, ästhetisch die Welt als auf sich selbst bezogenen Zusammenhang deuten und von hierher Symbolisches und Soziales ästhetisch rekonstruieren. Dieses Glück sucht nicht nach Veränderung, sondern erfüllt sich in der Anschauung einer versöhnten Präsenz/Gegenwart, die in ästhetischen Bildern imaginiert wird.15
Die durch Epiphanien entstehenden Ganzheitsvisionen sind jedoch nicht stabil, sondern stets vom jähen Absturz in ein Gefühl der Ohnmacht und Isolation bedroht, getroffen vom dystopischen Bild der „Leere eines erdumspannenden Todesstreifens“ (LH 198), wie es in Langsame Heimkehr heißt, und von „der Erkenntnis eines unheilbaren Mangels, der weder in ihm persönlich gründete noch auf diese historische Epoche des in jedem Fall geliebten irdischen Planeten verwiesen werden konnte.“ (Ebd.) Diese Labilität einer aufs Ganze gehenden, aber von tiefem (Selbst-)Zweifel durchzogenen ästhetischen Vision, das Vexierbild von Geschichte als einerseits „bloß eine[r] Aufeinanderfolge von Übeln […], die einer wie ich nur ohnmächtig schmähen kann“, andererseits als einer „von jedermann (auch von mir) fortsetzbare[n], friedensstiftende[n] Form“ (LH 168, Herv. i.O.), lässt sich auch im Werk Grillparzers immer wieder beobachten. Im Folgenden soll die Suche nach einem Zusammenhang zwischen den beiden Autoren nicht als Suche nach dem Einfluss Grillparzers auf Handke verstanden werden, sondern als Aufspüren von formalen und thematischen Analogien, die Handkes Interesse an Grillparzer nachvollziehbar machen können. Die spiegelbildliche Lektüre – nicht nur wird Handke mit Grillparzer, sondern auch Grillparzer mit Handke gelesen – soll darüber hinaus als Angebot dienen, Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Autoren deutlicher zu sehen, sowie als Versuch, Literatur als einen chronotopisch offenen Raum der Begegnung und des Gesprächs zu betrachten, was durchaus im Sinne Handkes wäre.
Um Grillparzers Erzählung, in der viele autobiographische Elemente verarbeitet sind und die durchaus als Dramatisierung poetologischer Reflexionen betrachtet werden kann, für die Lektüre von Langsame Heimkehr und Die Lehre der Sainte-Victoire fruchtbar zu machen, soll hier zunächst der ‚Zusammenhang‘ dieser Erzählung aufgefädelt werden. Für den armen Spielmann Jakob gilt in höchstem Maße, was Handke in seiner Rede (wenn auch nur andeutungsweise) über das
15 Ebd., S. 214.
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Werk Grillparzers schreibt, dass nämlich „Grillparzers Formprobleme […] Lebensprobleme“ zeigen, vielleicht aber in umgekehrter Reihenfolge, da die Lebensgeschichte Jakobs – eine scheinbar misslungene Bildungsgeschichte – sich als eine Reihe von Formproblemen gestaltet. Diese Lebensgeschichte kommt erst durch die Geburtshilfe des Rahmenerzählers als Geschichte zur Welt, denn Jakob behauptet zunächst, er „habe keine Geschichte“. Als er dann vor dem offenen Ohr seines Zuhörers zu erzählen beginnt, gibt er durch die Verknüpfung der wichtigsten Ereignisse seines Lebens und der Stadien seiner Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft eine Art Schlüssel zum Rätsel seines Lebens. Im Rahmenerzähler wird von Anfang an eine fast körperlich-erotische Begierde nach dem Verständnis dieses Rätsels erweckt, die das hermeneutische Verständnis dieser (und vielleicht auch der eigenen) Existenz als ein starkes und lebensnotwendiges Bedürfnis herausstellt. Als der Rahmenerzähler, der während des Wiener Volksfestes als Dichter unterwegs ist, um Geschichten aus den anonymen Gesichtern in der Menge zu lesen, die paradoxe Gestalt des armen Spielmanns erblickt, wird sein „anthropologischer Heißhunger aufs äußerste“ gereizt: Die dürftige und doch edle Gestalt, seine unbesiegbare Heiterkeit, so viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit; dass er gerade zu einer Zeit heimkehrte, wo für andere seinesgleichen erst die eigentliche Ernst anging; endlich die wenigen, aber mit der richtigsten Betonung, mit völliger Geläufigkeit gesprochenen lateinischen Worte. Der Mann hatte also eine sorgfältigere Erziehung genossen, sich Kenntnisse eigen gemacht, und nun – ein Bettelmusikant! Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.16
Ob die Erzählung Der arme Spielmann, in der viele autobiographische Elemente verarbeitet sind, über die Lebensprobleme Grillparzers als Formprobleme Aufschluss zu geben vermag, sei dahingestellt. Eindeutig sind hier aber, paradoxerweise anhand eines ‚Sonderlings‘ mit hohem künstlerischem Anspruch, Probleme der Kunst und des Lebens beispielhaft – als Formprobleme – in Zusammenhang gebracht worden. Exemplarisch ist die Konstellation erstens deshalb, weil der Sonderling durch seine Unfähigkeit, sich den Regeln der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft zu unterwerfen, gerade diese verdeutlicht und durch seine alternative, subjektive Ordnung diese in Frage stellt. Und zweitens entziehen sich seine Seinsweise und der Wert, den er für Barbara und den Erzähler darstellt, begrifflicher Bestimmung; dafür werden sie aber in antiken und christlichen Mythen vom menschlichen Sein gespiegelt.
16 Franz Grillparzer, „Der arme Spielmann“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1964, Bd. 3, S. 146–186, hier S. 150.
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In Der arme Spielmann wird das Problem des Zusammenhangs zunächst auf kollektiver Ebene thematisiert, wobei das jährliche Kirchweihfest auf der Brigittenau in Wien den Ausgangspunkt bildet. Die sich langsam auf das gemeinsame Ziel der Brigittenau jenseits der Donaubrücke hinbewegende Menschenmasse wird mit einer Reihe von Metaphern und intertextuellen Anspielungen beschrieben. So referiert der Text auf antike Jenseitsvorstellungen wie die Eleusinischen Mysterien und den Mythenkomplex um Dionysos, die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihre Tochter Persephone. Dadurch wird die Bewegung der Masse zunächst als menschliche Sehnsucht nach Transzendenz gedeutet – einer Transzendenz, die jedoch auf einer horizontalen Ebene angesiedelt ist.17 Die Menschen eint ihr gemeinsames Ziel, der „Lustort“, welcher jenseits eines vom Erzähler als „Propyläen“ bezeichneten hölzernen Gittertors liegt. Die kulturelle Gemeinschaft und die Entindividuation des Einzelnen entstehen durch gemeinsames Essen, Trinken und Tanzen, als Manifestationen von Utopien wie „pays de cocagne, […] Eldorado“ und „Schlaraffenland“.18 Im weiteren Verlauf der Erzählung wird nicht nur auf Dionysos, Demeter und den antiken Mysterienkult, sondern auch auf Christus angespielt, indem das Leben des Bettelmusikanten Jakobs deutliche Züge einer Imitatio Christi trägt. Durch die mythologischen Subtexte, die wiederum an Diskussionen der Goethezeit über eine Neue Mythologie erinnern, wird die Geschichte Jakobs und das Bild des Kollektivs, auf dessen Hintergrund er sich abhebt, über die zeitliche und räumliche Verortung in Wien 1847 hinaus zu einer aufs Ganze und Allgemeine gehenden Reflexion über den Sinn des sich zwischen Geburt und Tod vollziehenden Menschenlebens, über die Formen des Glücks und der Gemeinschaft. Die Anspielungen auf die Antike und auf Goethe19 zeigen den ‚klassischen‘ Anspruch, in Jakobs Haltung zur Musik wird die Kunstreligion der Romantik herbeizitiert, aber die durch die Selbstwidersprüche des Rahmenerzählers erzeugte Ironie und das für die Umgebung kakophonisch wirkende Musizieren des Spielmanns zeugen von den Schwierigkeiten, einen solchen Anspruch in die Zeit nach Goethe zu übertragen. Der Erzähler stellt sich als „Liebhaber der Menschen“
17 Für eine ausführlichere Analyse der hier hervorgehobenen Aspekte der Erzählung siehe: Birthe Hoffmann, Opfer der Humanität. Zur Anthropologie Franz Grillparzers, Wiesbaden 1999, und dies., „Die Kakophonie des Absoluten am Ende der Kunstperiode. Franz Grillparzers ‚Der arme Spielmann‘“, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik, Graz 2000, S. 36–51. 18 Grillparzer, „Der arme Spielmann“, S. 147. 19 Vgl. Römisches Karneval und Goethes Einleitung zur Zeitschrift Propyläen von 1798, siehe Hoffmann, Opfer der Humanität, S. 42.
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vor, „besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen, in dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt“.20 Wie ein „Plutarch“ lese er aus Gesichtern, Äußerungen und dem Verhalten der Leute untereinander „die Biographien der unberühmten Menschen“ zusammen,21 indem er in diesen die Wiedergeburt der Berühmten, der großen Erzählungen der Menschen sieht. Als er aber bei den „Propyläen“ zum Festort, „bereits auf klassischem Boden“, unter den Bettelmusikanten einen alten Spielmann „mit lächelnder und sich selbst Beifall gebender Miene“ erblickt,22 gilt seine Aufmerksamkeit fortan nur diesem Sonderling, der durch die Diskrepanz zwischen künstlerischem Anspruch und Leistung auf sich aufmerksam macht – ein Eindruck, den der Erzähler im Gespräch mit dem Spielmann bestätigt sieht. Hier zeigt sich schon dessen grundlegende Schwierigkeit, die gängigen Zeichensysteme zu beherrschen, indem er nämlich, im Gegensatz zu den anderen Bettelmusikanten, auf die Verwendung von Notenblättern besteht, „die das in schönster Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab“,23 „denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie“.24 Doch obgleich er nicht imstande ist, den einfachsten Walzer zu spielen, sieht er sich als Hüter der Ordnung in einer Welt ohne Maß und als ‚Erzieher‘ der großen Massen der Zuhörer, die er zur „Veredelung des Geschmackes und des Herzens“25 führen möchte, indem er ihnen Stücke der großen alten Meister vorspielt.26 Pedantisch unterscheidet er zwischen dem morgendlichen Üben, dem täglichen Broterwerb und der eigentlichen Kunst, die er abends allein ausübt: „[…] da spiele ich denn aus der Einbildung, so für mich ohne Noten. Phantasieren, glaub ich, heißt es in den Musikbüchern.“27 Aber auch im Kämmerlein, das er durch einen Kreidestrich in den eigenen und den unordentlichen Teil seiner Zimmergenossen aufgeteilt hat, wird er vom Nachbarn als jemand, der durch sein ‚Kratzen‘ auf der Geige „die ordentlichen Leute in ihrer Nachtru-
20 Grillparzer, „Der arme Spielmann“, S. 148. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 149. 23 Ebd., S. 150. 24 Ebd., S. 149. 25 Ebd., S. 153. 26 In ähnlicher Weise versteht sich wohl auch Peter Handke als Erzieher zum guten Geschmack, der seinen Lesern nicht nur die alten Meister präsentiert, sondern sich in seinen Aufsätzen immer wieder auch für junge Autorinnen und Autoren einsetzt. 27 Grillparzer, „Der arme Spielmann“, S. 152.
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he“28 stört, aufgefasst. So zeigt sich in allem, was der arme Spielmann tut, und in seinem Verhältnis zur Umwelt eine Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt, ein grundsätzliches, reziprokes Übersetzungs- bzw. Verständnisproblem: Während Jakob die gängigen Zeichensysteme zur zwischenmenschlichen Kommunikation nicht beherrscht – wie seine Geschichte zeigt, betrifft dies sowohl sprachliche Zusammenhänge, Noten, Geld und soziale Spielregeln –, wird seine alternative Ordnung von der Umwelt auch nicht verstanden. Der Erzähler aber, der wie Jakob zum Phantasieren neigt29 und von einem ihm nicht ganz bewussten, leidenschaftlichen Interesse für den armen Spielmann getrieben wird, sucht diesen an seiner ärmlichen Adresse auf, um durch Zuhören diese Musik zu verstehen, um „den Faden durch dieses Labyrinth [zu] erkennen, gleichsam die Methode in der Tollheit“.30 Dabei wird ihm klar, dass der Spielmann nur zwischen Übelklang und Wohlklang im ganz subjektiven Sinne unterscheidet und dass er sich beim letzteren durch Verlangsamung und Wiederholung aufhält, wodurch für den Zuhörer jeder Rhythmus verlorengeht. Auch indem der Rahmenerzähler Jakob nach seiner Geschichte fragt, um den ersehnten Zusammenhang zu erfahren, wird er zum Vermittler jener sonst gebrochenen Verbindung zwischen Innen und Außen im Leben Jakobs. In dieser Geschichte spielen zwei Personen eine entscheidende Rolle: der übermächtige Vater, der als Hofrat einen „ungeheuren Einfluss“ ausgeübt hat, und die Greislerstochter Barbara, durch die seine Liebe zur Musik geweckt wird, die aber als Frau – und mit ihr eine bürgerliche Existenz und Gründung einer Familie – wie durch eine gläserne Wand von ihm getrennt bleibt. In Bezug auf das Verhältnis des Protagonisten zum Vater stellt sich im Laufe der Geschichte die Frage, ob Jakob tatsächlich als Opfer der väterlichen Übermacht zu verstehen ist oder ob er auf die Ausgrenzung aus der Domäne des Vaters, des Beherrschers der Sprach- und Sinnsysteme und somit der Ordnung des gesellschaftlichen Diskurses schlechthin, unbewusst hinsteuert. Die Fehlleistungen beginnen mit seinen Schwierigkeiten beim Lernen des Schulstoffes, bei dem ihm ein synthetisches, strukturelles Verständnis des Zusammenhangs fehlt. Sein Versagen bei der Schulprüfung ist aber eher eine exemplarische Fehlleistung im Sinne Freuds, weil ihm beim auswendig zu sagenden Verse von Horaz ausgerechnet jenes Wort nicht in den Sinn kommt, das für seine Zukunft prophetisch
28 Ebd., S. 154. 29 Vgl. ebd., S. 155: „Ich trat, mühsam in den mir unbekannten Gassen mich zurechtfinden, den Heimweg an, wobei ich auch phantasierte, aber niemand störend, für mich, im Kopfe.“ 30 Ebd., S. 156.
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und hier vom ungeduldigen Vater ausgeschrien wird: „Cachinuum“ (Gelächter). Dieses fehlende Wort nimmt der Vater zum Anlass, Jakob aus der Schule zu nehmen. Nach seinem Versagen bei einer Rechenbehörde und seiner grundsätzlichen Ablehnung einer Stelle beim Militär bleibt dem Sohn schließlich nur noch der niedrigste bürgerliche Beruf übrig, nämlich der eines Abschreibers. Jakob, der am liebsten „ein Drechsler oder Schriftsetzer“ geworden wäre, liebt das Nachzeichnen der Buchstaben als reine, sinnentleerte Form, aber sobald er in einem Text ein Wort ergänzen muss, leidet er unter dem Problem des Zusammenhangs. Durch Barbara wird er aber auf den Weg zum eigenen, alternativen Zusammenhang geführt: Als er sie im Hof ein Lied singen hört, greift er seine Geige, die ihm durch das schulische Exerzieren, welches ihm das freie Phantasieren verbat, verhasst gewesen war. Es kommt zur Epiphanie, zum Wendepunkt seines Lebens: „Als ich nun mit dem Bogen über die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich angerührt hatte. Der Ton drang in mein Inneres hinein und aus dem Innern wieder heraus.“31 Zum ersten Mal erlebt Jakob einen Zusammenhang, und zwar auf vertikaler Ebene, als einen unmittelbaren Zugang zu Gott, zum Absoluten. Jakobs Phantasieren, das der Erzähler als Reduktion der Musik auf ihre einfachsten Elemente identifiziert, gleicht somit seiner Vorliebe für das Zeichnen von Buchstaben ohne Rücksicht auf den syntagmatischen Zusammenhang. Seine ‚absolute‘ Musik will sich jeder sprachlich-begrifflichen Bestimmung entziehen: „Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt keiner.“32 Die Freiheit und die Transzendenz, die er im ‚vertikalen‘ Musizieren erfährt, ist allerdings um den Preis eines engeren Zusammenhangs mit anderen Menschen erlangt. Sein Versuch, die Noten zu Barbaras Lied zu bekommen, da er dieses nicht nachspielen kann, führt zur Ausstoßung aus dem väterlichen Hause, und nach dem Tod des Vaters verliert er durch wirtschaftliche Naivität sein gesamtes Erbe und damit die Möglichkeit, mit Barbara eine bürgerliche Existenz zu gründen. Als der Rahmenerzähler ein halbes Jahr nach seinem Besuch beim armen Spielmann diesen wieder aufsuchen will, ist Jakob gerade bei der großen Überschwemmung, die die Vorstädte in eine Todeslandschaft verwandelt hat, ertrunken. In dieser traurigen Welt des täglichen Kampfes um Geld und Anerkennung bleibt aber das Vermächtnis des Spielmanns lebendig und erinnert an einen schwer zu bezeichnenden, seelischen Mangel. Dass Jakobs Geschichte als eine Art Imitatio Christi gestaltet ist, zeigen die ihn ‚verzehrende‘ Haltung des Erzählers und Barbaras Bewahrung der Geige als Andenken gegenüber dem Kruzifix
31 Ebd., S. 162. 32 Ebd.
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an der Wand. Jakob selbst, in äußerster Armut angekommen, spricht und verhält sich wie ein Heiliger, z.B. als er nach der Heirat Barbaras mit einem Fleischer „sie und ihre Wege“ segnet.33 Mit seiner besitzlosen Integrität und Würde, durch seinen Wert für andere Menschen, der weder in den Werten der Ordnung noch durch Eigenschaften Jakobs begründet ist, stellt er das Leben innerhalb dieser Ordnung in Frage, ohne jedoch selbst eine positive Alternative zu verkörpern. Doch gerade durch sein Versagen bzw. seine Ablehnung der Ordnung des Diskurses vermag er auf eigentümliche Weise sich treu zu bleiben – in den Momenten der Entrücktheit, beim Phantasieren auf der Geige, ist er zugleich ganz außer sich und ganz in sich. Wie aber lässt sich die radikale Freiheit und Authentizität der Eigenschaftslosigkeit mit dem Sozialen, mit einer überindividuellen Gemeinschaft verbinden? Und wie lässt sich die subjektive Erfahrung von Zusammenhang und Ganzheit als sinnvolle Form durch die Sprache herstellen bzw. intersubjektiv vermitteln? Diese Fragen, die sich aus der Lektüre des Armen Spielmann ergeben, sind im Werk Peter Handkes ganz zentral, insbesondere in der locker verbundenen Tetralogie der Langsamen Heimkehr.
„Ich liebe dieses Jahrhundert nicht“, erklärt Valentin Sorger, der für sich arbeitende Geologe, der Indianerin, mit der er in Alaska ab und zu sein Bett teilt. Der sich als unzeitgemäß verstehende Protagonist des Romans Langsame Heimkehr (1979) hat sich auch räumlich so weit wie möglich von seiner Heimat entfernt, von der die Leser allerdings wenig erfahren, obgleich Sorger sich im Laufe der Handlung stufenweise, über die „Westküstenstadt“ und New York, auf diese zubewegt. Auf dem Heimweg nach Europa ist er immer noch auf der Suche nach der eigenen Identität, nach der Lösung jener Fragen, die ihn schon eingangs geplagt haben, wie die auktoriale Erzählstimme oder der sich selbst ansprechende Sorger mitteilt: Im nächtlichen Flugzeug nach Europa war es, als seist du, mein lieber Sorger, auf deiner „ersten wirklichen Reise“, wo man, so wurde gesagt, lerne, „was der eigene Stil ist“. […] Du wußtest nicht mehr, wer du warst. Wo war dein Traum von der Größe? Du warst Niemand. (LH 199f.)
33 Grillparzer, „Der arme Spielmann“, S. 182.
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Wie bei Grillparzer sind auch die Selbstbestimmungs- und Formprobleme Sorgers von Anfang an mit dem Problem der Beziehungsunfähigkeit verbunden. In der schwere- und bindungslosen Existenz in Alaska versucht Sorger, durch monatelange Beobachtung und Erfahrung der „Formen und deren Entstehung“ (LH 11) den Raum (und damit auch die Zeit) für sich zurückzugewinnen. Sich an der Eroberung eines „höchstpersönlichen“ Raums (ebd.) abarbeitend, die ihn zugleich mit den Welt-Räumen vertrauter machen soll und ihm die „Idee von der überschaubaren Zivilisiertheit und Heimatlichkeit des irdischen Planeten“ (LH 12) gibt, versucht er, ein schwer bestimmbares, apokalyptisch geprägtes Entsetzen und das Gefühl von Verlassenheit zu bannen – und zugleich an der Welt anderer teilhaftig zu werden. Paradoxerweise ist Sorger, „der kaum irgendwo Zugehörende, sonst nirgendwo Zuständige“ (LH 15), davon überzeugt, durch seine Arbeit über die Formen der anorganischen Natur in der Abgeschiedenheit von Alaska den Weg zum Anderen zu finden, indem er „sich für wen auch immer zusammenhielte“ (ebd.): „Sorger war sich bewußt, wie sehr er mit seiner Wissenschaft zugleich eine Religion ausübte: erst seine Arbeit machte ihn immer wieder beziehungsfähig, und wahlfähig, im zweifachen Sinn: er konnte wählen und gewählt werden.“ (Ebd.) Ebenfalls zunächst paradox ist der Umstand, dass die aufs Ganze gehende Arbeit sich mit den kleinsten Elementen befasst, oder vielmehr mit deren ästhetischen Eigenschaften wie z.B. den Farben: „Die ersten Farben in der Landschaft wie eigene Gegenstände: ein Schottersteinrot, ein Benzinfaßblau, ein Lanzettenblattgelb, ein Birkenstammweiß.“ (LH 47) Oder mit abstrakten Formen wie der Kreisform in den Wirbeln des Wassers (LH 67), dem Muster im getrockneten Uferschlamm, ein[em] Netzwerk von fast regelmäßigen Vielecken (mit meist sechs Kanten) […]. In der Betrachtung der Risse begannen diese allmählich auf ihn zurückzuwirken, zerstückten ihn aber nicht wie den Boden, sondern schlossen all seine Zellen, (jetzt erst nachfühlbare Leere), zu einem harmonischen Ganzen zusammen […]. (LH 68)
Ein Spalt kann zur erotischen Vorstellung einer zur Vereinigung bereiten, weiblichen Natur werden: „Im besonnten Graben bildete der Schnee eine schimmernde Furche: die schönste Frau, die er je gesehen hatte.“ (LH 158) Nicht analytisch-synthetisch, also „wissenschaftlich“ im herkömmlichen Sinne, geht Sorger vor. Seine Methode ist vielmehr – und dies trifft ja auch auf Handkes Schreiben zu – die kreative Synthese eines träumenden, phantasierenden Künstlers, wie denn überhaupt die ‚Wissenschaft‘, die er betreibt, sehr abstrakt bleibt und offensichtlich metaphorisch zu verstehen ist. Die Wissenschaft als Metapher für
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die Arbeit am Ganzen, bei der Formprobleme zugleich Lebensprobleme sind, ermöglicht Handke einerseits, die Natur als eine uralte, nach eigenen Gesetzen funktionierende Ganzheit als Folie für seine Ganzheitsphantasien zu verwenden, andererseits beinhaltet dies schon eine sanfte Rebellion gegen die Tyrannei der Systeme à la Jakob, indem er seine ‚Wissenschaft‘ gegen den etablierten wissenschaftlichen Diskurs als Alternative aufstellt. Wie er in der Sprache der religiös Gläubigen nicht mitreden kann „weil er sprachlos war, oder, in den Ausnahmezuständen seiner Religiosität, mit einer ihnen fremden Zunge geredet hätte“ (LH 18), erscheinen ihm die Sprachformeln seiner Wissenschaft, bei allem Überzeugtsein, immer von neuem als ein fröhlicher Schwindel […]; ihre Riten der Landschaftserfassung, ihre Beschreibungsund Benennungsübereinkünfte, ihre Vorstellung der Zeit und der Räume, kamen ihm fragwürdig vor […]. Er ahnte die Möglichkeit eines ganz verschiedenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen und sah sich […] der Welt seinen eigenen Schwindel unterschieben. (LH 18f.)
Abstrakt ist ebenfalls die Form der Ganzheitsvisionen, die nicht als Ergebnis mühsamer Arbeit, sondern als Folge eines besonders entspannten, empfänglichen Zustands erscheinen: […] – im Glücksfall aber, in der seligen Erschöpfung, fügten sich alle seine Räume, der einzelne, neueroberte mit den früheren, zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel zusammen, als ein nicht nur privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum. (LH 15)
In solchen hin und wieder erlebten Epiphanien wandelt sich der besondere Raum zum All und die Zeit zur Allzeit, in der Sorger als ‚Niemand‘ aufgehoben wird: In diesem Zeitraum war ständige Gegenwart, ständige Allerwelt, ständige Bewohntheit. Die Gegenwart war eine Allgegenwärtigkeit, wo die einst geliebten Toten mitatmeten und die entferntesten Lieben in einem zugänglichen Nebenraum geborgen und guter Dinge waren; die Allerwelt war eine Fremde, in der es keinen Flucht- und Heimkehrzwang mehr gab, aber auch nicht die zwanghafte Teilnahme an den Gewohnheiten der Alteingesessenen; und die Bewohntheit war eine Haus- und Werkstatthaftigkeit des ganzen Landstrichs, wo persönliches Abgesondertsein ohne die Gewohnheitszwänge durch Innenräume möglich war. (LH 50)
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In diesen „Heil“ bringenden Epiphanien eines unterschiedslosen Zusammenhangs, einer Gemeinschaft ohne Zwang, verwandelt sich die Eigenschaftslosigkeit, wie bei einer unio mystica, in Glück, „ohne Eigengefühl: wo er weder Tätiger war noch Müßiggänger, weder Eingreifender noch Zeuge“ (LH 49). Die Landschaft, Sorgers besondere Geschichte mit dem Geschehen des nördlichen Herbstes sich einverwandelnd, wurde von dieser menschlichen Geschichte wieder gekehrt in ein zeitliches Gewölbe, wo der selbstvergessene Mann, ohne Schicksal, aber auch ohne Mangelgefühl (überhaupt von Wechselgefühlen erlöst), auch noch da war. (LH 51)
Das Bild der Gewölbe vereint die horizontale und vertikale Dimension der Existenz, hier aber, im Unterschied zum Spielmann, als Verschränkung von Raum und Zeit, wenn auch im mythischen Realismus Grillparzers diese Dimension vorhanden ist. In der hier noch ganz subjektiven Vision – die Protagonisten Handkes in der Tetralogie, zu der auch Kindergeschichte und Über die Dörfer gehören, werden Beziehungen familiärer, sozialer und kultureller Art immer konkreter erproben – bleibt wie in der Erzählung Grillparzers das Problem der intersubjektiven Gültigkeit, wenngleich Sorger momentweise eine Zusammengehörigkeit mit Personen seiner Umgebung spürt, wie mit seinem Kollegen Lauffer und der Indianerin, mit den Nachbarn in der Westküstenstadt und mit dem Mitreisenden Esch in New York. Während aber der Spielmann ‚seinen Stil gefunden‘ hat und fortan trotz Armut und Einsamkeit mit ungetrübter Heiterkeit lebt, geht Sorger die gesuchte und erfahrene Form jedes Mal wieder verloren. Die vertikale Dimension des Gewölbes entbehrt keineswegs jenen metaphysischen Konnotationen, die in der Kunstreligion des armen Spielmanns dominant sind; bei Handke finden wir ebenfalls jene religiös konnotierten Wörter, in einer neuen, zunächst privaten und existentiell-psychologischen Bedeutung, wie wenn am Anfang von einem „auf die Augenlider drückende[n] Bedürfnis nach Heil“ die Rede ist (LH 9), wenn Sorger am letzten Abend Lauffer und der Indianerin die „Abendmahlzeit“ bereitet (LH 76), oder als er den an existentiellen Problemen leidenden Esch heilt: „Macht, komm zurück.“ Sorger wurde sein Vorsprecher: befahl und verbot ihm (der in seiner Nach-Angst gerne gehorsam war); sprach ihn frei vom Schmerz; weissagte ihm Gutes und gab ihm schließlich den Segen, worauf dem so Angesprochenen die letzte Schwärze aus der Mundöffnung wich und das Gesicht des „gentleman“, wie dann die Frau an der Garderobe sagte, nur noch eine „traurige Zufriedenheit“ zeigte. (LH 177f.)
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Ohne Ironie, aber auch durch ihren neuen Zusammenhang verfremdet, erscheinen diese Wörter, um einen höheren Zusammenhang zwischen Menschen und zwischen Mensch und Welt zu bezeichnen. Wie beim Spielmann Jakob, der als Kippfigur zwischen Lächerlichkeit und Größe wahrgenommen werden kann, kippt auch die schamanenhafte Kraft Sorgers schnell in Ohnmacht um und stellt das soeben Errungene wieder in Frage.34 Im zweiten Teil der Tetralogie, Die Lehre der Sainte-Victoire, die als autobiographisch-poetologischer Essay (mit explizitem Bezug auf Langsame Heimkehr) bezeichnet werden kann, kehren aber die Reflexionen über den Akt des Glaubens und religiöse Riten als Sinnbild der Arbeit des Künstlers wieder – diesmal als Teil bleibender Erkenntnisse.
In Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) wird versucht, durch aneinander gereihte, teils ineinander verschachtelte, teils als Analogieketten gestaltete Fragmente von Erinnerungen, Reisebericht und Reflexionen jene „Verwandlung“ zu beschreiben, die das Ich – ‚Handke‘ – erstmals im Schatten eines Maulbeerbaums in Jugoslawien im Sommer 1971 erahnte und die sich dann im Laufe des folgenden Jahrzehnts tatsächlich vollzog, durch Reisen in die Landschaft Paul Cézannes in der Provence und durch das Studium der Bilder des Malers. Als eine Verwandlung zur Größe und Demut stellt Handke die Initialerfahrung 1971 dar: Der Mensch, der ich war, wurde groß, und zugleich verlangte es ihn auf die Knie, oder überhaupt mit dem Gesicht nach unten zu liegen, und in dem allen niemand zu sein. Die Verwandlung war natürlich. Es war der Versöhnungswunsch, der, nach dem Wort des Philosophen, aus dem „Begehren des Begehrens des anderen“ kam; und er schien mir wirklich-vernünftig, und galt mir ab da auch fürs Schreiben. (LSV 25)
34 Vgl. Bartmanns Beschreibung dieser Szene als „ein narratives Oxymoron, eine Verschmelzung der Ebenen des Lächerlichen und des Erhabenen, des Tragischen, des Komischen und des Großartigen“, die von der für Handke typischen „Unmittelbarkeit des Übergangs vom sakralen Akt zur Alltäglichkeit“ rührt. (Bartmann, Suche nach Zusammenhang, S. 235f.) Eben dieses Nebeneinander von Lächerlichkeit und Erhabenheit, Komik und Tragik charakterisiert auch die Texte Grillparzers, z.B. sein 1848 entstandenes Drama Ein Bruderzwist in Habsburg, in dem die eigenschaftslose, grotesk-erhabene Figur der Kaiser Rudolf II ist.
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Diese Verwandlung bezieht sich natürlich auch auf die in Langsame Heimkehr thematisierte Suche nach „Heil“ und nach einer „friedensstiftenden Form“, und somit wirft Die Lehre der Sainte-Victoire durch ihre poetologischen Reflexionen ein klärendes Licht auf Langsame Heimkehr zurück. Zugleich entwickelt der Text die Vorstellung eines das Subjekt aufhebenden, offenen Zeit- und Raumkontinuums fort. Im Zusammenhang mit Cézanne, den Handke nicht nur zu seinem eigenen Lehrmeister, sondern schlechthin zum „Menschheitslehrer der Jetztzeit“ (LSV 74) erklärt, kehrt die Vorstellung der Verwandlung wieder, die er analog zum kirchlichen Wandlungsritual des Abendmahls als eine „Verwirklichung“ (LSV 84) bezeichnet, entsprechend dem Gedanken, „‚nur mit einem Glauben könnten die Dinge auch auf die Dauer wirklich bleiben‘“ (LSV 83). In Der arme Spielmann vollzieht sich durch eine Reihe von Anspielungen auf die Funktion von Brot und Wein im antiken Mysterienkult und im Christentum die Erhöhung des Armen und Alltäglichen zum ‚Göttlichen‘ und damit auch die Verwirklichung des christlichen Zentralmythos im Sonderling – allerdings auf gebrochene, ironische Weise.35 Die künstlerische „Verwirklichung“ der Dinge, die nach Handke in der Malerei Cezánnes auf beispielhafte Weise stattgefunden hat, versteht er als „Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr – nicht in einer religiösen Zeremonie, sondern in der Glaubensform, die des Malers Geheimnis war“ (LSV 84). Für Handke ist dies somit ein Akt der Rettung – vor der bösen Geschichte, vor der Nivellierung der Farben, vor der Gewalt, wie sie ihm z.B. in der „immer bösere[n] und wie versteinerte[n] Bundesrepublik“ (LSV 89) erscheint: „Damals verstand ich die Gewalt. Diese in ,Zweckformen‘ funktionierende, bis auf die letzten Dinge beschriftete und zugleich völlig sprach- und stimmlose Welt hatte nicht recht.“ (LSV 91) Cezánne wird auch als Hauptzeuge seiner Absage an eine Ästhetik der Negativität und des ‚Gesellschaftsbezugs‘ herangezogen, die Handke auch andernorts immer wieder kritisiert hat.36 Ohne dies näher zu begründen, nimmt er von der üblichen Meinung Abstand, „das Wirkliche, das seien die
35 Vgl. Hoffmann, Opfer der Humanität, S. 31–92. 36 Z.B. in „‚Nicht Literatur machen, sondern als Schriftsteller leben‘. Gespräch mit Peter Handke“, in: Heinz Ludwig Arnold, Als Schriftsteller Leben. Gespräche mit Peter Handke, Franz Xaver Kroetz, Gerhard Zwerenz, Walter Jens, Peter Rühmkopf, Günter Grass, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 32: „Es wird zum Beispiel ‚Gesellschaftsbezug‘ verlangt, ohne dass man allerdings genau weiß, was das ist, und ohne dass man weiß, dass es viele Ich-Konvulsionen gibt, die über die Gesellschaft mehr aussagen als brav hergestellte Skizzen, die dann nur nachgestellt sind irgendwelchen Aussagen über die Wirklichkeit, die aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.“
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schlechten Zustände und die unguten Ereignisse; und die Künste seien dann wirklichkeitstreu, wenn ihr Haupt- und Leitgegenstand das Böse ist, oder die mehr oder weniger komische Verzweiflung darüber“ (LSV 20), als eine für ihn unmöglich gewordene Position, die aber nicht durch Schönmacherei ersetzt werden soll: er „werde andrerseits nie vom Glück schreiben, geboren zu sein, oder vom Trost in einem besseren Jenseits“ (LSV 21). Cézannes Methode der „Verwirklichung (‚réalisation‘) des reinen, schuldlosen Irdischen: des Apfels, des Felsens, eines menschlichen Gesichts“ (ebd.), die Handke für seine eigene Schreibweise adaptieren möchte, könnte aber doch als eine Art Verklärung, etwa im Sinne des poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts, betrachtet werden, durch die die sogenannte Realität erst durch die künstlerische Verarbeitung wahrnehmbar, wahr und erträglich wird. Verwandt ist sie ebenfalls mit dem poetologischen Grundsatz Grillparzers, die Aufgabe der Kunst bestehe nicht darin, Gedanken oder ‚Fragen der Zeit‘ zu diskutieren, sondern den Menschen durch die ästhetisch verwandelte Wirklichkeit über sich selbst hinauszubringen. Das Es ist der Kunst bleibt ohne „Erweis“;37 sobald sie sich auf Gedankensysteme zurückführen lässt, hat sie sich vernichtet: „Die Wissenschaft überzeugt durch Gründe, die Kunst soll durch ihr Dasein überzeugen, wie die Wirklichkeit, wie die Natur.“38 In Die Lehre der Sainte-Victoire heißt es weiter über Cézannes künstlerische Verwirklichung der Dinge: „Das Wirkliche war dann die erreichte Form; die nicht das Vergehen in den Wechselfällen der Geschichte beklagt, sondern ein Sein im Frieden weitergibt.“ (LSV 21) Diese ästhetische Wandlung der Realität (die hier weiterhin sowohl poetologisch als Formproblem und existentiell als Lebensproblem thematisiert und realisiert wird) scheint eine Voraussetzung zu sein für das zentrale Thema der Lehre der SainteVictoire: für das Aufgehobensein in den Dingen. Wie aber wird diese Erfahrung
37 „Wenn die letztern [die Wissenschaften, B.H.] einmal demonstrativ werden sollten, wenn sie je die erst-letzten Gründe ihrer Folgerungen angeben könnte, würde die Poesie zu einem angenehmen Spielzeug herabsinken, für jetzt aber hat sie den Vorzug, wie die Natur sagen zu können: das ist, und wenn das Gemüt die Wahrheit empfunden hat, ist von einem Erweis oder Zweifel weiter nicht die Rede. […] Das oben erwähnte: Es ist hat das echte Kunstwerk mit der Natur gemein.“ Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 283 (Tagebuch 4023, 1849). Vgl. ebd., S. 286 (Tagebuch 3184, 1836): „Inhalt! ‚Inhalt! Was kann der Dichter für einen Inhalt geben, den ihm der denkende, fühlende Leser nicht überbietet? Aber die Form ist göttlich. Sie schließt ab wie die Natur, wie die Wirklichkeit. Über das wahrhaft Vorhandene geht kein Gesund-Organisierter hinaus. Durch die Form beruhigt die Kunst und ist allem Wissen überlegen.“ 38 Ebd., S. 238 (Tagebuch 3510, 1840).
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und die Übertragung der Methode Cézannes auf das eigene Schreiben vermittelt? Wie wird der Glaube an einen möglichen Zusammenhang, nach der Lektüre des Armen Spielmann, realisiert? „Ein Zusammenhang ist da, nicht erklärbar, doch zu erzählen“ (LSV 69), heißt es. Im folgenden, letzten Teil des Textes werden Zusammenhänge aber kaum anhand von Kausalität oder Chronologie erzählt, sondern als Reihen analoger Erfahrungen, Wahrnehmungen und Reflexionen, wodurch schließlich dem Leser der Auftrag gegeben wird, den tieferen Zusammenhang zu begreifen. Eine Spur, um die besondere Erfahrung der Gegenstände beim Betrachten der Bilder Cézannes zu verstehen, liefert Handkes Beschreibung von dessen malerischer Methode als einer Hervorbringung von ‚Hyperzeichen‘, welche den Abstand zwischen ‚Schrift‘ und Gegenstand aufheben: Cezánnes Felsen und Bäume waren mehr als solche [chinesische, B.H.] Schriftzeichen; mehr als reine Formen ohne Erdenspur – sie waren zusätzlich, von dem dramatischen Strich (und dem Gestrichel) der Malerhand, ineinandergefügt zu Beschwörungen – und erscheinen mir, der ich davor anfangs nur denken konnte: „So nah!“, jetzt verbunden mit den frühesten Höhlenzeichnungen. – Es waren die Dinge; es waren die Bilder; es war die Schrift; es war der Strich – und es war das alles im Einklang. (LSV 78f., Herv. i.O.)
Cézannes einmaliger „Ding-Bild-Schrift-Strich-Tanz“, der „unsereinem machtvoll und dauernd das Reich der Welt offenhält“ (LSV 79), wird zwar als etwas intersubjektiv Erfahrbares dargestellt, erinnert aber durch die Begeisterung für den reinen, durch keine Begriffe oder konventionelle Sprache gestörten Zugang zu den Dingen an die absolute Musik des armen Spielmanns. Und in Die Lehre der Sainte-Victoire läuft der nach dem Zusammenhange zitternde Handke wie ein Besessener seinem Maler nach, von den Museen bis in die Berge, um – wie die Bilder Cezánnes und wie der Rahmenerzähler mit dem Binnenerzähler Jakob in Der arme Spielmann – mit seinem Gegenstand zu verschmelzen: „[E]s war der Berg, der mich anzog, wie noch nichts im Leben mich angezogen hatte.“ (LSV 41) Von der Sainte-Victoire abwärtsgehend kündigt sich ihm das „‚Recht zu schreiben‘“ an (LSV 70), „jener entstofflichten und doch materiellen Sprache auf der Spur“ (LSV 73), die die Sprache Cézannes ist und in der er selbst (darüber) zu schreiben hofft. Auf dem Abstieg versetzt ihn der Blick eines Maulbeerbaums sofort in das jugoslawische Initialerlebnis im Jahr 1971, als er sich „erstmals eine vernünftige Freude hatte denken können“ (LSV 72). Bei diesem Erlebnis geht das Verschwinden des Ichs („ein Schweigen, mit dem das gewöhnliche Ich rein Niemand wurde“), das zugleich ein radikales Bei-sich-selbst-sein ist („in dem allein ich ganz und mir wirklich bin und die Wahrheit weiß“), mit
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der Erfahrung einer „Verwandtschaft mit anderen, unbekannten Leben“ einher und mit der Vorstellung, als Schriftsteller eine „treuestiftende Form!“ weitergeben zu können, „als berechtigten Vorschlag, für den Zusammenhalt meines nie bestimmbaren, verborgenen Volkes“ (LSV 72f.). Die Epiphanie eines Zusammenhangs durch Raum und Zeit aus Langsame Heimkehr kehrt hier in der schon bekannten demütig-omnipotenten Weise wieder. Wie bei Grillparzer liegen weiterhin das Nichts und das Absolute dicht beieinander, ein Niemand zu sein ist die Voraussetzung dafür, Alles zu erfahren und damit Medium eines größeren Zusammenhangs zu werden. Neben der Spur des „Ding-Bild-Schrift-Strich-Tanz[es]“ wird im letzten Teil des Buches ein weiterer zentraler Aspekt der Methode Cézannes/Handkes präsentiert, der mit Bruchstellen und Übergängen zu tun hat: „Es hatte sich in meiner Begierde nach dem Zusammenhang noch eine besondere Spur gezeigt, der ich mich verpflichtet fühlte, ohne daß ich wußte, worauf sie deutete und ob sie überhaupt weiterführte.“ (LSV 108) Es geht um „eine Bruchstelle zwischen zwei Schichten verschiedenartigen Gesteins“ (LSV 109) auf der Sainte-Victoire. „In der Natur mit dem freien Auge überhaupt nicht zu sehen, kehrt der Punkt doch auf den Bildern des Malers immer wieder, als kleinere oder größere Schattenbahn“ (ebd.). Diese Spur wird auch Handke zur „fixe[n] Idee“ (LSV 108), um die seine Phantasie „unwillkürlich und unerklärlich, ohne Unterlaß“ (LSV 108f.) kreist. Sie veranlasst ihn zur Wiederholung seiner Reise in die Provence, diesmal mit der Freundin D, einer Kleiderkünstlerin aus Paris, die ihm bei der Entschlüsselung des Rätsels hilft. Der Punkt, in dem sich die Wissenschaft des Geologen und die Kunst des Malers vereinen, wird über den Umweg der Schneiderkunst zu einer letzten großen Epiphanie, bei der ihn der „Große Geist der Form“ (LSV 115, Herv. i.O.) erfüllt. Die Freundin, die in ihrem „‚Größenwahn‘“ an einem „Mantel der Mäntel“ (LSV 104) gearbeitet hatte, hatte bei dem Problem, eine Verknüpfung zwischen den einzelnen Teilen des Mantels herzustellen, das sich u.a. auf die verschiedenartigen Stoffe bezog, die Lösung beim Betrachten von „Abbildungen und Baupläne[n] von chinesischen Dachkonstruktionen“ (LSV 118) gefunden. Diese waren durch ihre „Entlastung von Gewichten durch richtige Überleitungen“ gekennzeichnet, und so entdeckte sie, „daß es einen Bereich des Dazwischen überall gab“ (ebd.). Daraus hatte sie geschlossen: „‚Der Übergang muß für mich klar trennend und ineinander sein.‘“ (LSV 119, Herv. i.O.) Die Methode des Zusammenfügens der Teile zu einer Ganzheit, in der Material und Form, Ich und Welt, Vergangenheit und Gegenwart vereint sind, wird somit auf paradoxe Weise als eine Form verstanden werden, in der gerade die Bruchstellen bzw. die Zwischenräume Voraussetzung für die Ganzheit sind.
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Der Mantel wurde, so D., „besser als alle meine anderen Kleider, und er war nicht vollkommen“ (LSV 118f.). Das gleiche Prinzip scheint für Der große Wald zu gelten, den Gegenstand des letzten Kapitels der Lehre der Sainte-Victoire. Ohne erklärenden Übergang beginnt dieser Abschnitt mit einer Beschreibung des gleichnamigen, um 1655/1660 entstandenen Gemäldes von Jacob van Ruisdael, das trotz seines kleinen Formats den Eindruck eines weiträumigen Waldes vermittelt, indem es – wie alle niederländischen Landschaftsbilder des 17. Jahrhunderts – beim Betrachten zu wachsen anfängt. Vom Gemälde geht der Text dann in einer analogischen Verknüpfung zu einem realen Wald über: „Einen derartigen Wald gibt es in der Nähe von Salzburg: kein Stadtwald von heute, kein Wald der Wälder; doch wunderbar wirklich.“ (LSV 121) Dieser Wald ist allerdings eine real existierende Landschaft, die mit stifterscher Genauigkeit durchschritten wird, andererseits erweitert sich diese in der Beschreibung des erzählenden Ichs räumlich und zeitlich: Birken erinnern an Osteuropa (LSV 122), die Siedlung Gasse an eine nördliche Pionierstraße (LSV 124), in der sich verschiedene Sprachen hören lassen; von Gras und Flechten überwachsene, dicht bei einander liegende Steine sehen aus […] wie ein Kopfsteinpflaster. Sie sind vielfarbig, und die Moosflechten haben in jeden einzelnen eine deutliche Bilderschrift geätzt, von einem zum anderen völlig verschieden, wie Überlieferungen aus getrennten Erdteilen. Ein roter glockenförmiger Buckel wiederholt im kleinen einmal den australischen Ayers Rock […]; auf einem anderen steht eine indianische Jagderzählung. In der Dämmerung, wenn das Pflanzenwerk darüber verschwindet, offenbaren sich diese Steine als Geheimschrift und leuchten als eine düsterweiße, waldeinwärts führende Römerstraße. (LSV 130)
Als zentrale Motivkette versinnbildlicht ‚Die Straße‘ sowohl räumliche Verbindung und perspektivische Ausdehnung, aber auch eine zeitliche Erweiterung, vom Bohlenweg, der an Wege der Urzeit erinnert, über die Römerstraße, den Hohlweg mit Karrenspuren zur Pionierstraße der ‚mythischen‘ Zeit Amerikas im Sinne der Filme John Fords, die im Werk Handkes eine besondere Rolle spielen. Der Hohlweg Ruisdaels und die Römerstraße bilden wiederum eine Verbindung zur Malerei und der Frage der ästhetischen Form; Cézanne hatte die Wege der Römer gelobt, da sie, so der Maler, „immer bewundernswert angelegt“ seien: „‚Sie hatten einen Sinn für die Landschaft. Von allen Punkten gibt es ein Bild.‘“ (LSV 67)
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Die Spuren einer vergangenen, aber in diesem Wald wieder vergegenwärtigten Zeit zeigen sich auch in Form eines alten „Grenzstein[s], von den Knorren umschlungen und fast überwuchert“ (LSV 129): Die Natur hat sich das Alte und Trennende durch neue, verbindende Strukturen einverleibt. Im Bild der Dorfkinder, deren Gesichter hinter den Stämmen auftauchen, „seltsam von ihren Körpern getrennt, wie auf alten Bildern die Gesichter der Heiligen“ (LSV 133), ist andererseits die Abtrennung ihrer Gesichter die Voraussetzung ihrer Verwandlung beim Betrachten. Immer wieder treten in der Beschreibung des Waldes Zwischenräume, Rillen und Netzwerke auf, die auch in Langsame Heimkehr auf Sorger eine starke Wirkung ausüben, wie auch die Farben in beiden Texten eine zentrale Rolle spielen (vgl. LH 47). Dies lässt sich aber nicht nur als der Blick des Malers beschreiben, der stets Formen und Farben vor Augen hat; visuelle Gestalten werden nicht nur textualisiert, sondern interpretierend, mit anderen Räumen, Zeiten, Texten und dadurch vor allem mit Erfahrungen des Ichs verschränkt.39 Zwei Funktionen des Zwischenraums bzw. des Risses und den damit verbundenen Gestalten scheinen dabei besonders wichtig zu sein, sowohl in formaler als in thematischer Hinsicht: Zum einen die Verknüpfung ansonsten getrennter Teile zu einer Ganzheit (z.B. durch Zwischenräume, Zeit oder Raum), wie sie in Langsame Heimkehr in Epiphanien, in Die Lehre der Sainte-Victoire in verdichteten Beschreibungen von Naturgestalten zum Ausdruck kommt. Zum anderen wird das Zusammenfügen von (disparaten) Teilen hier zum erzählerischen Prinzip: Das Nebeneinander von unterschiedlichen Stoffen, Themen und Aspekten, ohne explizite, erzählerische Überbrückung, aber durch die textliche Aneinanderreihung doch so, als kreisten diese um den gleichen gedanklichen ‚Punkt‘. Dabei erzeugt das Nebeneinander von Kontrasten wie Ohnmacht und Allmacht, Glück und Verzweiflung des Ichs, Leben und Tod, Krieg und Frieden gerade jene Darstellung des Wirklichen, die weder das Böse beklagen, noch die Realität
39 Am ehesten wird man in Bezug auf diese Aspekte von Die Lehre der Sainte-Victoire an Robert Musil erinnert, der in seinen Texten Gestalten weit über ihren wahrnehmungspsychologischen Aspekten hinaus verwendet, um psychologische, ethische und kulturelle Probleme und Lösungsversuche auf individueller und kollektiver Ebene darzustellen. Vgl. Birthe Hoffmann, „Die Seele im Labor der Novelle. Gestaltpsychologische Experimente in Musils Grigia“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 735–765; dies., „Eine menschliche Moderne? Robert Musils Versuch einer neuen Synthese auf dem Boden der Gestaltpsychologie“, in: Musiliana, Bd. 17: Robert Musil’s Intellectual Affinities, hg. von Brett Martz und Todd Cesaratto, Frankfurt am Main u.a. 2018, S. 9–36.
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verschönern soll. Ein sinnfälliges Bild dafür ist das „Schwarzweiße Steinchenmosaik“, das bei der Vision des Großen Geistes der Form am Ende des vorletzten Kapitels „in wilder Dankbarkeit“ (LSV 115) wiederkehrt. Am Anfang des Buches wurde in einer Reflexion über religiöse Bilderverbote in Klammern bemerkt: „(Angesichts eines altrömischen Mosaikfußbodens gelang mir so einmal die Phantasie vom Sterben als einem schönen Übergang, ohne die übliche Verengung ‚Tod‘.)“ (LSV 17) Der trennende Riss des Todes funktioniert also in dieser Gestalt als Übergang und Teil eines größeren, ganzheitlichen Musters. In Der große Wald ist der Tod u.a. gegenwärtig durch den Friedhof mit der Statue des Gekreuzigten, wobei bezeichnenderweise der trennende Tod auch hier zu einem neuen Zusammenhang führt: Auf einer langen „Wandelallee“ bewegen sich manchmal „langsame Trauerzüge, wo bei Glockengeläute hinter einem Sarg einhergehende Fremde für einen Augenblick zu eigenen Angehörigen werden“ (LSV 125). Viel öfter aber, und ohne versöhnliche Geste, tritt der Tod in Gestalt des Krieges auf: Es fällt auf, wie in den Landschaftsbeschreibungen beider Texte regelmäßig Kriegsspuren auftauchen oder die Abwesenheit des Krieges thematisiert wird.40 In der Lehre der Sainte-Victoire steht in der Mitte das Kapitel Der Sprung des Wolfs über den bösen Hund in der Kaserne der Fremdenlegion in Puyloubier, wodurch es zum Bruch in der erzählerischen Reflexion über Cézan-
40 Typisch hierfür sind z.B. in Langsame Heimkehr die Assoziationen Sorgers bei den Geräuschen des Meeres: „[…] Manövergeschrei. Panzergedröhn; Splittern und Krachen; kurze Zeit herrschte Krieg. Nachher die Stille des Friedens; oder?“ (LH 144) Und über den Schiort seines verstorbenen Freundes heißt es: „In dieser Landschaft würden nie Kriege ausgetragen werden […] Dann senkte er den Kopf und beweinte den Toten (und die anderen Toten). Aufschauend glaubte er zu sehen, wie diese gewaltig über ihn lachten. Er lachte mit ihnen. Die Gegenwart loderte, und die Vergangenheit leuchtete. Er empfand einen tiefen Genuß bei der Vorstellung seines Nichtmehr-vorhanden Seins […]“ (LH 157f.) Am gleichen Ort stellt sich Sorger allerdings beim Anblick von Läufern vor, „daß da welche für einen Weltkrieg trainierten“ (LH 154). Vgl. zur Dialektik von Krieg und Frieden bei Handke neuerdings Hans Höller, „Peter Handkes ‚Weltliteratur‘“, in: Attila Bombitz/Katharina Pektor (Hg.), „Das Wort sei gewagt“. Ein Symposium zum Werk von Peter Handke, Wien 2018, S. 9–20. Thorsten Carstensen hat dagegen gezeigt, wie Handke seit Ende der achtziger Jahre die Perspektive der romanischen Architektur des Mittelalters nutzt, um die Gegenwart als „Friedenslandschaft“ zu imaginieren und sich somit im Schreiben der politischen Katastrophengeschichte zu widersetzen – ein Motiv, das, wie oben beschrieben, bereits die Cézanne-Rezeption kennzeichnete. Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013.
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ne und die Suche nach der Form kommt. In Der große Wald wird von der Beschreibung des „Keuchen[s] eines Läufers, dem bei jedem Schritt die Geschichtshaut, wie eine zweifache Maske, von tot auf lebendig springt“, zu einer „andere[n] Maske“ assoziiert, da hier eine „Bretterwand in einem großen Bombentrichter […] an einer Stelle, genau gesichtsgroß, wie von Nagetieren durchlöchert ist“ (LSV 128). Diese erweist sich „nah vor Augen als Zielscheibe; und die scheinbare Ruhebank davor ist der dazugehörige Schießstand“ (ebd.). Kommentarlos geht das Nebeneinander der Beschreibung des Waldes aber über den Schock des Lesers angesichts dieser Stelle hinweg – die Spuren des Krieges sind einfach da, neben anderen Spuren menschlicher Zivilisation und den Formen der Natur. Auch in der Beschreibung der Natur taucht zuweilen der Krieg als Metapher auf, der „gemeinsame Schrei eines darüber hinwegfliegenden Vogelschwarms kann hier wie eine Salve knallen“ (LSV 132), der Kammweg „erinnert flüchtig an eine Heeresstraße“ (LSV 135), und die „harztränenden Stellen in den Baumrinden rühren von Einschüssen?“ (Ebd.) Die vielen Spuren bei der Suche nach der großen Form, die wiederkehrenden Formen des Zwischenraums bzw. des Netzwerks und des Kreises, das Nebeneinander von Leben und Tod, helle und dunkle Farben verdichten sich in der Beschreibung eines Holzstoßes, hinter dem ein Dickicht wie der „finstere Bunker“ beschrieben wird und der von Erlen als „sich kreuzende[n] Stangen […] verknüpft von den dazwischen wuchernden Lianen“ (LSV 131f.), überwachsen ist: In diesem Netzwerk haben sich jene Blätter verfangen, die dann im Gedächtnis für den ganzen Wald stehen. Es ist angewehtes Buchenlaub, hell und oval; die Ovalform noch verstärkt durch die Rillen, die in jedem Blatt von der Mitte zum Rand ausstrahlen; die Farbe ein gleichmäßiges Lichtbraun. (LSV 132, Herv. i.O.)
Abstrakt gesehen vereinen die lichtbraunen Blätter, ebenso wie der überwucherte Holzscheit, die ewigen, ubiquitären Formen der Rillen und des Kreises und vermischen Licht und Dunkelheit in eine „gleichmäßige“ Farbe, die die alles umfassende Ganzheit fast wie ein Oxymoron ausdrückt: „Die lichtbraunen Buchenblätter sind hineingeweht und strahlen mit ihren Ovalen und Parallelen die unendliche Ruhe aus.“ (LSV 136) Ganz am Ende kehrt der Holzstoß wieder, nämlich genau dort, wo die „Steine der Römerstraße leuchten“ (LSV 138): Der rechteckige Stapel mit den gesägten Kreisen ist das einzige Helle vor einem dämmrigen Hintergrund. Man richtet sich davor auf und betrachtet ihn, bis nur noch die Farben da sind: die Formen folgen. Es sind auf den Betrachter zeigende Läufe, die aber im einzelnen jeweils woanders hinzielen. Ausatmen. Bei einem bestimmten Blick, äußerste Versunken-
132 heit und äußerste Aufmerksamkeit, dunkeln die Zwischenräume im Holz, und es fängt in dem Stapel zu kreisen an. Zuerst gleicht er einem aufgeschnittenen Malachit. Dann erscheinen die Zahlen der Farbentest-Tafeln. Dann wird es auf ihm Nacht und wieder Tag. Mit der Zeit das Zittern der Einzeller; ein unbekanntes Sonnensystem; eine steinerne Mauer in Babylon. Es wird der umfassende Flug, mit gebündelten Düsenstrahlen; und schließlich, in einem einmaligen Flimmern, offenbaren die Farben quer über den ganzen Holzstoß die Fußspur des ersten Menschen. Dann einatmen und weg vom Wald. Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt […]. (LSV 138f.)
Fast goethesch mutet das Ein- und Ausatmen an, als die Form der menschlichen Existenz zwischen Leben und Tod, Expansion und Kontraktion, Ich- und Weltbezug – hier um die moderne Welt der „Sportplätze und Nachrichten“ (LSV 139) erweitert, die zur Welt des Ichs ebenso gehört wie der große Welt-Wald seiner Imagination. Wie im Werk Franz Grillparzers werden menschliche Konflikte aber nicht gelöst, wird das Böse nicht überwunden, die durch die Kunst gefundene Form transportiert keine eindeutige Ideologie; der Zusammenhang ist brüchig, aber ‚schön‘, weil er in intersubjektiv wahrnehmbare Wirklichkeit verwandelt worden ist und damit den im Inneren des Subjekts und zwischen Menschen existierenden Riss überbrückt. Die Form eröffnet denn auch die Möglichkeit der Liebe, wie Sorger in Langsame Heimkehr behauptet hatte, und so lautet der letzte, sehnsuchts- wie hoffnungsvolle Satz in Die Lehre der Sainte-Victoire: „Zu Hause das Augenpaar?“ (Ebd.)
'!"!! # ) M ARIA L UISA R OLI Zwangsläufig wird dein sprachliches Wiedererobern der Welt zunächst geschmäht werden als „Harmonisierung“, wobei das Wort allein schon genügen wird als Hohn.1 PETER HANDKE/DIE GESCHICHTE DES BLEISTIFTS
$ Peter Handkes Rezeption von Adalbert Stifters Werk, die sich schon in seinen frühen Schriften erkennen lässt, ist in den Kontext der zweiten „Stifter-Renaissance“ der 1960er und 1970er Jahre einzuordnen.2 Das erneuerte Interesse an Stifter entsprach der Tendenz einer Generation von jungen, als „Grazer Gruppe“ etikettierten Autorinnen und Autoren, die sich „jenseits aller politischen Differenzen […] einer Ästhetik verbunden fühlten, der die Form […], aber auch die Formkonvention und hier wiederum die Sprache bzw. der Sprachgebrauch von zentraler Bedeutung sind, in deutlicher und ausdrücklicher Opposition zu einer
1
Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Frankfurt am Main 1985, S. 6. (Nachfol-
2
Michael Klein, „Peter Handke und die Anfänge der zweiten ‚Stifter-Renaissance‘ in
gend zitiert unter der Sigle GB.) den 1960er und 1970er Jahren. Versuch einer Rekonstruktion“, in: ders./Wolfgang Wiesmüller (Hg.), Adalbert Stifter. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik, Wien 2009, S. 27–45.
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wie auch immer gearteten [bundesdeutschen] Schreibweise.“3 Das Interesse der Autoren an Stifters Werk – neben Handke wären Thomas Bernhard und Barbara Frischmuth sowie seit Anfang der siebziger Jahre Wolfgang Bauer, Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Alfred Kolleritsch, Peter Rosei, Gerhard Roth, Michael Scharang und Julian Schutting zu nennen – ist zum einen „formal ausgerichtet“;4 zum anderen sind sie durch das Abgründige in vielen Erzählungen Stifters tief beeindruckt. Der Hervorhebung des Abgründigen bei Stifter begegnet man auch in einem Schlüsseltext Handkes: In der essayistischen Erzählung5 Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) weist der Ich-Erzähler auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Stifters Poetik des sanften Gesetzes und dem melancholischen oder gar katastrophalen Ausarten seiner Erzählungen hin. Die Forschung hat bislang keine eindeutigen Spuren von Äußerungen Handkes vor der Veröffentlichung des Romans Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) gefunden, die eine Beziehung zu Stifter belegen würden.6 Obwohl Stifter in dem Aufsatz Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) nicht im Zuge jener Autoren Erwähnung findet, denen Handke sich verpflichtet fühlt, kann der Satz „Ich habe keine Geschichte erfunden, ich habe eine Geschichte gefunden.“7 in Zusammenhang mit dem incipit einiger Erzählungen Stifters (z. B. Kalkstein) gebracht werden, auf die Handke in der Lehre der Sainte-Victoire hinweist – ein erster Satz, der „gut auch alle anderen bunten Steine bezeichnet“:8 „Ich erzähle
3
Ebd., S. 32.
4
Norbert Gabriel, Peter Handke und Österreich, Bonn 1983, S. 151.
5
Die Definition stammt von Claudia Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben. Zur Theorie und Interpretation moderner Prosatexte am Beispiel von Peter Handkes „Lehre der Sainte-Victoire“, Trier 2013.
6
Vgl. Lisa Witasek, Stilbezüge zu Stifter in der österreichischen Literatur der Gegenwart. Gezeigt an Peter Handke, Thomas Bernhard, Jutta Schutting, Peter Rosei, Diss., masch., Salzburg 1981. Witasek diskutiert beiden Autoren gemeinsame Merkmale wie die „minutiöse Auflösung von Vorgängen in ihre Bestandteile“ (S. 75) und die Sicht von außen (S. 73). Sowohl Gabriel (Peter Handke und Österreich, S. 152) als auch Klein („Peter Handke und die Anfänge der zweiten ‚Stifter-Renaissance“, S. 36) betonen, dass in Handkes frühen Werken jegliche Anspielung auf Stifter fehle.
7
Peter Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ [1967], in: ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main 1972, S. 19–28, hier S. 28 (Herv. i.O.).
8
Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 75. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.)
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hier eine Geschichte, die uns einmal ein Freund erzählt hat, in der nichts Ungewöhnliches vorkömmt, und die ich doch nicht habe vergessen können.“9 In dem kurzen Text „Einige Bemerkungen zu Stifter“, dessen französische Erstfassung 1991 in Le Monde erschien, zitiert Handke den Anfang von Turmalin, einer anderen gefundenen Geschichte des böhmischen Schriftstellers;10 die Erzählung beginnt mit den Worten: „Es hat sich in vergangenen Zeiten zugetragen…“.11 Weitere Beispiele von gefundenen Geschichten findet man bei Stifter in den Erzählungen Der Waldsteig und Zwei Schwestern, sowie im historischen Roman Witiko. Der Nachsommer selbst geht, was die Vaterperson Risach betrifft, auch auf verklärte persönliche Erinnerungen aus der Wiener Zeit des Autors zurück.12 In einem Brief vom Januar 1861 an seinen Verleger Gustav Heckenast über den Witiko thematisiert Stifter das Finden der Form: „Gebe ich also meinem Stoffe die Form, so ist sie doch von mir ganz unabhängig, und geht nur von dem Stoffe ab, ich muß sie finden, nicht erfinden. Das Finden macht mir aber oft große Freude, wie dem Naturforscher, wenn er unbekannte aber längst vorhandene Erscheinungen entdeckt.“13 Adalbert Stifters Opposition gegen den programmatischen Realismus und gegen Friedrich Hebbel, die in der „Vorrede“ zu Bunte Steine verhüllt bleibt,14
9
Adalbert Stifter, Kalkstein, in: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 38 Bde., hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart/Berlin/Köln 1978ff. (= HKG), hier: Bd. 2,2: Bunte Steine. Journalfassungen, hg. von Helmut Bergner, Stuttgart u.a., S. 63.
10 Vgl. die deutsche Fassung: Peter Handke, „Einige Bemerkungen zu Stifter“, in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt am Main 2007, S. 111–113, hier S. 112. 11 Adalbert Stifter, Turmalin, in: HKG, Bd. 2,2, S. 135. 12 Wolfgang Frühwald hat davor gewarnt, Stifters edle Gestalten (wie den sanftmütigen Obristen in der Mappe meines Urgroßvaters, Stefan Murai in Brigitta und den Freiherrn von Risach im Nachsommer) mit dem Autor selbst zu identifizieren. Vgl. Wolfgang Frühwald, „Die Sanftmut des Tigers. Schreiben, um den Tod aufzuhalten: zum 200. Geburtstag des Dichters Adalbert Stifter“, in: Klein/Wiesmüller (Hg.), Adalbert Stifter. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik, S. 79–82, hier S. 81. 13 Adalbert Stifter, Sämmtliche Werke. Prag-Reichenberger Ausgabe, 25 Bde., hg. von August Sauer u. a., Prag 1901ff., Reichenberg 1927ff., Graz 1958, Hildesheim 1979, 19. Bd., Briefwechsel, 3. Bd., hg. von Gustav Wilhelm, S. 266 (Herv. M.L.R.). 14 Vgl. Maria Luisa Roli, „Stifters Poetik anhand der Vorrede zu Bunte Steine“ in: dies., Il telescopio di Goethe. Poetiche della scienza e delle arti figurative tra Settecento e Novecento, Lugano 2010, S. 81–94.
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geht aus der Korrespondenz mit Heckenast klar hervor. In einem Brief vom 7. Februar 1856 gilt Stifters eingehende Kritik dem Roman Soll und Haben von Gustav Freytag:15 Freitag geht es in der Poesie wie den Virtuosen in der Musik. Sie können meistens in der Technik Außerordentliches leisten, ohne daß ihr Spiel Musik ist. Freitag macht Theile äußerst geschickt, ohne daß ein Hauch von Poesie vorhanden ist. […] Er hat lauter Theile, die nie ein Bild machen, man muß in den 3 Bänden ewig neu anfangen, keine Begebenheit bleibt sie selber, kein Karakter bleibt er selber, und immer hat man an den Erlebnissen keine Freude.16
Nach Stifter kommt es in der Romankunst nicht auf die Realisation von geschickten Teilen, von „Virtuosenkunststüken“ an, sondern auf die Orchestrierung der Teile zu einem poetischen Ganzen. Aus dieser Kunstauffassung ergibt sich die Herabsetzung der Bedeutung des Stoffes, der demnach ausschließlich eine Funktion innerhalb eines größeren Zusammenhanges innehat. In einem Brief an den Landschaftsmaler August Piepenhagen vom 15. Januar 1865 betont Stifter die Bedeutungslosigkeit des Stoffes in der Malerei und im Allgemeinen in der Kunst: Das S t r e b e n des Künstlers ist es ja auch, wodurrch er sich offenbart; je reiner, gefühlvoller, von Menschenhoheit durchdrungener er ist, desto mehr entzükt er uns; denn der Mensch ist’s, der dem Menschen am holdesten ins Herz spricht. Wie könnte uns denn eine gemalte Landschaft so sehr gefallen, die doch, und wenn sie die beste der Welt ist, tausendmal schlechter ist, als die Natur […]? […] Darum ist auch der Stoff so gleichgiltig, wenn nur der Mensch sein großes Innere dadurch zu entfalten vermag, und darum sucht gerade die Armuth des Innern die allergrößten Stoffe auf, und wird auch alle Male von dem Stoffe herabgeworfen; denn sie weiß nie, was der Stoff heischt. Der große Künstler zittert vor dem großen Stoffe, weil er seine Größe erreichen zu können verzagt.17
15 Vgl. hierzu Karl Wagner, „Die Litanei der Phänomene. Zum 200. Geburtstag ist seine Ästhetik keineswegs veraltet – Adalbert Stifters andere Art zu erzählen“, in: Klein/Wiesmüller (Hg.), Adalbert Stifter. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik, S. 167–173, hier S. 171f. 16 Stifter, Sämmtliche Werke, 18. Bd., Briefwechsel, 2. Bd., hg. von Gustav Wilhelm, Reichenberg 1941, S. 302. 17 Stifter, Sämmtliche Werke, 20. Bd., Briefwechsel, 4. Bd., hg. von Gustav Wilhelm, Prag 1925, S. 258 (Herv. M.L.R.).
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Handkes Ablehnung der „großen Stoffe“, seine Suche nach „gefundenen Geschichten“ knüpft also an eine Tradition der Moderne an, die mit der Erzählkunst Stifters und Flauberts ihren Anfang nimmt und wenig zu tun hat mit den Lösungsversuchen, die große Modernisten des 20. Jahrhunderts wie Musil, Proust und Joyce unternommen haben, um aus der Sackgasse der Romankrise nach der Jahrhundertwende herauszufinden. Handke spürt dieser anderen Tradition der Moderne nach, die nach Karl Wagner „über die Prosa eines Francis Ponge und den nouveau roman zu Schreibformen der Gegenwart führt, die andere Sorgen haben als ‚action‘ und ‚suspence‘, Geschwindigkeit und Gewalt.“18 Die bei Wagner genannten Schweizer Autoren und Stifter-Kenner Ludwig Hohl, Gerhard Meier und E. Y. Meyer19 können ebenso als Vorbilder eines solchen Erzählprogramms gelten wie Emmanuel Bove, Herrmann Lenz und Franz Nabl. Das erste ausdrückliche Zitat aus einem Werk Stifters bei Handke findet sich in der Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied; es handelt sich um einen Satz aus der Mappe meines Urgroßvaters: „Die Zeit schleifte so hin“. Handkes Protagonist erinnert sich an diesen Satz, als er, in einem Hotelzimmer eingeschlossen, sich tödlich langweilt und sich der Wut auf die amerikanische Konsumwelt hingibt: Es war lächerlich, so allein zu sein. Am liebsten hätte ich mich geschlagen, so langweilig war ich mir. […] Ich ging auf und ab, vorwärts und rückwärts. Oder ein Buch aufzuschlagen und darin irgendeinen widerlichen Satz lesen zu müssen! Aus dem Fenster schauen und es wieder mit SNACK-BAR, TEXACO, ICECREAM zu tun bekommen! Verschließt alles, gießt es in Zement! Ich legte mich aufs Bett, drückte mir alle Polster auf den Kopf. Ich biß mir in den Handrücken und stieß mit den Füßen um mich. „Die Zeit schleifte so hin.“ Dieser Satz aus einer Geschichte von Adalbert Stifter fiel mir ein. Ich setzte mich auf und nieste. Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich dabei ein ganzes Stück Zeit übersprungen. Ich wünschte mir nun, daß mir so bald wie möglich etwas zustoßen würde. (KB 158f.)
Handke erkennt dem Stifterschen Satz eine zusammenfassende, epische Funktion innerhalb der Erzählung zu.20 Nachdem der Ich-Erzähler die eigene „Zersplit-
18 Wagner, „Die Litanei der Phänomene“, S. 173. 19 Ebd. 20 Gabriel, Peter Handke und Österreich, S. 153: „Das Zitat aus Stifters ‚Mappe‘ faßt die Situation des ‚Helden‘ prägnant zusammen. Das Zitat ermöglicht die Distanzierung. Der Held wird sich über sich selber klar. […] Nachdem ihm der Satz Stifters eingefallen ist, setzt er sich aus dem Liegen, in das er sich in seinem Selbstekel ge-
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terung im Erleben von Zeit“ beschrieben hat, findet er bei Stifter das „adäquate literarische Ausdrucksmittel für moderne Zeiterfahrungen […]“.21 Die Zeitwahrnehmung des Protagonisten verwandelt sich plötzlich nach dem Zitat und versetzt ihn in die Zukunft. In einer auf den 1. April 1976 datierten Aufzeichnung im Journal Das Gewicht der Welt (1977) zitiert Handke drei Sätze aus Goethes Wahlverwandtschaften und bemerkt: „(Es ist wie beim ‚Nachsommer‘: die Geduld zum Lesen wird nicht vorausgesetzt, sondern mit dem Lesen erzeugt)“.22 Diese Bemerkung widerspricht denjenigen, die behaupten, zum Lesen vorbildlicher Epen, wie den eben erwähnten, gehöre Geduld, weil sie letzten Endes langweilig sind. In seinem Journal Die Geschichte des Bleistifts (1982) diskutiert Handke den Gebrauch der schmückenden Beiwörter, die die antike Dichtung von Homer und Vergil charakterisieren. Er verweist auch auf Stifter, den er in diesem Notatbuch oft erwähnt, indem er als Beispiel einen Satz aus einer von dessen Erzählungen zitiert: „und verweilten in der weiten glänzenden Luft“. Solch schmückende Beiwörter bezeichnet Handke als „ein Verdienst der epischen Geduld“ (GB 306), er erkennt in ihnen eine retardierende Funktion innerhalb der Erzählung im Gegensatz zu dem vorhergehenden Beispiel aus der Mappe des Urgroßvaters. In demselben Journal zitiert der Autor ein Beispiel von Stifters Weitläufigkeit aus der Erzählung Turmalin: Sie pflückten keine Beeren, weil sie nicht Zeit hatten, und weil schon der Sommer so weit vorgerückt war, daß die Heidelbeere nicht mehr gut war, die Himbeere schon aufgehört hatte, die Brombeere noch nicht reif war, und die Erdbeere auf dem Erdbeerenberge stand (GB 305).
Zehn Jahre liegen zwischen diesem Notat und dem Kurzen Brief zum langen Abschied, und an den gewählten Beispielen erkennt man Handkes Entwicklung zu einer klassischen Einstellung. In der Zwischenzeit gelangt er zu jener klassischen Wende, die in der Tetralogie Langsame Heimkehr, Die Lehre der SainteVictoire, Kindergeschichte und Über die Dörfer vollzogen wird.23
flüchtet hat, auf. Sprunghaft wird ihm eine Veränderung bewußt, eine neue Qualität seines Zustandes.“ 21 Herwig Gottwald/Andreas Freinschlag, Peter Handke, Wien 2009, S. 114. 22 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Salzburg 1977, S. 101. 23 Am ergiebigsten das schöne Buch von Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Berlin, 2013.
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Die Geschichte des Bleistifts ist überaus reich an poetologischen Äußerungen; in einer Aufzeichnung drückt Handke den Wunsch aus: „Ich möchte nicht nur episch feststellen (wie etwa Stifter, Fontane oder Gottfried Keller), sondern auch noch hinzufügen können: ‚Glaubt mir und haltet euch daran!‘“ (GB 306). Hier tut Handke seine ethische Haltung kund: Er möchte den Umstieg vom epischen, objektiven Erzähler zum Verkünder einer Wahrheit vollziehen, an die sich der Leser halten könnte. Im Anschluss daran folgt der Satz: „Vom Guten schreiben, ja; aber es kommt darauf an, dass dieses auch geglaubt wird“ (GB 307). Die Wahrheit zu sagen, wird in einer nachfolgenden Aufzeichnung als der „Triumph des Schreibens“ (GB 312) angesehen, und durch ein Zitat aus Voltaire betont der Autor, die „Geschichten [sollten] wenigstens Emblem der Wahrheit sein“ (GB 318). Wahrheit wird übrigens durch Schönheit mitgeteilt, wie eine spätere Aufzeichnung behauptet: „Ich bin doch immer wieder von der Wahrheit erfüllt: also muß diese eine Folge bringen, die Schönheit: welche die ‚Mitteilung‘ der Wahrheit wäre“ (GB 332).24 Dass man durch Schönheit Wahrheit mit-
24 Werner Michler erkennt „Handkes Interesse an der neoplatonischen Tradition“; ders., „Teilnahme. Epos und Gattungsproblematik bei Peter Handke“, in: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 117–134, hier S. 127. Derweil belegt Herbert Gamper mit zahlreichen Beispielen aus Handkes Versuch über die Müdigkeit die „Identität der im platonischen Sinn idealen mit der empirisch wahrgenommenen Seinsweise“. Der Begriff ‚Wahrheit‘ verweise auf Hegels Philosophie. Ders., „‚Um diese Speise führt kein Weg herum‘. Zu Handkes quasisakraler Poetik“, in: Amann/Hafner/Wagner, Poesie der Ränder, S. 35–46, hier S. 44f. Zu den Beziehungen zwischen Handkes Poetologie und dem späten 18. Jahrhundert, insbesondere den Kunsttheorien von Karl Philipp Moritz siehe Roland Borgards, Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert, München 2003, S. 162–172, hier S. 166. Sentenzen über die Identität des Wahren und Schönen finden sich oft bei Stifter, z.B. in dem programmatischen Aufsatz Die Kunstschule (1849), wo man liest: „Kunst […] heißt die Fähigkeit, etwas hervorzubringen, was durch außerordentliche Schönheit das Herz des Menschen ergreift, es emporhebt, veredelt, mildert, zu allem Guten, ja zur Andacht und Gottesverehrung stimmt.“ (HKG, Bd. 8,2: Schriften zu Politik und Bildung: Texte, hg von Werner M. Bauer, Stuttgart 2010, S. 174.) Jenseits des Platonismus, der von der christlichen Tradition absorbiert wurde, formulierte ein Zeitgenosse Stifters, der Populärphilosoph Ernst von Feuchtersleben, der Autor einer Diätetik der Seele, ähnliche Ideen über die Kunst und übte einen direkten Einfluss auf ihn aus. Vgl. HKG, Bd. 8,5: Schriften zur bildenden Kunst. Apparat, Kommentar, hg. von Karl Möseneder, Stuttgart 2013, S. 28, passim.
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teilen kann, entspricht einer idealisierenden selektiven Kunstauffassung, die auf dem alten rhetorischen Prinzip der evidentia beruht, einem Prinzip, das an Stifters Ideen über die Kunst anknüpft, deren Wurzeln auf die Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, auf Shaftesbury und die deutsche Klassik zurückzuführen sind.25 In dieser Hinsicht besonders aufschlussreich ist Handkes Darlegung seiner Poetik anlässlich der „Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises“ (1979): Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt.26
Es lohnt sich, den offensichtlichen Unterschied zwischen Handkes Erklärung und den oben genannten Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts hervorzuheben: Der Autor macht das Recht auf eine persönliche Wahrheit geltend, obwohl er behauptet, zum Universalen zu tendieren. Indem er die „Erschütterung durch Schönheit“ beschwört, greift er zugleich auf romantische Topoi zurück.27 Die persönliche Wahrheit, nach der er sucht, hebt sich zudem von der Franz Kafkas ab, der spätestens im Zuge von Handkes Wendung zum Klassischen seine frühere Vorbildfunktion verliert. Nicht zu vergessen sind in dieser Hinsicht Handkes frühe Umschreibungen von Texten Kafkas wie Das Feuer (1963), dessen stilistisches Modell der Text Auf der Galerie ist, und Der Prozeß (1965),28 Schreibübungen, auf die die Bezeichnung „unser großer Lehrer“29 höchstwahrscheinlich anspielt. Allerdings war das Modell auf die Dauer anscheinend so bedrückend, dass Handke so weit geht, emphatisch zu behaupten: „Ich hasse Franz Kafka, den Ewigen Sohn“.30
25 Vgl. Maria Luisa Roli, „Realismo e idealismo. Il programma estetico di Stifter“, in: dies., Arte e scienza nella scrittura visuale di Stifter, Lugano 2007, S. 157–193, hier S. 167; auch in: Studi Germanici (nuova serie) 38:2 (2000), S. 271–296. 26 Peter Handke, „Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises“, in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, S. 73–75, hier S. 74 (Herv. i.O.). 27 Darauf verweist Anne-Kathrin Reulecke, „Die Lehre der Sainte-Victoire. Poetologie in einer medialen Welt“, in: Text + Kritik 24, VI/99, S. 62–79, hier S. 66. 28 Peter Handke, „Das Feuer“, „Der Prozeß“, in: ders., Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze, Frankfurt am Main 1969, S. 32–37 und 86–100. 29 Handke, „Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises“, S. 73. 30 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main 1983, S. 94. Karl Wagner hat diesbezüglich auf den Einfluss von Nietzsche-Lektüren hingewiesen. Er
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Wenn Handke Ende der siebziger Jahre den Weg der Epik einschlägt, so ist „das aufzufindende, zuzufallende‘ Gesetz [das der Erzählung], das ‚Kafka‘ bannt und an seine Stelle Stifters ‚Sanftes Gesetz‘ stellt.“31 In Bezug auf die Epik scheint eine andere Aufzeichnung unmittelbar von Stifter inspiriert zu sein: „Episch werde ich erst sein können, wenn ich einen festen, beständigen Sinn für die Dinge haben werde; wenn ich fähig sein werde, zu warten, bis das Innere am Äußeren gestalthaft wird“ (GB 254). Eine weitere Annäherung an Stifter kann man in Handkes „quasisakraler Poetik“ erkennen, die Herbert Gamper untersucht hat: Er zitiert als Beispiel den Protagonisten des Chinesen des Schmerzes, Andreas Loser, der den Durchbruch aus der Verdammnis ins individuelle Heil erlebt. Das in Handkes Erzählung angekündigte Heil verleiht dem Schriftsteller eine Rolle, die „analog dem Priester“ ist.32 Der Verweis auf eine Stelle aus der „Vorrede“ zu Bunte Steine ist offensichtlich: Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der Religion, das Höchste auf Erden […]. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es sehr viele. 33
Gemäß der „Vorrede“ zu Bunte Steine sind die kleinen Phänomene, die kleinen Dinge, Zentralbegriffe von Stifters Poetik; Carstensen verweist auf Handkes Aktualisierung der „Tradition der ‚Dingverbundenheit‘, die in der neueren deutschen Literatur von Goethe über Stifter bis Rilke reicht, […] indem er [Handke] die analytische Form der Weltaneignung für unzureichend erklärt und für die Rückkehr zu einer Anschauung plädiert, die eben bei den Dingen ihren Anfang
fügt hinzu: „[…] zugleich ist dieses plakative Bekenntnis von äußerster Ambivalenz, weil es auch auf die eigene Sohnesrolle in Bezug auf Kafka verweist, der für ihn, ‚Zeit seines Schreiblebens, Satz für Satz, der Maßgebende gewesen ist‘“. Vgl. ders., „Handkes Arbeit am 19. Jahrhundert: Roman und Realismuskritik“, in: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzähl-Literatur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 403–412, hier S. 411. Handkes Zitat aus der „Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises“, S. 73. 31 Vgl. Michler, „Teilnahme. Epos und Gattungsproblematik bei Peter Handke“, S. 126. 32 Gamper, „Um diese Speise führte kein Weg herum“, S. 39. 33 Adalbert Stifter, „Vorrede“ zu Bunte Steine, in: HKG, Bd. 2,2, S. 9 (Herv. M.L.R.).
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nimmt.“34 Werner Michler hat „de[n] Konnex von Gattungsfragen […] und der ‚Erzählung‘ auch im Kontext der zeitgenössischen Wissensordnungen“35 untersucht. Viele Protagonisten Handkes pflegen eine Wissenschaft: Sorger in Langsame Heimkehr die Geologie, Filip Kobal und sein Bruder in Die Wiederholung die Agronomie, Andreas Loser in Der Chinese des Schmerzes die Altphilologie und Archäologie, die „Bankfrau“ im Bildverlust die Ökonomie. Es lohnt sich, im Zusammenhang mit unserem Thema zu bemerken, dass das Interesse für die Wissenschaften eine Charakteristik von Stifters Erzählung Der Nachsommer ist. Sorgers „Lust, den Gattungsbezeichnungen jedes einzelnen Gebildes noch einen freundlichen Eigennamen beizugeben“,36 entspricht der Gewohnheit Heinrich Drendorfs, sich eigene Benennungen für Pflanzen auszudenken. Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Eintheilungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern oder nach den Blüthentheilen gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt die herkömmlichen Eintheilungen bei, und hatte aber auch meine Beschreibungen daneben.37
Typisch ist auch für Stifters Erzählen die Außensicht, die den epischen Charakter seiner Werke anschaulich macht. Witasek hebt die Motivationslosigkeit der Handlungen sowohl bei Handke (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Die linkshändige Frau, Die Stunde der wahren Empfindung) als auch bei Stifter (Turmalin, Der Hagestolz, Der Waldgänger) und die Verwendung der direkten Rede als „ein die Außensicht verstärkendes Mittel“ hervor.38 Eine weitere Aufzeichnung Handkes betont diesen Begriff: „Ich freue mich am Außen, des Außen. Am Außen aber kann ich mich nur freuen, wenn es friedlich ist. Also werde ich für ein friedliches Außen sorgen: die Moral der Geschichte, die Moral des Erzählens“ (GB 313f.).
34 Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 82. Der Begriff ‚Dingverbundenheit‘ zit. nach Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/Wien 1998, S. 39. 35 Michler, „Teilnahme. Epos und Gattungsproblematik“, S. 132. 36 Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 75. 37 Adalbert Stifter, Der Nachsommer, in: HKG, Bd. 4,1, S. 32. 38 Witasek, Stilbezüge zu Stifter, S. 102f.
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Stifter-Bezüge sind auch in Handkes Motivik auszumachen, insbesondere hinsichtlich von Stoffen, die das Gehen,39 die Dinge,40 die Langsamkeit,41 räumliche Utopien,42 den Schnee,43 die Visualität44 und die Wiederholung betreffen.45 Nicht umsonst spricht Wendelin Schmidt-Dengler von einer „Konstanz von Motiven“46 bei Handke. Klaus Kastberger hat Handkes Erzählung Kali47 zu Stifters Bergkristall in motivische Parallele gesetzt, wobei er erkennt, dass die StifterReminiszenzen bei den Buchbesprechungen, die den alten, noch biedermeierlich orientierten Interpretationsklischees der Stifter-Rezeption folgen, dem Autor paradoxerweise „nicht besonders viel Wohlwollen entgegengebracht haben“.48 Leopold Federmair, Verfasser eines der lesenswertesten Stifter-Bücher der letzten Jahre, hat Handke eine Studie gewidmet, die zum Teil den Ansatz einer
39 Vgl. zum Motiv des Gehens: Ulrike Weymann, „Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos. Die Signifikanz des Wege- und Reisemotivs für die Schreibpraxis Peter Handkes“, in: Hans Richard Brittnacher/Magnus Klaue (Hg.), Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 227–245; Georg Pichler, „Inszenierung fremder Landschaften. Peter Handkes spanische Reisen“, in: Amann/Hafner/Wagner (Hg.), Poesie der Ränder, S. 65–80. 40 Zu den Dingen vgl. Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945, S. 96. 41 Zur Langsamkeit vgl. Gerhard Fuchs/Gerhard Melzer (Hg.), Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993. 42 Zur räumlichen Utopie vgl. Karl Wagner, „Über die literarischen Dörfer. Zur Ästhetik des Einfachen“, in: ders., Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke, Bonn 2010, S. 49–80, hier 59–61. 43 Zum Motiv des Schnees vgl. Hans Höller, „‚Snow, keep on falling‘. Über Schnee und Schneien bei Adalbert Stifter und Peter Handke“, in: Klaus Kastberger/Manfred Mittermayer (Hg.), Stifter-Stoffe. Materialien in der Literatur (Jahrbuch Adalbert-StifterInstitut des Landes Oberösterreich, 16), Linz 2009, S. 129–138. 44 Zur Visualität vgl. W. G. Sebald, „Helle Bilder und dunkle“, in: ders., Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, SalzburgWien 1985, S. 165–186; Jürgen Wolf, Visualität, Form und Mythos in Peter Handkes Prosa, Opladen 1991. 45 Zur Wiederholung vgl. Carstensen, Romanisches Erzählen, S. 35f., 131f., 135f. 46 Wendelin Schmidt-Dengler, „Laboraverimus. Vergil, der Landbau und Handkes Wiederholungen“, in: Amann/Hafner/Wagner (Hg.), Poesie der Ränder, S. 155–165. 47 Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt am Main 2007. 48 Klaus Kastberger, „Peter Handke und das Salz – fünf Orte“, in: ders. (Hg), Freiheit
des Schreibens – Ordnung der Schrift, Wien 2009, S. 143–156, hier S. 155. Vgl. die Rezension zu Kali von Daniela Strigl, in: Die Furche, Nr. 19/2007.
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biographischen Hermeneutik verwendet.49 Federmair interpretiert Handkes Protagonisten als Alter-Egos des Autors. Die bei Stifter wie Handke anzutreffende Tendenz zur Sanftheit, die Suche nach einer „vernünftige[n] Freude“ (LSV 24f.), sei der Versuch, das „Tigerartige, das in uns schlummert“,50 zu zähmen. Bei beiden Autoren hebt Federmair die Verschränkung von Ethik und Ästhetik hervor.51 Einen biographischen Parallelismus könnte man außerdem an der Entwicklung beider Schriftsteller von niedriger Herkunft zur Klassik erkennen – eine Entwicklung, die Handke im Journal zum Kern seines Schreibprojekts erhebt: „Das Pathos meiner Herkunft bewahrt mich vor dem Klassizistischen (das Zeichen des Bürgerlichen ist) und verlangt von mir das Klassische (das nicht nur mich adelt).“ (GB 30)
Die offensichtlichsten Anknüpfungspunkte an Adalbert Stifters Werk und Poetik finden sich in der Lehre der Sainte-Victoire, jener in hohem Maße selbstreflexiven Erzählung, die den zweiten Teil der Tetralogie der Langsamen Heimkehr bildet. Am Anfang des Textes ergänzen sich Anspielungen auf den persönlichen Zustand des Autors und seine Wiederaufnahme der schriftstellerischen Tätigkeit nach der Reise nach Alaska.52 Handke leidet während der Niederschrift von Langsame Heimkehr unter Einsamkeit und dem Gefühl des „Sprachverlusts“.53 Die Dankbarkeit des Autors für die Zuflucht, die ihm Hermann und Hanne Lenz im Januar 1979 bieten und die ihm erlaubt, die Schreibkrise zu überbrücken, scheint aus der Widmung der Lehre der Sainte-Victoire durch. Die Rückkehr nach Europa bedeutet für Handke, im Kontext eines vorläufig stabilen Lebens die Gewohnheit des täglichen Schreibens wieder annehmen zu können und Bü-
49 Leopold Federmair, Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie, Salzburg/Wien
2005; ders., Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke, Salzburg/Wien 2012. 50 Adalbert Stifter, Zuversicht, in: HKG, Bd. 3,1: Erzählungen, hg. von Johannes John
und Sibylle von Steinsdorff, Stuttgart 2002, S. 86; Federmair, Die Apfelbäume von Chaville, S. 125 ff. und 190, zum „Sanften Gesetz“ vgl. S. 64. 51 Federmair, Die Apfelbäume von Chaville, S. 270.
52 Vgl. Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie, München 2011, S. 213–216. 53 Handke, Am Felsfenster morgens, S. 392.
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cher, die er schon kennt, unter einem neuen Aspekt zu lesen – so auch im Fall von Stifters Erzählung Bergkristall. Die plötzliche Erwähnung hat die Funktion, einen Zusammenhang zwischen den Bewohnern des abgelegenen Dorfes und dem Zustand des Ich-Erzählers herzustellen: Im Gegensatz zu ihm sind diese Menschen sehr „stetig“, sie besitzen die Tugend der Beständigkeit, bewahren ihre Häuser und ihre Umwelt; sogar die Farben ihrer scheckigen Kühe stehen für Kontinuität.54 Die Farbe in Stifters Erzählung ist das Element, das den Zusammenhang mit der Wanderung Handkes von Aix-en-Provence zum Dorf Le Tholonet stiftet. Aus dieser Lektüre ergibt sich für den Schriftsteller eine Ermunterung zu einer aufnahmefähigeren Naturbetrachtung, die ihn während der Wanderung die Farben der Landschaft deutlicher wahrnehmen und bewundern lässt. Zwischen „Naturwelt und Menschenwerk“ herrscht ein harmonischer Zusammenhang, der dem Ich-Erzähler „einen Beseligungsmoment“, einen „Augenblick der Ewigkeit“ bietet (LSV 9f.). Als einer der prägnantesten Aspekte in Handkes Erzählkunst verweist der Moment des Nunc stans auf ein mystisches Erlebnis, in dem Vergangenheit und Zukunft in einer einzigen, unveränderlichen Gegenwart vereint sind.55 Die folgende Naturbeschreibung besteht aus einer Reihe von parataktischen Sätzen und kulminiert in einer Wendung in Stifterschem Stil: „Das Gebüsch war gelber Ginster, die Bäume waren vereinzelte braune Föhren, die Wolken erschienen durch den Erddunst bläulich, der Himmel (wie Stifter in seinen Erzählungen noch so ruhig hinsetzen konnte) war blau.“ (LSV 10) Der Ich-Erzähler scheint mit Stifter um die Wette zu schreiben, indem er in seiner Beschreibung so schlichte Sätze wie „Der Himmel war blau“ verwendet. Durch das Thema ‚Farbe‘ knüpft der Ich-Erzähler an eine andere Lektüre, Goethes Farbenlehre, an. Hierbei geht es nicht um eine Pflichtlektüre für Eingeweihte, sondern um das ganz persönliche Erlebnis des farbunsicheren Jugendlichen: Die Bemerkung des Stiefvaters, mit dem schwierige Verhältnisse herrschen, er sei zum ersten Mal stolz auf ihn, weil er den Farbtafeltest überwunden habe, ist merkwürdig „verbunden mit dem frischen Rotbraun des von dem Mann gerade umgegrabenen Gartens“ (LSV 13). Die Erinnerung an die Farbe des Bodens weckt im Ich-Erzähler die an eine autobiographische Schrift
54 Gabriel, Peter Handke und Österreich, S. 207: „Handke hebt an Stifters Erzählung den Geist und die Kraft der Überlieferung und Bewahrung, der Beständigkeit und Treue hervor: eben alle jene Eigenschaften und Aufgaben, die er von der Kunst fordert.“ 55 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, „Die heilige Schrift. Peter Handke ‚Die Wiederholung‘“, in: dies., Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 172–207.
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Stifters. Dieser tief erschütternde Text beschreibt die Wahrnehmungen der Umwelt und die daraus sich ergebenden Empfindungen eines ganz kleinen Kindes: Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Dies ist der Grund und die Entschuldigung, daß ich die folgenden Worte aufschreibe. […] Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die fest gehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gefühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. […] Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes. Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung. Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten und Arme, die alles milderten. […] Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das „Mam“ nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.56
Die Farbe Rotbraun ist das Detail im Text Handkes, das die Verbindung mit dem Stifters herstellt, wo die Worte ‚rot‘, und später auch ‚rötlich‘ vorkommen. Die Lektüre dieser autobiographischen Schrift hat die Aufmerksamkeit des IchErzählers für „farbige Stellen in gleichwelchen Wäldern“ (LSV 14) in Stifters Erzählungen erhöht. Das Rot spielt eine Rolle auch in der Episode des Maulbeerenwegs: Es ist die Farbe der Früchte des Maulbeerbaums, die den Ich-Erzähler an seine Jugoslawien-Reise im Sommer 1971 erinnern. Von den Sprachbildern Stifters zu den gemalten Bildern Cézannes: Beide werden zu „privilegierte[n] Wahrnehmungsgegenstände[n]“, durch die „sich etwas für die Wahrnehmung der Welt lernen“ lässt.57 Der Ich-Erzähler ist der Protagonist eines Rezeptionsak-
56 Adalbert Stifter, „Autobiographische Skizzen“, in: ders., Die Mappe meines Urgroßvaters. Letzte Fassung. Schilderungen, Briefe, mit einem Nachwort von Fritz Krökel sowie Anmerkungen von Karl Pörnbacher, München 1979, S. 602f. 57 Borgards, Sprache als Bild, S. 21. Borgards bezieht sich ausschließlich auf Cézanne.
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tes, der „um ein langes Bedenken, einen Verstehensprozeß ergänzt [wird]“.58 Und das gilt sowohl für die Texte Stifters als auch für die Bilder Cézannes. Von beiden Verstehensprozessen erfährt der Ich-Erzähler eine Lehre, die er weitergeben kann, indem er sie in einer Geschichte umschreibt. Dabei handelt es sich nicht um eine dem Leser aufzudrängende Lehre, sondern vielmehr um einen Vorschlag (LSV 72). Im Kapitel Das Bild der Bilder evoziert Handke durch ein ausführliches Zitat Stifters Poetik des sanften Gesetzes aus der „Vorrede“ zu Bunte Steine, eine Poetik, die er als „das ewige Gesetz der Kunst“ (LSV 74) bezeichnet. Er fügt aber hinzu: Dabei ist es dann aber auffällig, daß Stifters Erzählungen fast regelmäßig zu Katastrophen ausarten; ja daß oft schon der bloße Stand der Dinge, ohne dramatische Überstürzung, eine Bedrohung wird. „Ruhig und heimlich“ fällt zunächst der Schnee, eine „schöne weiße Hülle“, und wird dann den Kindern, die sich hinauf in die erst „schön“, dann „schreckhaft blauen“ Gletscher verirren, zur „weißen Finsternis“; und jener „glänzende Himmel“ über dem Heidedorf bleibt wochenlang ein glänzender und macht die „weiche blaue Luft“ schließlich zum „blanken Felsen“. Für diese Wende der Dinge zum Unheimlichen sind Erklärungen in der Person des Verfassers gesucht und gefunden worden. Doch ist das sanft über eine Wiese rieselnde Wasser wohl auch durch das zeitverordnete Erzählen mit den lebensgefährlichen Gruben ausgestattet worden – in die zudem niemand endgültig einsinkt, so daß der erste Satz aus Kalkstein gut auch alle anderen bunten Steine bezeichnet: „Ich erzähle hier eine Geschichte, die uns einmal ein Freund erzählt hat, in der nichts Ungewöhnliches vorkömmt, und die ich doch nicht habe vergessen können.“ (Stifter, als Maler, hat auf seinen Gemälden nie eine Katastrophe geschildert; höchstens stellt eine Zeichnung einen Windbruch dar.) (LSV 74f.)
Handke weist zunächst auf die Widersprüchlichkeit zwischen Stifters Poetik und der häufigen katastrophalen Entwicklung von dessen Erzählungen hin. Was Handke an Stifter am meisten zu bewundern scheint, ist die Tatsache, dass in diesen Erzählungen keine gewaltigen Geschehnisse notwendig sind, um das Schöne ins Unheimliche zu verwandeln. Die Zitate stammen aus Bergkristall, dem Heidedorf und Kalkstein. Was letztere Erzählung betrifft, ist zu bemerken, dass gerade die Macht des „zeitverordnete[n] Erzählen[s]“ die „lebensgefährlichen Gruben“ (LSV 75) zu überbrücken erlaubt. Stifters Prosa scheint m.E. das Ideal jener „sich selbst erzählende[n] Welt“59 darzustellen, zu dem Handke in der
58 Ebd. S. 24. 59 Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989, S. 57. Dazu Borgards, Sprache als Bild, S. 41: „Wie komme ich mit der Sprache zur Welt? Wie komme ich
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Lehre und im Versuch über die Müdigkeit tendiert. Da er aber in der Lehre vorwiegend auf Cézannes poetisches Prinzip der „réalisation“ aus ist, könnte man von einem Ideal der sich selbst darstellenden Welt sprechen. Handkes folgende Erwähnung von Stifters Malerei bleibt zum Teil auf der Spur des vorhergehenden Urteils, hebt aber ausschließlich das Harmoniebedürfnis dieser künstlerischen Tätigkeit hervor. Im Kapitel Der Hügel der Kreisel zitiert Handke einen berühmten Satz aus Franz Grillparzers Novelle Der arme Spielmann – „Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.“ (LSV 100) – und fährt fort: Und so kam wieder die Lust auf das Eine in Allem. Ich wußte ja: Der Zusammenhang ist möglich. Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur freiphantasieren. Und zugleich kam die wohlbekannte Beengung: denn ich wußte auch, daß die Analogien sich nicht leichthin ergeben durften; sie waren, Gegenteil von dem täglichen Durcheinander im Kopf, nach heißen Erschütterungen die goldenen Früchte der Phantasie, standen da als die wahren Vergleiche, und bildeten so erst, nach dem Wort des Dichters, „des Werkes weithin strahlende Stirn“. War das Vertrauen auf solche, die Erzählung zusammenhaltenden Analogien also nicht immer wieder eine Vermessenheit? (LSV 100, Herv. i.O.)
Ohne das grundlegende Prinzip des Zusammenhangs käme die Erzählung nicht zustande. Das „Problem der Verknüpfung und Überleitung“ (LSV 116) wird durch die Analogie mit dem Anfertigen eines Mantels, des „Mantel[s] der Mäntel“, dargestellt, den D., eine Freundin des Protagonisten und „imaginäre Musenfigur“,60 näht. Deren Nachdenken über diese Arbeit gibt dem Erzähler die Gelegenheit, über die eigene schriftstellerische Arbeit, etwa „das Problem der Entlastung von Gewichten durch richtige Überleitungen“ (LSV 118), zu reflektieren.61
vom Schweigen zum Sprechen? Handkes Fragen liegen quer dazu: Wie komme ich von der ‚sprach- und stimmlose[n] Welt‘ zu einer sich selbst erzählenden Welt? Wie komme ich von einer an ‚Zweckformen‘ [LSV 91] orientierten Sprache zum weltöffnenden ‚Recht zu schreiben‘ [LSV 70] […] Gesucht sind also jene Momente, in denen – wie in der Lehre der Sainte-Victoire – aus dem ‚gewöhnliche[n] Ich‘ [LSV 72] ein erzählender ‚Schriftsteller‘ wird […].“ 60 So Anne-Kathrin Reulecke, „Die Lehre der Sainte-Victoire. Poetologie in einer medialen Welt”, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Peter Handke. Text + Kritik 24 (1999), 6. Auflage: Neufassung, S. 62–79, hier S. 76. 61 Hierzu nach wie vor grundlegend: Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß, Wien 1984.
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Das folgende Kapitel mit dem Titel Der große Wald lehnt sich an ein Gemälde von Jacob van Ruisdael an, welches sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Dem niederländischen Landschaftsmaler hatte schon Goethe seine Aufmerksamkeit und 1816 einen beispielhaften Aufsatz gewidmet, der drei als Landschaftsdichtungen gepriesene Bilder Ruisdaels behandelt.62 Goethe ist von der „Gesundheit [des] äußern und innern Sinnes“ des Malers fasziniert und überzeugt, dass „der reinfühlende, klardenkende Künstler, sich als Dichter erweisend, eine vollkommene Symbolik erreicht“.63 Die Bilder Ruisdaels gehören zur Tradition der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, deren Merkmal „ein empirisches Interesse an der geographischen Physiognomie der Erdoberfläche“64 war. Bemerkenswert ist, dass Ruisdael, der noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vorbild der Landschaftsmalerei galt, zu den Lieblingsmalern Stifters zählte, der selbst die Landschaftsmalerei betrieb. Die Bestätigung der Verwandtschaft zwischen Sprachkunst und bildender Kunst manifestierte sich bei Stifter ab 1853 u. a. auch in seiner Tätigkeit als Konservator des Kunstvermögens für Oberösterreich und der daraus sich ergebenden Arbeit als Rezensent der vom Linzer Museum erworbenen Bilder. Es verwundert nicht, dass Stifter das stilistische Merkmal seiner Prosa, die Beschreibung, auch für einen besonderen Typ von Beschreibung, die Ekphrasis, verwendete.65 Aber auch in der späten Erzählung Nachkommenschaften beschreibt der Protagonist, der Maler Friedrich Roderer, als Beispiel der Darstellung der „wirklichen Wirklichkeit“, dem Kunstideal, das er realisieren möchte, eine Landschaft, die mit dem Bild Ruisdaels identifiziert worden ist:66
62 Johann Wolfgang von Goethe, „Ruysdael als Dichter“, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz u. a., München 1981, Bd. 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf, München 1994, S. 138–142. 63 Ebd., S. 142. 64 Vgl. Norbert Schneider, Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik, Darmstadt 1999, S. 137. 65 Zum Thema vgl. Murray Krieger, Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign, Baltimore/London 1992; Gottfried Böhm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995. 66 Fritz Novotny, Adalbert Stifter als Maler, 3. erw. Aufl., Wien 1947, S. 12 u. 43. Vgl. auch Karl Konrad Polheim, „Die wirkliche Wirklichkeit. A. Stifters ‚Nachkommenschaften‘ und das Problem seiner Kunstanschauung“, in: Vincent J. Günther/Helmut Koopmann/Peter Pütz/Hans Joachim Schrimpf (Hg.), Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, Berlin 1973, S. 385–417.
150 In Wien ist eine Landschaft. Vorne geht über Lehmgrund ein klares Wasser, dann sind Bäume, ein Wäldchen, zwischen dessen Stämmen man wieder in freie Luft sieht. Der Himmel hat ein einfaches Wolkengebäude. Das ist mehrere hundert Millionen Male auf der Welt gewesen, und doch ist die Landschaft die gewaltigste und erschütterndste, die es geben kann.67
Der Erzähler der Lehre misst sich in dieser Art Beschreibung mit seinen großen Vorbildern Goethe und Stifter; er realisiert somit „ein Konzept von Intertextualität, in welchem der ‚fremde‘ Text die Funktion hat, das schreibende Subjekt zu autorisieren und zu stärken“.68 Im Wiener Kunsthistorischen Museum hängt ein Gemälde von Jakob van Ruisdael, mit dem Titel Der große Wald. Es zeigt einen weiträumigen Laubwald mit starken Eichenstämmen; darunter das auffällige Weiß der bei dem Maler so oft wiederkehrenden Birke. Auch das dunkel spiegelnde Wasser im Vordergrund ist bei Ruisdael ein vertrauter Gegenstand. Hier stellt es eine Furt dar, so seicht, daß die Spuren des Karrenwegs durchscheinen, der danach gelbsandig, mit einer Linksdrehung, in die Waldsphäre weiterführt. Wahrscheinlich hat das Bild seinen Namen nur von seinen Ausmaßen. Denn der sichtbare Wald ist klein; gleich dahinter beginnt eine freie Fläche. Und er ist auch friedlich bevölkert: vorn von einem Wanderer, der mit Hut, Stock und abgelegtem Bündel am Wegrand sitzt; hinten von einem Mann und einer Frau, die als Paar aus der Wegkurve herausspazieren, leichtgekleidet, mit einem Schirm (am Himmel sind weißgraue Wolken). Aber vielleicht ist das Bild tatsächlich der Ausschnitt eines „großen Waldes“; vielleicht ist der Standpunkt nämlich nicht draußen, sondern schon im Innern, und der Blick wendet sich, wie es bei einem Wanderer natürlich ist, aus der ersten Waldestiefe noch einmal zurück. Das Weitegefühl wird noch bestärkt durch eine Besonderheit der niederländischen Landschaften aus dem 17. Jahrhundert: wie kleinformatig sie auch sind – sie fangen doch, mit ihren Wasserflächen, Dünenwegen und dunklen Laubständen (unter einem reichen Himmelsanteil), im Betrachten allmählich zu wachsen an. Spürbar stehen und wachsen die Bäume, und mit ihnen wächst eine allgemeine, ruhige Dämmerung. Sogar die zwei haltenden Reiter: sie stehen und wachsen. (LSV 119–121)
67 Adalbert Stifter, Nachkommenschaften, in: HKG, Bd. 3,2: Erzählungen, 2. Bd., hg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff, Stuttgart 1979, S. 65. 68 Reulecke, „Die Lehre der Sainte-Victoire“, S. 78, die das von Ralph Köhnen aufgeworfene Problem diskutiert, ob die Lehre als „Palimpsest“ oder als Umschrift anderer Autoren und Bilder anzusehen ist. Vgl. Ralph Köhnen, „Zwischen Zeichenspiel und Wahrheit/en“, in: Thomas Eicher/Ulf Bleckmann (Hg.), Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld 1994, S. 185–220.
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Die Besonderheit der Handkeschen Ekphrasis besteht darin, dass der Standpunkt des Betrachters zuerst draußen ist; dann wechselt er und ist „nicht [mehr] draußen, sondern schon im Innern“, d.h. der Erzähler stellt sich vor, der Betrachter sei im Bild.69 Der Standpunkt variiert noch einmal und der Betrachter nimmt wieder von außen das Bild wahr: trotz des Kleinformats gewinnt er den Eindruck, dass sich die dargestellten Figuren und Gegenstände erweitern und wachsen. In diesem Fall ist die Ekphrasis keine bis ins letzte Detail genaue Abbildung des Gemäldes mehr, sondern sie lässt der Phantasie Raum. Gabriel hebt Handkes Aufmerksamkeit auf die „kleinen, unscheinbaren Dinge“ hervor, die durch die Beschreibung des Bildes Ruisdaels durchscheint. „Diese Dinge ‚stehen und wachsen‘, gewinnen an Bedeutung, werden groß, weisen auf ein Allgemeines.“70 Die Beschreibung von Ruisdaels Bild lässt den Ich-Erzähler wieder zum Verfahren der Analogie greifen: „Einen derartigen Wald gibt es in der Nähe von Salzburg […]“ (LSV 121, Herv. M.L.R.). Wie Roland Borgards zeigt, handelt es sich um eine „Analogie von Wahrnehmungen“,71 die das Bild Ruisdaels in Zusammenhang mit dem Morzger Wald bringt: Nicht aus einer rationalen, erzählerischen Verknüpfung lebensgeschichtlicher Episoden ergibt sich der Zusammenhang, sondern aus der Verbindung von Lebensaugenblicken bzw. -anblicken mittels der Phantasie.72 Carstensen zufolge wird Ruisdaels Gemälde für die Idee der langen Dauer mobilisiert, indem der Erzähler seine „epische Umschreibung des Morzger Waldes“ durch Bilder anreichert: „Sein selbstloses und gleichwohl höchst aufmerksames Schauen erzeugt eine Verlagerung von visuellen Eindrücken mit Erinnerungen an die Erlebniswelt der Kindheit (der Holzstoß im Heimatdorf, der Farbsehtest des Heranwachsenden).“73 Die Erzählung läuft darauf hinaus, nicht nur den Wald, sondern auch den Zwischenraum zwischen Stadt und Wald zu beschreiben. Zu erreichen ist dieser, nachdem der Ich-Erzähler eine „paßähnliche Mulde, [die] eine Art Wegscheide bildet zwischen der inneren Stadt und der südlichen Flachebene“ (LSV 121), überschritten hat. Hier nun trifft man auf den Begriff der „Schwelle“ (LSV 127), ein Konzept, das in späteren Werken wie Der Chinese des Schmerzes, Die Wiederholung und Nachmittag eines Schriftstellers von zentraler Bedeutung sein wird. Für Handke ist die Schwelle ein bevorzugter Betrachtungswinkel, von dem
69 Vgl. Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, erweiterte Neuausgabe, Berlin 1992. 70 Gabriel, Peter Handke und Österreich, S. 181. 71 Borgards, Sprache als Bild, S. 32. 72 Ebd. 73 Carstensen, Romanisches Erzählen, S. 61.
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aus er die Welt anschauen kann und der die Wahl der Beschreibung als ein die Erzählung visualisierendes Kunstverfahren determiniert.74 Der Beschreibung des Morzger Waldes, die das Buch beschließt, kommt die Funktion zu, die Landschaft, die den Ich-Erzähler umgibt, durch Bilder und Farben deiktisch zu veranschaulichen. Das ruft eine Wirkung der Konkretisation der erzählten Welt hervor,75 die durch die letzte Passage des Werkes verstärkt wird: Dann einatmen und weg vom Wald. Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt; zurück zu den Plätzen und Brücken; zurück zu den Kais und Passagen; zurück zu den Sportplätzen und Nachrichten; zurück zu den Glocken und Geschäften; zurück zu Goldglanz und Faltenwurf. Zu Hause das Augenpaar? (LSV 139)
Nach Karl Wagner nimmt Handke in der Tetralogie Langsame Heimkehr (wie später in Die Wiederholung und in Der Bildverlust) Zuflucht in utopischen Räumen,76 einem Verfahren, das Stifter schon in seinem großen Roman Der Nachsommer entwickelt hatte. Wagner weist mit Blick auf die Lehre der SainteVictoire trotzdem auf die Koexistenz von historischen Epochen, von Altertum und Gegenwart,77 durch wiederkehrende Bilder (z. B. den Holzstoß und die Steine der Römerstraße) hin, die zu den Erlebnissen der Vergangenheit und der Gegenwart des Autors gehören. Die Darstellung des Raums gewinnt in der Lehre eine historische Dimension auch dadurch, dass der Protagonist nicht nur die Wege Cézannes noch einmal zurücklegt, sondern auch Francesco Petrarcas Aufstieg zum Gipfel des Mont Ventoux evoziert. Auf solche Weise realisiert Handke Varianten in der Wiederholung.
74 Vgl. hierzu Maria Luisa Roli, „Storytelling in Imagery“: Across, Repetition and The Afternoon of a Writer, in: David N. Coury/Frank Pilipp (Hg.), The Works of Peter Handke. International Perspectives, Riverside, CA 2005, S. 149–175, hier S. 156. 75 Zur Beschreibung bei Handke vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 186–208, hier S. 206. 76 Karl Wagner, „Handke’s Slow Homecoming Tetralogy“, in: Coury/Pilipp (Hg.), The Works of Peter Handke, S. 131–148, hier S. 136. 77 Ebd.
K ARL W AGNER Viel, viel Elend der Menschheit kommt davon, daß die Leute lesen, ohne zu lesen (ich dachte an die Scheinlektüre Hölderlins, Nietzsches …) PETER HANDKE/AM FELSFENSTER MORGENS
In dem 1944 erstmals unter dem Pseudonym Palinurus erschienenen „Word Cycle“ The Unquiet Grave, auf Deutsch zuerst 1952 unter dem Titel Das Grab ohne Frieden publiziert, dann in einer Neuübersetzung von Chris Hirte als Das ruhelose Grab, steht zu lesen: „Flaubert, Henry James, Proust, Joyce und Virginia Woolf haben den Roman zu Ende geführt. Nun muß alles neu erfunden werden, wie von Anfang an“.1 Cyrill Connolly aka Palinurus erweitert hier einen Kanon, den T.S. Eliot bereits 1923 in seinem berühmten Aufsatz „Ulysses, Order and Myth“ verkündete, als er argumentierte, dass der Roman mit Flaubert und James zu einem Ende gekommen sei.2 Und zwar deshalb, so das berühmte Argument, weil genau jene Formlosigkeit, die den Roman einst zum adäquaten Ausdruck einer vergangenen Epoche machte, nunmehr verhindere, eine Modernität artikulieren zu können, die vor allem anderen durch den Verlust der Form charakterisiert sei. Mit seiner programmatischen Formulierung – „Anstatt der erzählenden Methode können wir jetzt die mythische verwenden.“3 – hat Eliots Essay Her-
1
Palinurus, Das ruhelose Grab. Ein Wörterzyklus. Revidierte Ausgabe mit einer Einführung von Cyril Connolly. Übersetzung aus dem Englischen und Nachwort von Chris Hirte, Frankfurt am Main 2006, S. 40.
2
T. S. Eliot, „Ulysses, Ordnung und Mythos“, in: ders., Essays 2: Literaturkritik,
3
Ebd., S. 297.
Frankfurt am Main 1988, S. 293–297.
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mann Brochs Vortrag über „James Joyce und die Gegenwart“ nachhaltig beeinflusst. Broch, der bei Handke sonst kaum eine Rolle spielt, ist in Langsame Heimkehr durch die Figur Esch, titelgebend für den zweiten Band der Schlafwandler-Trilogie, nachhaltig präsent. Der zitierte anglo-französische Kanon der Moderne, der deutschsprachig etwa durch Kafka, Musil oder Rilke zu ergänzen wäre, ist ein geeigneter Probierstein für Handkes Kritik der Moderne, speziell: des modernen Romans. Damit ist zugleich eine Schwierigkeit des Themas bezeichnet: Handkes Moderne-Kritik setzt den Akzent auf die Gattung des Romans, dessen Möglichkeiten realistischer Repräsentation ihm ausgeleiert erscheinen. Vor allem die wiederholt berufenen Klassiker des modernen Romans Musil, Proust und Joyce markieren für ihn eher eine Sackgasse des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts als einen Weg zu neuen Möglichkeiten des Schreibens. Hier noch Originelles zu sagen, ist – angesichts der dazu sehr ergiebigen Literatur zu Handke – kaum möglich.4 Damit geht eine weitere Schwierigkeit einher, mit der sich dieses Thema konfrontiert sieht: Die Moderne ist durch das postmoderne ‚bashing‘ konzeptuell derart ausgedünnt und zum Popanz gemacht worden, dass sich eine substanzielle Modernekritik daran messen lassen muss, ob sie nicht bereits weit offene Türen einrennt. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass Handke schon sehr früh und souverän die Auseinandersetzung mit dem Kanon der Moderne aufgenommen hat, nämlich in seinen Buchbesprechungen für Radio Steiermark in den Jahren 1964 bis 1966.5 Diese Juvenilia sind erstaunlich urteilssicher und vielseitig, sieht man von einer Entgleisung ab, die just Virginia Woolf betrifft. Von ihrem Roman Mrs. Dalloway heißt es, dass er „in seiner rhapsodischen Prosa, gespickt mit zarten fraulichen Wahrsprüchen, welche die mangelnde geistige Härte übersäuseln, schon recht veraltet wirkt“.6 Komplizierter ist der Fall bei Flaubert, Henry James und Kafka, um nur diese bereits Genannten anzuführen, weil ihre Suche nach einer neuen Schreibregel nicht ausschließlich auf die Gattung Roman fixiert ist. Das gilt auch für Joseph Conrad, der neben Kafka eine der Portalfiguren der Literatur des 20. Jahrhunderts darstellt. Sein im Vorwort zu The Nigger of the Narcissus nicht ohne Pathos formuliertes Ziel als Schreibender könnte auch von (bzw. für) Handke sein: „[…] by the power of the written word to make you hear, to make you feel – it
4
Siehe zuletzt: Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013.
5
Erstmals nahezu vollständig zugänglich gemacht in: Peter Handke, Tage und Werke. Begleitschreiben, Berlin 2015.
6
Ebd., S. 216.
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is, before all, to make you see! That – and no more, and it is everything.“7 Literatur als Ermöglichung und Schärfung von Wahrnehmung inkludiert ein selbstkritisches Moment hinsichtlich der Automatisierung von Wahrnehmung durch eingespielte Verfahren und Gattungserwartungen bzw. -muster. Damit sind gewissermaßen die Spielarten der Entautomatisierung der Wahrnehmung im Sinne der Theorie der Russischen Formalisten berührt, die jedoch, anders als bei Conrad oder Kafka, einen permanenten Innovationsdruck produzieren, der in Handkes Frühwerk deutlich spürbar und auch entsprechend artikuliert worden ist. Es ist das Verdienst von Ian Watt, dass er die Position von Conrad aus den Möglichkeiten des viktorianischen Realismus entwickelt hat, ohne ihm damit die produktive Teilhabe an der Transformation eben dieses Verfahrens abzusprechen.8 Das könnte übrigens ganz ähnlich für eine andere Übergangsfigur der englischen Literatur jener Jahre festgestellt werden, die ebenfalls am Rande von Handkes Werkkosmos aufstrahlt: Thomas Hardy. Wie Conrad ist er ein Meister der selbstbewussten Verkleinerung, wenn er etwa deklariert: „Any little old song / Will do for me“.9 Das hinderte ihn nicht an der Erkenntnis, Zeuge einer neuen, wenig kohärenten Welt zu sein: „We are getting to the end of visioning / … We are getting to the end of dreams“.10 Das heißt nichts weniger als den „Bildverlust“ erfahren zu müssen, um es mit Handkes großem Schreibprojekt zu sagen, das ihn seit den späten 1980er Jahren umgetrieben und zu den umfangreichen Werken Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und Der Bildverlust (2002) geführt hat. In verzweifelter Namensspielerei beschwört Gregor in Immer noch Sturm (2010) die einstige „Macht“ des Obstgartens, die nun für immer verloren ist. Die Anrufung der entsprechenden Autoritäten gerät zu einer Litanei der Vergeblichkeit. Unter den Angerufenen ist auch dieser: „Anderer Gärtner, Thomas, der ‚Fern von der tobenden Meute‘, der du der Hardy-Birne deinen Namen gegeben hast“.11 Dieser Akt der Namensgebung ist als Auszeichnung zu verstehen, wie in anderer Weise die Hervorhebung des englischen Autors im Versuch über den Pilznarren (2013) eine solche ist. Anders als in der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts, in der „die Pilze in kaum einem Buch mit[spielen], und wenn,
7
Joseph Conrad, Preface to The Nigger of the Narcissus [1897], hg. von Jacques Ber-
8
Vgl. Ian Watt, Conrad in the Nineteenth Century, London 1980.
9
Thomas Hardy, „Any Little Old Song“, in: The Variorum Edition of the Complete Po-
thod, Oxford/New York 1990, S. xlii.
ems, hg. von James Gibson, London 1979, S. 702. 10 Thomas Hardy, „We are Getting to the End“, in: ebd., S. 929. 11 Peter Handke, Immer noch Sturm, Frankfurt am Main 2010, S. 146.
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dann klein, im Vorbeigehen, und ohne Verhältnis zu gleichwelchem Helden“,12 ist dies bei Thomas Hardy sehr wohl möglich. Er bildet die Ausnahme: Eine einzige Geschichte ist mir im Sinn, wo jemand, wenn auch bloß für eine Episode, in die Pilzwelt verwickelt wird, ohne sein Zutun, ja gegen seinen Willen, und das geschieht im Roman Far from the Madding Crowd von Thomas Hardy – England, spätes neunzehntes Jahrhundert – der schönen jungen Heldin, die sich nachts auf dem Land irgendwo verirrt, in eine Grube voll mit riesigen Pilzen rutscht und dort, umzingelt von den unheimlichen Gebilden, die zusehends zu wachsen und sich zu vermehren scheinen, bis zum Morgengrauen in der Pilzgrube gefangen bleibt (so jedenfalls meine ferne Erinnerung).13
Die angespielte Stelle kann als prototypisch modern gelten: noch am abgelegensten Stück Erde gelten und vollziehen sich die Gesetze des „struggle for life“, von denen das Originalzitat die lebendigste Veranschaulichung gibt.14 Handkes Reverenz für Hardy schließt auch D.H. Lawrence ein, der in seinem bemerkenswerten Essay über Hardy einen verwandten Kollegen erkennt. Bei aller Kritik lobt er Hardy für sein „feeling“; „his sensuous understanding is […] apart from his metaphysic, very great and deep, deeper than that, perhaps, of any other English novelist“.15 Ungeachtet seiner „Vorurteile gegen die Engländer“16 zählt Handke neben Hardy und Conrad auch D.H. Lawrence zur schriftstellerischen Ahnengalerie: Meine Vorurteile gegen die Engländer: Sie stellen ihr Sprechen aus, als sei es das Sprechen überhaupt; und: Wenn sie nicht ganz vertrocknet und selbstgerecht seien, seien sie heilandmäßig exaltiert – und das komme daher, weil ihnen als Inselbewohnern das Bewußtsein der Grenze, als etwas Dunklem, fehle. – Aber dann steht bei D.H. Lawrence: ‚Gott sei Dank, ich bin immer noch klein genug, meine Strümpfe zu stopfen und meine Tasse zu waschen.‘ (Und derselbe sagte zu Goethe: ‚G. … begann unzählige Freundschaften und kam nie über das Gruß-Stadium hinaus …‘).17
12 Peter Handke, Versuch über den Pilznarren, Berlin 2013, S. 12. 13 Ebd., S. 13. 14 Thomas Hardy, Far from the Madding Crowd, hg. von Ronald Blythe, Harmondsworth 1978, S. 363. 15 D. H. Lawrence, „A Study of Thomas Hardy“, in: ders., Phoenix. The Posthumous Papers, hg. von E.D. McDonald, London 1936, S. 480. 16 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982, S. 217. 17 Ebd.
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Joseph Conrads Erzählanfängen wird in Gestern unterwegs (2005) eine seltene Hommage zuteil: „‚Im Hafen von Triest lag neunzehnhundertzehn ein Schiff namens Heluan‘ – und wäre ich Joseph Conrad, könnte ich den Roman nun weitererzählen. Einen zweiten Satz aber weiß ich immerhin: ‚Es lag Seite an Seite mit den Schiffen ‚Praga‘ und ‚Baron Gautsch‘…‘“18 Schon früher, in Die Geschichte des Bleistifts, wird ein langes Zitat aus Conrads Das Herz der Finsternis mit diesem Kommentar versehen: „Einiges kann ich also wörtlich wiederholen; für das meiste aber muß ich wiederholend meine eigenen Wörter finden“.19 Die Differenz von ‚wörtlich wiederholen‘ und ‚etwas wieder ins Eigene holen‘ kennzeichnet Handkes Poetik und unterscheidet sie sowohl vom postmodernen Replay als auch vom Pathos des absoluten Neuanfangs. In Die morawische Nacht (2008) hat Handke nicht durch Zitat oder Anspielung, sondern in struktureller Hinsicht, insbesondere durch die Erzählsituation, den stärksten Tribut an Joseph Conrads komplexe Erzählanordnungen entrichtet, die insbesondere in Heart of Darkness für ein kalkuliertes Durcheinander der Chronologie sorgen. Die Einsicht, dass ein Anderer bereits etwas geleistet hat, das nicht nochmals getan werden muss (höchstens in wörtlicher Wiederholung), betrifft insbesondere Handkes so beharrliche wie unsystematische Beschäftigung mit Franz Kafka. Der Spruchbandsatz „Ich hasse Franz Kafka, den Ewigen Sohn“20 ist nicht zuletzt als Selbsthass eines Schreibers zu verstehen, der sich zu lange im Schatten des Vorbilds bewegt hat (wie übrigens ein Großteil der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur). Handkes Bruch mit Kafkas Schreibregel nimmt das Risiko auf sich, ohne den Schutz des nunmehr zur Ikone der Moderne erkorenen „Vaters“ bestehen zu wollen. Die Handke’sche Apodiktik weist alle Spuren der „Einflussangst“ auf, die in der Folge jedoch nicht zu einem Kafka-Tabu, sondern zu einem produktiven Umgang mit der „handwerklichen“ Könnerschaft Kafkas geführt haben. Es gibt genügend historische Indizien, dass dieser Abschied von Kafka nicht als individuelles Szenario des Bloom’schen Schemas zu verstehen, sondern auch mit der Nachkriegsordnung des Kalten Kriegs in Verbindung zu setzen ist. Die Kafka-Rezeption ist aufs engste in diese Konstellation verwickelt und hat sich in den entsprechenden Klischees verfestigt. Dazu gehören auch die über den KafkaAntagonisten Dickens, der Kafka maßgeblich zur Auseinandersetzung mit dem
18 Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg/Wien 2005, S. 452. 19 Handke, Die Geschichte des Bleistifts, S. 133. 20 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt 1983, S. 94.
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Regime des „realistischen Romans“ beflügelt hat.21 Handke allerdings widmet sich dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an seine frühen Vorbilder des nouveau roman (vor allem Robbe-Grillet) am Beispiel Balzacs, der immer wieder ins Spiel gebracht wird. Einfacher ist es, Handkes Aversionen zu beschreiben, die sich im Fall von Thomas Mann am kürzesten exponieren lassen. Es ist nicht ohne Ironie, dass Handke der Thomas Mann-Preis nicht nur zugesprochen wurde, sondern dass er ihn auch angenommen hat. Das gilt übrigens auch für den Ibsen-Preis, der Handke auf unerwartete Weise mit James Joyce verknüpft, an dessen literarischem Anfang eine Rezension von Ibsens spätem Stück Wenn die Toten erwachen steht.22 Mit freundlicher Ironie wird im Versuch über den Stillen Ort (2012) der scheiternden Lektüre von Thomas Manns Buddenbrooks gedacht, die ihn am Vortag „nach langem eher Befremdetwerden, unversehens mit sich genommen und beschwingt hatten, als es gegen Ende ans Sterben ging und der Todgeweihte darüber geradezu luftig ins Sinnen geriet“.23 Das Weiterlesen im Bahnhof von Spittal an der Drau, „gekrümmt im Halbkreis um die weiße Abortkachel“,24 kann aber auch nur misslingen. Als erstes Fazit lässt sich zu diesen zerstreuten Beispielen festhalten, dass Handke die Prämissen eines Kanons der Moderne in Zweifel zieht, die im Roman den Triumph über das 19. Jahrhundert repräsentiere, in Wahrheit aber nur dessen Schlusspunkt markiere. Interessant werden dadurch Werke, die einen Übergang anzeigen – Werke, die mithilfe der alten Zeichen eine neue Weltwahrnehmung ermöglichen. Modernekritisch zu lesen, heißt auch, das Neue an alten Texten zu erkennen. Es gehört zur Fortentwicklung dieses Ansatzes, dass Handke auch Vorstudien zu einer anderen Genealogie der Moderne angestellt hat, in denen der Roman bei weitem nicht die wichtigste Rolle spielt. Eine dieser Versuchsanordnungen lautet (unter Weglassung der Klammer): „F.[riedrich] H.[ebbel] erscheint mir als der erste moderne Schriftsteller; danach Nietzsche; danach Knut Ham-
21 Vgl. David Suchoff, Critical Theory and the Novel. Mass Society and Cultural Criticism in Dickens, Melville, and Kafka, Madison 1994. 22 James Joyce, „Ibsens neues Drama“ [1900], in: ders., Kleine Schriften, übers. von Hiltrud Marschall und Klaus Reichert, Frankfurt am Main 1987, S. 110–136. – Siehe dazu Hermann Schlösser, „Wenn wir Toten erwachen“, in: Cornelia Niedermeier/Karl Wagner (Hg.), Literatur um 1900. Texte der Jahrhundertwende neu gelesen, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 63–70. 23 Handke, Versuch über den Stillen Ort, S. 35. 24 Ebd.
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sun“.25 Hierzu sind allerdings Kautelen ebenso angebracht wie Ergänzungen. Die Lektüre von Hebbels „Tagebüchern“ – Kafkas Präferenz dafür ist bekannt – ist in Handkes Journal bei aller Bewunderung keineswegs ohne kritische Einwendungen versehen. Die schwerwiegendste ist wohl diese: „Hat Friedrich Hebbel nicht irgendwann sein Kindsein verloren (im Gegensatz zu Goethe Hölderlin)? (Kindverlust, Krachledernheit)“.26 Dem steht eine der größten Lobeshymnen entgegen, die Handke anzustimmen hat: „Ein großes Buch ist auch jenes, das einen dazu bringt, andere große Bücher zu lesen; das Lese-Verlangen zu erzeugen (s. Hebbels Tagebuch) ist groß; und das Wort ‚groß‘ ist Teil der Materie“.27 Es ist ein solches Lesen, das Verknüpfungen schafft und die Suche nach anderen Anhaltspunkten für ein heutiges Schreiben vorantreibt. Denn diese Suche ist unerlässlich, wie Handke auf Kosten Kafkas dekretiert: „Franz Kafka, die schönste aller Sumpfblüten vom Anfang des 20. Jahrhunderts – aber eine Sumpfblüte. Knüpft endlich woanders an“.28 Handkes tentative Genealogien für einen neuen Anfang sind als offene Reihe zu verstehen, in der sich die Akzente verschieben können. Dabei spielen auch nationalliterarische Präferenzen und Unterschiede eine Rolle. Mit Blick auf Handkes Belesenheit in französischer Literatur modifiziert bzw. erweitert sich die Reihe Hebbel, Nietzsche, Hamsun durch „landmarks“ wie Flaubert, Francis Ponge, Emanuel Bove oder René Char. Die Triftigkeit der drei Letztgenannten wird durch Handkes Übersetzungsarbeit bekräftigt; Bove und Patrick Modiano fügen sich in diesen Kanon einer anderen Moderne, der erst durch Handkes Vermittlungsleistung im deutschsprachigen Raum wahrnehmbar geworden ist. Es fehlte eine wichtige Facette an dieser neu verknüpften Moderne, würde man neben den eingangs (in Auswahl) vorgestellten Engländern nicht auch die nordamerikanische Literatur erwähnen. Eine der Schlüsselfiguren für den modernen Roman ist für Handkes Schreibprojekt von jeher bestimmend gewesen: William Faulkner, dessen Spur sich, von den frühesten Anfängen an, durch Handkes Roman seines Lesens verfolgen lässt und die auch in seinem Werk immer wieder aufleuchtet. So heißt es in den Phantasien der Wiederholung: „Ich bin erlöst – seit ich mit fünfzehn William Faulkner las –, und bin seitdem immer wieder erlöst worden“.29 Weniger exponiert und daher ungefährdeter als Erlöser-
25 Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten), Salzburg/Wien 1998, S. 230. 26 Ebd., S. 255. 27 Ebd., S. 240. 28 Ebd., S. 216. 29 Handke, Phantasien der Wiederholung, S. 95.
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oder Vaterfiguren erscheint er im Salzburger Journal: „William Faulkner war bis zu meiner ‚Volljährigkeit‘ mein ‚Firmherr‘ (im Zug nach Ulm)“.30 Gleichwohl ist die frühe Lektüre immer auch in Familienzusammenhänge eingebettet: Im Wunschlosen Unglück lesen Mutter und Sohn gemeinsam „zuerst Fallada, Knut Hamsun, Dostojewski, Maxim Gorki, dann Thomas Wolfe und William Faulkner.“31 Und in dem späten politischen Familiendrama Immer noch Sturm (2010) hadert der jüngste, Benjamin genannte Sohn mit seinem ekelhaften ewigen Heimweh und mit der Namengebung seiner Eltern: „Warum habt ihr mich bloß Benjamin genannt? Ewig muß ich der jüngste sein. Warum nicht Hans? Lukas? Absalom? Mein Name, mein Gefängnis. Absalom! Absalom!“32 Die Namensgebung der Eltern ist gleich zweifach mit Faulkners Werk verknüpft, Benjamin mit dessen komplexen Roman The Sound and the Fury (1929), Absalom mit dem erstmals 1936 erschienenen Roman Absalom, Absalom!. Handkes Erstlingswerk Die Hornissen erinnert in struktureller und thematischer Hinsicht an The Sound an the Fury.33 Faulkners radikale Formensprache ist für Handke keine Sackgasse, sondern eine Ermächtigung, die immer neu erinnert und damit aktiviert werden kann. Mit Faulkner und dem ebenfalls früh schon in seinem Werk erscheinenden Thomas Wolfe ist Handkes produktive Auseinandersetzung mit der nordamerikanischen Literatur der Moderne keineswegs abgeschlossen; in dem ertragreichen Aufsatz von Clemens Özelt sind jedoch alle Einzelheiten dieser Aneignungsgeschichte nachzulesen. Wiederum hat Handke durch eine Übersetzung – Walker Percys The Moviegoer (1961) – die eingespurten Rezeptionsbahnen nordamerikanischer Literatur im deutschsprachigen Raum verlassen und neue Anknüpfungspunkte freigelegt.34 Dazu gehört für die Gegenwart der dezidierte Hinweis auf John Cheevers Tagebücher und dessen Kurzroman Oh What a Paradise It Seems (1982), zu dessen deutscher Übersetzung (Ach, dieses Paradies, 2013) er „ein kleines Nachwort“35 geschrieben hat, das schon im Titel auf sein
30 Handke, Am Felsfenster morgens, S. 83. 31 Peter Handke, Wunschloses Unglück, Salzburg 1972, S. 63. 32 Handke, Immer noch Sturm, S. 29. 33 Siehe Clemens Özelt, „Unterwegs mit Faulkner, Ford und Van Morrison. Amerikanische Formtranspositionen im Werk Peter Handkes“, in: Georg Gerber/Robert Leucht/Karl Wagner (Hg.), Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft 1945–1989, Göttingen 2012, S. 291–319. 34 Walker Percy, Der Kinogeher, übers. von Peter Handke, Frankfurt am Main 1980. 35 John Cheever, Ach, dieses Paradies, übers. v. Thomas Gunkel, mit einem Nachwort von Peter Handke, Köln 2013, S. 123.
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Projekt einer anderen „Grundlegung“ Amerikas verweist, das er in den Werken von Thoreau, Emerson und Hawthorne verwirklicht sehen möchte.36 Solche Interventionen werden immer wieder durch Polemiken bekräftigt, die sich gegen (post)moderne Übereinkünfte richten. In seiner kleinen Lobrede auf den schwedischen Nobelpreisträger Tomas Tranströmer trifft diese Polemik die „Sekundärschriftsteller, deren Literatur auf Aktualitäten verweist“. Tranströmer hingegen schreibe „Weltliteratur im eigentlichen Sinne“: „Ihn interessiert nicht dieses üblich gewordene Internationale, wenn ein mongolischer oder russischer oder indonesischer Autor so schnittig schreibt wie Philip Roth“.37 Handkes Auseinandersetzung mit bzw. Absetzung von der Moderne wäre nicht vollständig, wollte man auf einen Autor vergessen, der mit Recht The Last Modernist genannt worden ist, dem aber auch sämtliche „Post“-Avancen zu Teil wurden.38 Handkes polemisch-pejorative Nebenbemerkungen zu Beckett, vor allem in seinen Journalen, münden in der Entstehungszeit seines wichtigsten dramatischen Versuchs, des ‚Epischen Dramas‘ Immer noch Sturm, in einen Gegenentwurf: Der Monolog Bis daß der Tag euch scheidet (2007/2008) ist eine „Antwort“ oder, wie sich der Nachwortschreiber verbessert, eher ein „Echo“ auf Becketts Das letzte Band.39 Wie an anderer Stelle gezeigt,40 erweist sich Handkes Beckett-Replik als veritable Selbstkritik. Zugleich antizipiert sie mit dem Syntagma „Fortdauernder Sturm“ das Stück Immer noch Sturm und dessen Shakespeare-Anklang. Dass man zugleich Becketts Stirrings Still assoziieren darf, beweist ein weiteres Mal, dass Handkes Moderne-Kritik ihre Vitalität daraus bezieht, dass sie alte Texte ganz neu erscheinen lassen kann.
36 Peter Handke, „PUNKATASSET, Grasland oder DER ECHOBAUM. Umkreisungen des Journals von Sophia und Nathaniel Hawthorne“, in: Sophia und Nathaniel Hawthorne, Paradies der kleinen Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch, Salzburg/Wien 2014, S. 5–19. 37 Peter Handke, „Zu Tomas Tranströmer“, in: ders., Tage und Werke. Begleitschreiben, S. 58. 38 Anthony Cronin, Samuel Beckett. The Last Modernist, London 1997. 39 Erschienen 2009 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt. Vgl. hierzu den Aufsatz von Eleonora Ringler-Pascu in diesem Band. 40 Karl Wagner, „Echo. (Nach-)Hall: Beckett, Bernhard, Handke“, in: Susanne Hochreiter/Bernhard Oberreither/Marina Rauchenbacher/Isabella Schwentner/Katharina Serles (Hg.), Ein Zoll Dankfest. Texte für die Germanistik. Konstanze Fliedl zum 60. Geburtstag, Würzburg 2015, S. 227–257.
H ELMUT M OYSICH Mitgehen und den eigenen Weg zu sehen, das ist Lesen. PETER HANDKE/ES LEBEN DIE ILLUSIONEN
Was lässt Peter Handke, durch sein gesamtes Werk hindurch, angefangen etwa mit den frühen Notizen in Das Gewicht der Welt, über die Bände Am Felsfenster morgens und Gestern unterwegs, bis hin zu dem jüngsten Journal Vor der Baumschattenwand nachts – was lässt ihn, im Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht wie auch in seinen Gesprächen, etwa mit Herbert Gamper1 oder Peter Hamm,2 oder im Briefwechsel mit Hermann Lenz,3 immer wieder auf Heimito von Doderer kommen? Und was lässt, entsprechend und in Erweiterung, viele Handke-Leser ihrerseits, weit hinaus über das bloße namentliche Nennen, immer wieder an Doderer denken? Auf diese zweite Frage hat schon früh Wendelin Schmidt-Dengler in einer Besprechung von Handkes Versuch über den geglückten Tag nebenbei eine bündige, richtungweisende Antwort gegeben, wenn auch eher, zusammenhangsabhängig, allgemein und andeutungshaft:
1
Peter Handke/Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Ge-
2
Peter Handke/Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und an-
3
Peter Handke/Hermann Lenz, Berichterstatter des Tages. Briefwechsel, hg. von Helmut
spräch, geführt von Herbert Gamper, Frankfurt am Main 1990. derswo, Göttingen 2006; das oben zitierte Motto hier auf S. 87. Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer, Frankfurt am Main/Leipzig 2006.
164 Daß Handke – nicht nur mich – sehr stark an Doderer erinnert, hat auch Gründe. Schon 1977 notierte er aus dessen Roman „Die Wasserfälle von Slunj“ im Journal die Sätze: „Es gab also das Glück. Chwostik kannte es aus eigener Erfahrung.“ Was Doderer durch die Gestaltung der „Anatomie des Augenblicks“ oder des „Zerfalls der Lage“ in seinen Tagebüchern anstrebte, exerziert Handke in diesen Schriften vor. Durchlässig zu werden für die Wahrnehmung, als Schriftsteller nicht die eigene Person in den Vordergrund zu flegeln, sich mit den Dingen in Einklang setzen – das alles versuchte mit nicht minderer Anstrengung Doderer.4
In nuce liegt hierin bereits eine erste Antwort auch auf die Ausgangsfrage. Denn was Handke an all den in seinen Journalen über Jahrzehnte so zahlreich zitierten Schriftstellern und Künstlern und insbesondere im Fall Doderers vor allem hervorhebt, hat meist eine dringliche poetisch-existentielle Dimension – beispielhaft angezeigt im obigen Schmidt-Dengler-Zitat durch die Doderer-Formel „Zerfall der Lage“, welche auf den für beide Schriftsteller so wichtigen und umfassenden Bedeutungskomplex der Leere verweist. Diese grundlegend poetisch-existentielle Dimension soll im Folgenden nicht isoliert betrachtet, sondern zunächst im Zusammenhang der besonderen Eigenheiten von Handkes Leseweisen allgemein aufgefächert werden. Handkes Lesen Anderer, so zeigt sich dabei, ist zu verstehen als Tätigkeit einer umfassenden Selbstverständigung als Künstler und als äußerst bedenkender und bedachtsamer Mensch überhaupt. In diesem Sinne heißt es in Gestern unterwegs in bündigster Form: „Lesen: das große Innehalten und dann Innewerden (nur das ist Lesen?)“5 In zahllosen Notaten geht Handke immer wieder auf die herausragende Bedeutung des Lesens als eines umgreifenden Innewerdens ein. Es ist ein Lesen, welches ein Besinnen auf das eigene Zumachende einschließt, so Handke einmal in klarster Einfachheit im Gespräch gegenüber Herbert Gamper; ein Lesen, wie er es sich für jeden Schreibenden wünscht: Also von Dir und Dir, von dem und dem, was Du da geschrieben hast, hab ich mich besonnen auf das, was ich machen möchte; ich hab das überhaupt nicht nachgeahmt, ich hab nie eine Insinuation bekommen, so wie Du zu schreiben, sondern ich bin von Dir auf meine eigene Weise gebracht worden.6
4
Wendelin Schmidt-Dengler, „Wenn das Nichts bedeutet“, in: Profil 42, 14. Oktober 1991, S. 168.
5
Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salz-
6
Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 93f.
burg/Wien 2005, S. 212. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GU.)
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Freilich stellt sich diese „eigene Weise“ nicht wie von selbst ein; sie setzt vielmehr ein tätiges Nachsinnen heraus: Fruchtbar sei eben jenes Lesen, das einen „auf die eigene Problematik“ zurückwerfe.7 Dementsprechend geht es Handke gerade bei den Schriftstellern, auf die er oftmals über Jahrzehnte hinweg immer wieder zurückkommt, nahezu niemals um bloße Bestätigung eigener Positionen. Was ihn vielmehr in Schwung bringt, ist jeweils das Andere im Ähnlichen/eigenen Nahen, das Ähnliche im Anderen, die Abweichung im Ähnlichen zu entdecken. Es ließe sich eine lange Reihe von Beispielen anführen, die diesem Muster folgen. Eine auf Doderer bezogene Stelle aus dem Briefwechsel mit Hermann Lenz vom 7. Juni 1977 ist in diesem Sinne musterhaft: „Im Moment lese ich Doderer und fühle mich heimisch bei seinen Leuten, die ganz andere Geschichten haben als ich.“8 Immer wieder zeigt sich dieses, für Handkes Schreiber-Ich sich als fruchtbar erweisende Oszillieren zwischen dem Ähnlichen/eigenen Nahen und dem Anderen als prägend für seine eigentümlichen Lese-Erfahrungen. Beispielhaft körperlich anschaulich wird diese wechselweise Bezogenheit in einem Text zu John Cheever, auf den Handke noch in jüngster Zeit, im Journal Vor der Baumschattenwand nachts,9 so häufig wie auf keinen anderen zu sprechen kommt, und den er an noch anderem Ort als festen Bestandteil im Dreigestirn „Doderer! Bernanos! John Cheever!“ heraushebt.10 Es geht hier um Handkes Nachwort, betitelt: „Henry David Thoreau’s ‚Walden Pond‘, neu erzählt von John Cheever“,11 zur deutschen Übersetzung von Cheevers Erzählung Oh What a Paradise It Seems (1982; dt. Ach, dieses Paradies, 2013), wo Handke eine „Lese-Erfahrung“ beschreibt, die, über ihre scheinbar heitere Beiläufigkeit hinaus, nicht nur wiederum dem obigen Muster folgt, sondern zugleich eine für Handke typische, spielerische Verstärkung eines konkreten Wortsinns in Szene setzt, wodurch im selben Zug auch dessen übertragener Sinn neu belebt wird – im Folgenden beispielhaft zu sehen am Zusammenspiel von „aufrecht“ und „aufrichten“. So kann Handke sich der Leseempfehlung Cheevers, seine Geschichte „sei etwas zum Lesen in einer Regennacht, ‚im Bett‘“, nur hinsichtlich der Regennacht anschließen:
7
Ebd., S. 94.
8
Handke/Lenz, „Berichterstatter des Tages“, S. 112.
9
Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016.
10 Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie, München 2010, S. 301. 11 Peter Handke, „Henry David Thoreau’s ‚Walden Pond‘, neu erzählt von John Cheever“, in: ders., Tage und Werke. Begleitschreiben, Berlin 2015, S. 83–88.
166 [E]ine ‚Bett‘-Lektüre? Nein, […] Sie ist etwas zum Aufrechtsitzen und Aufrechtlesen […] Sie, die Geschichte, und im Verein damit das so spezielle Erzählen, sie beide richten ihn zwanglos, […] ohne sein Zutun auf, und das nicht nur im übertragenen Sinn.12
Das gesamte Nachwort zu Cheevers Erzählung stellt geradezu ein Paradebeispiel für das Handke so eigene Wechselspiel zwischen dem Ähnlichen und dem Anderen dar. So beschreibt er darin genauestens die „seltsame Erfahrung“, wie ihm beim zweimaligen Lesen im Fünf-Jahres-Abstand derselben Erzählung bestimmte Passagen und Einzelheiten bei der ersten Lektüre im Gedächtnis – „im Lesersinn“ – etwas „ziemlich Verschiedenes“, eine gänzlich andere Wirkung, hier „epische Wirkung“, hinterlassen haben, als bei jener von „vor einigen Wochen“; gänzlich anders als das, was tatsächlich „im Text oder Material vorherrschte“.13 Und Handke hat auf die selbstgestellte Frage, woher diese besondere Wirkung „epischen Nachklingens“ im Lesersinn rühre, nur die vorläufige, provisorische Antwort, es könne an dem besonderen, zwanglosen und nie sprunghaften Übergehen von Erzählformen und -Ereignissen bei Cheever liegen, der Rest bleibe Geheimnis. Bei all dem erweist sich als gültig, wie die Dinge sich ihm zeigen: „So habe ich’s gesehen, so sehe ich’s, so erscheint es mir.“ Und so fließen am Ende auch dem von der Phantasie – mehr als von „Text oder Material“ – durchdrungenen Leser-Ich Henry David Thoreaus Erzählung Walden Pond mit Cheevers Erzählung ineins zusammen, werden sich eigentlich grundverschiedene Figuren, Orte und Ereignisse beider Erzählungen ganz ähnlich und erscheinen zuletzt gar als „ein und dasselbe“, wobei das beide Erzählungen vereinende Agens, wie oft bei Handke anvisiert, gekennzeichnet ist durch ein jeweils ‚anderes Neues‘: bei Cheever in Form seiner „gänzlich andere[n] Neue[n] Romane“, bei Thoreau emblemhaft verkörpert in seiner Hütte am ‚Walden Pond‘, seinem „Erzählplatz“ für ein neues Leben, „eine andere vita nuova“.14 In der Phantasie des Leser-Ichs verschmilzt dieser Erzählplatz zugleich mit jenem Teich, von dem auch John Cheever erzählt. Weiter unten wird ausführlicher gezeigt, dass diese erzählutopische Dimension einer „vita nuova“, wie sie in vielen Variationen bei Handke anzutreffen ist, ähnlich auch bei Doderer in Gestalt eines durch „existentielle Apperzeption“ eröffneten, ebenso gänzlich Neuen erscheint. Doch zurück zu Handkes Nachwort zu Cheever. Dieser kurze Text ist in poetisch-poetologischer Hinsicht gleich doppelt brisant. Denn die Weise, wie Handke hier die seltsame Erfahrung seines Leser-
12 Ebd., S. 87. 13 Ebd., S. 84. 14 Ebd., S. 88.
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Ichs aus dem „nach seiner Art“ trügenden Gedächtnis beschreibt, was hier für Handke in einem durchaus positiv gewerteten, erfinderischen Sinne zu verstehen ist, steht in auffälliger Entsprechung zu der Erfahrung seines Schreiber-Ichs, wie sie in selten bündiger Form ein Notat seines Journals Die Geschichte des Bleistifts erhellt15 – womit sich nun Leser-Ich und Schreiber-Ich bei Handke als zwei einander komplementäre, unmittelbar aufeinander bezogene Instanzen darstellen: „Beim Beschreiben muß nicht die Erinnerung an den Gegenstand genau sein, sondern mein Gefühl dabei“, heißt es hier, wobei dieses „Gefühl“ sich analog zu eben jenem besonderen phantasiedurchdrungenen „Nachklingen“ verstehen lässt, welches in der obigen Cheever-Thoreau-Leseerfahrung eine ganz andere Wirkung hinterlässt, als wie es das in „Text und Material“ Vorherrschende vorzugeben scheint. Umgekehrt, zurückbezogen auf das Schreiber-Notat, ‚wiederholt‘ dies letztere in „Text und Material“ Vorherrschende in erweiterter Entsprechung die dortige Genauigkeit der Erinnerung an den Gegenstand.
Wenn im Fortlaut des Notats der künstlerische Verwandlungsakt des Schreibens als neuerliche Verbindung von Gefühl und Gegenstand mit dem von Cézanne entliehenen und von Handke vielumspielten Begriff der „Realisation“17 gekennzeich-
15 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Frankfurt am Main 1985, S. 300f. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GB.) Der gesamte Wortlaut dieses zentralen Notats: „Beim Beschreiben muß nicht die Erinnerung an den Gegenstand genau sein, sondern mein Gefühl dabei. Das Gefühl wird sich dann im Schreiben mit einem Gegenstand ohnedies wieder verbinden: das wäre nicht mehr die ‚Genauigkeit‘, sondern die ‚Realisation‘. Schreibend muß ich stetig bei meinem Ding, meinem Gegenstand, den Dingen bleiben, darf nie in der Sprache sein. ‚Mit den Dingen‘ erst kommt die ‚reelle‘ Sprache, vielleicht auch nicht einmal ‚mit den Dingen‘, sondern einzig mit den ‚wahren Empfindungen‘ (mit diesen kommen die Dinge zurück, mit diesen die Sprache); und vielleicht fängt alles sogar schon mit der fruchtbaren, himmlischen Leere an, das heißt, mit dem ruhig entleerten, sachlich schwingenden, dem idealen Ich.“ 16 Doderers Worte zit. nach dem Tagebucheintrag Dorothea Zeemans vom 16.6.1956, Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA 34/W206. 17 Gleiches gilt für die im Notat folgenden, von den Cézannschen „sensations“ abgeleiteten „wahren Empfindungen“. Vgl. dazu GB 280: „Cézanne: die ‚Empfindung (durch den Gegenstand) realisieren‘: auch eine Messe könnte solch eine ‚Realisation‘ sein.“
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net wird, welcher zugleich die Genauigkeit bloßer Abbildung ersetzt, so lässt sich dieser Vorgang der Realisation – wieder auf die Cheever-Thoreau-Leseerfahrung rückbezogen – in offenkundige Entsprechung setzen zu den dort im Leser-Ich in Eins verschmelzenden Orten und Figuren zweier so weit auseinanderliegender Geschichten. Zur Verdeutlichung denke man an ein Paradebeispiel Handkescher „Realisation“ in Die Lehre der Sainte-Victoire, zu welchem das Notat aus der Geschichte des Bleistifts gewissermaßen den poetologischen Kommentar darstellt, und wo dem Erzähler in einem magischen Augenblick der Anblick von rötlichen Maulbeerflecken im Wegstaub zu einer „frische[n], leuchtende[n] Einheit“ verschmilzt mit einem ähnlichen, Jahre zurückliegenden Anblick in Jugoslawien. Die augenblickshafte ‚Erscheinung‘ dieser „frischen Einheit“ markiert dabei sozusagen den künstlerischen Verwandlungsakt der Realisation, den „Ruck der Verwandlung“, mit welchem „das gewöhnliche Ich rein Niemand wurde“, gleichbedeutend mit der Geburt des „Schriftsteller[s]“.18 Hält man einmal mehr das entsprechende poetologische Notat aus der Geschichte des Bleistifts dagegen, so zeigt sich, dass dieses mit dem künstlerischen Verwandlungsakt einhergehende Niemand-Werden des gewöhnlichen Ich dort als ruhig entleertes, ideales Ich expliziert wird und noch grundlegender – was immer bei Handke auf ein bedenkendes „vielleicht“ folgt, leitet meist eine stille, nicht weiter zu erklärende Überzeugung ein – überhaupt die Ur-Voraussetzung für eine unmittelbar künstlerisch fruchtbare Wahrnehmung markiert: „und vielleicht fängt alles sogar schon mit der fruchtbaren, himmlischen Leere an, das heißt, mit dem ruhig entleerten, sachlich schwingenden, dem idealen Ich.“ Und auch hier, im Fall des entleerten, idealen Schreiber-Ichs lässt sich das enge Korrelatsverhältnis von Leser- und Schreiber-Ich aufzeigen, etwa wenn Handke anlässlich einiger herrlichen Zeilen von Jan Skácel in aller Dichte hinzufügt: „der Leser, mein reinstes, mein durchlässigstes Ich.“ (GU 405) Die jeweils dem Leser- und dem Schreiber-Ich zugewiesenen Bestimmungen sind austauschbar und bedingen einander. Demnach kann nur das ideale, entleerte Ich auch durchlässig werden für eine umfassende Wahrnehmung. Damit nun ist zugleich das für Handke und Doderer gleichermaßen zentrale Thema der Leere angeschlagen. So haben etwa beide das Buch Tao Te King von Laotse gelesen und dessen Gedanken zur Idee der Leere von dort unmittelbar auf ihr eigenes schreibendes Tun bezogen. Ganz in korrelativem Sinne mit dem oben besprochenen „entleerten Ich“ als Ermöglicher der (Cézannschen) „Realisation“ zitiert Handke aus Tao Te King: „‚Treibe das Leersein bis zum Äußersten / und bewahre die Stille unerschütterlich: die abertausend Geschöpfe ringsum entfalten sich, / und ich
18 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 71f.
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schaue also ihre Wiederkehr‘“ (GB 365) – worauf dann unmittelbar das poetische Exempel einer Naturszene folgt. Dementsprechend betrachtet auch Doderer, der seinerseits wiederholt namentlich auf Sprüche des Tao zurückkommt, das Erreichen der Leere als wesentliche Station auf dem Weg umfassender „Objekt“-Wahrnehmung: „Sich unvollendet stehn zu lassen; damit unbesorgt zu werden in bezug auf sich selbst; endlich die Leere zu erreichen: das sind die drei Stationen, welche allein dahin führen können, umfassend und allseitig Objekt zu sehen.“19 Bis in die sechziger Jahre hinein umkreist Doderer immer wieder die Leere, den Zustand der Leere als Voraussetzung umfassender poetischer Wahrnehmung, als Korrelat dessen, was er in zahllos variierten Durchgängen „Apperzeption“ nennt, jenes offene, aufnahmebereite, empfängliche, innewerdende Wahrnehmen, wobei, gerade in Hinblick auf Handke, die wohl treffendste Variante die „existentielle Apperzeption“ darstellt. Diese nämlich, als die „eigentliche Apperzeption“, ist eine „existentiell verändernde Wahrnehmung“, die „uns wesentlich zu verändern“ vermag und ohne die „unsere Geistesgeschichte mit ihren Verwandlungen“ nicht denkbar ist, vergleichbar etwa einer „chemischen Verbindung, wobei ein neuer Stoff entsteht, der bisher nicht da war. […] Sie allein verbindet den Menschen wirklich und wirksam mit der Objektswelt.“20 Wobei dann dieser ‚neue Stoff‘, wie schon weiter oben in Handkes Nachwort zu Cheever, auch bei Doderer, in ganz existentiellem Sinne, die Form einer ‚vita nuova‘ annehmen kann. So etwa in einem Notat im Kontext der Abfassung des Romanentwurfs Der Grenzwald am Freitag, 22. November 1963, wo mit dem „Zerfall der Lage“ und der „Apperceptivität“ als zweier, hier nahezu gleichbedeutender Zustände des entleerten Ich zugleich ein „neues Leben“, eine neue offene Empfänglichkeit einhergeht, für welche Doderer bevorzugt immer wieder das Wort „Zuflüssigkeit“ verwendet: „der Zerfall der Lage und die Fülle der unvorgeordneten Apperceptivität. […] Damit hat man nicht weniger als ein neues Leben: die Zuflüssigkeit […].“21 Diese Ausführungen lassen sich, ähnlich einem poetischen Vorabkommentar, unschwer korrelativ beziehen auf Handkes oben besprochenen ‚Realisations‘-Augenblick der Zusammenschau zweier, eine neue Einheit bildender Anblicke in der Lehre der Sainte-Victoire, angezeigt durch den „Ruck der Verwandlung“; zugleich aber auch auf Handkes Nachwort zu Cheever.
19 Heimito von Doderer, Tangenten. Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950, hg. von Heinrich Vormweg, München 1968, S. 35. 20 Ebd., S. 97. 21 Heimito von Doderer, Commentarii 1957 bis 1966. Tagebücher aus dem Nachlaß, zweiter Band, hg. von Wendelin Schmidt-Dengler, München 1986, S. 395.
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Die Parallele geht weiter: Wie Handke dem Augenblick der Einheit universale Geltung zuspricht – „Es kam da zu dem Augenblick unbestimmter Liebe, ohne den es rechtens kein Schreiben gibt“ (LSV 71) –, so kennzeichnet auch Doderer die existentielle Apperzeption als eine „Verschmelzung, ein[en] erotische[n] Vorgang. Sei’s – aber nur so entsteht Leben.“22 Dabei geht es um eine Verschmelzung, bei der – bis in den Wortlaut an Handke erinnernd – die „subjektive Wärme“23 sich mit dem „objektiven Horizont“ deckt, zusammengefasst in Doderers erfrischend anschaulicher Art: „Ein Beischlaf nicht in enger Kammer, als exklusives Lieben, […] sondern mit der ganzen Welt: Liebe per inclusionem.“24 In diesem Zusammenhang der von beiden Autoren gleichermaßen erstrebten wie postulierten universalen Geltung des poetischen Verwandlungsaugenblicks, die Handke als „Mitte, an der Stelle seines Ichs, der luftige Weltenbaum“ expliziert, bezieht dieser sich wörtlich auf das an zahlreichen anderen Stellen zitierte Bild Doderers von der „Loslösung vom Pfahl des eigenen Ich“, als anschauliches Bild für das Durchlässigwerden, Leerwerden, Voraussetzung für eine so wahre wie phantasiedurchdrungene, zusammenschauende Wahrnehmung der Dinge: Nur der entschiedene, bewußte Ego-Zentriker kann sein Ich – den ‚Pfahl‘, an den er, laut DODERER ‚gefesselt‘ ist – loswerden? Nur er kann tatkräftig durchlässig werden, ein anderes, erweitertes Zentrum werden? als Mitte, an der Stelle seines Ichs, der luftige Weltenbaum? (GU 178)25
Zu diesen Formen einer eher ‚inneren‘ Leere stehen in analogem Verhältnis jene einer eher äußeren, raum-, gestalt- und formgebenden Leere. Und auch hier lassen sich bei Handke und Doderer verwandte Vorstellungsbilder beobachten. So betrachtet Doderer einmal beispielhaft den kaum messbaren Zwischenraum zwischen zwei rahmenlosen, dicht an dicht hängenden Bildern, „wo eben kein Bild ist“, als Beispiel form- und gestaltbildender Leere: „Was ist nun dort? Nichts, wird man sagen. Zugegeben nichts; aber eben nicht das Nichts, sondern die Leere. Sie also ist es, welche die Voraussetzung aller Form und Gestalt bildet.“26
22 Doderer, Tangenten, S. 98. Vgl. auch in dieser Hinsicht Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 110, wo es über das Schreiben heißt: „Es ist ein erotisches Werben.“ 23 Vgl. GB 278: „Die Phantasie ist ein Erwärmen dessen, was schon da ist.“ 24 Doderer, Tangenten, S. 317. 25 In Frage gestellt wird dabei nur der „Ego-Zentriker“. 26 Zit. nach Torsten Buchholz, „Eine Art von ZEN des Erzählers?", in: Kai Luehrs (Hg.), Excentrische Einsätze. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers, Berlin 1998, S. 81.
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Komplementär zu dieser im engeren Sinne gestalt- und formgebenden Leere lässt sich bei Doderer eine eigentümlich ‚raumgebende‘ Kraft der Leere beobachten, der er essentialistische und geheimnisvolle Dimensionen zuspricht und die er in seinen Tagebüchern immer wieder durchspielt. So herausgehoben in den Tangenten, im Dezember 1949: „Das Geheimnis bleibt doch: die Leere, der Fassungsraum; alles Sparen jeder Art kann nur den Gewinn von Leere zum eigentlichen Ziele haben.“27
Fragt man nach möglichen bildsamen und lebensgeschichtlichen Erfahrungsquellen dieser ungewöhnlichen Bestimmung raumgebender Leere als Fassungsraum, so lassen sich als Grundlage für Doderers Raumsicht und erzählerische Raumgestaltung die sein gesamtes Leben hindurch fortwirkenden eigenen Erfahrungen in Sibirien mit dessen Weiträumigkeit und Leere bestimmen, ein Motiv, das in seinen Texten immer wieder aufs Neue erzählerisch variiert erscheint. „Ex Sibirien kann hier Alles ausgehoben werden“, lautet dazu ein lapidarer Tagebucheintrag aus dem Jahr 1963 während des Schreibens am späten Romanfragment Der Grenzwald.29 Innerhalb dieses größeren Zusammenhangs bildet im besonderen ein Notat aus den Tangenten (November 1950) eine gleichsam erzählerische Urszene, ein poetisches Muster, das sowohl in den Tagebüchern wie auch, erzählerisch einverwandelt, in den Romanen wiederholt auftaucht. Den Hintergrund dafür gibt – im Anschluss an den Hinweis, wie „rätselhaft“ auch nach Jahrzehnten die Gassen der Vaterstadt bleiben – eine Erinnerung an seine prägenden Jahre in Russland, hier in Ryschkowo bei Kursk: „die Dörfer immer mit sehr breitem Raum zwischen den Häuserzeilen: uferlose Dorfes-Straßen. Dieser Osten, seine Wiederkehr in meinem Leben.“30 Es ist ein raumgebendes Auseinandertreten, wie es auch mehr als zehn Jahre später in den Wasserfällen von Slunj wiederkehrt im Zusammenhang der Figur des umfassend lebensfreudigen Ungarn Globusz in seiner essensfreudigen Heimat, „mit Dörfern, deren weiße Zeilen weit auseinander traten, so daß der ferne
27 Doderer, Tangenten, S. 291. 28 Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/Wien 1998, S. 29. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle FF; alle Herv. i.O.) 29 Doderer, Commentarii 1957 bis 1966, S. 383. 30 Doderer, Tangenten, S. 339.
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Himmel vom Horizont her sich mitten in den Dorfplatz flegelte“.31 Und es ist eben dieses, aus der konkreten Orts-Anschauung erfahrene raumgebende Auseinandertreten mit seinen leeren Zwischenräumen, welches dann in einem weiteren Notat der Tangenten beispielhaft zugleich das sinnliche Muster abgibt für eine gelungene Denktätigkeit mit seinem entsprechenden „Auseinandertreten der Dinge und Vorstellungen (indem diese sich mit Leere umgeben)“, womit er, Doderer, sich nebst Stille und Alleinsein gar nicht genug befreunden könne, das Denken dabei grundsätzlich von den beiden miteinander korrelierten Formen des „gestaltweisen“ und „zerlegungsweisen“ Denkens bestimmt sehend.“32 Auch diese Eigenheit des selbst verschiedene Denkweisen strukturierenden Urbildes sich mit Leere umgebenden Auseinandertretens kehrt als erzählerische Variation wieder. War es weiter oben im Beispiel der Wasserfälle von Slunj der äußere Raum, in welchen dieses Urbild hineinwirkte, so ist es im Roman Die Strudlhofstiege nun der distinkt sichtbarmachende Aspekt des Sich-mit-Leere umgebenden-Auseinandertretens, welcher den inneren Raum der Figur „René“ auszeichnet: „Nichts kann hervortreten, plastisch werden, außen klar gesehen mit seiner ganzen Wucht, innen distinkt erkannt werden, wenn es nicht von Leere umgeben und damit gewissenmaßen selten oder solitär geworden ist.“33 Bei Handke findet sich, anders ähnlich, eine Entsprechung zu diesem bei Doderer vor Ort angeschauten, in emblematischem Sinne zugleich erzählkonstitutiven, sich mit Leere umgebenden Auseinandertreten, und zwar in Form einer gegliederten landschaftlichen Leere: Die Leere ist ja etwas, das sich vielleicht am intensivsten gliedern kann. Für den, der sich ihr aussetzt und der auf sie neugierig ist, gibt es nichts, was sich so geometrisch, auch anthropologisch, anthropomorph gliedern kann wie der Anblick und das Studium einer gewissen landschaftlichen Leere. Nichts Schöneres, nichts Humorvolleres auch, nichts Geheimnisvolleres als manche arabischen Gedichte, die in nichts spielen als in den Felsen, die ausgehen von den Felsen, die ausgehen von einer Düne, die ausgehen von einem Zelt. Und was nicht nur der, der das anschaut, sondern noch besser gesagt: der das empfängt, der diese gegliederte Leere empfängt –, was der erleben kann! Wie ihn das beschwingt!34
31 Heimito von Doderer, Die Wasserfälle von Slunj, München 1971, S. 89. 32 Doderer, Tangenten, S. 279. 33 Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege, München 1995, S. 793. Vgl. zu diesem Aspekt der distinkt sichtbar machenden Wirkung der Leere auch Die Wasserfälle von Slunj, S. 225, wo es zur Figur „Zdenko“ heißt: „in einer Leere sich bewegend, welche die Umwelt an den Rand drängte und doch schärfer sichtbar werden ließ.“ 34 Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 46.
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Dabei betont auch Handke, wie immer wieder Doderer, die materialistische Verfasstheit des Geheimnisses der Leere, so musterhaft etwa im weiteren Zusammenhang des obigen Zitats am Beispiel Teresa von Àvilas, wenn sie auf gegenständlich-materielle Weise die verschiedenen Gemächer im Körper beschreibe, wo Gott wohne: „Die Mystik ist wahrscheinlich das materiellste überhaupt, die aus der Leere entstehenden Träume, Vorstellungen, Sehnsüchte, Gebete.“35 Was für Doderer die seine existentielle wie erzählerische Raumauffassung prägenden Jahre in Sibirien und Russland darstellten, mögen entsprechend für Handke seine wiederholten Reisen und Wanderungen durch Spanien und das ehemalige Jugoslawien bedeuten, insbesondere durch den Karst: „die Leere – ich dachte an den Karst – bewillkommnet einen immer wieder“ (FF 203). Wie für Doderer die konkrete, sinnliche Orts-Anschauung sein Formdenken bis in feine gedankliche Verästelungen hinein mitprägte, so erzählerisch formbildend und raumgebend ist für Handke die mit „Hochgefühl“ erlebte „Leere in der Natur“, welche sich in einem Notat aus den Phantasien der Wiederholung zugleich als virtuelle, musterhaft universale Leer-Form für seine einzelnen Werke bestimmt: Jetzt kann ich es sagen: Der Ausgangspunkt für einen Künstler ist das, zeitweise, Hochgefühl einer mächtigen Leere in der Natur, die er dann später vielleicht, mit dieser Leere als Antrieb, mit einzelnen Werken erfüllen wird, die danach aber immer wieder – Zeichen, daß er Künstler ist! – neu als mächtige, lustmachende Leere zurückkehren wird: als wallende Leere.36
Was hier ‚im Großen‘ für gesamte einzelne Werke gilt, findet ‚im Kleinen‘ sein Pendant auf der Ebene einzelner Erzählbilder. In diesem Sinne spielt Handke etwa im Journal Am Felsfenster morgens auf frei poetisch-poetologische Weise eine ganze Reihe von „Leerformen“ durch, die sich, entsprechend dem obigen „Hochgefühl einer mächtigen Leere in der Natur“, allgemein als eine ortsbezogene, atmosphärische oder sphärische Gefühlsgestimmtheit, Empfindungsgestimmtheit deuten lassen, parallel auch zu jenen „wahren Empfindungen“, mit denen im oben besprochenen Notat aus der Geschichte des Bleistifts die Dinge, und mit diesen die Sprache, zurückkehren. Und in ihrem Charakter, das Erzählen zuallererst zu initiieren, sind diese „Leerformen“ parallel auch zu dem zu verstehen, „was Wittgenstein ‚poetische Stimmung‘ nannte, wo die Gedanken so lebhaft würden ‚wie die Natur‘“ (FF 11).
35 Ebd., S. 45. 36 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main 1996, S. 64f.
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Dabei kann die sphärische Gefühlsgestimmtheit einer „Leerform“ etwa als „Scheues Sehnen“ erscheinen, aber immer auf ein Außen gerichtet: „Sehnen geht in die Welt hinaus, will in die Welt hinaus“ (FF 23). Vor allem bezeichnend für jede Leerform ist aber ihre Absichts-, Zweck-, oder Ziellosigkeit, Bestimmungen also, die in gleich hohem Maße immer wieder auch Doderer als Voraussetzungen für sein Schreiben betont. Füllen kann sich eine derartige Leerform dann auch durch einen bestimmten Ort, beispielsweise „als Leerform der Fischerhafen“, mit stillen, immer undramatischen, lebenden Bildern: „Frau geht strickend, den Wollknäuel trägt sie daneben im Plastiksack […]. Und die Tamarisken verlieren ihre Nadeln wie die Lärchen. Und die Fischernetze klappern an ihren Holzkugeln. Und ich schleppe mich so friedlich den Kai entlang“ (FF 22). Oder eine Leerform erfüllt sich, wie so oft im gesamten Werk Handkes, mit einer Kinderszene: „[I]n der Leerform ist das Kind dort, mit der gebauschten gelben Bluse, den schwarzen Schnallenschuhen, das Ereignis, die Erzählung, die gehörige Erzählung; […] das gehende Kind erfüllt die Leere und wird von dieser umhüllt, und der Betrachter mit ihm.“ (FF 21)
Allen diesen Kleinereignissen, welche eine derartige Leerform „durchmessen“, wie Handke es an einer Stelle einem „erfüllen“ vorzieht, ist eine eigentümlich auratische oder auch sphärische bzw. atmosphärische38 Dimension gemeinsam, die wesentlich undramatisch ist und in der sich ein reines Geschehen zeigt, ein reines Dasein. Eine besondere Variante dieser auratischen Dimension stellt die oben zitierte Szene des gehenden Kindes dar, wenn es von diesem heißt, es ‚erfülle‘ die Leere und werde von ihr, gemeinsam mit dem Betrachter, zugleich ‚umhüllt‘. Dieses gleichzeitige Erfülltsein und das Umhülltsein ist zudem in Zusammenhang zu sehen mit verstreuten Journal-Notaten zu der Gestalt des „sphairos“ bei
37 Doderer, Commentarii 1957 bis 1966, S. 387. 38 Handke gebraucht „Aura“ und „Sphäre“; „atmosphärisch“ und „sphärisch“ weitgehend synonym, oder zumindest parallel, vgl. dazu etwa FF 80: „Ohne Aura muß ich mich herbeidenken; mit Aura bin ich selbstverständlich (statt ‚Aura‘ sag vielleicht besser ‚Sphäre‘).“ Und FF 119: „Der Mensch ohne Atmosphäre oder ohne Sphäre wird zum Mystiker; das ist seine einzige Möglichkeit, die Atmosphärelosigkeit zu durchdringen.“ Zum weiteren Vergleich: Auch Doderer gebraucht „Atmosphäre“ und „Sphäre“ weitgehend synomym, so etwa in den Commentarii 1957 bis 1966, S. 506: „[…] des Lebens wechselnde Sphären, Atmosphären.“
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Empedokles, dabei insbesondere mit dem Aspekt der Einheit von „Welt und Ich“ (vgl. GB 270, 273). Vor allem aber zeigt sich hierbei besonders augenfällig die Nähe zu Doderers Vorstellungen. Dieser schreibt am 5. Juli 1953: Eine Aura […] tritt nicht ein […], sondern sie umgibt uns. Eine Aura hat das Wesen des Himmelsglobus: durchaus umgebend. Eine Aura ist aber zugleich ebenso innen wie außen: sie nimmt von außen her Bezug auf ein uns inwärts bereits Bekanntes. Eine Aura hat die Erscheinungsform des unmerklichen und unwiderstehlichen Kommens, des unleugbaren Daseins, der Nicht-Erklärbarkeit aus einzelnen Sachverhalten, die sie umfasst.39
Abgesehen davon, dass Doderer den Begriff der Aura umfassender, weit häufiger explizit und weniger selektiv als Handke benutzt, ließen sich zahllose Beispiele beider anführen, die in eine gemeinsame Richtung gehen. So umkreist umgekehrt Handke den von Doderer hervorgehobenen Aspekt des „unleugbaren Daseins“ in immer wieder neuen bildlichen Ausprägungen als wesentlichen Anschauungsgegenstand, als „essentiell“, durchaus im Sinne des Essentialismus. In Am Felsfenster morgens heißt es: „Die körperliche Vereinigung ist nicht ‚wichtig‘, sondern essentiell, das heißt, es zählt bei ihr kein Wie – Hauptsache, sie ist“ (FF 84). Und zum komplementären Präsenzcharakter dieses unleugbaren Daseins lässt sich kurz davor lesen: „Liebende brauchen kein Symbol, kein Sinnbild: denn wir sind jetzt“ (FF 82). So könnte man auf beiden Seiten viele Notate einander entgegenhalten, und es ergäbe sich gewissermaßen ein Resonanzraum einander aufrufender Analogien, Erweiterungen und Kommentare, bis hin zu der synoptischen Gleichungsreihe Doderers: „[…] (ZdL ist Aura, Euphorie, Praesenz und Sorglosigkeit) […]“40, wobei „ZdL“ als Kürzel für „Zerfall der Lage“ seinerseits gleichbedeutend mit „Leere“ ist. Fragt man nun nach erzählerischen ‚Realisationen‘ dieser auratischen Dimension und damit zugleich nach einer möglichen Antwort auf die Frage, was Handke, gemäß des obigen Zitats, sich „heimisch“ fühlen lässt bei den Leuten Doderers – „Im Moment lese ich Doderer und fühle mich heimisch bei seinen Leuten, die ganz andere Geschichten haben als ich“ –, so ließe sich beispielhaft, ganz auch im Geiste Handkes, auf Stellen sphärischer Naturszenen verweisen, die aus dem gewöhnlichen Zeitfluss sowie den vordergründigen Motivations-Zusammenhängen der Figuren und Handlungen herausfallen und sie, mit Doderers eigenen Worten,
39 Doderer, Commentarii 1951 bis 1956, S. 221. 40 Doderer, Commentarii 1957 bis 1966, S. 473.
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zu „auratische[n] Einheiten“41 von einer lichten Stille werden lassen, die dann immer wieder bei den Figuren Staunen auslösen und das augenblickliche Aufkommen oder Bewusstwerden einer allgemeinen Zerfalls-Lage anzeigen, damit zugleich aber auch oft einhergehend das Bewusstwerden neuer Daseins-Bezüge und Möglichkeiten, neuer Empfindungszustände oder auch das Sichtbarwerden prägender lebensgeschichtlicher Zeitschichten. Als eine gleich mehrere Romane und weitere Texte Doderers verbindende sphärische Naturszene lässt sich dazu beispielsweise das Bild der Leere des Himmels oder des leeren Blaus des Himmels anführen. So etwa in der Strudlhofstiege, wo das wie beiläufig inmitten eines Satzes erwähnte „leere Blau des Himmels“, das sich in einsamen, ‚Meeraugen‘ genannten winzigen Teichen in Dalmatien fängt, zugleich sich als Kulminationssphäre und Katalysator eines neuen aufkeimenden Gefühls tiefsten Erstaunens über sich selbst, hier der Figur der „Etelka“, zeigt. Wobei im Text dann diese winzigen Teiche bezeichnenderweise zu jenen völlig vereinsamten Plätzen gerechnet werden, „die mit ihrem eigenen Zerfall zugleich weit aus dem Flusse der vergehenden Zeit hinausgeraten waren. An solchen Plätzen erreichte Etelkas erstaunter Zustand seine Höhepunkte und sie […] stand plötzlich in einer wie eigens als Folie für ihren neuen Zustand geschaffenen Umgebung, von ihr umschlossen.“42 In augenfälliger Parallele zu Doderers oben zitierter Bestimmung von „Aura“ als eigentümlich „umgebend“ stehen hier die ‚Meeraugen‘ als Folie für ihren neuen Zustand. Auf ähnliche Weise erscheint auch im Roman Die Merowinger im Zusammenhang der Figur „Pelimberts“ (in ihrer urwüchsig-abweisenden Art schon ThomasBernhardisch anmutend), das leere Blau – „Über ihm stand der Himmel in einem Blau von indiskutabler Reinheit und Leere“ –, jetzt nur ganz herausgelöst aus den umgebenden Sätzen, gleich einem sphärischen Symbol, einer beschirmenden Zeugenschaft für den Zusammenhang einer umfassenden Zerfalls-Lage, schon äußerlich an Haus und Mobiliar sich zeigend, mit dem Bewusstwerden eines neuen Empfindungszustands, hier einer Selbstbemächtigung, welche „Augenblicke wirklicher Souveränität und also auch des Glücks“ einschließt, sowie die Entschlossenheit, sich der „alles zerfressenden Lächerlichkeit“ der heraufkommenden Zeit zu verweigern.43 Auf noch anders ähnliche Weise erscheint das leere Blau des Himmels als Katalysator und anschaulicher Raum für die Ahnung der ‚Essenz‘ seines eigenen Wesens als eines „Geradezu-Daseienden“ etwa im Aufsatz „Zum Fall Gütersloh“,
41 Zit. nach dem Nachwort von Dietrich Weber in: Doderer, Der Grenzwald, S. 271. 42 Doderer, Die Strudlhofstiege, S. 152f. 43 Heimito von Doderer, Die Merowinger, München 1995, S. 115f.
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wenn Doderer sich dort die Worte seines verehrten Mentors Albert Paris Gütersloh zu eigen macht und das leere Blau des Himmels dann einen „‚gewaltigen Meilenstein‘“ markiert auf dem Weg wiederum zu einer Selbstbemächtigung, welche, jenseits aller Fremdbestimmung, die Möglichkeit eines Lebens eröffnet, „‚das er um seiner selbst willen lebt‘“, und eines „‚Ich, das nur das seine ist‘ – wenn er so sagt, dann wirkt es wie ein tief erstaunter Aufblick und als bemerke er das Geradezu-Daseiende der eigenen Person zum ersten Male“.44 In diese Zustände eines so ursprünglichen wie poetischen Staunens wie bei dem hier exemplarisch zitierten, tief erstaunten Aufblick Güterslohs oder dem erstaunten Zustand Etelkas aus der Strudlhofstiege mag Doderer viel von seinem eigenen Staunen hineingelegt haben angesichts einer ihm grundsätzlich „enigmatisch“ erscheinenden Welt, einer „Wunderwelt“, der gegenüber der Schriftsteller – so Doderer in einer Rede von 1960 – ein „Fremdling“ sein müsse, was ihm aber jene optimale Optik zwischen Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit gewähre, „in welcher allein die Aura aus den Menschen und Dingen tritt“.45 Auch Handkes „poetische Stimmung“ ist immer wieder wesentlich von einem Staunen angesichts auratischer Anblicke geprägt, aber auch geprägt von der Verehrung des „Ganzen – des allgegenwärtigen offenbaren Geheimnisses“, dem er als Schriftsteller mit einer „aufs Grenzenlose zielenden Phantasie und Erfindung“ antwortet.46 Wobei das Grenzenlose allein schon in der „Atmosphäre“ um einen kleinen Gegenstand sich zeigen kann, in der Weise, wie ein Notat in der Geschichte des Bleistifts lautet: „‚Atmosphäre‘: um den kleinen Gegenstand war plötzlich eine Welt.“ (GB 116) Dies sei nun abschließend als Leerform gelesen, die sich, wie herbeigerufen, mit einer der vielen analogen Anschauungen Doderers füllen lässt: „Eine ungeheure Weite entsteht da um ein paar gefallene Blätter unter dem Strauß von Rosen in der Vase und die durcheinander geworfenen Briefe auf dem Tisch.“47 Oder, ganz dem Ton Handkes gemäß: „[…] unsere höchste und entscheidenste Aktivität sieht passiv aus. Am Grunde ist nichts als eine Schafgarbe, am Rande der Straße, leicht bestäubt.“48
44 Heimito von Doderer, Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden, hg. von Wendelin Schmidt-Dengler, München 1996, S. 120. 45 Ebd., S. 183. 46 Handke, Vor der Baumschattenwand nachts, S. 420. 47 Doderer, Commentarii 1957 bis 1966, S. 27. 48 Doderer, Commentarii 1951 bis 1956, S. 20.
C HIHEB M EHTELLI Ich verwende gern das arabische Wort „Mushahada“. Das ist es: Aus der Anschauung entsteht alles. […] Ich bedauere es, wenn ich am Tag nicht „ins Schauen gekommen bin“, wie die deutsche Sprache so schön sagt: „Ich bin gegangen und ins Schauen gekommen.“ Und dann wieder aus dem Schauen, da sagt die deutsche Sprache: „Ich bin aus dem Schauen nicht mehr herausgekommen.“ Das wäre ein Ideal, nicht wahr?1 PETER HANDKE
Warum Peter Handke mit dem Ausruf „Ibn ‘Arabî lebt“ in seinem „Selbstporträt aus Unwillkürlichen Selbstgesprächen“ (2007) ausgerechnet den arabischen Mystiker (1165–1240) bemüht,2 wird von ihm selbst nicht weiter begründet und wirft angesichts des uneingeschränkten Gottesbezugs, der Ibn ‘Arabs Schriften kennzeichnet, Fragen auf. Schließlich haben Handkes Sprachspiele keine bestimmte Ausrichtung auf einen theologischen Aussagekern. Ihnen mangelt auch der Begriff der göttlichen Wahrheit bzw. eine fixe Gottesvorstellung. Die Heilssuche der
1
Christine Eichel, „Der Zorn verraucht, das Feuer bleibt“, Interview mit Peter Handke,
2
Peter Handke, „Selbstportrait aus Unwillkürlichen Selbstgesprächen. April – November
in: Cicero (Online-Ausgabe), 22. Januar 2008. 2006“, in: manuskripte 175 (2007), S. 86–98.
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Protagonisten unterliegt dementsprechend keiner besonderen Präsenz, auf die sie ausgerichtet wäre. Ibn ‘Arabs Sinnsuche hingegen hat stets eine Bestimmung. Der Mystiker sieht seine Berufung, ja sein Erwähltsein dabei nicht in der rein mechanischen Ausübung von Ritualen oder in der Übersetzungsarbeit am göttlichen Text erschöpft, sondern vielmehr als göttlichen Auftrag, sich über die profane Existenz zu erheben. Das Ziel besteht darin, jene „durch den Schleier [der Welt] hervorgerufenen Gottesferne“ dadurch zu überwinden, dass sich der Mensch, „entworden von der Sinnenwelt, entfernt vom Suchen“,3 in einen Zustand begibt, in dem „das Erlangen direkten Wissens von Gott und den unsichtbaren Welten ohne die Vermittlung von Studium, Lehre oder Verstandeskraft“ möglich, „das Herz für das Einfließen des Wissens“ bereit ist. Demnach kann sich erst im Zustand der Entrückung, der Entwerdung, in dem „diese Art von Wissen plötzlich zum Aspiranten kommt“,4 wahrhaftes Sein im Sinne einer universalen, sich fügenden Botschaft – und damit die wahre Natur Gottes – offenbaren. Es handelt sich jedoch keineswegs, wie Alma Giese zu Recht hervorhebt, um ein bloßes „Entrücktsein vom irdischen Sein“, als vielmehr darum, die Welt „ohne Behinderung durch die Sinnenwelt“ mithilfe einer „vernunftbegabten Seele“5 zu erfahren. Dadurch wird die Rolle der Imagination aufgewertet und zum einzigen Bereich erklärt, in dem „sich die Wahrheiten“6 dem Menschen offenbaren können. Erst
3
Ibn Arab, „Geist der Heiligkeit“, in: ders., Ibn Arab, Urwolke und Welt. Mystische Texte des Größten Meisters, hg. u. übers. von Alma Giese, München 2002, S. 53–125, hier S. 115.
4
Zit. nach Alma Giese, Ibn Arab, Urwolke und Welt. Mystische Texte des Größten Meisters, München 2002, S. 129. Vgl. Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989, S. 7f. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle VM.) In der als klaustrophobisch empfundenen Enge „der Kindheit, in der sogenannten Studienzeit, ja noch in den Jahren der frühen Lieben“ und insbesondere während des Weihnachtsgottesdienstes erfährt das autobiographische Ich Peter Handkes die „Müdigkeit mit der Wucht eines Leidens“. Dadurch entsteht der Wunsch, in das Offene der „Winterwelt, der Schneeluft, der Menschenleere“ zu treten, „etwa auf jenen Schlittenfahrten nachts unter den Sternen, wenn die anderen Kinder allmählich in die Häuser verschwunden waren, weit über die Ränder des Dorfes hinaus, allein, begeistert […]“.
5
Giese, Ibn Arab, S. 178.
6
Ibn ‘Arab, „Die Mekkanischen Eröffnungen“, in: ders., Ibn Arab, Urwolke und Welt. Mystische Texte des Größten Meisters, hg. und übers. von Alma Giese, München 2002, S. 127–224, hier S. 188.
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innerhalb dieser „Zwischenwelt“ findet mystische Erfahrung statt – eine Erfahrung, die zwar umschrieben, aber „weder durch Sprache noch durch eine andere Form wiedergegeben“7 werden kann. Zwar vertritt Ibn ‘Arab mit seiner Auffassung von der Mehrdeutigkeit des göttlichen Textes und mit seinem Verständnis von der Unenthüllbarkeit Gottes eine in der islamischen Theologie durchaus gängige Sichtweise, allerdings entsteht bei ihm eine diese doch weit überschreitende Auffassung von schier unaufhebbarer Polyvalenz, die den Kern seines Denkens ausmacht: In seiner Sicht hat jedes Wort des Korans – um die Kapitel und die Verse nicht zu erwähnen – eine unbegrenzte Anzahl von Bedeutungen, die alle von Gott beabsichtigt sind. Eine angemessene Rezitation des Korans öffnet dem Leser bei jeder Lektüre für neue Bedeutungen. „Wenn eine Bedeutung sich für den Rezitierenden wiederholt, so hat er ihn nicht angemessen rezitiert. Dies ist ein Nachweis für sein Unwissen“.8
Dabei belässt es der arabische Mystiker nicht, vielmehr eröffnet ihm der opake Begriff des Wujud die Möglichkeit, seine theologischen Meditationen mit Gedanken über die Beschaffenheit des Kosmos anzureichern und umgekehrt. Denn in seiner „Verwendung des Wortes ist es oft unklar, ob er Gottes Wujud, Wujud der Erde oder einfach Wujud ohne genauere Bestimmung meint“.9 Damit setzt die Proliferation des Denkens über „die unvergleichbare und unbeschreibliche Wirklichkeit des Wirklichen“ und, damit untrennbar verbunden, über „die immanente Gegenwart von Gott in der Bewußtheit des Wissenden“10 ein. Da der Begriff ferner „auch die Wirklichkeit des Findens“ bezeichnet und „Bewusstheit, Bewusstsein, Verstehen und Wissen“11 inkludiert, avanciert er bei Ibn ‘Arab auf der Suche nach dem „versteckte[n] Schatz“ und dem „vollkommene[n] Mensche[n]“12 zum Schlüsselbegriff seiner „negative[n] Theologie“.13 Derartige Entgrenzungsvisionen bringen einen gehaltvollen Ansatzpunkt für das kontemplative und poetische Sehen und einen wesentlichen Perspektivwechsel auf das Ich, den Kosmos und das Erleben mit sich. Ibn ‘Arabs Werk liefert so dem Autor Peter Handke und einer Poetik, die „das Gespräch mit Literatur und
7
Giese, Ibn ‘Arab, S. 230.
8
William C. Chittick, Ibn ‘Arabi. Erbe der Propheten, Herrliberg 2012, S. 30f.
9
Ebd., S. 52.
10 Ebd., S. 53. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 54. 13 Ebd., S. 32.
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Philosophie“ sucht, hinreichend „Material, das weniger der Montage, eher der Profilierung der eigenen Ästhetik dient“ bzw. der „Bestätigung des eigenen Gedankens im fremden“.14 Der poetische Mensch, den auch Ibn ‘Arab beschwört, weckt Handkes Interesse15 und erklärt seinen Rekurs auf die islamische Mystik und den Koran. Handkes Re-Lektüre löst aber zugleich dessen Sichtweisen aus der arabisch-islamischen Tradition heraus und bindet sie in neue Kontexte ein. Ibn ‘Arabs theosophische Sichtweise, sein Konzept von der Einheit des Seins, seine Sehnsucht nach Entwerdung, Auflösung und Verschmelzung bilden ästhetische Perspektiven, mit denen Handke seine Werke anreichert, ohne sich auf das Göttliche berufen zu müssen. Er zitiert Ibn ‘Arab dort, wo sich der Mystiker sprachlich und gedanklich ins Offene wagt, ohne sich seinem Rekurs auf die islamische Theologie, seinem Dialog mit ihr, seinem Versuch, sie um eine neue Sichtweise zu ergänzen, verpflichtet zu fühlen. Bei Handke bilden Gott und das Göttliche eine ästhetische Leerstelle. Handkes Bruch mit Ibn ‘Arabs Denktradition geht somit einher mit einer das eigene Schreiben revitalisierenden Übersetzung und mit der Einbindung in die eigene poetische Sichtweise. Er bezieht sich auf jene Aspekte – etwa die Loslösung von der Sinnenwelt oder die Rolle der Imagination –, die ihn als zeitgenössischen Leser und Dichter ansprechen. So entsteht eine fruchtbare Annäherung, die zugleich eine kritische Distanz wahrt. Nach Bezugspunkten zu suchen, könnte dennoch ertragreich sein, da Handke sich explizit auf die „Mushahada“ bezieht, einer „Schau“, die nach Ibn ‘Arab „zum Geblendetsein [führt], das nicht (aus eigener Anschauung) erworben wurde“.16 Die „säkulariserte Mystik“17 des österreichischen Schriftstellers weist insofern punktuelle Gemeinsamkeiten mit den Lehren und Aussagen des arabischen Mystikers des 12. Jahrhunderts auf. Denn solange bei Handke von einer „Heilsidee“18 die Rede ist, er nicht nur die „Undeutlichkeit zum Ideal“,19 sondern auch die Epiphanie zum wesentlichen Bestandteil seiner
14 Alexander Huber, Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz, Würzburg 2005, S. 9. 15 Wie intensiv sich der späte Handke mit den Schriften Ibn ‘Arabs beschäftigt hat, belegen die zahlreichen Notate im Journal. Vgl. Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016. 16 Ibn ‘Arab, „Geist der Heiligkeit“, S. 115. 17 Volker Graf, Verwandlung und Bewegung der Dinge in Gefahr. Peter Handkes Kunstutopie, Frankfurt am Main 1985, S. 296. 18 Peter Handke, Langsame Heimkehr. Erzählung, Frankfurt am Main 1979, S. 191. 19 Huber, Versuch einer Ankunft, S. 12.
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Texte erhebt und dergestalt „gegen die anscheinend restlos aufgeklärte Wirklichkeit, das Vage, die Polyvalenz“20 setzt, flüchtet er sich in die Mystik und verharrt bei der Frage nach der Wahrheit des Seins. Die Nivellierung als Vorbote eines verborgenen Anfangs stellt so auch bei Handke einen Aufruf zur Einkehr dar und lenkt die Aufmerksamkeit auf „etwas, das den Einzelnen zur Besinnung bringt und aufrüttelt“.21 In Die Stunde der wahren Empfindung (1975) wird der Protagonist mit dem Traum, „ein Mörder geworden zu sein“, und mit der Frage konfrontiert, ob ein derart sein Wesen beeinträchtigendes Ereignis es ihm dennoch erlaubt, „sein gewohntes Leben nur der Form nach weiterzuführen“.22 Diese Grundfrage, um die die Erzählung kreist, hält ein wesentliches Leitmotiv im Erzählen Handkes fest und mündet in jene „Erkenntnis, dass das Leben das Absolute, das es sein müsste, nicht ist“.23 Sie fungiert ebenfalls „als Kritik an bestehenden Verhältnissen“, ihre Funktion liegt aber vor allem darin, „in Distanz zu treten […] um den Blick für das Wesentliche frei zu bekommen und nach innen zu lenken“.24 So gewinnt die imaginäre Neukonfiguration des Selbst in einer Weise die Oberhand, dass sie zur Loslösung des Protagonisten von seiner alltäglichen Umgebung führt: „Auf einmal gehörte er nicht mehr dazu. Er versuchte sich zu verändern, so wie ein Stellungssuchender sich verändern will; doch um nicht entdeckt zu werden, mußte er genau so weiterleben wie bisher und vor allem so bleiben wie er war […].“25 Keuschnig wird gleich zu Anfang in einen „Zustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht“26 versetzt. Die Entwerdung setzt ein und erzeugt eine für den weiteren Verlauf entscheidende Lossagung vom bisher Bekannten. Ähnlich wie bei der Beschreibung der gnostischen Erfahrung wird unvermittelt „die Bühne nach innen verlagert und zum reinen, unfigürlichen Seinsbegriff, zur Seinsbetrachtung […], in der der Geist Wirklichkeit und die Wirklichkeit Geist ist“.27 Das Erzählen kann so aus den vorbestimmten Pfaden logozentrischer Weltanschauung ausbrechen, um Inhalte und Formen sinnlicher
20 Ebd., S. 92. 21 Stephan Grätzel, Die Vollendung des Denkens. Vorlesungen zur Philosophie und Mystik, hg. von Joachim Heil, Astrid Schollenberger und Bastian Zimmermann, London 2005, S. 39. 22 Peter Handke, Die Stunde der wahren Empfindung, Frankfurt am Main 1978, S. 7. 23 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 40. 24 Ebd. 25 Handke, Die Stunde der wahren Empfindung, S. 8. 26 Huber, Versuch einer Ankunft, S. 39. 27 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 30f.
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Wahrnehmung zu transzendieren: Dem Sein, ja dem eigenen Ich entfremdet, begeben sich Handkes Protagonisten in der Hoffnung, der anderen Seite des Seins gewahr zu werden, häufig an Orte kontemplativer Stille, um sich dem „Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage“ zu stellen, „wie [der Mensch] sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes Leben transzendieren und das Einswerden erreichen kann“.28 Das Imaginäre vollzieht sich innerhalb der „Erfahrung dieses Abgetrenntseins“29 und auf der mystischen Suche nach dem Anderen, Verborgenen. Über die Selbstreflexion, die sprachliche Umdeutung und die Neuausrichtung des Begriffs- und Vorstellungsapparats arbeitet sich das Erzählen indes an der unmittelbaren Gegenwärtigkeit und Biografie ab und erkennt dort seinen narrativen Fluchtpunkt. Bei Handke wie bei Ibn ‘Arab zielt alles auf Loslösung ab. Der Ins-SchauenKommende entfernt sich jedoch nicht vom Objekt seiner Betrachtung, um es intellektuell greifbar zu machen. Die Loslösung führt vielmehr zum Verlust des privilegierten Beobachterstatus. Gemäß des mystischen Narrativs kommt es dabei zu einem Dreischritt: Während der erste Schritt im „Freimachen, Loslösen und Leermachen“ besteht, gilt es im zweiten Schritt, „den Blick frei zu bekommen und das Schauen überhaupt anzustreben“; im dritten Schritt wird dann die „Einigung“ angestrebt.30 Es ist dieser Dreischritt aus „Freimachen, Schauen und Einigung“, der nach Grätzel den „Kern der mystischen Erfahrung“ bildet,31 den wir auch bei Handke beobachten können. Handke begibt sich sprachlich auf „das Abenteuer“ einer schier unabschließbaren Suche, erzählerisch ins Offene einer „rückhaltlose[n] Verausgabung“.32 Der Versuch reflexiver Selbstauflösung ist stets mit dem poetischen Entwurf einer narrativen wie sprachlichen Zerstreuung verknüpft. „Das Supplement und die Turbulenz eines gewissen Mangels sprengen die Grenze des Textes“, schreibt Jacques Derrida, „verbieten dessen allumfassende und abschließende Formalisierung oder zumindest die sättigende Taxonomie seiner Themen, seines Signifikats seiner Bedeutung“.33 Die Vorstellung von einer Entwerdung des Ichs, die Handke zum Leitmotiv seines Schreibens erhebt, schließt somit auch das Erzählen mit ein. Auf diese Weise nimmt das Erzählen
28 Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main 2000, S. 16. 29 Ebd., S. 15. 30 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 41. 31 Ebd. 32 Jacques Derrida, „Ellipse“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 443–450, hier S. 443. 33 Jacques Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, Graz/Wien 1986, S. 95.
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„das in sich auf, was der Leser an emotiven und imaginativen Elementen dazubringt“,34 und setzt „an die Stelle einer nach allgemeinen Gesetzen geordneten Welt eine auf die Mehrdeutigkeit sich gründende“.35 Nach Umberto Eco vermag eine solche Poetik die „Krise unserer Zeit“, aber auch „die positiven Möglichkeiten eines Menschentyps aus[zu]drücken, der offen ist für eine ständige Erneuerung seiner Lebens- und Erkenntnisschemata, die produktiv an der Entwicklung seiner Fähigkeiten und der Erweiterung seiner Horizonte arbeitet.“36 Peter Handkes Texte nehmen in diesem Sinne moderne Sichtweisen auf, treten aber zugleich in den Dialog mit jenem offen gehaltenen Denken, wie es der arabische Mystiker in seinem theophanischen und poetischen Werk kultiviert hat.
„Erfindet immer neu das Rätsel: betreibt die Enträtselung, die zugleich das Eine Rätsel verdeutlicht, als das wir jeden Morgen erwachen und jeden Abend uns zur Ruhe legen.“37 Diese Einsicht fasst eindringlich das Heilsversprechen, aber auch ex negativo die Krise zusammen, in der sich Handkes Figuren im 1981 erschienen dramatischen Gedicht Über die Dörfer befinden. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass der Autor hier mit Nova eine weibliche Figur inauguriert, die als Wortführerin und personifizierte Allegorie vor und hinter dem Vorhang, innerhalb und außerhalb der Handlung stehend, den Blick auf den Gesamtzusammenhang wirft. Im epischen Ton einer antiken Saga und zugleich als dessen lakonische Brechung meldet sie sich als erste zu Wort, führt Gregor, die Hauptfigur – die nach ihren Worten keine mehr sein darf –, ein und beendet am Ende des Stücks im inbrünstigen Ton einer „Verkündigungsrede“38 das unwürdige Spiel der drei Geschwister um Geld, Besitz, offene Rechnungen und das Schicksal, das sie unvorhersehbar zusammengeführt hat. Die Konfrontation allerdings als vermeintlicher Höhepunkt des Stückes mündet in eine für Handke typische Aushöhlung der sprachlichen und dramaturgischen Handlungsanweisung und entpuppt sich als Nebenschauplatz einer über die Geschichte sich hinwegsetzenden Metaerzählung. Die Sprache kehrt
34 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1977, S. 37. 35 Ebd., S. 38. 36 Ebd., S. 52. 37 Peter Handke, Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht, Frankfurt am Main 1981, S. 114f. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle ÜD.) 38 Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990, St. Pölten 2010, S. 488.
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dabei auf exemplarische Weise den Tatsachen den Rücken und höhlt ihre eigenen Aussagen aus, indem sie sich selbst beim Wort nimmt und das Gesagte u.a. als Mimikry eines auktorialen Sprachspiels ausgibt. Ferner gibt sie die Brüchigkeit ihres fiktiven Personals preis, indem sie das Sprechen über das imaginäre Andere zu ihrem eigentlichen Anliegen erhebt. „Spiele das Spiel“, lautet Novas doppelbödige Ermahnung an Gregor und Instruktion für den weiteren Verlauf: Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. […] Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. (ÜD 19f.)
Dessen ungeachtet begibt sich Gregor aus einer für das Werk Handkes charakteristischen „Grundsituation der Ausgesetztheit und der Heimatvertriebenheit“39 auf die Reise zum Bruder, dem „ewige[n] Opfer“ (ÜD 15), sowie zur Schwester, die sich als hartnäckiger Kontrapart herausstellt. Die Rückkehr in die Heimatgegend desjenigen, der sich selbst als Bewahrer sieht und deshalb nicht loslassen kann, markiert auch die widrige Suche nach einer neuen Sichtweise auf das Leben selbst. Gregor, „ohne Ohr für den unterirdischen Heimwehchor / Mann aus Übersee, blind für die Tropfen Blut im Schnee / Zuschauermaske über den Wangen, Hand unter Händen an Haltestangen / Wanderer ohne Schatten – Nordsüdostwestherr!“ (ÜD 11), kehrt der Situation, in der er sich befindet, den Rücken. Im Ort seiner Kindheit, dem „Hauptort“ seiner Träume, „der abschreckenden wie der vorbildhaften“ (ÜD 18), gerät er indes selbst ins Abseits. Auf diesem dramatischen Parcours der Selbstfindung drängt es ihn nach vorn, auch wenn die Sprache sich von der anfänglichen Rahmenerzählung verabschiedet, ja in einer Weise die Erzählung unterhöhlt, dass sich die grundsätzliche Frage stellt, was Handke dazu veranlassen könnte, in seinen Texten abseits der spielerischen Auseinandersetzung mit erzählerischen und dramatischen Konfigurationen seine Figuren derart ins Offene einer „scheinbare[n] Gegenwartsferne“40 aufbrechen zu lassen? Der Antagonismus zwischen Gegenwartsbezug und -ferne löst sich bei diesem Schriftsteller allerdings
39 Peter Handke, „Zu Georges-Arthur Goldschmidt, ‚Die Absonderung‘“ [1991], in: ders., Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt am Main 1992, S. 121–123, hier S. 121. 40 Peter Handke, „Zu den Erzählungen von Johannes Moy“ [1988], in: ders., Langsam im Schatten, S. 118–121, hier S. 119.
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dadurch auf, dass sein Erzählen ohne zeitliches oder räumliches Zentrum auskommt. Dadurch entsteht eine ständige Aushöhlung bzw. Verschiebung. Beobachtungen und Fragen aus dem Leben verabschieden sich, während sie noch gestellt werden, aus dem Bereich empirischer Wahrnehmung. Sie erfahren eine künstliche Aufbereitung, geraten dadurch in den Blick, in dem der Blick auf die Sprache gelenkt wird. Diese stellt indes eine Struktur dar, die ständig auf den Prüfstand gestellt werden muss. Es sind somit zwei Seiten des Diskurses im Spiel: Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind […]. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen.41
Zugleich rückt nach Kenneth Burke der Mensch als symbol-using (symbol-making, symbol-misusing) animal, inventor of the negative (or moralized by negative), separated from his condition by instruments of his own making, goaded by the spirit of hierarchy (or moved by the sense of order) and rotten with perfection 42
in den Mittelpunkt einer kritischen Betrachtung. Für Ibn ‘Arab bildet hingegen der koranische Text die Grundlage für seine Meditationen, die als Lektüren beginnen und im Verlauf nie die Ausrichtung auf die ursprünglich göttliche Aussage verlieren, zugleich aber die Wahrnehmung auf das richten, was die Aussage eben nicht in sich birgt. Das Besondere ist, dass es hierbei nicht zum Widerspruch kommen kann, da der Widerspruch als immanente These seines Denkens eine Annäherung an das Göttliche darstellt. Das Sein, das Ibn ‘Arab denkt und das innerhalb und außerhalb des Denkmöglichen sich manifestiert, ist untrennbar verknüpft mit der Frage der Wahrnehmungsperspektive und unterliegt einem ständigen Wandel. Es ist und ist auch nicht. Damit zielen seine Aussagen auf das Manifeste wie das Verborgene. Der Wahrheitsbegriff erfährt seine entscheidende Brechung und verliert jedwede raumzeitliche Begrenzung. Der Möglichkeit prinzipiell unendlicher Bedeutungspotenziale entspricht so die „generative Bewegung“43 eines Denkens,
41 Jacques Derrida, „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 422–442, hier S. 441. 42 Kenneth Burke, Language as Symbolic Action. Essays on Life, Literature and Method, Los Angeles 1966, S. 16. 43 Derrida, Positionen, S. 68f.
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das der ungeheuren Dynamik des Gottes-, Seins- und Wahrheitsbegriffs gerecht werden will. Demgegenüber steht die für ein solches Denken nur unvollkommen anmutende theologische Praxis, der dilettantische Habitus der Gläubigen, die eben nicht gewillt zu sein scheinen, sich diesem Geheimnis zu öffnen. Ein tiefverwurzeltes Ungenügen an der sie umgebenden Welt, an einer Menschheit, die sich in Nebensächlichkeiten verliert, deren Blick, gefangen in Gewohnheit und Alltag, für das Mysterium Leben abhandengekommen ist, gehört aber auch zu den herausstechenden Merkmalen, die die Protagonisten und das Werk des Österreichers kennzeichnen.44 Diese Form von Tirade gegen das falsche, verfehlte Leben, die auf der Bühne in der Publikumsbeschimpfung ihren Anfang nahm und in den Auslassungen des wütenden Mannes im Untertagblues – als Dreh- und Angelpunkt des Textes – ihre unmittelbare Fortsetzung fand, stellt auch in anderen Redetexten, Erzählungen und Romanen Handkes ein zentrales Moment dar, wobei Klage und Selbstbezichtigung dort deutlicher mit dem Imperativ vermengt werden, selbst ins Ungewisse aufzubrechen. Freilich kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, das polemisch formulierte Ungenügen im Einzelnen lediglich nach seinen gesellschaftskritischen Implikationen zu befragen, zumal gerade die ständige Beschwörung des Rätsels, die ständigen Erlösungsutopien und Aufrufe zu Höherem kaum ihre mystische Seite verhehlen können. Die Ermahnung, das Schauen nicht zu vernachlässigen, ist die ausgesparte Geschichte des Subjekts, das pathetische Moment eines ausgedehnten Sprachspiels. Dieses Pathos stellt zwar ein Grundmotiv in Handkes Erzählen dar, entfaltet aber nur mit seinem Kontrapart zusammen seine eigentliche Wirkung: Neben dem alles um ihn herum würdigenden Blick erfüllen jene Aussagen das Gedankenprotokoll mit Leben, die skeptisch ihr Misstrauen gegenüber einer Selbstvergewisserung aussprechen. Was etwa „der VOLKSREDNER oder WILDE MANN oder SPIELVERDERBER oder VOLKSFEIND, oder was auch immer er darstellt“45 im Untertagblues hinter sich lassen will, trägt er während seiner Metrofahrt mit sich herum. Wem er auch entrinnen will, dem kann er im hermetischen Weltausschnitt
44 In Über die Dörfer findet diese Kritik zunächst leisen Anklang in Gregors Einsicht von der Unfähigkeit der Geschwister, Liebe füreinander zu empfinden: „Ich erinnere mich an keinen Moment ausgesprochener Liebe zu den Geschwistern, aber an nicht wenige Stunden der Angst und der Sorge um sie. […] Wir wußten vielleicht nichts besonderes miteinander anzufangen, aber es war immer wieder eine Beruhigung, sie ums Haus zu wissen.“ (ÜD 12) Die Kritik steigert sich im Wunsch, den Bruder „aus dem Dorfbereich, den er noch kein einziges Mal verlassen hatte“, zu befreien, „wenigstens für eine kurze Zeit herauszuholen und ihm etwas von der anderen Welt zu zeigen“ (ÜD 13). 45 Peter Handke, Untertagblues. Ein Stationendrama, Frankfurt am Main 2003, S. 9.
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Zugabteil nicht entfliehen. Die Stationen ziehen an ihm vorbei. Er jedoch verharrt, lediglich durch kurze „Blick-, Atem- und Einstimmungspause[n]“ unterbrochen, im Begaffen und Bereden der Situation und der Not, die ihn bedrängt: Du wolltest uns wohl das letzte Wort gesagt haben? Aber so kommst du mir nicht davon. Trübe Gäste? Nein, du, der trübe Gastgeber. Lieblos wie ein enttäuschter Liebhaber. Oder wie ein unglücklich Verliebter. […] Dein Schönheitswahn dein Verderben. Der Schönheitsbedürftige muß elendig enden, und recht geschieht ihm. Du Schönheitssucher: hast so dein Herz verloren?46
Mit diesen Worten weist ihn sein rhetorischer, als „wütende Frau“ apostrophierter Gegenpart zurecht. Auch wenn die direkte Konfrontation – die Art und Weise, wie die „Medusenschönheit oder WILDE FRAU […] leibhaftige Schlangenblitze oder Blitzschlangen auf ihren Delinquenten [schießt]“47 – hier wortgewaltig die Szene überschattet, eröffnet ihre bloßstellende Kritik nichtsdestoweniger den Blick auf eine für Handkes Figuren charakteristische Sprache. Es ist eine Sprache, die zusammen mit der polternden Tirade, der Welt- und Selbstentblößung, das Fundament seiner Entsagungs- und Verheißungspoetik bildet, eine „Herzens-Sprache“, die stimmgewaltig das Rätsel vom mystisch Anderen verkündet, „ungehemmt“, wie in Über die Dörfer, beispielsweise dazu aufruft: Folgt der Karawanenmusik. […] Geht so lange, bis ihr die Einzelheiten unterscheidet, so lange, bis sich im Wirrwarr die Fluchtlinien zeigen; so langsam, daß euch wieder die Welt gehört, so langsam, daß klar wird, wie sie euch nicht gehört. Ja, bleibt für immer fern von der kraftlos-gewalttätigen, der als Macht auftretenden Macht. Die gute Kraft ist die des Übersehens. Vernichtet – aber nur durch Licht. Bewegt euch – damit ihr langsam sein könnt: Die Langsamkeit ist das Geheimnis, und die Erde ist manchmal etwas sehr Leichtes: ein Schweben, ein Ziehen, ein gewichtloses Bild, ein Sinnreich, ein Eigenlicht – übernehmt dieses Bild für euer Weitergehen: es gibt den Weg an, und ohne das Bild eines Wegs gibt es kein Weiterdenken (ÜD 99f., Herv. i.O.).
Konfrontiert wird der Leser hier mit einem intrinsischen Verheißungsmythos, der durch den Gebrauch eines durchlässigen Vokabulars und jenen aus der Unschärfe resultierenden Schwierigkeiten der Zuordnung auch sprachlich seine Lossagung von der Alltagswelt propagiert. Die eigentliche Sinnsuche wird dabei in Richtung
46 Ebd., S. 73. 47 Ebd., S. 77.
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eines „stille[n] offene[n] Denken[s] der Phantasie“48 geöffnet. Natürlich erhält der Offenbarungscharakter nicht denselben theologischen Stellenwert, der ihm bei Ibn ‘Arab zukommt; trotzdem stellt die Aufforderung, hinter den Schleier zu blicken, in Bezug auf die von ihm erhobene Notwendigkeit der Entwerdung einen Schnittpunkt mit Handkes Apotheose des mystischen Ins-Schauen-Kommens dar. Das Selbst muss demnach erst ausgeschaltet werden, um sich dem Höchsten öffnen zu können. Diese für die Mystik charakteristische intentionale Verschiebung projiziert die Suche nicht nur nach innen, sondern verdichtet sie auf den sublimsten Punkt einer Epiphanie hin, die sich laut Ibn ‘Arab eben nur für den „Glückselige[n]“ einstellt, „der […] für das Heben des Schleiers an der Tür bleibt“.49
Neben der polemischen Auslassung wäre bei Handke ferner der Blick auf die innere Befremdlichkeit der Figuren, der „chronisch Schlaflose[n]“ (VM 14), zu lenken, die im Versuch über die Müdigkeit im Gewand einer ausgedehnten SelbstBefragung zum Zuge kommt. Im Zustand einer heillosen, sie umtreibenden Unruhe gelangt oft und dem „Weltbild der Schlaflosigkeit“ (ebd.) entsprechend ein ganzes Bündel kaum rational zu greifender Faktoren an die Oberfläche, die den Ausschlag zugunsten des Aufbruchs geben. Im Vordergrund stehen deshalb auch nicht Probleme, sondern nicht-problematisierte Voraussetzungen. Problembewusstsein, Referenz- und Identitätsprobleme fungieren so als Mittel, dem Text von Beginn an ein Jenseits des Diskurses einzupflanzen. Aber erst wenn aus der Topologie des Fragens und des Ins-Offene-Stellens eine topografische Vergegenständlichung entsteht und die erzählerische Auseinandersetzung in der Beobachtung, im Blick auf sich, eine Perspektive erhält, gelangt das beredte Schweigen, die innere Unruhe in einen poetischen Zusammenhang. Die Frage findet über das Narrativ der Suche zu sich selbst im Sinne einer in die Umgebung hinausgetragenen Introspektion. Sie weitet sich und erhält einen sich mit ihr verschiebenden Horizont. Verfremdet tritt sie als Äußeres dem Fragenden entgegen. Dieser wiederum tritt ihr beobachtend entgegen; er beobachtet das ihn Entfremdende als Fremdes und setzt sich damit in ein dialogisches Verhältnis zu ihr. Auf diese Weise „verliert sich das Ich in einer fremden Geschichte“, und es zeigt sich, wie
48 Peter Handke, „Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet“ [1988], in: ders., Langsam im Schatten, S. 16–32, hier S. 19. 49 Ibn Arab, „Geist der Heiligkeit“, S. 116.
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für die Mystik „die narrative Ebene für die ontologische Dimension zentral dienstbar und vielleicht auch fundamental wichtig wird“.50 Der Aufbruch setzt im Versuch über die Müdigkeit daher mit einer neuen, aufmerksamen Wahrnehmung der Umgebung ein – einer plötzlich eintretenden Veränderung, die für den Erzähler einer Befreiung gleichkommt. Der in einer allumfassenden Müdigkeit Gefangene durchlebt mitten in Manhattan plötzlich eine „Verwandlung“: Ich war wieder da, in der Welt, und sogar – nicht etwa, weil es Manhattan war – in ihrer Mitte. Aber es kam dann noch einiges dazu, vieles, und eins eine größere Lieblichkeit als die andere. Ich tat, weit bis in den Abend hinein, nichts mehr als sitzen und schauen; es war, als bräuchte ich dabei auch nicht einmal atemzuholen. (VM 51f.)
Der nur kurz zuvor noch „von der Welt [A]bgeschnitten[e]“ (VM 50) nimmt aufmerksam wahr und wird seinerseits wahrgenommen. Dies wird auch und gerade in jener Szene deutlich, in dem das Ich auf seiner Reise endlich ins Schauen gelangt: „Es gingen ständig viele, auf einmal unerhört schöne Frauen vorbei – eine Schönheit, die mir zwischendurch die Augen naß machte –, und sie alle nahmen mich im Vorbeigehen auf: Ich kam in Frage.“ (VM 52) Die privilegierte Stellung der Frau in Handkes Apotheose des Sehens und Erlebens wird in einer unmittelbar daran anknüpfenden Verwunderung darüber hervorgehoben, „daß vor allem die schönen Frauen diesen Blick der Müdigkeit beachteten, so wie auch noch manch alte Männer und die Kinder“ (ebd.). Die „euphorische Verherrlichung des Kindlichen und des kindlichen Blicks“ gründet ebenfalls in Handkes Apotheose eines intentionslosen Sehens, das „zum Vorbild einer offenen Haltung angesichts des Offenen der Epiphanie“51 stilisiert wird und einen Gegenentwurf zur „Abgeklärtheit der Erwachsenenwelt“52 darstellt. Zugleich zeigt sich hier, dass bei Handke das erotische Moment nicht von der mystischen Erfahrung zu trennen ist und welchen poetisch erhöhten Kontrapart das weibliche Geschlecht in seinen Texten übernimmt. Den Don Juan stelle ich mir […] nicht als einen Verführer, sondern als einen jeweils zur richtigen Stunde, in Gegenwart einer müden Frau, müden, einen immer-müden Helden vor, dem so eine jede in den Schoß fällt – ohne ihm allerdings, sind die Mysterien der erotischen Müdigkeit dann vollbracht, je nachzutrauern; denn was mit den beiden Müden war, wird ja für immer gewesen sein, auf Lebenszeit: nichts Nachhaltigeres kennen solche zwei, als so
50 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 33. 51 Huber, Versuch einer Ankunft, S. 94. 52 Ebd., S. 92.
192 ineinandergeraten zu sein, und keiner von ihnen bedarf auch der Wiederholung, ja scheut gar davor zurück. (VM 48f.)
Die Müdigkeit als zentrale Chiffre für das Erleben, Wahrnehmen und Zeitempfinden ist gerade in der hier beschriebenen erotischen Begegnung zwischen Don Juan und den Frauen53 insofern interessant, weil sie einmal die Frau in den Mittelpunkt eines „wahrhaftig[en], untrügerisch[en]“ (VM 49) Erlebnisses rückt, wenn auch für die profane Existenz „rare[r] Ekstasen der Müdigkeit“ (ebd.), ferner den Aspekt der Dauer kontrastiv zum flüchtigen Erleben in Stellung bringt und so einige Aspekte anspricht, die auch bei Ibn ‘Arab eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Was uns am dichterischen Werk Ibn ‘Arabs im Zusammenhang mit Handke jedoch vor allem interessieren könnte, ist eine seine Liebes- und erotische Dichtung kennzeichnende Verflechtung mit jenen „auf den HERRN bezogene Erkenntnisse, göttliche Illuminationen, geistige Geheimnisse, Verstandeserkenntnisse und rechtliche Ermahnungen“, wie er selbst in einem zum Dolmetsch der Sehnsüchte veröffentlichten Kommentar hervorhebt. Dass es sich hierbei zugleich um einen Rechtfertigungsversuch des Mystikers handelt, macht die anschließende Aussage deutlich, wonach er lediglich „alles in der Sprache der Liebes- und Frauendichtung ausgedrückt“ habe, „da die Seelen verliebt sind in diese Ausdrucksweisen“.54 Ibn ‘Arab geht sogar so weit, seinen Gedichten eine auf das rein metaphysischtheophanische Thema begrenzende Auslegung zur Seite zu stellen, um den von „Rechtsgelehrten“ erhobenen Vorwurf zu entkräften, „ein erotisches Werk verfaßt zu haben unter dem Vorwand, daß es sich um mystische Gedichte handle.“ Das Argument, das erotische Moment diene nur als oberflächlicher Reiz, als symbolische Grundierung für seine „göttliche[n] Illuminationen“, sprach ihn „in Anwesenheit einer Gruppe von Rechtsgelehrten“55 frei. Angesichts des brisanten Vorwurfs ist diese Erklärung zwar nachvollziehbar, sie lässt aber einen wesentlichen Teil seiner Weltsicht unberücksichtigt. Zweifellos stehen spirituelle Erfahrungen und mystisch-religiöse Einsichten im Vordergrund seiner Lyrik, doch Ibn ‘Arab unterschlägt hier geflissentlich die „enge Verbindung zwischen Irdischem und
53 Handke hat diesen Aspekt anderthalb Jahrzehnte später erzählerisch entfaltet: Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt am Main 2004. Ein geglücktes Miteinander, so heißt es dort, zeichne sich auch dadurch aus, dass die Liebenden „einen vollkommen übereinstimmenden Zeitsinn“ hätten (S. 89). Vgl. hierzu Thorsten Carstensen, „Die Geschichte zwischen Mann und Frau: Peter Handke und die Liebe“, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 12 (2013), S. 43–65. 54 Zit. nach Giese, Ibn ‘Arab, S. 230. 55 Zit. nach ebd., S. 229.
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Geistigem“,56 die auch in seinen Gedichten zur Sprache gelangt. Dies könnte erklären, warum der Mystiker in den Kommentaren auf den Illeismus zurückgreift, wie Wolfgang Herrmann feststellt: Er sagt also nicht: „Ich meine mit der Gedichtzeile xy eigentlich Folgendes…“, sondern „er (der Dichter) will [wohl] mit der Gedichtzeile xy eigentlich Folgendes sagen…“ Dieser bedeutsame Unterschied wird im Schrifttum kaum beachtet, ebensowenig wie der Umstand, dass der Kommentar ursprünglich eine klar apologetische Funktion hatte, er sollte nämlich die kritischen Rechtsgelehrten (fuqaha) tatsächlich zufriedenstellen. So ist z.B. zu erklären, dass in die Kommentare unzählige Referenzen auf den Koran und die Hadithe eingeflochten sind. Gibt es denn ein besseres Mittel, orthodoxe muslimische Theologen zu besänftigen?57
Gerade in der Mystik und „[i]n der Welt der menschlichen Spiritualität beruht Originalität auf Totalität und Integration, einem vereinten Feld des Seins und Wissens, das per Definition alle Prinzipien aller anderen Felder einschließt“,58 schreibt Stephen Hirtenstein. In diesem Sinne bemerkt Ibn ‘Arab, dass er stets „in Begriffen der Zwei Welten“59 rede. Dieses Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungsebenen zeigt sich auch in der im Diwan poetisch nachgezeichneten Begegnung Ibn ‘Arabs mit Nizam, der jungen Perserin. Die „ambivalente oder dialektische Formulierungen, die aus diesem Überstieg, aus dieser Transzendenz
56 Wolfgang Herrmann, „Einleitung“, in: Muhyddn Ibn ‘Arab, Deuter der Sehnsüchte, Bd. 1, hg. und übers. von Wolfgang Herrmann, Herrliberg 2013, S. 7–24, hier S. 9. 57 Ebd., S. 20. 58 Stephen Hirtenstein, Der grenzenlos Barmherzige. Das spirituelle Leben und Denken des Ibn Arabi, Zürich 2008, S. 19. 59 Ibn ‘Arab, Der sagenhafte Greif des Westens, übers. von Anqa Mughrib, Herrliberg 2012, S. 102. Diese mehrdimensionale Sichtweise auf die Phänomene könnte erklären, warum der Dichter „nunmehr aus freien Stücken […] den Kommentar auf sämtliche Gedichtverse der Anthologie ausdehnen wollte“ (Herrmann, „Einleitung“, in: Ibn ‘Arab, Deuter der Sehnsüchte, S. 21) und die „zunächst aufgezwungene Strategie“ in eine für die eigene Lehre fruchtbare Ausweitung des poetischen Themenfeldes ummünzt. Auf diese Weise kann er „sich von der Vorgabe des Textes zu freien Assoziationen leiten [lassen], die ihn in tiefe Meditationen über zentrale Themen seines Denkens versetzen, Meditationen, die über die Gedichtgrenzen hinweg innerhalb des Gesamtkommentars vernetzt sind“ (ebd., S. 22.).
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heraus, resultieren“, markieren auch hier den „Prozess der Einigung und Reflexion“60 und münden – ähnlich wie in der unio mystica – in die „Integration des Heiligen und des Erotischen“61. Im Zustand göttlicher Erleuchtung und während er die Ka´aba umrundete, „kamen zu [ihm]“, wie es heißt, ein paar Verse, und ich rezitierte sie, laut genug, so daß ich sie selbst hören konnte und auch, wer immer folgte – wenn dort jemand gewesen wäre. Da – kaum, daß ich es wahrnehmen konnte – fühlte ich eine Berührung zwischen meinen Schultern von einer Hand weicher als Seide. Ich wandte mich um, da war da ein junges Mädchen von den Töchtern der Byzantiner. Nie hatte ich (im Nachhinein gesagt) eine mit schönerem Gesicht gesehen, mit angenehmerer Rede, mit zarterem Inneren und feineren Gedanken; nie eine mit subtileren Andeutungen und keine mit scharsinnigerer Disputierkunst. Sie übertraf die Leute ihrer Zeit an Feinsinnigkeit und Bildung, an Schönheit und an Kenntnis.62
Am heiligsten Ort des Islam entspinnt sich zwischen dem Verfasser der mekkanischen Offenbarungen und der plötzlich erschienenen jungen Frau unversehens ein Zwiegespräch, in dem sie die Verse in Frage stellt und den Schaich al-akbar zurechtweist. Sie zerpflügt regelrecht jeden Vers, etwa wenn Sie auf die Aussage: „Die Herren der Liebe sind ratlos in der Liebe, und sind verwirrt!“ erwidert: Merkwürdig – wie kann für den heftig Verliebten ein Rest übrig bleiben, mit dem er in Verwirrung geraten kann, wenn es doch Sache der Liebe ist, sich durch und durch zu verbreiten. Sie betäubt die Sinne, raubt den Verstand, verblüfft die Gedanken und entführt den Verliebten mit denen, die davongehen. Wo also soll die Verwirrung sein, wenn dort nichts übrig ist, um verblüfft zu sein? Der richtige Weg ist wahrhaftige Sprache. Für jemanden wie dich ist figurative Sprache nicht passend!63
Diese Strategie, innerhalb der eigenen Dichtung die selbstreflexive Antithese in Form eines weiblichen Korrektivs auftreten zu lassen, ist für das Denken Ibn ‘Arabs durchaus kennzeichnend. Als Beleg für die Verbindung von erotischer und mystischer Erfahrung“ könnte ferner das Gedicht mit dem Titel Doppelbuchstabe aus dem Gedichtzyklus Dolmetsch der Sehnsüchte dienen, das auf den ersten
60 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 41. 61 Peter Dinzelbacher, „Die Psychohistorie der Unio mystica“, in: Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 2 (2001), S. 45–76, hier S. 47. 62 Zit. nach Giese, Ibn ‘Arab, S. 227. 63 Zit. nach ebd., S. 228.
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Blick – und ohne den von Ibn ‘Arab hinzugefügten Interpretationsschlüssel gelesen zu haben – ein letztes erotisches Beisammensein zweier Verliebter zu beschreiben scheint: Jedesmal, wenn wir uns treffen zum Abschied, hältst du uns beim An-die-Brust-Drücken und Umarmen für einen verdoppelten Buchstaben/ Obwohl unsere Personen doppelt sind, sehen die Blicke doch nur eine einzige!/ Dies ist nur wegen meines Dahinschwindens und seines Lichtes. Und wäre nicht mein Wehrufen, sähen die Blicke für mich keinen Erscheinungsort!64
Die Liebenden verschmelzen zur Einheit, bewahren jedoch bis zum Moment der Auflösung ihre körperliche Integrität. Die Einheit ist zunächst nur metaphorischer Natur, gehört ins Reich des Sichtbaren. Die Einschränkung endet erst im Moment des „Dahinschwindens“, das mit dem „Wehrufen“ letzte visuelle und akustische Spuren der irdisch-körperlichen Existenz markiert. Der Dichter kann deshalb leicht den im Gedicht betrauerten „Abschied“ in folgender Weise auflösen: Bei der Trennung vom Körper sehnt sich die Seele nach diesem Zustand zurück. Obwohl wir zwei sind der Bedeutung nach, so trifft das Auge doch nur auf eine einzige Person. Der Grund für die Seele Verliebtheit in den Körper liegt darin, daß sie das, was sie an Erkenntnissen erlangt, nur durch ihre Gefangenschaft in ihm erlangt, und dadurch, daß sie ihn für den festgelegten göttlichen Dienst verwendet.65
Die unerhörte Geste besteht bei Ibn ‘Arab somit darin, die Erkenntnis zunächst auf rein poetischer Ebene dem interpretatorischen Zugriff durch die „figurative Sprache“ der Liebe zu entziehen, um das Thema im weiteren Verlauf in Richtung einer mystischen Meditation zu überführen. Im Anschluss offenbart er durch die daran anknüpfende Auflösung dem Leser sein ‚eigentliches‘ – allerdings vom konkreten Inhalt des Gedichts losgelöstes – Thema. Die „Transposition irdischsinnlicher Frauengestalten in die abstrakte Sphäre erhabener Ideen“ wird nur teilweise vollzogen, so dass die körperliche Komponente intakt und „[d]er Widerhall leidenschaftlicher Liebe“66 ein zentrales Thema in den Gedichten bleibt. Das Erotische vermittelt so zwischen der figurativen und abstrakten Bedeutungsebene; es
64 Ibn ‘Arab, „Dolmetsch der Sehnsüchte“, in: ders., Urwolke und Welt. Mystische Texte des Größten Meisters, hg. u. übers. von Alma Giese, München 2002, S. 225–303, hier S. 297. 65 Ebd. 66 Fromm, Die Kunst des Liebens, S. 65.
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entsteht eine poetische Aussage, die beide Sphären antizipiert und untrennbar miteinander verschränkt. Die enorme Bandbreite „klassische[r] Themen von Lockung, Verführung und Abweisung, von Trauer, Abschiedsschmerz, von tiefer Verzweiflung, aber auch von irdischen und überirdischen Glückszuständen“,67 auf die er in seinem poetischen Werk zurückgreift, zeugen davon. Das ständige Pendeln zwischen Mikro- und Makrokosmos, sinnlicher und übersinnlicher Ebene, sowie der Versuch, seine Gedichte mit einer theophanischen Auslegung anzureichern, führen auf poetischer Ebene allerdings zu einer eigentümlichen Verschmelzung unterschiedlicher Themenfelder und Textsorten. Nichtsdestotrotz bleibt die sinnlich-erotische Komponente insoweit davon unberührt, da „der Schauplatz der Liebe“68 lediglich in den sinnlich nicht wahrnehmbaren Bereich transzendiert und damit die enge Verbindung zwischen Körper und Seele durch die in der Welt der sinnlichen Wahrnehmung bestehende Liebesverbindung illuminiert wird. „Rhetorik“ dient mit den Worten Paul de Mans auch hier der „radikale[n] Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung“,69 und eben auf eine derartige Dissemination zielt Ibn ‘Arabs Sprache ab. Die Verschränkung unterschiedlichster Bedeutungsebenen ist dabei vor allem dem komplexen Wirklichkeitsverständnis des Mystikers geschuldet, in dem stets die Erscheinungen gleichwertig mit ihrer „unsichtbare[n] Wahrheit“ gewärtigt werden müssen, d.h. der „spirituelle[n] Substanz, welche ihre Erscheinung in der äußeren Welt entstehen lässt“.70 In diesem Sinne wird verständlich, warum selbst der Interpretationsschlüssel, den er seinen Gedichten zur Seite stellt, „eigentlich nichts ‚erklärt‘“, wie Herrmann feststellt; das das Gedicht umgebende Geheimnis leuchte jedoch „in einer neuen Aura“71 auf. Da das Objekt seiner Lyrik göttliche Liebe ist, erlebt durch das Medium eines Menschen, verschmelzen bei ihm, gemäß der untrennbaren Dualität der Dinge, sinnliche Immanenz und mystische Transzendenz zu einem dialektisch ineinander vermittelten Ganzen. Ein solcher Text „behauptet und verneint“ dadurch „zugleich die Autorität seiner eigenen rhetorischen Form“ und offenbart sich so als „avancierteste und verfeinertste Form der Dekonstruktion“.72 Liebesgeschichte und Metaphysik, lyrischer Entwurf und religiöse Epiphanien fließen unmerklich
67 Herrmann, „Einleitung“, in: Ibn ‘Arab, Deuter der Sehnsüchte, S. 13. 68 Hirtenstein, Der grenzenlos Barmherzige, S. 297. 69 Paul de Man, „Semiologie und Rhetorik“, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, S. 31–51, hier S. 40. 70 Chittick, Erbe der Propheten, S. 31. 71 Herrmann, „Einleitung“, in: Ibn ‘Arab, Deuter der Sehnsüchte, S. 22. 72 De Man, „Semiologie und Rhetorik“, S. 48.
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in Dichtung über und bilden zwei Seiten einer globalen mystischen Vision. Deshalb ist es kaum von Belang, ob der sinnweltliche Bereich durch figurative Rede überhöht oder der metaphysische Entwurf durch direkte Rede illuminiert wird. Letztlich ist es nur eine Frage der jeweils eingenommenen Wahrnehmungsperspektive. Ziel bleibt in erster Linie die Zerstreuung, nicht die unilaterale Ausrichtung auf den einen Signifikanten. Dieser Umstand könnte u.a. die Aufmerksamkeit Peter Handkes auf den arabischen Mystiker gelenkt haben, eben auf jenen Theosophen, der bewusst „die Allegorie seines Mißverstehens“73 ins Zentrum seiner Dichtung gerückt hat. Schließlich bringt die transzendente Erschütterung, die vom Erhabenen ausgeht, stets „dem Betrachter zu Bewusstsein, dass es eine (Zeit-)Leere geben könnte, die sein Fassungsvermögen übersteigt und sein stabiles Selbstbild untergräbt.“74 Angesichts dessen, aber auch angesichts der Manifestationsvielfalt sinnlicher Wahrnehmung gerät das Sprechen bei beiden ins ewige Transkribieren und in die ewige Paraphrase mystischer Erfahrung.
73 Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis 1983, S. 136. 74 Torsten Hoffmann, Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauß), Berlin 2006, S. 33.
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Peter Handkes dramatischer Text Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts (2008) kann als eine kritisch-poetische Auseinandersetzung mit Samuel Becketts monologischem Drama Das letzte Band (1958) gelesen werden. Dieser Beitrag ist ein Versuch, dem Schreibprojekt des österreichischen Gegenwartsautors zu folgen, seinen „Echo“-Monolog dem Ausgangstext des irischen Autors gegenüberzustellen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider poetischen dramatischen Spiele hervorzuheben und dadurch das ‚bekannt Unbekannte‘ wahrzunehmen. Der Dialog der zwei dramatischen Texte ergibt ein monologisches Spiel von Zweisamkeiten1 – die Erinnerungen Krapps an seine Geliebte, die auf der verbalen und non-verbalen Ebene in Bilder umgesetzt werden bzw. die Anrede der „unbekannten Frau“ an Krapp. Der einsame Held Becketts erscheint in Handkes Werk nur noch als virtueller, schweigender Ansprechpartner, als eine amorphe Statue; den führenden Monolog spricht dagegen die Frau. Bei Handke ist es IHR Spiel, das Spiel der „unknown female“ Protagonistin, ein Spiel des Nachhalls im JETZT und DA, eine Art Ergänzung und Weiterführung des Beckett-Textes. Beckett verfolgte ursprünglich die Absicht, ein Stück über drei Krapps zu schreiben, nämlich über Krapp mit seiner Frau, Krapp mit Frau und Kind, Krapp mit sich allein, ein Projekt, das nicht verwirklicht wurde, aber bestimmt weitere
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Vgl. die frühere Studie der Verfasserin: Eleonora Ringler-Pascu, „Monologisches Spiel der Zweisamkeiten. Eine Untersuchung von Handkes dramatischen Text Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts“, in: Estudios Filológicos Alemanes. Revista del Grupo de investigación Filología Alemana 21 (2010), S. 183–199.
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Variationen zu dem Thema geboten hätte.2 Zuletzt entstand das Monodrama Krapp’s Last Tape (1958), das der Autor nachträglich als Variante auf Französisch verfasste, unter dem Titel La dernière bande (1958).3 Möglicherweise war es diese Absicht seines Vorgängers, die Handke dazu veranlasste, sein Echo-Drama zu schreiben. Dem Vorbild Becketts folgend, verfasste er sein Monodrama zunächst auf Französisch – Jusqu’à ce que le jour vous sépare ou Une question de lumière (2007) –, um den Text dann selbst ins Deutsche zu übertragen, unter dem Titel Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog (2008).4 In einem Interview mit Thomas Oberender berichtet Handke über den „zündenden Moment“, der dazu führte, Mann und Frau gegenüberzustellen, ausgehend von dem starken visuellen Eindruck (einem geradezu epiphanischen Moment), den er in der Kathedrale von Saint-Denis bei Paris bei der Betrachtung des Grabmals eines Königspaars gewann: In dieser gotischen Kathedrale liegen ihre Sarkophage. Und der Mann ist dargestellt als tot, also mit eingefallenen Wangen […]. Und die Frau daneben blüht, seine Frau, die liegende Statue oder zwischen Statue und Relief irgend etwas – die blüht vor Leben. […] Und da entstand die Idee, zwei Menschen, Mann und Frau, mal so hinzustellen. Ich wußte nur nicht: Wie macht man das auf der Bühne? […] Und dann kam Das letzte Band dazu. Das war die Entzündung, nein, der, wie sagt man, Zündpunkt […]. 5
Die einführende Regieanweisung zu Handkes Bis daß der Tag euch scheidet gibt die visuellen Eindrücke des Schriftstellers wieder und verwebt sie mit der Vision
2
Vgl. Martin Esslin, Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter, Reinbek bei
3
Vgl. Samuel Beckett, Krapp’s Last Tape, Uraufführung: 28. Oktober 1958, Royal Court
Hamburg 1985, S. 61. Theatre, London, Regie: Donald McWhinnie; Samuel Beckett, La dernière bande, Uraufführung: 22. März 1960, Théâtre Récamier, Paris, Regie: Roger Blin. 4
Peter Handke, Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog, Frankfurt am Main 2008. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle BT.) Die Uraufführung der französischen Version fand am 4. November 2008 an der Pariser Comédie de Valence statt (Regie: Christophe Perton), und zwar als Kombination mit Becketts Einakter Das letzte Band. Am 9. August 2008 erfolgte die deutsche Uraufführung am Salzburger Landestheater unter der Regie von Jossi Wieler, der seinerseits beide Texte als Tandem inszenierte. Durch die doppelte Aufführung entsteht der Eindruck eines ,Paar-Monodramas‘ bzw. ,Zwillingsdramas‘.
5
Peter Handke/Thomas Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater, Berlin 2014, S. 89f.
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eines Ich-Erzählers, der während des Erzählens die kollektive Wir-Perspektive übernimmt, die mit der abschließenden Beschreibung die Geschichte abzurunden scheint – ein adäquater Erzählrahmen für den dramatischen Teil des Frauen-Monologs. Durch die detaillierte Bildbeschreibung entsteht ein Rahmen, der das Geschehen in ein gewisses Zwielicht rückt. Bemerkenswert ist, dass die französische Version Handkes von Anfang an die kollektive WIR-Perspektive6 vorschlägt, die dann konsequent in den Regieanweisungen beider Varianten eingehalten wird.
Peter Handkes programmtische Nachbemerkung zum Monodrama eröffnet dem Leser zugleich den Zugang zu seiner poetologischen Einstellung gegenüber dem Beckettschen Ur-Text: Bis daß der Tag euch scheidet: Eine Antwort auf Das letzte Band von Beckett? Eher ein Echo. Ein Echo, jetzt fern, im Raum und auch in der Zeit, jetzt nah an Herrn Krapp, dem einsamen Helden des Stücks von Samuel B. Ein Echo, jetzt schwach und widersprüchlich, verzerrt, jetzt stark, verstärkt, vergrößert. Deshalb wage ich es, diesen Echo-Monolog ein Drama zu nennen, ein sehr kleines Drama – so wie Das letzte Band ein Drama ist, dafür ein großes. Beckett hat mit diesem Stück die vollkommene Reduktion geschafft (und geschaffen), eine notwendige Reduktion des Theaters, indem er sich befreit hat von den Resten des Symbolismus und der Meinungen zur Existenz in seinen anderen Stücken. Das letzte Band verkörpert vielleicht den Endpunkt oder die Endstation des Theaters, als pures Theater. Es ist ein primäres, essentielles und spielerisches Stück.7
Handkes Begriff der „vollkommene[n] Reduktion“ umschreibt treffend den dramatischen Text Das letzte Band: Mit dem akribisch verfassten Einakter, einem Ein-Mann-Stück, schien die Literatur der Moderne an einem Endpunkt angelangt zu sein. Die verdichtende Verknappung des Stücks ähnelt einem mathematischen Konstrukt, bei dem kein einziger Teil gestrichen oder hinzugefügt werden kann – eine Voraussetzung, die von Beckett explizit gefordert wird, da er keine Änderungen seiner Textvorlage bei Inszenierungen zulassen wollte. Die Regieanweisun-
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Vgl. Peter Handke, Jusqu’à ce que le jour vous sépare ou Une question de lumière, in: ders., Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog, Frankfurt am Main 2008, S. 31: „Que voyons-nous là?“ (Was sehen WIR? – Herv. E.R.P.)
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Peter Handke, „Nachbemerkung“, in: ders., Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog, Frankfurt am Main 2008, S. 51.
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gen sind minutiös vorgeschrieben, so dass der dramatische Text einer durchkomponierten Partitur ähnelt, die durch eine minimale Veränderung falsch klingen würde. Im Vergleich zu Becketts akribischem Schreibverfahren, dem ausgeklügelten, perfekten Textkonstrukt, erweckt Handkes Monolog den Anschein eines Textgefolges von Gedanken und Gefühlen, auf der Suche nach Zusammenhang8 – ein Merkmal, das für sein gesamtes Werk gilt. Eine wichtige Voraussetzung besteht für den österreichischen Autor darin, wahre Momente und tiefe Erlebnisse in Schrift umzusetzen, um in einer „erneuernden“ Form sein poetologisches System zu artikulieren: [D]as große Gefühl leitet mich zur Form – weil, wenn Sie das Gefühl verraten, heißt das, daß Sie formlos werden. Ich habe kein System, wie man Stücke schreibt, hatte ich von Anfang an nicht. Es gibt ja bewundernswerte Dramatiker wie, um zurückzugehen im Jahrhundert, Arthur Miller und Tennessee Williams oder Eugene O’Neill – das ist perfekt gezimmert, jeder Satz, jede Pause. Beckett weiß immer ganz genau: Fünf Sekunden Pause. Da erwacht die Anarchie in mir! Da denke ich: Wie kann man das so ... wie ein Zwölf-TonMusikstück von Webern oder Alban Berg hat Beckett seine Stücke geschrieben.9
Handke adaptiert Becketts Text auf seine spezifische Weise, nämlich in der Hoffnung, eine überlieferte literarische Form durch Neuschreibung zu retten. Dies entspricht seinem Schreibideal, „Überliefertes“ zu transformieren, zu überschreiben, um im reflektierenden Prozess der Wiederaufnahme und des Modifizierens Neues zu schaffen: Kann es sein, daß nach Beckett nur noch unsere sekundären Stücke gekommen sind, wie zum Beispiel, als Beispiel, eben Bis daß der Tag euch scheidet? Keine Reduktion mehr möglich, kein Null-Raum mehr möglich – nur noch Spuren der Verirrten – hier der I Verirrten? Aber man mußte sich, wir mußten uns vielleicht verirren, im Interesse der Szene, im Interesse des Theaters?10
Der hier anklingende Topos des Verirrens erscheint bei Handke in unterschiedlichen Varianten. Es ist ein „fruchtbare[s] Verirren“,11 das, wie Thorsten Carstensen
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Vgl. Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß, Wien 1984.
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Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 26.
10 Handke, „Nachbemerkung“, S. 51f. 11 Vgl. Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg/Wien 2005, S. 113.
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präzisiert, „Facetten der Wirklichkeit wahrnehmen [lässt], die ein zielgerichtetes Sehen nicht bemerken würde“.12 So kann das Verirren freilich mit einem anderen, für Handke ebenso zentralen Topos in Verbindung gebracht werden: dem Gehen, das sich mit der Wegstruktur identifiziert bzw. mit der Forschungsreise, die den Raum für das Schreiben öffnen. Im Gehen „übersetzt“ der Schriftsteller Schlüsselelemente seiner poetischen Welt in ein gleitendes System aus Bildern und Bildverknüpfungen, die sich einer im vorhinein gewählten literarischen Form anzupassen versuchen. Analog dazu findet sich bei Handke das Bild des „mäandernden Stroms“,13 der auf die typische Schreibbewegung dieses Autors verweist: auf die Vorwärts- und Rückwärtsbewegung der Schrift, das Fließen und Stagnieren des Textflusses, die Linearität und Zirkularität bzw. Fraktalität der Strukturen. So entsprechen die vorwärtsgerichtete Bewegung der Reise einerseits und die rückwärtsgreifende Erinnerung andererseits dem poetischen Verfahren,14 das sich nach Zusammenhang sehnt und in dem Bedürfnis, Dinge zu harmonisieren, Verbindungen in einem scheinbaren Chaos des Vielfältigen zu etablieren versucht: „[I]ch habe in Bis daß der Tag euch scheidet nicht nur darauf angespielt, ich habe es auch zitiert, und in dem Fall ist es, in dem Monolog der Frau, die Spur einer einzigen Verirrten, wie es in der Nachbemerkung auch heißt […].“15 Handke führt in seinem dramatischen Text die Reduktion von Theater einen Schritt weiter: Es gibt nur noch eine einzige Sprecherin, die sich nicht ans Publikum wendet, sondern an den aus Stein gehauenen Mann, der an ihrer Seite steht. Die Frauengestalt wird einer „Verirrten“ gleichgestellt, eine Entsprechung, die in
12 Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 79. 13 Vgl. Handke, Gestern unterwegs, S. 353: „Mit ‚Langsame Heimkehr‘, vor über zehn Jahren, begann meine altgriechisch-suchende, mäandernde, zögernde, verweilende, ätherische Phase; und nun ist es wieder Zeit für eine lateinische, lineare, vorwärtsdrängende, lakonische […].“ Das Bild des mäandernden Stroms ist eine Konstante in Handkes Texten, die seine Schreibweise beschreibt. 14 Vgl. Eleonora Pascu, Unterwegs zum Ungesagten. Zu Peter Handkes Theaterstücken „Das Spiel vom Fragen“ und „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ mit Blick über die Postmoderne, Frankfurt am Main 1998, S. 42f. 15 Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 80. Handke bezieht sich im Gespräch mit Oberender auf das Zitat aus dem Monolog Bis daß der Tag euch scheidet: „Aber man mußte sich, wir mußten uns vielleicht verirren, im Interesse der Szene, im Interesse des Theaters? So wie ich mir eines Tages gesagt habe: ‚Ich werde mich entschlossen verirren!‘?“ (Handke, „Nachbemerkung“, S. 52)
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dem dramatischen Text Spuren der Verirrten anzutreffen ist, in dem literarische Rollen herbeizitiert werden, deren Dramen nicht mehr stattfinden, da sie nur noch Schatten ihrer Vorbilder darstellen und auf ihrem Weg zur Sprache bloße Spuren hinterlassen. Ausschnitte von Geschichten, deren Anfang unbekannt ist und deren Ende man sich vorstellen sollte, bilden einen Reigen von Mikrodramen, wobei die Protagonisten sich mal in der einen, mal in der anderen Richtung auf der Bühne bewegen – eigentlich Verirrte, die nicht wissen, wohin sie der Aufbruch führen soll. Aufbruch bedeutet Suche, Versuche, die nur durch das Sich-Verirren zur Entdeckung eines Weges führen können, der aus der Tradition ausbricht und somit eine neue Richtung zulässt. Handke ist sich bewusst, dass die Perfektion der Dramaturgie von Beckett kaum nachahmbar ist, aber dafür neue Versuche im Interesse der Szene und des Theaters entstehen müssen. Er postuliert ein bewusstes „Verirren“, das den Weg zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten öffnen kann. Sein Monodrama zielt eher auf die Demontage der traditionellen Dramaturgie, die sich in eine dramatische Erzählung verwandelt. Es gibt keine Aktion im traditionellen Sinn, sondern nur Bruchstücke von Geschehnissen und Gedankengängen, die in einem pathetischen Monolog gebündelt erscheinen. Das Fortschreiben des Beckett-Dramas ist kein pures Nachschreiben. Handke antwortet auf Krapps Monolog durch einen neuen Monolog – es ist die Reaktion eines Schriftstellers, der einem anderen antwortet. Der Dialog mit dem Beckett-Klassiker ist eine Verneigung vor dem genialen Dramatiker und seinem Werk, eine spiegelartige Umkehrung des berühmten Klassikers, trotz der durchschimmernden kritischen Töne. Ausgehend von dem zweiten Teil des Doppeltitels, Eine Frage des Lichts, ist der Handke-Monolog auch als freiphantasierende Wiederholung des Beckett-Dramas in einem „neuen Licht“ lesbar. Die Lichtmetapher eröffnet, in Verbindung mit dem Motiv des Fragens, frische Perspektiven der Rezeption: Handelt es sich um eine „befreiende Umschrift“,16 um ein sprachlich-poetisches Pendant, ein Erfinden von Innen- und Gegenbildern in einer neuen Weltstruktur?
Die Einleitung in Becketts Text ist eine akribische Regieanweisung, die den Raum und die vorherrschende Atmosphäre beschreibt. In minutiös geschilderten Miniaturhandlungen entsteht dabei ein facettenreiches Bild des Protagonisten. Die
16 Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Berlin 2013, S. 96.
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detaillierte Aufzählung der Objekte, die in Krapps Bude existieren, die genauen Angaben hinsichtlich seiner Kleidung, seines Aussehens und seines körperlichen Zustands ermöglichen eine durchkomponierte Bühnenatmosphäre. Die Anfangsbeschreibung fährt mit seiner besonderen Marotte fort, dem Bananenkult, den Krapp betreibt. Hinzu kommt das Tonbandritual, gestaltet in stummen Szenen, die durch monologisierende Kommentare und das Anhören der aufgenommenen Selbstgespräche unterbrochen werden – ein abwechselndes Spiel von Schweigen und Reden. Das Zwiegespräch des einsamen, alt gewordenen Krapp über seine eigene Vergangenheit, seine Suche nach dem eigenen Ich, die Momente des Scheiterns ist der Klassiker des modernen Dramas, den Handke so sehr bewundert und weiterschreibt: Das letzte Band war immer das Stück von Beckett, was mir am tiefsten gegangen ist. […] Dadurch, daß es sich fast verzweifelt lustig macht über den Enthusiasmus der früheren Jahrzehnte dieses alten, Banane fressenden Helden. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Vielleicht den Enthusiasmus des blindlings an die Liebe oder an den Himmel Glaubenden von früher, der auch etwas für sich hat – daß man sich eben nicht unbedingt nur lustig machen dürfte oder sich niederziehen müßte, wenn man alt geworden ist und sagt: Das war alles gar nichts. Das stimmt ja so auch nicht ganz. Aber bei Beckett kommt beides vor, der Enthusiasmus von damals, den er von sich als andere Stimme vom Band hört, und wie er jetzt dazu eigentlich nur noch grunzt, zu dem, was früher war.17
In Bis daß der Tag euch scheidet gibt es zu Beginn eine „Schwellenerfahrung“,18 als der Rezipient etwas zu sehen bekommt: „Was sehe ich? Sieht das dort nicht aus wie ein Grabmal für die römischen Ehepaare einstmals, Mann und Frau nebeneinander wie aus Stein gehauen – nur sind das nicht bloß die beiden Köpfe, sondern ganze Figuren, ein Paar zudem wie in Lebensgröße, und losgelöst von dem gemeinsamen Stein...“ (BT 7) Dieses Eingangsbild entspringt dem bereits
17 Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 63.
18 Es handelt sich um eine Erfahrung im Sinne der „Passagen“ Walter Benjamins, die sich bei Handke als ein „verändertes Schwellen-Bewußtsein“ manifestiert und mit dem Bild der „Friedensstaffel“ verbindet, dem Inbegriff des rettenden, freiphantasierenden Weitererzählens. Vgl. Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1986, S. 127f.: „Jeder Schritt, jeder Blick, jede Gebärde sollte sich selber als einer möglichen Schwelle bewußt werden und das Verlorene auf diese Weise neu schaffen. Das veränderte Schwellen-Bewußtsein könnte dann die Aufmerksamkeit neu von einem Gegenstand auf den anderen übertragen, von diesem dann auf den nächsten und so weiter, bis sich auf der Erde die Friedensstaffel zeige, wenigstens für den betreffenden Tag.“
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erwähnten epiphanischen Erlebnis Handkes in der Kathedrale von Saint-Denis bei Paris, das er mit Becketts Letztem Band in Verbindung gebracht hat; es ist der eigentliche „zündende Moment“19 für das Entstehen des Monologs. Das atmosphärische Schwellenerlebnis, ausgelöst durch das Betreten der Kathedrale, wird im Innehalten und in der Wahrnehmung feinster Details zum Bild des Erzählens, denn einzelne Eindrücke eröffnen einen Denk- und Seelenraum, der neue Sehhorizonte ermöglicht. Das Motiv des Schauens, dem in Handkes Werk bekanntermaßen existentielle Bedeutung zukommt,20 eröffnet den Monolog: Der Rezipient wird zum aktiven Schauen aufgefordert, die kleinen Dinge wahrzunehmen. Es ist das „epische“ Schauen, das zunächst über einen Erzähler und danach durch die sprechende Frau dem Leser/Zuschauer die Augen öffnet. Es ist eine Einladung, sich auf das Kommende einzustimmen, über die Schwelle des Erzählens ins Spiel einzutreten, Teil dieses Spiels zu werden. Die darauffolgenden Szenen werden im Monolog der Frau herbeiphantasiert, Realitäten überlappen sich, Welten und Gegenwelten treffen sich. Der Rückblick des gealterten Schriftstellers Krapp richtet sich auf seine Jugendjahre. Er hat nurmehr sein Scheitern vor sich, wobei sich darin das reale Drama vergegenwärtigt, das einzig durch die Erinnerung an einen Glücksmoment mit seiner Geliebten erhellt wird.21 Diesen singulären Moment des Glücks, an den sich die dramatische Figur mit Hilfe der Tonbänder erinnert, greift Handke heraus: Es handelt sich um die Sommerstunden mit einer Namenlosen in einem schwankenden Boot – eine Liebesgeschichte, verewigt in einer knappen Tonbandpassage. Durch das wiederholte Anhören der Aufnahme wird dieser Augenblick ,gerettet‘, in Becketts Einakter wie in Handkes Echo-Monolog:
19 Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 90. 20 Vgl. beispielsweise Peter Handke im Gespräch mit Hubert Patterer und Stefan Winkler, Graz 2012, S. 44: „Schauen ist Werden. Schauen was ist, und schauen was wird. Beides zusammen.“ 21 Vgl. Rolf Breuer, „Samuel Beckett’s ‚Krapp’s Last Tape‘, Peter Ustinov’s ‚Photo Finish‘ and Peter Handke’s ‚Bis daß der Tag euch scheidet‘“, in: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 1/2010, S. 155–165. Breuer identifiziert in Becketts Einakter drei Altersstufen des Herrn Krapp und argumentiert, daß dieser sich als 39-Jähriger an seine Jugendliebe erinnert, die sich mit der Geliebten Bianca identifiziert, die auch beim Namen genannt ist (vgl. Samuel Beckett, Das letzte Band, in: ders., Fünf Spiele, deutsche Übersetzung von Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt am Main 1970, S. 54), bei Handke aber die „unknown female“ bleibt – ein Aspekt, der eine Verallgemeinerung zulässt.
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[Am] – oberen See, mit dem Nachen, in der Nähe des Ufers geschwommen, dann den Nachen in die Strömung gestakt und treiben lassen. Sie lag auf den Planken ausgestreckt, mit den Händen unter ihrem Kopf und geschlossenen Augen. […] Ich bat sie, mich anzuschauen, und nach einem Moment – Pause – nach einem Moment tat sie es, aber ihre Augen waren nur Schlitze, der grellen Sonne wegen. Ich beugte mich über sie, damit sie im Schatten wären, und sie öffneten sich. Pause. Leise: Ließen mich ein. Pause. Wir trieben mitten ins Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug! Pause. Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr. Wir lagen regungslos da. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sanft, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.22
Bemerkenswert ist der Unterschied in der zeitlichen Dimension – bei Beckett ereignet sich die Bootsszene im grellen Licht der Sonne,23 während bei Handke die nächtliche Atmosphäre vorherrscht, die Liebesszene sich unter dem sternenbedeckten Himmel abspielt. Die enstehenden unterschiedlichen Bilder und die Zeitverschiebung beruhen auf dem verblassenden „Echo“ in der Erinnerung der monologisierenden Frau, die über die „Nachtstunde unter den schweigenden Sternen“ (BT 14) spricht. Diese Frau erhält bei Handke eine Stimme, ohne jedoch feste Konturen anzunehmen. Sie spricht ununterbrochen, konkretisiert ihre Sicht, wirft dem selbstsüchtigen Künstler Krapp so manches vor, wobei sich die Vorwürfe schließlich mit einer Liebeserklärung verweben, mit einer ironisch ‚gebrochenen‘ Hymne auf die Liebe. Die eingeführte Frauenstimme verwandelt sich in einen Text, der jener Frau gehören könnte, mit der Krapp einst im Schilf eine Liebesbeziehung erlebte. Die zu Wort gekommene Frau monologisiert, ohne auf ihr Leben zurückzublicken, denn sie lässt das Vergangene vergangen sein. Der Monolog der unbekannten Frau ist eine permanente Gegenüberstellung zum Ausgangstext, der Handke als Matrix dient. Durch das Echo-Drama bekommt Krapp halluzinatorische Gesellschaft in Person seiner Jugendliebe. Bei Handke wird die namenlose Geliebte, präsent auf dem Gedächtnis-Tonband, lebendig; siebesteht darauf, dass nun sie an der Reihe sei: „Mein Spiel jetzt. Dein Spiel, es ist gespielt, Mister Krapp, Monsieur Krapp, Herr Krapp. Gespielt unter einem falschen Namen, in einer Sprache, welche nicht die deine war.“ (BT 9) Die direkte Anrede, in dreifacher Formulierung, ironisch angehaucht, ist ein klarer Hinweis auf den imaginären Gesprächspartner, der schweigend im JETZT und DA gegenwärtig ist, in versteinerter Form, ohne jegliche Möglichkeit einer Replik. Das rituelle Spiel mit den „Spuulen“ („Tooonbändern“) und implizit mit dem eigenen
22 Beckett, Das letzte Band, S. 57–59. 23 Vgl. ebd., S. 25.
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Leben – es ist ausgespielt. Alles ist nur noch ein falsches Spiel, in einer fremden Sprache, das der Routine eines Clowns gleichgestellt wird: „Freilich, zugegeben, gut gespielt, mitsamt deinem Gehabe eines abgehalfterten, desillusionierten Clowns. Was sollte die Verkleidung mit den übergroßen Schuhen? Was sollte das Gehabe mit dem Mampfen der Bananen?“ (BT 9) In einem gelungenen intertextuellen Bezugsspiel wird Krapps Gehabe ironisiert, seine Lieblingslektüre erwähnt: Theodor Fontanes Roman Effi (Briest)24 – eine Fiktion, die der Illusion einer unerfüllten Liebe einen weiten Raum gewährt. Die Ansprache der Frau, die sich an Krapp wendet und ihm genau das vorwirft, worüber er im Matrix-Text seine Kommentare aufbringt, lässt eine Art Metamorphose der Krapp-Figur zu. Sein Spiel enttarnt sich als Täuschung bzw. Selbsttäuschung, und die Theatermittel, die ihm zur Selbstinszenierung dienen, verlieren ihre Bedeutung, denn sein gesamtes Dasein besteht nur noch aus Illusion. Als Gegenpol/Kontrastbild erscheint das Dasein der Frau, die zum Leben keine Künstlichkeit, keine falsche Identität, keine Lüge benötigt: Mein Spiel braucht kein Kostüm, keine Manege, keine Pappnase, keine extradreckigen Gewänder. Es braucht kein Ausrutschen auf Bananenschalen, keine Apparate, Maschinen und Requisiten, kein künstliches Licht, und schon gar keine künstliche Dunkelheit. (BT 10)
Bei den hier formulierten Vorwürfen handelt es sich um offenkundige Anspielungen auf die Merkmale und Tätigkeiten Krapps, entsprechend den Regieanweisungen bei Beckett: „purpurne Nase“, „speckige schwarze, enge Hose“, „speckige schwarze, ärmellose Weste“, „schmieriges weißes Hemd“, „schmutzig-weiße Schnürstiefel, mindestens Größe 48“, „wirres graues Haar“, „unrasiert“, „sehr kurzsichtig“, „schwerhörig“.25 Der metatextuelle Rahmen wird ebenfalls angesprochen, und zwar durch das erwähnte Spiel auf der Bühne mit dem Licht und der Dunkelheit, der genauen Positionierung im theatralen Raum. Die Vorwürfe umfassen auch das ewige Spiel mit den Tonbändern, auf das sich der virtuelle Gesprächspartner konzentriert, sich in seinem konstruierten Mikrokosmos wohlfühlend. „Ich höre nicht die Tooonbänder von einst an. Ich reagiere nicht auf meine Stimme vor Jahrzehnten.“ (BT 10) Die Entsprechung im Prä-Text: „Höre mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt, daß ich je so blöde war. Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei.“26
24 Vgl. Beckett, Das letzte Band, S. 58 und Handke, Bis daß der Tag euch scheidet, S. 9. 25 Beckett, Das letzte Band, S. 51. 26 Ebd., S. 57.
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Spuren aus Becketts Einakter sind im monologischen Textgeflecht zu erkennen – Zitate und Kryptozitate, Anspielungen und Assoziationen, ausgelöst durch „Zeichen“. Der Frauenmonolog umfasst Motive, die im Matrix-Text thematisiert werden. In der Handke-Variante gibt es sämtliche Akzentverschiebungen, insbesondere dadurch, dass die Protagonistin dem Herrn Krapp so manches vorwirft, wobei sie damit an den Ausgangstext anknüpft und ihn dekonstruiert. So beginnt sie mit dem falschen Spiel und dem Missbrauch von Pausen, die ihrer Ansicht nach nur noch vieldeutige Kunstgriffe darstellen: Mein Spiel, im Gegensatz zu dem deinen, braucht nicht skandiert zu werden von Pausen. Wenn ich spreche ohne Extrapausen, so nicht weil ich eine Frau bin, vielmehr weil die Pausen, und vor allem die deinen, die vorsätzlichen, die vorgefaßten, deine Pausen voll versteckter und doch gar nicht versteckter Bedeutungen, nicht zu meinem Spiel gehören. (BT 11)
Die unendlich vielen Pausen sollten mit Nachdenklichkeit gefüllt werden, mit Verinnerlichung, doch in Krapps Spiel verlieren sie ihre Bedeutung. „Extrapausen“, „Kunstpausen“, „Pausenliturgie“, „Pausenpsalmen“, „Sinn-Pausen“ – es sind alles Varianten, die Krapp als Pausen-Meister produziert und komponiert. Es sind die Pausen, die von der monologisierenden Frau kritisiert werden und die auch den Autor Handke nerven und ihn „anarchisch“27 werden lassen, wie er im Gespräch mit Thomas Oberender bemerkt. Der Zorn, der schon in den frühen abstrakten Sprechstücken Handkes präsent ist, viele seiner Texte prägt und in Bis daß der Tag euch scheidet in sämtlichen Nuancen erprobt wird, erfährt gegen Ende des Frauenmonologs eine Entschärfung – ein „schmerzensgewisses“ Verzeihen –, eine Geste der Milderung bzw. des Ausblicks. Die Aggressions- bzw. Kritikhaltung mündet schließlich in ein Spiel von Reflexionen. Die verbalen Aggressionen und Vorwürfe Krapp gegenüber gewinnen während des atemberaubenden Monologs einen ästhetischen Eigenwert, ähnlich dem frühen Anti-Drama Publikumsbeschimpfung (1966) und dem später entstandenen „Stationendrama“ Untertagblues (2003). Ein weiteres zentrales Motiv, das eine wichtige Rolle im Leben beider Protagonisten spielt, ist das Schweigen: Mit deiner Art Schweigen hast du verhindert, dass zwischen dir und mir das Schweigen herrschte. Mit deiner Art Schweigen wolltest du bestimmen über mich, wollest du mir dein Gesetz aufzwingen, ein despotisches Gesetz, gegen das es keine Widerrede gab. Trotzdem gab es, zugegeben, Momente, da hat dein Schweigen mir gutgetan. Momente, da dein
27 Vgl. Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 26.
210 Schweigen mich geweckt hat. Da es mich zur Vernunft gebracht hat. Ah, Momente, da dein Schweigen für Stille gesorgt hat, jenseits der Bedeutungen und Hintersinnigkeiten. Ein Schweigen, das mich zum Denken brachte. (BT 11f.)
Das Schweigen tritt in seiner Vielfalt auf: Ganze Passagen werden ihm gewidmet, parallel zum Motiv der Kindheit und dem des Zeigens. Das Beispiel des Kindes, das auf etwas zeigt, ohne jede Intention – „Was aber möchte so ein Kind, fragst du, eigentlich zeigen? Und ich antworte dir: Nichts. Jedenfalls nichts Besonderes, und vor allem nichts Bedeutendes. Das Zeigen der Kinder will und soll nichts bedeuten.“ (BT 15) – bezieht sich auf die Absichtslosigkeit bzw. die referentielle Ungebundenheit im Verhalten von Kindern. Mit ihrem „Zeigen“, ihrer Kraft wahrer Kommunikation können sie den Schriftsteller von der Verkommenheit der Welt erlösen. Das kindliche „Freiphantasieren“ ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die Welt zu „erzählen“, denn die Erlebnisräume und die unschuldige Sprache der Kindheit verweisen bei Handke auf die poetische Daseinsform eines ‚erschriebenen Paradieses‘.28 „Du warst nicht Kind genug. Du bist nie Kind gewesen, lieber Herr.“ (BT 14) Handke empfindet dies als „eine Art spielerische Kritik“29 an Becketts Schreibweise. Der eingefügte Exkurs über das Zeigen und die Bedeutungen im Monolog der Frau verwandelt sich in ein Konglomerat von Chiffren, die sämtliche literarischen Motive, Mythen und auch Anspielungen an Sprachtheorien beinhalten. Ferner fügt Handke in den Monolog der Frau – wenngleich en passant – auch den Namen des Philosophen Ludwig Wittgenstein ein, dessen Sprachphilosophie, insbesondere der Tractatus logico-philosophicus, nachweislich tiefe Spuren in seinem Werk hinterlassen hat.30 Die Erwähnung des Kindes bzw. des Kindheitsgefühls in Bezug auf die Intentionslosigkeit führt zugleich zu Handkes Haltung gegenüber der Beziehung Wort-Ding, in Anlehnung an Wittgensteins Auffassung
28 Vgl. dazu Gerhard Melzer, „Das erschriebene Paradies. Kindheit als poetische Daseins-
form im Werk Peter Handkes“, in: Gerhard Fuchs/ders. (Hg.), Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993, S. 47–62. 29 Vgl. Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 84. 30 Zu Handkes Wittgenstein-Rezeption: Evelyne Polt-Heinzl, „‚[…] weil uns das ganze Sehen nicht rätselhaft genug vorkommt“ (Ludwig Wittgenstein). Peter Handkes Versuche als Schule einer anderen Wahrnehmung“, in: Anna Estermann/Hans Höller (Hg.), Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung, Wien 2014, S. 47–60. Vgl. ferner Wendelin Schmidt-Dengler, „‚Wittgenstein, komm wieder!‘ Zur Wittgenstein-Rezeption bei Peter Handke“, in: ders./Martin Huber/Michael Huter (Hg.), Wittgenstein und: PhilosophieLiteratur, Wien 1990, S. 181–191.
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über die Abbildfunktion der Sprache, wonach die Deutung der Sprache der Struktur der Welt angepasst ist. Die Wittgensteinsche Abbildtheorie31 ist unter anderem im Kaspar und auch im Spiel vom Fragen präsent, wobei der Erwerb der Sprache von einem Nullpunkt ausgeht – nämlich jedes „Ding“ hat einen „Namen“ in der Sprache, wobei es die Bedeutung erst durch ihr Zusammenstehen im Satz erhält. Die intertextuelle Verflechtung der Texte insistiert auf den Glücksmoment der Zweisamkeit, die in beiden Kunstwerken mehrfach evoziert werden. So heißt es bei Beckett: [Am] - oberen See, mit dem Nachen, in der Nähe des Ufers geschwommen, dann den Nachen in die Strömung gestakt und treiben lassen. […] Wir trieben mitten ins Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug! Pause. Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr. Wir lagen regungslos da. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sanft, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.32
Zum Vergleich die Handke-Variante: Nichts als die Lippen bewegen, so wie sich unter unserem Boot, unter uns sich alles bewegt, und uns mitbewegt, sanft, auf und nieder, hin und her. Fortdauernder Sturm. Der Orion über den Dünen der Baltischen See. Nein, keine Namen. Nur keine Namen. (BT 25)
Das Herbeizitieren der erwähnten Textstelle ereignet sich über die Dekonstruktion des erotisch-romantischen Ursprungsbildes aus Becketts Einakter, wobei in der Umschrift neue Motive eingebettet erscheinen, die eine kosmische Erweiterung mit sich bringen. Die angedeutete Verankerung im Universum zwischen Orion und der Baltischen See ist nur ein augenblicklicher Einfall, dem gleich darauf der Rückzug ins Namenlose folgt. In beiden Varianten handelt es sich um ein Niemandsland, denn keiner der zwei Autoren ist daran interessiert, einen geographischen Raum zu benennen. Nur zufällig erscheint im Frauenmonolog ein Anflug Anhaltspunkte zu geben, der gleich darauf gestoppt wird. Kein Ort, keine RaumZeit-Angaben. Das subtile Verflechten der Texte ergibt die Gegenwelten der beiden Protagonisten, die jeweils innerhalb ihrer Monologe agieren dürfen.
31 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Bemerkungen, in: ders., Werkausgabe in acht Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984. 32 Beckett, Das letzte Band, S. 57 und 59.
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„Ja, im Schilf dort, im Boot dort, im Bus dort waren wir unsterblich, sind wir unsterblich. Nein, nicht wir waren unsterblich, unsterblich war das Daliegen, das Dasein, das Dagewesensein, das Dagelegensein.“ (BT 26) Dieser zentrale Satz in Handkes Monolog, der die Liebesgeschichte wiederholt, bringt in seiner Version eine Abschwächung der Erotik und vermerkt zugleich eine starke Akzentverschiebung in Richtung Reflexion über das DASEIN. Es sind nicht mehr die Beteiligten, die eine zentrale Stelle einnehmen, sondern der Zustand als solcher. Der Akzent fällt auf das DA-SEIN, in der Aufzählung einer Reihe von Variationen, die eine Erweiterung des Erlebnisraumes zulassen. Der gemeinsame Satz „Schau, was für eine Stille“ (BT 12) verbindet beide Monologe, die nur streckenweise ein Spiel der Zweisamkeiten eingehen. Die entsprechende Textstelle bei Beckett lautet: „Nie erlebte ich eine solche Stille.“33 Bei Handke dekonstruiert die Frau diese Zweisamkeit, indem sie Krapps Anwesenheit regelrecht negiert. „Was war, ist jetzt – der Sommer, das Wasser, das Boot, das Schilf, die Sterne, die Stille. Und du? Du nicht. Von dir keine Spur.“ (BT 10) Die Aussage klingt fast wie eine mathematische Gleichung, denn die Existenz des Herrn Krapp wird aus der Existenz der Frau (weg)gestrichen. Ein Schlussakkord innerhalb des Erinnerungsvorgangs erklingt in Becketts Text, in dem Moment, da Krapp sich entscheidet, keinen Ton mehr von sich zu geben. „Nichts mehr zu sagen, nicht einmal Piep.“34 Mit dem Gestus der Vernichtung seiner Notizen für die letzte geplante Tonbandaufnahme signalisiert er die Reduzierung des autonomen Subjekts auf ein Nichts – und negiert somit seine Identität. Handkes Text bezieht sich explizit auf Becketts philosophischen Archetyp einer Existenz, die am Ende keinen Sinn ausmachen konnte, weil es keinen gab. Zugleich präsentiert der Text die Figur Krapps als die eines Menschen, der unfähig zur Zweisamkeit ist. „Zu zweit warst du falsch und klangst falsch. Nur allein hast du existiert.“ (BT 19) bzw. „Du, der Verwaiste, mein Verwaiser. Mein Platz war ausschließlich in deinen Sätzen, in deinem ‚Boot‘, in deinem ‚Schilf‘, in deinem ‚Schweigen‘, und für keine einzige Realsekunde bei dir, in dir.“ (BT 22f.) Im Alleinsein findet sich Krapp zurecht – diese Situation wird in beiden Texten zum Ausdruck gebracht. Im Alleinsein zeigen sich aber auch die verschiedensten Beziehungsstörungen, zur Mutter, zu seiner Geliebten, zur Welt und zu sich selbst. Die Rückschau hebt wiederholt nur noch einen Moment hervor – das glückliche Beisammensein mit seiner Geliebten. Dies ist in seinem Gedächtnis haften geblieben und wird heraufbeschworen als Gaukelspiel der Sinne. Daran knüpft Handkes Text an, der auch eine Rückschau der in seinen Werken bemühten Motive anbietet.
33 Ebd., S. 56. 34 Ebd., S. 58.
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Gemeinsam ist die Erinnerung an denselben Glücksmoment, der von den Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven evoziert wird. Für Krapp ist die schöne Zeit vorbei, und der Gedanke der Vergänglichkeit löst eine deprimierende Stimmung aus. Für die Frau ist der gleiche Moment der Ausdruck für immerwährendes Glück, das in einer gelebten Zweisamkeit hätte münden können, sollen. Es bestand die Hoffnung auf eine Zweisamkeit, die aber nur von kurzer Dauer war. „Du hast an jene Ewigkeit gleich nicht geglaubt – sonst wären wir doch auf ewig zusammengeblieben, du und ich, und nicht bloß in deinen Worten und Sätzen post festum. Ja, was für ein Fest das war. Was für eine Einheit.“ (BT 14) Es klingt nach der Sehnsucht der biblischen Einheit zwischen Mann und Frau, nach der Sehnsucht der Paare auf eine harmonische, ewig anhaltende Einheit. Handke streut dabei reichlich Versatzstücke aus biblischen oder literarischen Überlieferungen ein. Jedoch wurde die Existenzform der Zweisamkeit verpasst, und dies nur weil Krapp in seinem Versagen die Einsamkeit, das Alleinsein bevorzugt hatte. Eine beeindruckende poetische Liebeserklärung ist in der intertextuellen Begegnung beider Monologe anzutreffen, die in der weiblichen Variante einen weiten Raum öffnet. Die erwünschte Zweisamkeit ist nur textuell festgeschrieben, denn sie weist keine Beständigkeit auf. Diese Passage thematisiert partiell den Titel des Echo-Dramas, in dem auf die Unmöglichkeit einer dauerhaften unzertrennlichen Zweisamkeit hingewiesen wird: Und so sind wir beide zusammengeblieben, unzertrennlich. Damals im Boot, hast du mich endlich gelassen, mir gelassen auch meinen Teil von der Nacht, hast mir mein Zentrum gelassen. Bis daß der Tod uns scheidet? Nein, bis daß der Tag uns scheidet. Der Tag, der uns scheidet: Nie wird er kommen. Nie wird es in mir und zwischen uns auf solch eine Weise Tag werden. Indem du mich in meiner dunklen Nacht gelassen hast, bist du für mich, die unbekannte Frau, ein guter Mann gewesen. (BT 23f.)
Einheit, Zweisamkeit, Einsamkeit – vereint in dem ausgeklügelten Wortspiel, ein Konglomerat von Motiven und Gedankengut. Der titeltragende Satz, abgeleitet von dem zeremoniell immer wieder eingesetzten Satz vor dem Standesamt bei Eheschließungen, eine Ableitung aus der Bibel, auf Gottes Wort bezogen, in Verbindung mit der Treue der Ehepartner, erscheint in einer abgewandelten Form. Das von Handke geführte Wortspiel erlaubt es der „unbekannten“ Frau, ein Geständnis abzulegen, in ihrer Überzeugung, dass nicht der Tod die Liebenden trennen wird, sondern der Tag, der auf die Liebesnacht folgt. Mit dieser Aussage verkürzt sich die Zeitdimension radikal, scheinbar, denn sie negiert die Möglichkeit einer Trennung. Die anonym gebliebene Frau entwickelt in ihrem Monolog eine
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eigene Philosophie, ausgehend von ihren Reflexionen über Tag und Nacht, Leben und Tod – eine Anspielung auf Shakespeares Romeo und Julia. Eine andere Begegnung der beiden Monologe besteht in dem ungewohnten „Duett“, das die Verbundenheit im Refrain des Liedes, das Krapp immer wieder vor sich hin summt, anzeigt: „Krapp singt: Der Tag ist auf der Neige, es dämmert schon ganz sa-acht, die Abendschatten – Hustenanfall, […] dann fast unhörbar: schleichen am Himmel. Es wird Nacht.“35
Handke übernimmt diese Verse und bettet sie in den Frauen-Monolog ein: Und dementsprechend schließe ich mich dir an in meiner zeichenlosen Nacht, stammle dunkel vor mich hin, und zugleich drängt es mich doch, mein Gestammel zu singen, den Refrain zu dem von dir gesummten Lied, vom Schatten, der an unseren Bergen herabsteigt, vom Azur des Himmels, das sich verhärtet, vom Lärm, der verebbt aus unserer Landschaft, vom Schlaf im Frieden bevorsteht. Und mein gestammeltes Echo singe ich jetzt, als Notenschlüssel den fröhlichen Zorn, so wie du die heitere Illusionslosigkeit. Ob das ein Duett ergibt? (BT 25)
Bemerkenswert ist die poetische Ergänzung des ursprünglichen Refrains mittels der entstehenden Bilder. Der Klang-Raum wird erweitert und verknüpft die einzelnen Verse durch ausdrucksstarke Sprach-Bild-Montagen und überraschende Assoziationsketten. Ironische Untertöne vermischen sich mit unterschiedlichen Stimmungen, die durch starke Gegensätze charakterisiert sind. Obwohl Zweisamkeit angestrebt wird, sind sich die zwei Protagonisten fremd. Nicht zuletzt entspringt dieses Gefühl der Trennung der im Stück mehrfach angesprochenen Fremdheit der Sprache: Krapps Spiel erfolgt in einer ihm fremden Sprache (vgl. BT 9 und 27) (erklärbar durch die Zweisprachigkeit Becketts) mit einer fremden Grammatik (vgl. BT 13) – Grammatik auch im Sinne von Logik, denken wir an Derridas Grammatologie – und auch in der Fremdheit durch die entstehende Distanzierung im Alleinsein. Im Frauenmonolog erscheinen ebenfalls fremde (englische, arabische und spanische) Vokabeln eingebettet, wodurch der spielerische Charakter des babylonisch klingenden Monologs verstärkt wird. Es
35 Ebd., S. 55 und 58 (Herv. i.O.).
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ist die Polyphonie der Sprache, des kollektiven Gedächtnisses, die im Sprachduktus der sprechenden Frau anklingt. Überraschend ist daher die Vorstellung einer gemeinsamen Sprache, die den beiden Figuren als Kommunikationsmedium dienen könnte, wobei es für den einen stets eine Fremdsprache bleibt. „Niemals aus dem Hören herauskommen. ‚Niemals aus dem Schauen herauskommen!‘ sagst du darauf, für mich, in meiner Sprache, ausnahmsweise.“ (BT 27) Die Frau ist in ihrem Sprachgestus eine typische Handke-Protagonistin und erinnert in ihrer Rhetorik an andere schillernde Frauenfiguren des Autors – die linkshändige Frau aus dem gleichnamigen Prosatext, die visionäre Nova aus Über die Dörfer, die pilgernde Frau der Abwesenheit, die Erzählerin aus den Zurüstungen für die Unsterblichkeit, die Sängerin aus Kali, die wilde Frau aus Untertagblues. Mancherorts vergegenwärtigt der Monolog der Sprechenden (der virtuelle Paardialog) die Dialoge des alten Ehepaars und auch anderer dramatischer Figuren aus dem Theaterstück Das Spiel vom Fragen. Der verzwickte Monolog ist ein Geflecht von Philosophie- und Literaturverweisen, von Krypto- und Selbstzitaten, die sehr souverän den Text modellieren. Der dialogisierende Monolog erlaubt es, eine Verbindung mit dem Schauspielpaar bzw. den Alten aus dem Spiel vom Fragen herzustellen, wie auch mit der Frau aus Die schönen Tage von Aranjuez, die auf die Frage nach ihrem ersten Liebhaber sich an den speziellen Moment erinnert, an das Schaukeln, an die Bewegung von unten und oben, eine Analogie mit der Beckettschen Bootsszene. Die Souveränität der Sprache im Monolog der „unknown female“ wirkt wie eine „feministische“ Korrektur von Becketts Text. Die sprechende Frau im Monodrama Bis daß der Tag euch scheidet ist „hart“ in ihrer Haltung, stets „statuarisch“,36 trotz ihrer pathetischen, gefühlsgeprägten Sprache. Die streckenweise zornige monologisierende Unbekannte gliedert sich in die Galerie der von Handke kreierten Frauenfiguren ein, zu der die wilde Frau bzw. Medusenschönheit (Untertagblues), die Fellfrau (Die Fahrt im Einbaum), die junge, schöne Wandererzählerin (Zurüstungen für die Unsterblichkeit), die Wortführerin der Unschuldigen oder Häuptlingsfrau (Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße) zählen, wobei Schönheit und Wildheit sich ergänzen und die Stärke dieser Frauen erahnen lassen, denen etwas Märchenhaftes innewohnt. Der Schluss des Frauenmonologs erlaubt mehrere Lesarten, denn er kann einerseits auf beide Protagonisten projiziert werden, Krapp und die unbekannte Geliebte, die am Ende genauso verschwindet, wie sie erschienen ist – sie verwandelt sich erneut in die ursprüngliche amorphe Frauengestalt. Damit verschmilzt der zweite Monolog mit dem ersten in die Vergangenheit und beide verweilen als
36 Handke/Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang?, S. 89.
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festgeschriebene Texte in ihrer Zweisamkeit, im Nachhall der Frauenstimme auf dem letzten Band. „Ein Innehalten, bis mein letztes Echo auf dein letztes Band verhallt. Verhallt sein wird. Etwas wie eine Replik von mir hast du nie erwartet. Ja, nicht einmal ein Echo. Nicht einmal einen Hall. Du der Hall, und ich der Nachhall.“ (BT 27) Andererseits meint man, den Dialog der zwei Dramatiker wahrzunehmen, das Echo Handkes und das letzte Band Becketts: Ein Wortspiel, das sehr subtil diese Gedanken-Beziehung in verschlüsselter Form wiedergibt. In seinem Versuch, ein Echo-Drama als Replik auf das klassische Monodrama zu verfassen, fügt Handke der rätselhaften Vielschichtigkeit Becketts eine neue Schicht hinzu. Zwei Dichter, zwei Stimmen, zwei Poetiken – zwei Monologe, die sich in einem monologischen Spiel der Zweisamkeiten treffen.
A NJA P OMPE Ich liebe es, das Gleiche immer und immer wieder zu tun. ANDY WARHOL
Kaum ein Jahr nach der gefeierten Veröffentlichung des Gedichts The Raven in einer amerikanischen Zeitung lässt dessen Verfasser die romantische Seele seines Zeitalters wissen, wie ihn ein kalkuliertes Vorgehen, das bei der Sprache und ihren emotionalen Effekten ansetzt, zur Entstehung des Poems geführt hat.2 In seiner Abhandlung The Philosophy of Composition (1846) beschreibt Edgar Allan Poe, dass er, weil er das Wort „Nevermore“ variierend wiederholen wollte, nach einer Form gesucht habe, die dies ermöglichte. Anschließend sei er, da er im melancholischen Grundton die „rechtmäßigste aller poetischen Tonarten“ sehe, von seiner ursprünglichen Idee, einen Papageien als Medium der Wiederholung zu verwenden, auf einen Raben ausgewichen. Weil er ferner den Tod einer schönen Frau für den melancholischsten Gegenstand „auf Erden“ halte und der „geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden“ sei, habe er sich entschieden, beide Ideen, den Raben und den trauernden Liebenden, miteinander zu verbinden.3
1
Jörg Magenau, „Von Aesop bis Yeats. Bob Dylan, die Dichter und der liebe Gott“, in: Literaturen 10 (2009), S. 38–39, hier S. 38.
2
Vgl. Edgar Allan Poe, „The Raven“, in: The Works of Edgar Allan Poe, Bd. 3, hg. von John H. Ingram, London 1901, S. 1–5.
3
Vgl. Edgar Allan Poe, „Die Methode der Komposition“, in: ders., Werke, Bd. 4, Olten/ Freiburg im Breisgau 1973, S. 531–548, hier S. 537 und 539f.
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Auch wenn die provozierende Ironie des poetologischen Kalküls Geschmackssache, der Verdacht der Misogynie nicht abwegig und die Authentizität der Rekonstruktion zweifelhaft ist,4 ein neues Autorschaftskonzept hat Poe mit seinem Essay dennoch befördert. Charles Baudelaire, der The Philosophy of Composition 1859 übersetzt und zwei Aufsätze über sein amerikanisches Vorbild verfasst, schließt daran an, Stéphane Mallarmé, der, wie später Walter Benjamin und Maurice Blanchot, die Sprache zu einer fast sakralen Instanz erhebt, spitzt es zu, und Autoren wie Paul Valery, Gottfried Benn, James Joyce, Michel Leiris, Francis Ponge, Georges Perec und andere setzen es um. Bastler, Techniker und Konstrukteure vereint es, Wortartisten, die begeistert von der Materialität der Sprache die Form präferieren und auf die Idee der Wiederholung setzen.5 Dass dies ebenso für Peter Handke gilt, wie auch für seinen Sänger Bob Dylan6 und Martin Heidegger, dessen Philosophie Handkes Spätwerk prägt,7 möchte ich nachfolgend zeigen. Dazu greife ich aus dem poetologischen Essay von Edgar Allan Poe drei Aspekte der Wiederholung heraus, die mir geeignet scheinen, Parallelen zwischen Handke, Heidegger und Dylan zu erhellen: Das ist zum Ersten die Wiederholung als abweichende Duplizität, die Poe in der Betonung des Wechselspiels von Gleichheit und Variation entwirft. Sie konvergiert, so meine These, nicht nur mit Heideggers Wiederkehr des Gewesenen als Zukünftiges, sondern
4
Vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1992, S. 89–113.
5
Vgl. Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992, S. 345–436.
6
Vgl. Fabjan Hafner, „Peters Musiktruhe oder Handkes Jukebox: Wie ein Schriftsteller Musik hört“, in: ide 25 (2001), S. 66-81; Hans Höller, Peter Handke, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 36–39; Karl Wagner, Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke, Bonn 2010, S. 206–211.
7
Vgl. Alfred Kolleritsch, „Die Welt, die sich öffnet. Einige Bemerkungen zu Handke und Heidegger“, in: Gerhard Melzer/Jale Tükel (Hg.), Peter Handke. Die Arbeit am Glück, Königstein 1985, S. 111–125; Rolf Günter Renner, Peter Handke, Stuttgart 1985, S. 128–137; Mireille Tabah, „Ethik und Ästhetik in Handkes Existenzentwurf im Lichte von Heideggers Existentialontologie“, in: Cornelia Blasberg/Franz-Josef Deiters (Hg.), Denken, Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur, St. Ingbert 2004, S. 483–503; Alexander Huber, Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz, Würzburg 2005; Ulrich von Bülow, „Raum Zeit Sprache. Peter Handke liest Martin Heidegger“, in: Günter Figal/Ulrich Raulff (Hg.), Heidegger und die Literatur, Frankfurt am Main 2012, S. 128–137; Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 80–87.
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auch mit den Prämissen von Dylans Cover-Versionen und Handkes Don JuanReplik.8 Das ist zum Zweiten die Wiederholung als kreativer Ausgangspunkt, die Poe gegen die Vorstellung von der Inspiriertheit des Dichters in Anschlag bringt. Sie findet sich im Nachdenken Heideggers, in Dylans Liebeslied Love Minus Zero / No Limit und Handkes Lehre der Sainte-Victoire verwirklicht.9 Zum Dritten ist es die Wiederholung als genussvolle Komplexität, die Poe geltend macht und in seinem Gedicht inszeniert. Sie kehrt, so meine letzte These, in Heideggers sprachmagischer Ontologie, die alle Konventionen geläufigen Denkens und linearer Argumentation sprengt, in Dylans Liebeslied und dem zweiten Teil der Tetralogie Langsame Heimkehr wieder. Insofern und weil Handke, wie schon Bob Dylan, in seiner Lehre und seiner Don Juan-Erzählung mit dem Raben als Poe-Referenz spielt,10 hat es den Anschein, die drei genannten Aspekte bildeten ein Modell der Autorschaft, das Handke im Anschluss an Poe mit Dylan und Heidegger teilt.
Ob Edgar Allan Poe wusste, dass die Wiederholung wesentlich ein antithetisches Phänomen darstellt, gibt seine Philosophy of Composition nicht zu erkennen. Um so bemerkenswerter ist es, dass sie die poetische Inszenierung einer an die Form der Antithese gebundenen Wiederholung rekonstruiert. Denn wir erfahren nicht nur, warum Poe bei der Suche nach einem künstlerischen Anreiz auf den Refrain gekommen ist, sondern auch, wie er beschlossen hat, die Wirkung der Wieder-
8
Vgl. Bob Dylan, Shadows in the Night, 2015; ders., Fallen Angels, 2016. Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt am Main 2004. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle DJ.)
9
Vgl. Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.) Vgl. auch Bob Dylan, Bringing It All Back Home, 1965; ders., „Love Minus Zero / No Limit“, in: ders., Lyrics 1962–2012. Sämtliche Songtexte, übers. aus dem Englischen von Gisbert Haefs, Hamburg 2004, S. 288f.
10 Vgl. LSV 12 und DJ 9f. und 24f. sowie Dylan, „Love Minus Zero / No Limit“, S. 288f. Zum Raben bei Peter Handke vgl. ferner: Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1983, S. 88; Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, Frankfurt am Main 1989, S. 115f.; Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 1994, S. 582 und 596; In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, Frankfurt am Main 1994, S. 73f.; Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt am Main 2007, S. 41; Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten, Berlin 2015, S. 89 und 164.
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holung in der Akzentuierung des Spannungsverhältnisses von Gleichheit und Variation zu steigern. Die Monotonie des Klanges habe er, lesen wir, beibehalten, die des Gedankens in der Anwendung des Refrains, der selbst unverändert bleiben sollte, stetig verändern wollen.11 Dieser Absicht entspricht die hartnäckig insistierende Wiederholung des Wortes „Nervermore“, das der trauernde Liebende, ein Gelehrter, der Trost in alten Büchern sucht, auf alle Fragen erhält, die er an den Raben richtet. Sie endet bekanntlich damit, dass der Schwermütige jene Antwort provoziert, die ihn in „höchste Pein und Verzweiflung“12 stürzen und seine Seele erlöschen lässt, während der Rabe als Repräsentant der Negation neben der Statue Athene, der Göttin der Weisheit, versteinert, womit sich das Nimmer-mehr, das die Endlichkeit an sich bezeichnet, in ein Immer-so verkehrt. Es ist sowohl gegen die Möglichkeit eines tröstlichen Vergessens der Vergangenheit in der Gegenwart als auch gegen die Hoffnung auf eine Wiederkehr in der Zukunft gerichtet ist: And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting O the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming, And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor; And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted – nevermore.13
In der dialogischen Entfaltung ist dem Gedicht aber auch die Vorstellung von der Wiederholung als Verwandlung eines stets nur scheinbar exakt, kongruent oder identisch Wiederkehrenden eingeschrieben. Denn das monoton erklingende „Nevermore“ wird erst durch die wechselnden Fragen, die sich dem düsteren Charakter des Wortes immer weiter annähern, zur Rabenantwort und zum Sinnbild. Die Abweichung, die an die Wiederholung gebunden ist, weil das Wiederholte beständig seinen Kontext ändert und Differenzen in den Beziehungen daher unvermeidlich sind, tritt in der Zuspitzung des Leidens emblematisch auf. Wir sehen das Gleiche als ein Ungleiches, mithin die antithetische Natur des Wiederholungsphänomens versinnbildlicht und mit ihr seine „temporale Ambivalenz“:14 Es ist nicht möglich, das Wesen der Wiederholung verwirklicht zu finden, ohne das, was sich
11 Poe, „Die Methode der Komposition“, S. 538. 12 Ebd., S. 541. 13 Poe, „The Raven“, S. 5. 14 Jörg Villwock, „Wiederholung und Wende. Zur Poetik und Philosophie eines Weltgesetzes“, in: Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.), Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Wiesbaden 1998, S. 12–37, hier S. 17.
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wiederholt, in seiner besonderen Zeitlichkeit zu erkennen bzw. als Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrzunehmen. Das führt uns an Heideggers Problem der Geschichtlichkeit kaum vorbei. Es steht im Kontext der Frage, woher der Mensch die Möglichkeiten nimmt, die er ergreift. Heidegger stellt sie vor dem Hintergrund der Annahme, dass der Mensch seine Entschlossenheit, mithin sein Verstehen zwar aus dem Vorlaufen in den eigenen Tod bezieht, dem Tod die Möglichkeiten selbst aber nicht entnehmen kann. Die Antwort, die er gibt, lautet, dass der Mensch seine Möglichkeiten angesichts der Endlichkeit nicht aus naheliegenden Gelegenheiten oder gerade kursierenden Zweideutigkeiten wählt, sondern aus dem Erbe, aus gewesenen Existenzmöglichkeiten, die er für sich übernimmt. Die Wiederholung stelle aber weder ein Wiederbringen des Vergangenen noch eine Rückbindung der Gegenwart an Überholtes dar, sondern sei eine verwandelte Aneignung im Sinne des Ergreifens von noch Verborgenem und insofern ein Widerruf auf die Auswirkungen des Vergangenen im Gegenwärtigen. Sie lasse kein ehemals Wirkliches wiederkehren, vielmehr hole sie das noch nicht Verwirklichte, das im Mitgegebenen noch nicht zum Zug Gekommene ins Offene.15 Damit erscheint der Mensch bei Heidegger als wiederholendes Wesen. In keiner der drei Formen der Zeit, der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, hält er sich auf, ohne nicht auch auf die beiden anderen verwiesen zu sein. Jede Form der Zeit, in der er ist, ist immer nur derart, dass sie zugleich über sich hinausgeht und in die anderen Formen überwechselt. Existierend sind wir für Heidegger demnach vor allem angsterfüllt wiederholend, also, was wir gewesen sind, und das sind wir immer nur in den Möglichkeiten der Welt. Auch in Handkes Werk spielt die Idee der Wiederholung eine zentrale Rolle. Erscheint sie anfangs noch als Wiederkehr des Immergleichen im Zeichen des Unheils16 und wird als solche zugleich gegen ein strukturgeleitetes Verstehen in Stellung gebracht,17 nimmt sie im Spätwerk auch als Abweichung poetologische Gestalt an. Beispielhaft dafür ist neben der Erzählung Die Wiederholung (1986), die ein Erinnern beschwört, das sich in die Zukunft entwirft,18 und die man daher
15 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. Auflage, Tübingen 1993, S. 383 und 385f. 16 Vgl. Peter Handke, Wunschloses Unglück, Frankfurt am Main 1972. 17 So im ersten Roman, der in prinzipienloser Parataxe Wahrnehmungspartikel, Vorstellungen und Erinnerungen wiederholt, die nicht nur nichts indizieren, sondern das Textsubjekt, seine Umgebung und Geschichte restlos auflösen. Vgl. Peter Handke, Die Hornissen, Frankfurt am Main 1966. 18 Vgl. Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt am Main 1986, S. 101: „Und Erinnerung hieß nicht: Was gewesen war, kehrte wieder; sondern: Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz.“
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mit Heidegger im Anschluss an den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard gelesen hat, die Wiederaufnahme einer literarischen Figur im Don Juan (2004). Sie beginnt damit, dass wir erfahren, wie der Erzähler, ein in unmittelbarer Nachbarschaft der Klosterruinen von Port Royal lebender Gastwirt und begeisterter Leser, auf Don Juan trifft, aber nicht, wie uns sogleich versichert wird, auf irgendeinen Don Juan, sondern auf den richtigen, den einzig wahren, was zur Folge hat, dass der Erzähler zu verstehen glaubt, „warum die Raben seit einiger Zeit so wutentbrannt durch den Luftraum brüllten“ (DJ 9f.). Wie das gemeint ist, wird schnell klar, denn Handke wiederholt die Geschichte vom spanischen Verführer und Spötter Don Juan Tenorio, die der Mönch Gabriel Téllez unter dem Pseudonym Tirso de Molina verfasst haben soll, mit dem Ergebnis, dass die an die Differenz gebundene Struktur der Wiederholung ins Zentrum tritt.19 Dazu lässt er Don Juan dem Ich-Erzähler, der für eine Woche sein Zuhörer ist, von den Liebesabenteuern schon nach kurzer Zeit nur noch das erzählen, was als Variation für ihn Relevanz besitzt, bis die Ausführungen Don Juans über den in der Spannung von Gleichheit und Differenz gründenden Reiz des Wiederholens die flüchtiger werdenden Erlebnisberichte verdrängen: Das Wiederholen hatte […] seinen eigenen Schwung, und er überließ sich dem als einer Selbstverständlichkeit, ja einem Gesetz, wenn nicht Gebot. Das gleiche zu tun und zu unterlassen mit der Frau jetzt wie mit jener vom Vortag, das sollte sein. Das Wiederholen, dieses erst, beherzte ihn. Das hieß nicht, dass es keinerlei Varianten gab. Diese spielten jedes Mal mit herein, vielleicht auch bloß eine einzige, kleinwitzige. Durch die Variante erfüllte sich das Gebot und wurde zugleich auch Teil eines Spiels […]. (DJ 93f.)
Auf diese Weise wird das Wiederholen selbst zum Gegenstand dieses Erzählens in „zweiter Potenz“.20 Die Repetition in ihrem Wesen ist es, die Don Juan interessiert. Mit dem Helden, der ihm vorausgeht, hat das nicht viel zu tun. Handkes Don Juan ist kein vitaler Hallodri, der herausfordert und provoziert. Ein Bonvivant ohne Tiefgang, ein „erotisches Urprinzip“, ein „Typ“, so Walter Jens, „der ist und nicht wird, ein Sein hat, aber unfähig ist, dieses zu entfalten“, gerät bei ihm nicht in den Blick.21 Sein Don Juan wiederholt, um zu verstehen und nicht aus unstillbarer Abenteuerlust. Die Einzigartigkeit des Wiederholens selbst treibt ihn an, die
19 Vgl. Anja Pompe, Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 201–205. 20 Carstensen, Romanisches Erzählen, S. 330. 21 Walter Jens, Mythen der Dichter. Modelle und Variationen. Vier Diskurse, München 1993, S. 71–97, hier S. 81.
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Singularität des Phänomens, das unmittelbare Vernehmen der in der Differenz einmaligen Wiederkehr, kurz: die Wiederholung als Bewegung des Begehrens. Damit ruft die Erzählung nicht nur einen Gedanken auf, den Handke schon früh entfaltet hat, nämlich, dass alle Formen immer schon gefunden und Wiederholungen daher unvermeidlich sind, sie beschwört darüber hinaus auch eine Reduplikationsform, die als Modulation Neues gewährt. Was für die Wiederholung in Handkes Spätwerk gilt, die über den Sog der Konzeptkunst mit einer Akzentverschiebung synchronisiert ist, weil sie zusehends Nobilitiertes, klassisch Archiviertes oder Verdrängtes ins Spiel bringt, gilt auch für das mit Fallen Angels veröffentlichte Album von Bob Dylan. Denn wie schon Shadows in the Night präsentiert es ausschließlich Stücke, die fast alle wenigstens einmal schon von Frank Sinatra interpretiert worden sind, bis auf den von John Mercer und Hoagy Carmichael 1941 komponierten Klassiker Skylark. Entscheidend dabei ist, dass Dylan die pompösen Orchester-Arrangements aufbricht, so dass zum Beispiel aus All or nothing at all, eine der wohl bekanntesten Balladen Sinatras, die er zunächst für Harry James und sein Orchester, später dann mit dem Nelson Riddle Orchestra aufgenommen hat, ein beinahe flapsiger Ragtime wird. Von einer Negation kann aber dennoch genauso wenig die Rede sein wie von einer Hommage an Frank Sinatra, der Schmachtfetzen wie It had to be you oder Hits der Swing-Ära wie Melancholy Mood populär gemacht hat. Denn in der Anpassung der orchestralen Vorlage an das Format der fünfköpfigen Band und die stimmlichen Grenzen, auf die Dylans Gesang verwiesen ist, vergrößert sich die Distanz zum Vorgängigen zusehends, bis sie verschwindet und mit ihr der gediegene Einmaligkeitsanspruch des Wiederholten.
Wie sich mit der Idee der differenten Wiederkehr zugleich die Überzeugung artikuliert, dass Kreativität auch das Gegenteil dessen sein kann, wofür der Begriff gemeinhin steht, und die mit ihm aufgerufenen Vorstellungen von Schöpfertum, Einmaligkeit und zeitlichem Nacheinander nichts als Zuschreibungen sind, die seit ihrer institutionellen Etablierung im 18. Jahrhundert von anderen, früheren Zuschreibungen konterkariert worden sind, lässt sich auch an Poes Philosophy of Composition ablesen. In ihrem Plädoyer für die Intensität der wiederholenden Technik wertet sie die Inspiriertheit des Dichters als Symptom defizitärer Subjektivität ab und entwirft Kreativität als kombinierende Fähigkeit.22 Für Poe wie für
22 Poe, „Die Methode der Komposition“, S. 532f.
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Baudelaire und die französischen Symbolisten um Mallarmé ist Dichtung eine Synthese aus Sprachalchemie und poetischer Mathematik. Sie zielt auf die Erneuerung der Sprache und entsteht in einem mühevollen Prozess, der sich „Schritt für Schritt“ auf die präzise Umsetzung folgerichtiger Konstruktionsprinzipien, nicht aber auf Einflüsterungen eines Schöpfergottes zurückführen lässt. Sie ist eine Sache des „Suchens“ und verlangt „weniger Einfall als Auswahl“.23 Damit ist ein Modell aktiviert, das Poesie gemäß ihrer griechischen Wurzel als handwerkliches Herstellen oder Verfertigen von Texten versteht, als attischen Akt des Ins-WerkSetzens der Sprache. Die kathartische Intention dieses Rückgriffs prägt wesentlich auch Heideggers philosophisches Projekt, das von seiner Sprache in keiner Weise zu trennen ist. Sein Bemühen, die Sprache der Vergangenheit zu überwinden und in der Wiederholung überlieferter Quellen ein neues Sprechen zu formen, ergibt sich aus den Fragen, die seine Philosophie stellt. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wie Günter Figal anmerkt, dass Heidegger für die Charakterisierung der Übernahme der Möglichkeiten aus dem Erbe den Begriff der Wiederholung einführt und dieser zum „Schlüsselbegriff“ seiner Philosophie wird.24 Das Vorgegebene ist das ihm Aufgegebene, ist Quelle für eigenes Nachdenken im Sinne eines Erinnerns nach vorn im Anschluss an Kierkegaard. Weder um irgendeine Übernahme von Theoremen, Sätzen oder Grundbegriffen aus der Tradition noch um deren Erneuerung geht es Heidegger daher, sondern um deren Wiederholung als kreativer Ausgangspunkt. Sie ist Methode und wird Wesenszug seiner Philosophie. Denn mit ihr spürt er nicht nur vermeintlich Ursprüngliches, Marginalisiertes oder vergessen Geglaubtes auf und macht es für ein Sprechen fruchtbar, das sein Denken inspiriert. Sie führt ihn auch zu einer beständig neu ansetzenden Kontemplation über zentrale, bereits eingeführte Begriffe und Motive, sie veranlasst, aufgestellte Postulate oder Kernsätze binnen weniger Jahre ins Gegenteil zu verkehren, lässt den allmählichen Aufbau von Argumentationen nur selten zu und verhindert letztlich ein Werk als Ganzes. Das früh entworfene Programm bleibt daher ein gewaltiger Torso, der freilich in der Vielzahl neuer philosophischer Ansätze und seiner eigenwilligen Undurchdringlichkeit zugleich vorübergehend unvergleichlich und herausfordernd scheint. Für Bob Dylan gilt ebenfalls, dass er dem attischen Künstler näher ist als dem puristischen Modell der Epochenschwelle. Auch sein poietischer Idealtypus orientiert sich am Konstrukteur, mithin am konzeptionell arbeitenden Techniker, der
23 Ebd., S. 534 und S. 542. 24 Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Weinheim 2000, S. 312–325, hier S. 321.
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freilegt, entwurzelt und ausgräbt, was als verschüttet, verstaubt oder wertlos erscheint, um zu zeigen, wie die Neuentdeckung zum Impuls einer Innovation führen kann. Nicht erst in seinen Kommentaren zum Album Shadows in the Night offenbart sich dieses Selbstverständnis.25 Es artikuliert sich seit seinen Anfängen und vielleicht nirgends so deutlich wie in den schnellen Takes und halbfertigen Songs. Sie lassen den Schöpfungs- und Werkgedanken gar nicht aufkommen und verweisen stattdessen auf etwas Unbestimmtes, das sich selbst aber nicht ausspricht oder ins Werk gesetzt findet. Das gilt so auch für den Song Love Minus Zero / No Limit, den Dylan im März 1965 auf dem Album Bringing It All Back Home veröffentlicht. Er handelt von einer Liebe, die sich nur schweigend, leise und augenzwinkernd äußern kann, will und braucht, weil nichts mehr originären Ursprungs ist.26 Verstehen wir diese Liebe als Sinnbild produktionsästhetischer Überlegungen, sehen wir in dem Song ein poetologisches Konzept skizziert, das den Inspirationstopos verneint, den Künstler von allen Ansprüchen des Wahren und Guten befreit und den traditionellen Werkbegriff verabschiedet. Denn zur Charakterisierung der Liebsten werden gerade solche Autorenpoetiken herangezogen, die wir als ideale Verkörperungen jenes Künstlertyps lesen, für den Dichtung nicht in einer irrationalen Schöpfung, sondern in der Bearbeitung sprachlichen Materials gründet und für den der Prozess des Suchens das Werk selbst darstellt. So werden neben Poes Philosophy of Composition im mathematisch klingenden Titel und seinem Gedicht The Raven in den Schlussversen, Baudelaire und Mallarmé im Motiv der Blumen,27 Beckett und mit ihm Foucault im Topos der Unbekümmertheit28 sowie Franz Kafka im Landarzt am Ende des Liedtextes
25 Vgl. Heinrich Detering, Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiel, München 2016, S. 171–174. 26 Vgl. Bob Dylan, „Love Minus Zero / No Limit“, 2004, S. 288f. 27 Vgl. Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Stuttgart 1992. Stéphane Mallarmé, Oeuvre complètes, hg. von Bertrand Marchal, Bd. 2, Paris 2003, S. 678: „Je dis: une fleur! et, hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée rieuse ou altière, l’absente de tous bouquets.“ Übersetzung: Stéphane Mallarmé, Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 229: „Ich sage: eine Blume! Und, jenseits der Vergessenheit, der meine Stimme jede Kontur überantwortet, als etwas anderes als die gewußten Kelche, steigt musikalisch, Idee selbst und sanft, die aus allen Sträußen abwesende.“ 28 Vgl. Michel Foucault, „Was ist ein Autor“, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 198–229.
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eingespielt.29 Die Idee poetischen Schaffens, die damit umrissen wird, ist sowohl gegen das Modell ingeniöser Originalität gerichtet als auch gegen den neuzeitlichen Werkbegriff. Denn bei Kafka verkehrt sich, wie wir wissen, die Idee eines vorfigurierten Ganzen, das nur noch ausformuliert werden muss, ins Gegenteil, denn seine Erzählungen sind unmittelbar aus der Niederschrift selbst entstanden und entsprechen daher eher einer allmählichen als planvollen Konstruktion. Dazu passt, dass die schnelle, frei assoziierende Textproduktion und nicht das wohl überlegte, streng kalkulierte, fertige Werk Dylans Sache ist. Das im Aufbau Befindliche, das sogleich fixiert wird, der technische Vollzug, die kombinierende Herstellung sind typisch für ihn. Ein Werk aber ergibt sich nur noch aus dem, was ungesagt bleibt oder, wie Maurice Blanchot es formuliert, aus der „Suche“ nach dem Werk, aus der „Bewegung, die zu ihm hinführt“. Es ist in der „Annäherung“, die das „Werk erst ermöglicht“.30 Auch in Handkes Lehre der Sainte Victoire verliert das Werk in der Wiederholung seine ehemalige Bedeutung. Sie beginnt damit, dass der erste Satz, der in der Ich-Form direkt an den Rückflug des Protagonisten Valentin Sorger am Ende der Langsamen Heimkehr anschließt, die mythologische Figur des Daedalus aufruft. Denn in dem Hinweis auf die wohlbehaltene Landung aus dem Luftraum, die den Himmel als Korridor und nicht als Ziel der Erhebung markiert, und der Besinnung auf eine Zeit der inspirierenden Lektüre entsteht das Bild vom gelehrten wie belehrenden Vater als Identifikationsfigur. Auf diese Weise setzt das Erzählen mit einer Abweichung von der üblichen Antwort auf die Frage nach dem künstlerischen Stellenwert von Vater und Sohn ein, denn gewöhnlich gilt die Himmelssehnsucht des Jüngeren, sein Streben nach Eigenständigkeit, nicht aber die Traditionsgebundenheit des Vaters als Sinnbild kreativer Autor- oder Künstlerschaft. Diese Abweichung konvergiert mit einer Sicht auf den attischen Kunsthandwerker, die seinen unsicheren Status dadurch relativiert, dass sie ihn als Konstrukteur in seinem Vermögen akzentuiert, Tradiertes als Hilfestellung und nicht als Hindernis für das eigene Kunstschaffen zu begreifen.31 Indem Handke seinen Erzähler diese Perspektive aufgreifen und an den Anfang stellen lässt, verweist er auf zwei Aspekte als Grundlage für die nachfolgende Lehre. Das ist zum einen die weit zurückreichende, aber zumeist wertlos erachtete Idee, dass alles, was entsteht, kollektive und kollaborative Anteile enthält, zum anderen die Auffassung, dass Dichtung das Ergebnis eines mühevollen Prozesses und ausgeprägten Formwillens ist.
29 Vgl. Franz Kafka, Die Erzählungen, hg. von Roger Hermes, Frankfurt am Main 2007. 30 Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1982, S. 270ff. 31 Vgl. Pompe, Peter Handke, S. 125f.
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Wie maßgeblich beide Aspekte für Handkes Lehre sind, die im Sinne einer konzisen poetologischen Theorie eine zukünftige ist, zeigt sich, wenn beide erneut aufgegriffen werden, nämlich in der Episode, die sich auf Stifters Bergkristall bezieht und in der es um die Verwendung alter Steine für neue Häuser geht, und in der darauffolgenden Passage, in der im Anschluss an einen Augenblick des „stehenden Jetzt“ eine Rabenkrähe als Farbzusammenhang erinnert wird: Vor kurzem stand ich im Schnee auf dem Untersberggipfel. Knapp über mir, fast zum Angreifen, schwebte im Wind eine Rabenkrähe. Ich sah das wie ins Inbild eines Vogels gehörende Gelb der an den Körper gezogenen Krallen; das Goldbraun der von der Sonne schimmernden Flügel; das Blau des Himmels. (LSV 12)
Dass das unmittelbare Zusammensehen der drei Farben auf die Zusammengehörigkeit der drei Formen der Zeit verweist – ein Zusammenspiel, das Heidegger zu fassen versucht, indem er von „Ekstasen“ spricht,32 vermutlich im Anschluss an Aristoteles – korrespondiert mit der Tatsache, dass der Text in der Folge keine epische Zielstrebigkeit erlangt und sich die Aufmerksamkeit nicht auf eine strukturiert entfaltete Aussage, Bedeutung oder Lehre richtet, sondern der Prozesshaftigkeit der Form bzw. des Werkes gilt. Anders: Mit der ins Bild gesetzten paradoxalen Zeitwahrnehmung wird vorweggenommen, dass sich die Niederschrift des Textes im Übergang zu einem zukünftigen Werk ereignet. Die Wiederholung von Autobiographischem, Naturbeschreibungen, philosophischen, kunsthistorischen und literarischen Bilderwelten ergibt eine Lehre, die sich aus der Spannung zu dem speist, was in ihr abwesend bleibt. Kaum mehr verwunderlich ist es daher, dass sie mit dem Augenblick endet, in dem der Erzähler jene Bruchstelle im Bergmassiv der Saint Victoire entdeckt, die er auf den Gemälden Cézannes wahrgenommen und in der Natur zu finden gehofft hat, und wir erfahren, wie ihn dieses Ereignis, welches Naturwahrnehmungen, Erinnerungen und ästhetische Impressionen erfasst, nicht nur begreifen lässt, warum jede Form des hierarchischen Aufbaus unbrauchbar ist und Cézanne, dem Kubismus vorausgreifend, inversive Ordnungen intendiert hat, sondern wie sich auch das Reich der Wörter öffnet, die Struktur der Dinge spürbar wird und die Lehre beginnen kann.
32 Heidegger, Sein und Zeit, S. 329.
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Die Wiederholung als genussvolle Komplexität, die Poe in seiner Philosophy of Composition geltend macht, realisiert er in seinem Gedicht nicht nur im Aufbau einer sich allmählich ins Schicksalhafte wendenden Befragung, die den Charakter des Dressurwortes erst enthüllt, sondern auch über die klangliche Entfaltung der Beschreibung des Geschehens. Bemerkenswert im Sinne von kunstreich oder technisch versiert erscheint dabei, dass der Reim neben der Reimvariation in den Versen eins und drei als Binnenreim in den Versen zwei, vier, fünf und sechs über alle Strophen hinweg gleich bleibt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Ungleiche sei das Gleiche, weil die lautliche Äquivalenz eine semantische nach sich zieht, wir also Ähnlichkeiten zwischen Wörtern entdecken, obwohl diese nichts miteinander zu tun haben. Das lässt nicht nur an eine hypnotische Geheimsprache denken, weil aus den sich reimenden Wortteilen in der gewöhnlichen Sprache kein Sinn entsteht, sondern sensibilisiert auch für die Umkehr der in der Anwendung des Refrains entfalteten Idee des Gleichen als ein Ungleiches, der Konstanz als Dissonanz. Auf diese Weise wird die Struktur der Wiederholung als hochkomplexes Gebilde aus lautlichen und semantischen Wiederholungsmustern wahrnehmbar, mithin eine kalkulierte poetische Perfektion, die durch intellektuelle Lust motiviert ist und sie zugleich gewährt. Ihren letzten Auftritt hat sie im ersten Vers der letzten Strophe, so der Leser entdeckt, dass der Wiederholung von „still is sitting“ und dem Binnenreim „flitting“/„sitting“ eine spiegelbildliche Umkehrung der Konsonantenfolge von „Raven“ und „never“ vorangestellt ist, was aber nur gelingt, wenn er die Leserichtung ändert. Wie die Lust am Wiederholen eine ungewohnte, schwer fassbare, normabweichende Sprache motivieren kann, zeigt sich auch bei Heidegger. Man findet in sie genauso „schwer“ hinein wie wieder heraus. Ungeheuer komplex, dynamisch und widerständig ist sie. „Zu viel oder zu wenig Distanz, Vorbeireden oder Nachreden“, so Jürgen Mittelstrass, bilden daher „die traurige Alternative, die sich häufig vor dem Heidegger-Verständnis auftut und das Schicksal des Interpreten“ und das von „Heideggers in der Philosophie“ bestimmt.33 Zutreffend ist das, weil es zur Tragik dieser Philosophie gehört, dass ihre Sprache Anhänger wie Gegner gleichermaßen verführt hat, die innovativen philosophischen Ansätze zu verfehlen. Für die analytische Philosophie, die in Sein und Zeit und den nachfolgenden Texten nur eine hypnotische Aufhebung der logischen Argumentation, reinen Unsinn,
33 Jürgen Mittelstrass, „Martin Heidegger. Diesseits und Jenseits von Sein und Zeit“, in: Walter Erhart/Herbert Jaumann (Hg.), Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann, Bremen 2000, S. 107–127, hier S. 109.
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bloße Mystifikation erblickt, ist das nicht ungewöhnlich, gehört es doch zum Wesen der pauschalen Verwerfung, Neues im Hinweis auf verfehlt Erachtetes zu übergehen. Aber auch die assoziativen Verfehlungen im Zeichen der Anerkennung verwundern kaum. Sie sind zwar unvereinbar mit einer Philosophie, die in gründlichen Studien zu Heraklit, Platon, Aristoteles, den Scholastikern, Descartes, Kant, Hegel, Nietzsche die wichtigsten Denker so wiederholt, das neue, aber verschiedene, mithin vorläufig Sichtweisen möglich werden. Erklärlich sind sie trotzdem. Denn in ihrem experimentellen Charakter stimuliert Heideggers Philosophie, was bei Kant die Lust an der Freiheit im Spiele ist.34 Die Abweichung von der traditionellen philosophischen Terminologie zugunsten einer sich bombastisch aufladenden Sprache, die – wie ihr poetisches Pendant – eine partiell normsprengende, befreiende Funktion erfüllt, erklärt, warum Heideggers Sprechen eben immer auch das Potential besitzt, im Spiel der Einbildungskraft aufzugehen. Ähnliches gilt für die Wiederholung in Dylans Liebeslied. Es setzt mit jeder Strophe neu an, um eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Liebe ist, um die es geht. Weil diese am Ende der letzten Strophe aber mit gebrochenen Flügeln erscheint und somit aufgehoben wird, was sich zuvor als Antwort präsentiert hat, bleibt die von Dylan gestellte Frage offen. Indem sich die Lösung am Ende nicht mit den vorangegangenen Antworten verrechnen lässt, wird nicht nur die Monotonie durchbrochen, sondern auch der Wunsch gesteigert, sich entweder in der Wiederkehr der bestimmenden Form zu halten oder im Wiedererkennen poetologischer Bezüge das Rätsel gelöst zu sehen. Von vergleichbarer Lust an unzugänglicher Komplexität zeugt auch Handkes Lehre. Denn in der verwirrenden Montage wiederholter Vorlagen, die sich gegen jede Vorstellung von Klarheit und Anwendbarkeit einerseits, Authentizität und Wahrhaftigkeit andererseits richtet, schickt sie den Rezipienten in ein unübersichtliches Gelände aus sich ähnelnden Wegen, die sich entweder als Sackgassen erweisen oder ungewissen Ursprungs bleiben. Von einem „Dechiffrier-Syndikat“, das notwendig ist, um Orientierung in dem Zitatmosaik zu erlangen, ist daher in der Forschung die Rede gewesen, von inszenierter „Selbstenteignung“, auch mit Blick auf das Motiv vom Schriftsteller als Niemand, von einem „Gewirk“ ohne Sinnzusammenhang.35 Doch die Destruktion reicht weiter oder tiefer. Denn in dem
34 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1983, S. 237–620. 35 Peter Laemmle, „Gelassenheit zu den Dingen. Peter Handke auf den Spuren Martin Heideggers“, in: Merkur 435 (1981), S. 426–428, hier S. 427; Ralf Köhnen, „Zwischen Zeichenspiel und Wahrheit/en. Peter Handkes Cézanne-Rezeption“, in: Thomas Eicher/Ulf Bleckmann (Hg.), Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld 1994,
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Maße, in dem sie eine Lehre als substantielle Theorie vermissen lässt, motiviert sie nicht nur das Bedürfnis, im Abwesenden zu sehen und im Unvorhersehbaren Lösungen zu finden, sondern zeugt ebenso von dem Bewusstsein, dass Erkenntnis immer ein Geschehen darstellt, in dem sich das, was sich erkennen lässt, zugleich enthüllt und verhüllt, ein Geschehen also, das an den Hintergrund einer dunklen Rätselhaftigkeit gebunden ist.
S. 185–220, hier S. 196; Ingeborg Hoesterey, Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne, Frankfurt am Main 1988, S. 101–129, hier S. 107.
O LIVER K OHNS
Seit Harold Blooms Studien über Einflussangst kann die intertextuelle Relation zwischen zwei Autoren – oder genauer, zwischen ihren Werken – als ein „Streit zwischen starken Gleichen“,1 als ein Kampf vorgestellt werden, in dem über die Originalität eines Autors und seiner Texte entschieden wird. In diesem Sinn kann gesagt werden, dass das Thema des Zitierens im literarischen Text immer auch das Problem des Narzissmus aufwirft. Jeder Autor muss damit leben, dass alles schon einmal gesagt ist in den weiten Räumen der Bibliothek.2 „Tout est dit“,3 schreibt Friedrich Schlegel – auch dieser Satz hat allein aufgrund seiner Sprache selbst „Zitatcharakter“.4 Das Eigen- bzw. Selbstzitat erscheint somit nicht einfach
1
Harold Bloom, Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung, aus dem amerikanischen
2
Vgl. Hans Ulrich Reck, „‚Ein Gedanke ist doch nicht die kürzeste Verbindung zwischen
Englisch von Angelika Schweikhart, Basel/Frankfurt am Main 1995, S. 14. zwei Zitaten‘ - aber manchmal eben doch. Eine Motiv-Betrachtung in achtundzwanzig (28) Schritten“, in: Martin Roussel (Hg.), Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats, München 2012, S. 33–60, hier S. 59. 3
Friedrich Schlegel, Literarische Notizen 1797–1801. Literary Notebooks, hg., eingel.
4
Werner Hamacher, „Der ausgesetzte Satz. Friedrich Schlegels poetologische Umset-
und komm. von Hans Eichner, Frankfurt am Main u.a. 1980, S. 39. zung von Fichtes absolutem Grundsatz“, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu
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als ein Sonderfall des Zitierens, sondern gewissermaßen als seine Negation: Das Selbstzitat räumt eine Verschuldung nur dem eigenen Text (bzw. einem Text aus dem Werk des Autors) gegenüber ein. Wenn Herman Meyer zufolge der „Dichter“ stets „an der Verwaltung eines Bildungserbes beteiligt“ ist, „das er in sich aufnimmt, bewahrt und weitergibt“,5 dann stellt das Selbstzitat als Weitergabe des eigenen statt des fremden Textes eine Verweigerung dieser Verwaltung dar – oder zumindest eine Umschreibung in die narzisstische Geste, den eigenen Text zum Bildungserbe zu erklären. Das Selbstzitat schreibt dem eigenen Text Zitierfähigkeit zu – „ein Modus der auctoritas, jener Autorität, die zitierend in Anspruch genommen wird – und damit dem Zitierten zugesprochen und bestätigt wird.“6 Das Selbstzitat erhielt bisher nur wenig systematische philologische Aufmerksamkeit. In Gérard Genettes Systematik, die alle erdenklichen Formen der zitierenden Zwischentextlichkeit in der Literatur behandelt, wird innerwerkliche Zitation, Auto-Intertextualität also, nur in der Form des Selbstpastiches thematisiert: eine stilistische Selbstimitation, die Genette zufolge häufig als Fehler unterlaufe (in der Form der unfreiwilligen Selbstparodie) und als künstlerische Absicht eine „nicht gerade häufige Praxis“7 darstelle. Die Marginalisierung des Selbstzitats in der Literaturtheorie kann durch mehrere Gründe erklärt werden. Das Selbstzitat erscheint aufgrund der Einschreibung der eigenen Werke in das Spiel mit dem zitierbaren „Bildungserbe“ als Maximum des literarischen Narzissmus. Das Argument Genettes, dass Selbstzitate häufiger unfreiwillig geschähen als intentional – auch wenn er keine Kriterien nennen kann, um das eine vom anderen zu unterscheiden –, rückt das literarische Selbstzitat zudem in den generellen Verdacht künstlerischer Schwäche. Es scheint eine Unfähigkeit zur Originalität – welche seit der Romantik als das zentrale ästhetische Dogma gilt8 – zu belegen, und daraus folgend den Zwang, sich selbst zu wiederholen und zu zitieren.
Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main 1998, S. 195–234, hier S. 195. 5
Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäi-
6
Bettine Menke, „Zitat, Zitierbarkeit, Zitierfähigkeit“, in: Volker Pantenburg/Nils Plath
schen Romans [1961], Frankfurt am Main 1988, S. 22. (Hg.), Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002, S. 273– 280, hier S. 273. 7
Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [1982], aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993, S. 168.
8
Vgl. Friedrich Schlegel, „Über das Studium der griechischen Poesie“, in: ders., Der Historiker als rückwärts gewandter Philosoph. Aufsätze und Vorlesungen zur Literatur, Leipzig 1991, S. 32–154, hier S. 62f.: „Aus diesem Mangel der Allgemeingültigkeit,
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Dass Selbstzitate und autointertextuelle Elemente aller Art in den Texten Peter Handkes nicht selten begegnen, könnte in dieser Perspektive (allzu) schnell als eine (weitere) anti-moderne Geste der „Wiederholung“9 – einem der zentralen Begriffe in Handkes Poetik – bzw. der Originalitätsverweigerung10 interpretiert werden. Insbesondere der Vorwurf des Narzissmus ist in Bezug auf Handke immer wieder aufgeworfen worden. Manfred Durzak etwa attestiert Handke in psychoanalytischer Perspektive eine „manische Fixiertheit“ auf das eigene Ich.11 Bis in die Gegenwart bleibt der Vorwurf des Narzissmus gegen Handke „in Kritik und Forschung strukturell vorhanden“.12 Ein genauerer Blick auf die Texte ist jedoch, wie immer, lohnend. Die Analyse der werkimmanenten Zitate muss dabei allerdings in Relation mit der allgemeinen Intertextualität der Texte Handkes geschehen, deren Teil sie notwendigerweise auch ist. Generell können drei Ebenen der Analyse von Intertextualität unterschieden werden – drei Ebenen, die sich jeweils ineinander verschränken, aber deren Unterscheidung dennoch nützlich erscheint: Erstens kann Zwischentextlichkeit als Frage nach ‚Einflüssen‘, d.h. vorrangig als Bezugnahme zwischen Autoren aufeinander begriffen werden. In Handkes Texten zeigt sich diese Frage in der Form der Konstruktion von Traditionslinien, zu der der Autor zahlreiche Fährten gelegt hat – Hinweise auf kanonische Autoren
aus dieser Herrschaft des Manierierten, Charakteristischen und Individuellen, erklärt sich von selbst die durchgängige Richtung der Poesie, ja der ganzen ästhetischen Bildung der Modernen aufs Interessante. Interessant nämlich ist jedes originelle Individuum, welches ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält.“ Vgl. Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 88f. 9
Vgl. Peter Handke/Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Frankfurt am Main 1990, S. 190: „[M]an merkt, daß alles schon erkannt und gesagt wurde, daß man es nur wiederholt, aber in einer bißchen anderen Form. Aber grad diese leicht veränderte Form, das ist eigentlich das Kunstwerk: das Wiederholen in einer leicht veränderten, in der Regel ja nur ganz wenig veränderten Form.“
10 Vgl. Anja Pompe, Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 99. Vgl. Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 149: „Seltsamerweise […], als ich Langsame Heimkehr geschrieben hab, hab ich mir gedacht: So was ist seit dem Mittelalter nicht geschrieben worden […].“ 11 Manfred Durzak, Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziss auf Abwegen, Stuttgart 1982, S. 27f. 12 Tanja Angela Kunz, Sehnsucht nach dem Guten. Zum Verhältnis von Literatur und Ethik im epischen Werk Peter Handkes, Paderborn 2017, S. 47.
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als Vorläufer, wie etwa die wiederholten Referenzen auf Adalbert Stifter.13 Zweitens kann die zwischentextliche Beziehung nicht als eine bewusste Anknüpfung eines Autors an diese oder jene ‚Tradition‘ begriffen werden – gemäß der eher konservativen Vorstellung einer „Teilhabe des Dichters an den Reichtümern der abendländischen Kulturtradition“14 –, sondern als eine intertextuelle Strukturierung von Texten im Allgemeinen.15 In diesem Sinn kann jeder Text seit Julia Kristeva als ein „Mosaik von Zitaten“16 gelesen werden, gleich ob dies von einem Autor intendiert sein mag oder nicht. Drittens spielt Zwischentextlichkeit eine entscheidende Rolle für das Phänomen des Stils. Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen dem individuellen Stil, der das Werk eines Autors repräsentiert und charakterisiert, und einem überindividuellen „Zeit- oder Epochenstil“.17 In beiden Fällen handelt es sich um eine charakteristische sprachliche Eigenheit, die mehrere verschiedene Texte in einen Zusammenhang rückt. Das Wort Stil funktioniert metonymisch: Als Übertragung vom Schreibwerkzeug (lat. stilus) auf die schreibende Persönlichkeit. Schopenhauers Definition von Stil als „die Physiognomie des Geistes“18 verdeutlicht dies: So wie die Physiognomie eine Lesbarkeit des menschlichen Äußeren für sein Inneres behauptet, verspricht der Stil, den Autor in seiner Entäußerung, seinen Texten, erkennbar zu machen. Bereits der heilige Hieronymus nennt in De viribus illustribus die „stilistische Einheit“ verschiedener Texte als eines von vier Kriterien, anhand derer man die Texte eines Autors erkennen könne (und somit wird diese, wie Foucault notiert, elementar für die Konstruktion eines Autors).19
13 Vgl. Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 20. 14 Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst, S. 24. 15 Vgl. Blasbergs parallele Lektüre von Malte Laurids Brigge und Die Stunde der wahren Empfindung: Cornelia Blasberg, „‚Niemandes Sohn?‘ Literarische Spuren in Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 23 (1991), S. 513–535. 16 Julia Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Frankfurt am Main 1991, S. 348. 17 Vgl. Klaus Manger, „Stil“, in: Ulfert Ricklefs (Hg.), Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt am Main 1996, Bd. 3, S. 1798–1812, hier S. 1798. 18 Arthur Schopenhauer, „Ueber Schriftstellerei und Stil“, in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 2, S. 445–479, hier S. 455. 19 Vgl. Michel Foucault, „Was ist ein Autor? (Vortrag)“, in: ders., Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defert und François Ewald, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba, Frankfurt am Main 2003, S. 234–270, hier S. 249.
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In dieser Perspektive erscheint die Schreibart eines Werks generell als eine Form von werkimmanenter Intertextualität: Stil ist, insofern er eine Wiederholung charakteristischer sprachlicher Eigenheiten in verschiedenen Texten darstellt, eine Variante des Selbstzitats im weitesten Sinn. Anders gesagt: Stil lässt sich als eine Form von impliziter, d.h. nicht ausdrücklich ausgewiesener und thematisierter Auto-Intertextualität begreifen. Davon zu unterscheiden ist eine markierte, explizite werkimmanente Intertextualität, die von wortwörtlichen Zitaten bis zu Allusionen, Kommentaren und Parodien reicht. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese expliziten Formen der Auto-Intertextualität an der Konstruktion der stilistischen Einheit eines ‚Werks‘ teilhaben bzw. wie sie diese Einheit verändern können.
Eine seltene Form der Selbstzitation ist – auch in Handkes Texten – die wörtliche Zitierung eines Textes aus dem eigenen Werk. Ein Beispiel findet sich in Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire (1980). In der Provence unterwegs, kreisen die Reflexionen des Ich-Erzählers um das Verhältnis zwischen Subjekt, Sprache und Welt.20 Nach der Lektüre von Franz Grillparzers Armem Spielmann kommt dem Erzähler „wieder die Lust auf das Eine in Allem“, und er notiert im Anschluss: „Ich wußte ja: Der Zusammenhang ist möglich. Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur freiphantasieren.“21 Diese beiden Sätze stellen ein (nahezu) wörtliches Selbstzitat dar, und zwar aus Langsame Heimkehr (1979). Handke beschreibt dort, wie sein Protagonist Valentin Sorger eine selbst angefertigte Landschaftszeichnung betrachtet, die unvermittelt eine menschliche Maske darzustellen scheint. Sorger kommentiert: „‚Der Zusammenhang ist möglich‘, schrieb er unter die Zeichnung. ‚Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung: ich muß sie nur frei phantasieren.‘“22 Abgesehen vom Austausch des Doppelpunkts durch ein Semikolon findet sich die Passage wortgleich in beiden Texten. Die Verdoppelung der Sätze zeigt zunächst, dass das Thema der Beziehung zwischen Subjekt, Kunst und Welt in beiden Texten Handkes ähnlich
20 Vgl. Martin Meyer, „Heimkehr ins Sein. Peter Handkes Langsame Heimkehr und Die Lehre der Sainte-Victoire“, in: Raimund Fellinger (Hg.), Peter Handke, Frankfurt am Main 1985, S. 252–275. 21 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire [1980], Frankfurt am Main 1984, S. 78f. 22 Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 112f.
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aufgelöst wird: Sowohl in Langsame Heimkehr als auch in Die Lehre der SainteVictoire erwirbt das Ich erst durch künstlerisches Handeln eine gelingende Beziehung zur Welt und Umwelt. Diese ist, nicht ohne Anklang an Schillers Reflexionen über das Spiel, das Produkt einer freien Imagination („freiphantasieren“). Der Zusammenhang – eine zentrale poetologische Vokabel Handkes –, der von der künstlerischen Imagination ermöglicht ist, erweist sich so zumindest für den Leser, der beide Texte nebeneinander liest, nicht nur als eine Verbindung zwischen der schöpferischen Kraft der Phantasie einerseits und der ‚Welt‘ andererseits, sondern auch zwischen den Texten Handkes. Darauf verweist auch die (scheinbar) geringfügige Abweichung zwischen den Texten, die darin besteht, dass die poetologische Reflexion über den Zusammenhang in Langsame Heimkehr in Anführungszeichen gerückt ist, d.h. von vornherein Zitatcharakter erhält (wenn auch innerfiktional dadurch motiviert, dass eine Notiz des Protagonisten zitiert wird). Aus dem Lebenszusammenhang wird in dieser Perspektive primär ein Textzusammenhang, was einen ironischen Widerspruch zur vermeintlich klaren Aussage der Passage darstellt, denn so „unmittelbar“ wie behauptet kann die Verbindung nun offenkundig nicht mehr sein. Das „Freiphantasieren“ der Imagination geschieht bei Handke nicht, wie von Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ beschrieben, als ein Spiel der Einbildungskraft zwischen empirischem „Stoff“ und idealistischer „Form“ (im Sinne der Vermögenslehre des 18. Jahrhunderts: Schillers Kategorien greifen zurück auf Kants Beschreibung des ästhetischen Spiels der Einbildungskraft zwischen Verstand und Vernunft).24 Handkes „Freiphantasieren“ funktioniert mehr als eine (fiktionale) Transkription eines „mythischen Buchs“ in das eigene Schreiben;25 mit
23 Vgl. Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1993, Bd. 5, S. 570–669, hier S. 615: „Die Schönheit, als Konsummation seiner Menschheit, kann also weder bloßes Leben sein, wie von scharfsinnigen Beobachtern, die sich zu genau an die Zeugnisse der Erfahrung hielten, behauptet worden ist, und wozu der Geschmack der Zeit sie herabziehen möchte; noch kann sie ausschließlich bloße Gestalt sein, wie von spekulativen Weltweisen, die sich zu weit von der Erfahrung entfernten, und von philosophierenden Künstlern, die sich in Erkältung derselben allzusehr durch das Bedürfnis der Kunst leiten ließen, geurteilt worden ist: sie ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt, des Spieltriebs.“ 24 Vgl. Gilles Deleuze, Kants kritische Philosophie, übers. von Mira Köller, Berlin 1990, S. 105. 25 Vgl. Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 236: „Das Übertragen ist ja auch ein sehr wichtiger Vorgang, auch so etwas wie eine Distanzschaffung
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anderen Worten: als ein literarisches Spiel des eigenen Texts mit der Bibliothek aller Prätexte, des gesamten Kosmos der intertextuellen Referenzen und Anspielungsräume. Das Wissen über diesen intertextuellen Raum nennt Handke in einer Notiz in Die Geschichte des Bleistifts das „Klassische“: Und Klassik hieße nicht: ich schöpfe aus der Tradition; sondern: ganz und gar, ausschließlich, aus mir, aus meinem klarsten Kopf und heißesten Herzen, aus meinem für sich den Anfang beanspruchenden Leben, und jeder meiner Sätze weiß dann doch, daß er aus einer dreitausend Jahre alten Tradition kommt und keinmal so tun darf, als käme er nur aus meinem Jahrhundert und meinem Milieu.26
Wie Jorge Luis Borges in seiner Geschichte „Pierre Menard, Autor des Quijote“ unabweisbar vorgeführt hat, bringt Menards Unternehmen, Cervantes’ Don Quijote „Wort für Wort und Zeile für Zeile“27 neu zu schreiben, eine radikal neue Version dieses Textes hervor. Indem Menards Don Quijote zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein anderer Text als derjenige von Cervantes ist – auch wenn seine Version wortwörtlich den gesamten Roman zitiert –, verweist Borges’ Erzählung auf die notwendige historische Verortung und Kontextualisierung jedes literarischen Textes.28 Demzufolge stellen Zitat (gleich ob Fremd- oder Selbstzitat) und Neu-Erfindung keinen zwingenden logischen Gegensatz mehr dar:29 Auch die wortwörtliche Wiederholung des Gleichen formuliert – in neuem Kontext – etwas Neues. Die Zitation rückt dabei zugleich das Zitierte – also das ‚Original‘ – in einen neuen Kontext und verändert es dadurch, indem sie es für neue Bedeutungen öffnet: Es handelt sich um eine ‚reziproke‘ Textbeziehung.30 Das Beispiel des
im Schreiben, so wie die Vorstellung, daß da ein mythisches Buch zwischen meinem Auge, meinem sogenannten Auge, und dem leeren Papier sich befindet.“ 26 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982, S. 182 (Herv. i.O.). Zu Handkes Idee des Klassischen vgl. Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Berlin 2013. 27 Jorge Luis Borges, „Pierre Menard, Autor des Quijote“, in: ders., Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939–1944, übers. von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, Frankfurt am Main 1992, S. 35–45, hier S. 39. 28 Vgl. Adam Thirlwell, The Delighted States. A Book of Novels, Romances & Their Unknown Translators, Containing Ten Languages, Set on Four Continents, & Accompanied by Maps, Portraits, Squiggles, Illustrations, & a Variety of Helpful Indexes, New York 2007, S. 81. 29 Vgl. Reck, „‚Ein Gedanke ist doch nicht die kürzeste Verbindung‘“, S. 34. 30 Vgl. Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt am Main 1990, S. 20.
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Satzes aus Handkes Langsame Heimkehr und der Lehre der Sainte-Victoire – der durch die Erkenntnis der Sätze als Zitat nicht mehr auf einen Lebens-, sondern auf einen Textzusammenhang verweist – zeigt, dass das Selbstzitat gewissermaßen das zitierte Selbst des Textes verändert. Es gibt demnach, streng besehen, kein Selbstzitat, insofern das Zitieren das Selbst alteriert. Weit davon entfernt, lediglich eine narzisstische Selbstbespiegelung zu sein, bewirkt das Selbstzitat auch eine Reflexion über die Natur dieses Selbst – mithin über die Einheit eines ‚Werks‘.
Auto-Intertextualität im weiteren Sinn spielt ab ca. Mitte der 1990er Jahre eine zunehmend wichtige Rolle in Handkes Werk. Dies geschieht in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen. Charakteristisch etwa ist die Herausbildung bestimmter Motive und Handlungselemente, die in zahlreichen Texten immer wieder aufgegriffen werden und somit zu einem wiedererkennbaren Stil des Autors beitragen. Eine typische Szene in Handkes Erzählungen stellt beispielsweise die Erfahrung der Epiphanie der Schrift dar. Die Idee findet sich bereits in den Gesprächen Handkes mit Herbert Gamper: Ich hab mir oft gedacht […], hier würd eine Filmkamera stehen und mir zuschauen beim Schreiben, so acht Stunden, und das wär ein ganz spannender Film […] Ich hab manchmal so eine Zwangsvorstellung fast gehabt mit jedem Buchstaben, daß der ganz riesig auf einer Filmleinwand steht zugleich. […] Es war richtig monumental, es war wie so ein Bibelfilm.31
Die Referenz auf das Genre des Bibelfilms eröffnet zwei Deutungsmöglichkeiten. Naheliegend ist einerseits, an den ausführlichen Gebrauch von Schrifttafeln im frühen Monumentalfilm zu denken. Somit ließe sich der Hinweis auf das anachronistisch anmutende Filmgenre – mit Klassikern wie The Ten Commandments (1956) oder Ben Hur (1959) – als ein selbstironischer Hinweis des Autors verstehen, der gewissermaßen seine eigene Filmphantasie als altmodisch beschreibt. Andererseits ergibt sich, insofern die Schrifttafeln im Bibelfilm immer auch Assoziationen zu den mosaischen Gesetzestafeln erlauben, eine Sakralisierung von Schrift:32 Das Wort des Schriftstellers, monumental auf die Leinwand gebannt, kann sofort als Analogie zum mächtigen Befehl eines Autor-Gottes verstanden
31 Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 62f. 32 Zu Handkes Sakralisierung der Schrift vgl. Lore Knapp, Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief, München 2015, S. 57–154.
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werden. Die Phantasie der filmisch erscheinenden Schrift ist so lesbar als ironischer Eigenkommentar und zugleich als Autorenphantasie. Die plötzlich erkennbar werdende Schrift ist entsprechend ein zentrales Phantasma der Poetologie Handkes. „Wenn ich ganz ruhig versunken bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Schrift (besser: ewiger stiller Ruhe); wenn ich ganz ruhig aufmerksam bin, nehme ich wahr eine Art ewiger Bilderfolge: das bewußte Schreiben aber hieße, das beides in eines geschieht: RIDET ACANTHUS (Vergil)“,33 heißt es im Journal. Im Gespräch mit Herbert Gamper führt Handke aus: Ja es ist scheints bei mir so eine Vorstellung, es gebe halt schon das Buch, oder das Werk, oder das Stück. Und dieses Stück, in dem ich jetzt ausdrücklich es schreibe […], dient als eine Unterlage, so wie wenn Sie einen Stein vor sich haben, und da ist eine Inschrift, die aber nicht zu entziffern ist mit dem freien Auge. Da legen Sie ein Papier auf den Stein und versuchen, sagen wir mit dem Bleistift, zu schraffieren, und auf diese Weise tritt dann die Inschrift, also die Schrift, hervor. Das war auch die Grundbewegung dessen, was ich jetzt grad geschrieben hab, der Erzählung Die Wiederholung, daß ich gedacht hab, die ganze Bewegung des Schreibens […] ist so ein Schraffieren […]. 34
Handkes Poetik des Schraffierens setzt voraus, dass jede literarische Sprache immer schon im intertextuellen Resonanzraum der Tradition steht: Es ist eine Poetik der spielerischen Alteration sowie des Experimentierens, „bei dem unterschiedliche Lebensentwürfe wie Schreibmuster beständig hinterfragt werden“.35 Die physische Begegnung mit einer Schrift, die sich etwa plötzlich im Raum der Natur zeigt, ist das zentrale Element einer impliziten Poetologie, die dem Leser den experimentalen und spielerischen Charakter des Textes vorführt. Szenen, in denen Protagonisten sich plötzlich einer vor ihnen erscheinenden Schrift gegenübersehen, sind entsprechend nicht selten in Handkes narrativen Texten. In Die Wiederholung (1986) erkennt der Protagonist Filip Kobal inmitten der Natur Sloweniens eine lesbare Buchstabenfolge: In mich aufgenommen hatte ich die Einzelheiten des Tals auch zuvor, nun aber erschienen sie mir in ihrer Buchstäblichkeit, eine im nachhinein, mit dem grasrupfenden Pferd als dem Anfangsbuchstaben, sich aneinanderfügende Letternreihe, als Zusammenhang, Schrift.36
33 Handke, Die Geschichte des Bleistifts, S. 49f. 34 Handke/Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, S. 230. 35 Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 28. 36 Peter Handke, Die Wiederholung [1986], Frankfurt am Main 1992, S. 114.
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Die Schrift ist dabei, entsprechend der poetologischen Metapher des Schraffierens, niemals einfach zu lesen oder zu verstehen – sie entzieht sich dem unmittelbaren Begreifen und ist nur durch langsames mühsames Entziffern der Buchstaben mit Sinn zu erfüllen.37 „Kein Problem dagegen die fremde kyrillische Schrift“, heißt es in Eine winterliche Reise (1995): „daß ich sie, oft stockend, erst entziffern mußte, erschien für das Vorhaben gerade recht.“38 In Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) sieht der Erzähler „[v]on dem Fenster aus, an dem ich sitze, […] jeden Morgen die Erzählung, und wie sie im großen weitergehen sollte“.39 Deutlich später erkennt er beim Herausgehen in seinen Garten, „bei meinem tiefsten Atem“: „Die Schrift, oder die Bereitschaft zur Schriftlichkeit.“ (NB 1021) In Die Obstdiebin (2017) sieht die Titelheldin mit geschlossenen Augen, also gewissermaßen dank ihrer Einbildungskraft, Schrift vor sich erscheinen: Was sich jetzt zeigte, das war nichts Übersehenes. Es war etwas, das sie nie und nimmer, unter keinen Umständen, übersehen hätte: eine Schrift. […] [W]as da jetzt flimmerte und funzelte auf dem Bildschirm hinter ihren Lidern, das war eine Handschrift mit verbundenen, lückenlos an- und ineinander geschlungenen Buchstaben […]. 40
Die in der Natur erscheinende Schrift changiert zwischen der Sakralisierung der Natur und dem epiphanischen Erscheinen poetischer Eingebung. Das Bild der Schrift spielt so einerseits auf die romantische Metapher des „Buchs der Natur“ an und kann andererseits als ein Symbol für literarische Inspiration gelesen werden. Die Metapher bildet so eine genuine Stelle der Metatextualität in Handkes Texten, d.h. der literarischen Selbstreflexion. So unterschiedlich diese Epiphanien der Schrift in den jeweiligen narrativen Zusammenhängen funktionieren, zeigen
37 Vgl. Alexander Huber, Versuch einer Ankunft. Peter Handkes Ästhetik der Differenz, Würzburg 2005, S. 197: „Die Schrift ist ein Chiffre für das Unentdeckte, Geheimnisvolle, das der Phänomenologie durch seine Entzifferung zum Vorschein bringen soll; der Sinn des Buchstäblichen bleibt im Dunkeln.“ 38 Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt am Main 1998, S. 40. 39 Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, Frankfurt am Main 1994, S. 228. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle NB.) 40 Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, S. 236f. 41 Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981.
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sich doch zugleich entscheidende Gemeinsamkeiten, die diese Passagen als AutoZitation im weiteren Sinne erkennbar werden lassen. Eine andere Form der Auto-Intertextualität im weiteren Sinne stellen Fortschreibungen wie auch Kommentare eigener Texte dar, die in Handkes späteren Erzählungen immer zentraler werden. In mehreren Romanen treten etwa Figuren auf, die schon in früheren Texten als Protagonisten in Erscheinung getreten waren: Der Ich-Erzähler in Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) ist Gregor Keuschnig, der Protagonist aus Die Stunde der wahren Empfindung (1975). Als Keuschnigs „Landsmann, im Schreiben und auch im Leben“ (NB 153) und als sein „Kumpan“ (NB 160) tritt im gleichen Roman Filip Kobal auf, der Ich-Erzähler aus Die Wiederholung. Keuschnig schreibt, er habe sich Kobal als seinen „Nachfolger im Schreiben“ (NB 146) vorgestellt, als einen Autor mit einer gemeinsamen Agenda, aber dieser habe ihn nun – wohl aufgrund von Keuschnigs „Verlassen meiner Ursprungsgegend“ durch den Umzug in das Umland von Paris – „abgeschrieben“ (NB 149). In Die morawische Nacht (2008) spielt Handke erneut auf Protagonisten früherer Werke an: Der namenlose „Ex-Autor“42 bzw. „abgedankte Schreiber“ (MN 132) plant hier eine Reise in seine Heimat nach Kärnten, wo er „seine[] früheren Kollegen Gregor Keuschnig und Filip Kobal“ besuchen möchte, „die, im Gegensatz zu ihm, dem Schreiben wie der Autorschaft noch immer nicht abgeschworen hatten“ (MN 43). Die auto-intertextuellen Referenzen in Handkes Texten sind so systematisch mit dem Thema des Schreibens verknüpft. Dadurch wird die Tätigkeit des jeweiligen Protagonisten als Autor hervorgehoben, gleichzeitig dazu aber auch die Möglichkeit akzentuiert, den Protagonisten als ein alter ego des Autors Peter Handke zu interpretieren. In Mein Jahr in der Niemandsbucht wird die Nähe Gregor Keuschnigs zum Autor Peter Handke unterstrichen durch die spielerisch in den Text eingestreuten Titel seiner fiktiven Werke, die reale Buchtitel Handkes („Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ (NB 406)) ebenso wie fiktionale Titel („Rundreise eines Schriftstellers“ (NB 139), „Halbschlaferzählung“ (NB 120), „Die schimärische Welt“ (NB 388), „Versuch über die Nachbarschaft“ (NB 421)) umfasst. Hier geschieht eine umfassende Mythisierung des eigenen Werks und der eigenen Autorschaft. Der erneute Auftritt von Romangestalten aus früheren Texten in neueren Werken ist ein literarischer Effekt, der einige Tradition besitzt. Die Romane Balzacs etwa kennzeichnet die Technik, verschiedene Figuren immer wieder aufs Neue auftreten zu lassen. Diese Technik Balzacs, der seine Romane unter dem Gesamttitel Comédie Humaine entworfen hat, kann als Versuch der Konstruktion einer
42 Peter Handke, Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt am Main 2008, S. 76. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle MN.)
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geradezu systematischen Einheit und Geschlossenheit interpretiert werden.43 Auch wenn Handke in Mein Jahr in der Niemandsbucht an einer Stelle von seiner „Menschliche[n] Komödie aus dem Österreich jener Jahre, frei nach Balzac und Doderer“ (NB 104) spricht, kann doch in seinen Texten von der systematischen Geschlossenheit der Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts (oder auch dem Versuch, diese zu erreichen) keine Rede sein. In Handkes Romanen zielt das Wiederauftreten von Charakteren aus früheren Texten nicht auf eine systematische Geschlossenheit eines „Werks“, sondern immer auf die spielerische Möglichkeit der Identifikation der Figuren mit dem Autor Handke und seinen Werken: Protagonisten wie Gregor Keuschnig oder Filip Kobal sind nicht nur literarische Charaktere, sondern sie repräsentieren immer auch personae der Autorenfigur Peter Handke. Dies wird in den Texten jeweils durch biographische Detailfragmente – man könnte mit einem Wort Roland Barthes’ von „Biographemen“ sprechen – markiert, die eine Verbindung zwischen der Geschichte dieser Charaktere und dem Leben des Autors Peter Handke etablieren. So erfahren wir über den „ExAutor“ in Die morawische Nacht, dass er seinen ersten Roman auf einer Insel in der Adria geschrieben hat – wie Handke seinen Biographen zufolge Die Hornissen im Sommer 1964 auf der Insel Krk geschrieben haben soll. Der Text lädt so zur Identifikation von Figur und Autor ein – und trotzdem bleibt die literarische Figur zugleich ausdrücklich fiktional und vom Autor getrennt. Auch das Spielen Handkes mit Elementen aus seiner Biographie – die die Auto-Intertextualität im weiteren Sinn charakterisiert – produziert weitaus mehr als nur narzisstische Ich-Bezogenheit. Im Gegenteil: Dieses Spiel fiktionalisiert auch den Autor Handke – in einen Zwilling seiner literarischen personae, die als seine Parodien durch seine Texte geistern.
43 Vgl. Ernst Robert Curtius, „Wiederbegegnung mit Balzac“, in: ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt am Main 1984, S. 95–119, hier S. 103.
A LEXANDER H ONOLD
Eine „Einfache Fahrt ins Landesinnere“, fast wie bei einem Fahrkartenaufdruck, verspricht der Untertitel von Peter Handkes jüngstem Roman Die Obstdiebin, im November 2017 vor dem 75. Geburtstag des Autors erschienen.1 Die Dramaturgie des Buches wird, wie schon in früheren Werken Handkes, bestimmt durch das Grundmuster eines spontanen Aufbruchs nebst anschließender Fahrt und Wanderschaft ins Unbekannte. In der neuen Geschichte tritt eine jugendliche Protagonistin in Frankreich zur Reise in die Picardie an, doch gehört sie trotz ihres Debüts, wie sich zeigen wird, schon länger zur Familie der Handke-Figuren. Ein Autor, der in den vergangenen fünfzig Jahren an die hundert Bücher mit Romanen, Erzählungen, Reiseaufzeichnungen, Theaterstücken und Essays veröffentlicht hat, kommt wohl gar nicht umhin, sich in vorgerückter Werkphase gelegentlich zu wiederholen. Und darf dies natürlich auch, schließlich nimmt die Leserschaft ihrerseits jede neue Lieferung aus diesem Erzählkosmos vor allem als Einzelwerk wahr, als einen Text, der für sich selbst stehen und die gegenwärtige Lektüre lohnen muss. Bei Peter Handke aber steht es so, dass dieser Schriftsteller schon seit zwei bis drei Jahrzehnten an einem umfassenden Projekt der ‚Selbst-Vernetzung‘ schreibt, bei dem die peu à peu hinzukommenden Bücher, Figuren und Motive immer rekursiver werden und sich allmählich zu so etwas wie einer Werkfamilie fügen. Schon in der umfangreichen Pariser Erzählchronik Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) hatte Handke eine Reihe von früheren literarischen Figuren
1
Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle OD.)
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wieder aufmarschieren lassen,2 allen voran den ehemaligen österreichischen Kulturreferenten Gregor Keuschnig aus Die Stunde der wahren Empfindung (1975), dem dann, zwei Jahrzehnte später, sogar einige der inzwischen veröffentlichten Bücher Handkes zugeschrieben wurden – und manche bis dahin ungeschriebene obendrein noch dazu. Auch jene erschütternde Schreibkrise, in die Handke Ende der siebziger Jahre geraten war, als er die Gestalt des Alaska-Geologen Valentin Sorger durch die zäh voranschreitende Erzählung Langsame Heimkehr (1979) zu führen hatte,3 kehrt in der Niemandsbucht als traumatische Reminiszenz wieder; das damalige Arbeitstief und die hämischen Kritiker-Reaktionen hatten beim Schreibenden offenbar eine tiefe und fortwährende Kerbung hinterlassen. Mit Die Obstdiebin nun, einer trotz respektablen Umfangs locker erzählten Prosa-Etüde, greift der Autor ein weiteres Mal auf die geographische Konstellation seines Wohnsitzes im westlichen Umland von Paris zurück, um von hier aus eine Reise in die Picardie anzuschließen, und er steigert dabei nochmals die zuvor eingeübte Technik des verfremdenden Selbstzitats, nicht zuletzt mithilfe einer Verjüngung ins Weibliche. In dem Roman Der Bildverlust (2003) war eine geschäftlich erfolgreiche Bankfrau in einfachster Reisemanier durch die Sierra de Gredos unterwegs gewesen;4 jetzt wird die dort schon am Rande erwähnte Tochter der früheren Hauptfigur, als „Obstdiebin“ ausdrücklich fremde Früchte erntend, zu einer eigenen Geschichte weiterentwickelt (vgl. OD 61). Eine „Werkpolitik“5 im Stile kanonischer Klassiker betreiben Handkes Reprisen früherer Stoffe und Texte allerdings nur bedingt, da sie die Felder des eigenen Œuvres mit jeder Wiederverwendung auch aufs Neue wieder umpflügen und abändern – so lange, bis Vertrautes und Irritierendes sich in der Lektüre eigentümlich die Waage halten.6
2
Vgl. Raimund Fellinger, „‚Schreiben. Sich zur Ruhe setzen‘. Die Entstehung von Mein Jahr in der Niemandsbucht“, in: Klaus Kastberger (Hg.), Peter Handke. Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift, Wien 2009, S. 133–142.
3
Hans Höller, Peter Handke, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 86–90.
4
Alexander Honold, „Durch die Sierra de Gredos. Peter Handke, Der Bildverlust“, in: Andreas Erb/Christof Hamann (Hg.), …immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen. Bergübergänge (= die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 266 (2017)), S. 216–220.
5
Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York 2007.
6
„In ähnlicher Weise hatte mich ja auch seither abgestoßen jeder meiner Blicke auf das, was gemeinhin ‚Werk‘ hieß, wenigstens auf das sogenannt ‚meine‘.“ (OD 31)
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Die Geschichte beginnt diesmal mit einem Aufbruch mitten im Hochsommer, ausgelöst durch einen veritablen „Bienenstich“. Eine Insekten-Attacke, die sich der Erzähler dieser Geschichte beim Barfußgehen im Garten zugezogen hat, ermahnt den müßigen Autor zum erneuten Reisen und Schreiben: „Reiß dich los von Garten und Gegend“ (OD 12), spornt der pikante Bienenstachel das schreibende Ich dieser Geschichte an. Der Erzähler nimmt’s als ein heiteres Startsignal, ergreift seine Mission indes ohne übertriebene Euphorie. Im Grunde könnte jedes beliebige Datum zu einem solchen „Stich-Tag“ und Ausgangspunkt eines chronikalischen Schreibvorhabens werden, sobald ihm nur die nötige intensive Aufmerksamkeit zuteilwürde. Auf spektakuläre Handlungselemente und dramaturgische Spannungskurven verzichtet Handke schon geraume Zeit, um stattdessen mit enormer sprachlicher Akribie die Betriebsgeräusche des Erzählens und der Arbeit am Text in den Vordergrund zu rücken. Wie auf einer Papierschraffur sollen sich in der Schrift schlichtweg die Reliefspuren der Landschaften und der wechselnden Tages- wie Jahreszeiten durchdrücken, möglichst ohne gekünsteltes Hinzutun einer erfundenen Geschichte. Der neue Roman hält sich denn auch nicht sehr lange mit dem eingangs das Wort führenden Icherzähler auf, in dem unschwer ein weiteres Alter Ego des Schriftstellers Peter Handke zu erkennen ist. Protagonistin des Geschehens ist die im Titel bereits angesprochene Obstdiebin, eine junge Frau, fast mädchenhaft noch, die in drei Hochsommertagen überwiegend zu Fuß die ländlichen Gegenden der Picardie durchstreift, um dort ihren Bruder und ihre Eltern zu einem von der Mutter eingefädelten Familienfest zu treffen. Nicht ganz unverfänglich erweist sich der Umstand, dass besagter Bruder, eine Randfigur des Geschehens, auf den Namen „Wolfram“ hört. Die „Picardie“ wiederum spielt zunächst und vor allem die Rolle einer poetischen Namensfantasie, hinter der sich allerlei Ritterliches, eine geheimnisvolle Motivwelt voller Mittelalter-Romantik,7 zu verbergen scheint. Handke bewegt seine Figuren hier durch alte Stammlande des „Romans“ überhaupt, mit Bedacht lässt er dieses französische Abenteuer von der höfischen Erzählkultur des Hochmittelalters durchwehen. Vom Auftakt an schmiedet Handke in diesem Buch ein Erzählbündnis mit dem Parzival-Dichter Wolfram von Eschenbach, der die höfischen Romanhelden Chretien de Troyes in deutsche Versgebilde gebracht hatte. „Man gesach den liehten summer / in sô maniger varwe nie“ (OD 7), zitiert Handke die Verse Wolframs, eine Verlockung ins Leben und Reisen, die eleganter kaum zu formu-
7
Zu mittelalterlichen Sinnbezügen im Werk Handkes und einer daraus sich ableitenden „romanischen“ Erzählpoetik vgl. Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, bes. S. 149–188.
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lieren wäre. Und ähnlich, wie die Geschichten Wolframs von Eschenbach zwar „allesamt in Frankreich spielen“, doch „Vers um Vers und Reim auf Reim deutsch geschrieben sind“ (OD 525), sieht sich auch der gegenwärtige Schriftsteller in einer vermittelnden Position zwischen zwei Kulturen. Dem schreibenden Ich, „mir, dem Deutschschreibenden in der französischen Niemandsbucht“ (ebd.), scheint eine zu Wolframs Erzählhaltung komplementäre Form der Exzentrik anzuhaften. Denn so, wie Chretien und sein Nachdichter Wolfram mit den Heldengeschichten der sagenhaften Artusrunde einen ‚englischen‘ Erzählkreis fortschreiben (nämlich die Stoffe der sogenannten matière de Bretagne), begibt sich Handke nun seinerseits weit in die Kulissenwelt einer französischen Provinzlandschaft hinein. Einmal mehr leiht der Schriftsteller dabei einem betont bodenständigen Erzähltempo die Stimme, neigt zu breit ausgreifenden, den Handlungsgang retardierenden Landschaftsbeschreibungen. Die Reise der Protagonistin führt zunächst an den Flussläufen von Oise und Viosne entlang. Vorbei an Ortschaften mit so wohltönenden Namen wie Courdimanche, die etwas „Chevaleresques“ atmen (OD 143), geht es weiter zur Ville Nouvelle von Cergy-Pontoise, einer Retortensiedlung, die ohne Kern und Struktur im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet wurde. Ein garstig ernüchternder Gegenakzent zu den allzu naiven aventiure-Erwartungen? Von elitärem Sozialdünkel sind diese Streifzüge durch einen mit Verkehrsschneisen und baulicher Monotonie belasteten Siedlungsraum allerdings gänzlich frei. Inmitten der architektonischen Tristesse macht die junge Frau einen Kirchturm aus, dessen metallenes Ziffernblatt wie die Gondelspeichen eines Riesenrads über die Dächer ragt, Sinnzeichen einer stehenden Fülle der Zeit. Und ausgerechnet hier, im längst welk gewordenen Euphemismus der „Ville Nouvelle“, gewinnt die bis dahin aquarellblasse Geschichte der Obstdiebin an Lebendigkeit und Dramatik; lernt sie doch an der Durchgangsstraße zufällig einen fahrenden Pizzaboten kennen, einen arabischstämmigen jungen Mann. Für einen Tag und eine Nacht durchstreifen die beiden gemeinsam die Gegend, erkunden ausfransende Siedlungsränder und eine straßengesäumte Flusslandschaft. Die aufkeimenden Liebesgefühle des Mädchens aber scheinen den dunklen Begleiter kaum zu erreichen, weil in ihm längst eine suizidale Verzweiflung brodelt. Selbst wenn es in diesem Falle nicht zum Äußersten kommt: Auch dieser sozial marginalisierte Fahrer eines Pizza-Scooters könnte ein potentieller Selbstmordattentäter sein. Das ganze Jahr hindurch, in dem diese Sommergeschichte spielt, war Frankreich von einer Serie unfasslicher Gewalttaten erschüttert. Handke kann mit dem kurzzeitig aufflackernden Motiv der Gewalt keine Erklärung oder Interpretationshilfe für das Unfassliche leisten; aber gerade darin
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zeigt sich Die Obstdiebin, bei aller picardischen Entrückung, doch als ein Werk unmittelbarer Zeitgenossenschaft. Überhaupt wird man Peter Handke, wie sich vom Spätwerk aus mit verblüffender Deutlichkeit zeigt, als einen politischen Schriftsteller wider Willen bezeichnen können. Aufgewachsen in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und schon als Kleinkind latent durch die Eindrücke von Fliegerbomben und Fluchtstrapazen traumatisiert,8 in seiner Südkärntner Herkunftswelt lange zwischen deutschem Stiefvater und slowenischem Familienzweig eingespannt, wurde Handke zu einem Schwellenbewohner par excellence, den die Sehnsucht des Aufbruchs und der Wunsch nach Zugehörigkeit gleichermaßen bestimmten. Ein Leben zwischen der doppelten Unmöglichkeit von Heimat und Vagabundentum, nur im virtuellen Raum des Schreibens ganz bei sich selbst. Das mag auch die irritierende Beharrlichkeit seiner Jugoslawien-Leidenschaft erklären, in der sich eine gewisse Habsburg-Nostalgie mit der politischen Sympathie für das südliche Nachbarland vermischten. Dem Kursus der romanischen aventiure folgend, war der Blick dieses sensiblen Landschaftsgängers nur vermeintlich dem Weltgeschehen abgewandt; tatsächlich erwies sich dies Erzählkonzept in mancherlei Aspekten als besonders scharfsichtig, etwa wenn Handke in dem Roman Der Bildverlust schon vor fünfzehn Jahren ein von Kriegsmigration erschüttertes Südeuropa beschrieb. Vom öffentlichen Diskurs kaum bemerkt, hatten Handkes literarische Wanderschaften lange schon gerade diejenigen Gegenden mit geschärfter Aufmerksamkeit durchstreift, wo Flüchtlinge in Notquartieren hausten und Schutzsuchende mit Militärgewalt abgewehrt wurden,9 die sich deshalb in abgelegenen Bergdörfern eine neue Zuflucht aufzubauen versuchten. Und obwohl der Autor sich gegen die Forderungen einer politisch engagierten Literatur immer verwahrt hatte, liefern seine großen Landschaftserzählungen des Spätwerks geradezu Musterbeispiele eines ökologischen Schreibens, bei dem die analoge Erfahrbarkeit der Landschaft gegen ihre digitale Zergliederung wieder die Oberhand gewinnt. Im Lichte des jüngsten Wurfes wird man sogar Peter Handkes Technik der fortlaufenden Selbstzitate10 nicht mehr so sehr als altersstolze Klassiker-Attitüde bekritteln mögen, sondern darin so etwas wie die bäuerliche Geste einer nachhaltigen literarischen Motivbewirtschaftung erkennen können. Denn tatsächlich ist keines von Handkes Büchern so durchdrungen von erzählerischen Reprisen wie das aktuelle Prosawerk über die „Obstdiebin“. Für eingefleischte Handke-
8
Höller, Peter Handke, S. 7–15.
9
Christian Luckscheiter, Ortsschriften Peter Handkes, Berlin 2012, S. 26.
10 Vgl. hierzu den Aufsatz von Oliver Kohns in diesem Band.
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Kenner tummeln sich hier déjà-vu-Effekte ohne Ende. Ob es nun um eine Wiederbegegnung mit dem „Namenlosen Weiher“ (OD 32) aus der Niemandsbucht,11 um die schon in der Lehre der Sainte-Victoire entwickelte Ästhetik des Mittelgrundes (OD 293) oder um die bei einer Spanien-Wanderung beschriebenen Wölbungen des Asphalts (OD 52) geht – jedes dieser Gestaltungselemente ist ein Wiederholungszeichen, Index seiner selbst und zugleich der Erinnerungsspur, die damit durch das Werk gelegt wird. Nie zuvor hat Handke die strukturbildenden Grundelemente seiner Poetik so sehr zum Thema gemacht, wie er es nun für die fructane Kost seiner Obstdiebin geschehen lässt. Und wenn die junge Frau in aufgesetzter Demut ausdrücklich auf den Spuren der Legende vom heiligen Alexius wandelt (OD 109, 426), welcher einst nach der Rückkehr aus der Fremde unerkannt unter der Stiege des eigenen Hauses verharrte, so rückt sie damit insgeheim zur neuen Galionsfigur des Gesamtwerkes auf und seiner bislang ebenfalls verkannt gebliebenen Tiefenlinien. Ein ähnliches Revival erleben die „Hornissen“ (OD 521) des Debütromans, das „Yellow Ribbon“ (OD 543) aus dem frühen Amerikabuch oder die Flusslandschaft des Yukon River (OD 525) – Talisman-artige Lebensthemen auch sie, die nun als werkbiographische Echos wieder auftreten. Im Stile einer Vermächtnis-Melodie ruft Peter Handke im neuen Buch die einst vom Lektorat getilgte Verszeile eines an den Dichterfreund Nicolas Born gerichteten Widmungspoems nochmals auf, „Nie wieder will ich Masken sehen!“ (OD 104)12 Er platziert damit einen Kassiber, nur für diejenigen zu entschlüsseln, welche mit dem mühevollen Entstehen des Krisentextes Langsame Heimkehr vertraut sind, nämlich als Epitaph auf jegliches in einem Autorenleben Gestrichene, Weggekürzte und unter den Tisch Gefallene. Besonders anrührend aber liest sich eine Episode, in der ein Lodenumhang mit seiner österreichischen Bezeichnung als „Wetterfleck“ erwähnt wird (OD 132). Da von Thomas Bernhard eine in mehreren Textstufen erhaltene Geschichte gleichen Titels existiert, darf man die auffällige Erwähnung der Vokabel als ein spätes, halbpostumes Versöhnungsangebot an den zu Salzburger Zeiten neidvoll befehdeten Kollegen13 verstehen – ein verschmitzter, milde gestimmter Gruß des Meisters von Chaville.
11 Vgl. Alexander Honold, Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften, Stuttgart 2017, S. 399–415. 12 Ines Barner, „Nie wieder will ich Masken sehen“. Zur Entstehung von Peter Handkes Erzählung Langsame Heimkehr (1979)“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 355–385. 13 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 274–292.
%%& O LIVER C. S PECK
Nach der Oberhausener Uraufführung von Peter Handkes Skandalerfolg Publikumsbeschimpfung (1966) drückt der Gymnasiast Wim Wenders dem nur wenige Jahre älteren Autor seine Bewunderung aus, formuliert aber auch unverblümte Kritik. Zwei Jahre später begegnen sich die beiden in Düsseldorf, es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...1 Wie viele junge Menschen ihrer Generation sind der 1942 geborene Österreicher und der Deutsche – gerade drei Monate nach der „Stunde Null“ auf die Welt gekommen – von Amerika fasziniert. Dabei handelt es sich freilich keineswegs um unreflektierte Bewunderung. In Handkes Prosatexten wie auch in Wenders’ Filmen verweist „Amerika“ nicht auf die real existierenden USA, sondern ist immer schon ein Ort der Projektion.2 Der Süden der
1
So erzählt es jedenfalls Wim Wenders (Marcel Wehn, Von einem der auszog – Wim Wenders’ frühe Jahre (Dokumentarfilm, Deutschland 2007; 96min). Handke erinnert sich dagegen an ein erstes Treffen nach der Uraufführung der Selbstbezichtigung (Peter Handke/Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006, S. 145). Zu Handkes anderen Freunden zählen der Verleger Hubert Burda, dem er in der Zeit überschwänglich zum Geburtstag gratulierte, und der Regisseur Luc Bondy, der Handkes Theaterstück Die schönen Tage von Aranjuez inszenierte, bevor es von Wenders verfilmt wurde; vgl. Peter Handke, „Mein reicher Freund. Hubert Burda zum 70. Geburtstag“, in: Die Zeit, 4. Februar 2010 und das Interview von Peter Kümmel, „Handke: Darf man das nicht sagen? Bondy: Nein!“, in: Die Zeit, 3. Mai 2012.
2
Vgl. hier das Kapitel „The Specular America of Peter Handke“ in: Gerd Gemünden, Framed Visions. Popular Culture, Americanization, and the Contemporary German and Austrian Imagination, Ann Arbor 1998, S. 133–157, hier besonders S. 138f.), wo
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Vereinigten Staaten enttäuscht den deutschen Journalisten in Wenders’ Alice in den Städten (1974) so sehr, dass er nicht mehr schreiben kann und stattdessen Polaroid-Fotos macht. Zwei Jahre zuvor hatte Handke, der ehemalige Jurastudent, in Der kurze Brief zum langen Abschied John Fords Film Young Mr. Lincoln (1939), der den Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Gesetz thematisiert, ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Ich-Erzähler im Kurzen Brief reist durch ein mythisches Land, sein Blick ist in höchstem Maße gebrochen, immer schon gefiltert durch Hollywoodfilme und die Lektüre von F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby und Gottfried Kellers Der grüne Heinrich.3 Wie Clemens Özelt erkennt, tritt Amerika bei Handke „als eine Quelle von Kulturprodukten auf, die einen Bruch sowohl mit der faschistisch imprägnierten Kultur aus Deutschland und Österreich als auch mit dem restaurativen Kitsch der Nachkriegsjahre erlauben.“4 Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zur postmodernen Kultur, die einerseits geradezu bedrohlich-imperialistisch, andererseits befreiend wirken kann, findet sich bei Wim Wenders, Rainer-Werner Fassbinder, Werner Herzog und Michael Haneke.5
Gemünden Handke und Wenders’ Wertschätzung der amerikanischen Populärkultur in Zusammenhang mit dem romantischen Konzept der Innerlichkeit bringt. 3
Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt am Main 1972, S. 135– 137. Vgl. hierzu Kurt Fickert, „The Myth of America in Peter Handke’s Der kurze Brief zum langen Abschied“, in: German Studies Review 21:1 (1998), S. 27–40, hier besonders S. 29–31. Handke selbst erklärte in den siebziger Jahren: „Amerika ist doch für die Geschichte nur ein Vorwand, der Versuch, eine distanzierte Welt zu finden, in der ich persönlich werden kann.“ (Zit. nach Jürgen Kleist, „Die Akzeptanz des Gegebenen. Zur Problematik des Künstlers in Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied“, in: Modern Austrian Literature 21:2 (1988), S. 94–104, hier S. 96. Vgl. auch Handkes Äußerung auf die Frage, warum er keine Romane mehr in Amerika ansiedle: „Es ist schon ein Problem, daß ein heutiger Epiker keinen Ort mehr hat, keinen konkreten geographischen, im Atlas zu findenden Ort, wo er seine Geschichte ansiedeln kann, daß er, wenn er in meiner Art, utopisch, notgedrungen oder freudegedrungen oder beides, schreiben möchte, das nicht mehr so kann, wie ich etwa das früher mit Amerika im ‚Kurzen Brief zum langen Abschied‘ noch konnte.“ (Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 54f.)
4
Clemens Özelt, Klangräume bei Peter Handke. Versuch einer polyperspektivischen
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Um nur einige Beispiele aus dem Oeuvre dieser etwa gleichaltrigen Regisseure zu nen-
Motivforschung, Wien 2012, S. 170. nen: Auch Zwerge haben klein angefangen (Werner Herzog, 1970), Der amerikanische Soldat (Rainer-Werner Fassbinder, 1970), Der amerikanische Freund (Wim Wenders, 1977) und Fraulein – Ein deutsches Melodram (Michael Haneke, 1986).
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Die legendäre Freundschaft zwischen Autor und Autorenfilmer führt zu einigen gemeinsamen Projekten. Hier ist Der Himmel über Berlin von 1987, Wenders’ größter Erfolg im In- und Ausland, sicherlich auch die Zusammenarbeit, der die meiste kritische Aufmerksamkeit zuteil wurde. Wenders führte die Regie bei der Verfilmung von Handkes Roman Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972) – es war seine erste offizielle Regiearbeit – und der Adaption von dessen Drehbuch Falsche Bewegung (1975), das bekanntlich auf Goethes Wilhelm Meister beruht. Die 2016 entstandene Verfilmung von Handkes Theaterstück Les beaux jours d’Aranjuez/Die schönen Tage von Aranjuez, von Wim Wenders in 3D gedreht, ist die bisher letzte gemeinsame Arbeit fürs Kino.6 Weniger bekannt ist der von Wenders produzierte Film Die linkshändige Frau (1978), für den Handke sein eigenes Drehbuch adaptierte und auch als Regisseur zeichnete.7 Obwohl der Film sehr persönlich erscheint, denn als Drehort dient Handkes damaliges Haus in einem Pariser Vorort, profitiert er ganz offensichtlich von Wenders’ erfahrenem Kameramann Robby Müller und dem bekannten Schnittmeister Peter Przygodda. Handke führte ebenfalls die Regie bei zwei Fernseharbeiten, für die er auch das jeweilige Drehbuch schrieb: Chronik der laufenden Ereignisse (1971), seine erste Regiearbeit überhaupt, und Das Mal des Todes (1985), eine Marguerite Duras-Verfilmung.8 Trotz der Mitwirkung zweier internationaler Stars, Jeanne Moreau und Bruno Ganz, fand Handkes 1992 entstandener Film L’absence/Die Abwesenheit kaum Beachtung bei Kritik und Publikum.9
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Wenders hat einige Stücke Handkes für das Theater inszeniert. Vgl. Peter Buchka, Au-
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Peter Handke schrieb das Drehbuch zu dem gleichnamigen Roman um, der dann früher
gen kann man nicht kaufen. Wim Wenders und seine Filme, München 1983, S. 28f. als der Film erschien. 8
Die Fernsehfilme sind leider nicht öffentlich zugänglich. Ich beschränke mich in meinem Beitrag daher auf Filme, die im Handel leicht erhältlich sind. Vgl. zu Handkes Fernsehfilmen Leopold Federmair, „Schock, Bruch, Finte. Handkes Beitrag zum Fortschritt des Bildersehens“, in: Handkeonline (7.4.2014), http://handkeonline.onb.ac.at/ forschung/pdf/federmair-2014.pdf (Stand: 10.1.2019) und Martin Brady/Joanne Leal, Wim Wenders and Peter Handke. Collaboration, Adaptation, Recomposition, Amsterdam 2011, S. 107.
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Während die drei Handke-Verfilmungen von Wim Wenders in sorgfältig restaurierten Blu-ray Editionen erschienen sind, ist Die Abwesenheit im Handel zurzeit nur in einer unsagbar schlechten DVD-Edition – augenscheinlich von einem Videoband kopiert – mit verwaschenen Farben und schlechtem Ton erhältlich.
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Kamera führte hier Agnes Godard, die dem berühmten Kameramann Henri Alekan bei Der Himmel über Berlin assistierte. Der Schnitt ist wieder von Peter Przygodda. Wim Wenders produzierte auch diese Regiearbeit seines Freundes.
Wim Wenders verfilmt Peter Handke, Handke verfilmt sich selbst mithilfe von Wenders. Hier die Texte des Vielschreibers, unendlich interpretierbar, jedes sicherlich ein „offenes Kunstwerk“ – dort der Autorenfilmer der ersten Stunde, der sein Handwerk beherrscht, er hat es schließlich, anders als der Großteil der deutschsprachigen Regisseure seiner Generation, auch studiert. Jeder Vergleich wäre vergeblich, er führt zur Verirrung auf wohlbekannten Wegen: Was wurde verändert, was weggelassen, was ist ‚werktreu‘, was ist ‚besser‘ etc.? Die Dialektik liegt ganz offensichtlich in der Natur der Sache, denn ein Film kann zwar Bewegung zeigen, aber die Schilderung der affektiven Innenwelt, wie im auktorialen Roman oder in der Ich-Erzählung üblich, kann nur mit eigentlich außerfilmischen Mitteln geschehen, hier meistens mit einem voice-over oder einer Texteinblendung – beides Stilmittel, die überaus künstlich wirken. Handke wiederum hat sich insbesondere in den Texten der siebziger Jahre einer Sprache bedient, die ständig von Bildern bedroht wird. Den schizophrenen Sprachzerfall des Torwarts Bloch übersetzt der Autor bekanntlich in Piktogramme.10 (Seit der Tetralogie der Langsamen Heimkehr zeichnet sich Handkes beschreibendes Erzählen der Welt allerdings durch erhöhte Bildhaftigkeit aus. Programmatisch heißt es im Journal Am Felsfenster morgens: „[…] und schriftstellerisch (künstlerisch) handelt, wer beim Schreiben (stetig) im Bild bleibt; anders wirst du zum (üblichen) Literaten“.11 Von der Forschung wurde die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Handke und Wenders zunächst nur isoliert betrachtet, im Hinblick auf das jeweilige Oeuvre dieser deutschsprachigen Künstlerpersönlichkeiten – wobei besonders die Wenders-Forschung Handke stets eine Nebenrolle zugewiesen hat.12 In den letzten anderthalb Jahrzehnten sind indes gleich vier Monographien erschienen, die sich unmittelbar mit zentralen Aspekten dieser Kooperation befassen. David N. Coury
10 Peter Handke, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frankfurt am Main 1970, S. 105. 11 Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/Wien 1998, S. 428. 12 Vgl. Kathe Geist, The Cinema of Wim Wenders: From Paris, France, to Paris, Texas, Ann Arbor, Mich. 1988, S. 48: „Wenders’ translation of Handke’s words into images is often brilliant.“
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widmet sich vor allem Fragen der Erzählhaltung bei Handke und Wenders und konstatiert, nach den Sprachexperimenten der Moderne, eine „Rückkehr“ zum Erzählen.13 Aspekte der Intermedialität stehen bei drei weiteren Arbeiten im Vordergrund. Simone Malaguti konzentriert sich auf Wenders als Leser Handkes, der sich direkt und indirekt von den literarischen Texten – oder „Prätexten“, wie Malaguti sie nennt14 – inspirieren lässt. Derweil zeichnen Martin Brady und Joanne Leal die wechselseitigen Einflüsse mit wünschenswerter Klarheit nach und zeigen in ihrer Studie, wie sehr Wenders und Handke voneinander lernen. Brady/Leal führen hier das Konzept der „Umkomponierung“ („recomposition“) ein, um die Diskussion um die schon oft untersuchten Unterschiede zwischen Vorlage und Verfilmung weiterzuführen.15 Und schließlich analysiert Werner Köster die zunehmende „Semantisierung“ in diesen Filmen, die, so der Autor, „Sinn“ und „Sinnlichkeit“ verschränken.16 Die Filme, für die Handke als Regisseur verantwortlich ist, finden in diesen Studien leider nur wenig Beachtung. Handkes Filme, so scheint es, sind zu spröde und gelten immer noch als Fingerübungen eines talentierten Schriftstellers. Allein Richard Brody erkennt, wie sehr Handke am Programm des Neuen Deutschen Kinos festhält, wenn er pointiert feststellt, dass Handke „Wenders überwendert“.17
13 David N. Coury, The Return of Storytelling in Contemporary German Literature and Film. Peter Handke and Wim Wenders, Lewiston, NY 2004. Coury behandelt das Problem der Postmoderne, das der Titel seines Buches suggeriert, leider nur im Ansatz. 14 Simone Malaguti, Wim Wenders’ Filme und ihre intermediale Beziehung zur Literatur Peter Handkes, Frankfurt am Main 2008, S. 50ff. und 126ff. 15 Brady/Leal, Wim Wenders and Peter Handke. Für einen strukturellen Vergleich immer noch wegweisend: Bernhard Springer, Narrative und optische Strukturen im Bedeutungsaufbau des Spielfilms. Methodologische Überlegungen entwickelt am Film „Falsche Bewegung“ von Peter Handke und Wim Wenders, Tübingen 1987. 16 Werner Köster, Wim Wenders und Peter Handke. ‚Kongenialität’, intermediale Ästhetik, Kommentarbedürftigkeit, Marburg 2015, S. 9f.: „Wie das Gedicht als ‚Paradigma des überstrukturierten Textes‘ die lautlich-klangliche und rhythmisch-metrische Ebene semantisiert, so ist hier die ästhetische Arbeit am optisch-filmischen Material und seinen Strukturen zu analysieren. Diese Semantisierung wird in den Wenders-Handke-Filmen immer weiter getrieben, filmische Sinnlichkeit und sprachlich-literarischer Sinn werden zunehmend enger miteinander verwoben.“ 17 Richard Brody, „Where Wim Wenders Went Wrong“, in: The New Yorker, 3. September 2015
(https://www.newyorker.com/culture/richard-brody/where-wim-wenders-went-
wrong, Stand: 10.1.2019): „Peter Handke […] out-Wenders Wenders with the 1978 film ‘The Left-Handed Woman’.“
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Obwohl diese umfangreichen Monographien durch genaue Lektüre zeitgenössischer Quellen erstaunliche intertextuelle Dialoge zutage fördern, möchte ich in meinem Beitrag einen Perspektivenwechsel vorschlagen. Eine Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte, so fruchtbar sie im Einzelnen auch sein mag, bleibt doch einer konzeptionellen Engführung verhaftet, die zwar den Dialog zwischen Schrift und Bild erfassen kann, letztlich jedoch den filmischen Text immer als Resultat – zum Beispiel einer kongenialen Zusammenarbeit – sieht und so einem teleologischen Denken verhaftet bleiben muss. Es ist jedoch genau dieses metaphysische Denken – so meine These –, gegen das sich das Filmprojekt von Handke und Wenders stellt. So betrachtet, betrifft Intermedialität das Spannungsverhältnis zwischen einzelnen Medien und Diskursen, die Handke und Wenders zur Erzeugung eines ethischen Zwischenraums im filmischen Text selbst zu nutzen verstehen. Gilles Deleuze hat diesen paradoxen Zwischenraum bekanntlich als interstitium bezeichnet.18 Um meine These auf den Punkt zu bringen, betrachte ich diese Filme nicht als kollaborative Werke zweier Autoren und ihrer erfahrenen Teams, sondern immer schon als Übersetzungsarbeit eines einzelnen auteurs. Der Begriff des auteurs, der mittlerweile in seiner umgangssprachlichen Verwendung nur auf leicht erkennbare Stilelemente in Filmen von Starregisseuren, zum Beispiel Alfred Hitchcock oder Quentin Tarantino, Bezug nimmt, verweist in seiner ursprünglichen Bedeutung hauptsächlich auf ein ästhetisches Programm. Der auteur wird von Francois Truffaut in seinem leidenschaftlichen Artikel für die Cahiers de Cinema, „Une Certaine Tendance du Cinéma Français“ (1954),19 stets in Verbindung mit einer politique des auteurs, einer Politik, einem Programm beschrieben. Die exemplarischen Beispiele, auf die der gerade 22-jährige verweist, sind dabei nicht von ungefähr Literaturverfilmungen. Dieser vielschichtige Handke/Wenders-auteur soll als ästhetisches Prinzip verstanden werden, als kreativer locus. Jeder Film beruht, banalerweise, immer schon auf einem schriftlichen Text – einem Drehbuch, zumindest jedoch auf einem Szenario. Die hier diskutierten Filme thematisieren jedoch den resultierenden
18 Zur Begriffsgeschichte: Volker Roloff, „Zur Theorie und Praxis der Intermedialität bei Godard. Heterotopien, Passagen, Zwischenräume“, in: ders./Scarlett Winter, Godard intermedial, Tübingen 1997, S. 3–24, hier S. 11–14. Dass Handkes episches Erzählen „Zwischenräume des Nicht-Wissens“ erzeugen will, zeigt Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 311. 19 Im Folgenden zit. nach „L’article mythique de François Truffaut: ‚Une certaine tendance du cinéma français‘, paru dans le No 31 des Cahiers du Cinéma (janvier 54)“ (http://nezumi.dumousseau.free.fr/trufcahier.htm, Stand: 10.09.2018, meine Übers.).
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Film als Akt des Übersetzens – die Idee wird in Bilder transponiert, die dann wiederum den neuen Text darstellen. Ein filmischer Text von Handke/Wenders steht dann nicht primär in einem Spannungsverhältnis zu seinen literarischen Vorlagen und Intertexten, sondern zu sich selbst. Diese Verfilmung, der resultierende filmische Text, stellt paradoxerweise einen eigenständigen Urtext dar, der unabhängig von der Vorlage gewürdigt werden muss. Hier sei kurz an Truffauts Wortspiel erinnert, der in seinem berühmten Pamphlet gegen die französische „Tradition der Qualität“ einen schlechten Regisseur (auf französisch „metteur-en-scène“) verächtlich als „Szenaristen“, als bloßen Handwerker bezeichnet, der das Drehbuch umsetze, indem er einfach nur die Kameraeinstellung („cadrage“) zum Text auswähle.20 Stattdessen fordert Truffaut von einem Künstler Verwegenheit, ja Dreistigkeit (franz. audace). Der auteur ist also nicht ein Leser im engeren Sinn, sondern eher ein idiosynkratischer Übersetzer. Anstatt also Handke als kreativen Vordenker zu bestimmen oder etwa Wenders’ handwerkliche Fähigkeiten hervorzuheben, wollen die folgenden Überlegungen die intermediale Beziehung zwischen Schrift und Film im Text betonen, wobei kein Medium auf das andere reduzierbar ist.21 Denn jede Verfilmung muss unweigerlich danebengehen, muss sich zwangsläufig auf dem Weg von einem Medium ins andere verlaufen und stets neue Wege finden. Salopp gesagt: Handke/Wenders erfüllen Truffauts Forderung nach Verwegenheit, indem sie sich ständig ‚ver-filmen‘ und diese Abwege nicht als Kompromiss, sonders als Befreiung erleben. Denn das Ziel eines solchen Kinos ist eine Grenzerfahrung, welche Handke das „Fastergriffensein“ nennt. Zu Beginn seines berüchtigten Reisebuchs zu Serbien formuliert er: „einem Bewundernmüssen habe ich schon immer das Ergriffensein vorgezogen, oder das Fastergriffensein, welches in mir am stärksten nachgeht, anhält, dauert.“22 Das Bewundern ist eine kritiklose Außenperspektive, genau wie der angeblich so naive Blick von Kindern, der ja dann ‚objektiv‘ die Verlogenheit der Welt zeigen soll. Diese sentimentalen, klischeehaften Deutungsmuster, die oben erwähnten Einstellungen des Szenaristen, können nur überwunden werden, wenn eine Randposition bestehen bleibt.
20 „Lorsqu’ils remettent leur scénario, le film est fait; le metteur en scène, à leurs yeux, est le monsieur qui met des cadrages là-dessus... et c’est vrai, hélas!“ 21 Mit Intertextualität möchte ich im Anschluss an Kristeva (die sich auf Bachtin bezieht) ein dialogisches Moment zwischen Texten betonen. 22 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main 1996, S. 22 (Herv. i. O.).
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Hieraus lässt sich auch die heftige, auf den ersten Blick überraschende Abneigung erklären, die Handke für seinen Landsmann Michael Haneke hegt, einen Regisseur, der ja, etwa in Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009), ganz ähnlich gegen jedwede Sentimentalität arbeitet und, wie Handke, eine Psychologisierung seiner Figuren zu verhindern weiß.23 Haneke sei „ein Naturalist“, erklärt Handke,24 also jemand, der für sich beanspruche, alle niederen Beweggründe der Menschen zu kennen: Haneke „weiß genau, wie finster die Welt gemacht ist. Aber es gibt eine schöne Finsternis, von der Haneke nichts weiß, die kommt von innen her. Bei Haneke kommt nichts von innen her. Er gibt nichts von sich. In seinen Filmen ist überhaupt nichts frei. Er determiniert alles.“25 Im Folgenden wird diese „schöne Finsternis“ als Randposition, als Schwelle bestimmt.
Die paradoxe Außenseiterposition des „Fast“, des beinahe Außen, auf die Handke so sehr wert legt, lässt sich theoretisch mit Walter Benjamin bestimmen. In seinem berühmten Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ stellt Benjamin fest, „daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen“.26 In diesem Sinne gibt es also keinen unübersetzbaren (oder besser: unverfilmbaren) Text. Benjamin, der, seinen Baudelaire-Übertragungen nach zu urteilen, sicherlich
23 Vgl. hierzu mein Funny Frames. The Cinematic Concepts of Michael Haneke, New York 2010. 24 Peter Handke/Thomas Oberender, Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater, Berlin 2014, S. 120. 25 Peter Handke/Peter Kümmel, „Manchmal hab ich Angst vor mir“, in: Die Zeit, 18. September 2014. Für Handke sind Hanekes Filme zu berechnend, zu sehr auf Wirkung bedacht: Haneke sei ein suggestiv verfahrener „Könner“ (ebd.). Wie ernst Handke Kunst nimmt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass seine Freundschaft mit Claus Peymann diesem zufolge an Hanekes Erfolgsfilm Das weiße Band (2009) zerbrach: Peter Kümmel, „Einfach kompliziert!“, Interview mit Claus Peymann und Gert Voss, in: Die Zeit, 10. März 2011. 26 Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt am Main 1972, S. 9–21, hier S. 12. Zu den weiteren Ausführungen siehe: Christiaan Lucas Hart Nibbrig (Hg.), Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt am Main 2001. Ich möchte an dieser Stelle Markus Heeren herzlichst danken, der mich auf diese abwegige Spur gebracht hat.
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ein recht eigensinniger Übersetzer war, schreibt der Aufgabe eine messianische Qualität zu: „Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht. Sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen.“27 Etwas später erklärt Benjamin: „Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.“ 28 Das Scheitern ist immer schon vorprogrammiert, denn „diese Aufgabe: in der Übersetzung den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen, scheint niemals lösbar, in keiner Lösung bestimmbar.“29 Wenn also Wenders Handke verfilmt oder Handke seine eigenen Werke fürs Kino adaptiert, dann handelt es sich immer um eine ‚falsche Bewegung‘, wie es der Titel von Handke/Wenders eigenwilliger Goethe-Verfilmung nahelegt. Diese Transpositionen sind dabei immer schon der Kritik preisgegeben, denn die klischeehafte Frage, ob diese Übersetzung denn ‚gelungen‘ sei, ergibt sich unweigerlich. Für einen außenstehenden Betrachter, für jemanden, der den banalen ‚objektiven Blick‘ sucht, muss diese Aneignung dabei schon als Besitznahme erscheinen. Und einige dieser ‚gelesenen‘ und dann übersetzten Affekte im Himmel über Berlin schrammen gefährlich nahe am Kitsch vorbei, zum Beispiel, wenn die letzten Gedankenbilder eines Selbstmörders oder die eines Unfallopfers in poetische Sprache übersetzt werden. Robert Phillip Kolker und Peter Beicken kritisieren Handke scharf für den letzten Dialog zwischen Damiel und Marion, den sie als „pompös und opernhaft“ bezeichnen; dem Autor bescheinigen sie sogar „kryptofaschistische Fantasien“.30 Der Anmaßung, für einen anderen Menschen zu sprechen, begegnet man im gesamten filmischen Oeuvre von Handke/Wenders. Angelegt ist sie bereits in dem von Wenders verfilmten Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Während der Roman die schizophrene Weltsicht des Mörders in eine knappe, klare Prosa übersetzt, versetzt die Verfilmung den Protagonisten gleich in den falschen Film. So wird der Torwart größtenteils in der sogenannten „amerikanischen Einstellung“, d.h. von der Hüfte aufwärts, gefilmt. Tatsächlich geht und steht der hagere Bloch (gespielt von Arthur Brauss) oft wie ein Cowboy in einem B-Western. Während Bloch im Roman eine Leerstelle bildet, wirkt er im Film durchaus sympathisch, obwohl er fast beiläufig eine junge Frau ermordet. Indem der Film in den letzten
27 Ebd. S. 18. 28 Ebd. S. 19. 29 Ebd. S. 17. 30 Robert Phillip Kolker/Peter Beicken, The Films of Wim Wenders: Cinema as Vision and Desire, Cambridge/New York 1993, S. 156f. (meine Übersetzung).
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Minuten eine Art Hitchcocksche suspense erzeugt, verlangt er dem Zuschauer ab, um einen Mörder zu bangen. Die linkshändige Frau erlaubt sich, die Perspektive einer Frau anzunehmen, die gegen ihr ja eigentlich ‚gutes‘ Leben als Hausfrau in einem Pariser Vorort rebelliert. In Les beaux jours d’Aranjuez/Die schönen Tage von Aranjuez erschafft sich ein deutscher Dichter, der unschwer als Stellvertreter Handkes zu erkennen ist, in seinem Landhaus unweit von Paris eine Frauenfigur.31 Die Darstellerin dieser Frau, die französische Schauspielerin Sophie Semin, ist mit Handke verheiratet, während Handke selbst als „der Gärtner“ durchs Bild läuft. Der Dichter sitzt im Arbeitszimmer, während er sich buchstäblich seine Figuren ‚erschreibt‘, die draußen auf der Terrasse am Gartentisch über ihre komplexe Gefühlswelt diskutieren. Die Kamera bleibt fast ständig in leichter Bewegung, was dem in 3D gedrehten Film ein weiteres, selbstreferentielles Element hinzufügt, denn in Verbindung mit dem grasgrünen Garten wirkt diese Perspektive weniger realistisch und eher wie die hyperreale optische Täuschung eines Guckkastens.32
Die erste gemeinsame Filmarbeit von Handke und Wenders, der 13-minütige Essayfilm Drei amerikanische LPs (1969), beginnt mit einer Anekdote, wie sie ein weitgereister Onkel am Familientisch erzählt haben mag. In Oxford, Mississippi, seien „die Gehsteige ganz hoch über der Straße, da können die Kinder kaum hinaufsteigen“. Eine lange Einstellung, mit einer stationären Kamera gedreht, zeigt eine junge Frau, rauchend, die nachdenklich vom Balkon auf eine trostlose Wohnanlage blickt: ausgehobene Fundamente, neue Hochhäuser, geparkte Autos. Was folgt, scheint auf den ersten Blick einfach genug. Offensichtlich von Easy Rider (1969) inspiriert, entfaltet sich ein deutscher roadmovie:33 Aufnahmen einer von Industrie zerstörten Landschaft, die meisten aus einem fahrenden Auto heraus,
31 Diese Figur des ‚Autoren im Text‘ ist im publizierten Text des Bühnenstücks nicht zu finden: Peter Handke, Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog, Berlin 2012. 32 Kaspar Heinrich, „Die Amerikaner werden Trump überleben“, Interview mit Wim Wenders, in: Planet Interview, 30. Januar 2017, http://www.planet-interview.de/interviews/wim-wenders/49518/ (Stand: 10.1.2019): „Ich denke – und das sage ich jetzt mal ziemlich ‚eingebildet‘ –, dass ‚Die schönen Tage‘ besser als je ein Film zuvor zeigt, wozu 3D auf einer poetischen und zärtlichen Ebene fähig ist.“ 33 Wim Wenders hat diesen Film für das Journal Filmkritik besprochen (vgl. Coury, Return of Storytelling, S. 128 und Brady/Leal, Wim Wenders, S. 83).
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unterlegt mit drei Stücken aus drei amerikanischen LPs von Van Morrison, Harvey Mandel und Creedence Clearwater Revival. Wir hören kurz die Stimmen von Handke und Wenders, die die drei titelgebenden LPs diskutieren. Eine Fahrt durch öde Vororte endet in der Sackgasse eines verwaisten Autokinos. Was zunächst wie die Fingerübung zweier Autodidakten anmutet, verkompliziert sich beim wiederholten Sehen. Gleich zu Anfang des Films erklärt Wenders, man müsste „Filme machen können über Amerika, die nur aus Totalen bestehen“, in der amerikanischen Musik gebe es das schon. Es könnte sich um diesen Essayfilm handeln, der in der Tat auch zum größten Teil aus Totalen, genauer gesagt aus extremen Totalen, besteht. Der Film ist allerdings offensichtlich in einer deutschen Großstadt gedreht, die wohl nur ein Ortskundiger als München erkennt. Der im Kino üblichen, extradiegetischen Musik wird hier eine Leitfunktion zugeschrieben: Die amerikanische Musik – von einem Europäer, einem Außenseiter, geschrieben, wie der voice-over unterstreicht – verändert die deutsche Industrielandschaft. Mit anderen Worten: Der voice-over beschreibt eine selbstreflexive Funktion der Musik, die das Bild buchstäblich unterschreibt und so in ein Emblem verwandelt. Es handelt sich um eine ‚Zu-schreibung‘, die sofort auch eine Ebene der Intermedialität eröffnet. Von den Totalen abgesehen, zeigt uns die Kamera zum Beispiel in Nahaufnahmen nicht nur die amerikanischen LPs und im Profil den Fahrer, sondern auch das Armaturenbrett des Autos, das vorher kurz sichtbar war, mit seiner unverwechselbaren Monospeiche des Steuerrads. Wider Erwarten handelt es sich also nicht um einen amerikanischen Straßenkreuzer oder ein deutsches Automobil, sondern um einen Citroën DS, der für seine extreme Laufruhe bekannt ist – das perfekte Vehikel für eine Kamerafahrt. Die klischeehafte Funktion der Autofahrt in einem road movie – die Kamera zeigt uns, untermalt von Musik, die Landschaft – wird buchstäblich übersetzt, damit zugleich hinterfragt und als eine Fahrt mit der Kamera entlarvt. Statt der üblichen Unterschlagung, die eine vorrangige Präsenz des Filmbildes suggeriert, wird bei Wenders/Handke das Bild als Übersetzung eines nicht existierenden ,Originals‘ bloßgestellt. Die amerikanische Musik wird in Drei amerikanische LPs ein zweites Mal thematisiert bzw. emblematisiert. Handke erklärt im voice-over, diese Musik sei die eigentliche „Filmmusik,“ denn sie sei „hörbar und sichtbar zugleich“. Bei jedem Hören verändere sie das Gesehene, „weil der Film eben in einem selber vor sich geht“. Handke schreibt damit dieser Musik eine geradezu messianische, an Walter Benjamin erinnernde Qualität zu. In seiner kurzen Skizze „In der Sonne“ beruft sich Benjamin auf eine Legende der Chassidim und erklärt, die kommende Welt sei eigentlich genauso wie die altbekannte: „Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders. So hält es die Phantasie. Es ist nur ein Schleier, den sie über die Ferne zieht. Alles mag da stehen wie es stand, aber der Schleier wallt,
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und unmerklich verschiebt sich’s darunter.“34 Dieser dekonstruktive Schleier, diese unmerkliche Verschiebung garantiert, dass eine Randposition bestehen bleibt, ein verwegenes Lesen, das im Weiteren diskutiert wird.
Peter Handke ist bekanntlich ein begeisterter Kinogänger. Die Klassiker des europäischen und außereuropäischen Autorenfilms bewundert er ebenso wie Western und Krimis.35 Diese Hochschätzung für Nouvelle Vague, Western, Kriminalfilme, pulp fiction und andere Bilder der Hoch- und Popkultur hat er mit dem Autodidakten Quentin Tarantino gemeinsam, der gerne ähnliche Vorbilder zitiert und mit dem Handke vertraut ist.36 Beide Regisseure sind sich dabei klar, wie sehr dieses Bilderlexikon eigentlich eine Belastung darstellt. Schon 1968 erklärt Handke in seinem Aufsatz „Theater und Film: Das Elend des Vergleichens“: Ein Filmbild ist kein unschuldiges Bild mehr, es ist, durch die Geschichte aller Filmbilder vor diesem Bild, eine Einstellung geworden: das heißt, es zeigt die bewußte oder unbewußte Einstellung des Filmenden zu dem zu filmenden Gegenstand, der auf diese Weise der Gegenstand des Filmenden wird […]. 37
Der Vergleich mit dem geradezu barocken Tarantino zeigt, wie sich eine Strategie der Befreiung realisieren lässt. Während Tarantino „die Geschichte aller Filmbilder“ in jeder Einstellung thematisiert, sucht Handke eine poetische Rückbesinnung auf einen noch unbelasteten Blick. Dieses Suchen darf jedoch nicht mit einer
34 Walter Benjamin, „In der Sonne”, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, S. 417– 420, hier S. 419f. 35 Lothar Struck hat sich dankenswerterweise die Mühe gemacht, eine Liste aller Filme zusammenzutragen, die Handke je öffentlich erwähnt hat. Struck teilt die Filme auf in „bedeutungsvoll“ (z.B. Filme von Antonioni, Ford, Godard und Hitchcock) und solche, die eine bloße „Erwähnung“ finden (z.B. Tarantinos Pulp Fiction). Lothar Struck, Der Geruch der Filme. Peter Handke und das Kino, Klipphausen/Miltitz 2013, S. 88–90. 36 Vgl. Gerald Peary, Quentin Tarantino: Interviews, Jackson, MS 2013, S. 7 und 133– 135. In dem kurzen Text „Die Bilder sind nicht am Ende“ [1995] lobt Handke Tarantinos Pulp Fiction (in: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt am Main 2007, S. 573–575). 37 Peter Handke, „Theater und Film: Das Elend des Vergleichens“ [1968], in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, S. 515–526, hier S. 518 (Herv. i.O.).
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neoromantischen Unschuldsvermutung verwechselt werden, wie sie immer noch in Filmen zu finden ist, die Kindern eine tragische Unschuld bescheinigen, zum Beispiel in Steven Spielbergs Empire of the Sun (1987) oder A.I. Artificial Intelligence (2001). Der ‚Kinderblick‘, den ja die berühmten ersten Zeilen von Der Himmel über Berlin thematisieren,38 muss bei Handke/Wenders als eine paradoxe Perspektive verstanden werden, nicht im Außen, im Off, sondern am äußersten Rand angesiedelt. Schon der nächste voice-over nach dem „Lied vom Kindsein“ zeigt uns eine solche poetische Position. Mit dieser kurzen Einstellung verdeutlicht der Film auch zum ersten Mal die Aufgabe der Engel: das Lesen der Gedanken. Ein Mann, der ein kleines Kind trägt, ist zu hören: „Die Labsal, den Kopf zu heben zum Licht hier draußen im Freien. Die Labsal der von der Sonne durchleuchteten Farben, der Augen der Menschen...“ Die Erleichterung des Vaters wird hier in Worte gefasst, die im normalen Sprachgebrauch gestelzt wirken würden. Die Perspektive der Engel ist also weniger die eines Lesers, als die eines Übersetzers, denn sie liefert eine recht freie Transposition, eher ein Nachdichten als ein Gedankenlesen. In Handkes Film Die linkshändige Frau gehören die ersten Worte dem jungen Sohn der Familie. Er liest seiner Mutter Marianne (Edith Clever), die schweigend zuhört, aus einem Aufsatz vor. Durch seine Suche nach präziser Benennung erscheint er dabei etwas altklug, sein Aufsatz selbst – „Wie ich mir ein schöneres Leben vorstelle“ – ist eine naive Fantasie. Diese intellektuelle Fingerübung des Jungen spannt einen direkten Bogen zu seinem Vater (Bruno Ganz), der recht unbeholfen versucht, neugefundene Gefühle in konkrete Worte zu übersetzen. Von einer Geschäftsreise nach Finnland zurückgekehrt, wo er sich durch mangelnde Sprachkenntnisse isoliert fühlte, erklärt der Ehemann seine Liebe und behauptet, das erste Mal in seinem Leben vollkommen glücklich zu sein. Das heißt, die Entfremdung, die er auf Reisen erfahren hat, erlaubt es ihm nun, sich selbst als Text aufzufassen und im Nachhinein zu interpretieren – eine Erfahrung, die augenscheinlich neu für ihn ist. Auch diese Suche nach Worten wird von Marianne schweigend und anscheinend ohne jede Emotion aufgenommen. Statt auf die beeindruckende Sprachkompetenz ihres Sohnes mit Stolz zu reagieren oder der Liebeserklärung ihres Ehemannes mit Rührung zu begegnen,
38 Damiel (Bruno Ganz) im voice over: „Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte der Bach sei ein Fluß, der Fluß sei ein Strom und diese Pfütze das Meer. / Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war. Alles war ihm beseelt und alle Seelen war eins. / Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung, hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz, lief aus dem Stand, hatte einen Wirbel im Haar und machte kein Gesicht beim Fotografieren“ (meine Transkription).
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bricht die Frau komplett mit ihrem Mann, eine Reaktion, die undankbar, sogar pathologisch wirken muss. Auch hier verlangt die Schlüsselszene ein genaues Lesen. Die ersten Worte Mariannes, nach über 15 Minuten Filmhandlung, stellen einen illokutionären Akt dar. Nach einer Nacht in einem teueren Hotel steht sich das Ehepaar in einem Park gegenüber. Sie erklärt: „Ich hatte plötzlich die Erleuchtung, dass du von mir weggehst, dass du mich allein lässt. Ja, Bruno, das ist es: lass’ mich allein!“ Der perlokutionäre Effekt auf Bruno deutet auf eine buchstäbliche Interpretation dieser Aussage hin. Er hebt abwehrend die Hände und sagt, er werde es sich überlegen. Später packt er seine Koffer und zieht aus, sichtlich frustriert. Es ist dabei dem Zuschauer überlassen, den intendierten Effekt von Mariannes Erklärung zu interpretieren – hatte sie möglicherweise eine entgegengesetzte (und klischeehafte) Reaktion von ihrem Ehemann erwartet? Also die übliche Beschwichtigung und eine erneute Liebeserklärung? Der weitere Verlauf des Films lässt keinen eindeutigen Schluss hinsichtlich ihrer Absicht zu. Die linkshändige Frau verweigert mit ihrem rätselhaften Akt genau die Position der außenstehenden Beobachterin, die ihr die Gesellschaft immer schon vorschreibt, die Rolle der selbstlosen Ehefrau und Mutter, die ‚ihre Jungs‘ mit Nachsicht und Wohlwollen betrachtet und auf jeden Fall sicherstellt, dass deren Gefühle nicht verletzt werden. Wieder zieht sich hier der oben erwähnte Schleier über das Geschehen und stellt sicher, dass sich alles unmerklich verschiebt, obwohl alles so bleiben könnte, wie es war. Mariannes „Erleuchtung“ kann als eine nicht negierbare, direkte Einsicht in den Benjaminschen „Urtext“ verstanden werden, als eine ‚egozentrische‘ Übersetzung, die unmöglich nachvollziehbar ist.39 Eine in dieser Hinsicht faszinierende Szene ist ein kurzer Dialog zwischen Mutter und Sohn, die ein prächtiges Picknick auf dem Wohnzimmerboden aufgebaut haben. Die Kamera betont, dass sich beide als gleichrangige Gesprächspartner gegenübersitzen. Der Sohn berichtet von einem Wettbewerb in seiner Schule: Wer kann sich am schnellsten anziehen? Ein dicker Junge in seiner Klasse wird rasch und brutal zum Sündenbock gemacht. In Großaufnahme sehen wir nun eine echte Erleuchtung in Mariannes Gesicht. Ihr wird plötzlich klar, dass ihr Sohn aus Angst, gegen den Korpsgeist zu verstoßen, stets einen dünnen Mantel trägt,
39 Besonders in den Dialogszenen zwischen Bruno und Marianne und den Leerstellen zwischen ihnen eröffnet Die linkshändige Frau hier auch einen intertextuellen Bezug zu der zurecht berühmten Verfilmung von Kleists Die Marquise von O... durch Éric Rohmer, der zwei Jahre früher die Hauptrollen ebenfalls durch Edith Clever und Bruno Ganz besetzte. Ein genauer Vergleich zwischen Rohmers Verfilmung, die Handke sicherlich bekannt war, und der Adaption seines eigenen Romans wäre hier lohnenswert, kann aber aus Platzgründen nicht geschehen.
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der sich zügig knöpfen lässt. Die sichtliche Erschütterung maskiert sie dabei mit einem unbeholfenen Lachen, das ihr Sohn jedoch schnell durchschaut. Hier sei kurz an Gilles Deleuzes Einsicht erinnert, die der Großaufnahme eine Sonderstellung im Kino zuschreibt: Vom Gesicht selbst könnte man nicht sagen, daß die Großaufnahme es bearbeitet, es irgendeiner Bearbeitung aussetzt: von einem Gesicht gibt es keine Großaufnahme, das Gesicht ist als solches Großaufnahme und die Großaufnahme per se Gesicht und beide sind der Affekt bzw. das Affektbild.40
Auf das vorliegende Beispiel übertragen, könnte man sagen, dass die Erschütterung, die Marianne verspürt, direkt als Affektbild erscheint, also keinen ‚Umweg‘ über einen schriftlichen, d.h. lesbaren Text (etwa: „Marianne war sichtlich von der Grausamkeit des Systems erschüttert.“) nimmt. Die Erschütterung, die sehr subtil über das Gesicht von Edith Clever zieht, überträgt den Affekt direkt auf die Zuschauer, die diese Epiphanie dann wiederum erklären müssen: Marianne erkennt, wie sehr ihr Sohn von gesellschaftlichen Zwängen abhängig gemacht wird, eben jenen Zwängen, von denen sie sich befreien will. Denn objektiv gesehen, dient die Schulerziehung sicherlich einem guten Zweck, so wie es der Frau ja objektiv gesehen sehr gut geht, was der Film bezeichnenderweise stets durch Totalen unterstreicht: die großzügige Villa im Pariser Vorort, der opulente Pelzmantel, das neue Auto... Anders gesagt, der oben bereits angesprochene „Kinderblick“ ist eine vollkommen egoistische Übersetzung des Gesehenen. Marianne, die schlechte Mutter, so scheint es, schöpft Kraft aus dieser „Erleuchtung“ und versucht auch nicht, ihren Sohn zu Nachsicht oder Mitgefühl zu erziehen. Diese hartnäckige Verweigerung einer objektiven Betrachtung verbindet die Frau mit allen Hauptfiguren im Oeuvre von Handke/Wenders, Figuren, die ohne weiteres als Egoisten beschimpft werden könnten. Wie der mörderische Torwart in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Wilhelm in Falsche Bewegung und das Quartett in Die Abwesenheit, unternimmt die Frau eine paradoxe Wanderung ohne Ziel, wie sie schon der Ich-Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied unternommen hat.
40 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino I, Frankfurt am Main 1989, S. 124; zum Gesicht siehe besonders S. 125.
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Die Filme von Handke/Wenders lassen das Publikum nie vergessen, dass jede Perspektive, sei es die des Autors, die der Figuren, der Kamera, des gesamten Textes, immer schon eine Aneignung ist, die Arbeit eines Übersetzers, der teilweise recht drastische Entscheidungen trifft, ja treffen muss. Falsche Bewegung (1975), die Adaption von Goethes Wilhelm Meister, übersetzt den Bildungsroman, der Generationen von Gymnasiasten und Germanistikstudenten zur Genüge bekannt ist, ins Deutschland der siebziger Jahre.41 Schon die erste Szene zeigt einen Gewaltakt. Frustriert von seinen kleinbürgerlichen Verhältnissen durchbricht Wilhelm (Rüdiger Vogler) eine Fensterscheibe mit bloßen Fäusten. Von seiner Mutter42 daraufhin eher widerstrebend in die weite Welt geschickt, findet der verhinderte Künstler weder eine Muse noch sein Glück. Am Ende des Films sehen wir Wilhelm stattdessen auf der gut gesicherten Aussichtsplattform der Zugspitze – eine Einstellung, die ganz offensichtlich ironisch an Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde Wanderer über dem Nebelmeer erinnert.43 Eine interessante Versetzung betrifft dabei Wilhelms Traumberuf. Will er bei Goethe vergeblich sein Leben dem Theater widmen, wird er bei Handke/Wenders zum Schriftsteller manqué. Diese Umsetzung kann nur als Chiasmus bezeichnet werden: Im Roman Goethes bilden die lebhaften Beschreibungen von Bewegungen, zum Beispiel im berühmten „Eiertanz“ von Mignon, eine ekphrasis. In Falsche Bewegung findet sich nun die Verfilmung eines schriftlichen Arbeitens bzw. von dessen Scheitern. Die Lektüre von Joseph von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts, die ihm von der Mutter vorsorglich zugesteckt wurde, scheint Wilhelm genauso wenig zu beeinflussen wie der drastische Versuch, mit seinem eigenen Blut zu schreiben. Wilhelm arbeitet also vergeblich am Text, sei es beim Lesen, sei es beim Schreiben.
41 Vgl. Norbert Christian Wolf, „Der ‚Meister des sachlichen Sagens‘ und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung“, in: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 181–199; Richard W. McCormick, „Wilhelm Meister Revisited: Falsche Bewegung by Peter Handke and Wim Wenders“, in: Gertrud Bauer Pickar/Sabine Cramer (Hg.), The Age of Goethe Today, München 1990, S. 194–211. 42 Die Mutter wird von Marianne Hoppe gespielt, einer Schauspielerin, die besonders durch ihre Rollen in der Nazizeit berühmt ist. Diese Besetzung ist sicherlich eine ironische Anspielung auf die Verfilmung von Theodor Fontanes Effi Briest durch ihren Ehemann Gustaf Gründgens mit dem Titel Der Schritt vom Wege (1939). 43 Vgl. Buchka, Augen, S. 70f.
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Diese chiasmische Spiegelung lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine Metaebene, das Filmgenre: Hier der berühmte Bildungsroman des unantastbaren Genies der deutschen Klassik, dort die Verfilmung des Drehbuchs eines bekannten Provokateurs. Der Titel selbst, Falsche Bewegung, erinnert sofort daran, dass dieser Ausdruck im normalen Sprachgebrauch nur in der Negation vorkommt, in der klischeehaften Aufforderung: „Hände hoch! Keine falsche Bewegung!“ Der Film funktioniert allerdings weder als Aufarbeitung der deutschen Geschichte noch als road movie. Die räumlichen Ortsveränderungen Wilhelms führen ihn dabei immer in Sackgassen, obwohl er doch mit Bahn, Auto, Fähre und zu Fuß versucht, echte Bewegungen zu unternehmen. Auch psychologisch tut sich wenig: Wilhelm zaudert, den ehemaligen KZ-Wärter Laertes (Hans Christian Blech) zu richten; anstatt die von Laertes offensichtlich missbrauchte minderjährige Mignon (Nastassja Kinski) zu retten, schläft er mit ihr, und Therese (Hanna Schygulla) wird von Wilhelm in einer Fußgängerzone weggeschickt. Der Film findet für diese Falsche Bewegung ein perfektes Bild: Therese und Wilhelm fahren für kurze Zeit in verschiedenen Zügen auf parallelen Gleisen, wodurch der Eindruck entsteht, die beiden stünden still. Der 1992 entstandene Film L’absence/Die Abwesenheit führt die Bewegungen von Falsche Bewegung, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter und Die linkshändige Frau weiter. Alle diese Films benutzen den öden Provinzbahnhof oder die kaum bediente Bushaltstelle als das gleiche, mehr oder weniger komische Emblem für das Leben am Rande. In Die linkshändige Frau wirbelt ein Schnellzug auf der Durchfahrt Müll und Staub auf, ein trostloses Bild, obwohl man in der Ferne den Eiffelturm und auch die Hochhäuser von La Défense sehen kann. Ein Blick vom Abseits des Vororts, den übrigens auch der Dichter in Les beaux jours d’Aranjuez/Die schönen Tage von Aranjuez teilt. Die eigentliche Handlung der Abwesenheit beginnt mit einem Akt der Übersetzung. Auf eine rätselhafte poetische Rede des Schriftstellers (Eustaquio Barjau, der Handke ins Spanische übersetzt hat) reagiert dessen Frau (Jeanne Moreau) resigniert: „Ich werde dir sage, was du mir sagen willst. Es ist Zeit, aufzubrechen. Ich gehe allein, wie immer.“ Der Schriftsteller, der, anstatt zu schreiben oder wenigstens zu übersetzen, nur noch klassische Texte kopiert, führt drei andere Menschen auf einer Wanderung ins Ungewisse – einen französischen Soldat afrikanischer Abstammung, der seinen Posten verlässt (Alex Descas), einen Spieler, der nicht mehr spielen will (Bruno Ganz), und eine junge Französin, die aus ihrem wohlgeordneten Zuhause ausbricht (Sophie Semin, die Ehefrau Peter Handkes). Alle sprechen dabei meistens in ihrer jeweiligen Muttersprache.
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Wie John E. Davidson richtig erkennt, sind diese vier Figuren durchaus miteinander verbunden: „Sie befanden sich in einem Zustand des Wartens in bestimmten Räumen, aus denen sie jetzt ausbrechen: der Soldat von seinem Posten, der Spieler aus den engen, rauchigen Hinterzimmern, die Frau aus ihrer Wohnung, der Schriftstel-ler von seinem Pult.“44 Davidson greift in seinem Beitrag eine Äußerung Handkes zu seinem eigenen Film auf: Mir kam es jedenfalls vor, daß ich vor allem bei diesem Film gespürt hab, daß ich einen Lakonismus mit Bildern erreichen kann, den ich […] durch die Sprache nicht mehr erreichen kann. Ich muß mit der Sprache viel mehr, ich sag jetzt absichtlich ein vages Wort: barockisieren […].45
Davidson interpretiert die spröde Filmsprache nun interessanterweise als Text. Die Abwesenheit von Kamerabewegungen und Schnitten führten nicht zu dem von Handke gewünschten Lakonismus, sondern zu einem gegenteiligen Effekt. Die Zuschauer könnten die Bilder nur als „überladen und allegorisch“ verstehen, erklärt Davidson.46 Die Abwesenheit bedient sich tatsächlich einer schmucklosen Ausdrucksweise. Allerdings würde ich hier den Dichter beim Wort nehmen und „barockisieren“ als „den Barockstil nachahmen“, als nachträgliches Aufpropfen verstehen. Der Philosoph Gilles Deleuze hat der Falte im Barock – im französischen Original Le pli – ein ganzes Buch gewidmet.47 Diese Komplikationen und Multiplikationen erschweren und unterlaufen die herkömmlichen Gesetze der Repräsentation. Um das an einem filmischen Beispiel zu erläutern, könnte ein Film theoretisch aus einer ununterbrochenen Kamerafahrt bestehen: Unsichtbar wie die Engel im Himmel über Berlin begleitet die Kamera das komplette Geschehen. Zwei junge Männer verlassen die Wohnung, steigen die Treppe hinunter, öffnen die Haustür usw., bis sie endlich ins Auto steigen und wegfahren. Was dann buchstäblich unter den
44 John E. Davidson, „Handke as director: The absence” in: David N. Coury/Frank Pilipp (Hg.), The Works of Peter Handke. International Perspectives, Riverside, CA 2005, S. 264–282, hier S. 267: „[T]hey have been in a state of waiting in particular spaces from which they now break free: the Soldier from his post, the Gambler from the smoky back rooms of proximity, the Woman from her apartment, the Writer from his lectern.“ (Meine Übers.) 45 Peter Handke/Wim Wenders, Die Abwesenheit. Eine Skizze, ein Film, ein Gespräch, Dürnau 1996, S. 154. 46 Davidson, „Handke as director“, S. 270f.: „ornate and allegorical“ (meine Übers.). 47 Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 2000.
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Schneidetisch fällt – die vom Zuschauer als langweilig empfundenen Fakten des Alltags – ist implizit noch vorhanden und nur unterschlagen. Laut Deleuze ist das Entfalten dem Falten keineswegs entgegengesetzt. Wenn die lakonischen Bilder der Abwesenheit also genau jene Passagen einer Handlung zeigen, die im Genrekino nicht mehr zu sehen sind, ändert dies die komplette Bedeutung einer Szene. Wie schon bei der Linkshändigen Frau zeigt eine Schüsselszene in der Abwesenheit eine junge Frau in Großaufnahme. Das Affektbild handelt von einer Abrechnung. Schonungslos zerstört sie die metaphysischen Attrappen des Schriftstellers: DIM sei kein Sonnengott, sondern eine Schuhmarke, die römische Ruine eine alte Filmattrappe... Daraufhin verschwindet der Dichter spurlos. Die letzten Minuten des Films zeigen seine Frau in Nahaufnahme, in einer ununterbrochenen Einstellung, wie sie einen bitteren Nachruf auf ihn hält. Von der Randposition der geplagten Begleiterin aus kann sie den gescheiterten Dichter als trotziges Kind beschreiben. Aber auch hier zeigt sich, dass die Entfaltung dieses egoistischen Wanderers kein Lesen, keine Interpretation, sondern ein reines Bild erzeugt: Die Frau musste ihren Mann lieben, obwohl er diese Liebe – objektiv gesehen – in keiner Weise ‚verdient‘.
Mein Betrag hat Handke/Wenders als einen verwegenen Übersetzer bestimmt, dem es auf Ab- und Umwegen gelingt, „jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist“, im Bild „zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien“. Handke/Wenders ist kein „Szenarist“, der nur das Drehbuch liest und die passenden Bilder dazu findet. Mit Truffaut könnte man sagen, dass die Reisenden und Wanderer in den Filmen von Handke/Wenders als Verkörperungen eines ‚echten‘ Regisseurs (französisch réalisateur) verstanden werden können, als jemand, der Bilder in die Wirklichkeit umsetzt. Der oben erwähnte „Lakonismus mit Bildern“, sicherlich der Ästhetik des europäischen Autorenkinos der sechziger und siebziger Jahre verhaftet, versetzt die Zuschauer in Erklärungs- bzw. Entscheidungszwang: Soll man den Film objektiv beurteilen? („Das Buch ist besser!“) Oder soll man sich fast ergreifen lassen? Es gilt dabei immer zu bedenken, dass wir den Urtext nicht verstehen können – warum sonst die Übersetzung lesen?! Anders gesagt, Handke/Wenders fordert uns auf, dem Geschick des Übersetzers bedingungslos zu vertrauen. Dazu ist sicherlich eine gewisse Dreistigkeit vonnöten.
A NNA M ONTANÉ F ORASTÉ
Die Doppeldeutigkeit des Untertitels benennt die komparatistische Richtung meines Beitrags. Nach einer ersten Skizze Spaniens als einem Land, in dem die Leere so etwas wie ein zweites Land im Lande bildet, wird im Folgenden von Peter Handkes Auftritt am 24. Mai 2017 in der Universität de Alcalá de Henares anlässlich der Entgegennahme des Titels „Doctor honoris causa“ die Rede sein, insbesondere von seinen medialen Aussagen während seines ersten offiziellen SpanienBesuchs. In seiner Dankesrede präsentierte Handke sich vor allem in seiner Beziehung zum Spanischen und als Leser spanischer Autoren und Autorinnen. Fern von jedem Anspruch auf systematische Strenge oder Vollständigkeit wird dieser Beitrag Handkes Lektüren der spanischen Literatur umgekehrt durch die Lektüren seines Werkes aus der Sicht von hauptsächlich nichtakademischen Autoren aus dem spanischen Sprachraum komplementieren.1
1
Eine Recherche der spanischen Rezeption müsste dem seit den frühen 1970er Jahren anhaltenden Interesse an Peter Handkes Werk Rechnung tragen, das erst Mitte der 90er Jahre, im Zuge seiner „Jugoslawien-Bücher“, nachlässt und Anfang der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wieder in Schwung kommt. Dank der engagierten Übersetzungsarbeit der Literaturkritikerin Cecilia Dreymüller hatte das spanischsprechende Publikum 2011 Zugang zu den bis dahin unpublizierten Texten über Jugoslawien und den Haager Internationalen Gerichtshof in dem Sammelband Preguntando entre lágrimas (Madrid 2011). Dreymüller ist auch die Herausgeberin der Anthologie Handke y España (Madrid 2017), die anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universidad Alcalá de Henares an Handke erschien. Neben Auszügen aus den „spanischen Büchern“ Handkes und den von der Herausgeberin geführten Gesprächen mit dem
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Die Leere: Für nichts würde ich sie tauschen2 PETER HANDKE/GESTERN UNTERWEGS
Peter Handke hat sich mehrfach zu seiner Vorliebe für Spanien geäußert. Dabei ist die Erfahrung der Leere in der Meseta, der spanischen Hochebene, selten ohne Erwähnung geblieben. Seine Begeisterung für Spanien brachte er 1995 in einem Interview für die Zeitung El País zum Ausdruck: Für einen Ausländer ist Spanien ein packendes Land. Seine Landschaften sind herzerwärmend. In Spanien beginnt die Steppe, die Savanne, gleich nach den Städten und Dörfern. […] Und in vielen spanischen Ortschaften hat man den Eindruck, sie stünden am Rande einer Klippe. 3
Die enthusiastischen Worte Handkes sind nicht zuletzt deshalb interessant, weil in ihnen noch einmal das langlebige poetische Bild von Spaniens Hochebene als Ozean oder Meer aus Erde anklingt. Wie Sergio del Molino in seinem Essay über das verödete Spanien unlängst darlegte,4 wurde das maritime Gleichnis schon von den Dichtern der sogenannten Generation von 98 – etwa von Miguel de Unamuno, Azorín oder Antonio Machado – verwendet, um die von der Küste weit entfernte, dürre Landschaft im Binnenland zu evozieren. Diese Landschaft entspricht dem ‚leeren Spanien‘, einem riesigen, mit aussterbenden Ortschaften dünn besiedelten Gebiet, dessen Fläche zwar mehr als die Hälfte des ganzen Landes einnimmt, in dem jedoch nur ein winziger Teil der gesamten spanischen Bevölkerung lebt.5 Über dieses Land im Lande ist viel erzählt worden, aber meistens ohne es richtig wahrzunehmen. Der spanische Blick auf die Landschaft des Binnenlandes, geschult an der Ironie des Don Quijote, ist oft entweder sehr unbarmherzig gewesen
Dichter enthält der Band die erste in Spanien publizierte Kompilation von Texten einer Leserschaft, die sich außerhalb der Germanistik mit dem Werk Handkes befasst. 2
Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salz-
3
Oswaldo Muñoz, „Las letras, los paisajes y los pájaros“, Gespräch mit Peter Handke,
burg/Wien 2005, S. 439. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GU.) in: El País. Babelia, revista de cultura, 29. April 1995. Hier und im Folgenden stammen die Übersetzungen der spanischen Texte von mir, A.M.F. 4
Sergio del Molino, La España vacía. Viaje por un país que nunca fue, Madrid 2016.
5
Im ,leeren Spanien‘ (53% des Territoriums) leben heutzutage 15,8% der spanischen Bevölkerung. Vgl. hierzu ebd., S. 39.
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oder war, wie bei den meisten Autoren der Generation von 98, von einer erlösenden Berufung getragen. Verachtung beziehungsweise Rettung sind Gesten des Abstands, aber auch die frühere Idealisierung der Romantiker inner- und außerhalb der spanischen Grenzen war eine Form der Distanz. Das leere Spanien hat sich selber nie erzählt und wartet immer noch auf ein Narrativ, in dem es sich wiedererkennen kann. Die Geschichten, die in der Regel das leere Spanien erzählen, so del Molino, stellen nur diejenigen zufrieden, die dieses Gebiet nicht bewohnen. Es sind Geschichten, die entweder dem Vorurteil eines noch brutalen, rückständigen Spaniens des für die Sensationspresse ergiebigen ,schwarzen Spaniens‘ oder dem eines für die Tourismusindustrie gewinnbringenden Beatus IlleLandes entsprechen.6 Erst in den letzten Jahrzehnten scheint die klischeehafte Annäherung an das leere Land eine Korrektur zu erfahren, und zwar durch literarische sowie filmische Werke einer Autorengeneration, deren Eltern Mitte des 20. Jahrhunderts vom Land in die Großstädte migrieren mussten. Es sind Versuche, eine Landschaft zu würdigen, die eigentlich ein seelischer Zustand ist: Sie lebt fort als Kindheitsland der Vorfahren – derjenigen, denen diese Landschaft vielmehr ein Problem als ein Ort der Betrachtung geschweige denn des Müßiggangs war.7 Das Spanien, das Peter Handke im Laufe fast eines Vierteljahrhunderts – von Noch einmal für Thukydides (1990) bis zu Die schönen Tagen von Aranjuez (2012) – zum Ort epischen Geschehens erhoben hat, entspricht, mit wenigen Ausnahmen, topographisch ziemlich genau diesem leeren Land im Lande, das nur langsam aus seiner Selbstvergessenheit erwacht.8 Handke verfolgt nicht die Absicht, dem leeren Spanien historisch oder soziologisch gerecht zu werden (selbstverständlich
6
Ebd., S. 99.
7
Da ein komplettes Panorama dieser jüngeren Literatur hier unmöglich zu vermitteln ist, sei auf einige repräsentativen Namen hingewiesen. Neben Sergio del Molino selbst wären Miguel Barrero, Elena Medel, Jesús Carrasco und Julio Llamazares sowie, in Katalonien, Francesc Serés, Francisco Casavella und Javier Pérez Andújar zu nennen. Unentbehrliche Namen im Filmbereich sind die von Paula Ortiz und Mercedes Álvarez.
8
Vgl. hierzu Georg Pichler: „Handkes spanisches Kerngebiet erstreckt sich ziemlich genau auf die geographische Mitte der Iberischen Halbinsel mit der Kleinstadt Toro nahe Portugal, im Westen, der Sierra de Calatrava an der Grenze zwischen Andalusien und der Mancha im Süden, Zaragoza im Osten und Burgos im Norden – Landstriche also, die weit abseits der Hauptrouten des Massentourismus liegen. Innerhalb dieses Gebiets weichen die Texte den größeren, historisch bedeutungsvollen Städten gezielt aus. Handkes Kleinstadtwelten und Landschaften sind somit ziemlich das Gegenteil des weithin verbreiteten Spanienbildes: Statt Sonne gibt es Schnee, statt Sandstränden verdorrte
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geht es ihm auch nicht um das Gegenteil). Den vielen Möglichkeiten der positiven oder negativen Verkennung dieses Landes entgeht er dadurch, dass er ihm ausschließlich im Reich des Literarischen begegnen möchte. Wie wichtig ihm diese Einkreisung oder Entgrenzung ist, lässt sich den Gesprächen mit Peter Hamm entnehmen. Dessen Eindruck, es sei weniger das wirkliche Land als vielmehr eine „Idee von Spanien“, die den Schriftsteller anziehe, revidiert Handke: „Es ist keine Idee von Spanien; es ist eher die Idee: Wie sieht das Land aus, wo meine Art von Erzählung sich ansiedeln und erweitern kann?“ Spanien, erklärt er weiter, sei für ihn eine „Buchgegend“. Als Hamm später erneut auf das Land zurückkommt, wird es Handke gleichsam zu eng, und es stellt sich heraus, dass Spanien austauschbar ist: „Was hast du denn mit Spanien? Spanien ist ja nur ein Ansatzland für mich. Es könnte ebensogut Albanien sein. In Albanien sieht es so ähnlich aus.“9 Spanien gehört wohl dem Handkeschen Programm der Unbehaustheit an, das primär nicht im Dienste der Entdeckung fremder Kulturen steht, sondern der Entfremdung des eigenen Ich, damit etwas Drittes entsteht. In diesem Sinne lässt sich die spröde Bezeichnung „Ansatzland“ mit Hilfe eines Notats aus Gestern unterwegs als jene „gute Fremde“ umschreiben, mit der der Dichter „etwas anfangen“ kann.10 Gemeint ist eine poetische Operation, die, fern von realistischen Verfahren, eine Wirklichkeit erzeugt, die trotz ihrer Privatheit Verbindlichkeit anstrebt. Dabei ist die Cézannsche réalisation – das Wirkliche als „erreichte Form“11 – ein künstlerischer Weg, den Handke immer noch als sein Ideal behauptet, beispielsweise im Mai 2017 während eines Interviews für einen spanischen Radiosender: Das Spanien, das ich erlebt habe, hat es nie gegeben […]. Mein Spanien, mein Amerika, mein Balkan, mein Alaska, das sind Länder der Literatur, Länder der Seele, „países del alma“. Es sind keine realistischen Länder, und deswegen umso wirklicher.12 Sie sind nicht realistisch, sie sind wirklich. Eine Tür zur tiefen Wirklichkeit. Für mich ist Spanien auch
Grassteppen.“ Georg Pichler, „Inszenierung fremder Landschaften. Peter Handkes spanische Reisen“, in: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 65–80, hier S. 66f. 9
Peter Handke/Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006, S. 37–39 sowie 48.
10 GU 14: „In der Fremde, der guten: mit dem, was nicht wie zu Hause ist – dem, was endlich nicht so ist , etwas anfangen“ (Herv. i.O.). 11 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 18. 12 Handke wurde während des Radiogesprächs gedolmetscht. Ab dieser Stelle, die zentrale Aspekte seiner Poetologie betraf, ergriff er das Wort und erklärte den Sachverhalt auf Spanisch.
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Österreich, das Dorf, in dem ich geboren wurde (Griffen), ist Alaska. Es ist konkret, ich bin ein sehr konkreter Schriftsteller, aber kein Realist. […] Es ist vergleichbar mit den Gemälden und Zeichnungen von Cézanne, sie sind nicht realistisch, sie sind wirklich.13
Die von Handke behauptete Wirklichkeit (oder Verwirklichung) ist, wie bekannt, die Wirklichkeit eines Erzählens, das sich von der „alleserwärmerden Phantasie“14 leiten lässt. War Handkes Vorsatz im Versuch über die Jukebox, dass in den Bildern der Phantasie die spanischen Orte noch als solche – Soria an erster Stelle – erschienen, ist er im Laufe der Jahre immer freier mit dem Land umgegangen. Man denke nur an die erfundenen (oder aus jugoslawischen und spanischen Orten zusammengesetzten) Toponyme von In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Oder an das Ceuta von Don Juan (erzählt von ihm selbst), wo die Exklave als Teil einer Welt erscheint, die, mit Novalis gesprochen, mit der Wünschelrute der Analogie wahrgenommen wird. Die Leere der spanischen Landschaften, sagte Handke anlässlich der Veröffentlichung von Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos, ermuntere zum Geschichtenentwurf. Spanien spende eine Art erotischer Energie; die riesigen leeren Räume ließen eine offene zwischenmenschliche Begegnung imaginieren.15 Spanien bildet im Werk Handkes eine weitere Station seiner langwährenden Beschäftigung mit der Erfahrung der Leere. Während sie in Langsame Heimkehr noch ein Darstellungsproblem bereitete, bietet sie in den ‚spanischen Büchern‘ besonders im Bildverlust – eine Möglichkeit für die Wiederbegegnung des Individuums mit sich selbst. Dazwischen ermöglichte die leitmotivische Arbeit an der Leere in Die Wiederholung,16 ins Land der Erzählung zu gelangen, eine Ankunft, die, wie der Titel des Romans überdeutlich zeigt, alles andere als eine endgültige Eroberung ist. Die Leere genießt in Handkes Werk den höchsten Rang: „Die Leere: Für nichts würde ich sie tauschen“ (GU 439). Mit keiner bloßen Projektionsfläche gleichzusetzen, bringt jedoch die spanische Leere gleichsam die Verantwortung der Begleitung mit sich: „Ich begleite die Dinge, die ich sehe. Und was mich durchdringt, übertrage ich. […] Es geht nicht um das Übertragen des
13 Vgl. El Ojo crítico, das kulturelle Magazin von Radio Nacional de España, 26.5.2017, http://mvod.lvlt.rtve.es/resources/TE_SELOJO/mp3/9/4/1495822367649.mp3 (zuletzt aufgerufen: 21.12.2018). 14 Peter Handke, Versuch über die Jukebox, Frankfurt am Main 1990, S. 72. 15 Vgl. Cecilia Dreymüller, „Escribir es un viaje nocturno“, Gespräch mit Peter Handke, in: El País. Babelia, revista de cultura, 11. Oktober 2003. 16 Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt am Main 1986, S. 218: „[…] auf die Leerformen, der Viehsteige wie der blinden Fenster, war Verlaß.“
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Gelernten, sondern vielmehr um die ,Bewegung des Lernens‘, die wichtig ist und die an die Leser weitergegeben wird, nicht das Gelernte.“17
Die eine Kaffeebüchse im Haus, mit der schwarzgelockten Tänzerin, führte, Jahre später, zu dem Versuch, die Sprache der Schönen, das Spanisch, zu lernen.18 PETER HANDKE/DIE WIEDERHOLUNG
Am 24. Mai 2017 erhielt Peter Handke im Paraninfo der Universidad de Alcalá de Henares19 den Titel Doctor honoris causa. Die Dankesrede zur Entgegennahme dieser Auszeichnung hielt er auf Spanisch, eine Sprache, die Handke gut kennt, der er aber nicht mächtig ist. Bis zum Tag der Feier hatte er, wie er schon zu Beginn seiner Rede bekannte, nicht einmal zwei oder drei spanische Sätze aneinandergereiht.20 Mit dem Studium der Grammatik, so nahm er auch gleich vorweg, habe er drei Mal angefangen, dann jedoch aufgehört, weil die angebliche Einfachheit des Spanischen durch einen Dschungel, wenn auch einen wunderbaren, ersetzt wurde. Dennoch hielt Handke seine Rede nicht nur in gebrochenem Spanisch, sondern er nahm entschieden – fast stolz, möchte man sagen – seine Fehler in Kauf. Den Text, gestand er offen, habe er niemandem zeigen wollen. Und zu diesem und jenem auftauchenden Fehler sagte er: „Aber ich will die Fehler behalten“. Die sichtliche Anstrengung Handkes beim Artikulieren seiner Rede (vor allem französische Laute mischten sich in die spanische Sprechweise), der
17 Cecilia Dreymüller, „Entrevista con Peter Handke sobre Ayer, de camino“, in: dies. (Hg.), Handke y España, Madrid 2017, S. 215–228, hier S. 223. 18 Handke, Die Wiederholung, S. 194. 19 Im Paraninfo der Universität de Alcalá de Henares (UAH) wird jährlich am 23. April der ,Premio Cervantes‘, der wichtigste spanischsprachige Literaturpreis, verliehen. 20 In diesem Beitrag beziehe ich mich im Folgenden auf die Originalrede Handkes: https://www.youtube.com/watch?v=y9OvvSU_AZE&feature=youtu.be (zuletzt aufgerufen: 21.12.2018). Vgl. auch die die geglättete deutsche Fassung der Rede, aus dem Spanischen übersetzt von Georg Pichler: http://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Discurso_Doctor-honoris-causa_Peter-Handke.pdf. Prof. Dr. Pichler hielt die Laudatio an Peter Handke. Sie ist unter folgendem Link zu lesen: http://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Peter-Handke_Doctor-honoris-causa_Laudatio_Georg-Pichler.pdf
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genauso offenkundig vorangegangene Arbeitsaufwand, um in Alcalá auf Spanisch „ein spanisches Ding oder ein spanisches Wort oder beides“ vor einem mehrheitlich spanischsprechenden Publikum erzählen zu können, waren zweifelsohne eine aufrichtige Geste der Zuvorkommenheit des Dichters gegenüber dem ihn ehrenden Land. Zugleich aber auch schützte Handke sich durch das Unvollkommene seines Auftritts vor der ihm unerwünschten Rolle des öffentlichen, uniformierten Schriftstellers. Ans Rednerpult trat er fast wortwörtlich als „der Nicht-Dazugehörige“,21 und so vermochte er seinen ersten offiziellen Besuch in Spanien in einen ganz eigenartig intimen zu verwandeln. Keine besondere Verbundenheit zum Lande wurde bloß behauptet, sie entstand vielmehr, indem der Dichter „Fragmente [s]einer spanischen Fragmente“ Erinnerungen und Erlebnisse in Worte fasste. Es waren zunächst Erlebnisse mit der fremden Sprache, in denen, wie oft bei Handke, das Triviale und das Erhabene koexistieren. So legte die honoris causaRede nahe, dass in dem Beharren Handkes auf einem jeden sprachlichen Fehler (auf Spanisch „falta“) die akustische Erinnerung an ein Fußballspiel über die Jahre hinweg mitgewirkt hatte, in dem der legendäre, für den F.C. Barcelona spielende Johan Cruyff ein Foul (auf Spanisch ebenso „falta“) beging. Diese Freude an Homonymen wird der Leser von Der Bildverlust unschwer wiedererkennen. Im Roman dienen sie zusammen mit der in Spanien unüblichen Schreibweise mehrerer spanischer Namen der Mythisierung der von der Bankfrau durchwanderten Gegenden. Während Handke in der Regel strengstens davon abrät, dem „Magnetismus der Wörter“ der eigenen Sprache zu folgen,22 profitiert er spielerisch von den schwebenden Bedeutungen und Klängen, die die Fremdsprachen anbieten.23 So erwähnte er in seiner Rede das spanische Wort „trabajo“ (Arbeit) anstatt „escribir“ (Schreiben) als angemessen, um seine spanischen Schreiborte („lugares de trabajo“) Linares, Soria, Toro, Cuenca – zu benennen, das deutsche Wort „Arbeit“ aber vermeide er.24 Und ebenso evozierte Handke den ersten und letzten Stierkampf, dem er nach eigener Aussage je beigewohnt hat – 1972 in Valencia – als Spracherlebnis. Für das erinnerte Bild eines zu Tode verletzten Stiers fand Handke im Ineinander der Zeiten eine poetische Korrespondenz im Gedicht „Desnuda está
21 Eine Charakterisierung, die Handke mehrmals auf sich bezogen hat, u.a.: André Müller, „Ein Idiot im griechischen Sinne“, in: Die Weltwoche, 29. August 2007. 22 Vgl. hierzu Peter Handke, „Über Lieblingswörter“ [1991], in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln 1967–2007, Frankfurt am Main 2007, S. 19f. 23 Vgl. GU 345: „Ich dachte: ‚Bar Andén‘, was für ein schöner Name; dabei bedeutet es nur ‚Bahnsteigbar‘ […].“ 24 Zur Idee der künstlerischen „Arbeit“ vgl. Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Berlin 2013, S. 61f.
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la tierra“ von Antonio Machado.25 Obwohl dieses Gedicht den Stierkampf in keiner Weise thematisiert, assoziierte Handke das verendende, sich vom „matador“ entfernende Tier mit Machados Vers „la amargura de la distancia“ („die Bitterkeit der Entfernung“). Der gelbrote Himmel vor Sonnenuntergang im Gedicht Machados Gold und Blut werden in ihm beschworen („en los montes lejanos hay oro y sangre“) gab die Färbung zur Todesszene in der Arena. Ganz im Sinne des spanischen Dichters, der kein Anhänger des Stierkampfs war,26 fand Handke Worte für das Leiden des Tieres. Aber „Desnuda está la tierra“, aus der Sammlung Soledades, Galerias y otros poemas (1899–1907), ist ein melancholisches, einer einsamen, suchenden, dem Tagesende („ocaso“) entgegengehenden Dichterfigur gewidmetes Gedicht. Die vier ersten Verse dieses Gedichts rezitierte ein ganz konzentrierter Handke auswendig am Ende seiner Rede und lieferte somit abschließend mit ernster Feierlichkeit wenn nicht ein Selbstbildnis, so doch ein Bild der Brüderlichkeit mit dem Dichter aus Sevilla, dessen Poetik bereits vor der ‚Entdeckung‘ der Landschaft in Campos de Castilla (1912) bedeutende Gemeinsamkeiten mit der Handkeschen aufweist. In Soledades, Galerias y otros poemas ist Machado bemüht, eine ganz konkrete, bildhafte Sprache in den Dienst einer teilbaren, universellen Welt zu stellen. So präsentierte er Soledades denn auch als das erste spanische Buch, aus dem das Anekdotische gänzlich verbannt worden sei;27 zudem verkündete er in ihm das Recht der Lyrik, reine Emotionen zu ,erzählen‘, bei völliger Abwesenheit der Historie, wie es im Gedicht „Los cantos de los niños“ („Die Lieder der Kinder“) gesungen wird: „Seguía su cuento/ la fuente serena;/borraba la historia,/ contaba la pena“ (Setzte sein Märchen fort/ der heitere Brunnen/ die Geschichte strich er aus/ erzählte das Leiden).28 Handke war in Alcalá vor allem als Leser spanischer Literatur aufgetreten. Cervantes’ Don Quijote de la Mancha wurde zuerst genannt, Antonio Machado, für ihn der „liebenswerte und zugleich härteste“ der spanischen Dichter,29 erschien an zweiter Stelle, ihm folgten Santa Teresa de Ávila und María Zambrano. Und nicht nur die konkreten spanischen Lektüren waren Handke wichtig zu erwähnen, er gab ebenso Auskunft über seine Art und Weise, sie zu lesen. Mit Hilfe guter
25 „Desnuda está la tierra / y el alma aúlla al horizonte pálido / como loba famélica. ¿Qué buscas, / poeta en el ocaso?“ Antonio Machado, Poesías completas, Madrid 1980, S. 126. 26 Vgl. Antonio Machado, Juan de Mairena. Sentencias, donaires, apuntes y recuerdos de un profesor apócrifo 1936, hg. von José Mª Valverde, Madrid 1982, S. 204–206. 27 Antonio Machado, Los complementarios y otras prosas póstumas, Zusammenstellung und Vorbemerkung von Guillermo de Torre, Buenos Aires 1957, S. 40. 28 Machado, Poesías completas, S. 81f. 29 Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 51.
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Wörterbücher habe er sich auf den Weg zur Cervantinischen Sprache begeben.30 Das Lesen „Wort für Wort“ sei eigentlich ein Entziffern gewesen. Diese langsame, stockende Tätigkeit, deren Zeremoniell wie kaum ein anderer der junge Filip Kobal in Die Wiederholung etablierte, ist in Handkes Universum maßgeblich geworden, sowohl für das Lesen wie auch das Schreiben. Im Dechiffrieren fremder Sprachen, sei es die slowenische, die spanische oder die arabische, hat er jedoch nicht ein Muster für das richtige Lesen vorgefunden, vielmehr hat sein Umgang mit Fremdsprachen ihn in seinen ureigensten Leseidealen bekräftigt. So notiert er im Journal Das Gewicht der Welt: Ich brauche etwas, das ich Wort für Wort lesen könnte – und nicht diese Sätze, die man auf den ersten Blick erkennt und überspringt, wie in Zeitungen fast immer und leider auch fast immer in Büchern! Sehnsucht nach den „Wahlverwandtschaften“31
Ob Handke diesen Roman Goethes noch heute als geeigneten Lesestoff betrachten würde, sei dahingestellt.32 Aber auf ein Lesen, das jene andere, immer wieder in Handkes Werk ersehnte Zeitlichkeit realisiert, pocht er überzeugter denn je. Handke geht es um ein Lesen, das, wieder mit einem Ausdruck aus dem Pariser Journal gesprochen, nicht Geduld voraussetzt, sondern erzeugt.33 Für diese Ausdehnung der Zeit, die mit dem wahren Lesen erfolgt – „Dar tiempo al tiempo“ gehört zu den bevorzugten spanischen Redensarten Handkes34 – braucht es keine hochrangige Literatur. Gerade an den auch nach Handkes Einschätzung besten spanischen Autoren – etwa Juan Benet, Agustín Goytisolo oder Antonio Muñoz Molina – bemängelt er einen allzu deutlichen Willen zur Perfektion, der in den jeweiligen Werken zuschanden geht.35
30 Spanische Zeitungen, fügte Handke hinzu, könne er sogar ohne Wörterbuch lesen, womit er abermals stillschweigend auf das Defizitäre der Mediensprache hinwies. 31 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Frankfurt am Main 1979, S. 76. Für eine subtile Darlegung des Lesers Peter Handke vgl. Karl Wagner, „Handke als Leser“, in: ders., Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke, Bonn 2010, S. 191–205. 32 Dass Goethe dem Leser Handke auch vier Jahrzehnte später noch als Maßstab gilt, zeigen die zahlreichen Zitate aus Wilhelm Meisters theatralische Sendung, die das Journal des Jahres 2009 verzeichnet. Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016, S. 62–77. 33 Vgl. Handke, Das Gewicht der Welt, S. 90. 34 Vgl. die paratextuellen Zitate im Versuch über die Jukebox. 35 Vgl. Oswaldo Muñoz, „Las letras, los paisajes y los pájaros“.
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Die Wort um Wort entzifferten Schriften der Santa Teresa de Jesús sowie Claros del bosque (Waldlichtungen) von María Zambrano bezeichnete Handke in seiner Rede dagegen als „erfrischende Lektüren“. Mit dem Hinweis auf diese Forscherinnen der Leere, ob in Form von Gemächern oder Lichtungen im Walde, nannte er enge Verbündete. Handke rühmte die konkrete, genaue und nicht weniger sanfte Sprache, mit der Teresa de Ávila die Seele beschreibt, und sprach zugleich abermals seine Abneigung gegen die psychoanalytische Wissenschaft aus, die in ihrer Vermessenheit dem Turmbau zu Babel vergleichbar sei.36 Im Lob der Heiligen erschien ex negativo, was Handke seit jeher an der Psychoanalyse getadelt hat: ihre theoretisierende Berufung, die beweisende Sprache (FF 517), die Objektivierung der menschlichen Seele, kurzum: den Verrat des Menschen als Geheimnis.37 Auch wenn Handke keinen expliziten Zusammenhang zwischen Santa Teresa de Jesús und María Zambrano herstellte, erwähnte er doch von der Letzteren das Buch, in dem das mystische Erbe (die Stationen des mystischen Wegs sowie die Formen der Rhetorik der Mystik) am deutlichsten zu spüren ist. Zambrano, die schon in ihren früheren Schriften das historische Fehlen eines sie überzeugenden Wissens über die Seele beklagte die Psychoanalyse akzeptierte sie ohnehin nicht ,38 ist in Waldlichtungen auf der Suche eines (Nicht-)Ortes, an dem der Mensch in Verbindung mit der verborgenen, heiligen Herkunft des Lebens treten kann. Sie versucht es mit dem Mittel der „poetischen Vernunft“, einer neuen, für sie selbst bis dahin unbekannten Form des Schreibens.39 Die poetische Vernunft stellt in Zambranos Denken eine Methode dar, die alle philosophischen Systeme hinter sich lassen möchte, die aber nirgends ausformuliert ist. Sie ist den Lesern, wie Handke in seiner Rede genau erfasste, nur als „musikalische Suche“, „im Rhythmus eines Gebets“ erfahrbar oder eher vernehmbar – vorausgesetzt, man ist bereit, sich auf diese Suche einzulassen. Liest man die von Zambrano in Claros del bosque vorgeschlagene quête mit Augen, denen die Handkesche Welt vertraut ist, so kommt einem die pilgerhafte Reise zum sonoren Land in Das Spiel vom Fragen in den Sinn. Dantes Vita Nova, allerdings mit recht unterschiedlicher Intensität und sicher auch Ernsthaftigkeit , bildet in beiden Unternehmungen einen Bezugspunkt, denn beide tragen in sich
36 Die Analogie hat Handke mehrmals aufgegriffen. Vgl. z.B. Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg/Wien 1998, S. 152. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle FF.) 37 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Frankfurt am Main 1985, S. 275. 38 María Zambrano, Hacia un saber sobre el alma, Madrid 1987, S. 19–30. 39 Vgl. María Zambrano, Claros del bosque, hg. von Mercedes Gómez Blesa, Madrid 2011, S. 117.
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die Ahnung einer anderen Lebensform, die, wenn überhaupt, dann nur unter Aufgabe jegliches routinierten, konventionellen, die Existenz einengenden Fragens erreichbar ist.40 Der Weg zu den Waldlichtungen sei ein ungewisser, schreibt Zambrano, nicht immer sei es möglich, in sie einzutreten. Eigentlich solle man sie nicht willentlich suchen und auf jeden Fall dürfe zu ihnen nichts Bestimmtes, Vorgezeichnetes, Bekanntes mitgenommen werden. „Man geht zu den Waldlichtungen nicht, wie in Wahrheit ja auch nicht der gute Schüler in die Klassenzimmer, um zu fragen“, schreibt die Philosophin.41 Zambranos ideale Fraglosigkeit geht mit der Aufhebung jeglicher rationalen Anstrengung einher: Sein Eigenes entdeckt der Mensch demnach nicht, es wird ihm vielmehr offenbart, indem er in sein Inneres einen Raum der Empfänglichkeit zu zeichnen vermag. Eben dieser Raum soll in der fragmentarischen, diskontinuierlichen, „aufleuchtenden“, so Handke poetischen Sprache der Waldlichtungen entstehen. Die Reisegruppe in Handkes Spiel vom Fragen ist dagegen unterwegs zum sonoren Land, um das Fragen neu zu lernen, und das Stück soll nicht den Zustand der Fraglosigkeit, sondern den eines ,anderen‘ Fragenhabens darstellen. Wäre die neue, ideale Lebensform, in der man „im Stand des Fragens“ ist, erreicht, dann würde es wie eine Ankunft in einer Stille aussehen, in der nichts geschehen wäre, „als daß ein Schweigen auf das andere gefolgt wäre“.42 Aber die Kunst, stellt sich im Stück heraus, ist nicht so weit, die neue Lebensform repräsentieren zu können, sie kann sich nur „ein Paar Bilder von ihr machen“, was das Ideal jedoch nicht einfach für nichtig erklärt. Denn auch wenn Handkes Spiel in ein vom Fragenverbot bis zur unbegründeten Rose des Angelus Silesius rätselhaftes Crescendo mündet, allerdings mit einem nachgestellten Fragezeichen, so scheint die Stille für uns Zeitgenossen noch gar keine Alternative zu sein, und sei es nur aus der Einsicht, dass sie unmöglich geworden ist.43 Auch aufgrund dieser Diagnose bleibt die Idee einer Kunst des Fragens und einer fragenden Kunst in ihrer Gültigkeit unbeschadet. Die Kunst „bekräftigt“ (FF 15) das Fragen, besagt ein Notat aus dem Salzburger Journal. Für eine das Fragen bekräftigende Kunst bemüht Handke schon seit einiger Zeit auch das Repertoire der Figuren der Mystiker, die er, wie er auch in der Alcalá-Rede erklärte, als „Material“, „exakte Baumaterialien“ begreift. Allerdings distanzierte er sich während seines Spanienbesuchs deutlich von der ihm
40 Vgl. hierzu Karl Wagner, „Ohne Warum. Das Spiel vom Fragen“, in: ders., Weiter im Blues, S. 104–118. 41 Zambrano, Claros del bosque Claros, S. 121–127. 42 Peter Handke, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, Frankfurt am Main 1989, S. 140. 43 Vgl. hierzu den Dialog zwischen Spielverderber und Mauerschauer in: ebd., S. 149f.
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seitens der Medien auferlegten Stilisierung zum Mystiker: „Die Mystik ist eine Feindin der Literatur, ist eine Gefahr, ich bin kein Mystiker, aber ohne mystische Momente gibt es keine Literatur“.44 Und selbst in der Dankesrede kombinierte er sein Lob der Mystik mit dem Ausdruck seiner Begeisterung für einen spanischen Frauenfußballclub Namens „Club Deportivo Santa Teresa“, mit der Erwähnung der in Galicien gekosteten Weine oder den Perioden des wandernden Müßiggangs quer über das Land. Dieses für Handke charakteristische Kontinuum das Gewichtige wird durch das Banale relativiert, und umgekehrt , prägte auch die sicherlich zentralste Aussage seiner spanischen Rede. Die spanischen Lektüren, so sagte er, seien seine Führerinnen auf der Iberischen Halbinseln gewesen, das Entzifferte in seinem Inneren habe zu einer Belebung der äußeren Strukturen der Landschaften geführt, und so habe er sie als „ahistorisch“, „antihistorisch“ und „ewig“ empfunden. Gleich fügte Handke modulierend hinzu: „relativ ewig“. Genau an dieser fast reflexhaften Bewegung, mit der das Absolute relativiert wird, liegt wohl die Glaubwürdigkeit des utopischen Entwurfs, den Handke, allenfalls zeitweilig, in Spanien zu verorten gewagt hat, jenes, mit den Worten der Bankfrau, „eine halbe Ewigkeit versprechend[en] Erdenleben[s]“.45
„...weil jedes Land anders liebt“ PETER HANDKE
Zwei Tage nach der honoris causa-Feier wurde Handke in dem erwähnten Rundfunkprogramm gefragt, ob er nicht das Gefühl habe, in Spanien würden seine Bücher am meisten geliebt. Auf diese spanische, ihm vertraute Neigung zum Superlativ46 erwiderte er, in Spanien seien seine Bücher „anders geliebt, weil jedes Land anders liebt“. Und scherzend fuhr er mit Mutmaßungen fort: In Italien habe er vielleicht 23 Liebhaber, und in Spanien, mit dem Don Juan, 1001 Liebhaber (sic!), und vielleicht gebe es sogar zwei Handke-Leser auf dem Mond, in Russland und in Amerika, jedenfalls sei die Liebe nichts Arithmetisches.47 Ohne ein vollständiges Bild der Handke-Rezeption in Spanien entwerfen zu wollen, sondern eher eine
44 Vgl. das Interview mit Handke in El Ojo crítico. 45 Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt am Main 2003, S. 369. 46 Vgl. Handke/Hamm, Es leben die Illusionen, S. 52. 47 Vgl. das Interview mit Handke in El Ojo crítico.
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kleine Probe derselben und vielleicht von ihrer „Andersheit“, werden im Folgenden einige Lektüren des Handkeschen Werks im spanischen Sprachraum diskutiert. Mit El hombre no mediático que leía a Peter Handke (dt. Der medienferne Mann, der Peter Handke las, 2012)48 hat der seit 2007 in Spanien ansässige venezolanische Schriftsteller Edgar Borges (Caracas, 1966) das Zeugnis einer geradezu überschwänglichen Liebe zur Literatur Handkes abgelegt. Borges’ metafiktionales Buch ist als „romanhafte Forschung zum Werk Handkes in Form eines Tagebuches“49 angelegt, in dem Tag für Tag über die Recherchen eines autorschaftlichen Ich berichtet wird, von dem sich herausstellt, dass es mit den Texten Handkes bereits vertraut war, bevor es etwas von der Welt der Medien erfuhr. Aufgrund dieses sonderbaren Sozialisierungsprozesses leidet der Protagonist an einer gewissen Kontaktunfähigkeit, was ihn jedoch nicht daran hindert, sich mit einer großen Zahl Handke-Kenner im spanischen Sprachraum in Verbindung zu setzen, die ausnahmslos begeistert in telefonischen Interviews (oder per Fernschreiben) auf seine Fragen eingehen. So entsteht bei Borges ein buntes Panorama der spanischsprachigen Handke-Rezeption mit Stimmen u.a. aus der Soziologie (Vicente Huici Urmeneta), der Literaturkritik (Cecilia Dreymüller), der Übersetzung (Eustaquio Barjau) und dem Journalismus (Aleksandar Vuksanovic). Die Dichter Vicente Luis Mora, Sandra Santacana und Fernando Báez sowie der Regisseur und Dramaturg Luis Ureta beteiligten sich ebenso an Borges’ Projekt. Neben den Leseerfahrungen Dritter nimmt Borges in sein Buch Fragmente auf: aus Interviews, Kritiken, Nachrichten und Reportagen mit und über Handke sowie aus Studien zu seinem Werk, die zusammen mit ausgewählten Passagen aus Handkes eigenen Schriften ein collageartiges Konstrukt bilden. Die Tendenz zur Uferlosigkeit des Buches wird strukturell durch dessen Einteilung statt in Kapitel in Türen gebändigt, ein seit Die Hornissen beliebtes Handkesches Motiv.50 Inhaltlich ziehen sich zwei thematische Linien durch dieses Werk. Zum einen interessiert Borges an Handke der Kampf gegen die allseitige Verarmung der Sprache. Demnach ermögliche Handke einen erneuerten Zugang zum Wesen der Dinge, der, seitdem die Mutter Erde durch die „Mutter Netz“ ersetzt wurde, von höchster Dringlichkeit sei. Zum anderen erforscht Borges den aus verschiedenen Richtungen stammenden Versuch, Handkes Stimme aufgrund seiner Kritik an der journalistischen Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg zum Schweigen zu
48 Edgard Borges, El hombre no mediático que leía a Peter Handke, España 2012. 49 Ebd., S 251. 50 BV 751: „‚Tür‘ und ‚Kapitel‘ war im Arabischen dasselbe Wort, bab.“
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bringen. Äußerst kritisch gegenüber dem heutigen Journalismus plädiert er für einen neuen, an Handkes fragender Epik geschulten Journalismus. Würde man in den Schulen für Medien und Kommunikation das Werk Handkes studieren, dann hätte die Gesellschaft, so Borges, anstatt Wiederkäuern fertiger Nachrichten, Erzähler von losen Fragmenten, die nichts von ihrer subversiven Kraft eingebüßt hätten. Dem medienfernen Mann wird Handkes Werk zur fixen Idee, er vernachlässigt seine geldbringenden Verträge, um sich ungebunden der Forschung zu verschreiben. Letztlich schwebt er in Gefahr, auf der Suche nach Informationen über Handke im Sog der Medienwelt die Orientierung zu verlieren und als Individuum zu verschwinden. Unter der Hand jedoch zeigt Borges’ Buch, wie Handkes langsame und umsichtige écriture den Weg zurück nach Hause weisen kann. Unter den spanischen Philosophen hat Handke eine ebenso aufmerksame Leserschaft gefunden. Beeindruckt von der enormen Bedeutung, die Valentin Sorger in Langsame Heimkehr, dem ersten Teil der gleichnamigen Tetralogie, den Räumen beimisst, verfasste der Philosoph José Luis Pardo (Madrid, 1954) mit Sobre los espacios. Pintar, escribir, pensar (dt. Über Räume. Malen, Denken, Schreiben, 1991) einen frühen Essay, der die Suche nach einer ihm angemessenen Form des Denkens thematisiert. Dieses Buch ist kein Essay zu Handke im eigentlichen Sinne, sondern ein Versuch, der, angeregt durch Langsame Heimkehr, über Räume nachdenkt; er trägt sogar den Titel von Sorgers geplanter Abhandlung.51 In Sobre los espacios übernimmt Pardo Sorgers Unmöglichkeit, den Raum zu denken bzw. zu benennen. Galt der im Titel der Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied angekündigte Abschied Europa, hin zu einer Welt, in der die Kultur Natur geworden ist (sprich der amerikanische Blick Benedictines), so begann mit dem Roman Langsame Heimkehr eine Werkphase, die von dem entgegengesetzten Prozess erzählt, nämlich dem Kulturwerden der Natur. Pardo richtet sein Hauptaugenmerk auf die in den ersten Passagen von Langsame Heimkehr beschriebene Empfindung Sorgers, seine Zeit (bzw. die Zeit menschlicher Geschichte) wäre mit der Zeit der Erdgeschichte unvereinbar. Der Geologe, sagt
51 Als weitere Anregung nennt Pardo Heideggers Abhandlung Zeit und Sein. Retrospektiv erkennt Pardo in seinen philosophischen Anfängen einen gewissen Wagemut, denn damals dachte er, beeinflusst von der Idee einer Geophilosophie von Deleuze und Guattari, an eine „räumliche“ Philosophie als Alternative zur Geschichte der Philosophie. Vgl. J. Luis Pardo, „Una Elegía del Estado del Bienestar“, ein Gespräch mit Belén Quejido und Héctor Vizcaíno, in: Pasajes. Revista de pensamiento contemporáneo 47 (2015), S. 60–82. Die Prävalenz des Raumes über die Zeit, die Pardo in Sobre los espacios walten lässt, hat er später in Essays wie Las formas de la exterioridad (1992) oder La intimidad (1996) radikal in Frage gestellt.
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Pardo, stünde vor der keineswegs einfachen Aufgabe, gleichsam „eine Naturgeschichte ohne die Geschichte der Menschheit zu denken“.52 Den Widerspruch zwischen Dauer (oder dem Lauf der Zeit) und Ewigkeit versucht Pardo diskursiv aufzulösen, indem er zeigt, wie das Denken Spinozas’ oder auch Cézannes Malerei beide haben bekanntlich bei der Entstehung der Tetralogie Pate gestanden Ausdrucksformen anbieten, in denen sich andersartige Zeitlichkeiten miteinander vereinbaren lassen. Somit nähert sich Pardo argumentativ einem Themenkomplex, den Handke erzählpoetisch behandelt hatte: Sorgers Subjektivität rettet er im epiphanischen, gesetzgebenden Moment aus der Nacht der historischen Schuld für die Geschichte als verbindliche Geschichte der Formen, was ihn jedoch nicht vom ästhetischen Problem der literarischen Vergegenwärtigung der Räume entlastet.53 Während sich Pardo bei der Suche nach seiner eigenen Sprache paradoxerweise mit einem Werk Handkes auseinandersetzt, das mit dessen tiefgreifendster Schreibkrise verbunden ist, um dann letztlich seinen eigenen Weg zu gehen,54 ist Handke dem Philosophen und Essayisten Miguel Morey (Barcelona, 1950) seit jeher ein treuer Weggefährte. Nicht allzu viele Texte Moreys befassen sich ausdrücklich mit Handke, es gibt jedoch kaum einen Essay, der nicht ein Zitat oder einen Verweis auf dessen Werk enthält. Dabei ist Handke keine bloß ornamentale Präsenz; seine Bedeutung im Werk Moreys erklärt sich aus der Affinität ihrer beider Positionen, vor allem in Bezug auf den Beruf des Schreibenden und dessen von der bloßen Meinungsproduktion möglichst entfernten, mehr noch, einsamen Ort. Im Denken Zambranos und Nietzsches deutet sich genau solch eine Linie an, die Handke mit Morey verbindet. Moreys Interesse gilt der durchlässigen Grenze zwischen Philosophie und Literatur, einer Literatur als Raum von Spiritualität, den das Denken seit der Moderne allmählich vernachlässigt hat. Mit dem Aufkommen des privaten und stillen Lesens ist für Morey eine Form der Einsamkeit der literata Einsamkeit – entstanden, die den Dialog der Seele mit sich selber ermöglicht. Diese Form der Interiorisierung denkt er symmetrisch: Die Einsamkeit des Lesers entspricht der Einsamkeit des Schriftstellers, wie María Zambrano sie beschreibt: „Schreiben heißt, die Einsamkeit verteidigen, in der man sich befindet“.55 Die Einsamkeit des Le-
52 José Luis Pardo, Sobre los espacios. Pintar, escribir, pensar, Barcelona 1991, S. 34. 53 Vgl. hierzu Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 190. 54 Obwohl die vielen Zitate in seinen weiteren Büchern Pardo immer wieder als HandkeLeser ausweisen. 55 Miguel Morey, Pequeñas doctrinas de la soledad [Kleine Lehren der Einsamkeit], México/Madrid 2015, S. 26. Morey zitiert Zambranos ersten, grundlegen Essay aus dem
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sens wie des Schreibens sind höchste Formen des Erkundens der eigenen Einsamkeit, in der Morey, mit Nietzsche, die wahre Unmündigkeit des Menschen sieht.56 Was Handkes Oeuvre betrifft, so sind es die Journale, die Morey besonders anziehen. Sie sprechen, so der Philosoph, den Leser als Erkenntnistier an, ermutigen zu Fragen jenseits des journalistischen (und akademischen) Diskurses: Die Notizen bewegten sich in einer Zwischenzone, „wo das Gefecht beginnt zwischen den Dingen, die man sieht, und den Dingen, die man sagt“.57 Von den vielen Aufzeichnungen Handkes über das Schreiben – mit denen sich Morey intensiver beschäftigt sei exemplarisch eine aus dem Salzburger Journal genannt, die das Literaturideal des Philosophen genau zu umreißen scheint: „Schreiben, dichterisches (ob lyrisch oder episch): Es deckt dein geheimes Leben nicht auf, zeigt es nicht, offenbart es nicht, entschlüsselt es nicht wie die Psychoanalyse, entlarvt es nicht wie... – es spricht zu ihm“ (FF 516, Herv. i.O.). Der Entwurf einer dichterischen Stimme, die dem Leben unter Wahrung seines Geheimnisses zuspricht, entspräche Moreys Verständnis von écriture. Er wird jedoch, wie Handke selbst, nicht müde zu betonen, dass es sich um ein Sprechen handelt, das mit Mündlichkeit nichts zu tun hat. Damit folgt er María Zambrano, die in ihrem Aufsatz „Por que sé escribe“58 der Unterscheidung zwischen Schrift und Rede mit überzeugender Schönheit nachgegangen ist. „Schreiben“, meint die Philosophin, „ist das Gegenteil des Redens“. Und sie stellt die, laut Morey, radikalste Frage, die man überhaupt stellen kann: „Wozu schreiben, wenn es doch das Reden gibt?“ „Man schreibt“, so Zambrano sich selber antwortend, „um die Niederlage wiedergutzumachen, die wir erleiden, immer wenn wir lang gesprochen haben“. Einem Schreiben, das dem Reden ähnelt, muss man misstrauen, behauptet sie, und verschiedentlich lässt sie ahnen, dass der Weg des Schreibens sich in die dem Reden entgegengesetzte Richtung bewegt, nämlich ins Schweigen.59 Die Gemeinsamkeit mit Handkes Unterscheidung von Reden und Schreiben könnte nicht offensichtlicher sein. „Im Reden“, notiert er im Salzburger Journal, „tue ich, fast immer, etwas, was ich nicht bin – anders im Zuhören und Verschweigen“ (FF 225); Schreiben ist für ihn dagegen „das endlich verwirklichte Schweigen“ (FF
Jahre 1934 „Por qué se escribe“ [Warum schreibt man], in: María Zambrano, Hacia un saber sobre el alma. S. 19–30. 56 Vgl. hierzu § 367 von Die fröhliche Wissenschaft, in: Friedrich Nietzsche, Morgenröte u.a. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 616. 57 Ebd. S. 376. 58 María Zambrano, Hacia un saber sobre el alma, Madrid 1993, S. 31–38. 59 Morey, Pequeñas doctrinas, S. 303.
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324). Morey seinerseits spricht von der schriftstellerischen Arbeit als Handwerk mit den Formen der Stille.60 Den Abstand des Schriftlichen zum Mündlichen unterstreicht er immer wieder durch die Nähe des Schreibens zum Lesen: „Schreiben ist immer eine Art zu lesen, und nur so hat das Schreiben Sinn“.61 Und wenn auch die Gefahr besteht, dass das Schreiben das Leben um seine Unmittelbarkeit betrügt, so ist es doch das Schreiben, das Erzählen, so Morey im Sinne Handkes, worin endlich erscheinen kann, was von unserem Leben ,zählt‘.62 Der Philosoph ist sich bewusst, dass Subjektivität in der heutigen Welt sich nicht mehr durch Schreiben und Lesen bildet, umso mehr schätzt er Handkes unzeitgemäße Entscheidung, sein ganzes Leben in écriture verwandelt zu haben, denn in Handke erkennt er die radikalste Form der Existenz als Literatur.63 Ebenfalls zur treuen Leserschaft Handkes gehören die Schriftsteller Félix de Azúa (Barcelona, 1944) und Juan Villoro (Ciudad de México, 1956), die wie Handke die Gewohnheit entwickelt haben, über Gelesenes zu schreiben. Villoro hat sich in bislang vier Bänden mit den „eigenen langlebigen Leidenschaften“64 auseinandergesetzt; über Bücher zu schreiben, nennt er „ein Lesen in Begleitung“.65 Félix de Azúa hat seinerseits seinen Lieblingsautoren mehrere Sammelbände gewidmet, die, aus Begeisterung entstanden, nichts anderes beabsichtigen, als die Leser durch „unwissenschaftliche, leidenschaftliche, dogmatische, zwanghafte Urteile ebenso zu begeistern“.66 Beide Romanciers achten besonders auf Handkes ausdauernde Bemühungen, die Literatur vom ,Literarischen‘ zu befreien. Mit sichtlicher Bewunderung analysiert Azúa in „El lugar del cuento“ (dt. Der Ort des Märchens, 1997)67 Handkes Konstruktion eines epischen Ortes die Niemandsbucht , ohne einen Vertrag mit dem Mythos abgeschlossen zu haben. Mit Argumenten, die manchmal an den Handke des Elfenbeinturm-Aufsatzes erinnern, geht Azúa davon aus, dass die Räume aus den gegenwärtigen Romanen verschwunden sind, sie existieren allenfalls noch literarisch codiert („mein Dorf“,
60 Vgl. ebd., S. 322. 61 Ebd., S. 261. 62 Ebd. S. 193. Seine Überlegungen verwebt Morey mit einem Notat Handkes, in dem die Erzählung als Garant ,unserer Wahrheit‘ erscheint: „[…] Und wie weiß ich, daß ich Wahres erlebt habe? – Ich möchte unbedingt davon erzählen“. Handke, Geschichte des Bleistifts, S. 109. 63 Vgl. Morey, Pequeñas doctrinas, S. 193. 64 Juan Villoro, Efectos personales, Barcelona 2006, S. 8. 65 Juan Villoro, De eso se trata, Barcelona 2008, S. 10. 66 Félix de Azúa, Lecturas compulsivas. Una invitación, Barcelona 1996, S. 11. 67 Ebd., S. 138–148.
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„die heftige städtische Nacht“ etc.), und dementsprechend seien die Romanfiguren genauso gekünstelt. In Mein Jahr in der Niemandsbucht erkennt Azúa den Willen zur Erfindung eines Ortes, der die Geschichte der Erfindung der Orte, selbst des Ortes „Roman“ sogar „Roman von Peter Handke“ aufhebt, damit die Figuren (oder ein ganzes Volk) wieder Träger von Bedeutungen sein können, die gerade nur durch das Erzählen erreichbar sind. An der Niemandsbucht schätzt Azúa besonders, dass Handke dort der Frage nach den Möglichkeiten eines heutigen Romans nicht essayistisch, sondern märchenhaft nachgeht. Handkes abermaliger Gebrauch der reflexiven Form im Roman geschieht, laut Azúa, unter Verzicht auf jeglichen naiven Glauben an den geistigen Wert der Literatur. Trotzdem bleibt der „vehemente künstlerische Wille“68 des Romans unversehrt. Auch Juan Villoro bezeichnet in seinem an Hannah Arendt erinnernden Essay „La vida de la mente. El camino de Peter Handke” (dt. Das Lebens des Geistes. Der Weg von Peter Handke, 2010)69 Mein Jahr in der Niemandsbucht als einen besonderen Moment in Handkes unaufhörlicher Arbeit an der „Neugründung der Epik“. Handke erprobe hier die Wiedererlernung der „Logik eines Ortes“, ohne kulturelle Referenzen aufzuzählen, ohne einen Mythos des Anfangs (wie z. B. Comala oder Yoknapatawpha). Handke, so Villoro, „erfindet mit dem Blick neu, was schon gebaut und degradiert wurde, was wie für die Gleichgültigkeit geboren zu sein scheint, aber insgeheim unsere Epoche mit mehr Überzeugungskraft definiert als jenes ‚Typische‘.“70 Auch für Villoro liegt der größte Verdienst Handkes darin, dass er sich auf der Grenzlinie zwischen Fabulieren und Essayismus bewege. Villoros Essay kreist jedoch nicht um ein konkretes Werk Handkes. Beharrlich ringt er darum, das Oeuvre eines Künstlers zu erfassen, der sich vermessen genug in den Dienst der Dinge gestellt hat, damit diese sich selber erzählen. Handkes Schreiben sei als Suche nach dem tieferen Sinn des Vergänglichen und Geringen gestaltet – als Recherche von winzigen Geheimnissen, die, in der Absicht, die Welt anders zu denken, ein systematisches Verlernen der Sprache zur Voraussetzung hat. Als der einzige der hier vorgestellten Autoren, der Handke im Original liest,71 versucht Villoro verschiedentlich, dessen sich stets verändernde Sprache zu umschreiben: Handkes Zusammenfügung von erzählerischer und abstrakter
68 Ebd., S. 139. 69 Juan Villoro, „La vida de la mente. El camino de Peter Handke“ [2010], in: ders., La utilidad del deseo, Barcelona 2017, S. 140–153. 70 Ebd., S. 150. 71 Morey pflegt das deutsche Original zusammen mit französischen und spanischen Übersetzungen zu lesen. Azúa liest Handke überwiegend auf Französisch. Die anderen Autoren kennen Handke ausschließlich durch spanische Übersetzungen.
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Sprache nennt Villoro eine Art des Philosophierens. Handkes Erzählen, so hebt er hervor, sei zwar nicht vom Denken geleitet, aber gleichwohl „eine Art Denken, das nicht die Aufdeckung von Geheimnissen beabsichtigt, sondern – mit Novalis gesagt ein neues Geheimnis schafft, das die Reflexion leicht verändert“.72 Der Generation von Schriftstellern und Intellektuellen, deren Sozialisation überwiegend durch den Kampf gegen den Franquismus bestimmt war, erschien die Literatur Handkes wie ein Hauch frischer Luft. Für sie, sagt Morey, bilden die Schriften Handkes immer noch „eine Art moralisches Gepäck“, das ihnen zur kritischen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Gewalt des Einheitsdenkens verhilft. Ohne Handkes Werk in die Kategorie der ,Ideenliteratur‘ einstufen zu wollen und noch weniger im abschätzigen Sinn von Nabokov73 , neigen sie dennoch dazu, Handkes Schreiben lediglich in dessen abstrakten Zügen zu erfassen. Die Einführung spanischer Schauplätze in seinem Werk hat diese Generation kaum wahrgenommen. Anders verhält es sich mit den jüngeren, in den sechziger Jahren geborenen Autoren wie Ray Loriga (Madrid, 1967) oder dem frühverstorbenen Félix Romeo (Zaragoza 1968–Madrid 2011). Für sie war Handke eine ferne Lehrerfigur, die unerwartet nach Spanien kam und zur stimulierenden Anwesenheit wurde. Vermutlich sind sie jene Art von Lesern, die Handke besonders erfreuen, denn, selber Schreiber, wurden sie durch seine Literatur auf ihre jeweilig eigenen Belange zurückgeworfen.74 Seinem Debütroman Dibujos animados (dt. Zeichentrickfilme, 1994) stellte Romeo als Motto das vorletzte Erinnerungsfragment von Wunschloses Unglück voran.75 Das paratextuelle Zitat Handke versucht darin, seinen horror vacui durch den Vergleich mit einer Zeichentrickfigur zu überspielen gibt Auskunft sowohl über die Form von Romeos Buch, bei dem es sich um eine Sammlung loser Erinnerungen handelt, wie auch über dessen Tonart. Dibujos animados ist ein auf die Stadt Zaragoza in der sogenannten Phase der Transition nach dem Franquismus fokussiertes Familien- und Generationsporträt, in dem wirkliche Ereignisse und die der in Kindheit und Pubertät gesehenen Zeichentrickfilme (vor allem Road Runner und Wile E. Coyote) gleichwertig erscheinen. Der Rekurs auf die witzigen Cartoons kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Romeo ein halb ländlich katholisches, gewalttätiges und in mehrfacher Hinsicht rückständiges Spanien schildert. Ein fast unmerkliches Plagiat aus Wunschloses Unglück
72 Villoro, La utilidad del deseo, S. 148. 73 Vgl. hierzu Nabokovs Epilog zu seinem Roman Über ein Buch mit dem Titel ,Lolita’. 74 Vgl. Peter Handke/Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper, Frankfurt am Main 1990, S. 94. 75 Félix Romeo, Dibujos animados, Barcelona 2001, S. 9.
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„Sie [die Mutter] aß die Krümel und die Brotkrusten, die auf dem Tisch lagen, das tat meine Mutter. Sie machte es wie Tweety. Als wir fertig gegessen hatten“76 lässt erahnen, inwiefern der sozialanalytische Blick Handkes für Romeo Vorbildcharakter hat.77 Zwar fehlen in Romeos Roman jegliche theoretischen Erzählexkurse, wie Handke geht es ihm aber darum, den Unscheinbaren, den Erniedrigten einen Platz im Literarischen einzurichten. Als Sohn eines Polizisten und einer Hausfrau und gelegentlichen Schneiderin schöpft Romeo aus seiner „Herkunft aus der Herkunftslosigkeit“.78 Er lässt Existenzen wie die seiner Mutter ohne Gehässigkeit, aber unbeirrt aufscheinen, sie, die von der Möglichkeit träumte, „im Leben gäbe es nur fingierten Schmerz, aber keinen echten“.79 Zusammen mit dem Schriftsteller Ismael Grasa (Huesca, 1968) unternahm Romeo im Sommer 2006 eine aberwitzige Reise von Zaragoza nach Soria, die er später unter dem Hollywoodartigen Titel „Desesperadamente buscando a Peter Handke“ (dt. Peter Handke... verzweifelt gesucht, 2006)80 in einer episodischen Erzählung verarbeitete. Der Anlass zur Reise war reiner Nonsens: Handke hätte Zuflucht in Soria gesucht, um dem Heine-Preis-Skandal zu entgehen. Die treibende Kraft der Erzählung ist ebenso paradox: Romeo möchte den Autor finden, dessen Worte der angehende Schriftsteller las, als „wären sie die Bibel”,81 der ihn aber später im Stich ließ, indem er der „Exeget eines Tyrannen“82 wurde. Romeos behauptetem Abstand zu Handke widerspricht nicht nur die Tatsache, dass er nie aufhörte, seine Bücher zu lesen, sondern vor allem das Ziel der Reise selbst: sich mit Handke zu unterhalten „über Milosevic, über den Heine-Preis oder über die Dauer, den geglückten Tag oder die Müdigkeit“.83 Aber niemand auf der Fahrt
76 Ebd., S. 132. Vgl. Peter Handke, Wunschloses Unglück, mit einem Kommentar von Hans Höller unter Mitarbeit von Franz Stadler, Frankfurt am Main 2003. 77 Auch Edgard Borges fand in Wunschloses Unglück die Geschichte seiner eigenen, aus ganz ärmlichen Verhältnissen stammenden Mutter wieder. Sprach Handke in Wunschloses Unglück seine Sehnsucht aus, er könne z. B. mit einem Theaterstück ein bisschen lügen und sich verstellen, verarbeitete Borges den Tod der Mutter in dem Krimi ¿Quién mató a mi madre? (Wer tötete meine Mutter?). Vgl. Edgard Borges, El hombre no mediático, S. 23. 78 Handke, Die Geschichte des Bleistifts, S. 25. 79 Romeo, Dibujos animados, S. 90. 80 Félix Romeo, „Desesperadamente buscando a Peter Handke“ [2006], in: Dreymüller (Hg.), Handke y España, S. 295–308. 81 Ebd., S. 289. 82 Ebd., S. 297. 83 Ebd., S. 297.
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nach Soria erkennt den Mann auf der Fotografie von Handke, die der Polizistensohn selbstironisierend als eine Art Steckbrief mitgenommen hatte, auch nicht die Besitzer des Restaurants China Town, das Handke im Jukebox-Buch besucht. Trotzdem erweist sich die Suche nach Handke nur als relativ erfolglos: Romeo und der Freund finden auf dem Weg nach Soria Gräber und Denkmäler spanischer Schriftsteller, erinnern sich an von Machado inspirierte Popsongs, an Buñuel, an Ereignisse aus dem Bürgerkrieg und aus der ETA-Zeit... Die spanische Landschaft strahlt einen fremdartigen Zauber aus.84 Eingebettet in Romeos Erzählung bekommen die geschichtlichen Fakten etwas Fabelhaftes, und so erlangt die Geschichte eine seltene Stimmigkeit, die, wenn auch auf Umwegen, Handke zu verdanken ist. Seit seiner ebenfalls nur relativ erfolglosen Suche nach einer Jukebox in Soria sind in die Kleinstadt so viele Migranten gekommen, dass er in ihr, stellt Romeo fest, nicht mehr der „Landfremde“ (VJ 134)85 wäre. Im Sorianer „Casino de la Amistad Numancia“, beobachtet Romeo, gebe es keine Gedenktafel für Peter Handke, wie es sie doch für die Dichter Antonio Machado und Gerardo Diego gibt, in Erinnerung an die Stunden, die sie in dem Lokal verbrachten, aber Romeo schließt nicht aus, dass Handke sich immer noch in Spanien aufhalte, vielleicht hinter den Billardtischen, die niemand verwende. Mit Handkeschen Mitteln hat Romeo eine Huldigung an Handke geschrieben, die vorgibt, keine zu sein. Vergleichbares tut der Schriftsteller und Filmemacher Ray Loriga in seinem „Ensayo sobre el plagio a Peter Handke“ (dt. Versuch über das Plagiat für Peter Handke, 2014),86 in dem er, ausgehend von einer Äußerung Handkes „Ein Autor, den man leicht nachahmen kann, ist der Bezeichnung ,Autor‘ nicht würdig“87 , die Unmöglichkeit oder vielmehr den Unsinn einer Nachahmung von dessen Schreiben inszeniert. Wie es nicht anders sein könnte, versetzt Lorigas Text den Leser in eine diffuse Handkesche Stimmung: das Schreiben wird als ,Versuch‘ bezeichnet, und den Leitfaden des Erzählten bildet eine in Bogotá (Kolumbien) erinnerte zweistündige Zugreise durch das meerferne Spanien zwi-
84 Der von Gustavo Adolfo Bécquer verewigte Moncayo wird als japanischer Berg wahrgenommen. Romeo spielt mit den Strategien Handkes der Überkreuzung geographischer Orte: Montenegro de Ágreda, schon in der Provinz Sorias, lässt die Reisenden scherzen, sie wären Handke näher. 85 Leise weist Romeo auf eine Tendenz hin, die das am Anfang entworfene Bild der Entvölkerung des ländlichen Spaniens zu verändern beginnt. 86 Ray Loriga, „Ensayo sobre el plagio a Peter Handke“ [2014], in: Dreymüller (Hg.), Handke y España, S. 245–255. 87 Dreymüller, „Entrevista con Peter Handke sobre Ayer, de camino“, S. 223.
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schen Montfragüe (Cáceres) und Madrid. Ferner hat Loriga, gegen seine Gewohnheit, ein Notizbuch bei sich, in das er nichts mit der Genauigkeit Handkes verzeichnen kann. In einem fragenden Text geht Loriga der Frage nach dem idealen Plagiat nach, um provisorisch zu schlussfolgern, dass das Plagiat kein geborgter Mut, keine Liebe, kein Diebstahl und noch weniger eine Hommage ist. Plagiieren sei unmöglich und der Versuch zu plagiieren traurig. Die Unschuld Handkes wünsche er sich jedoch zu haben, sie sei, so Loriga, die beinahe kindliche Lust, beim Schreiben immer neu von vorne anzufangen. Die Bücher Handkes, so Loriga, seien für ihn immer obligatorische Referenzen gewesen – so rumore die Stimme Handkes in Die linkshändige Frau stets in seinem Kopf ,88 aber erst die ,spanischen Bücher‘ des österreichischen Schriftstellers hätten diesen in eine für ihn tröstende Anwesenheit verwandelt. Sooft er sich in der Meseta befände, erzählt Loriga, sei Handke (zusammen mit Azorín) für ihn sehr präsent. Nach den Worten Lorigas zu urteilen und mit einer strapazierten, aus der literarischen Tradition stammenden Formel gesagt: Handke hat Spanien in ‚etwas fremdartig Bekanntes‘ verwandelt: „Warum war es mir zu seiner Zeit so exotisch Handke zu lesen, der über mein Land sprach, das gleiche, das ich bereits kannte, das ich als Kind auf dem Rücksitz im Auto meines Vaters bereist hatte?“89
88 Vgl. Santiago Díaz Benavides, „Una hélice fuera del agua: entrevista a Ray Loriga“, in: Revista Canéfora, 10. August 2017. https://revistacanefora.wordpress.com/2017/08/10/ una-helice-fuera-del-agua-entrevista-a-ray-loriga/ (zuletzt aufgerufen: 17.12.2018). 89 Loriga, „Ensayo sobre el plagio a Peter Handke“, S. 247.
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# $ „Auf was wartest du im Gehen?“, fragt sich der Notatenschreiber in einer der für Peter Handkes Aufzeichnungsbücher so typischen Selbstbefragungen, die meist zugleich Selbstvergewisserungen sind. „Auf das Heranwehen des Märchens, Silbe um Silbe, Satz für Satz“,1 antwortet er. An anderen Stellen atmet sich der Diarist hin zum Märchen (BAU 102) oder wird das Glück des Märchens nach einer „Nacht der Versteinerung“ durch ein kräftigendes „Fensteraufstoßen“2 evoziert. Wie so oft in Handkes Werken ist das Draußen der Raum des Märchens, und Wind und Atem sind hier dessen Träger und Beweger – Beispiele dafür, wie anschaulich in Handkes Sinnen über das Märchen sein „Modell des offenen, luftigen Erzählens“3 werden kann. Atem und Wind: eine Erinnerung wird wach an Beseelung und Einhauchen als mögliche Bedeutungen des Wortes ‚Inspiration‘ oder an die neutestamentliche Schilderung des Brausens während des Pfingstwunders, da die versammelten Jünger vom Heiligen Geist erfüllt wurden.4
1
Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Periphe-
2
Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten,
rie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016, S. 165. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle BAU.) Frankfurt am Main 21994, S. 299. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle NB.) 3
Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 357.
4
Vgl. Apostelgeschichte 2, 1–4.
292
Aus ‚Buchmärchen‘, aus ‚Lesemärchen‘ allein – dies wird in Handkes Werk sehr deutlich – lässt sich eine Erfahrung, ein Erlebnis des Märchens nicht gewinnen. Und so richtet sich der Blick aus dem Lese- und Arbeitszimmer, aus dem Fenster: auf einen Vogel beispielsweise, der „wie ein Märchen, das nicht gestört werden wollte“,5 wirkt. Der Weg aus dem gelesenen Märchen, dem eng mit dem inhäusigen Leser und seinem Habitus verbundenen Märchen, aus dem Haus als zwangsläufig begrenztem Wahrnehmungsraum führt nach draußen ins Freie, in die Weite, in Gärten, zumeist in Landschaften, aber auch in Städte. Konstitutiv für die Märchenerfahrung ist ein solcher Aufbruch ins Offene, sind Gehen und Wandern in den ‚Welträumen‘, das erzählende Gehen, das gehende Erzählen6 in der „Märchenluft“, in der sich die „Freude an der Welt“7 kundtut. Die „märchenhaft verwandelte Welt durch das Gehen“8 wird einer solchen Poetik zum Motto. Der Weg aus dem Buchmärchen, dem gelesenen Märchen führt in Handkes Denken nicht nur nach draußen, zu den erwanderten und geschauten Märchen, sondern auch in die Tiefe der Zeiten, zu den vermeintlichen Quellen des Erzählens, zu einer imaginiert vorschriftlichen Überlieferung. Er führt zu einem Märchen, das noch nicht in Lettern gegossen ist, sondern zu einem unverbildet primordialen Erzählten gehört, einer durchaus im Sinne Johann Gottfried Herders zu verstehenden Mythopoiesis der Anfänge, einer ursprünglichen Naturoder Volkspoesie.9 So erfreut sich der Rezensent Handke bei der Lektüre der Gedichte des tschechischen Dichters Jan Skácel an einer Rückkehr zu „nicht nur meiner persönlichen, sondern unserer gemeinsamen mitteleuropäischen10 Kind-
5
Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salz-
6
Die diffizile Hermeneutik des Handkeschen Verhältnisses von Erzählen und Gehen
burg/Wien 1998, S. 446. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle FF.) erschließt Volker Georg Hummel, Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“ als Spaziergängertexte, Bielefeld 2007. 7
Peter Handke, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, Frankfurt am
8
Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990,
Main 1989, S. 119. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle SF.) Salzburg/Wien 22005, S. 458. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GU.) 9
Vgl. dazu Hermann Bausinger, „Naturpoesie“, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 9, hg von Kurt Ranke u.a., Berlin 1999, Sp. 1273–1280.
10 Auf die politischen Bedeutungen von ‚Mitteleuropa‘ (s. später in meinem Text auch ‚Ostmitteleuropa‘) in Handkes Denken (etwa im Hinblick auf den Jugoslawien-Krieg, Handkes Jugoslawien-Utopie, seine Serbien-Reise und die Rolle Sloweniens in seiner
293
heit“ der „Sagen, Märchen und Fabeln“,11 einer Kindheit, aus der der wohl mündliche „Anruf des Anfangs“12 ergeht. Von einer „sie einst verbindenden Geschichte“ (NB 156), so Handke, sind die Menschen heute auf schmerzliche Weise entfernt. In unserer Zeit scheint es, als habe das Erzählen „sich verbraucht“, als sei etwas „wie ein Grundwebstoff […] mit den Jahrtausenden fadenscheinig geworden und halte nicht mehr, zumindest nicht für den großen Zusammenhang“ (NB 700). Doch führt der Weg auch bei Handke letztlich zurück zum Buch, wie fragil und bedroht dieses auch sein mag, denn selbstverständlich bedarf auch das Märchen des Aufschreibens, eines Speichermediums und eines Menschen, der es liest. So stößt der allein wandernde Ich-Erzähler im Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht: Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994) bei einer Müllablage in der Gebirgssteppe der spanischen Enklave Llívia auf die Trümmer eines ehemaligen Steppenhauses: Ein verrosteter Herd lag zwischen den Trümmern, mit einem Backrohr, aus dem alte Zeitungen und Bücher ragten. Ich äugte auf das zuoberst geschichtete Buch, eher eine große Broschüre mit noch blaßfarbigem Titelbild, eine Prinzessin umgeben von Zwergen, dazu die spanischen Lettern: „Los cuentos de los Hermanos Grimm“, Die Märchen der Gebrüder Grimm. (NB 398)
Es ist einer der Handkeschen Märchenmomente verdichteten und poetologisch akzentuierten Erzählens, die für den aufmerksamen Leser auch Lese- und Deutungshilfen bereithalten. Die Szenerie ist karges Land, aufgegeben und verlassen, einer der für Handke so typischen Räume des Peripheren, eines der terrains vagues oder Niemandslande, die von der „Poesie der Ränder“13 leben. Einst wohl als Heizstoff vorgesehen, inmitten von Trümmern und Müll, Symbol für die ständige Gefährdung des Buches, sind die hier angetroffenen cuentos de los Hermanos Grimm kein formschönes, gar bibliophiles Buch für die bildungsbür-
Familiengeschichte) kann hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu Hans Höller, Peter Handke, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 109–119. 11 Peter Handke, „Das plötzliche Nichtmehrwissen des Dichters“, in: ders., Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt am Main 1992, S. 136– 146, hier S. 142. 12 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982, S. 115. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GB.) 13 Vgl. Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006.
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gerliche Bibliothek. Aber die „Broschüre“ ist volksgängig; sie enthält eine Sammlung der Brüder Grimm, dem Schauplatz gemäß, in spanischer Übersetzung. Eine leicht fremdelnde Distanz zum deutschsprachigen Original wird damit geschaffen, ein allzu sentimentales, umarmendes Anheimeln verwehrt. Nicht gelesen wird das Buch, sondern vornehmlich geschaut; der Umschlag mit dem wohl meistillustrierten Märchenmotiv, Schneewittchen inmitten der Zwerge, vom Leser kaum als nicht kitschig vorstellbar, wirkt als Signal zwischen den Trümmern. Doch in der Begegnung mit dem Erzähler ist es in einem für ein Märchenbuch fremden, wenn auch nicht feindlichen Umfeld ‚einfach da‘, von trostspendender Evidenz. Als „Ding-Bild-Schrift in einem“14 gewährt es dem Erzähler – und sei es nur in den Lettern des Titels, im ‚Etikett‘ des Buches – die „tägliche Schrift“ (LSV 9), wenn auch, aufgrund fehlenden Eintauchens in das in dem Buch Erzählte, nur in einer Art Kümmerform. Erratisch, im Brüchigen der Umgebung, die im Übrigen nicht mit dem zu erwartenden Zivilisationsmüll zugestellt ist, scheint es sogar von beglückender, triumphaler andersauratischer Präsenz zu sein, wenn man den der Begegnung folgenden Satz liest: „Das Unerforschliche schweigend verehren.“ (NB 398) Und der Leser ahnt, dass er die Schrift des Märchens in Handkes Landschaften nicht nur in schriftlichen Objekten des Märchens lesen sollte. Der Erzähler aus der Niemandsbucht ist, erst recht in der vorliegenden Passage, schwerlich nicht autobiographisch zu deuten. Dennoch stellt sich nicht nur hier die Frage, inwieweit der Autor Handke das Lesen und Erwandern, das Finden und Verstehen der Märchen zumindest teilweise an die Figuren seiner Erzähler delegiert hat. Auch die Aufschreibenden, Nachdenkenden und Interpretierenden der Notate müssen – wenn auch eine sehr spekulative Vermutung – nicht zwingend bloße Spiegelbilder des Autors sein. Gleichzeitig lenkt das Märchenbuch, von hybridem Charakter zwischen Broschüre und Buch, unsere Aufmerksamkeit auf die für Handke nicht unwichtige Frage nach Umfang und Länge literarischer Werke, im Besonderen des Märchens. Beispielsweise ist dem Erzähler in der Niemandsbucht das einzelne Märchen zu kurz, zumindest der „Leser“ träumt von einem buchlangen Epos, einem anderen, künftigen Wolfram von Eschenbach: der „würde demnächst – nicht auftreten, nein, einfach da sein“ (NB 485f.). Mag es der Erzähler, mag es Handke sein, der insgeheim der ‚neue‘ Wolfram sein will? Andererseits stellt das Märchen gerade wegen seiner Kürze, der eingeschränkten Dauer und begrenzten Erzählzeit in der Geschichte des Lesens die traditionell vorgelesene Gattung dar. Ihre Adressaten waren meist Kinder. Auch Handke ist für seine Tochter Mär-
14 Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 78. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.)
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chenvorleser gewesen. So begründet er in einem Brief an Alfred Kolleritsch vom 7. März 1974, wie er den Titel seines Sammelbandes Als das Wünschen noch geholfen hat,15 eine Anspielung auf den ersten Satz aus dem Grimm’schen Märchen Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1),16 gefunden hat: „Das kommt vom Märchenvorlesen am Abend.“17 Die Vorschriftlichkeit des kindlichen Märchenhörens erinnert hierbei an die idealisierte und romantisierte, oft wohl auch nur imaginierte Vorschriftlichkeit der allerersten Märchen des Menschen; Ontogenese und Phylogenese scheinen einander zu spiegeln. Doch werden Leben und Erzählen in Handkes Denken nicht nach Maß und Gestalt eines (vor)gelesenen Märchens getaktet und geformt. Märchen währen – sie nähern sich hierin dem Glück – nur kurz, sehr kurz. Nimmt man die jeweiligen Formulierungen einfach einmal wörtlich, so werden allenfalls einzelne „Märchenlebensmomente“ („begütigend und kräftigend“, NB 300) gewährt, „Märchen, die eine Sekunde dauern“, „Bruchstücke“18 oder „Märchensplitter“19 also, die rasch wieder verschwunden sind.
Ohne Märchen im Buch ist kein Wissen um diese wundersame Gattung. (Und auch wir – Leser des Märchenlesers Handke – erfahren von seiner Lektüre allein durch unsere Buchlektüre). Ohnehin ist Handkes Märchengang nach ‚draußen‘ nicht der eines aus der lesenden Begegnung mit dem Märchen Flüchtenden, sondern der Aufbruch eines Belesenen, der durch intensive Lektüre zu einem schöpferischen Märchenkundigen geworden ist. Zugleich gehören das gedruckte Mär-
15 Peter Handke, Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt am Main 1974. 16 „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, heißt es in der Großen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1857. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, hg. von Hans-Jörg Uther, München 1996, S. 7. (Die Kinder- und Hausmärchen werden hier wie im Folgenden mit der Sigle KHM abgekürzt.) 17 Peter Handke/Alfred Kolleritsch, Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien 2008, S. 71. 18 Peter Handke, Die morawische Nacht. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 2008, S. 368. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle MN.) 19 Peter Handke, Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte, Frankfurt am Main 1999, S. 57.
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chen und das außerhalb der Bücher entdeckte Märchen zu ein und demselben Staunen machenden ‚Weltraum‘. In seinen zahlreichen Märchennotaten, von denen hier einerseits aus Platzgründen nur sehr wenige besprochen werden können, andererseits aber unter ihnen zur Abrundung eines Gesamteindrucks bewusst auch einige periphere, weniger deutungsintensive berücksichtigt werden, widmet sich Handke nur selten den Details der Märchen. Er wendet sich kaum Erzählmotiven en miniature zu, nicht einzelnen Handlungsentwicklungen, nicht der präzisen ‚Architektur‘ oder Feindramaturgie der Märchen. Und in Zitat, Allusion und Kommentar nimmt Handke nur selten auf einzelne Märchen Bezug. Zu den in seinem Werk evozierten Märchendetails zählen Märchenzitate: prägnante Sätze, Wendungen, einzelne Wörter, die einer kollektiven, weithin vertrauten Märchenidiomatik20 angehören: „Als das Wünschen noch geholfen hat“ (s. o.), „Und wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“21 (KHM 53: Sneewittchen) oder „Ick bün all hier“ in dem Märchen vom Hasen und Igel (KHM 187), aus dem Handke ein „Allhier“ ableitet. Dieses „Allhier“ erscheint dem Autor als „Zielwort“, er wünscht sich die „Geborgenheit in diesem Allhier“, er wäre dann gleichzeitig „hier und zum Beispiel im Grün der Ebene jetzt und an der Flanke des fernen Pyramidenbergs“ (FF 412). Gleichwohl bedeutet das niederdeutsche „all hier“ des Grimm’schen Tierschwanks nichts anderes als ‚schon hier‘, wie die von den Brüdern Grimm selbst eingefügte sprachliche Erläuterung verdeutlicht: „Ick bün all (schon) hier“.22 Und das „Allhier“ gleichsam als auf typisch Handkesche Weise nobilitierendes Zauberwort eines Gleichzeitigkeitszaubers ist weit entfernt vom nüchternen „all hier“ der Grimm’schen Wettlaufgeschichte, in der der Langsamere, Schwächere und Kleinere den Schnelleren, Stärkeren und Größeren überlistet. Diese von Handke zitierten Märchenidiome weisen den Autor trotz all seiner Kenntnis der ‚Märchen der Welt‘ (insbesondere wohl Ostmitteleuropas) als einen eindeutig im Resonanzraum der Grimm’schen Märchen angesiedelten Autor aus. Im weitgehenden Detailverzicht der Märchennotate wird ein weiter Abstand markiert zu den vielen Momenten, in denen sich Handke in anderen Notaten und
20 Als (sprichwörtliche) Redensarten begegnen sie in unterschiedlichsten Kontexten. Siehe dazu z.B. Duden: Zitate und Aussprüche, bearbeitet von Werner ScholzeStubenrecht, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürch 1993, Register, s.v. Grimm, Jakob [sic] u. Wilhelm, S. 814. 21 SF 106. Vgl. Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S. 264, hier Satzanfang: „Wer“. 22 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd. 3, S. 133.
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im eigenen Werk als minutiöser Beobachter und enthusiastisch-präziser Schilderer auch noch des Kleinsten erweist. Dies gilt für die vielen auf Alltags- und Nahweltbeobachtungen beruhenden Miniaturen des Staunens und Wunderns, etwa über die Zeitschwellen im Jahr, wie sie beispielsweise durch „die erste Löwenzahnspore haftend-schwimmend obenauf in der Kaffeetasse“ (BAU 104) angezeigt werden. Während Handke insgesamt relativ selten aus Märchen zitiert, enthalten seine Notate zu einzelnen Autoren wie Jakob Böhme und Spinoza, Goethe, Eduard Mörike und Adalbert Stifter, Nathaniel Hawthorne, Henry David Thoreau und John Cheever durchaus viele direkte Zitate. Es mag in Handkes Denken der wortwörtlichen Notierung einzelner Autorentexte die Idee eines gestaltenden, autonomen Sprachschöpfers zugrunde liegen, dem im Falle des Märchens der bloße Märchensammler oder anonyme Märchenschreiber gegenübersteht, dessen Texte nicht nach präziser Zitierung verlangen – eine verbreitete, wenn auch nicht valide Einschätzung. In den sorgfältig durch Anführungszeichen eingerahmten Lese-Exzerpten zeigt sich überdies der Habitus eines poeta doctus, in der zitatlosen, freien, auch befreiten Rede über das Märchen eher schon der Gestus eines poeta vates. Und im Unterschied zur erwanderten Wahrnehmung von Märchen vermittelt Handkes Aufnahme solcher Autoren, selbst wenn er Bücher einzelner Geistesverwandter im Reisegepäck bei sich trägt, dann doch häufig eher den Eindruck einer sitzend lesenden Begegnung mit ihnen. Bei alledem hat der positivistisch ausgerichtete Interpret, der einzelne Lesefrüchte identifizieren und analysieren und exakte Quellenforschung betreiben will, einen schweren Stand. Denn mit dem Märchen hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Es ist allgegenwärtig: in einzelnen Idiomen als geflügeltes Wort, als, von den Eltern vorgelesen, erinnertes, wiederum eigenen Kindern vorgelesenes. Märchen sind in Kinderbücher und Fantasyromane gewandert, begegnen als Schrumpf- oder gar Kümmerform in Witzen, Comics oder Popsongs, haben sich tief in die kollektive Erinnerung eingraviert oder sind in sie eingesickert, um wieder zu anderer Zeit, an anderem Ort ans Tageslicht zu gelangen. Nicht jedem Märchennotat muss also, und das gilt auch für Handke, zwingend eine Märchenlektüre zugrunde liegen. Da das Märchen als Erzählung von der sehr langen longue durée anthropologischer Grundkonstanten erscheint, weist Handke ihm in seiner Deutung den Charakter einer poetischen Menschenkunde zu: ein deutliches Indiz, das neben anderen – etwa der Idee einer beglückenden Universalpoesie, einer Poetik des Wunderns und der Wiederverzauberung der Welt, dem emphatischen Naturverständnis und der Wandermotivik – Handke als einen Autor in der Tradition romantischer Literatur und Literaturtheorie ausweist. Eine solche Menschenkunde
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erstaunt, da die Figuren der Märchen, die für so viele Leser im Zentrum des Interesses stehen, in Handkes Märchennotaten und -passagen nicht von größerer Bedeutung sind. Insbesondere spielen die Schicksale der Figuren, ihre gesellschaftlichen Einbindungen und Wandlungen keine Rolle. Einen wichtigen Einblick in die (Märchen-)Poetik gestatten sie jedoch allemal. So ruft des Autors Bildsinn Schneewittchen an der Schwelle zum Erwachen als nachhaltige visuelle Pathosformel auf, als ein prägnantes Erinnerungsbild, konkreter noch sogar als erinnerte ‚echte‘ Bebilderung oder Illustration – in einer Zeit des nicht nur von Handke beklagten Verschwindens der ‚wahren‘ Bilder: Der Erzähler in der Niemandsbucht legt einen ‚Blaufuß‘, den soeben gefundenen letzten Pilz des Jahres, zu den Steinpilzen auf den eigens für diese bestimmten Tisch. Obwohl noch tiefgekühlt, wirkten auch sie frisch gesammelt, fest, schwer, rosig wie auf manchen Darstellungen das Schneewittchen, bevor es wieder die Lebensaugen aufschlägt: Eingriff des Kochs, der ihnen vor dem Einfrieren einen Teil des Wassers entzogen hatte […]. (NB 1042)
Exemplarisch zeigt sich, in einem kühnen Concetto, wie sehr sich Handkes Märchenlesen – und hier auch, in einem wörtlichen Sinne, sein Märchenschauen – in sein Erzählen eingeschrieben hat. Vielleicht schwingt im Zugespitzten und Weithergeholten des Farbvergleichs zugleich auch Selbstironie des Autors mit ob der eigenen Märchenpassion und der in ihr begründeten Ubiquität des Märchens in seinem Erfahren der Welt. Eine weitere prominente Figur aus dem Grimm’schen Kosmos, der Froschkönig, wird zum Exemplum für Verwandlung: „Immer wieder verwandelt sich mein Königs-Bewußtsein in den Frosch zurück“ (GB 151). Offensichtlich widerspricht dann doch die eigene Lebenserfahrung der im Zaubermärchen unumkehrbaren Verwandlung zum Guten. Am tapferen Schneiderlein (KHM 20) schließlich fasziniert den Autor weniger die Figur als der Moment, in dem dieses in einem siegreichen Hochwurfwettbewerb mit einem Riesen statt eines Steines einen Vogel wirft – und zwar so hoch, dass der Vogel, froh über seine wiedererlangte Freiheit, nicht wiederkommt. Die Übertölpelung des körperlich überlegenen Riesen durch des prahlenden Schneiderleins List und Einfallsreichtum hat für Handke bestenfalls periphere Bedeutung. Der „Stein, der ein Vogel“ ist, notiert er nach der Lektüre des Märchens, fliegt „hoch durch das Bild“, er scheint „vor meinen Augen, in meinen Augen, in meinem Herzen“ immer wieder „in die Höhe“ geworfen zu sein. „Nicht: ‚Ich finde ein Bild‘, sondern: ‚Ich erlebe ein Bild‘, und finde mich darin“ (FF 253), kommentiert er sein Bild-Erleben, das in einem gleichsam ‚hohen Bild‘ auch seine Tonlage des hohen Stils spiegelt und intensiviert.
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Die drei hier vorgestellten Märchennotate, in sehr unterschiedliche Kontexte eingegeben, scheinen sich auf den ersten Blick kaum unter einer klaren gemeinsamen Überschrift zusammenfassen zu lassen. Und doch besteht zwischen ihnen ein Zusammenhang, ein für Handkes Poetik typisches Eingewobensein in eine Textur, in der sich märchenhaft Motive und Themen zusammenfinden: Erwachen und Erwecken, Verwandlung und Wandlung, Erheben, all dies an Schwellen (das Märchen als Ort der Schwellen). Zugleich spürt der Handke-Leser, was ihn als Leser des Märchens erwartet: ein Wachwerden für dessen und eigene Potentiale. In Handkes Denken erweist sich das Märchen gleichsam als eine andere Ontologie. In ihr kommt den Orten, deren Verlust in der Moderne Handke beklagt, eine prominente Bedeutung zu, letztlich eine bedeutendere als den Figuren: Märchen: bei allem vielleicht schrecklichen Geschehen werden durch die Märchen Orte zu Orten, die es sonst nicht sind. Es gäbe ohne die Märchen kein „Häuschen im Wald“, keinen „gläsernen Berg“ usw. Und das ist das Anziehende und Weltstiftende am Märchen. Es werden die Orte zu Klarheiten, die immer da waren, nur nie abgegrenzt wurden. (FF 332)
Der Abstand zu einem wichtigen Aspekt von Handkes Poetik wird deutlich. Denn wo, wie im Märchen, alles unverzichtbarer, jeweils im Zentrum des Geschehens gelegener Ort ist, kann es Handkes Peripherie, seine terrains vagues nicht geben. Auch in manch anderer Hinsicht – der Unterschied zwischen der Detailversessenheit des Autors und der Detailaskese des Märchens wurde bereits erwähnt – unterscheiden sich Handkes Erzählen und das der Märchen auf oft geradezu gegensätzliche Weise. So gilt etwa Handkes Poetik des langsamen Erzählens23 im Märchen nicht. Bei allem Retardieren (zunächst Erfüllung scheinbar unlösbarer Aufgaben oder Durchlaufen von Stationen auf dem Weg zur Erlösung) sind Märchen durch stringente und entschiedene Handlungsführung auf ein Ende, fast ausschließlich auf ein ‚gutes‘, ausgerichtet. Durch die Zeichen des gelesenen Märchens in einem doppelten Sinne bewegt, wendet sich Handke den Märchenzeichen ‚da draußen‘ zu und benennt diese mit eigens kreierten Komposita. Diese Zeichen eines meist erwanderten Welterkundens entstammen verschiedenen Bereichen: der Natur, insbesondere der Welt der Tiere, der Religion und ihrer Ikonographie, aber auch der Welt der Töne. Da sind der archaische „Märchenstein“ (GU 59), die „Märchenfarben“ (NB 157) des Mittelalters, die „Sicherheitsgesichter der Märchenengel“ (GU
23 Vgl. hierzu grundlegend Gerhard Fuchs/Gerhard Melzer (Hg.), Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993.
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278) am Portal der Kathedrale von Amiens in der Picardie, im Akustischen die „Märchenstille“ (BAU 302) und die unschuldige „Märchenstimme“24 eines Kindes. Mit dem „Märchentaxi“ (GU 233) ist zudem das Leben in den neuen Zeiten präsent. Solche Nominalkomposita nehmen den wichtigsten Platz in Handkes Grammatik oder Wortartenlehre des Märchenlobs ein, wobei die im Deutschen so leichte Kompositabildung es ihm erlaubt, vorbereitungslos und umstandsfrei vom augenblicksweisen, oft epiphanischen Aufscheinen des Märchens in der Welt zu erzählen. In Handkes Lesen der Welt werden aber einzelne Märchenzeichen nur scheinbar gefunden und aufgelesen. Es bedarf der Gestaltung: Denn um zu den Märchenzeichen zu gelangen, wird die Welt nach grundlegenden Stilprinzipien des gelesenen Märchens geformt. In nicht unerheblichem Maße gibt das Märchen die Lesart vor, nach der die Welt von Handke gedeutet wird. Dies verleiht seiner Erzählwelt eine wundersame Affinität zum Märchen, eine eigentümliche Märchenhaftigkeit. Sie selbst wird sogar oft zu einem umfassenderen Märchen gestaltet. Als Stilprinzipien treten hervor: die Vorliebe für eindrückliche Bilder, die Ästhetik der Konturierung und der harten, kraftvollen Umrisslinie, Flächenhaftigkeit, Eindimensionalität und Allverbundenheit, sie alle weitgehend einander bedingend. So lässt der Autor die Kontur eines Vogels „mit der Zeit hinüber ins Märchenhafte“25 spielen, erscheinen ihm das Umrisshafte und die Ruhe eines Vogels als märchenhaft (vgl. FF 446f.). Durch die klaren Konturen ist dies alles „märchenkräftig“. Mehr noch: Auf einer höheren Ebene waltet die Kraft der Märchen, werden diese für den Autor zu einem einzigartigen machtvollen Kraftreservoir;26 der „Kraft der Märchen“ steht hierbei die „Kraftlosigkeit der Legenden“ entgegen (GB 67). Flächenhaftigkeit wiederum begründet den Figurenstil des Märchens, dem wir auch in Handkes Erzählungen und Notaten begegnen: ein Erzählprinzip, das dem Leser, der in einem modernen Roman nicht Handkes typisierte, sondern eher psychologisch unterfütterte Figuren erwartet, Schwierigkeiten bereiten kann. Insbesondere in den Notaten sind die MärchenProtagonisten nicht „volle Persönlichkeiten“, sondern „bloße Figuren“27 ohne
24 Handke/Kolleritsch, Schönheit, S. 223. 25 Peter Handke, Die Abwesenheit. Ein Märchen. Frankfurt am Main 1987, S. 181. 26 Zur Bedeutung des ‚Märchenkräftigen‘ und der ‚Märchenkraft‘ in Handkes Werk vgl. Werner Bies, „‚Das Märchenhafte (...) ist das Allerwirklichste, das Notwendige‘. Peter Handkes Lobpreisungen des Märchens in seinen Tagebüchern und anderswo“, in: Märchenspiegel, 25 (2014), 3, S. 3–11, hier S. 6f. 27 Vgl. Max Lüthi, „Flächenhaftigkeit“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, hg. von Kurt Ranke u.a., Berlin 1984, Sp. 1240–1242, Zitat 1241.
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Tiefendimension, was angesichts der Kürze ihrer Auftritte in den Notaten freilich so verwunderlich nicht ist. Und im Umstand, dass das Wundersame und das vorgeblich Reale in einer Welt nebeneinander stehen, mithin derselben Dimension angehören, zeigt sich das märchentypische Stilprinzip der Eindimensionalität:28 ein Begriff, der in der Märchen- und Erzählforschung beileibe nicht negativ konnotiert ist. All dies geht einher mit einer potentiellen Allverbundenheit29 im Märchen, der Möglichkeit einer Figur, mit allen anderen Wesen in Bezug zu treten, womit sich alles zu allem fügen kann. Auch in Handkes Erzählungen – etwa in Mein Jahr in der Niemandsbucht oder im Don Juan (erzählt von ihm selbst) – sind die Figuren häufig auf diese Weise aufeinander bezogen. Exemplarisch finden wir eine solche Allverbundenheit – eine freilich nicht märchennaive, sondern märchensentimentalische – in einer Szene in Gestern unterwegs, in der der Autor auf einer wundersamen Reise in die Londoner Innenstadt gelangt: begrüßt von den „märchenhaft blassen Gesichtern der Grenzfräulein“, dann in warteloser Fahrt mit ungehinderten glücklichen Anschlüssen und Übergängen, schließlich das „wie für mich bestellte Märchentaxi“ (GU 233). In einem zeitweise gelingenden Lesen und Erfahren der Welt als einem Märchen scheint Handkes „Suche nach Zusammenhang“,30 die er selbst auf Grillparzers „Begierde nach dem Zusammenhange“ (LSV 100)31 bezieht, einstweilen zu einem guten Ende zu gelangen. Mit dem Märchen kehrt die Lust auf das „Eine in Allem“ wieder, der „Zusammenhang ist möglich“ und das Ganze „ohne Hilfsglieder“: „Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur freiphantasieren.“ (LSV 100) Ein über märchentypische Stilprinzipen und strukturgebende Verfahren erzielter Zusammenhang bietet dann aber doch mehr Kohäsion und Stringenz als Märchenmotive, die „an nichts und an alles“ erinnern. („Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“, hatte der Alte in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten seinen Mär-
28 Vgl. Max Lüthi, „Eindimensionalität“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3, hg. von Kurt Ranke u.a., Berlin 1981. Sp. 1207–1211. 29 S. dazu Max Lüthi, „Allverbundenheit“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, hg. von Kurt Ranke u.a., Berlin 1977, Sp. 330. 30 Vgl. Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß, Wien 1984. 31 Zum Zitat siehe Franz Grillparzer, „Der arme Spielmann“, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 7, hg. von Moritz Necker, Leipzig 1902, S. 113–151, hier S. 117. Vgl. zu Handkes Grillparzer-Rezeption den Beitrag von Birthe Hoffmann in diesem Band.
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chenvortrag angekündigt,32 und Handke hat diesen Satz seiner Lehre der SainteVictoire als Motto vorangestellt.33) Deutlich gewinnt man überall dort, wo Handke Prinzipien eines Märchenstils übernimmt, den Eindruck, als wolle der Autor die während der Märchenlektüre gewonnenen Einsichten, das hierbei Gelernte anwenden und in eigenes Schreiben überführen. Das gelesene Märchen wird somit für Handke zu einer Schule des Schreibens, der eine Schule des Sehens vorausgeht. Überdies erlauben Märchenlesen und -verständnis des Autors eine weit ausholende, über das Märchen hinausgehende Deutung seines Werkes, indem sie Einblicke in Handkes Poetik gewähren und vielleicht auch seine Überwindung der von Sprachskepsis geprägten existentiellen Schaffenskrise im Jahre 1978 erklären könnten. Denn offensichtlich half bei der Krisenbewältigung eine Wende zum sprachkräftigen Märchen: „Das herrlichste aller Märchen ist die Sprache; die Sprache, die sagt, was sie sagt“ (FF 329). Man mag denken, dass nur die Arbeit am Märchen, initiiert durch eine lektürebasierte Schule des Schreibens, Hilfe und Einsicht böte, gäbe es da nicht ergänzend den Anflug einer nicht steuerbaren, fast gnadenhaften Leichtigkeit: „Verb für das Märchen in der Alltäglichkeit: ‚tut sich auf‘“ (GU 526). Aber letztlich ist auch diese Leichtigkeit eine erst im Lesen und Schreiben oder danach zu gewinnende. Und das Alltägliche, von dem erzählt wird, erscheint oft von vornherein schon als ein märchenhaft Überformtes. Neben grundlegenden, die Gattung Märchen konturierenden Stilprinzipien wird von Handke auch das strukturgebende Leitthema des Märchens – es ist mehr als ein Motiv – in das Lesen der Welt eingebracht. Beschrieben wurde es von Ursula Heindrichs mit der pointierten und schlüssigen Formulierung: „Der Märchenmensch ist ein Wanderer“.34 Die Wanderungen der Figuren, zu einem großen Teil Suchwanderungen, prägen in der Tat die Handlungen und sind uns als essentielle Bewegungen im Märchen präsent: die Schwester auf der Suche nach ihren sieben verwünschten Brüdern (KHM 25: „Die sieben Raben“), die drei Königssöhne auf der Suche nach dem goldenen Vogel (KHM 57: „Der gol-
32 Johann Wolfgang von Goethe, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: ders., Werke. (Hamburger Ausgabe), Bd. 6, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, Hamburg 21955, S. 125–241, hier S. 209. 33 Zum Thema des Zusammenhangs vgl. auch Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Frankfurt am Main 2013, S. 146–149. 34 Ursula Heindrichs, „‚Sagt mir ein Märchen! Sie schweigen.‘ Über die verborgene Anwesenheit des Märchens in den Gedichten von Ernst Meister“, in: Zweites Ernst Meister Kolloquium. Ernst Meister und die lyrische Tradition, 3.-5. November 1993 in Münster, Aachen 1996, S. 285–303, hier S. 296.
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dene Vogel“), wandernd auch sie: Hänsel und Gretel, die beiden Ausgesetzten, bei ihrer Heimkehr durch den Wald (KHM 15). Wenn in Handkes Märchennotaten der Zauber der Welt erwandert wird, sich die Welt als Märchen auftut, findet ein merkwürdiger Prozess des Verschiebens mit wundersamen Korrespondenzen und Spiegelungen statt: von den wandernden Märchenfiguren zum wandernden Weltleser, hierbei Märchensucher und -schreiber, von der Ebene des gelesenen Märchens auf eine der aufgeschriebenen wundersamen Welt- und Märchenfindung. Sie würde man, selbst wenn dies so genau zuträfe, nur unwillig mit der literaturtechnizistischen Vokabel des ‚Meta-Märchens’ versehen wollen. (Dass das Wandern auch eine zentrale welterkundende Bewegung des für Handkes Schaffen so wichtigen traditionellen Bildungsromans darstellt, sei hier nur am Rande bemerkt.) Insgesamt zeigt sich Handke auch als ungeduldiger Leser, der Eigenes zum Märchen, vor allem Wirkungsästhetisches zu dessen Poetik, vortragen will und der zu eigenem (Märchen-)Schreiben als einem Prozess seiner Weltfindung und -erkundung drängt. Das Märchen ist ihm dabei eingebende Anregung und Ansporn zu eigenem, oft überschwänglich formuliertem Wahrnehmen und Nachdenken. Er folgt den Eingebungen des Märchens, es ist ihm primär aber meist nicht detailliert notierter Lesestoff. Aus alldem schließen zu wollen, dass Handkes Märchenlektüre keine detailgerechte oder intensive ist, wäre jedoch verfehlt. Manchmal fällt dies allerdings schwer, denn oft wird ‚Märchen‘ von Handke so gar nicht primär als (literarisches) Werk oder Gattung wahrgenommen. Es ist, wollte man es höher- und höchstrangigen Facetten zuordnen, ‚Raum‘, ‚Zeit‘ (oft beide zueinander in Beziehung gesetzt), ‚Energie‘, ‚Wissen‘, ‚Konzept‘, ‚Vorgang‘, oder ‚Gestus‘. Weit ausholend, feiert der Autor das Märchen als das Große und Umfassende, gelegentlich fast schon Allumfassende – eine programmatische Verve, die sich wohl durch die Hoffnung erklärt, mit Hilfe des Märchens möge die „Suche nach dem Zusammenhang“ gelingen. Auch deshalb in ein weites Assoziationsgeflecht eingebunden, begegnet das Märchen als Traum, hierin mit der Traumgestaltung (GU 449) verwandt, als vergangene Zeit (vgl. SF 37: die „Märchenzeit“ als mythische Zeit), als Ort der Kindheit (sie hat ihren Platz an der „Märchenquelle“, SF 127), mithin als (verlorene) Heimat und Heimkehr zurück zu ihr, als Sehnsuchtsort, Sehnsuchtsgestus und Raum des Glücks, aus dem das für das Märchen charakteristische Böse mit all seinen Grausamkeiten verbannt scheint. Das Märchen steht für das wundersame Erzählen, dessen Aufbruchstraum und Aufbrüche, sein Entgrenzungspotential, häufig eines im Draußen-Gehen erfahrenes, und seine beglückende, Zusammenhang stiftende Dimension. Dies gelingt auch, weil das Märchen Exemplum für die Macht der Phantasie ist, teilweise identisch mit dem „Schöpfertum“ (FF 449) und herausgehobe-
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nes Beispiel für poetische Verwandlung (GU 458). Nur konsequenterweise sieht Handke im Märchen fast ausschließlich das Zaubermärchen. Das Märchen ist – auch in einer noch zu besprechenden Nachfolge des Novalis – eschatologische Kraft, die es am Ende der Zeiten richten wird und eine gestörte Weltordnung wieder einrenkt. Es ist mithin Muster eines letztendlichen Versöhntseins durch Erzählen und Formwerdung eines Weltgesetzes (denn „Märchen heißt: Es geht mit rechten Dingen zu“, NB 1062). Auf dem Weg dahin erweist sich das Märchen auch als ein Andersreales: Ein nur kurzer Weg führt zum „Märchenhaften“ als einem „anderen Alltag“ (BAU 102). Mehr noch: Das Märchen ist auch das ‚Wirklichere’ und ‚Realere’, gar das „Allerwirklichste“35. Ebenso ist das Märchen Wissensspeicher, etwa als „Lebenslehre“ (GB 67), bei alledem Wissen in erzählter Ordnung und Schönheit, ein anderes Wissen, eine unübertroffene ‚Schule des Staunens‘. Bei alledem hat das Märchen nichts Anheimelndes, nichts Ruhigstellendes. Wo die kräftige und poetische Sprache des Märchens in diametralem Gegensatz zur seichten Zeitungssprache, zur banalen Sprache der Nachrichten und ihrer journalistischen Arrangeure (vgl. MN 438–441), zum „Giftgeschwätz“ (VP 217) der (Medien-Welt) steht, mag sie – ganz im Gegenteil – sogar rebellischen Charakter erlangen. Wenn der „einstigen Märchenstimme“ das „Geplapper und Geschnatter der weltweiten Fernsehconférencen“ (MN 168) entgegenstehen, kann Märchenlesen zu einer Geste des – nicht nur ästhetischen? – Widerstands werden. Alle kulturellen Hochleistungen des Märchens sind nur denkbar, weil es für Handke einen Speicher unzerstörbarer Sinn(-Bilder) und einer Formensprache des Staunens und Wunderns darstellt, Synonym für das (traditionelle) Erzählen ist, für dessen archetypische Substanz und Poesie. Bei alledem ist Handkes Märchen öfter Energeia, schöpferische und gestaltende Kraft, denn Ergon, gestalteter und zum Abschluss gebrachter Text, was die Deutung seines Märchenverständnisses nicht immer leicht macht. Dabei stellt, von Handke mit poetischem Ernst, Freude, oft auch Heiterkeit vorgetragen, das Märchen für ihn alle Möglichkeiten dar, Positives auszuschöpfen. Es ist ein schlechthin Zuversichtliches und Optimistisches, das jedoch über das ursprünglich mit der (literarischen) Gattung Vorgegebene weit hinausweist.
35 Peter Handke, Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich, Berlin 2013, S. 217. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle VP.)
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Als Leser – exzerpierender Tagebuchschreiber, Übersetzer, Nachwortschreiber, Kritiker oder Laudator eines preisgekrönten Schriftstellers – findet Handke in den Werken so vieler und so verschiedener Autoren (wie bei dem besprochenen Dichter Jan Skácel) immer wieder das Märchen und das Märchenhafte, rückt es hierbei gelegentlich auch von der Peripherie eines Werkes in dessen Zentrum. Das Spektrum der Gelesenen – in Lesespuren und Lesefrüchten erkennbar – reicht von dem frühromantischen Visionär Novalis bis zu einem Pionier der visuellen Poesie, Carlfriedrich Claus. Ein für Handkes Märchenerfahrung zentraler Satz begegnet in den Fragmenten des Novalis: „Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden – sie wird wieder, wie sie anfing.“36 Handke zitiert den ersten Satzteil mit einer leicht veränderten Satzstellung: „Die Geschichte muß mit der Zeit Märchen werden“. Dabei ist ihm die „Märchen-Erzählung“ zugleich „der Wunsch“ und „das Gebet“ (GU 405, Herv. i.O.). Das Märchen als ein der Geschichte Entgegengesetztes37 wird sie am Ende besiegen. Damit ist das Märchen – so Novalis – „prophetische Darstellung“ des Kommenden: „Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.“38 Für Novalis erweist sich das Märchen aber nicht nur als „Prophetie des künftigen geordneten Chaos nach der Zeit (bes. in der Form des Kunstmärchens)“, sondern – janusköpfig ebenso in die andere Zeitrichtung gewandt – auch als „Zeugnis des ursprünglichen, vorgeschichtlichen Chaos (bes. in der Gestalt des Volksmärchens)“.39 Solch eine romantische Herleitung sowie teleologische und eschatologische Zuversicht verleihen dem Märchen kunstreligiöse Züge und führen zu einer – von Handke offensichtlich nachdrücklich goutierten – höchstmöglichen Nobilitierung, gar Apotheose des Märchenschaffenden. Und in diesem Kontext ist für Novalis wie für Handke ohne das Märchen Poesie nicht denkbar: „Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie – alles Poetische muß märchenhaft sein.“40 Zu einer weitgehend produktionsästhetischen Metapher für das Dichten, präziser noch zum Motto und zur master narrative eines Lebens wird das Märchen, wenn Handke einen Essay über seinen verstorbenen Dichterfreund Nicolas Born
36 Novalis, „Allgemeines Brouillon“, in: ders., Werke, hg. von Gerhard Schulz, München 1969, S. 445–498, hier S. 456 (Nr. 31). 37 Ebd., S. 455 (Nr. 31). 38 Ebd. (Herv. i.O.). 39 Heinz Rölleke, „Novalis“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 10, hg. von Rolf Wilhelm Brednich u.a., Berlin 2002, Sp. 116–119, Zitat Sp. 117. 40 Novalis, „Brouillon“, S. 493 (Nr. 127, Herv. i.O.).
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„Kleine Chronik des Märchens eines Lebens“41 betitelt. „Märchen eines Lebens“ wandelt das „Märchen unseres Lebens“ aus Borns Gedicht „Donnerstag, fünfzehnter Juli“42 ab. Dort, wo Born von einem politisch-utopischen Impetus bewegt wird, ist, so Handke, das Märchenhafte in des Dichters „Umspannkraft der Bilder“ und in seinem Blick auf eine „augenblicks unerhört-mögliche Gegenwart“ zu sehen. Märchenhaft sind auch – noch einmal zitiert der Autor aus Borns „Donnerstag, fünfzehnter Juli“ – dessen „Auge des Entdeckers“ und die Forderung, man solle „die Nerven und das System wieder auf Traum vorbereiten“.43 Zu Handkes Fundstücken zählt auch ein Brief von Carlfriedrich Claus an dessen Künstlerfreund Franz Mon vom 2.9.1990.44 Aus ihm zitiert Handke in seinem Aufsatz „Eine Ideal-Konkurrenz“:45 „[D]urch die Müdigkeit“ – so Claus, der übermüdete Künstler, der der Müdigkeit Gutes abgewinnen will – „werden die Ränder teilweise unterbrochen, als wären an den offenen Stellen die Brunnen der Märchen“.46 Im Kontext von Handkes Deutung erhalten Claus’ ‚neuromantische‘ Züge, seine Begeisterung für den Mythos und den Traum47 besonders deutliche Konturen. Gleichzeitig reibt man sich verwundert die Augen. Eine kontemplative „Inspiration der Müdigkeit“,48 die die Tür zur Imagination öffnet; die Bedeutung der Ränder; ein tieferliegendes Märchen, das es zu finden gilt; die „Brunnen der Märchen“, die an Handkes kraftspendende „Märchenquellen“ erinnern, die in der „Wüste“ nur noch stärker werden (NB 1061): Fühlen wir uns mit diesem zitierten Satz von Carlfriedrich Claus nicht unversehens im Zentrum von Handkes Poetik angelangt?
41 Peter Handke, „Kleine Chronik des Märchens eines Lebens (an Hand der Gedichte von Nicolas Born“, in: Nicolas Born, Gedichte, hg. und mit einem Nachwort von Peter Handke, Frankfurt am Main 1990, S. 79–89. Wiederabdruck: Peter Handke, Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992, Frankfurt am Main 1992, S. 35–48. 42 Nicolas Born, „Donnerstag, fünfzehnter Juli“, in: ders., Gedichte, hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Handke, Frankfurt am Main 1990, S. 33–36, hier S. 33. 43 Handke, „Kleine Chronik“, S. 83; Born, „Donnerstag, fünfzehnter Juli“, S. 34f. 44 S. Ingrid Mössinger/Brigitta Milde (Hg.), ... eine nahezu lautlose SchwingungsSymbiose. Die Künstlerfreundschaft zwischen Franz Mon und Carlfriedrich Claus. Briefwechsel 1959–1997. Visuelle Texte. Sprachblätter, Bielefeld/Berlin 2013, S. 208. 45 Peter Handke, „Eine Ideal-Konkurrenz“ [2014], in: ders., Tage und Werke. Begleitschreiben, Berlin 2015, S. 132–152. 46 Ebd., S. 150. 47 Vgl. dazu ebd., S. 136, 144, 150. 48 Vgl. Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989, S. 74.
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Märchen halten auch einen reichen, über lange Zeiten tradierten Erfahrungsschatz, auch Typenwissen bereit. Letzteres nutzt Handke für eine differenziertere als gemeinhin vorgenommene Einschätzung des Schriftstellers und Kleinbauern Christian Wagner (1835–1918), der sich selbst das Image eines ländlichen Dichters und einfältigen Landmanns gab.49 Dabei war er – so Handke – „nie bescheiden, sondern nur listig, pfiffig, schlau; in manchem das ‚Bäuerlein‘ der Märchen“.50 In der Tat erinnern wir uns an den listigen Bauern als Typus der Erzählliteratur, der z.B. im Schwankmärchen Der Bauer und der Teufel (KHM 189) begegnet und hier den entdämonisierten Teufel düpiert. Märchenhaftes, ein oft im Ungefähren Bleibendes, findet sich allerorten. Unter anderem ist das Märchen auch lose mit Vielfalt assoziiert So hebt Handke in einem Begleitwort zum Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig während des Ersten Weltkriegs die „geradezu märchenhaft mannigfaltigen, jeweils auf den ersten Ton klar erkennbaren Stimmen Stefan Zweigs“51 hervor. Eduard Mörike wird sehr lose und kryptisch in Verbindung gebracht mit einem „Durcheinander des Lebens“, das, wenn man sich darauf einlasse, „märchenhaft“ werde (FF 524). Die Veredelungsvokabel „märchenhaft“ oder dessen Substantivierung „das Märchenhafte“, beide komplimentierend genutzt, dienen auch andernorts dem Lob eines Autors, zur Benennung eines durch ihn erfahrenen Geglückten und sogar Glücklichen. Unerwartet geglückt ist die weitgehend nur angedeutete, großenteils vom Autor als privat eingestufte Beziehung zu seinem französischen Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt.52 Glücklich stimmen den Autor die Filmkritiken Helmut Färbers, der ihm ein dichterischer, „märchenhafter Filmkritiker“53 ist. In den letztgenannten Beiträgen sind im Unterschied zu Vielem, was hier vorgetragen wurde, Deutungsdichte und -intensität, wenn es um das Märchen geht, eher von minderer Art. Und doch – diskreter vielleicht, aber immer noch
49 Peter Handke, „Im Jenseits der Sinne. Ein Versuch über Christian Wagner“ [1978], in: ders., Das Ende des Flanierens, Frankfurt am Main 1980, S. 123–134. 50 Ebd., S. 128. 51 Peter Handke, „Zwei Menschenkinder, zwei Hochherzige. Zum Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig während des Ersten Weltkriegs“, in: Romain Rolland/Stefan Zweig, Von Welt zu Welt. Briefe einer Freundschaft, 1914–1918, Berlin 2014, S. V–XVII, Zitat S. IX. Veröffentlicht auch, mit Veränderungen, in Handke, Tage und Werke, S. 116–131, Zitat S. 121. 52 Vgl. Peter Handke, Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen, 1992–2002, Frankfurt am Main 2002, S. 92. 53 Peter Handke, „Wie ein Letzter ein Erster; Lob eines ‚Kritikers‘. Zu Helmut Färber“ [1994], in: ders., Mündliches und Schriftliches, S. 39–65, hier S. 46.
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hochgestimmt – können diese Äußerungen das, was in den purple patches Handkeschen Märchenlobs gesagt (ja, und auch gefeiert wird), flankieren und stützen. In seinen Lektüren zeigt sich Handke als ein dem Märchen imaginativ und schöpferisch zugewandter Anverwandler des gelesenen Fremden, aufgeschlossen, aber auch idiosynkratisch Gelesenes seinem eigenen oft märchenhaften Kosmos einverleibend. Im Märchen und Märchenhaften rückt Handke all diese so verschiedenen Autoren einander näher, als es den meisten von uns erscheinen mag. Er versucht mit ihnen – oft Toten, für die er emphatische Gedenkblätter schreibt – mittels des Märchenhaften eine wie auch immer definierte Gemeinschaft von märcheninspirierten Nobilitierten zu bilden. Im günstigsten Fall sind sie, wie Novalis und Jan Skácel‚ ‚Märchendichter‘ – Mitstreiter im Kampf gegen die Entzauberung der Welt und die Diktatur des Banalen. Handkes Märchennotate, in seinen Journalen wie in seinen Erzählungen, vermitteln auf unübertroffene Weise mittels nachhaltiger und wirkmächtiger Formulierungen die uneingrenzbare Weite und unverändert unauslotbare Tiefe einer auch heute noch wundersamen Erzählgattung. Die Notate lassen den zu Handkes „verstreute[m], verborgene[m] Volk der Leser“ (LSV 89) Zählenden alle Möglichkeiten, einen eigenen und zuversichtlichen Weg zum Märchen zu finden, indem sie, gestärkt durch Handkes Märchenlektüre und -erfahrung, zu neuen ‚Offenheiten‘ eines über das Märchenbuch hinausweisenden Lesens aufbrechen – eines Schauens und Lesens der Welt, auch als Märchen. Dann hätte sich auf anspruchsvollste Weise ein Wunsch Peter Handkes erfüllt, geäußert in seinem Essay „Drei Zitterer an der homerischen Quelle“: „Das Lesen weitergeben“.54
54 Peter Handke, „Drei Zitterer an der homerischen Quelle“, in: ders., Tage und Werke, S. 165–186, hier S. 165.
C HRISTOPH P ARRY Kann aber von einer Landschaft überhaupt erzählt werden? PETER HANDKE/DIE WIEDERHOLUNG 1
Zu den Konstanten in Peter Handkes erzählerischem Werk gehören spätestens seit der Tetralogie der Langsamen Heimkehr einerseits die Beschäftigung mit Lesern und dem Lesen und andererseits die Landschaftsthematik, die sich oft anhand von ausführlichen Schilderungen langer Fußwanderungen entfaltet. Die beiden Themenbereiche sind ganz wesentlich miteinander verbunden, zumal die Landschaftsund Naturerlebnisse immer wieder im Rahmen eines betont selbst-reflexiven Schreibprozesses vermittelt werden, bei dem der Wanderer, Peter Handke oder jeweils einer seiner Protagonisten, im Gehen die begangene Natur bzw. Landschaft als deutbares Zeichensystem wahrnimmt. Aus der Lektüre der Landschaft ergibt sich ihre Erzählbarkeit. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie dieses Verfahren der Landschaftslektüre zur Evolution einer besonderen Poetik beigetragen hat und wo die Grenzen dieser Poetik liegen. Die Werke, in denen sich Handkes zunehmende Beschäftigung mit Landschaft und Natur seit Beginn der 1980er Jahre niederschlägt, lassen sich als eine ästhetische Versuchsreihe begreifen, zu welcher der theoretisch-
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Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt am Main 1986, S. 266. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle W.)
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anekdotische Essay Die Lehre der Sainte-Victoire das Manifest liefert.2 Gerade dieser Text bestätigt, dass Landschaft nie Natur in Reinform, sondern immer das Ergebnis einer bestimmten auf die Natur gerichteten Betrachtung ist.3 Handke beschreibt, wie er, angeregt durch die Malerei Paul Cézannes, zu einer neuen, von scharfer Beobachtung landschaftlicher Formen gekennzeichneten Erzählweise findet. Die Lehre wirkt zunächst wie eine lockere Zusammenstellung autobiobiographischer Anekdoten, Bildbeschreibungen und Schilderungen von Wanderungen. Sie erweist sich aber bei genauer Lektüre durch zahlreiche versteckte Anspielungen auf die umfangreiche Literatur zu Cézanne als Ergebnis eines gründlichen Studiums, bei dem der Autor auch als Leser in Erscheinung tritt.4 Ähnlich wie Cézanne mit seinen wiederholten Versuchen, denselben Berg zu malen, versucht Handke fortan, immer wieder Landschaftserlebnisse schriftlich zu erfassen, wobei auch wiederholt dieselben Landschaftsformationen, allen voran der slowenische Karst, in Erscheinung treten. Aus dem Studium der Bilder Cézannes (und nebenbei auch der Stellungnahmen des Malers) ergibt sich für Handke die Möglichkeit einer Zusammenführung von „Ding“, „Bild“ und „Schrift“. Explizit wird diese Zusammenführung an zentraler Stelle im Essay, wo als Bindekraft der Wille des Künstlers, hier ausgedrückt als „Strich“, dient: Ding-Bild-Schrift in einem: […] Hierher gehört nun jene einzelne Zimmerpflanze, die ich einmal durch ein Fenster vor der Landschaft als chinesisches Schriftzeichen erblickte: Cézannes Felsen und Bäume waren mehr als solche Schriftzeichen; mehr als reine Formen ohne Erdenspur – sie waren zusätzlich, von dem dramatischen Strich (und dem Gestrichel) der Malerhand, ineinandergefügt zu Beschwörungen – und erscheinen mir, der ich davor anfangs nur denken konnte: „So nah!“, jetzt verbunden mit den frühesten Höhlenzeichnungen. – Es waren die Dinge; es waren die Bilder; es war die Schrift; es war der Strich – und es war das alles im Einklang. (LSV 78f., Herv. i.O.)
2
Peter Handke, Die Lehre der Sainte Victoire, Frankfurt am Main 1980. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LSV.)
3
Joachim Ritter, „Landschaft“, in ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974, S. 141–164, hier S. 150f. Vgl. Christoph Parry, Peter Handke’s Landscapes of Discourse, Riverside CA 2003, S. 17–20.
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Vgl. Angela Oster, „Re-Formation des Auges. Peter Handkes Cézanne-Lektüre in Die Lehre der Sainte-Victoire“, in: Torsten Hoffmann (Hg.), Lehrer ohne Lehre. Zur Rezeption Paul Cézannes in Künsten, Wissenschaft und Kultur (1906–2006), Freiburg im Breisgau 2008, S. 213–240; Christoph Parry, „Die klassische Wende. Zur ästhetischen Erziehung Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire“, in: John Ole Askedal et al. (Hg.), Peter Handke. Sechs Beiträge, Oslo 1986, S. 73–92.
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Doch was dem Maler durch seine Bildsprache gelingt, lässt sich nicht einfach episch wiederholen. Ein rein deskriptives Schreiben reicht Handke für sein Projekt nicht. Von der Landschaft muss erzählt werden können. Mit dem Versuch, Landschaften erzählerisch zu erfassen, begibt sich Handke auf das schwierige Terrain der Konkurrenz zwischen Bild und Schrift. Das Gesehene lässt sich nicht einfach erzählen. Erzählen lässt sich nur der Prozess des Sehens, der Wahrnehmung und der Verarbeitung des Wahrgenommenen. Dieser Prozess bildet eine Art Lektüre, die im Epischen nacherzählbar wird. Mein Beitrag zeigt, wie dieser Prozess in den Prosawerken Langsame Heimkehr, Die Wiederholung und Die Abwesenheit in Erscheinung tritt und wie das in diesen Werken entwickelte ästhetische Programm durch die Ereignisse der 90er Jahre in Rechtfertigungsnot gerät und durch die Zugabe einer gewissen Ironie abgemildert wird. Das Programm, das sich aus dem Studium Cézannes erschließen lässt, kommt bereits in der Erzählung Langsame Heimkehr (1979),5 die ein Jahr vor der Lehre erschien, zum Vorschein. Die Erzählung beginnt in der Wildnis Alaskas, wo der Protagonist, ein leidenschaftlicher Geologe namens Valentin Sorger, mehrere Monate lang Feldforschung betrieben hat. Das grundsätzlich Neue in Handkes Schreiben, das dieses Werk kennzeichnet, ist die Langsamkeit selbst. Nirgends zeigt sich der Wandel deutlicher als im Vergleich zwischen Langsame Heimkehr und dem 1972 erschienenen „road novel“ Der kurze Brief zum langen Abschied. In beiden Büchern wird der amerikanische Kontinent durchquert, im Kurzen Brief von Ost nach West, in Langsame Heimkehr von Alaska über Kalifornien nach New York. Im Kurzen Brief gibt es die Andeutung einer Krimi-Handlung: Der Protagonist wird von seiner Ex-Frau verfolgt, bis es an der Pazifikküste zum kinoreifen Showdown kommt. Landschaftsschilderungen gibt es dort durchaus, aber es sind Momentaufnahmen, Blicke aus dem Autofenster, wobei gerade Fahren und Fliegen die ausschlaggebenden Bewegungsarten sind; den intermedialen Bezugspunkt bildet das Kino und nicht die Malerei. Bei der Heimkehr des Geologen Sorger vom
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Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle LH.) Eine unmittelbare Anknüpfung an die Erzählung findet sich im ersten Satz der Lehre (LSV 9) sowie später, wenn es heißt, „der Geologe hatte sich noch vor dem europäischen Boden in mich zurückverwandelt“ (LSV 93).
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Ort seiner Feldforschung im „hohen Norden“6 sind die Stimmung und das Tempo ganz anders. Sorger wird zwar Opfer eines Überfalls, doch die Folgen sind gering, und das Ereignis bleibt eine flüchtige Nebensache. Der größte Unterschied liegt in der Art der Landschaftswahrnehmung. Anstelle der großen Agrarflächen des Mittleren Westens werden nun Spuren von geologischen Urformen notiert, die schon vor jeder ökonomischen Nutzung da waren und zu denen der Protagonist durch seine Arbeit ein ganz persönliches Verhältnis gewonnen hat: Sorger, so heißt es, „war beflügelt von der Vorstellung, daß diese Wildnis vor ihm durch die Monate der Beobachtung, in der (annähernden) Erfahrung ihrer Formen und deren Entstehung, zu seinem höchstpersönlichen Raum geworden war […]“ (LH 11). Sorger sucht in den größeren landschaftlichen Formen nach Zusammenhang und nach dem, was Handke „Gesetz“ zu nennen beginnt, und plant, einen großen „Versuch über Räume“ zu schreiben. Durch das genaue Studium der Räume meint er sich diese buchstäblich aneignen zu können. Entscheidend an seiner Selbsteinschätzung ist, dass er es als seine Aufgabe versteht, „in der Landschaft zu lesen und das Gelesene in einer strengen Ordnung weiterzugeben“ (LH 16). Das so Gelesene prägt sich ihm auf besondere Weise ein, denn er „hatte die Fähigkeit, […] die Welt-Räume, in die er sich durch seine Arbeit einmal eingelebt hatte, im Notfall zu Hilfe zu rufen – oder auch bloß zur Unterhaltung von sich und anderen herbeizuzitieren“ (LH 13f.). Das ist eine Fähigkeit, die er mit dem Protagonisten des späteren Romans Die Wiederholung teilt. Sie ist keine Selbstverständlichkeit, denn im zweiten Kapitel, das den Titel „Das Raumverbot“ trägt, droht ihm diese Fähigkeit verloren zu gehen.7 Sorger muss man sich als Wissenschaftler und als Künstler vorstellen, dessen Arbeit in seinen Zeichnungen Ausdruck findet. Die fiktiven Zeichnungen des ebenso fiktiven Geologen sind aber nur durch Handkes Schreiben zugänglich. Indes sind Handkes Landschaftsbeschreibungen ihrerseits vom Blick des Zeichners bestimmt. Wie die genaue Beobachtung des landschaftlichen Details in eine zeichnerische Anweisung hinübergleitet, wird am folgenden Beispiel deutlich: Die Stromebene erschien als ein stehendes Gewässer auch dadurch, daß sie sich allseits bis zum Horizont ausdehnte, wo die Horizontlinien selber aber, als ein Phänomen der Mäanderbiegungen, nicht von den ost-westströmenden Fluten, sondern von festem Land, den Ufern der dortigen Flußkrümmung mit dem obenauf wachsenden Strauchpappeldickicht
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Handke geht in diesem Buch auffallend sparsam mit geographischen Namen um.
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Das Erlebnis ähnelt dem des mysteriösen „Bildverlustes“, der die Protagonistin des späteren gleichnamigen Romans befällt: Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt am Main 2002.
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oder den sehr kleinwüchsigen, an sich schütteren, auf die Entfernung jedoch wie dichtgereiht stehenden Zacken der Nadelholzurwälder gebildet wurden. (LH 10)
Mit den Angaben zu den Horizontlinien lässt sich diese Textstelle als Landschaftsund Bildbeschreibung zugleich lesen. Inhaltlich ist der Blick jedoch von Kulturgut bereinigt. Das Bild ist auf Natur und Geometrie reduziert. Solchermaßen vereinfachte, rein auf die Wiedergabe optischer Reize fixierte Bilder sind aber potentiell empfänglich für zusätzliche Deutungen. Sind noch die Beschreibungen der Landschaften des dünnbesiedelten Nordens deutungsleer, so sind die Großstadtbilder im letzten Kapitel des Buches geradezu mit potentiellen Deutungen überfrachtet. Dort wird das Gesehene zunächst ebenfalls auf seine Grundstruktur aus optischen Reizen reduziert und seiner alltäglichen denotativen Bedeutungen entledigt. Doch dann werden ganz neue Assoziationsmöglichkeiten freigesetzt, was schließlich zu einer Remythologisierung des Gesehenen führt: Und ereignete sich nicht, mit jedem Blick über die Stadt, eine Wiederkehr (und Bekräftigung) anderer, anderswo erlebter und verlorengeglaubter Begebenheiten? – Auch das Hotelzimmer wurde durchzuckt von den Schatten der Vögel (und Flugzeuge), und im Dachgeschoß des Nachbarturms bewegte sich jemand durch die sonnenfleckigen Räume, im Arm einen Tücherstapel, der dabei hell und dunkel wurde, wie Wasser in einem Bach über buntgescheckte Kieselsteine fließt. Ein Läufer, hinter dem ein Hund herrannte, erhob sich als Möwe in die Lüfte und spiegelte sich im See. „Sinn für die Wiederholung kriegen! Hinunter zu den Leuten.“ (LH 194f.)
Mit der metaphorischen Erweiterung der Beschreibung wird hier nicht nur die weitere Entwicklung von Handkes Landschaftspoetik angekündigt. In dem Wort „Wiederholung“ klingt auch bereits der Titel des nächsten Buches an, das nun genauer behandelt werden soll.
Sorger ist ein Mann mit wenigen Eigenschaften und fast ohne Geschichte. Er hat ein Bild von sich selbst als „Mann mit dem Weinglas“ oder „Mann mit den verschränkten Armen“ (LH 119). Beides sind Titel bekannter Gemälde.8 Ganz anders
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„Mann mit dem Weinglas“ ist ein Gemälde von Amedeo Modigliani. Den „Mann mit verschränkten Armen“ hat, wie Handke verrät (LSV 36), Paul Cézanne gemalt.
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Filip Kobal, der Protagonist und Ich-Erzähler der Wiederholung: Von Kobal bekommen wir kein Bild, dafür aber eine ausführliche Vorgeschichte, die für das Verständnis der Motivation für die im Buch beschriebene Reise grundlegend ist. Im Buch ruft sich Kobal nach 25 Jahren seine erste Auslandsreise aus der Kärntner Heimat in die benachbarte jugoslawische Republik Slowenien aus der Erinnerung zurück. Somit tritt in Kobal ein deutlich erkennbares alter ego des Autors aus ähnlichen, aber leicht verschobenen Familienverhältnissen als Erzähler in Erscheinung. Doch bei aller Ähnlichkeit der fiktionalisierten Gestalt mit dem Autor bleibt diese fest in der narrativen Logik des Romans verankert. Der Vater Kobals entstammt, wie Handkes Mutter, der slowenischen Minderheit Kärntens. Der viel ältere Bruder Filip Kobals, Gregor, der dem im Zweiten Weltkrieg gefallenen gleichnamigen Onkel Handkes entspricht, hat im slowenischen Maribor Landwirtschaft studiert und ist im Zweiten Weltkrieg verschollen. Anstatt mit seinen Klassenkameraden nach Griechenland zu fahren, macht sich Filip alleine auf die Reise, um Spuren seines Bruders aufzutreiben. Aus narratologischer Sicht dürfte Die Wiederholung der anspruchsvollste Roman Handkes sein. Zum einen werden die Figuren, insbesondere der Protagonist und dessen nähere Familie, ungewöhnlich ausführlich ausgemalt. Zum anderen erhöht sich die Komplexität des Romans durch die Zeitstruktur, die gleich im ersten Satz hervorgehoben wird: „Ein Vierteljahrhundert oder ein Tag ist vergangen, seit ich, auf der Spur meines verschollenen Bruders, in Jesenice ankam.“ (W 9) Wie Sorger aus Langsame Heimkehr besitzt Kobal die Fähigkeit, Landschaften aus der Erinnerung herbeizuzitieren. Doch während diese Eigenschaft Sorger nur von einem extradiegetischen Erzähler zugeschrieben wird, wird sie in der Wiederholung praktisch vorgeführt. Dass der Autor Handke hier zugleich Erinnerungen an seine eigene erste Auslandsreise verarbeitet, die ihn ebenfalls nach Jugoslawien führte, verleiht dem Roman besondere Überzeugungskraft, denn die Schere zwischen der erzählten Zeit und der Zeit ihres Erzählens trennt den noch unreifen Schüler von dem sich erinnernden und gelegentlich kommentierend in das Erinnerte eingreifenden Erzähler ebenso wie vom realen Autor. Kobal erinnert sich nicht nur an die erlebten Orte und Landschaften, sondern auch an die Art und Weise, wie er sie erlebt hat. Darüber hinaus meint er sich erinnern zu können, wie er sich schon während des Erlebens vorstellte, demnächst seiner Freundin von der Reise zu berichten (W 15f.). So wird die vergangene Gegenwart nicht nur als vergangen erinnert, sondern auch als etwas, dessen zukünftige Erzählbarkeit bereits zum Zeitpunkt des Erlebens bewusst wahrgenommen wurde. Filip Kobal ist in mehrfachem Sinne ein Leser. Als Reiselektüre führt er das mit Notizen zum Gartenbau gefüllte Werkheft des Bruders sowie ein slowenisches Wörterbuch bei sich. Mit letzterem kündigt sich jene eigenwillige Mystifizierung
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des Slowenischen als Sprache der Unschuld an, die Handke später in seinem kontroversen Aufsatz Abschied des Träumers vom neunten Land9 weiterentwickeln wird. Dem jungen Kobal scheinen die unvertrauten Wörter des Slowenischen, weil er sie als unverbraucht erlebt, Zugang zu einer neuen Unmittelbarkeit des Wirklichen zu verschaffen: An dem Milchladen stand so im Gegensatz zu der Marktschreierei im Norden oder Westen nichts als das Wort für die Milch, an dem Brotladen das bloße Wort für das Brot; und die Übersetzung der Wörter mleko und kruh war keine ins Anderssprachige, sie war eine zurück in die Bilder, in die Kindheit der Wörter, ins erste Bild von Milch und Brot. (W 132f.)
Kobal bemerkt, wie er manchmal Gelesenes oder auch Gehörtes unverhofft versteht. Schriftzeichen üben auf ihn jedoch besonders dann eine Faszination aus, wenn sich das Gemeinte ihm gerade nicht erschließt. Sie werden in die weitere Umgebung eingeblendet und regen zu weltumfassenden Phantasieausflügen an: Klar waren noch die kyrillischen Buchstaben mancher Passantenzeitungen, lesbar der Rest einer altösterreichischen Inschrift an einem Amtsgebäude, ebenso wie das altgriechische Chaire, Sei gegrüßt! im Giebelfeld einer Villa – aber vieldeutig erschien schon das PETROL-Schild einer Tankstelle, welches, durch das Geäst eines Baumes gesehen, an ein, nur im Traum erlebtes, China erinnerte, und eine gleichermaßen fremdartige Sinaiwüste öffnete sich hinter den Hochhausblöcken mit dem Anblick eines staubigen Fernbusses, von dessen Frontseite, wo die Walze mit den Zielangaben verrutscht war und genau in der Mitte zwischen zwei unleserlichen Ortsnamen stand, im Vorbeifahren das Fragment einer hebräischen Schriftrolle mir in die Augen sprang […]. (W 135)
Innerhalb eines einzigen Satzes werden hier mehrere Übergänge zwischen Schriftzeichen und Landschaftsphantasien geschaffen. Fließende Übergänge existieren auch zwischen den von Kobal gelesenen Büchern und der ihn umgebenden Landschaft. Ganz konkret ist der Übergang bei der Entdeckung der leeren Viehsteige, die im Titel des zweiten Kapitels der Wiederholung genannt werden. Beim Aufblicken vom Buch sieht er die Stufen im gegenüberliegenden Hang, wobei das in der Hand gehaltene Buch selbst den Ansatz eines Bildrahmens abgibt. Wie bei der bereits zitierten Beschreibung der Aussicht auf den großen Fluss in Langsame Heimkehr liest sich die Beschreibung des Blicks auf den Hang mit ihren Anweisungen zur Komposition des Bildes wie die Vorbereitung zu einem Landschaftsgemälde:
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Peter Handke, Abschied des Träumers vom neunten Land, Frankfurt am Main 1991.
316 [als] ich von den alten Wörtern aufschaute, [sah ich] die obere Kante des Buchs unmittelbar an den Luftraum grenzen. Davon wurde der Blick mit dem Buch als Rampe geradewegs weiter bis zum Horizont geführt, an den Fuß der südlichen Bergkette […]. Dort zeigte sich ein kahler Steilhang, schon leicht im Fernschleier, wohin es aber, durch die einzeln stehende Fichte am Rand meines kleinen Plateaus, nur ein Sprung schien. (W 210f.)
Bei genauerem Hinschauen entdeckt Kobal die eingetretenen Stufen der ehemaligen Viehsteige, die er dann in seiner Phantasie mit Rindern bevölkert. Wenig später, sich an den Unterricht seines Geschichts- und Erdkundelehrers erinnernd, deutet Kobal die leeren Steige zu Stufen einer Maya-Pyramide um (W 215). Anschließend wendet er sich wieder dem Wörterbuch des Bruders zu, aber immer mit der Landschaft im Blick: „Ich las weiter, das Auge zugleich in dem Buch und am Berg“ (W 217). Aus der Beschäftigung mit Buch und Landschaft ergibt sich schließlich eine der „Epiphanien“, die Handkes Schreiben in dieser Zeit kennzeichnen. Angeregt durch das Wechselspiel zwischen dem Wörterbuch und der Viehsteige, entdeckt Kobal in den Wörtern Eigenschaften seiner Familienmitglieder und stellt sich vor, auch diese auf den Stufen des Hangs zu sehen. Dann reflektiert er über die eigene Rolle: „Und ich? – erkannte mich, Leser und Zuschauer in einem, als jenen Dritten, auf den es ankam […]“ (W 218). In diesem „Ich“ fallen verschiedene Rollen und Personae zusammen: der junge Kobal, der den Gedanken gefasst hat, der ältere Kobal in seiner Rolle als Erzähler, der Autor, der die Szene erfunden hat. Und es geschieht in diesem Augenblick, dass Kobal seine Fähigkeit entdeckt, das Gewesene herbeizuzitieren: Diese Bilderschrift flimmerte von dem Berghang freilich nur für den Augenblick; dann wieder die relieflose Leerform; Die Sonne untergegangen. Aber ich wußte, daß ich die Rückkehr bestimmen konnte; daß sie […] zu wollen war: auf die Leerformen […] war Verlaß; (Ebd.)
Im letzten Teil des Buches wird die Rückkehr der Bilderschrift als produktive Möglichkeit, aus den Leerformen der Landschaft Geschichten zu generieren, noch weiter ausgebaut. Im Karst, am Ziel seiner Wanderung, setzt Kobal die trichterförmigen, durch die Porosität des Grundes verursachten Vertiefungen in der slowenischen Landschaft zu den kegelförmigen Erhebungen der Halbinsel Yucatán, von denen sein Geschichts- und Erdkundelehrer erzählt hatte, und dem altslowenischen Mythos vom „neunten Land“ in Beziehung. Die Landschaftslektüre, die hier auf einen Höhepunkt getrieben wird, ergibt einen Zusammenhang aus Ding, Bild und Schrift, der im Buch als ,Wiederholung nacherzählt wird.
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Der Gang durch die Landschaft als Lektüreprozess wird auch im folgenden Buch, in der Erzählung Die Abwesenheit, thematisiert.10 Ursprünglich als Film konzipiert, liest sich die im Untertitel als „Märchen“ gekennzeichnete Erzählung wie ein Traum, denn sie besteht aus einer Folge von scheinbar zwanglos ineinander übergleitenden Bildern mit einer nur rudimentären Handlung. Vier nicht näher charakterisierte Figuren brechen zu einer gemeinsamen Reise auf. Sie werden einfach als „Der Alte“, „Der Spieler“, „Der Soldat“ und „Die Frau“ bezeichnet. Wie in einem Märchen wird von ihrer jeweiligen Vorgeschichte kaum etwas berichtet, und wenn nach und nach einzelne Fragmente einer Vorgeschichte zum Vorschein kommen, bleiben sie vieldeutig und reichen nicht aus, um die Reise oder das Verhältnis der vier zueinander wirklich zu motivieren. Mit ihren Rollenbezeichnungen bleiben die Figuren Hülsen, in die jeweils die anderen Figuren, aber auch die Leser, ihre Vorstellungen hineinprojizieren können – was besonders deutlich bei der Frau der Fall ist. Wie die Figuren bleibt auch die Landschaft im Gegensatz zum slowenischen Karst des vorigen Romans unbestimmt. Obwohl kleinste Einzelheiten wie etwa Unebenheiten im Boden und Pflanzen am Wegrand genau beschrieben werden, bleibt das Gesamtbild vage. Das verleiht der Landschaft eine allegorische Aura, die hier noch stärker ausgeprägt ist als in Langsame Heimkehr, wo die Orte trotz ihrer Namenlosigkeit erkennbar bleiben. Die formale Nähe zum Film fällt besonders zu Beginn der Erzählung auf, wo die Figuren zunächst jede einzeln in ihrer äußeren Erscheinung und dem ihr zugehörigen Raum vorgestellt werden, und zwar so, als ginge es um genaue Anweisungen für eine Kameraeinstellung. Nach diesem Einstieg kommen die vier Figuren scheinbar zufällig im Abteil einer Kleinbahn zusammen. Nach Erreichen der Endstation setzen sie Ihre Reise mit unbekanntem Ziel zunächst im Wohnmobil und dann zu Fuß fort. Bald übernimmt der Alte die Führung der Gruppe. Anders als der Geologe Sorger haben die Reisenden in der Abwesenheit – mit Ausnahme des unentwegt in sein geheimnisvolles Heft Notizen schreibenden Alten – kein wissenschaftliches Interesse an der vorgefundenen Landschaft. Sie nehmen zwar auch manche geologische Form wahr, doch ihre Aufmerksamkeit – und damit auch die des Lesers – richtet sich genauso auf Überreste von aufgelassenen Siedlungen, Spuren nicht allzu weit zurückliegender militärischer Aktionen oder schlicht auf Müll (A 97).
10 Peter Handke, Die Abwesenheit, Frankfurt am Main 1987. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle A.)
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Einen Höhepunkt in mehrfachem Sinne erreicht die Reise, als die Gruppe nach einer längeren Fußwanderung zu einem leeren, nahezu bedrohlichen Plateau gelangt. Mit dieser Landschaft können die Wanderer zunächst gar nichts anfangen, aber ausgerechnet hier erweist sich der Alte als Leser und Deuter des Geländes und von dessen Zeichen. Dabei fällt auf, dass das Lesen und Deuten der Landschaft von den Wanderern offenbar mehr Kraft erfordert als die Reise selbst.11 Auch der Alte strengt sich an, wenn er auf dem unheimlichen Hochplateau mit feuchter Papiermasse einen Stein schraffiert und die Buchstaben D. I. M. zum Vorschein bringt. Diese entziffert er als eine alte Inschrift: „Deo invicto Mithrae“ (A 137). Seine Arbeit wird vom bisher unsichtbaren Erzähler gewürdigt, der sich plötzlich intradiegetisch der Gruppe zugesellt: Der Schriftakt war das, was uns noch gefehlt hatte. Mit ihm bekamen wir Augen für die anderen Zeichen der Einöde: die Reste eines Straßenpflasters im Gras […]. Auch wenn das Pflaster bald abbrach: die Zeichen für sich bildeten eine Art Schneise oder erhöhte Chaussee, die Wildnis geradewegs durchschneidend bis zum entferntesten Horizont. (A 137f.)
Doch die Deutungshoheit des Alten wird nicht ohne weiteres akzeptiert. Am Abend regt sich Protest, als die Frau dem Alten eine viel mondänere Lesart entgegenhält: DIM sei eine Strumpfhosenmarke und der Alte ein Falschspieler, Hochstapler und Betrüger (A 168). Auf dem Plateau trennt sich der Alte von der Gruppe und hinterlässt nur eine handgezeichnete Landkarte. Damit erhalten die verbliebenen Wanderer erstmals ein klares Ziel, nämlich den Alten wiederzufinden. Das Ziel wird allerdings nicht erreicht, sondern lediglich vertagt. Die Wanderer kommen vom Hochland herunter in eine unwirklich anmutende Stadt, die den Anschein einer erst vor kurzem überstandenen Katastrophe erweckt. Frustriert und zerworfen bleiben sie am Ende der Erzählung einfach sitzen. Doch entdecken sie in ihrer Trauer endlich etwas, womit sie sich identifizieren können. Nach seinem einsamen Aufbruch kommen auch dem Alten selbst Zweifel an seinen Lesarten: Dieses ewige Lesen. Von Anfang an war ich unfähig, das große Grundgesetz, das ich in der Natur las, unmittelbar auf mein Leben und meine Menschen zu übertragen – übertragbar war es mir immer nur in der Schrift, im Alleinsein. (A 179)
11 Vom lesenden Soldaten heißt es einmal: „jeder Satz braucht seine Zeit, und danach muß immer tief Luft geschöpft werden für den nächsten. Der Leser zeigt sich als Handwerker […]“ (A 102).
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Der Alte begegnet hier dem Grunddilemma der Schrift und aller semiotischen Vorgänge. Die Zeichen der Natur lassen sich in andere Zeichen übertragen und diese wiederum in weitere Zeichen. Eine wirkliche Einheit von Ding, Bild und Schrift lässt sich als Ideal anstreben, bleibt aber auch im Idealen gefangen. Cézanne mag es gelungen sein, diese Einheit so festzuhalten, dass sie spürbar auf den Betrachter (Handke) wirken konnte. Im traumhaften Märchen Die Abwesenheit lösen sich jedoch die einzelnen Verbindungen immer wieder auf und bieten somit keinen Halt mehr. Das Ganze bildet ein System von einzelnen Zeichen, die sich weder von den Protagonisten noch von den Lesern endgültig aufschlüsseln lassen, sondern immer nur auf weitere Zeichen verweisen. Mit der Sichtbarmachung dieser endlosen Semiose kommt Handke einem dekonstruktivistischen Ansatz nahe, der mit seiner oft auratischen Rhetorik – etwa am Ende der Wiederholung – in einem prekären Spannungsverhältnis steht. Nachträglich, im Zusammenhang des Gesamtwerks Handkes gelesen, lässt sich die bewusst unbestimmt gehaltene Gegend der Abwesenheit vielleicht doch lokalisieren. Die ominösen Spuren von Kriegshandlungen wirken in Anbetracht der nur wenige Jahre nach Erscheinen des Buches ausbrechenden Balkankriege nahezu prophetisch. Aufhorchen lässt bereits in diesem Buch die Erwähnung früherer Partisanenkämpfe; schließlich spielen die jugoslawischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle in der Privatmythologie dieses Autors. Das kommt bereits in der Wiederholung in der Figur Gregors, des verschollenen Bruders von Filip Kobal, zum Ausdruck und wird über die folgenden Jahre in Handkes empfindlichen und kontroversen Reaktionen auf den Zusammenbruch Jugoslawiens spürbar bleiben.12 Dafür, dass erneut die Landschaft des slowenischen Karst zumindest eine unterschwellige Rolle in der Abwesenheit spielt, spricht auch die Entstehungsgeschichte der Erzählung. Sie wurde zunächst als Film konzipiert, der die Pilgerfahrt einer slowenischen Familie nach Ravenna darstellen sollte. Interessanterweise wurde das Vorhaben von diesem Ausgangspunkt immer weiter abstrahiert, bis weder die konkret gedachten Figuren noch die geographisch bestimmte Gegend übrig blieben. Der Film, der tatsächlich einige Jahre später fertig wurde, folgt jedoch weitgehend der Handlung des Buches.
12 Besonders deutlich werden Handkes Familiengeschichte und der Partisanenkampf im Stück Immer noch Sturm (2012) kontrafaktisch zusammengeführt. Vgl. Christoph Parry, „Von Ahnen und Enklaven. Staat und Heimat bei Peter Handke“, in: Text und Kritik IX/15 (Sonderband Österreichische Gegenwartsliteratur), S. 71–82.
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Die Zweifel des Alten an der Mitteilbarkeit seiner Landschaftslektüre verkünden eine Verunsicherung des Autors über die Fähigkeit von ästhetischen Programmen, sich den Konflikten der Welt entgegenzusetzen. Diese Verunsicherung konnte mit dem Zerfall Jugoslawiens nur verstärkt werden, denn er traf den Autor doppelt: zum einen wegen der eigenen slowenischen Abstammung, zum anderen wegen des Widerspruchs zwischen dem poetischen Bild des „neunten Landes“ und der Realität der Verhältnisse der sich auflösenden jugoslawischen Föderation.13 Zwar darf man Handke nicht den Irrglauben unterstellen, er habe mit der Wiederholung eine realistische Darstellung des modernen Slowenien geben wollen. Dass aber seine Kritik am Konzept der Nationalstaatlichkeit und seine Vorstellung, dass ein „Volk“ sich auch anders konstituieren kann als nur in Gestalt eines nationalen Staatsvolks, ausgerechnet von Ereignissen in Slowenien widerlegt wurden, hat den Autor sehr getroffen. Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), die erste in einer längeren Reihe von Schriften, mit denen Handke die Konflikte im Balkan begleitet, macht diesen Zusammenhang sehr deutlich.14 In dem ursprünglich in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Essay wird nicht nur der Anspruch auf Nationalstaatlichkeit grundsätzlich in Frage gestellt, sondern es wird auch dieselbe subjektive Wahrnehmung des Landes aufgegriffen, die den poetischen Kern der Wiederholung ausmachte. Vor allem geht es erneut um die ,Unschuld‘ der slowenischen Sprache. Im Verlauf der Balkankriege kommt Handke in seinem Schreiben immer wieder auf Jugoslawien zurück, wobei er nicht selten seine Landschaftspoetik bemüht, um so etwas wie einen Gegendiskurs zu den allgemeinen Schuldzuweisungen der Medien zu schaffen. Der erste größere Versuch, den Balkankonflikt poetisch in den Griff zu bekommen, geschieht im umfangreicheren, zeitlich leicht in eine alternative Zukunft versetzten Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994),15 wo ganz einfach die Situation Jugoslawiens und Deutschlands ausgetauscht werden. Das hat den Vorteil, dass das Jugoslawien des neuen Romans eindeutig in den Bereich der Utopie versetzt wird, während die Antagonismen, die zum Zerfall
13 Vgl. Christoph Parry, „Peter Handke, Jugoslawien und Europa“, in: Wulf Segebrecht/ Claude D. Conter/Oliver Jahraus/Ulrich Simon (Hg.), Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 329–342. 14 Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien, Frankfurt am Main 1991. 15 Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 1994.
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der realen Föderation geführt haben, auf Deutschland übertragen, trotzdem zum Vorschein kommen, ohne dass eine Analyse der Zusammenhänge notwendig wäre. Auf diesen Roman, der vor allem durch die Poetisierung der unmittelbaren Umgebung von Handkes neuem Wohnort bei Paris gekennzeichnet ist, kann im begrenzten Raum dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden. Erwähnenswert ist jedoch, dass der aus der Wiederholung vertraute Filip Kobal wieder auftritt. In der Niemandsbucht ist er der Jugendfreund des Erzählers Gregor Keuschnig, ebenfalls ein alter ego des Autors aus einem früheren Werk.16 Beide sind Schriftsteller geworden, was Gelegenheit zum poetologischen Streitgespräch bietet. Kobal vertritt inzwischen eine engstirnige slowenische Heimatliteratur, die vom kosmopolitischen Keuschnig entschieden abgelehnt wird. Auch mit diesem Einfall nimmt Handke Abschied von seinem Traum des „Neunten Landes“. Bekanntlich bleibt Handkes Faszination mit dem jugoslawischen Raum auch nach der Verstimmung über die slowenische Unabhängigkeit bestehen. Seine Sympathie überträgt sich allmählich auf Rest-Jugoslawien, das immer weiter schrumpft, bis nur noch das isolierte und international geächtete Serbien übrigbleibt. Während des bosnischen Krieges fährt Handke zweimal nach Serbien und schreibt anschließend Reiseberichte, die zunächst in der Süddeutschen Zeitung und dann in Buchform erscheinen.17 Mitten im Mediengeschrei über die Kriegsverbrechen versucht Handke, in den öffentlichen Diskurs mit einer ganz anderen Art von Text einzugreifen. Seine Berichte entziehen sich jeder Gattungsbezeichnung und lassen die Grenzen zwischen Polemik, Reisebericht mit Landschaftsbeschreibung und literarischem Essay verschwimmen. Dabei kommt die in der Wiederholung dem Geschichts- und Erdkundelehrer Filip Kobals zugeschriebene Idee, dass es möglich sei, „von den Formen des Landes die Zyklen eines Volkes abzulesen“ (W 268), zur Anwendung. Handkes Landschaftslektüren sind jedoch nicht unmittelbar auf die Formen zurückzuführen. Sie enthalten von vornherein eine Interpretation, die ästhetisch geschult ist und auf die Kunstgeschichte zurückgreift. Bezeichnend ist die Beschreibung einer Gegend an der Donau bei Belgrad: Diese Flußwelt war vielleicht eine versunkene, versinkende, eine modrige, alte, aber sie stellte zugleich eine Weltlandschaft dar, wie sie auf den niederländischen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert mir so nie vorgekommen ist: eine Urwelt, welche als eine noch
16 Peter Handke, Die Stunde der wahren Empfindung, Frankfurt am Main 1975. 17 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main 1996; ders., Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt am Main 1996.
322 unbekannte Zivilisation erschien, zudem eine recht appetitliche. Und wir aßen dann Karpfen in einem Flußwirtshaus gleichen Namens, „Šaran“.18
Das friedliche Bild, das Handke hier zeichnet, bildet einen angenehmen Kontrast zu den Bildern vom Kriegsgebiet, die zur gleichen Zeit in den Medien verbreitet werden. Es lässt sich jedoch im publizistischen Kontext des Berichtes nicht zu einer Epiphanie nach Art der Höhepunkte in Die Wiederholung stilisieren. Darum endet die Passage mit dem mondänen Hinweis auf den leckeren Fisch. Die öffentliche Rezeption der Winterlichen Reise fiel dennoch bekanntlich negativ aus. Ein „Gespräch über Bäume“ oder gar über Fischgerichte war in Anbetracht dieser Kriege nicht gefragt.19 Dass Landschaftsbilder als Antwort auf das Kriegsgeschehen inadäquat erscheinen mussten, scheint auch dem Autor später eingeleuchtet zu haben. Im Schauspiel Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999), das die mediale Darstellung des Kriegsgeschehens zum Thema hat, lässt Handke eine Journalistin beim Haager Tribunal dieselbe Strategie anwenden. Täglich mit den schlimmsten Berichten von menschlicher Grausamkeit konfrontiert, erlaubt sich die Journalistin, um sich neue Kraft zu holen, Besuche im Haager Kunstmuseum, wo sie die beruhigende Ausstrahlung von Vermeers Ansicht von Delft auf sich wirken lässt. Die Rede der Journalistin ist bis zu einem bestimmten Punkt durchaus nachvollziehbar, steigert sich gegen Ende jedoch zur reinen Persiflage: Auch unser Tribunal erfand, wie einst unser Maler, mit Hilfe einer leeren Schachtel – der Gerichtsraum – und einer Linse. Camera obscura!, den Frieden, schuf sublim, wie unser Maler, Ordnung und brach so ohne Zweifel den Zyklus von Rache und Widerrache! Ist das nicht schön? Ende der Ästhetik? Anfang der Ästhetik! Neue Ästhetik! – Lauren Wexler, THE NEW YORKER 20
Der Vergleich des Gerichtssaals mit einer Camera obscura ist natürlich maßlos überzogen und unterstreicht in seiner Absurdität die Hilflosigkeit jeder ästhetischen Tätigkeit angesichts des Krieges. Handkes Ironie ist evident: Dass das Gericht den Frieden wie ein Kunstwerk herstellen kann, widerspricht völlig dem, was er mit seinen Reiseberichten zu sagen versuchte.
18 Handke, Winterliche Reise, S. 64f. 19 Vgl. den Überblick in Kurt Fritsch, Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte, Innsbruck 2009. 20 Peter Handke, Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt am Main 1999, S. 89.
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Eine ähnliche Ironie durchzieht noch zehn Jahre nach dem Ende der Kriegshandlungen die „Erzählung“ Die morawische Nacht (2008).21 Darin lässt Handke seine bisherige schriftstellerische Laufbahn noch einmal Revue passieren. Während die inzwischen bekannten Wahrzeichen der Epik Handkes, die Wanderung, das landschaftliche Detail, lange, sich ins Absurde hinausdehnende Aufzählungen, plötzliche Wutausbrüche und Stimmungsumschwünge alle auch in diesem Buch wiederbegegnen, ist tatsächlich eine Gelassenheit spürbar, die in den Erzählungen der 80er Jahre zum Verdruss der Kritik fehlte.22 Der Protagonist, ein „Ex-Autor“, lädt Freunde zu sich auf sein Hausboot in einer „Enklave“ an der Morawa nahe der Mündung in die Donau ein, um ihnen eine Nacht lang von einer Rundreise durch Europa zu berichten, auf der wichtige Stationen aus Handkes Leben und Werk aufgesucht werden. So entsteht, wie Thorsten Carstensen schreibt, „ein mehrstimmiges Gespräch über sein [Handkes] Lebenswerk, das die ideologischen Implikationen des eigenen Schreibens offenlegt und zentrale Themen mit neuen Vorzeichen versieht“.23 Der fiktive Reisebericht bietet die Gelegenheit, noch einmal über die Möglichkeit und Grenzen der Landschaftslektüre und des sich daraus ergebenden poetologischen Programms nachzudenken. So fehlt auch in diesem Buch die vertraute Polemik nicht. Die in der Winterlichen Reise heftig attackierte Mediensprache ist in Gestalt eines gewissen Herrn Melchior, Kritiker und Schriftstellerkollege des Protagonisten, der dessen Dichtersprache als unzeitgemäß verreißt, auch jetzt Zielscheibe der Kritik. Der internationale Literaturbetrieb wird aufs Korn genommen, wenn der Wanderer einen todkranken Literaturdozenten trifft, dessen Vater ein weltberühmter (und gesunder), aber seit Jahren literarisch unproduktiver Autor aus Nigeria oder der Karibik ist. Die zu Handkes Leitthemen gehörende Anspielung auf Kafka in der Darstellung des Verhältnisses von Vater und Sohn ist unübersehbar. Unter den vielen intertextuellen Referenzen im Text, zu denen sogar die Erzählsituation
21 Peter Handke, Die morawische Nacht. Erzählung, Frankfurt am Main 2008. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle MN.) 22 Zum Klima der damaligen Handke-Rezeption vgl. Michael Braun, „Die Sehnsucht nach dem idealen Erzähler. Peter Handkes romantische Utopie“ in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Peter Handke. Text + Kritik 24 (1989), 5. Auflage: Neufassung, S. 73–81. 23 Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013, S. 343.
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selbst gehört,24 kommt den Bezügen auf das eigene Werk das größte Gewicht zu. Auffällig ist zum Beispiel die ironische Rücknahme der Deutschlandschelte aus dem Abschnitt „Das Kalte Feld“ in der Lehre der Sainte-Victoire im Kapitel über den Kurort im Harz, wo der Vater begraben liegt. Hieß es in der Lehre, dass die Aufschriften auf den Geschäften „Verballhornungen und Anmaßungen“ seien und dass „fast jedes Ding, auch in den Zeitungen und Büchern, einen gefälschten Namen“ habe (LSV 90), so findet nun der Ex-Autor ausgerechnet in Deutschland eine unverhoffte Übereinstimmung zwischen Wörtern und Dingen: Wenn es noch galt, was Hugo von Hofmannsthal [im sog. „Chandos-Brief“, C.P.] vor einem Jahrhundert beschrieben oder als nicht zu beschreiben erlebt hatte: daß in Deutschland selbst die Dinge, eine Wachsschüssel, ein Apfel, ein Blumenstrauß, keine Wirklichkeit, keine Dinglichkeit hätten, so gehörte die Gegend um die Vaterstadt nicht zu einem solchen Deutschland. (MN 290)
In diesem Deutschland drängt es den Ex-Autor wieder zum Lesen (MN 291), wobei es nicht nur um Bücher geht, sondern auch wieder um Spuren in der Umgebung, die hier weiterhin, wenn auch weniger emphatisch als in den Erzählungen der 80er Jahre, „gelesen“ werden. Lesen und ein Deutschland, in dem die totgesagten Dinge einen staunen machten, als seien sie nach einem Jahrhundert in einer farben- und formlosen Vorhölle auferstanden. Dinge, damit waren nicht die allgegenwärtigen Krücken, Rollstühle, Ambulanzwagen, Bestattungsgestelle gemeint, sondern das, was in den trotzdem noch offenen und wohl auch durch das Lesen sich öffnenden Zwischenräumen so blühte, ohne eigens zu blühen, sich brauchte, wölbte, behauptete, überdauerte, inbegriffen die Zwischenräume selber. Ein hölzerner Hochsitz in den Wäldern konnte das sein, auf den kein Jäger mehr kletterte, die eine Reiseschreibmaschine im Sperrmüll, frisch rot, der eine Serviettenring, der nicht zur Kollektion gehörte, die eine Bank, oder war das ein Kinostuhl?, tief im Unterholz, schwarzglänzend nach dem Regen. (MN 292)
Vexierbilder wie die hier aufgezählten sind symptomatisch für die im ganzen Text waltende ontologische Unsicherheit, denn die Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt wird ständig in Frage gestellt. Fraglich bleibt stets, wie real, auf der obersten Ebene der Fiktion, die Rundreise selbst oder die verschiedenen Episoden mit der Frau, die immerhin auf dem Hausboot die Gäste bewirtet, tatsächlich sind.
24 Der mündliche Vortrag auf einem Schiff lässt sich unschwer als Anspielung Joseph Conrads Herz der Finsternis verstehen.
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Am Ende der Erzählung, bei Tagesanbruch, lösen sich Fluss, Boot und Gäste auf und es bleibt nicht einmal der Ex-Autor, sondern nur noch der Autor in Chaville übrig, so dass das Ganze in McHales Sinne als „World under Erasure“ zu verstehen ist.25 Mit diesem Rückzug in den Solipsismus geschieht in Reinform die Fusion von Postmoderne und Romantik, die schon länger in Handkes Werk angelegt war. Die in der Wiederholung gestellte Frage, ob man überhaupt von Landschaft erzählen kann, findet in der Morawischen Nacht wieder keine eindeutige Antwort. Das Buch der Natur ist eben kein narrativer Text, auch wenn man noch so viel darin herumliest. Anders als die reine Natur geht Landschaft selbst jedoch immer aus der ästhetischen Interaktion zwischen Natur und Betrachter hervor. Handkes Versuche, Landschaft zu erzählen, berichten von solcher Interaktion. Sie werden begleitet von einem Mitteilungsdrang, der immer wieder mit der Schwierigkeit kollidiert, das Erlebnis, die Landschaftslektüre, anderen wirklich mitzuteilen. Darum verschwindet der Alte in der Abwesenheit und darum löst sich das Hausboot samt Publikum am Ende der Morawischen Nacht auf. Dies erklärt zum Teil die plötzlichen Gewaltausbrüche, die in Handkes Erzählungen immer wieder vorkommen. Und es erklärt auch, warum der Versuch, durch die Erzählung von friedlichen Landschaften in der Diskussion über die Balkankriege zu intervenieren, scheitern musste.
25 Vgl. Brian McHale, Postmodernist Fiction, London, New York 1987, Kapitel 7.
T HORSTEN C ARSTENSEN
Zwischen 1987 und 1990 war Peter Handke, der für TV-Interviews und Filmporträts mittlerweile gern in den sanft verwilderten Garten seines Hauses im Pariser Vorort Chaville einlädt, ohne festen Wohnsitz. Der österreichische Autor befand sich in diesen Jahren auf einer Art ständiger Europaexpedition, wobei ihn Abstecher zudem nach Alaska, Ägypten und Japan führten. Gründlich dokumentiert ist das nahezu pausenlose Unterwegssein in den währenddessen entstandenen Journalen. So verzeichnet beispielsweise das Notizbuch, welches die Einträge vom 1. April bis 9. August 1989 umfasst, auf dem Vorsatzblatt über 90 Entstehungsorte: Von der spanischen Kleinstadt Ronda in der Provinz Málaga ging es demnach über Parma, Bologna, Sizilien, Wien und Salzburg nach Paris, Cannes, München, Zürich, Brüssel und schließlich zur Sommerfrische ins Engadin.1 Nach den Jahren des Wohnens auf dem Salzburger Mönchsberg ahnte der Schreibende wohl: Es war der „Anblick der Ferne“,2 an dem er neu zu sich selbst finden würde. Zwar mischen sich in die Euphorie der Welterforschung gelegentlich markante Phasen des „Heimatlob[s]“ (GU 154). Aber wenngleich das Unterwegssein mit einer Wiederannäherung an die Kindheitslandschaft einhergeht, ist es in erster Linie sowohl „Gegenwartslehre“ als auch „Gegenwartsammeln“ (GU 259). Denn zum einen soll der Reisende lernen, sich dem Augenblick zu öffnen und mit geduldiger Aufmerksamkeit das Alltägliche in der Fremde aufzunehmen; zum anderen dient das Journal dazu, solche Momente zu überliefern, als „Welt-
1
Handkeonline, http://handkeonline.onb.ac.at/node/493 (Stand: 10.2.2019).
2
Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Wien/Salzburg 2005, S. 184. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GU.)
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mitschrift aus den Augenwinkeln heraus“.3 Exemplarisch zeigt sich bei Handke also, dass hinter dem Sammeln, wie Aleida Assmann formuliert, zumeist das Bedürfnis steht, „Dinge aus dem Strom der Nutzung herauszuheben und sie in einem neuen Kontext zu bergen“.4 Das unter dem Titel Gestern unterwegs (2005) veröffentlichte Reisejournal versammelt ausgewählte Beobachtungen und Gedankenfragmente, ekphrastische Szenen und Sprachspiele, imaginierte Kurzdialoge und exzerpierte Textstellen. Dadurch entsteht das Bild eines Wanderers und Spaziergehers, dessen Wahrnehmung von Kultur- und Naturräumen unter dem Eindruck intensiver Lektüre steht. In Literatur und Film, aber auch in der modernen Malerei sowie der Baukunst des Mittelalters spürt Handke Seh- und Darstellungsweisen nach, um sie für sein eigenes künstlerisches Unternehmen zu mobilisieren. In diesen Kosmos, der von so mächtigen Leitideen wie Schönheit, Anmut, Form, Dauer, Universalität und Gerechtigkeit bestimmt wird, finden, um nur einige Beispiele zu nennen, Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre, Ludwig Hohls Notizen und die Romane eines Hermann Lenz ebenso Eingang wie das Neue Evangelium, japanische Haikus, das Kino John Fords oder die romanischen Fresken nordspanischer Kirchen. Handke möchte sich als „kleiner, kleiner Angehöriger der Großen (GU 210) fühlen; er braucht, wie es in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) heißt, „die tägliche Schrift“5 – die tägliche Lektüre dichterischer, philosophischer und künstlerischer Perspektiven auf die Welt – als Belebung des Alltags, aber auch zum Zwecke der Selbstversicherung. Im Laufe der Jahrzehnte hat Peter Handke mit Übersetzungen, Beiträgen in Feuilletons und Geleitworten zu Neuausgaben immer wieder für Autorinnen und Autoren Partei ergriffen, deren Werk im deutschsprachigen Diskurs bis dahin oft keine bedeutende Rolle gespielt hatte. All diesen Interventionen ist gemein, dass sie bewusst nicht als klassische ‚Rezensionen‘ verfasst sind, sondern als „Begleitschreiben“6 vielmehr Anerkennung und Solidarität signalisieren.7 Insbeson-
3
Gregor Dotzauer, „Notizbücher von Peter Handke: Mein Zuhause sind die Farben“, in: Der Tagesspiegel, 18. August 2018.
4
Aleida Assmann, „Sammeln, Sammlungen, Sammler“, in: Kay Junge/Daniel Šuber/Gerold Gerber (Hg.), Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld 2008, S. 345–353, hier S. 345.
5
Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1980, S. 9. (Nach-
6
Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982-1987), Salz-
folgend zitiert unter der Sigle LSV.) burg/Wien 1998, S. 351. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle FF.)
329
dere gilt dies für jene Texte, die Handke dem französischsprachigen Schriftsteller Philippe Jaccottet gewidmet hat. In Jaccottet, 1925 in der Westschweiz geboren und seit 1953 im südfranzösischen Städtchen Grignan ansässig, identifiziert er einen Seelenverwandten, der die Welt in seinen Gedichten, Kurzprosatexten und journalähnlichen Notizbänden ebenfalls „von den Rändern her“8 wahrnimmt und weitergibt, wobei er seine Beschäftigung mit alltäglichen Vorgängen in der Natur als ein bewusstes Innehalten versteht. Dieser kontemplative Zugang korrespondiert wiederum jenem „Leuchten des Zeithabens“ (GU 510), das Handke als notwendige Bedingung für eine fruchtbare, entschleunigte Teilhabe an der Welt auffasst und das er in den Reiseepen – im Sinne einer „Erfahrung der Dauer, die zur Schrift drängt“9 – erzählerisch umsetzt, wie eine programmatische Vorgabe in Die morawische Nacht (2008) verdeutlicht: „Kein Begradigen, kein Zuschütten, keine Vogelfluglinien, kein Beschleunigen, kein Zeitraffer.“10 Im Mai 1988, das belegen unveröffentlichte Passagen des Reisejournals, beschäftigt sich Handke intensiv mit dem Werk Jaccottets, das auch den Blick für die eigenen Fragestellungen schärft.11 Die in diesen Wochen entstehenden Aufzeichnungen bilden die Grundlage jener Laudatio, die er wenige Monate später anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises an Jaccottet halten wird. Handkes Augenmerk gilt vor allem Aspekten des Stils und der Form: Er zitiert französische Verben, vermerkt begeistert Jaccottets Gebrauch des Futurum exactum und notiert Schlüsselbegriffe, die den Anderen als veritablen Bruder im Geiste ausweisen: „Zwischenraum“, „Transparenz“, „Durchlässigkeit“ und „Schwebe“.12 Besonders fasziniert ihn Jaccottets beharrliche Suche nach einer Sprache für das Licht und dessen tageszeitliche und saisonale Nuancen. Die so geernteten Le-
7
Vgl. Lothar Struck, „Der Begleitschreiber. Einige Bemerkungen zum Kritiker und Leser Peter Handke“, in: ders., Erzähler, Leser, Träumer. Begleitschreiben zum Werk von Peter Handke, mit einem Vorwort von Klaus Kastberger, Klipphausen 2017, S. 13–27.
8
Karl Wagner, „‚Von den Rändern her‘. Eine Einführung“, in: Klaus Amann/Fabjan Hafner/ders. (Hg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 7– 17, hier S. 10.
9
Tim Lörke, „Dauernde Augenblicke. Sinnstiftende Zeiterfahrungen bei Peter Handke“, in: Anna Kinder (Hg.), Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen, Berlin/Boston 2014, S. 59–72, hier S. 69.
10 Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008, S. 315. 11 Deutsches Literaturarchiv Marbach, DLA, A: Handke, Notizbuch 58. Vgl. die zahlreichen Einträge zwischen dem 13. und 31. Mai 1988. 12 Vgl. DLA, A: Handke, Notizbuch 58, Eintrag vom 16. Mai 1988: „Jaccottet und das Unsichtbare (das unsichtbare Licht, das unsichtbare Wasser) […].“
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sefrüchte alternieren mit Aufzeichnungen, die eigene Vorhaben betreffen, und zwar in erster Linie ein Projekt, das hier noch „Die Kunst des Fragens“ heißt (und zumeist unter dem Kürzel „DKdF“ firmiert) und 1990 als Theaterstück Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land zur Uraufführung gelangt. Etwa zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2005, hält Philippe Jaccottet sein eigenes Leseerlebnis fest:13 Ein Lektüre-„Zufall“ zum richtigen Zeitpunkt: Gestern unterwegs, Handkes Notizbücher aus den Jahren 1987–1990. Ist Handke nicht, mit dem Besten seiner selbst, ein entfernter Abkömmling von Bash, doch ohne jede Spur von Nachahmung, von „Japanismus“, von „Zenismus“? Diese ausdauernden Wanderungen, fast ohne anderes Gepäck als festes Schuhwerk, ein paar Bücher und die unverzichtbare Gemeinschaft von Notizbuch und Bleistift, und diese unendliche Fähigkeit zu Staunen und Bewunderung, dieser unglaublich scharfe Blick und auch dieses „Herz“, trotz allem, selbst wenn einer, der ihn ein paarmal gesehen hat, versucht sein könnte, ihn für allzu egozentrisch zu halten.14
Seit seinen lyrischen Anfängen in den fünfziger Jahren – die erste Sammlung, L’Effraie et autres poésies, erschien 1953 – hat Philippe Jaccottet nicht nur zahlreiche Gedicht- und Prosabände veröffentlicht, sondern ist auch als Kritiker sowie als namhafter Übersetzer deutscher Literatur in Erscheinung getreten.15 Die
13 Die Texte Jaccottets werden, wo verfügbar, in der deutschen Übersetzung zitiert. 14 Philippe Jaccottet, Sonnenflecken, Schattenflecken. Gerettete Aufzeichnungen 1952– 2005, deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München 2015, S. 231. Schon im April 1988, in La Seconde Semaison, hatte Jaccottet Handke als „Wegbegleiter“ [„un compagnon de route“] hervorgehoben. Vgl. Aline Bergé, Philippe Jaccottet, trajectoires et constellations. Lieux, livres, paysages, Lausanne 2004, S. 306f. 15 Jaccottet hat die Herausforderungen des Übersetzens anhand von Goethes „Wandrers Nachtlied“ skizziert. Siehe Philippe Jaccottet, „Die ‚Verzweiflung des Übersetzers‘“, in: Martin Meyer (Hg.), Vom Übersetzen. Zehn Essays, München/Wien 1990, S. 68– 76, hier S. 72: „Es fällt uns also überhaupt nicht schwer, dieses kleine Gedicht in seiner Tiefe zu verstehen, zu fühlen; kann man jedoch auf französisch sein Echo nachhallen lassen, ohne sich zu weit von ihm zu entfernen, während es ja entzaubert würde, wenn man ihm zu nahe bleibt?“ Goethes Gedicht, so Jaccottet, könne die Sprachgrenzen nicht überschreiten. Vgl. zu Jaccottet als Übersetzer Emma Wagstaff, Provisionality and the Poem. Transition in the Work of du Bouchet, Jaccottet and Noël, Amsterdam/New York 2006, S. 165–187 sowie Jacques Legrand, „Philippe Jaccottet traducteur de Rilke“, in: Marie-Claire Dumas, La Poésie de Philippe Jaccottet, Genève/Paris 1986, S. 15–28.
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Gedichte Hölderlins und Rilkes hat er ebenso ins Französische übertragen wie Musils Der Mann ohne Eigenschaften.16 Wie Handke ist Jaccottet ein leidenschaftlicher Leser, wobei über die französischen Dichter René Char und Francis Ponge, auf die sich Jaccottet häufig bezieht und die Handke in den achtziger Jahren übersetzt hat,17 eine mittelbare Verbindung zwischen den beiden Autoren besteht. Im deutschsprachigen Raum war Jaccottet lange Zeit nur Eingeweihten ein Begriff. Die Verleihung des Petrarca-Preises im Jahr 1988 sowie des HölderlinPreises 1999 haben seinem Werk indes zu größerer Resonanz verholfen; etliche seiner Bücher liegen mittlerweile in deutscher Sprache vor, so auch die Texte, auf die ich mich im Folgenden vorwiegend beziehen werde: die Journale Fliegende Saat (1995) und Sonnenflecken, Schattenflecken (2015), der Essay Der Spaziergang unter den Bäumen (1981) sowie die beiden Bände Landschaften mit abwesenden Figuren (1992) und Nach so vielen Jahren (1998), in denen erzählende Beschreibungen durch lyrische Einschübe ergänzt werden. Es sind dies Bücher, die, wie Wolfgang Matz vermerkt, „das tagtägliche Leben nachzeichnen: als Gehen, Sehen und Hören, als Denken und Schreiben, als unaufhörliche poetische Reflexion dessen, was die Sinne in der wirklichen Welt erfahren.“18 Während Jaccottet inzwischen auch im deutschen Feuilleton als „einer der exzentrischsten und einprägsamsten Schriftsteller der Gegenwart“19 gilt, ist ihm in Frankreich die seltene Ehre zuteilgeworden, bereits zu Lebzeiten in die berühmte Klassiker-Ausgabe der Pléiade aufgenommen zu werden.
16 Jaccottets Übersetzung von Musils Mann ohne Eigenschaften erschien 1957/58. Vgl. dazu Philippe Jaccottet, „Begegnung mit einem Werk“, in: Karl Dinklage (Hg.), Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung, Wien 1960, S. 428–435. An Musil schätzt Jaccottet besonders dessen Behandlung tiefer Geheimnisse „unter Vermeidung aller äußerlichen Lyrismen“ (S. 429). Vgl. auch Jaccottets frühen Briefwechsel mit Martha Musil in den Jahren 1947 bis 1949, wo sich der junge Autor als so euphorischer wie genauer Leser Musils erweist. „Briefwechsel zwischen Martha Musil und Philippe Jaccottet“, in: Martha Musil. Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet, hg. von Marie-Louise Roth, Bern u.a. 1997, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 307–375. 17 Vgl. René Char, Die Nachbarschaften Van Goghs, aus dem Französischen von Peter Handke, München 1990; René Char, Rückkehr stromauf. Gedichte 1964-1975, deutsch von Peter Handke, München/Wien 1984; Francis Ponge, Kleine Suite des Vivarais, deutsch von Peter Handke, Salzburg/Wien 1988. 18 Wolfgang Matz, „Das zweite Handwerk. Ein Seitenblick auf den Dichter Philippe Jaccottet“, in: Neue Rundschau 114.1 (2003), S. 163-167, hier S. 167. 19 Hans-Peter Kunisch, „Zum Glück im Abseits“, Rezension zu Sonnenflecken. Schattenflecken, in: Die Zeit, 6. August 2015.
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„Mein Lebtag lang hat mir die Unnahbarkeit der Welt, ihre Unfaßbarkeit und Unzugänglichkeit, mein von ihr Ausgeschlossensein, am schmerzlichsten zugesetzt“, resümiert Gregor Keuschnig in Handkes großem Epos Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) sein „Grundproblem“, dessen Lösung zum wesentlichen Gegenstand des Erzählens wird: „Ein Dazugehören, Teilhaben, Mitwirken war so selten, daß es ein jedes Mal ein großer Augenblick für mich wurde, zudem überlieferungswert.“20 Den hier folgenden Überlegungen zu Handkes Werk im Lichte seiner Jaccottet-Rezeption dient diese Konstellation als Ausgangspunkt. Die Texte beider Autoren reifen aus dem Wunsch, durch das Ergehen, Wahrnehmen und Darstellen von Landschaften zu einer zumindest provisorischen Teilhabe an einer Außenwelt zu gelangen, die sich dem Subjekt immer wieder als unzugänglich präsentiert. Der Kern dieser ästhetischen Utopie, die mit Peter Hamm auch als „gesteigerte Aufmerksamkeit für das Leben“21 bezeichnet werden kann, besteht in einer von geschichtspolitischen Denkmustern befreiten Annäherung an Naturvorgänge. „Kein Jahrhundert mehr, nur die Jahreszeit“:22 So formuliert der Erzähler in Handkes Langsame Heimkehr (1979) die Utopie einer vollkommen im alltäglichen Dasein aufgehobenen Existenz, der die historischen Zeitläufe nichts anhaben. Der poetologische Fluchtpunkt dieser Vorstellung wird verkörpert durch die Figur des „gelassen“ Schauenden und Hörenden, der sich den Farben, Formen und Geräuschen der oft übersehenen Dinge am Wegrand öffnet – und damit auch deren ‚Eigentlichkeit‘, ihr Wesen zu erkennen vermag.23 Das Schreiben verstehen Handke und Jaccottet dabei als emphatische Suche nach einer ‚gerechten‘ Versprachlichung des Gesehenen, die einer Haltung des Staunens und Ahnens korrespondiert und auf die Etablierung von Hierarchien ausdrücklich verzichtet: „Begeisterung, das hieß: Alles erschien gleich groß. Oder: Nichts erschien groß, und nichts erschien klein [...].“24 Es geht also um eine Sprache, welche die Welt nicht theoretisch-abstrakt zu erfassen sucht, sondern im Sinne „der begriffsauflö-
20 Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 1994, S. 304. Vgl. Roland Borgards, Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert, München 2003, S. 15–46. 21 Peter Hamm, „Unter Lichtzwang. Über Philippe Jaccottet, Petrarca-Preisträger 1988, und die Schwierigkeit, heute Gedichte zu schreiben“, in: Die Zeit, 7. Oktober 1988. 22 Peter Handke, Langsame Heimkehr, Frankfurt am Main 1979, S. 62. 23 Entsprechend trägt Philippe Jaccottets Cahier de verdure (1990), eine Sammlung von Prosa, Gedichten und Fragmenten, in der deutschen Übersetzung den Titel Antworten am Wegrand (München/Wien 2001). 24 Handke, Die morawische Nacht, S. 286.
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senden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens“25 operiert, die Handke 1973 in seiner Büchner-Preis-Rede einforderte. Sich „alle[n] endgültig scheinenden Weltbilder[n]“26 widersetzend, kommt dieses Schreiben den Dingen unaufdringlich und behutsam auf die Spur. In immer neuen Anläufen und in kreisenden Bewegungen versuchen beide Autoren, für die Übermittlung der Phänomene genau die richtigen Worte zu finden: „Nichts erklären; es treffend aussprechen“, vermerkt Jaccottet im November 1959 in seinem Journal: „ne rien expliquer, mais prononcer juste.“27 Nicht weniger treffend formuliert Handke dieses Unterfangen: „Ein poetischer Satz heißt: einem Gegenstand gerecht werden“.28
Peter Handkes Reisenotate der späten 1980er Jahre können als vorläufiger Höhepunkt jener Transformation seines Schreibens gelesen werden, deren Ursprünge sich bis zur Sprachkrise während der Arbeit an Langsame Heimkehr zurückverfolgen lassen. Handkes „ungewöhnliche Klassik“29 kreist seitdem um das Bedürfnis, dem „poetische[n] Weltgefühl“,30 das bereits in dem Filmbuch Falsche Bewegung (1975) als utopisches Programm eingeführt wurde, zu seinem Recht zu verhelfen. Handke begreift sich als „Anblicksammler“,31 der erst in der zweckfreien Betrachtung schöner Alltäglichkeit und deren Verwandlung im Er-
25 Peter Handke, „Die Geborgenheit unter der Schädeldecke“ [1973], in: ders., Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt am Main 1974, S. 71–80, hier S. 76. 26 Peter Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ [1967], in: ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main 1972, S. 19–28, hier S. 20. 27 Philippe Jaccottet, Fliegende Saat. Aufzeichnungen 1954–1979, aus dem Französischen von Sander Ort, München/Wien 1995, S. 16. Philippe Jaccottet, La Semaison. Carnets 1954–1967, Paris 1971, S. 22. 28 Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982, S. 169. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GB.) 29 Hans Höller, Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes, Frankfurt am Main 2013. Vgl. außerdem Wendelin Schmidt-Dengler, „Peter Handkes Klassizität“, in: Informationen zur Deutschdidaktik 4/2001, S. 38–44, hier S. 43. 30 Peter Handke, Falsche Bewegung. Filmbuch, Frankfurt am Main 1975, S. 52. 31 Peter Handke, „Die Sinnlosigkeit und das Glück“ [1974], in: ders., Als das Wünschen noch geholfen hat, S. 103–119, hier S. 116.
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zählen sich mit der Außenwelt zu verbinden versteht. Sein Blick auf die Wirklichkeit ist dabei ein passiver – er verfolgt, so zumindest der Anspruch, keine Intention, sondern lässt geschehen. So setzt denn die Lösung des eingangs skizzierten „Grundproblems“ der Unnahbarkeit der Welt paradoxerweise eine „freundliche Abrüstung des Ich“32 voraus. Gegenüber Peter Hamm erläutert Handke seine Hoffnung, dass die Dinge ihm, dem gelassenen Augen- und Ohrenzeugen, ihr Wesen von allein offenbaren mögen: „Das ist für mich fast die Hauptbewegung, der Hauptzustand, daß die Phänomene, die zugleich Probleme sind, über die man erzählen möchte, von selber ‚erscheinen‘.“33 Charakteristisch für diese Art der sanften Begegnung mit der Welt ist, dass sie das „Große Recht des Objekts“ anerkennt, wie Francis Ponge in dem von Handke ins Deutsche übertragenen Notizbuch vom Kiefernwald formuliert: „Das Objekt ist immer wichtiger, interessanter, rechts-fähiger (voll ausgestattet mit Rechten): es hat mir gegenüber keinerlei Pflicht, ich bin es, der im Blick auf es alle Pflichten hat.“34 Diese Ästhetik, die sich „vom bloßen Anblick die Erkenntnis erhofft“,35 präzisiert Handke in den Reisejournalen, indem er sich fortlaufend selbst ins Gewissen redet. Seine Annäherung an die Wirklichkeit, führt er aus, setze nicht bei den Dingen ein, sondern mit Bewegungen, die auf ihn übergingen und „auch die Dinge im Kreis“ mit einbezögen, samt „deren Bewegungen, oder deren Stillstände[n], deren Farben und deren Formen“ (GU 75, Herv. i.O.). Entsprechend fasst er, an einem Weiher in Villebon stehend, zusammen: „beobachten die Dinge, das kann ich nicht – sie gehen nur mittels, anhand, an der Hand einer Bewegung, die mich belebt oder anweht oder anmutet (herrliche deutsche Sprache immer wieder) auf mich über und/oder in mich ein“ (ebd., Herv. i.O.). Probleme bereite ihm die Erfassung der Wirklichkeit dann, wenn er an Ort und Stelle „alles sehen“ wolle; diesem Zwang zur allumfassenden Wahrnehmung gelte es sich zu widersetzen: „Lerne, Reisender, die Augen zu schließen“ (GU 16, Herv. i.O.). Es geht also nicht um eine totale Mobilmachung der Sinne, sondern vielmehr um ein punktuelles Hervorbringen der Phänomene. Am meisten nehme er auf, wenn er „nicht eigens schaue, hinschaue“ (GU 100), notiert Handke im Journal. Wann
32 Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 8 2013. 33 Peter Handke/Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006, S. 66. 34 Francis Ponge, Das Notizbuch vom Kiefernwald. La Mounine, deutsch von Peter Handke, Frankfurt am Main 1982, S. 8. Vgl. Gerhard Melzer, „‚Lebendigkeit: ein Blick genügt.‘ Zur Phänomenologie des Schauens bei Peter Handke“, in: ders./Jale Tükel (Hg.), Peter Handke. Die Arbeit am Glück, Königstein 1985, S. 126–152, hier S. 134. 35 Peter Pütz, Peter Handke, Frankfurt am Main 1982, S. 65.
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immer er hingegen „etwas zu sehen bekommen soll“, werde er „beklommen, leicht unfroh, gerate aus der Ruhe“ (GU 120, Herv. i. O.). Die in Handkes Texten veranschaulichte Wahrnehmungshaltung ist die des müden Blicks.36 Während die „teuflische Schlaflosigkeit“, ebenso wie ein Zustand der Überwachheit, zu vorschnellen Urteilen führten, erlaube die anzustrebende „himmlische Müdigkeit“ eine „gerechte“, weil erzählende Auseinandersetzung mit der Welt (GU 371). Dahinter verbirgt sich die religiös konnotierte Vorstellung vom Künstler als Diener der Schöpfung, denn durch dessen Wahrnehmung „wiederholt sich die Erschaffung des Gegenstands“ (GU 220). Der metafiktionale Gestus, mit dem Handke auch im Spätwerk die Grenzen des Sagbaren ausleuchtet,37 wird abgefedert durch den sich im Schreiben erneuernden Glauben an die Heilkraft der dichterischen Sprache. Die vornehmste Aufgabe des Schreibenden besteht demnach darin, die gesammelten Anblicke im Erzählen weiterzugeben, ohne sie zu interpretieren oder in eine Botschaft zu kleiden: „Der größte Prophet wäre der, der einzig die Welt verherrlichte: die Gegenwart der Welt“ (GB 238). Seine Notizbücher versteht Handke dabei als „ungewollte, ungeplante Mischung von Geformtem und fast Vagem“,38 als Überlieferung, bei der sich Zufall und Form ergänzen: Ich halte das schon auch für die Welt fest. Ich halte das fest für den und jenen Anderen. [...] Ja, ich will etwas geben. Ich will etwas überliefern. Das ist ja seltsam: Wie kann man von einem Marienkäfer, der sich rundet und rot ist – und ich sitze in einem blauen Hemd da und schlage die Beine übers Kreuz – wie kann man davon etwas überliefern? Aber mir kommt es wie Überlieferung vor. Das ist etwas anderes als die Chronik in der Zeitung. Es ist Literatur. Das gibt es noch.39
36 Vgl. Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt am Main 1989. 37 Zu Handkes Metafiktionalität vgl. Jan Wiele, „Das Ich und der Andere: Metafiktion als kontrollierte ‚Entgrenzung‘ in Peter Handkes Don Juan (erzählt von ihm selbst)“, in: J. Alexander Bareis/Frank Thomas Grub (Hg.), Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin 2010, S. 173-188; ders., „Summa poetica und neue Mär: Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994)“, in: ders., Poetologische Fiktion. Die selbstreflexive Künstlererzählung im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2010, S. 201–221. 38 Ulrich von Bülow, „‚Wait and see!‘ Peter Handke im Gespräch“, in: ders., Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke. Gespräch mit dem Autor und Essays von Ulrich von Bülow, Marbach am Neckar 2018, S. 5–64, hier S. 24. 39 Ebd., S. 28.
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Wie eine Notiz Handkes aus dem Jahr 2009 signalisiert, setzt sich allerdings insbesondere in den Journalen die Einsicht durch, dass die sprachliche Verherrlichung an Grenzen stoßen muss: „Viele Wörter gibt es nicht, sie fehlen. Für vieles, vor allem für Geräusche und Laute in der Natur, gibt es keine Wörter, keine Verben.“40 In den Journalen ist die Suche nach der gerechten Sprache darum als fortlaufende Erprobung unverbrauchter Wortkombinationen gestaltet, wodurch das tägliche Notieren „auf der Spur des richtigen Worts“ (GU 537) zu einem regelrechten Archivierungsprojekt gerät. Ameisen, die „stöbern“ (FF 51), Farben, die „flügeln“ (FF 34), und Sommerwind, der „schattenboxt“ (FF 102): Handke sammelt „Entsprechungsverb[en]“ (FF 62), mit denen der Künstler die ewigen Bezeichnungen für die Naturgegenstände neu beleben kann, ohne dass die wahrgenommenen Phänomene ihre vorbegriffliche Unmittelbarkeit im Augenblick der Anschauung verlieren. „Das Geheimnis der Epik, der Lyrik, vielleicht überhaupt der Kunst, scheint mir die Gestaltenreihe: das Gewahrwerden, Anschauen und ruhige Benennen der Gestaltenreihe“ (FF 380), notiert Handke einmal. Diese phänomenologische Methode sieht er im Werk Philippe Jaccottets verwirklicht. Dessen Texte zeichneten sich, so Handke im Nachwort zu Jaccottets Essay Der Spaziergang unter den Bäumen, „durch ein großes, naturgewachsenes Zögern, durch viele Kehrtwendungen, In-Frage-Stellungen der Sprache, und vor allem durch Umwege“ aus.41 Auf der Suche nach dem „gerechten“ sprachlichen Ausdruck gelinge es Jaccottet, die Dinge „sanft zu umzirkeln“.42 Die verstreuten Ausführungen zu Jaccottet sind durchaus charakteristisch für Handkes begeisterte, affirmative Lektüren von Schriftstellern, denen er eine Wahlverwandtschaft attestiert. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises an Jaccottet im Jahr 1988 würdigt er dessen Vorgehensweise als „ein Gewährenlassen, Zur-Geltung-Bringen und In-Schwebe-Halten: der Räume, der Dinge, der Stille und vor allem des uns umgebenden Lichts“.43 Jaccottets Texte folgten dem Vorsatz, sich in das zu Beschreibende nicht einzumischen:
40 Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015, Salzburg/Wien 2016, S. 79. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle BAU.) 41 Peter Handke, „Zu Philippe Jaccottet“, Nachbemerkung in: Philippe Jaccottet, Der Spaziergang unter den Bäumen, Zürich 1988, S. 111–112, hier S. 111. 42 Ebd. 43 Peter Handke, „Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet“ [1988], in: ders., Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967–2007, Frankfurt am Main 2007, S. 358–370, hier S. 361.
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„‚Höre! Schaue! Schweige!‘ Hör das Schrillen der Schwalben über den Häusern. Heb den Kopf zu ihrem Kurven im Himmel. Entsprich mit deinen Sätzen und Strophen dem Schweigen, das beides in dir erzeugt, und das doch gerade der Anfang zu deinem Schreiben ist.“44 Mit anderen Worten: Im Werk Jaccottets erkennt Handke jenes „Gerechtwerden“45 wieder, das als ethische Leitmaxime sein eigenes Schreiben bestimmt und im Journal verlässlich in Selbstermahnungen mündet: „Verrate die Ereignisse – das Sonnenlicht auf den Blättern, den blauen Himmel – nicht an die Sprache. Die Kunst wäre es, zu warten, sich zu konzentrieren, bis diese Ereignisse von selber Sprache würden...“ (GB 13) Als „‚Diener des Sichtbaren‘“, der die dichterische Tätigkeit als „Formgeben“ begreift und mit dem „Ruck der Begeisterung“46 verrichtet, gehört Jaccottet zweifellos zu jener Gemeinde der „großen Schriftsteller“,47 in der Handke sich beheimatet fühlt. Mehr noch: Jaccottet verkörpert das in Handkes Journalen entworfene Idealbild, denn er ist „der Künstler als der gesetzmäßige, von Launen freigedachte allgemeine Mensch“.48 Im Vorwort zu dem 2003 erschienenen Band Der Unwissende, einer Auswahl aus dem Gesamtwerk des Autors, erörtert Jaccottet seine lebenslange Motivation für die Tätigkeit des Schreibens als Bedürfnis, den Dingen durch Sprache Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Wenn ich doch etwas gewollt habe in diesem Leben, in dieser Arbeit, dann dies: So wenig wie möglich zu mogeln; weder der Versuchung der Eloquenz nachzugeben noch den Verführungen des Traums oder den Reizen des Ornaments; genausowenig den gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts oder dem falschen Glanz der Okkultismen, ganz gleich welchen Schlages. Zu versuchen, dem, was man fühlt, immer so nahe wie möglich zu bleiben, als gebe es wirklich Wendungen, Rhythmen, Worte, die „wahrer“ sind als andere; als gebe es, trotz allem, eine Art von „Wahrheit“, die ein, ich weiß nicht welches, Sinnesorgan in uns genauso aufspüren würde wie die Lüge. Und wenn es diese Art von Wahrheit geben sollte, folgte für uns daraus nicht notwendigerweise eine Art von Hoffnung?49
44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 361 und 364. 47 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Salzburg/Wien 1977, S. 312. 48 Handke, „Langsam im Schatten“, S. 365. 49 Philippe Jaccottet, „Vorwort“, in: ders., Der Unwissende. Gedichte und Prosa 1946– 1998, deutsch von Friedhelm Kemp, Sander Ort, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München/Wien 2003, S. 7–9, hier S. 9 (Herv. i.O.).
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Bereits in seinem poetologischen Schlüsseltext Landschaften mit abwesenden Figuren (Paysages avec figures absentes, 1970) geht Jaccottet der Frage nach, wie die Literatur in einer „neue[n] Epoche des Blickes“50 eine gerechte Haltung gegenüber der Welt mittels Sprache einnehmen kann. Die dabei entwickelte Lehre der indirekten Annäherung an die Dinge verfolgt das Ziel, deren „lebendige Wahrheit“ zu bewahren: „Und so gelangt man nach und nach zu der Überzeugung, daß man allen wesentlichen Dingen nur auf Umwegen näherkommt, nur schräg von der Seite und beinah verstohlen. Sie selber hören nicht auf, sich uns gewissermaßen zu entziehen.“51 Wie Handke geht es Jaccottet gerade nicht um ein hungriges Aufspüren des Außergewöhnlichen, des niemals zuvor Gesehenen. Seine ruhige Aufmerksamkeit gilt Variationen im Detail, Momenten der Transformation in der Natur, dem Rhythmus der Jahreszeiten, der auch den Rhythmus der menschlichen Existenz prägt. Mitgeteilt wird dieser Anspruch im Eingangssatz von Nach so vielen Jahren: „Eine leichte Veränderung des Blickpunkts genügt zuweilen, um wiederzuentdecken, was die Gewohnheit getrübt oder verschleiert hat.“52 Jaccottet sieht sich als „Chronist der kleinen Veränderungen in der Landschaft“,53 der jene Übergänge wahrnimmt, die der flüchtige Betrachter vernachlässigt. So praktiziert sein Werk ein variierendes Wiederholen der fassbaren und doch mitunter „verborgene[n] Ansicht[en] der Welt“.54 Über die Gedichte von André du Bouchet notiert er einmal, sie seien „wie ein Fenster, das sich jäh auf die Landschaft hinaus öffnet, mitten in der Arbeit“.55 Die Nacherzählung eines solchen Fensterblicks hält Jaccottet in einer auf den Oktober 1959 datierten Passage des Journals Fliegende Saat fest, die als exemplarisch für seinen Fokus auf die ewige Wandelbarkeit der Natur gelesen werden kann:
50 Philippe Jaccottet, Landschaften mit abwesenden Figuren, deutsch von Friedhelm Kemp, Stuttgart 1992, S. 24 [Paysages avec figures absentes, Paris 1970]. 51 Ebd., S. 16. 52 Philippe Jaccottet, Nach so vielen Jahren, deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München 1998, S. 7 [Après beaucoup d’années, Paris 1994]. 53 Martin Zingg, „Den Spuren des Pinselstrichs folgen“, in: Frankfurter Rundschau, 25. April 2008. Zu Jaccottets Aufmerksamkeit für die stets veränderliche Natur vgl. Wagstaff, Provisionality and the Poem, S. 91–103, besonders S. 95–98. Zu „Fin d’hiver“ vgl. ebd., S. 104–114. – Vgl. zur Rolle des Schreibers als Chronisten seiner Gegend auch Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, S. 44. 54 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 104. 55 Jaccottet, Sonnenflecken, Schattenflecken, S. 9.
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Heute abend goldenes Licht in der kalten Luft. Wie schnell es die Bäume verläßt und sich bis an die Wolken schwingt, die der Wind davonträgt. Im Garten die welken Blätter der Akazie, blaßgelb, die ersten, die fallen: jeden Tag liegt eine Menge davon auf dem Boden. Die des Kaki-Baumes verwandeln sich mit größerem Glanz, größerer Langsamkeit, Komplexität, während die Früchte reif werden. Der Pfirsichbaum, obwohl noch grün, beginnt sich zu lichten. Der große Weinstock der Terrasse ist fast ganz seines Laubes entblößt, alt, krank. Farben der Herbstmargeriten (kleine Chrysanthemen), in schönem Einklang mit der Jahreszeit. Ein Strauch von oben bis unten rosa.56
Jaccottets erzählende Beschreibung der Blätter seines Gartens kommt ohne lyrische Ausschmückungen aus: Seine klare, ornamentfreie Sprache möchte die Naturelemente nur ‚anstoßen‘,57 damit diese nicht unter der Rede des Dichters verschwinden, sondern vielmehrt durch sie offenbart werden.58 Mit anderen Worten: Eine bewusst transparente Sprache lässt „das Sein“ hinter den Dingen aufblitzen: „Das Sein ist dort wahrnehmbar, wo am wenigsten Poesie im formalen Sinne ist, ich meine rhetorische Figuren, Metaphern, Verzierungen.“59
Charakteristisch ist die soeben zitierte Passage aus Fliegende Saat aus einem zweiten Grund, dokumentiert sie doch, dass das Licht bzw. dessen Wirkung auf Landschaften „die geheime Mitte“60 dessen bildet, was Philippe Jaccottet in seiner Bewegung des Ahnens und des Umkreisens festzuhalten sucht. Es ist das Licht, das das vielfach Gesehene neu entstehen lässt – und die Landschaft erst zur Sprache bringt, indem es „auf den Boden die letzten Worte [schreibt], die für uns noch zählen“.61 Prononciert könnte man somit sagen, dass es sich bei Jaccottets Werk um den Versuch handelt, eine dichterische Phänomenologie des Lichts zu erarbeiten:62
56 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 12. 57 Zu Jaccottets Poetik des Journals vgl. Jean-Claude Mathieu, Philippe Jaccottet. L’Évidence du simple et l’éclat de l’obscur, Paris 2003, S. 343–377. 58 Jaccottet, Sonnenflecken, Sonnenschatten, S. 27. 59 Ebd., S. 13f. 60 Walter Helmut Fritz, „Licht, Freude. Über Philippe Jaccottet“, in: Tra-jectoires 1 (2003): Philippe Jaccottet, hg. von Amaury Nauroy, S. 31–33, hier S. 33. 61 Jaccottet, Der Unwissende, S. 174. 62 Vgl. Patrick Née, Philippe Jaccottet. À la lumière d’ici, Paris 2008, S. 165-222.
340 Ja: das Licht ist es, was um jeden Preis bewahrt werden muß. Wenn die Augen beginnen, nichts mehr zu erkennen, oder nichts mehr als Geister, nichts mehr als Schatten und Erinnerungen, dann muß man Klänge hervorrufen, die es erhalten, strahlend, im Ohr. Wenn dieses versagt, muß man es mit den Fingerspitzen weitergeben, wie einen Funken oder eine Wärme.63
Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Handke. „[D]as verstummende Wesen hat tatsächlich mit ‚Lauschen‘ zu tun, nicht mit ‚Schauen‘“, erläutert er sein Ideal einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Welt: „Und das Farbensehen (besser noch: das Lichtsehen) entspricht dem Lauschen.“ (GB 234) In der „Geistesgegenwart“, heißt es an anderer Stelle, entstehen die Farben nicht nur, sondern „verändern sich zum Schönen“ (GB 200). Sobald das interesselose Betrachten jedoch ins Beobachten übergeht, werden der Welt die Farben ausgelöscht (GB 125). Vor allem das Reisejournal Gestern unterwegs dokumentiert das Lauschen auf die Farben, das beiläufig und trotzdem voller Hingabe geschieht und häufig als szenische Miniatur in der Schrift bewahrt wird: „Die Farben eines Ortes aus dem vorbeifahrenden Zug: das Gelb der Maiskolben auf einem Lastwagenanhänger / die blaugekleideten Mädchen, die auf der Deichsel sitzen / die schwarzgekleidete Alleingeherin vor einer weißgrauen Mauer“ (GU 495).64 Für Handkes Bemühen, im Lesen und schreibenden Wiederholen von Naturvorgängen und universellen Handlungen zu einer klaren Verbindung von Innenund Außenwelt, dem „einzige[n] wirkliche[n] Lebendigkeitsgefühl“,65 zu finden, spielt das Farbensehen als einem „Gewahrwerden [der] so vielfältig verschiedenen“ (BAU 277) Farbtöne eine tragende Rolle. Elemente einer an der Alltäglichkeit geschulten „Farbenlehre“ (BAU 42) bzw. „Andere[n] Farbenlehre“ (BAU 92), die als dichterische „Inspiration“ (GB 246) identifiziert wird, finden sich in den Journalen zuhauf.66 Nicht selten kommt es dabei zu Epiphanien einer anderen Zeit, etwa in dem friedlichen Augenblick, da es dem Ich gelingt, die Farben
63 Jaccottet, Nach so vielen Jahren, S. 74. 64 Vgl. BAU 43: „Nach dem Schwimmen im Eiswasser des Río Bermejo: der Allfarbenblick; die tiefgelben Ginsterblüten im tiefroten Wegschlamm, darüber die weißweißen Falter und der sonntagsblaue Himmel, darunter die vanillefarbenen Kaktusblüten, daneben die Wildkirschen so schwarz, daß einem schwarz vor den Augen wird, herrlich schwarz.“ 65 Handke, Das Gewicht der Welt, S. 286. 66 Vgl. BAU 92: „Eine junge Frau im roten Pullover geht linkerhand vorbei. / Ein Radfahrer mit gelbem Helm zieht rechterhand vorbei, / Ein Spatz fliegt grau in grau den grauen Zedernast entlang (‚Fast ein Gedicht‘).“
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der Früchte im Zusammenspiel mit dem Geräusch der Blätter im Wind als Einheit in sich aufzunehmen: Warum bin ich heute so froh, gegen gestern? „Irgend etwas hat sich begeben“; und die ersten Brombeeren sind reif geworden, die Leitern stehen schon in den Obstbäumen, die Weite der Landschaft ist durchleuchtet vom Blau der Zwetschken, die Walnüsse hängen in den sich regenden Bäumen groß und ungeheuer dick wie Semmeln, vom Feigenblattstengel setzt sich dessen gelbe Leuchtbahn wie wild ins dunkle Grün des Blattes fort, und das Geräusch der Maisblätter im Wind erinnert an Kinderwassermühlen – ist jedenfalls kein Messerwetzgeräusch wie gestern noch. „Irgend etwas hat sich begeben“ (und ich schrieb das mit Brombeerenfingern). (GB 233)
Dass, wie es im Journal heißt, in der Erzählung „die Farben und Formen wiederauferstehen“ (GB 218) müssen, zeigt sich besonders anschaulich in der Lehre der Sainte-Victoire, wo die Wahrnehmung der Farben zentrale Bedeutung für die Identitätssuche des Erzählers erlangt. „Einmal bin ich dann in den Farben zu Hause gewesen. Büsche, Bäume, Wolken des Himmels, selbst der Asphalt der Straße zeigten einen Schimmer, der weder vom Licht jenes Tages noch von der Jahreszeit kam.“ (LSV 9) Es sind solche „Farbenaugenblick[e]“ (BAU 16), aus denen bei Handke eine erzählerische Überlieferung der Welt hervorgeht: Vor kurzem stand ich im Schnee auf dem Untersberggipfel. Knapp über mir, fast zum Angreifen, schwebte im Wind eine Rabenkrähe. Ich sah das wie ins Inbild eines Vogels gehörende Gelb der an den Körper gezogenen Krallen; das Goldbraun der von der Sonne schimmernden Flügel; das Blau des Himmels. – Zu dritt ergab das die Bahnen einer weiten luftigen Fläche, die ich selben Augenblick als dreifarbige Fahne empfand. Es war eine Fahne ohne Anspruch, ein Ding rein aus Farben. (LSV 12)
Auch Jaccottets Werk erweist sich als altmodische Farbenlehre, wie die Journaleinträge der Jahre 1976 und 1977 exemplarisch zeigen. An einem frühen Morgen im April erleuchten die Berge „von einem vollkommen einheitlichen, geschmolzenen Blau“;67 im Juni wirkt der Himmel abends „silbrig wie ein Spiegel“.68 Im Spätsommer lassen sich „die ersten gelbgewordenen Blätter“69 sehen, im Oktober nehmen die letzten Weintrauben „die Farbe des Abends“70 an. Im November
67 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 177. 68 Ebd., S. 169. 69 Ebd., S. 171. 70 Ebd., S. 155.
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notiert Jaccottet das „Zusammenstimmen von Feldern und gepflügter Erde, grün und braun, grün und ocker, grün und rot – bis zu purpurrot“,71 und einige Monate später hält das Tagebuch den Flug der Meisen „[i]m Licht des zu Ende gehenden Winters“ fest: „Ihre Farben: ein bleiches Gelb, Grau, ein bleiches Blau und Schwarz.“72 In den Farben des Abendhimmels, der Äcker und der Bäume spiegelt sich dabei nicht die Stimmung eines empfindlichen Subjekts; dieses „verstummt“ vielmehr, um mit Handkes Formulierung zu sprechen. So verweisen denn die Beschreibungen auf Überpersönliches, auf universelle Gesetzmäßigkeiten. Im Spaziergang unter den Bäumen hat Jaccottet sein Gegenprogramm auf den Punkt gebracht: „Je l’accepte: il faut s’effacer tout à fait.“73 Nur wenn das Ich komplett zurücktritt – man denke an den müden Blick Handkes – und zu einem Vehikel der Wahrnehmung wird,74 so die Lehre des Spaziergänger-Textes, können sich die Dinge in ihrer Flüchtigkeit offenbaren.
Die Forschung beschreibt Jaccottets Projekt häufig als den Versuch, eine entzweite Welt wieder zu einer Einheit zusammenzufügen. Entsprechend zitiert Jaccottet in La promenade sous les arbres den irischen Dichter George William Russell: „Le Paradis est dispersé sur toute la terre, c’est pourquoi nous ne le reconnaissons plus. I1 faut réunir ses traits épars.“75 Allerdings handelt es sich bei der feierlichen Rhetorik der Welterneuerung und Wiederverknüpfung mit dem Augenblick nur um die eine Seite der das Werk Jaccottets bestimmenden Dialektik. Die romantische Sehnsucht, die in seinen Versprachlichungen von Landschaften zum Ausdruck kommt, ist nämlich in ihrem Kern zutiefst modern. Gerade die Journale zeigen, wie Jaccottet den Wunsch danach, aus den Splittern der Welt eine neue Einheit zu bilden, im Prozess des Schreibens fortlaufend ironisiert und infrage stellt.76
71 Ebd., S. 157. 72 Ebd., S. 166. 73 Philippe Jaccottet, La promenade sous les arbres, Paris 1997, S. 93. 74 Vgl. Andrea Cady, Measuring the Visible. The Verse and Prose of Philippe Jaccottet, Amsterdam 1992, S. 9. 75 Ders., La promenade sous les arbres, S. 28. 76 Vgl. Carrie Noland, „Allegories of Temporality: Philippe Jaccottet and the Poetics of the Notebook“, in: SubStance 23:1 (1994), S. 79–94, hier S. 79.
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Was sich mit Blick auf Handkes Journale konstatieren lässt, gilt deshalb auch für Jaccottets Cahiers: Es handelt sich um Schreibexperimente, die von einer fundamentalen Diskontinuität geprägt sind. Im Zentrum der Notizen steht jeweils ein fragmentiertes Ich, das sich täglich, im Widerstreit mit vorherigen Artikulationen, aufs Neue revidiert.77 Indem Jaccottet in seinen Aufzeichnungen die einzelnen Stadien seiner Textproduktion offensichtlich werden lässt, erhebt sich der Autor zur anwesenden Instanz innerhalb seines eigenen Werkes – und wird im Verlauf des Revisionsprozesses doch in Fragmente aufgesplittert.78 Jaccottets Beschreibungen der Natur sind das Resultat einer Dialektik aus Zutrauen in die Kraft der Sprache und der Furcht, seine Art der Repräsentation von Wirklichkeit könne in die Erschaffung von Parallelwelten münden. Dass mit seinen Beschreibungen letztlich „nur wenig gesagt [ist], und auf unzulängliche Weise“,79 ist die stets wiederkehrende Einsicht seiner Texte. Gerade die Sprache kann den Blick auf das Wahrgenommene verstellen, wie ein kleiner Text über „Pfingstrosen“ im retrospektiv angelegten Band Nach so vielen Jahren berichtet: Je größere Mühe ich mir gebe, und obwohl es zu ihrem Ruhm geschieht, desto mehr verschanzen sie sich in einer unerreichbaren Welt. Nicht daß sie scheu wären oder spöttisch oder kokett! Sie wollen nicht, daß man an ihrer Stelle spricht. Noch daß man sie mit Lob überschüttet oder sie mit allem und nichts vergleicht; anstatt sie ganz einfach zu zeigen.80
In der Sammlung Beauregard manifestiert sich dieser Skeptizismus am Beispiel einer gewöhnlichen Wiese im Monat Mai, deren Beschreibung mit der Einsicht endet, dass der Reichtum der Natur den Dichter letztlich an die Grenzen des sprachlich Mitteilbaren führt: „Une abondance sans luxe, une foison sans opulence: je me doutais bien que j’allais m’empêtrer à son propos plus que jamais.“81 Im Anschluss an den Versuch, das hohe Gras, die Frösche und deren Laute zu beschreiben, muss Jaccottet einräumen, das Ziel der gerechten Wiedergabe der Landschaft zugunsten preziöser Formulierungen aus den Augen verloren zu haben. Anstatt sich auf so einfache wie treffende Wörter wie „Wiese“ zu verlassen, habe er in der versprachlichten Wirklichkeit zwar manche Merkmale der Natur bewahrt, andere jedoch verschleiert oder verzerrt:
77 Noland, „Allegories of Temporality“, S. 80. 78 Ebd., S. 81. 79 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 98. 80 Jaccottet, Nach so vielen Jahren, S. 16. Vgl. hierzu Fritz, „Licht, Freude“, S. 32f. 81 Philippe Jaccottet, A travers un verger suivi de Les Cormorans et de Beauregard, Paris 1984, S. 89.
344 Sur le moment, je n’ai noté que cela. Bien conscient qu’une fois de plus je bâtissais ainsi une réalité à côté de l’autre ou autour d’elle, qui en avait gardé quelques traits mais en cachait ou en déformait d’autres et, de ce fait, découragé d’avance. M’avouant par moments que le seul mot de „pré“, ou mieux de „prairie“, en disait plus que ces recherches toujours menacées de préciosité.82
Als vergeblich erweist sich Jaccottets Suche nach der gerechten Sprache auch in dem Kapitel „Der nicht erfaßte Fluß“ im Spaziergang unter den Bäumen. Die sprachliche Annäherung an den Fluss im südfranzösischen Wohnort mündet in der Erkenntnis, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben, unbewusst gar andere Dichter zitiert zu haben und das Objekt der Beschreibung dadurch letztlich deformiert zu haben. Das Unterfangen der sprachlichen Erfassung des Naturphänomens läuft auf die Schaffung einer „künstlichen Welt“83 hinaus: Auch hier ist ein Geständnis am Platz: dies ist durchaus nicht das, was ich gerne gesagt hätte. Viele Bilder haben sich beim Nachsinnen eingestellt, denn Bilder zu finden ist nicht schwer, und selbst die ungenauen haben oft einen Reiz, der uns zerstreut. Ich fürchte ein wenig, daß sie in diesem besonderen Fall weniger aus meinem Geiste stammen als unwillkürlich anderen entlehnt wurden: gut bei anderen Dichtern, werden sie hier unerträglich. Und wenn ich an den Fluß denke, an das, was dieser Fluß war, so schäme ich mich fast, ihn derart entstellt zu haben.84
Der treffende Ausdruck, heißt es im Journal, „erhellt“ die Dinge, weist „einen Weg“ zu ihnen.85 Literarische Bilder zu entwerfen, die gewissermaßen als Stellvertreter für die Dinge selbst fungieren, empfindet Jaccottet hingegen als anmaßend. Diese Reflexion über die Suche nach den gerechten Wörtern ist auch ein zentraler Aspekt des Bandes Landschaften mit abwesenden Figuren. Jaccottet verwischt hier die Grenze zwischen Diskurs und Poesie, zwischen Erzählung und Lyrik. Im Anschluss an seine Beschreibung eines schneereichen Wintertages gibt er zu bedenken, dass die von ihm gewählte Sprache die Wirklichkeit vermutlich in Zerrbilder transformiert habe. Damit hat der Dichter seine Aufgabe verfehlt, die doch in erster Linie darin besteht, Zugänge zu den Dingen zu ermöglichen:
82 Jaccottet, Beauregard, S. 91. 83 Jaccottet, Der Spaziergang unter den Bäumen, S. 66. 84 Ebd., S. 67. 85 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 67.
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(Diese Bilder sagen immer ein wenig zuviel, sind kaum wahr; man sollte eher der Richtung folgen, in die sie deuten. Denn diese Dinge, diese Landschaft werfen sich kein Kostüm über; die Bilder dürfen nicht statt der Dinge gelten wollen; sie sollen nur zeigen, wie diese sich öffnen, und wie wir in sie eintreten. Ein heikles Geschäft.)86
Zwar ebnet die Sprache in geglückten Schreibmomenten den Weg zu den Dingen; in anderen Fällen aber droht sie den Zugang zur Welt nachhaltig zu verstellen. Diese Zwiespältigkeit thematisiert Jaccottet nicht nur in der soeben zitierten Passage, sondern in seinem gesamten dichterischen Werk: Während manche Aspekte der sprachlichen Wiederholung die wahrgenommene Wirklichkeit tatsächlich ‚erhellen‘, hat die sorgsam ausgeführte Landschaftsbeschreibung nicht selten eine Verdunkelung der Dinge zur Folge. Das radikale Grundproblem Handkes – die Trennung von Ich und Welt – erlangt somit auch im Kontext von Jaccottets Schreiben elementare Bedeutung. „Jeden Augenblick können die Dinge von neuem auseinanderfallen, kaum vermag ich sie zu halten, ihren Schatten zu halten. Was ich mir als Speise wünsche und verschlinge, ist vielleicht nur Abwesenheit.“87 Stets droht das Aus-der-WeltFallen, das Jaccottet mit dem Begriff „Exil“ beschreibt: „Als ob, um es kurz zu sagen, das Erdreich ein Brot, der Himmel ein Wein wäre, die sich dem Herzen zugleich anbieten und entziehen […]“.88 In dem Blick des Dichters auf die Dinge kommt das Bedürfnis zum Ausdruck, sich dem drohenden Nichts entgegenzustemmen. Der Blick aus dem Fenster ist der Blick auf eine Welt, deren Einzelheiten eine beruhigende Schönheit ausstrahlen.
„Waren die großen Dichter nicht vor allem Ortskundige?“ (GB 168) Seit Ende der siebziger Jahre praktizieren Peter Handkes Texte ein Erschreiben von Orten, das dem Unscheinbaren zur Bedeutsamkeit verhelfen möchte und jene „Bergung der Dinge in Gefahr“ (LSV 84) anstrebt, die in Die Lehre der Sainte-Victoire am Beispiel von Paul Cézannes Malerei entwickelt wird. Dass der „Erd-Erzähler“89 Handke dabei eine Affinität für geographische Randgebiete entwickelt, hängt
86 Jaccottet, Landschaften mit abwesenden Figuren, S. 12. 87 Jaccottet, Fliegende Saat, S. 48. 88 Jaccottet, Landschaften mit abwesenden Figuren, S. 7f. 89 Alexander Honold, Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften, Stuttgart 2018.
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unmittelbar mit der von ihm propagierten Aufgabe des Schreibens zusammen – der Aufgabe, „die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig [zu] machen“.90 „Frische und Kraft gingen aus von den Rändern“, verkündet Handke im Nachmittag eines Schriftstellers, „so als herrsche da eine dauernde Pionierzeit.“91 Dort, im wenig beachteten Schwellengebiet, sind Entdeckungen noch möglich, kann der aufmerksame Betrachter den Dingen auf den Grund gehen, ohne bereits durch die „vorausgewußten Realitätsembleme“92 determiniert zu sein. Auch Philippe Jaccottet sieht sich als Orts-Schriftsteller, der an der Peripherie wirkt. Seit dem Umzug von Paris in das südfranzösische, etwa 1.500 Einwohner zählende Dorf Grignan in der Drôme im Jahr 1953 widmet er seine Arbeit den Landschaftselementen vor Ort: den Bergen und Flüssen, den Blumen und Bäumen, dem Licht, dem Wetter und den Jahreszeiten. Er begreift sich als „fast unsichtbare[r] Diener“ jener Orte, die den Dichter auch des Nachts im Traum heimsuchen und ihn gemahnen: „‚Weitergeben...‘ [...] Niemand anders sagte das als der Ort selbst, an dem auch ich vorüberkam. Im übrigen waren es keine Worte, keine Botschaft; nichts als ein Gemurmel dicht über dem Boden, ein klein wenig höher als mein Kopf, am Straßenrand.“93 Wie bei Handke sind es die vernachlässigten, übersehenen Örtlichkeiten und Räume, die Jaccottets Imagination anregen und das Ich mit der Welt verknüpfen: Nicht das erhabene, kaum fassbare Meer („trop grande, presque une abstraction!“), sondern die schmalen, von den Geschichtsschreibern undokumentierten Wasserläufe im Gras wecken das Interesse des Dichters: „surtout n’importe quelles fines eaux dans l’herbe, sans nom, sans histoire, sans religion, filant er brillant dans l’herbe“.94 Nicht allein die visuellen Eindrücke unterstützen den Spaziergeher bei seinem Vorhaben, durch die Teilhabe an der Natur einen produktiven Zugang zur Wirklichkeit zu finden. Auch Geräuschen – dem Zirpen der Vögel, dem Rauschen der Bäche, dem Quaken der Frösche und dem Rascheln des Windes – kommt in Jaccottets Texten prominente Bedeutung zu. Um den Klang der Natur in sich aufzunehmen, muss das Ich verstummen und sich ganz den Dingen öffnen.95
90 Handke, Das Gewicht der Welt, S. 276. 91 Peter Handke, Nachmittag eines Schriftstellers, Salzburg/Wien 1987, S. 58. 92 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main 1996, S. 55. 93 Philippe Jaccottet, Nach so vielen Jahren, S. 53. 94 Jaccottet, La promenade sous les arbres, S. 88. 95 Philippe Jaccottet, „Le Mot Joie“, in: ders., Pensées sous les nuages, Paris 1983: „Tais-toi: ce que tu allais dire / En couvrirait le bruit. / Ecoute seulement: l’huis s’est ouvert.“
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Den Betrachtungen in der Sammlung Landschaften mit abwesenden Figuren schickt Jaccottet deshalb eine Apologie voraus, in der er darlegt, dass er in seinen Landschaftsbeschreibungen keineswegs „Zuflucht vor der Welt und vor dem Schmerz“ suche: „Denn sie reden immer nur von Wirklichem (und sei es in Fragmenten), von dem, was jedem Menschen begegnen kann (bis in die Städte hinein, an einer Straßenecke, über den Dächern).“96 Die Gegend um Grignan, die Jaccottet anhand von einzelnen Schlaglichtern in lyrischer Prosa zu erfassen sucht, ist eine periphere Landschaft, die „nichts ausgesprochen Erhabenes“97 besitzt. Sie existiert zunächst einmal ex negativo: Sie besitzt keinen eigenen Glanz, ist nicht sonderlich harmonisch oder heiter und bietet ihren Bewohnern keineswegs ideale Lebensbedingungen.98 Weder verkörpert sie Bildung oder Kultur noch weckt sie Assoziationen mit einem „Vaterland“.99 Stattdessen sind es die alten Bauernhäuser, die den Blick des Spaziergehers einfangen und das Gefühl einer langen Dauer auslösen: Diese Landschaften, ich bestehe darauf, waren demnach keine Museen für die Neugier des Archäologen, keine Tempel für die Jünger irgendeines pantheistischen Kultes, noch waren sie das, was die Romantiker, mit einiger Überschwenglichkeit in ihren Herzensergießungen, unter dem Namen der Natur verehrt und gefeiert hatten. Mir war nur, als sei hier etwas verborgen (selbst wenn da nirgends ein Denkmal, eine Ruine, die geringste Spur der menschlichen Vergangenheit noch vorhanden wäre): die Kraft nämlich, die sich voreinst in diesen Bauwerken mitgeteilt hatte, und die ich nun aufzunehmen hoffen durfte, um meinerseits zu versuchen, ihr aufs neue zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen.100
Jaccottet beabsichtigt nicht, die Eigenheiten einer Landschaft mit dem Blick des Naturwissenschaftlers zu entziffern. Er begreift sich nicht als Chronist, dem es darum gehe, „Annalen zu verzeichnen“101 und das Wesen einer Gegend mit Bestimmtheit festzuhalten: Wer dies versuche, ignoriere die Flüchtigkeit der Natur, ihre stille Weigerung, sich in ein Aufschreibesystem zu fügen. Eine solche beschreibende Vermessung, heißt es in Landschaften mit abwesenden Figuren, würde die Gegend vielmehr „der Bewegung und des Lebens“102 berauben. Nicht
96 Jaccottet, Landschaften mit abwesenden Figuren, S. 7. 97 Ebd., S. 16. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 17. 100 Ebd., S. 22. 101 Ebd., S. 8 102 Ebd.
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das Vermessen, sondern das Ermessen des Raumes ist Jaccottets Projekt. So begreift er sich als Augenzeuge, der sich den Bäumen, Bergen und Flüssen einer Landschaft in einer Bewegung des Streifens nähert, die das „Anspruchslose, Unbedeutende“103 einer Wiese im Mai als überlieferungswert erkennt: Mein einziges Geschäft war, zu gehen, zu wandern, aber- und abermals, mich zu erinnern, zu erraten, zu vergessen, inständig zu bleiben, aufs neue zu entdecken, mich zu verlieren. Ich habe mich nicht über den Grund gebeugt wie der Entomologe oder der Geologe; ich bin nur einer, der vorbeikommt, grüßend, empfangend. Ich habe diese Dinge gesehen, die selber schneller oder im Gegenteil langsamer vergehen als ein Menschenleben.104
Die Werke Peter Handkes und Philippe Jaccottets verbindet der unerschütterliche Glaube an die Widerstandskraft des Schönen gegen den Lärm der Welt, an die Ethik des dichterischen Wortes, an die „Verpflichtung der Alltäglichkeit“ (GB 80). „Poetisch heißt“, so notiert Handke im Journal, „das Böse und Schlechte vernichtend“ (FF 318), und auch Jaccottet verteidigt den poetischen Bereich gegen die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts, die als „eine Art Berg“ jede Landschaft zu verdecken drohe: „und so viel an Ruinen, an Friedhöfen, an Vernichtungslagern, welche die sichtbarsten Monumente dieses Jahrhunderts sein mögen, andere, unheilvolle Gebirgsarten.“105 Jaccottet insistiert dabei auf der Existenz „heroische[r]“ Landschaften, deren Kraft auf den Menschen übergehen könne: „Sogar an diesem Jahrtausendende ist man nicht unausweichlich gezwungen, Wirklichkeit nur dem Niederträchtigen zuzusprechen.“106 Politischen Ideologien soll in diesem Bereich poetischer Wahrhaftigkeit, in dem kein anderes Zeitmaß „als das der Jahreszeiten“107 gilt und in dem die Schönheit eines blühenden Quittenbaums „dem Geheimnis der Welt am nächsten kommt“,108 kein Platz eingeräumt werden. Die Teilhabe an den von Jaccottet besungenen Landschaften, die mit ihrem kraftvoll-strahlenden Licht, den Bergformationen, lebendigen Flüssen und alten Bauernhäusern wirken „wie am ersten Tag“, spendet ein Gefühl von Heimatlichkeit: Der Natur-Kultur-Raum gleicht dann einem Haus, „das einen aufnimmt, jedoch nicht aussperrt“, bzw. der „einzige[n] uneinnehmbare[n] Festung“ oder „einem Bollwerk, nachdem der Friede unterzeichnet
103 Ebd., S. 65. 104 Ebd., S. 8. 105 Jaccottet, Nach so vielen Jahren, S. 87. 106 Ebd., S. 78. 107 Ebd., S. 55. 108 Jaccottet, Antworten am Wegrand, S. 23.
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wurde oder ein Waffenstillstand geschlossen“.109 Freilich weiß Jaccottet um die Gefahr, dass ihm dieses Vorgehen als biedermeierliche Vermeidungsstrategie ausgelegt werden könnte, als ein bewusstes Ausblenden düsterer politischer Realitäten. Doch abbringen lässt er sich von seiner Utopie nicht: „Winterlandschaften, Bild des Friedens. Allein das Bild, allein der Traum vom Frieden sind Wohltaten.“110 Auch Peter Handke setzt in den Künstler die Erwartung, „die immer wieder vom Verschwinden bedrohten Friedenszeichen“ (FF 251) zu erneuern. Als Sinnbild einer epischen Seh- und Erzählweise, mit der die Hoffnung verbunden ist, „die Mikrostrukturen einer friedlichen Welt“111 in der Schrift bewahren zu können, verweist sein müder Blick, wie eingangs angedeutet, nicht etwa auf einen Erschöpfungszustand, sondern ist vielmehr gleichbedeutend mit einer großen Offenheit für Farben und Formen. Indem dieser Blick die Umgebung intuitiv und bildhaft erfasst, ermöglicht er eine gesteigerte Teilhabe an den Phänomenen, denen er gleichsam eine Aura der Friedlichkeit verleiht: Die Lärchen, mit den hell welkenden Nadeln, erinnern an etwas: an etwas nicht zu Bestimmendes – an etwas: und so erst werden die Dinge benennbar für mich: indem sie an etwas erinnern. – Sie erinnern an etwas im Frieden. Es sind Gegenstände aus dem Reich des Friedens, zu übertragen – einen Augenblick lang übertragbar werdend – in das Reich der Kunst112
Dass die Konstellation von Krieg und Frieden dem Werk Handkes in der Tat als „janusköpfige[s] Leitthema“113 eingeschrieben ist, wissen die Leser nicht erst, seitdem sich Filip Kobal in Die Wiederholung (1986) auf die Reise in die Kindheitslandschaft begab und in der slowenischen Sprache eine der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts entgegenzusetzende „Überlieferung des Friedens“114 entdeckte. Bereits in Langsame Heimkehr war es das Anliegen Valentin Sorgers, mittels geologischer Zeichnungen die Geschichte „nicht bloß [als] eine
109 Jaccottet, Nach so vielen Jahren, S. 21f. 110 Jaccottet, Sonnenflecken, Schattenflecken, S. 42. Zur Bedeutung des Schnees als Bindeglied zwischen Ich und Welt in Handkes Texten vgl. FF 268: Im Schnee geht das Ich im Augenblick auf, ohne dass es dafür eine Ekstase bräuchte. 111 Hans Höller, Peter Handke, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 106. 112 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main 1983, S. 78. 113 Leopold Federmair, „Der Pilzkrieg. Friedenswirren im Werk Peter Handkes“, in: Neue Beiträge zur Germanistik 1/2011, S. 28–42, hier S. 28. 114 Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt am Main 1986, S. 215.
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Aufeinanderfolge von Übeln“ zu denken, sondern in ihr „eine von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form“115 zu erkennen. Gerade jedoch in seinem Anspruch, am „Epos des Friedens“ (FF 347) zu schreiben, steht Handkes erzählerische Expedition zur gerechten Sprache stets im Zeichen des Krieges, dessen Folgen das schreibende Ich als Wirklichkeits- und Sprachentzug erfährt; insbesondere Orte, die für die Friedensutopie mobilisiert werden sollen, erweisen sich als von Gewalt und Vernichtung bedroht.116 Wenn die Reisenden in der Abwesenheit ihre Hoffnung korrigieren müssen, dass „es vor der Geschichte ein Entkommen gäbe“,117 wenn im Versuch über den geglückten Tag die Idylle durch das „Donnern der startenden Bomber vom Militärflughafen Villacoublay, gleich hinter dem Hügelwald“,118 bedroht ist, wenn in Kali „aus den niedrigen Wolken plötzlich Flugzeuge hervorschießen“,119 dann wird überdeutlich: Schrecken und Unheil widersetzen sich einer vollständigen Annullierung – und das ist denn auch die eigentliche Botschaft dieses Erzählens, das den Frieden doch so sehr herbeisehnt.
115 Handke, Langsame Heimkehr, S. 168. 116 Vgl. hierzu Christian Luckscheiter, Ortsschriften Peter Handkes, Berlin 2012. 117 Peter Handke, Die Abwesenheit, Frankfurt am Main 1987, S. 190. 118 Peter Handke, Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum, Frankfurt am Main 1991, S. 89f. 119 Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte, Frankfurt am Main 2007, S. 89.
J ÖRG W ORMER
Zwischen 1967 und 1969 hält Peter Handke sich immer wieder in Paris auf, von Herbst 1969 bis 1978 lebt er mit Unterbrechungen in bzw. bei und seit 1990 dauerhaft bei Paris. Verschiedene Reisen führen ihn seither u.a. durch die Länder des ehemaligen Jugoslawien; darüber hinaus hat er seit 2012 einen zweiten Wohnsitz in der Picardie. Autobiographisch setzt er sich in der Kindergeschichte (1981) mit Paris auseinander, ebenso in seinen Journalen Das Gewicht der Welt (1977) und Die Geschichte des Bleistifts (1982); insbesondere in Die Stunde der wahren Empfindung (1975) und Die linkshändige Frau (1976) findet die Stadt Paris raum-, ort- und selbstreflexiven prosapoetischen Niederschlag. Handkes Sprache ist das Deutsche, sein Inspirationsraum ist Frankreich, vor allem Paris. Dieser Beitrag beabsichtigt, das Phänomen des Inspirationsraums Paris, der komplexen Wirklichkeit dieser Metropole, die schon Friedrich Schlegel, Paul Valéry und Walter Benjamin im weitesten Sinne als Text lasen, gegenüber Handkes Textlektüren – seien es antike, klassische oder zeitgenössische Texte – in den Vordergrund zu rücken. Er plädiert dabei für ein Verstehensmodell, das, mit einem weiten Textbegriff operierend, die Sinneseindrücke, Wahrnehmungen und Empfindungen Handkes in Paris als einen Lesemodus begreift, der signifikant häufig in prosapoetischer Umsetzung Eingang in dessen Werk findet. Ein derartiger Lesemodus erst vervollständigt die durchgängige Perspektive des Schriftstellers als immer auch Leser von Literatur. Peter Handke liest literarische Werke, und er liest – mit feinstem Wahrnehmungsinstrumentarium – Paris und
1
Die vorliegende Studie versteht sich als weitere Erkundung von Handkes Parispoetisierung. Ein erster Beitrag hierzu ist Anfang 2018 erschienen: Jörg Wormer, „Peter Handke liest Paris“, in: Études Germaniques 73 (2018), Heft 1, S. 79–111.
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sein eigenes Ich und übersetzt dies in Literatur. Selbst dann, wenn das Werk Gedicht an die Dauer (1986), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Große Fall (2011) oder Die Obstdiebin (2017) heißt. Während Handke diese Stadt liest, vollzieht er in seiner Arbeit an der Sprache auch eine Lektüre seines Ichs, oft in Form eines Ringens, changierend zwischen Ich-Unsicherheit und tiefer Überzeugtheit von sich selbst.
Nach verschiedenen Stationen in Österreich, Deutschland und Italien zieht Peter Handke 1969 erstmals nach Paris, wo er mit Frau und Tochter zeitweise am Square des Batignolles, nach der Trennung und vor dem Umzug nach Kronberg im Taunus übergangsweise bei Freunden in einem weiträumigen Pariser Appartement wohnt. Bereits Ende 1970 kommt es zum Umzug nach Kronberg und schließlich, nach einem längeren USA-Aufenthalt im Jahr 1971, zur Rückkehr nach Paris Ende 1973. Dort schreibt Handke im Sommer und Frühherbst 1974 Die Stunde der wahren Empfindung in der möblierten Mietwohnung am Boulevard de Montmorency. Zum Schuljahresanfang meldet er seine Tochter an der Schule in der Rue Pierre-Guérin an. Die Pariser Zeit von November 1975 bis März 1977 umgreift Handkes Journal Das Gewicht der Welt. In diesem Zeitraum, im Winter und Frühjahr 1976, schreibt Handke auch Die linkshändige Frau. Es ist die Zeit, in der er seine 1969 geborene Tochter alleine erzieht. Zum Schreiben bleiben ihm angesichts dessen immer wieder nur kurze Momente, daher entstehen kurze Texte, Journaleinträge und Notizen in seinen Spiralschreibheften. Diese Zeit mit dem Kind ist eine intensive Wahrnehmungs- und Lesezeit der Stadt. Im Herbst 1976 zieht Handke innerhalb von Paris um, er verlässt die Wohnung am Boulevard de Montmorency und bezieht ein Haus in der Pariser Banlieue (Clamart, Rue Cécile-Dinant), in dem er fortan mit seiner Tochter lebt. 1979 verlässt Handke die französische Hauptstadt, um mit seiner Tochter auf den Salzburger Mönchsberg zu ziehen, wo er sich Übersetzungen (u.a. von Werken von Emanuel Bove, Patrick Modiano und René Char) widmet. 1987 kehrt Handke Salzburg und Österreich endgültig den Rücken und ist drei Jahre lang fast ständig unterwegs, bevor er sich 1990 bei Chaville im Südwesten von Paris dauerhaft niederlässt und 2012 in der Picardie ein zweites Haus erwirbt. Seinen dauerhaften lokalen Lebensmittelpunkt wittert, umkreist, findet und erfindet Handke in Paris und dessen Peripherie seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Mittlerweile, im Jahr 2019, schlagen für Handke also schon fast vier
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Jahrzehnte Paris im weiteren Sinne zu Buche. Um der Frage nachzugehen, wie Handke Paris liest und seine Pariswahrnehmung prosapoetisch umsetzt, ziehe ich ausgewählte Werke vorwiegend aus den 1970er-, aus den 1980er- und 1990erJahren sowie aus den Jahren 2011 und 2017 heran. Die Annahme, dass Handke als Leser auch und in besonderem Maße Parisleser ist, setze ich in einen Zusammenhang mit Hans Blumenbergs philosophischen Überlegungen über Die Lesbarkeit der Welt, im Weiteren beziehe ich die These des Stadtbewusstseins von Karlheinz Stierle, die er bezeichnenderweise am Beispiel von Paris entwickelt hat, sowie das Werk von Kevin Lynch und zentrale Aussagen von Roland Barthes und Michel Foucault kritisch mit ein. Der Topos von der Lesbarkeit von Paris ist spätestens seit Paul Valéry und Walter Benjamin in einem sehr weiten Sinne lebendig, wenngleich im 20. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre wenig beachtet und wissenschaftlich fruchtbar gemacht. In einer Art Renaissance von Konzepten der Lesbarkeit auch von Zivilisation, Gegenständen, Phänomenen und Manifestationen arbeitet Kevin Lynch2 eine legibility von Stadtstrukturen heraus; im Anschluss an Lynch macht Roland Barthes eine Zeichenlehre bzw. „Semiologie“ zu seinem Lebensprojekt, er dringt zu einer Stadtsemiotik vor (sémiotique de la cité).3 Ein wesentlicher Pfeiler seiner Semiologie ist sein Konzept der lisibilité de la ville, der Lesbarkeit der Stadt. Was bei Benjamin l’état cru (Rohzustand) der Gegenstände des Passagenwerks ist, findet sich bei Barthes semiologisch unterfüttert. Hans Blumenberg hat aus den wissenschaftshistorisch evident gewordenen Zweifeln an Gewissheiten über die Erfahrbarkeit der Welt – nach ihm werden die Ansprüche „in der Geschichte allemal durch die Resultate unterboten“4 – eine Metapher, ja eine Metaphorik für das „Ganze der Erfahrbarkeit“ der Welt5 konzipiert und ausgeführt. Sein Paradigma für dieses Ganze der Erfahrbarkeit ist die Lesbarkeit der Welt. Blumenbergs Metaphorik der Erfahrbarkeit hat es mit einer „bestimmten Unbestimmtheit“6 zu tun – Erfahrungen geschehen weder im Raum völliger Unbestimmtheit, noch sind sie linear kausal völlig bestimmt. Eine solche bestimmte Unbestimmtheit umschreibt Peter Handke, wenn er seinen Schreibprozess als Stadien der Wahrnehmung über die Verpuppung zum Text erklärt (s.u.). Über Bücherwelt und Weltbuch schreibt Blumenberg im Vorspann:
2
Kevin Lynch, The Image of the City, Boston 71970 [EA 1960].
3
Roland Barthes, „Sémiologie et urbanisme“, in: L’aventure sémiologique, Paris 1985, S. 261–271; EA des Essays 1970/1971.
4
Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986 [EA 1981], S. 1.
5
Ebd., S. 9.
6
Ebd., S. 16.
354 Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. Das Geschriebene schob sich an die Stelle der Wirklichkeit, in der Funktion, sie als das endgültig Rubrizierte und Gesicherte überflüssig zu machen. Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden. Es gibt so etwas wie die Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität, die schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur den überwältigenden Eindruck erzeugt, hier müsse alles stehen und es sei sinnlos, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahrzunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gebracht worden war.7
Wir kennen Handke als Leser der antiken Philosophen, als Leser von Rechtstexten, an denen ihn das beharrlich genaue Benennen fasziniert, als Leser und Bewunderer Goethes, als Leser und Übersetzer neuerer französischer Literatur. Bei ihm schiebt sich das Geschriebene jedoch nicht an die Stelle der Wirklichkeit, ist Wirklichkeit nicht endgültig rubriziert, gesichert und in einem doppelten Sinne abgelegt. Wenn es denn bei Handke eine „Feindschaft“ zwischen Büchern und Wirklichkeit gibt, dann trägt er sie in seinem Innern aus, in einem Spannungsfeld von Erleben und Denken im lesenden Nachvollzug und Erleben, Wahrnehmen, Lesen in der Welt. Und durch seine immerwährende Arbeit an der Sprache stärkt er Authentizität von Erfahrung, statt sie zu schwächen. Das Geschriebene, Erlebte, Gedachte und Erkannte in seinen Textlektüren ist ein Teil seines Lebens als Schriftsteller, ein anderer ist sein Welt-, und das heißt oft Parislesen und das Schreiben darüber. Die Lesbarkeit von Paris in Handkes Perspektive ist das, was über Paris auch zu sagen ist. Dabei tritt die Welt- bzw. Pariserfahrung nicht in Konkurrenz zu seinen Bucherfahrungen. Seine Parisvita und Parislektüre sind notwendige und hinreichende Bedingung seiner auch prosapoetischen IchLektüre und Selbstpräsentation. Blumenbergs Metaphorologie ist als Verfahren gestaltet, „die Spuren solcher [u.a. epistemologischer, JW] Wünsche und Ansprüche aufzufinden, die man durchaus nicht als verdrängt etikettieren muß, um sie interessant zu finden“. Der Wunsch „nach intensiver Erfahrung der Welt“ schafft sich demnach „exotische Lehrmeister […] im weitesten, auch metaphorischen Sinne“.8 Bei Handke hingegen treffen wir auf eine reflexionsreiche, aber geplant theorielose Engführung von Stadtlesen, Stadt- und Selbstwahrnehmung, Verpuppung von Eindrücken hin zu individuellem poetischen Ausdruck im Werk. Handke stößt im Zuge seiner Stadt- und Selbstlektüre Sprache, andere Menschen und sich selbst an – und
7
Ebd., S. 17.
8
Ebd., S. 1f.
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landet immer wieder in dem ihm ureigenen Tun, dem Schreiben. Der Beitrag zeigt, dass im Sinne von Blumenbergs Metaphorologie von der Lesbarkeit der Welt, bei Handke Paris, mehr als eine Spur zu seinem Parisschreiben gelegt ist.
Goldschmidt, ein eminenter Übersetzer von Werken Handkes ins Französische und viele Jahre mit Handke befreundet, verdanken wir die Information, dass Die Stunde der wahren Empfindung tatsächlich autobiographisch fundiert ist, dass Handke im Schreibprozess ursprünglich eine Er-Perspektive wählt, in die IchPerspektive und in der Folge wieder in die Er-Perspektive der Figur Gregor Keuschnig wechselt, die in der fertigen Erzählung durchgängig erscheint.9 Diese Erzählung versieht Handke nicht mit der Schwere von Stadtfakten (etwa Geschichte oder Zivilisationskomplexität) und mit der Auseinandersetzung damit. Vielmehr konzentriert er seinen Blick auf die Materialität, Objekte der Umgebung und Begleiterscheinungen: Keuschnig bedient sich vorzüglich der Wirklichkeitsform: langsam, bedächtig, nennt (benennt?) er alles, was er sieht, auch wenn es sich um die größten Banalitäten handelt, wiederholt „wortwörtlich“, was er wahrnimmt, setzt Wort um Wort, bildet eine Wort-Welt aus der Ding-Welt.10
Neben diesen Raumfokus tritt ein Fokus auf das Ich und das präzise beschriebene Bewusstsein des Selbst des autobiographisch durchwirkten und im Schreibprozess unterschiedlich stark fiktionalisierten Protagonisten Keuschnig. Ein anderes Sehen, ein Fakten selektierendes und einzelne, anderen auch bedeutungslos erscheinende Objekte in ihrem auch funktionslosen So-Sein fokussierendes Paris- und Sich-selbst-Lesen gestaltet Handke in Die Stunde der wahren Empfin-
9
Vgl. Peter Handke in einem Interview vom Dezember 1987, in: Georges-Arthur Goldschmidt, Peter Handke, Paris 1988, S. 96, Übersetzung J.W.
10 Erika Tunner, „Wenn einer spazierengeht von Paris nach Paris“, in: Gerhard Fuchs/Gerhard Melzer (Hg.), Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt, Graz/Wien 1993, S. 81–94, hier S. 92. Vgl. auch Goldschmidt, Peter Handke, S. 98: „[…] den Bus nehmen (Stadt- und Überlandbusse finden sich ab jetzt in allen Erzählungen von Peter Handke), eine Straße überqueren, Blumen kaufen oder seine Jacke knöpfen. Das Bewusstsein ist leer, es nimmt sich ausschließlich in dem Maße von Sehen und Hören von Sachen wahr. […] ‚Der Sinn steht mir nach NICHTS.‘“ (Übersetzung J.W.)
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dung. Die wahre Empfindung ist an dieser Stelle nicht eine durch eine wie auch immer geartete Éducation sentimentale herausgebildete, sondern ein um Fakten entleerter und situativ von nur einigen wenigen Objekten begleiteter Bewusstseinsmoment: Das Bewusstsein des Selbst, von Faktenballast befreit, nahezu leer, eröffnet die Möglichkeit der wahren Empfindung. Handke arbeitet in seinem Text bewusst mit einer dürren Faktenstruktur, was Raum für ein Weltlesen in Form von drastischer Benennung wie Absonderung des Alltäglichen, Verlangsamung des Tageslaufs, Selektion der Aufnahme von Lebensweltlichem und Befragung des Ich-Verbleibs eines verzweifelt um sein Ich ringenden Protagonisten schafft. Worin besteht nun Handkes Wahrnehmung von Paris? Er liest in dem Pariskosmos und -mythos das „unauffällig Besondere“11 heraus und lässt den Erzähler wie den Protagonisten mit ausgesuchter Beschreibungsgenauigkeit und dem untrüglichen Blick für das charakteristische Detail – einschließlich des breiten Spektrums des Paris der Liebe, der Erotik und der „Sünde“ – benennen. In diesem Mikrokosmos einiger Pariser Viertel agiert sich der Protagonist Keuschnig (Selbstdiagnose: „komplizierter Seelenbruch“ (SE 31)) als ringender Selbstsucher wie als „sich UNSTERBLICH BLAMIERENDE Kreatur“ (SE 100) aus. Schon in der differenzierten Wahrnehmung der Wohnung der Figur Keuschnig verbinden sich Pariser Außen- und Innenwelt; Handke lässt seinen Protagonisten die Wohnung im bürgerlichen sechzehnten Stadtbezirk sehr spezifisch als einen statischen Teil der Stadt wahrnehmen: Er bewohnte mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter Agnes ein dunkles Appartement im sechzehnten Arrondissement. Das Haus, ein französisches Bürgerhaus aus der Jahrhundertwende, mit einem steinernen Balkon an der zweiten und einem gußeisernen an der fünften Etage, stand neben ähnlichen Gebäuden an einem ruhigen Boulevard, der ein wenig abschüssig zur Porte d’Auteuil hinunter verlief, die eine der westlichen Stadtausfahrten bildet. (SE 7)
Neben diese die Lebensumstände des Protagonisten situierenden Einlassungen setzt Handke bemerkenswerte, gleichwohl willkürliche Wahrnehmungen von für den geschulten Blick in Paris auffälligen Dingen des Alltags. Gregor Keuschnig genießt nach einem mittäglichen Besuch einer Freundin auf dem Pariser Hügel Montmartre den Panoramablick über Paris. „Keuschnig hatte Lust, dem im Rinnstein bergab fließenden Wasser, das bald in ein anderes mündete, durch die
11 Peter Handke, Die Stunde der wahren Empfindung, Frankfurt am Main 1975, S. 96. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle SE.)
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ganze Stadt nachzugehen.“ (SE 35f.) Auf dem Rückweg zur Arbeit in der Botschaft ein weiterer Pariseindruck: „Die Scheiben eines Cafés, das den Sommer über geschlossen hatte, waren von innen angeweißt ...“ (SE 42). Ein unauffällig gemachtes Besonderes liegt auch in der Umgebung des Elyseepalastes. Der Erzähler expediert Keuschnig zu einer Pressekonferenz des seinerzeitigen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing. Obwohl die Avenue Marigny, an der der Elyseepalast liegt, mitten durch Paris führt, geht man an keinem Geschäft, auch kaum an den Fenstern eines bewohnten Hauses, sondern immer an Kastanienbäumen und hohen Parkmauern vorbei. Nur an der Einmündung in die Rue Faubourg St. Honoré gibt es ein Restaurant mit einem Zeitungsstand davor. Die Avenue ist für eine Auffahrtsstraße nicht lang und nicht sehr breit, aber gerade und übersichtlich. Es parken kaum Autos in der Umgebung, nicht einmal auf den Gehsteigen, weil dort dicht nebeneinander Betonpflöcke eingelassen sind. – Sie ist leer auch von Menschen; nur Polizisten gehen vor den hohen Mauern auf und ab […]. (SE 63)
Den Heimweg verlängert Keuschnig, indem er einen ausgedehnten Spaziergang samt „viele[r] Umwege“ (SE 74) durch das achte Arrondissement unternimmt. Dabei kommt es zunächst zu flaneurtypischen Stadtwahrnehmungen: In einer Wäscherei saßen die Frauen mit den bleichen Gesichtern bereits mit den Händen im Schoß und lachten ab und zu. In einem Restaurant waren alle Tische gedeckt, aber noch leer; nur in der hinteren Ecke aßen mit breitaufgestützten Ellenbogen der Patron und die Kellner und gossen sich aus Flaschen ohne Etikett Rotwein ein. – Ein Bus, mit schaukelnden Haltegriffen, fuhr straßenaufwärts an ihm vorbei, innen bedunstet von den regenfeuchten Kleidern der Passagiere, und entfernte sich, als ob er etwas von ihm mitnehme. (SE 75)
Weiter lässt der Erzähler seinen Protagonisten gleichzeitige Ereignisse in verschiedenen Stadtteilen evozieren, eine für Handke typische Erzählstrategie,12 die nicht zuletzt dazu dient, sich von der üblichen Diktion von Reiseführern zu distanzieren: […] im TOURISTENVIERTEL St. Germain-des-Prés wurden die Pizzas auf den Tellern herumgezerrt, und die hungrigen Touristen hatten schon vor mehreren Restaurants entschlußlos die Speisekarten gelesen; im ARBEITERVIERTEL Ménilmontant tranken die
12 Vgl. Walter H. Sokel, „Das Apokalyptische und dessen Vermeidung. Zum Zeitbegriff im Erzählwerk Handkes“, in: Fuchs/Melzer (Hg.), Die Langsamkeit der Welt, S. 25–46.
358 Arbeiter ihr Feierabendbier in einem richtigen ARBEITERBISTRO, das Au rendez-vous des chauffeurs hieß, und wo sich auch heute wieder einige Intellektuelle eingefunden hatten; im AUSLÄNDERVIERTEL Belleville standen die Schwarzen gruppenweise, einige in Burnussen, mit Bierdosen in der Hand ohne zu reden unter dem freien Himmel; im REICHENVIERTEL Auteuil wurden die Söhne und Töchter der Großbürger von den Obern in den englisch gepolsterten PUBS gefragt, ob sie FRANZÖSISCHES oder AUSLÄNDISCHES Bier trinken wollten; – und überall in der Stadt flimmerten unbenutzte Flipperautomaten […]. (SE 79f.)
Am zweiten Tag geht Keuschnig mit seiner Tochter über die Place de Clichy, auch das ist autobiographisch grundiert durch Handkes Erfahrungen als Alleinerziehender seiner Tochter Amina: Nördlich der Place de Clichy, wenn man auf der erhöhten Rue de Caulaincourt den Friedhof von Montmartre überquert hat und dann in der etwas ruhigeren Rue de Maistre weitergeht, kommt man zu einem staubigen, graslosen Park mit einem Kinderspielplatz in einer Ecke. (SE 137)
Er kauft sich ein Taschenbuch mit Erzählungen von Henry James, er liest darin und teilt darüber hinaus Wahrnehmungen mit seiner spielenden Tochter: „Mit ihr wahrnehmen! Das vertrieb erst einmal die Abgeschmacktheit und den Überdruß.“ (SE 141) Als das Kind plötzlich nicht mehr da ist, macht Keuschnig sich auf den Weg, „quer durch die Stadt nach Osten“ (SE 147): „Je näher Keuschnig den Hügeln von Chaumont im östlichen Paris kam, desto üppiger erschien ihm die Stadt.“ (SE 149) Trotz oder gerade ob des Verlustes steigert sich die Intensität seiner Wahrnehmung: Wohin er auch blickte, gab es etwas zu sehen […]. Weit auseinanderliegende Einzelheiten […] vibrierten in einer Zusammengehörigkeit, für die er jetzt keine Erinnerung und keinen Traum mehr brauchte […]. (SE 152) Wie mißmutig hatte er angefangen, wahrzunehmen – und konnte nun nicht mehr aufhören! […] Und immer noch fürchtete er, etwas falsch zu machen, woanders etwas zu versäumen, das das Wesentliche war! […] Obwohl er dasselbe sah wie sonst, mit demselben Blickwinkel, war es doch fremdartig geworden, und damit erlebbar. (SE 161f.)
Hier erweist sich Sehen als furchtgeleitete Alleswahrnehmung in dem Horror, „das Wesentliche“ zu versäumen. Ein erzählstrategisches Moment zeigt sich im Fremdartigmachen des Alltagssehens, wodurch es „erlebbar“ wird: von der Mühe der Wahrnehmung und Anschauung zum wertvollen, weil erlebbaren Wahr-
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nehmen – eine Umkehrung der Anverwandlung des Fremden zum Eigenen: Handkes Erzähler lässt die müde-aggressive Figur Keuschnig über die Stufe des Fremdwerdens des Alltäglichen zu Erlebnisqualitäten finden: [Er] roch das frischgebeizte Schuhwerk aus einem offenen Schusterladen, sah die dicken Haarbüschel auf dem Boden eines Friseurgeschäfts, den Schöpflöffel in der schmutzigen Brühe an einem Eisautomaten […]. Die Märkte waren so viel kleiner geworden den Sommer über. Die Kleiderständer in den Cafés, alle leer! Die Postgebäude wurden neugestrichen, die Gehsteige aufgegraben, um neue Telefonleitungen zu verlegen […]. (SE 150f.)
Der Protagonist geht die Buttes-Chaumont hinauf und steigt im gleichnamigen Park auf einen künstlichen Felsen, „von wo er im Westen Paris in der gelben Abendsonne sah“ (SE 156). Keuschnig begibt sich in der Dämmerung in westlicher Richtung auf den Rückweg ins Stadtzentrum: Er las das „Faire signe au machiniste“ an den Bushaltestellen wie den Titel eines Schlagers ... Unter dem abendblauen Himmel, an dem schon im Westen ein Stern stand, sah er die langgestreckten Gebäude der inneren Stadtbezirke völlig schwarz, dabei so pelztierhaft weich und gerundet, daß sie zu Zelten geworden schienen, das breit ausschwingende Grand Palais als das Hauptzelt. […] der Taxifahrer, den er ansprach, steckte, ohne ihn anzuschauen, als Antwort nur eine schwarze Lederkappe über sein Schild. […] Ruß hatte die Unterseiten der gelben Lampen an den Métro-Eingängen ganz zugeschwärzt. (SE 164f.)
Die Wahrnehmungen des im Buch über weite Strecken menschenverachtend angelegten Protagonisten Keuschnig in Paris, das Lesen und Erleben der Stadt sind von einer Präzision, die jeder Überprüfung, etwa anhand eines Stadtplans, leicht standhalten; sie fußen auf den Erfahrungen des seinerzeit in Paris lebenden Autors. Wenn Peter Handke Paris bewohnt, selektiv genauestens wahrnimmt, liest, so gehören dazu auch die Pariserinnen und Pariser, nicht zuletzt auch er selbst. Der Autor prägt mit diesem Werk seine Arbeit an der Sprache und die poetisierende Arbeit am Selbst, am Selbstbewusstsein und am Ich immer deutlicher aus – fiktionalisiert in der Figur des Protagonisten Keuschnig, bedingt auch in der antagonistisch angelegten Figur des österreichischen Schriftstellergastes.13
13 Vgl. Cornelia Blasberg, „‚Niemandes Sohn‘? Literarische Spuren in Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung“, in: Poetica 23 (1991), Heft 3–4, S. 513–535. Für Blasberg ist Die Stunde der wahren Empfindung ein „tumultuarisches, rebellisches, poetisch alternativenreiches Vorspiel zur Heimkehr-Tetralogie“ (S. 513), die sie einer intertextuellen Untersuchung unterzieht und auf diesem Weg
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Handke erlebt in Paris momentweise eine „Wahrnehmungsgier“;14 in anderen Momenten, etwa während eines Krankenhausaufenthalts im Frühjahr 1976, verbindet er die durchgehende Wahrnehmungsintensität und sein dauerndes Notieren mit Lektüre zur Ablenkung von seinen Angstzuständen. Handke setzt sich Paris, Trennung und Alleinerziehung aus und dringt bei seiner Ich-Lektüre zu seinen Seins- und Abgründen durch. Der um dreizehn Jahre ältere Schriftstellerkollege Paul Nizon macht in nicht unähnlicher Situation ebenfalls Paris zu seinem Lebensort, anthropomorphisiert aber im Gegensatz zu Handke die Stadt und herrscht sie in einem Selbstfindungsfuror an: „[…] BRING MICH HERVOR, schrie ich zur Stadt […]“.15 Handke agiert direkter und indirekter als Nizon – direkter, indem er menschliche Abgründe bis zur Abstoßung schonungs- und rückhaltlos freilegt; indirekter, indem er Bosheit und satanische Lust in der Figur Keuschnig fiktionalisiert. Dabei durchläuft die Figur Keuschnig einen auch physisch sich manifestierenden Prozess zwischen einem Sich-unbedingt-normalgeben-Wollen und einem alles Unechte und Unauthentische, das bloß „Geborgte“ (SE 66) absondernden Selbst: „hatte er die gekünstelten Gefühle ausgeschaltet, dann war von ihm selber nichts mehr zu spüren; jedenfalls nichts als eine zur ganzen Welt quergestellte, lastende, kadaverschwere Wesenlosigkeit.“ (ebd.) Der von tiefer Angst und Lust getriebene Keuschnig klammert sich an Paris, jagt dem Erosversprechen der Stadt hinterher, verliert Frau und Kind und spiegelt sein fragiles Ich mit der wahren Empfindung des Für-sich-Seins der anderen. Die Grundierung der Zeichnung des Protagonisten Keuschnig im Flair und Mythos des Erotischen, das Paris anhaftet, im Akt des Lesens der Stadt Paris erhellt Handke 1987 in einem Gespräch mit Brigitte Salino: Ich würde auch gerne einen Essay schreiben über das, was man von der körperlichen Liebe sagen kann, über das, was eine Frau davon sagen kann. […] Ja, ich würde gerne einen wirklich pornographischen Essay schreiben, so normal wie rein. Und auch einen über die Musikboxen. Zuerst über die Pornographie, und danach über die Musikboxen, weil es danach, wie immer, mit der Musikbox weitergeht.16
u.a. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Kafkas Verwandlung und Goethes Leiden des jungen Werther als „Prä-Texte“ der Erzählung ins Spiel bringt. 14 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Frankfurt am Main 1979 [EA Salzburg 1977], S. 124. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GW.) 15 Paul Nizon, Das Jahr der Liebe, Frankfurt am Main 1981, S. 141. 16 L’Événement du jeudi vom 17.12.1987, zit. nach Goldschmidt, Peter Handke, S. 205, Übersetzung J.W. Vgl. Handkes Versuch über die Jukebox.
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Erzählstrategisch ganz eigentümlich ist die Erzählung Die linkshändige Frau (1976) mit Paris verbunden. In Paris geschrieben, spielt sich die Geschichte in Kronberg im Taunus in der Nähe von Frankfurt ab, eine Frau fordert ihren Mann nach einer Art „Erleuchtung“17 auf, sie zu verlassen; sie bleibt mit ihrem Sohn zurück: „Ja, das ist es: Geh weg, Bruno. Laß mich allein.“18 Wiederum in Paris, in Clamart, verfilmt Handke im Herbst 1977 diese Geschichte. Wir haben es also mit einer transmedialen Pariswahrnehmung und -lektüre von Handke zu tun. Handke transfiguriert in dieser Erzählung seine eigene Geschichte: Trennung von der Mutter des gemeinsamen Kindes Amina in Paris und langjährige Alleinerziehung seiner Tochter. Paris hat hineingewirkt in den Text, mehr noch in den Film, in dem wir eine Trennung in Zivilität an der Handlungsoberfläche und durchaus spürbarer, aber doch gezügelter Emotion zu lesen bekommen. Er führt ein fast ruhiges Sein, einen Wendepunkt und ein offenes Werden vor und zeigt eine in der Mitte der 1970er-Jahre noch nicht ganz übliche Grenzüberschreitung. An anderer Stelle hat Handke, den feinen Doppelsinn des französischen partir, gehen und aufbrechen, zum Ausdruck bringend, die menschliche Fortbewegung so zusammengefasst: „(Weg-)gehen ist immer gut. Nicht unbedingt reisen, aber aufbrechen. Aber, um aus einer Geschichte herauszukommen, muss man immer eine wahnsinnige Schwelle überschreiten.“19 In der Erzählung ist die „wahnsinnige Schwelle“, die die Frau überschreitet, präzise spürbar, Handke greift bei der Darstellung aber zum poetischen Mittel der Leichtigkeit – und liest in Paris eine mögliche Leichtigkeit in der Lebensführung. Es mutet wie eine Selbstkorrektur an, wenn Handke die in Hessen verortete Erzählung in der Pariser Banlieue
17 Peter Handke, Die linkshändige Frau, Frankfurt am Main 1981 [EA 1976], S. 22. Vgl. Ralf Zschachlitz, „Epiphanie“ ou „illumination profane“? L’œuvre de Peter Handke et la théorie esthétique de Walter Benjamin, Bern 2000. Zschachlitz vergleicht die in Handkes Texten anzutreffenden Erleuchtungen und plötzlich aufscheinenden Wahrnehmungs- und Erkenntnissplitter mit dem ästhetisch-politischen Konzept der profanen Erleuchtung bei Walter Benjamin und stellt viele gegensätzliche Positionen der beiden Autoren fest. Die Suche nach einer neuen erzählerischen Aura und von Chronologie, Geschichte und „böser Wirklichkeit“ befreiter Dauer ist viel eher Handkes Sache als politische Konzepte. Zschachlitz empfiehlt eine Handke-Lektüre gegen den Strich, um dessen „Idealisierungen und Verdrängungen“ nicht zu erliegen. 18 Handke, Die linkshändige Frau, S. 23. 19 L’Événement du jeudi vom 17.12.1987, zit. nach Goldschmidt, Peter Handke, S. 204, Übersetzung J.W.
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selbst verfilmt. Mit dem Film ist Die linkshändige Frau zum Ausgangsort des Geschehens zurückgeführt, aus dem Handke die Erzählung entwickelt hat.
Was Die Stunde der wahren Empfindung an Erfahrungs- und Lebensweltgrundierung ahnen lässt, bestätigt Handke im ersten Band seiner Aufzeichnungen Das Gewicht der Welt: Weltwahrnehmung, insbesondere Paris- und Menschenwahrnehmung, Selbstwahrnehmung und Arbeit an der Sprache: „Die äußeren Ereignisse […] sind […] jedenfalls durchscheinend.“ (GW 8) Das Theorem des Parislesens bestätigt Handke, wenn er ausdrücklich vom Übersetzen von Wahrnehmungen für einen bestimmten Zweck – den Schreibzweck – spricht. Analog zur Übersetzung von Texten hier die Übersetzung von Wahrnehmungen in Paris: „Die täglichen Wahrnehmungen wurden also im Kopf zunächst übersetzt in das System, für das sie gebraucht werden sollten, ja, die Wahrnehmungen an sich, wie sie zufällig geschahen, wurden auch schon ausgerichtet für einen möglichen Zweck.“ (GW 7) Allmählich geht Handke über auf „die spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen“: Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitsprung lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde; einen Moment später wäre es schon wieder die täglich gehörte […] gewesen. (GW 7)20
Das Gewicht der Welt handelt nicht von wichtigen Ereignissen, sondern von Wahrnehmungen am Wohnort Paris, Erlebnissen mit dem Kind und vor allem von Erlebnissen mit sich selbst in wechselnder Außenweltabwehr bzw. Außenweltzuwendung; Abwehr insbesondere, was Gruppen betrifft. Untypisch für ein Journal ist die Abwesenheit von Begegnung und Kommentierung des Weltenlaufs, hierdurch aber eröffnet sich ein größeres Feld für das Paris- und Ich-Lesen und, damit zusammenhängend, die Arbeit an der Sprache und am Selbst.
20 Vgl. Marion Gees, „Präsenz und Beiläufigkeit der Dinge (Peter Handke)“, in: dies., Schreibort Paris. Zur deutschsprachigen Tagebuch- und Journalliteratur 1945 bis 2000, Bielefeld 2006, S. 72–81. Gees sieht Handkes Journal in der Tradition der französischen Aufzeichnungsliteratur. Paris diene ihm als „Kulisse für viele Wahrnehmungen und Initiationen des Schreibens“ (S. 73), in der er „eine Poetik des Tagtäglichen, des Unscheinbaren erzeugt, die sich am Ende abhebt vom Nur-Privaten“ (ebd.).
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So liest sich die prosapoetische Umsetzung eines abendlichen Nachhausewegs in Paris auch visuell poetisch: Freitagabend in der Agglomération Weltstadt: An allen Ecken wartet, in die Luft starrend, einer, der mich gleich um Geld ansprechen wird / und jeder daneben könnte sein Komplize sein / der Bus nimmt eine andere Route, weil die übliche Fahrtstrecke blockiert ist / die Ausweichroute ist gerade eine Baustelle geworden / im Bus seufzen selbst die an alles Gewöhnten und wollen vorzeitig aussteigen (vergebens: der Ausgang ist gesperrt) / allseits schüttelt einer den Kopf über den andern / beim Versuch, die Straße zu überqueren, suchte eine alte Frau meinen Blick, als brauchte sie wenigstens für diese Sekunde einen Verbündeten / den bekam sie, und das Chaos erschien vor dem gelben Himmel wenigstens monumental. (GW 228f.)
Eine solche journaluntypische poesienahe Prosa ist auch für René Char, von dem Handke mehrere Werke ins Deutsche übersetzt hat, charakteristisch, etwa in Fureur et mystère: „Die Poesie ist untrennbar mit dem Vorhersehbaren verbunden, welches noch nicht formuliert ist.“21 Handke selbst formuliert eine Vorstellung von der „idealen Haltung“ eines Schriftstellers im April 1976: Im täglichen Leben, auch allein, stelle ich mich, wenn auch nur vor mir, selber dar; und das will ich gar nicht abstellen: es käme vielmehr darauf an, in dieser Selbstdarstellung nichts von sich wegzulassen: jede Untat, die man einmal begangen hat, gehörte, vielleicht nur als kurzes Stutzen, zur Selbstdarstellung, worauf man jedoch aufgeklärter weiterspielte oder vielleicht überhaupt erst einmal aufhörte zu spielen; durch das Einbeziehen der eigenen Untaten in sein Selbstbild ist auch nichts an den anderen einem mehr fremd (die Untaten, das Versagen werden nicht, wie üblich, überspielt, sondern bilden gleichsam den Verfremdungs- und Erkennungseffekt im täglichen, lebensnotwendigen Selbstdarstellungsspiel – die ideale Haltung eines Schriftstellers). (GW 121)
So betrachtet, lassen sich alle Bosheiten als letztlich menschlich und als Ausdruck unbedingter und in dieser Perspektive auch anzuerkennender Ehrlichkeit verstehen. Handke liest den für Frankreich und Paris so wichtigen Habitus der Diskretion bestimmt auch, setzt ihn aber in einer Art Benennungsfuror konträr und für die Lesegewohnheiten der 1970er- und 1980er-Jahre provozierend um. Dabei gesteht sich Handke situativ auch Lügen zu: „Bei fremden Leuten (die mir immer fremd bleiben werden) das Gefühl haben, bei jeder Auskunft auf Fragen,
21 René Char, Fureur et mystère, Paris 1962, S. 67, Übersetzung J.W.
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die sie stellen, zu lügen (und nachher wegschauen zu müssen) […] Ich entschloß mich, zu lügen (und log dann gewissenlos).“ (GW 129, 131) Handkes Schreiben ist stets Arbeit an der Versprachlichung von Wahrnehmungen und Arbeit am Selbst, oft genug am Selbst-Zweifel und verbunden mit Fiktionalisierungen von Selbstlektüre und -befragung zu Wahrnehmungen sowie momenthaft erlebt Geglaubtem. Solche Momente sind für ihn die Legitimation für Fiktion. So notiert Handke unter dem 7. Mai 1976 etwas, das die meisten seiner späteren Werke, z.B. Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Große Fall, entscheidend prägen wird: die für den europäischen Leser so irritierend häufige Ununterscheidbarkeit von Fiktion und biographischem Schreiben: Eine gebückte alte Frau kam mir entgegen, die mit ihren Einkäufen ging, und ich hielt sie auf den ersten Blick für die alte Lehrerin (es war auch ihr Stadtbezirk). Sie war es nicht, aber dann fiel mir ein: Es hätte sie sein können; und dann: Es könnte sie sein – und daß es so möglich wäre, ihre Geschichte zu erzählen, ohne sie persönlich näher zu kennen: Möglichkeit, so über andere zu schreiben; Legitimation der Fiktion. (GW 140)
Mit diesem poetologischen Mittel der Fiktionalisierung geht Handke über das unmittelbare Lesen von Paris hinaus zum Versprachlichen einer Ausgangswahrnehmung hin zur in Paris kontextualisierten Erfindung. Die Lesbarkeit von Paris gewinnt eine zweite Stufe der Sprachwerdung; Paris lesen und das so Gelesene beschreiben ist Stufe eins, für Stufe zwei mag ein einzelner Parisimpuls für die Ermöglichung von fiktionalem Schreiben genügen. Stufe zwei ist an dieser Stelle nicht durch Höherwertigkeit, sondern durch einfaches Anderssein konnotiert.22 Handkes Legitimation der Fiktion liest sich wie eine poetologische Analogie zu Blumenbergs philosophischen Betrachtungen Die Lesbarkeit der Welt. Diese hat Blumenberg als einen metaphorischen Komplex und einen „Leitfaden zur Nüchternheit“23 bezeichnet, in dem es ihm darum zu tun ist, „den Sinn statt der Faktoren zu kennen“.24 Blumenberg hebt angesichts des historisch immer wieder hinter den Erwartungen zurückbleibenden Erkenntnisprozesses auch und gerade auf Nichtepistemisches in der Weltbegegnung ab:
22 In Die Geschichte des Bleistifts, der Fortschreibung seines Journals Das Gewicht der Welt ab Frühjahr 1977, verbindet Handke die Abläufe des täglichen Lebens mit dem künstlerischen Schreiben. Dieser Journalband hat noch stärkeren prosapoetischen Charakter u.a. durch den Verzicht auf die Datierung der Einträge. Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg/Wien 1982. 23 Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 2. 24 Ebd.
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Unter dem Titel der Lesbarkeit wird bestritten, daß nur die vielberedte Praxis den Reichtum der Erfahrung jenseits ihrer Abmagerung liefert. Auch und schon der bloße Weltgenuß, auch das Zuschauertum, die nutzungsungewillte Offenheit der Weltansicht enthält davon. […] Spätestens seit der Phänomenologie ist Erfahrung wieder, was zwar das Urteil trägt und rechtfertigt, aber nicht in ihm aufgeht.25
Blumenberg geht es um eine letztlich universalistische Erfahrbarkeit und Erfahrung von Wirklichkeit. Handkes Werke gewinnen in der Blumenberg’schen Lesart zusätzliche, das Verstehen erweiternde Tiefe. Die Verbindung eines Journaleintrags von Handke vom 6. März 1976 mit Blumenbergs Konzeption der Lesbarkeit der Welt erhellt zum einen Handkes schriftstellerisches Selbstverständnis und zum anderen einen philosophischen Verstehenshorizont für Handkes Werke: Das Gefühl, als ob fast alles, was ich bis jetzt in der Vergangenheit gesehen und gehört habe, in mir sofort die ursprüngliche Gestalt verliert, weder unmittelbar beschreibbar durch Worte noch abbildbar durch Bilder mehr ist, sondern sich auf der Stelle in etwas völlig Gestaltloses verpuppt; und als müßte es die Anstrengung meines Schreibens sein, diese vielen gestaltlosen Verpuppungen in meinem Innern in etwas wesentlich anderes zu verwandeln, so daß das Schreiben eine Erweckung der gestaltlos verpuppten abertausend Erlebnisse zu völlig neuen Gestalten wäre, die aber doch durch mein Gefühl immer noch eine Verbindung mit den ursprünglichen Erlebnissen behielten – zu diesen authentischen, tatsächlichen, aber bedeutungslosen Dingen also die mythologischen Bilder meines Bewußtseins und meiner Existenz wären – und welche Vorstellung jetzt entsteht von all den unzähligen, grauenhaft gestaltlosen Puppen-Zwischendingern in mir, Zwischendingern zwischen Sachen und Bildern, aber weder das eine noch das andere –, und welche Zukunftsarbeit für mich, diese Zwischendinger, sprach- und vorstellungslos, nur seiend statt, wie Embryos etwa, werdend, durch mein Schreiben vorstellungs- und sprachfest zu machen und zu etwas still strahlendem Neuen, in dem das Alte, das ursprüngliche Erlebnis, aber geahnt ist […]. (GW 30f.)
Handkes Verpuppungen sind Spuren, Zeichen, Manifestationen von ihm für den prosapoetischen Zweck unmittelbar unbrauchbar erscheinenden, sozusagen poetisch zunächst ungeeigneten, aber vorhandenen denotativen Zeichensystemen. Von diesen ausgehend, ist die Verpuppung ein Stadium in Handkes Vordringen zu konnotativen Bedeutungsdimensionen. Diese wiederum sind oft genug bei Handke prosapoetische Neologismen, die Denotatives noch erahnen lassen, aber hauptsächlich Sprachneuschöpfung zu Paris und einer sich an Paris entlangarbei-
25 Ebd., S. 3.
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tenden Ich-Lektüre und -Findung sind. Die nur allzu verbreiteten, weil oberflächlichen denotativen Parisdarbietungen hat Stierle im Blick, wenn er in Der Mythos von Paris von der „Macht des kategorialen Stereotyps“ spricht, die es zu überwinden gilt: „Befreit die Wahrnehmung sich von der Macht des kategorialen Stereotyps, so stößt sie auf die begriffslose Wirklichkeit dessen, was jenseits der konkreten Dinge den Wirklichkeitssog der großen Stadt bewirkt.“26 Nichts weniger als das leistet Handke in seinen Texten über Paris, in seinen Wortschöpfungen, die uns Paris neu sehen lassen. Er hat in seiner Parislektüre die kategorialen Stereotype abgestreift und offeriert uns Handke-Wahrnehmungsparis. Drängt sich in dieser Perspektive der Gedanke eines hochindividualisierten intimen Diskurses zwischen Schriftsteller und Stadt auf, der historisch immer wieder – und auch bei Handke – zu unverkennbaren und unverwechselbaren Werken geführt hat, bieten Foucault und Stierle weiter reichende Verstehensmodelle an. Foucault fokussiert in seinem Diskursverständnis gerade nicht den Einzeltext, sondern eine Art Textsumme, ein Textganzes, einen Textzusammenhang, der einer systemischen Formation zugehört.27 Stierle hebt im Anschluss an Barthes auf den Zeichencharakter der Stadt ab und spricht darüber hinaus sogar von einem „Bewußtsein“ der Stadt: Der Diskurs der Stadt […] umschreibt den Ort, wo die Semiose der Stadt reflexiv wird und sich auf sich selbst zurücklenkt. In seiner ersten Phase ist er nicht so sehr analytische Durchdringung oder theoretische Reflexion, sondern Mimesis und Verdichtung der urbanen Zeichenwelt. Die diskursive Formation des Stadttextes, ob er im Bereich anonymer unsignierter Elementardarstellungen verbleibt oder sich zur Singularität des Werks erhebt, ist selbst eine Gestalt des Stadtbewußtseins und die höchste Form des Stadtzeichens. […] Nur die Lesbarkeit des Textes konnte der Lesbarkeit der Stadt ihre Ausdrücklichkeit geben.28
Möglicherweise auch um Aufmerksamkeit für seine Alleinerziehungszeit mit dem Kind zu erzielen, greift Handke in der Kindergeschichte zu dem poetischen Mittel bedingter Verrätselung, indem er den Namen der Stadt kein einziges Mal
26 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München 1998 [EA 1993], S. 25. 27 Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969, S. 141. 28 Stierle, Der Mythos von Paris, S. 50.
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erwähnt. Zudem ist dem Nachspann zu entnehmen, dass Handke das Buch im Frühjahr und im Sommer 1980 in Salzburg verfasst hat. Gleichwohl bietet die Kindergeschichte ein Ergebnis von Parislektüre ganz eigener Art; der Fokus ist gerichtet auf Paris mit Kind – „im Kinderzeitrhythmus ablaufende Tagtäglichkeit“29 – und die Reflexionen der Figur des Vaters zu Begebenheiten mit Pariser Wohnungen, Schulen und Bekannten wie Freunden in einer Situation des Alleinerziehens in den 1970er-Jahren. Dabei bleibt das Kind für den auf sich selbst bezogenen Vater „vor allem eine Nährquelle für seine Überlegungen“.30 Diese (Paris-)Kindergeschichte hat auch mit Umzügen zu tun, zieht der Vater doch mit der Vierjährigen wieder einmal „in die geliebte ausländische Stadt […] diese war der einzige Ort, der dem Erwachsenen auf Dauer das Gefühl Wirklichkeit gab, als Formenverbindung von außen und innen, Körper und Seele“ (KG 74f.). Mit dem Kind liest der Vater Paris anders als bei früheren Aufenthalten: Dabei erwies sich die Stadt als ganz verschieden von der Metropole, wie sie sich auf den kurzen Besuchen davor gezeigt hatte. Statt wie erhofft sich auszudehnen mit den Legionen von Kinos, Cafés und Boulevards, blieb sie auf einen Kreis aus Apotheken, Selbstbedienungsläden und Waschautomatensalons beschränkt, der kleiner war als je ein Kreis zuvor. Die weiten freien Plätze der ganzen Stadt waren ersetzt durch die engen, von Baumkronen und Häuserfronten beschatteten Squares des Wohnsitzviertels […]. (KG 26f.)
Zur Beschränkung des Blicks in der Stadt kommt es durch die alltägliche Lebensführung eines Erwachsenen in der Fürsorge für ein kleines Kind. Von diesem lernend, verlangsamt der Vater Gesten und die Wahrnehmung im Ausleben der wirklichen Zeit. Bei Handke kommt eine Art sichtbare Dauer (siehe das Gedicht an die Dauer), auch und gerade durch verlangsamte Bewegung zum Ausdruck. Noch konstituiert sich Dauer in Form von ausgedehntem Gehen, Reisen und Ortswechseln im Großraum Paris. Ab 1990, als Handke sich in der Peripherie der Metropole niederlässt, steht die Dauer maßgeblich im Zeichen des Verbleibs und Gehen am einmal gewählten (Vor-)Ort.
29 Peter Handke, Kindergeschichte, Frankfurt am Main 1981, S. 50. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle KG.) 30 Bilge Ertugrul, „Der Einzelgänger und sein Kind. Handke-Figuren um Paris“, in: Jeanne Benay (Hg.), „Es ist schön, wenn der Bleistift so schwingt“. Der Autor Peter Handke, Wien 2004, S. 23–34, hier S. 31. Allerdings erlebt die Figur des Vaters mit dem Kind auch Momente verhinderten Schreibens: „So gelang vielleicht eine schlüssige Reihung der kleinen Erkenntnisse; aber zu selten glückte jene Verwandlung von Erfahrenem in die Erfindung […]“ (KG 83).
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In der Phase der Idee zu dem Versuch über die Jukebox (1990) beschäftigt sich Handke mit der Übertragbarkeit eines Satzes von Picasso auf sein Schreiben: „Nie bilde man das Pantheon ab, nie male man einen Fauteuil Louis XV., sondern man mache Bilder mit einer Hütte des Midi, mit einem Päckchen Tabak, mit einem alten Stuhl.“31 Picasso evoziert die Poesie einzelner Gegenstände, die er malerisch zum Ausdruck bringt; ganz analog integriert Handke einzelne Gegenstände, nicht zuletzt oft übersehene, in seine Poetik, lässt der Ich-Erzähler den Leser so an einer ganz eigenen Art des Sehens und Weltlesens teilhaben, die das Augenmerk auf die „‚Botschaften der Orte‘“ richtet: „Im Vorübergehen ein wenig in der Landschaft lesen zu können, war erdend […].“32 Exemplarisch führt dies der Versuch über den geglückten Tag (1991) vor: Und auf jener Fahrt in jenem Vorortzug zwischen den Seine-Hügeln westlich von Paris […] die fast schon abgetane Idee von dem geglückten Tag […], begleitet von dem Schwung, der heiß macht, sich zusätzlich an einer Beschreibung, oder Aufzählung, oder Erzählung der Elemente und Probleme solch eines Tages zu versuchen.33
Das Tagwerk des Welt-, Paris- und Ich-Lesens ist Wahrnehmungsschärfung und Übertragungsarbeit ins poetische Wort34: „Schauen und weiterschauen mit den Augen des richtigen Worts.“ (VT 83) Die Idee vom geglückten Tag verwandelt sich „von einer Lebens- in eine Schreibidee“ (VT 63): […] Kopf des Evangelisten Johannes beim Letzten Abendmahl über der Pforte von St.Germain-des-Prés, wie er mit dem ganzen Oberkörper da nächst seinem Herrn Jesus auf dem Tisch liegt – auch ihm, wie all den Steinfiguren, hat die Revolution das Gesicht weggeschlagen. […] Die Schuhbürste auf der Holztreppe bei Sonnenuntergang. (VT 87)
31 Peter Handke, Versuch über die Jukebox, Frankfurt am Main 1990, S. 31. 32 Ebd., S. 126. 33 Peter Handke, Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum, Frankfurt am Main 1991, S. 7f. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle VT.) 34 Das poetische Wort gliedert sich nach Blasberg auf in „ein magisches Quadrat mit den Eckpunkten Autor Peter Handke – Ich – (zum Subjekt erhobene) Erzählung – Protagonist“ (Cornelia Blasberg, „‚Ich und die Erzählung‘. Autorkonzepte bei Peter Handke“, in: Adolf Haslinger/Herwig Gottwald/Andreas Freinschlag (Hg.), „Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit“. Erzählen als (Über)Lebenskunst. Vorträge des Salzburger Handke-Symposions, Stuttgart 2006, S. 100–110, hier S. 101).
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Die Erwähnung der romanischen Kirche von St.-Germain-des-Prés verweist auf Handkes besondere Vorliebe für die Romanik, die, wie Thorsten Carstensen gezeigt hat, eine exemplarische Rolle für seine Erneuerung des epischen Schreibens spielt.35 Nach Carstensen ist die Romanik für Handke „Ausdruck jener Begegnung von archaischer Naturhaftigkeit und modernem Formwillen, die dem Autor für das eigene Schreiben vorschwebt“.36 Zutreffend verweist er auf Handkes spezifischen Zugriff auf die romanische Architektur und Baukunst, der nicht etwa kunsthistorisch motiviert sei, sondern vielmehr in der Anschauung vor Ort“ wurzele.37 Als ‚romanische‘ Erzählstrategien identifiziert Carstensen Analogien, Simultaneität und Dauer: Handke setze „an die Stelle eines fortschreitenden, temporal und kausal gebundenen Plots ein Erzählen in Bildern“.38
Zwischen Januar und Dezember 1993 schreibt Handke Ein Märchen aus den neuen Zeiten, so der Untertitel von Mein Jahr in der Niemandsbucht.39 Das Buch erscheint 1994, spielt aber im Jahr 1997.40 Es ist Rückblick in der Mitte des Lebens, es stellt Bekannte und Freunde vor, es erzählt die Kindergeschichte und eine Parisgeschichte, es dokumentiert ein prosapoetisches Programm, es ist gnadenlos ehrliche Selbstbefragung, allerdings auf der Grundlage eines innersten „Ich bin stärker als alle“ (KG 131), es beschreibt zahlreiche Phasen der Ich-
35 Thorsten Carstensen, Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 151. 38 Ebd., S. 173. 39 Die Vorarbeiten zu dem Buch reichen allerdings zurück bis in die Zeit des Unterwegsseins zwischen 1987 und 1990, als Handke ohne festen Wohnsitz ist. 40 Dass Handkes Reiseerzählungen häufig als Zukunftserzählungen konzipiert sind, erläutert Mireille Tabah, „Landschaft als Utopie? Ästhetische Topographien in Peter Handkes Werk seit der Langsamen Heimkehr“, in: Haslinger/Gottwald/Freinschlag (Hg.), „Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit“, S. 19–30, hier S. 20. Tabah gliedert die von Handke behandelten Räume auf in Naturlandschaften, Stadtlandschaften und Zwischenräume (wie beispielsweise Chaville). Randbezirke versteht sie als Schwellen, „auf denen Handke und seine fiktiven Alter ego das beruhigende Gefühl haben, der Menschheit anzugehören, auf denen sie sich aber gleichzeitig den Freiheitsraum bewahren können […] für die Anschauung“ (ebd. S. 23).
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Findung und der obsessiv anmutenden täglichen Arbeit an der Wahrnehmungsumsetzung in absolute Sprache, es ist das Buch des Rückblicks auf die Reisejahre, die in die Jahre der Ruhe und in den Lebensort Paris münden. Hatte Handke 1966 bei der Zusammenkunft der Gruppe 47 in Princeton gegen die Beschreibungsliteratur gewettert, so findet er in Mein Jahr in der Niemandsbucht zu seinem schlüssigen poetologischen Gegenprogramm und zugleich zu einem Exempel von dessen Realisierung. Ein Blick hierauf erhellt auf einer weiteren Stufe jene spezifische Art, Paris zu lesen und poetisch anverwandelt zur Sprache zu bringen – „Für den, den’s angeht“ (GW 9) – anstatt das derart Gelesene traditionell zu beschreiben. Im Rückblick äußert der Protagonist: Als die geeignete Metropole erschien mir dann […] Paris. […] Und dann war es wieder eine Farbe, die mir den Ort aufschloß: Das helle weite Grau des Asphalts der Boulevards, das mir den Anstoß gab, aufzubrechen, zu gehen, zu gehen […] und die ganze Stadt zu durchmessen, in den sämtlichen Himmelsrichtungen. Hier war meine Zukunft; hier würde ich später einmal leben wie arbeiten.41
Dem Autorleben zum Verwechseln ähnlich,42 breitet die Figur des Niemandsbucht-Erzählers im Schutz eines vorgegebenen Niemandsbereichs43 ein „Märchen“ von nicht zu steigernder Wirklichkeitsnähe aus.44 In dieser Logik lässt
41 Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 1994, S. 265. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle NB.) 42 Vgl. Christoph Parry, „Der Prophet der Randbezirke. Zu Peter Handkes Poetisierung der Peripherie in Mein Jahr in der Niemandsbucht“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Peter Handke. Text + Kritik 24 (1999), 6. Auflage: Neufassung, S. 51–61, hier S. 57. 43 „The mythicization of reality occurs at three levels. First of all, it transpires at the level of ideology or the ‘holistic’ fantasy inherent in the myth conveyed by the landscapes, in other words, the plunge into the universal. Secondly, it can be detected at the level of semiotics in Handke’s nature images of the vision of a universe peace and harmony, insofar as this vision is presented through the description of landscapes seemingly originating in the intrinsic quality of the universe. And finally, one can see this mythicization at work in Handke’s absolute de-historicizing of reality, which can ultimately amount to its negation altogether.“ (Mireille Tabah, „Land and Landscape in Handke’s Texts“, in: David Nicolas Coury/Frank Pilipp (Hg.), The Works of Peter Handke. International Perspectives, Riverside, Calif., 2005, S. 336–358, hier S. 351). 44 Vgl. Volker Georg Hummel, Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“ als Spaziergängertexte, Bielefeld 2007. Laut Hummel entfaltet Handkes Werk eine autobiographische Ästhe-
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Handke seinen Protagonisten folgerichtig als Ich-Erzähler auftreten, was Carstensen mit Recht als Wiedergeburt des Autors charakterisiert:45 In den Büchern […] bin der Held mehr oder weniger ich selber. Wenn ich damit durchkam, dann gelang mir das nur, weil ich die Gestalt eines Buchs war. […] Als Held in den Geschäften des Tages bin ich gemeingefährlich. […] Im Leben ist der mir gemäße Platz der eines Zuschauers, und im Schreiben will ich mich weniger als früher in Aktion setzen und vordringlich Chronist sein […]. (NB 42ff.)
Auf der Suche nach einer eigenen Sprache und in Abgrenzung zu der „zerschriebene[n] Örtlichkeit“46 Paris kommt auch keinesfalls die Sprache der Romane jedweder Art in Frage (vgl. NB 211), was ihn anzieht, ist „vielmehr ein Ordnen, ein Auffächern, ein Lichten, ein Durchlüften des Chaos oder der sogenannten Wirklichkeit […] auch der […] meinen, innen wie außen“ (NB 215). Für das Erzählen hofft er, „aus der Verzahnung, der Dinge wie der Worte, herauszutreten und den Gesetzeszwang loszuwerden“, um stattdessen in einem „mitvibrierenden Dahinerzählen“ (NB 225) aufzugehen. Handkes Erzählungen, so ließe sich mit Honold sagen, verfolgen ein „Narrationskonzept“, das nicht etwa die Figuren zu entscheidenden Handlungsträgern macht, „sondern den von ihnen durchquerten oder bespielten sozialen Raum“.47 Aus der unendlichen Vielzahl von Wahrnehmungen wählt Handke kleine Phänomene aus, petits faits – „Straßenkreuzungen, Bahnhöfe, Brücken oder Durchgänge“48 –, an die sich „typische Gewohnheits-Szenarien“ heften: „Was durch ihre Thematisierung in den Blick gerückt wird, sind die ansonsten in ihrer Eigenart eher unbeachteten transitorischen Orte.“49 Handke entkleidet diese Orte ihres Komplexitätszusammenhangs. Die Dinge stehen dann für sich, von Handke ins poetische Wort gefasst („ohne Bilder zu schauen geben“ (NB 226)), und er-
tik gemäß der „Schriftfortsetzung“ Paul Nizons. Hummel attestiert Handke eine „noch fiktional zu nennende Handhabung seines gesuchten konfliktlosen, leichten Dahinerzählens, das den im eigenen Spazierengehen formulierten Sprach-Bildern einen angemessenen Rahmen bietet und auch seine persönliche Geltungsnot in der eigentümlich gespaltenen Erzählerfigur des Spaziergängertextes auffangen kann“ (S. 204). 45 Vgl. Carstensen, Romanisches Erzählen, S. 245. 46 Parry, „Der Prophet der Randbezirke“, S. 54. 47 Alexander Honold, Der Erderzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften, Stuttgart 2017, S. 423. 48 Ebd., S. 422. 49 Ebd.
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möglichen dem Leser, dem Erzählten das eigene Erfahrene beizufügen und sich seinen eigenen Reim auf Paris zu machen. Sein Bewusstsein indessen sei immer schon sein Problem gewesen, lässt der Autobiographie-Fiktionär Handke seinen Protagonisten äußern: „Mein Bewußtsein hat nichts gemein mit gleichwelcher Vernunft, mischt sich ein eher als Dämon, zerstörerisch. Wie meine Liebe, hat es bisher noch ein jedesmal ebenso mein Erzählen zerstört.“ (NB 227) Dazu gesellen sich eine „‚Ich‘-Unsicherheit“ (NB 199) und eine auffallend große „Bereitschaft zur Entzweiung“: „Entzweit zu sein, war für mich zunächst eine Genugtuung, in manchem Fall ein Triumph. Endlich war ich, wie es mir entsprach und sich für mich gebührte, allein. […] Andrerseits gab es in mir von Kind an eine Bereitschaft, mich zu versöhnen.“ (NB 164f.) Dezidiert selbstreflexiv tönt der Text auch in der Beschreibung der allmählichen Bewegung vom Pariser Zentrum in die Peripherie. Anfangs bewegt sich der Erzähler „noch stadteinwärts“, um die Zentren zu erkunden: „Alésia, Montparnasse, St. Germain, vor dessen brüderlich breitem Kirchturm ich verläßlich ein Ankunftsgefühl hatte.“ (NB 270) Nach dem ersten Jahr jedoch beginnt sich sein Radius zu erweitern, und bald zieht es ihn „tagtäglich“ (NB 277) in die Vororte, wobei er durch den Übertritt von der Metropole in den Außenbezirk jeweils Ruhe, Staunen und eine neue Wachheit erfährt: Mit dem bittereren Kaffee des Vororts schmeckt er auch „eine inständigere Wirklichkeit“ (NB 290). Handkes Protagonist assoziiert und konstruiert seinen südwestlich von Paris gelegenen Lebens- und Ruheort zunächst als eine Bucht, mit den Bewohnern als „Strandgut“: Es war das zugleich eins der seltenen Male, daß ich die abgelegene Vorstadt als einen Teil des großen Paris hinter dem Hügelzug sah, und zwar als die hinterste, versteckteste, am wenigsten zugängliche Bucht des Weltstadtmeers, getrennt davon durch den horizontlangen Riegel der Seine-Höhen als Vorgebirge, mit der da eingeschnittenen Straße Paris Versailles als der einzigen Verbindung hinaus zum Offenen. (NB 78)
In der Bucht kauft Handke tatsächlich ein Haus, nimmt sich den Zeitraum eines Jahres vor, in dem er gewissermaßen alles mitschreibt, Wahrnehmungen damit benennt. Sein Wahrnehmen, sein Lesen der Niemandsbucht bindet er zurück zu der ersten Idee des reinen Augenzeuge-Seins: Hinschauen, registrieren, festhalten; das Erzählerische als ein bloßer Nebenstrang, und auch keinmal vorbedacht, eher wie es kommt, als ein Ausschwingen des Berichtens, welches der Grundton bliebe. (NB 702f.)
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In Mein Jahr in der Niemandsbucht ist der Ich-Erzähler auf der Suche nach dem Eigensten (vgl. NB 232), er erfährt Freuden und Leiden an Paris (vgl. NB 290), spürt Lähmungen im Schreiben, erlebt Begriffs- und Bildstutzigkeiten (vgl. NB 244), beklagt bei seiner gegebenen Entzweiungsneigung Ausgeschlossensein als sein Grundproblem (vgl. NB 304), findet Beistand bei Hölderlin, „der mir frische Adern einzog“ (NB 403), wird vom Chronisten zum Epiker, ist zwischendurch bescheiden und unbekümmert (vgl. NB 776), modelliert 1993 für die erzählte Zeit von 1997 Kriege (z.B. einen deutschen Bürgerkrieg „massenhaft gegen sich selbst“, NB 782) und Vulkanausbrüche (vgl. NB 786), gibt anekdotische Treffen mit Verlegern zum Besten, gewährt Einblick in eine vor lauter heruntergeschriebener Bleistiftstummel klemmende Tischschublade (vgl. NB 987) und bekennt sich schließlich in einer Bemerkung zwischen Selbstanklage und Kokettieren zu seinem „Durcheinanderdenken“ (NB 1032).
In Der Große Fall50 erzählt Handke einen einzigen Tag seines Protagonisten; dieser – im Werk namenlos – ist ein in seinem Beruf nicht mehr tätiger Schauspieler. Er macht sich am Morgen vom Wald in der Peripherie der Metropole (unverkennbar Paris) auf, kommt zu einer Lichtung, später zur Ringautobahn und landet schließlich im Zentrum. Dinge und Menschen gehen dem alten Schauspieler durch den Kopf, während er durch den Wald, kurz auf der Schwelle zum Zentrum verweilend, in überwiegend sanftem Gang („Jetzt ist die Zeit für den Sanften Lauf!“ (GF 136)) das Zentrum ansteuert. In Der Große Fall bietet Handke Parislektüre in langsamer Annäherung an die Stadt, eine Gelegenheit, Wahrnehmungssplitter in poetische Form zu gießen. Als ein Hassender und Einzelne retten Wollender ist der Schauspieler angelegt, der wiederum unverkennbare Züge von Peter Handke hat. Der Gang in die Metropole ist ein Gang durch das Erzählen, eine zwiespältige Hinwendung zu Gesellschaft, eher noch Einzelpersonen, die zufällig seinen Weg kreuzen, und Eintauchen in ein Großstadtgewühl, in dem sich überraschend auch ruhige Plätze unmittelbar neben dem Lärmen und Multimediatreiben der größten Plätze finden. Handke lässt den Schauspieler bezaubernde Augenblicke und Momente erleben, echte Freude, diese indessen ohne Empathie: „Die Freude, jetzt an dem Tag des Großen Falls, blieb unbehelligt vom Unglück der anderen.“ (GF 148)
50 Peter Handke, Der Große Fall, Berlin 2012 [EA 2011]. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle GF.)
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Erinnerungen an die Stunde der wahren Empfindung stellen sich ein, erzählstrategisch hingegen schlichter und beiläufiger angelegt. Handke gibt dem Schönen wie dem Schrecklichen („des ihn anspringenden Unschönen“ (GF 60)) um 2010 mehr Raum als in anderen Erzählungen. Sein Protagonist, der Schauspieler, ist auch ein Leser am Anfang des Tages und der Geschichte: „Er las, und da galt allein das Erzählte, und er war darin verschwunden.“ (GF 27) Aus dem Wald auf die Lichtung gelangt, bei Lichte besehen also, begegnet der Protagonist Lifestyle-Berühmtheiten und sogar dem Staatspräsidenten samt Tross (vgl. GF 64). Das Motiv der Schwelle findet sich in der Erzählung in Form einer Schwelle der Zeit und einer lokalen Schwelle „zu den inneren Bezirken“ (GF 174) nach dem Überqueren der Peripherieautobahn mit der Metropole und dem Vorortland hinter sich: Er würde zu Fuß die Autobahn überqueren […]. Unnötig zu erzählen, daß die Überquerung gelang, in einem bestimmten Augenblick, den er lange abgewartet hatte und von dem er sicher war, er würde kommen und ebenso dann die zweite, nach womöglich noch längerem Abwarten auf dem Zwischenstreifen. […] Er stand da vor einer Schneise von Niemandsland, einer so ausgedehnten wie nur in den Weltstädten, den größten, und dort oft nah an den Zentren, die von dem Land aus unsichtbar und erstaunlicherweise fast unhörbar blieben, und dabei gar nichts so sehr Besonderes. (GF 154f.)
Konstitutiv für Handkes Erzählen, das das Tagtägliche in Poesie aufhebt, ist die Passage über eine Häuserwand, derer der Schauspieler ansichtig wird und die Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge evoziert: […] wo die abzureißenden Gebäude einerseits bemalt, andrerseits übersprayt waren, die Malereien wie Nachahmungen des Gesprayten wirkten, nur in harmonischen Farben, harmonisch auch die dargestellten Gestalten, verständlich ebenso die Situationen, Szenen und die dazugehörigen Zeichen und Wörter, Sätze, Ausrufe, während die Spraymauern von Blitz- und Zackenformen und Ausrufen, sämtlich in Schwarz, wimmelten, die aber allesamt unverständlich blieben. (GF 177)
Handkes Schauspieler ist in der Erzählung als aktiver Erkunder der Metropole angelegt; in Der Große Fall tritt die Ich-Lektüre etwas in den Hintergrund. Es wird stiller um ein Ich, das Züge von Gelassenheit und Abgeklärtheit annimmt. Entsprechend authentisch wirkt daher auch ein kontemplativer Moment mit den paristypischen Briefkästen: „Ein Briefkasten, ein klassisch gelber, mannshoher, zweiflügeliger, ein Flügel für die Ortspost, der andere für die Weltrichtungen, stand draußen auf dem Gehsteig in Reichweite.“ (GF 193)
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In Die Obstdiebin lässt Handke einen Ich-Erzähler aus Chaville ins Landesinnere, in die Picardie aufbrechen. Die Fahrt des Ich-Erzählers geht ab Seite 137 über in eine dreitägige Fahrt der Obstdiebin ebenfalls ins Landesinnere. Über die Figur Wolfram von Eschenbach stellt Handke am Ende der Geschichte erzählstrategisch wieder eine Verbindung zum Ich-Erzähler her (vgl. OD 525). Paris liest der Ich-Erzähler in der Obstdiebin auf seinem Weg ins Landesinnere, der zwar in der südwestlichen Banlieue von Paris beginnt, jedoch über den Innenstadtbahnhof Saint-Lazare führt, der Paris mit Nordwestfrankreich und dem Atlantik verbindet: „Der letzte Ort vor meiner Abfahrt, quer durch Paris zur Gare Saint-Lazare, und von dort weiter nordwestlich in die Picardie, war der Kinderspielplatz neben dem Buchtbahnhof […].“ (OD 82) Dort hat der IchErzähler eine Erscheinung, die Kassiererin des Supermarkts sitzt als eine plötzlich ganz Andere auf einer Bank, wiedererkennbar zwar als die Kassiererin, aber eine Art Erleuchtung bei dem Ich-Erzähler auslösend: „[…] der Anblick des Mädchens […] ließ mich darüber hinaus etwas erleben, das ich immer schon erfahren und erkannt, aber immer wieder aus dem Sinn verloren hatte: die Erkenntnis, ja, der jederzeit möglichen Verwandlung.“ (OD 84) Agens der Verwandlung ist der Ich-Erzähler selbst, er hat die Macht zu verwandeln: „Ich war dazu aufgerufen; zu verwandeln, war ein Gebot, eins der elften bis dreizehnten. Es handelte sich um ein Gebot, welches, paradox?, wie kein Gebot sonst befreite.“ (OD 85) Den Vorortzug am Pont de l’Alma verlassend, wechselt der Protagonist in die Metro, die ihn zur Gare Saint-Lazare bringt. Objekte der Parislektüre sind hier die Transportmittel, die Seine und die Atmosphäre am Bahnhof: Wie schnell da an der Flußenge und -krümmung die Seine floß, als sei sie gestaut, ein wildbachähnlicher Schwall, so auch vielleicht allein hier in der Stadt, das Dahinrauschen. […] In der Metro Leib an Leib im Gedränge. Wie manches Mal, und gar nicht so selten, erschienen mir, wenigstens in Paris, alle die Gesichter in der Untergrundbahn schön […] und ich roch auch die Körper gern, wenn sie überhaupt, wie auch immer, rochen. (OD 92)
Vor dem Bahnhof begegnet der Erzähler dann einem alten Bedürftigen, in der Bahnhofshalle vielen Bettlern; am Fahrkartenautomaten kommt es zu Widrigkeiten (vgl. OD 94).
51 Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, S. 14. (Nachfolgend zitiert unter der Sigle OD.)
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Eine virtuelle Verbindung stellt Handke her zwischen Ich-Erzähler und der Obstdiebin und der Gare Saint-Lazare als Bindeglied. Auch die Obstdiebin nimmt auf der Suche nach ihrer Mutter hier den Zug ins Landesinnere, sie besucht mit ihrem soignierten Vater („DIOR-Anzug mit Stecktuch und englischem Schuhwerk“, OD 144) aber vor ihrer Abfahrt noch das Restaurant Mollard vor dem Bahnhof. Hier geht der Blick des Vaters auf „Wand- oder Deckenmosaiken vom Anfang des letzten Jahrhunderts zu den Blumen oder Pfauen“ (OD 147). Die Annahme einer fortwährenden Parislektüre bestätigt sich auch in dem Werk Die Obstdiebin. Dieses Epos trägt keine Gattungsbezeichnung in der Titelei, und bei der analytischen Lektüre drängt sich immer stärker der Eindruck auf, dass Handke sich auf dem Weg zum Abschied von dem Diktum „Bloß keine Geschichte“ befindet.
BIES, WERNER, Dr. phil. Forschungsschwerpunkte: Erzählforschung, Märchen und Mythos in der Populärkultur, Erzählen in der Rockmusik/über Rockmusik, Rezeption des Märchens in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. – Ausgewählte Publikationen: Die Rezeption der Romane Thomas Hardys in England 1871-1901, Diss. Trier 1978; Mnemosyne. Festschrift für Manfred Lurker zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1988 (hg. zs. mit Hermann Jung); zahlreiche Artikel in Enzyklopädie des Märchens sowie Aufsätze u. a. zum traditionellen Erzählen in der Werbung und in der Rockmusik, zur Figur des Maulwurfs im traditionellen Erzählen, zu den Inklings, Günter Eich, Peter Handke und Christoph Meckel. CARSTENSEN, THORSTEN, Ph.D., Associate Professor für Germanistik an der Indiana University–Purdue University Indianapolis. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur der Moderne und Gegenwart, Literatur und Architektur, Lebensreformbewegungen, Schreiben im Exil. – Ausgewählte Publikationen: Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition, Göttingen 2013; Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016 (hg. zs. mit Marcel Schmid); Das Abenteuer des Gewöhnlichen. Alltag in der deutschsprachigen Literatur der Moderne, Berlin 2018 (hg. zs. mit Mattias Pirholt); Aufsätze u.a. zu Hermann Bahr, Hermann Broch, Ernst Jünger, Thomas Bernhard und Paul Auster. ESTERMANN, ANNA, M.A., Dissertantin an der Universität Salzburg, Dissertation zu Peter Handkes Frühwerk im Kontext. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur nach 1945, literarischer Realismus, Literatursoziologie. – Publikationen: Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung (hg. zs. mit Hans Höller), Wien 2014; Aufsätze zu Franz Kafka, Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann.
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HEINZ, JUTTA, Dr. phil. habil., wiss. Mitarbeiterin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Philosophie der Aufklärung, Literarische Anthropologie, Literatur und Kulturtheorie, Wissenschaftliche Edition. – Ausgewählte Publikationen: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996; Narrative Kulturkonzepte. Wielands ‚Aristipp‘ und Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, Heidelberg 2006; Wieland-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2008 (als Hg.); Johann Karl Wezel, Hannover 2010; Clemens Brentanos dramatisches Frühwerk. Eine produktionsästhetische Studie, Heidelberg 2019; Aufsätze u.a. zu Gellert, Wieland, Wezel, Schiller, Goethe, Rilke, Musil, Virginia Woolf. HOFFMANN, BIRTHE. Ph.D., Universitätsdozentin für deutsche Literatur am Institut für Anglistik, Romanistik und Germanistik an der Universität Kopenhagen. Herausgeberin der Zeitschrift Text & Kontext. Jahrbuch für Germanistische Literaturforschung in Skandinavien. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur von Grillparzer bis Bernhard, Literatur und Kriegserfahrung, Poetischer Realismus, Literatur und Naturwissenschaft bzw. Phänomenologie. – Ausgewählte Publikationen: „Die Seele im Labor der Novelle. Gestaltpsychologische Experimente in Musils Grigia“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 735–765; „Strahl und Strom. Wandrers Sturmlied als dramatisierte Reflexion von Subjektivität und künstlerischer Kreativität“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 229–260; „Die Schönheit der Leere: Perspektivische Brechungen in Adalbert Stifters Bergkristall“, in: Euphorion 105 (2011), S. 154–185; „Von Düppel bis Sedan: Fontane und das Problem kultureller Grenzziehungen“, in: Karin Hoff/Anna Sandberg/Udo Schöning (Hg.), Literarische Transnationalität: Kulturelle Dreiecksbeziehungen zwischen Skandinavien, Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Würzburg 2015, S. 215–242. HONOLD, ALEXANDER, Dr. phil., Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle und Reiseliteratur, Erzählforschung, Theorie und Kultur der Moderne, Geschichte der Landschaftsästhetik. – Ausgewählte Publikationen: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, Berlin 2015; Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften, Stuttgart 2017; Handbuch Literatur & Musik, Berlin/Boston 2017 (hg. zs. mit Nicola Gess); Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, Berlin 2017 (hg. zs. mit Michaela Holdenried und Stefan
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Hermes); Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen, Berlin/New York 2018 (hg. zs. mit Rolf Parr). KOHNS, OLIVER, Dr. phil., Senior Lecturer an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Politik, Literatur der Moderne, Schurken. – Ausgewählte Publikationen: Die Verrücktheit des Sinns. Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle, Bielefeld 2007; Figurationen des Politischen, 2 Bde. Paderborn 2016 (hg. zs. mit Martin Doll); Der Erste Weltkrieg in der Literatur und Kunst. Eine europäische Perspektive, Paderborn 2017 (hg. zs. mit Jeanne E. Glesener); Aufsätze u.a. zu Novalis, Thomas Mann, Franz Werfel und Orhan Pamuk. MEHTELLI, CHIHEB, Dr. phil., Maître de conférences für Germanistik am Hochschulinstitut für Sprachen Tunis. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Erzähltheorie, Poetik und Ästhetik. – Ausgewählte Publikationen: „Von der Simulation einer Innenansicht zur Auflösung einer letzten verbindlichen Erzählerposition in Thomas Bernhards Jauregg“, in: Arnulf Knafl/Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.), Unter Kanonverdacht. Beispielhaftes zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert, Wien 2009, S. 55–71; „Der ambiguitäre Charakter von Thomas Bernhards Roman Frost. Bemerkungen zur Figur des Famulanten und seine Rolle als Ich-Erzähler“, in: Attila Bombitz/Renata Cornejo/Sawomir Piontek/Eleonora Ringler-Pascu (Hg.), Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler, Wien 2009, S. 303– 316; „Im Höllentrichter der radikalen Entfremdung. Gerhard Roths Orkus. Reise zu den Toten. Eine topologische Lektüre“, in: Arnulf Knafl (Hg.), Medium – Medialität – Intermedialität. Beiträge zur österreichischen Kulturgeschichte, Wien 2016, S. 97–108. MONTANÉ FORASTÉ, ANNA, Dr. phil., Profesora Titular für deutschsprachige Literatur an der Universitat de Barcelona (UB). Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige, insbesondere österreichische Literatur des 20./21. Jahrhunderts. – Aktuelle Publikationen: „El ángel de la escritura. La construcción del presente en Engel des Vergessens, de Maja Haderlap“, in: Historia, memoria y recuerdo. Escrituras y reescrituras en la narrativa en lengua alemana desde 1945, Madrid 2017, S. 41–51; „Verspätete Vergangenheit. Spuren des Utopischen in W.G. Sebalds Austerlitz“, in: Linda Maeding/Marisa Siguan (Hg.), Utopie im Exil. Literarische Figurationen des Imaginären, Bielefeld 2017, S. 221–240; Georg Büchner a Catalunya. Documents d’una recepció, Girona 2017 (hg. zs. mit Teresa Vinardell); „Mit Fotos aus der Kindheit. Zu Judith Schalanskys Blau steht dir nicht und
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Angela Krauß’ Eine Wiege“, in: Toni Tholen/Patricia Cifre Wibrow/Arno Gimber (Hg.), Fakten, Fiktionen und Fact-Fictions, Hildesheim 2018, S. 143–164 . Übersetzungstätigkeit vom Deutschen ins Spanische bzw. Katalanische: Kleist, Dürrenmatt, Handke. MOYSICH, HELMUT, Dr. phil., Universitätsdozent für deutsche Literatur am Dipartimento di Filologia, Letteratura, Linguistica der Università degli Studi di Cagliari. Forschungsschwerpunkte: Komparatistische Literaturforschung, Poetik und Ästhetik, Peter Handke. – Ausgewählte Publikationen: Die Selbst-Bildung und der Exzess des Blicks. Zum Werk Heinrichs von Kleist, Frankfurt am Main 1988; „‚Dingfest und tänzerisch‘. Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht“, in: manuskripte 135 (1997), S. 97–105; „Er kommt von weit her... Auratische Raumfassungen bei Heimito von Doderer“, in: manuskripte 217 (2017), S. 113–117; Prospettando un’altra Odissea. Peter Handke e la riconquista dell’immagine, Cagliari 2004. PARRY, CHRISTOPH, Dr. phil., Prof. em. für deutsche und vergleichende Literatur an der Universität Vaasa, Finnland. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, deutsch-finnische Literatur- und Kulturbeziehungen, internationale Rezeption. – Ausgewählte Publikationen: Menschen, Werke, Epochen. Eine Einführung in die deutsche Kulturgeschichte, Ismaning 1993; Peter Handkes Landscapes of Discourse, Riverside CA 2003; The Echo of Die Blechtrommel in Europe, Leiden/Boston 2016 (hg. zs. mit Jos Joosten); Aufsätze u.a. zu Paul Celan, Peter Handke, Peter Henisch, Paavo Rintala, W. G. Sebald, Hilde Spiel. POLSTER, HEIKE, Ph.D., Associate Professor für Germanistik an der University of Memphis. Forschungsschwerpunkte: Deutsche und österreichische Literatur der Gegenwart, Literatur und Philosophie, nichtchronologische Zeitempfindungen und -darstellung. – Ausgewählte Publikationen: The Aesthetics of Passage: The Imag(in)ed Experience of Time in Thomas Lehr, W.G. Sebald, and Peter Handke, Würzburg 2008; The Poetics of Passage: Christa Wolf, Time, and Narrative, Newcastle-upon-Thyne 2012; Aufsätze zu Ilse Aichinger, Michael Ende und Walter Benjamin. POMPE, ANJA, Dr. phil., Jun.-Prof. für Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Multikulturalität und Mehrsprachigkeit, Heterogenität und Inklusion, Medienvielfalt und Mediensozialisation, Lesesozialisation und literarische Sozialisation, Kinderliteratur im Medienverbund, Literarisches Lernen und sprachliche Bildung mit neuen Medien. – Ausgewählte
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Publikationen: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Wien/Köln/Weimar 2009; Deutsch inklusiv. Gemeinsam lernen in der Grundschule, Baltmannsweiler 2015 (als Hg.); Deutschdidaktik Grundschule. Eine Einführung, Berlin 2018 (zs. mit Kaspar H. Spinner und Jakob Ossner); Bild und Latenz. Impulse für eine Didaktik der Bildlatenz, Paderborn 2019 (als Hg.); Aufsätze u.a. zur erzählenden Kinder- und Jugendliteratur. RINGLER-PASCU, ELEONORA, Ph.D., Univ.-Prof. an der Hochschule für Musik und Theater, Department: Musik – Darstellende Kunst, Schauspiel (rumänische und deutsche Sprache), West-Universität Temeswar. Forschungsschwerpunkte: Österreichisches und deutsches Gegenwartsdrama, deutschsprachiges Theater im Banat. – Ausgewählte Publikationen: Unterwegs zum Ungesagten. Zu Peter Handkes Theaterstücken „Das Spiel vom Fragen“ und „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ mit Blick über die Postmoderne, Frankfurt am Main 1998; Österreichisches Gegenwartstheater zwischen Tradition und Innovation, Timioara 2000; Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler, Wien 2009 (hg. zs. mit Attila Bombitz, Renata Cornejo, Slawomir Piontek); Kurzdrama – Minidrama, Timioara 2009; Drama der Antike, Timioara 2010; Österreichische Literatur. Traditionsbezüge und Prozesse der Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Wien 2018 (hg. zs. mit Laura Cheie und Christiane Wittmer). Übersetzungen: Peter Handke, Absena, Timioara 2000; Thomas Bernhard, Immanuel Kant, Timioara 2013. Aufsätze u.a. zu Handke, Bernhard, Ransmayr, Ingeborg Bachmann und Heiner Müller. ROLI, MARIA LUISA, Dr. phil., Professore Associato di Letteratura Tedesca an der Università degli Studi di Milano im Ruhestand. Forschungsschwerpunkte: Südtiroler Literatur (Tumler, Zoderer, Kaser), Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Bezug auf die wissenschaftliche Kultur der Zeit unter bes. Berücksichtigung der optischen Mittel (Goethe, Hoffmann, Stifter), Dichtung und Prosa der Jahrhundertwende (Rilke, George) und der Gegenwart (Brecht, Th. Mann, Handke, Enzensberger). – Ausgewählte Publikationen: Adalbert Stifter, Saggi e note di letteratura e d’arte, Sarzana 2004 (als Hg.); Arte e scienza nella scrittura visuale di Stifter, Lugano 2007; Il telescopio di Goethe. Poetiche della scienza e delle arti figurative tra Settecento e Novecento, Lugano 2010; La formazione del vedere. Lo sguardo di Jacob Burckhardt, Macerata 2011 (hg. zs. mit Andrea Pinotti). SPECK, OLIVER C., Dr. phil., Associate Professor für Filmwissenschaft an der Virginia Commonwealth University in Richmond. Forschungsschwerpunkte:
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Deutschsprachiger Film, Filmgeschichte und -theorie. – Ausgewählte Publikationen: Funny Frames: The Cinematic Concepts of Michael Haneke, New York 2010; New Austrian Film, New York 2011 (hg. zs. mit Robert von Dassanowsky); Quentin Tarantino’s Django Unchained: The Continuation of Metacinema, New York 2014 (als Hg.); Aufsätze u.a. zu Jacques Rivette, Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder, Michael Haneke, Tom Tykwer und Wim Wenders. STRASSER, PETER, Dr. phil., Univ.-Prof., seit Oktober 2015 im Ruhestand, unterrichtet Ethik und Religionsphilosophie an der Karl-Franzens-Universität in Graz. 2014 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. – Ausgewählte Publikationen: Der Freudenstoff. Zu Handke eine Philosophie, Wien 1990; Die einfachen Dinge des Lebens, Paderborn 2009; Morgengrauen. Journal zum philosophischen Hausgebrauch, Paderborn 2017; Mein Abendland. Versuch über das unerreichbar Nahe, Paderborn 2017; Idioten des Absoluten. Über das Weltfremde in uns, Paderborn 2017. WAGNER, KARL, Dr. phil., Prof. em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Stifter, Rosegger, Robert Walser, Handke); Narratologie, Literatur und Wissen(schaft); Edition. – Ausgewählte Publikationen: Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke, Bonn 2010; Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit, Zürich 2011 (hg. zs. mit Michael Gamper und Ulrich Johannes Beil); Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft, 1945–1989, Göttingen 2012 (hg. zs. mit Georg Gerber und Robert Leucht); Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg, Zürich 2014 (hg. zs. mit Michael Gamper und Stephan Baumgartner); Moderne Erzähltheorie, 2. Aufl., Wien 2015 (als Hg.); Peter Rosegger: Ausgewählte Werke in [vier] Einzelbänden, Wien etc. 2018 (als Mithg.). WORMER, JÖRG, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literatur und Deutsch als Fremdsprache / Transkulturelle Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Geschäftsführer der Fakultät für Sprachund Literaturwissenschaften der LMU München (seit 01.10.2018 im Ruhestand). Forschungsschwerpunkte: Deutsch- und französischsprachige Literatur seit 1800, Literatur und Bildende Kunst, Fremdheitsforschung. – Ausgewählte Publikationen: Sinn-Bilder: Eine soziologische Untersuchung der Selbstzeugnisse und der schriftlichen Rezeption im Rahmen der Neufiguration, Saarbrücken 1984; „Wis-
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senschaftssprache und Kommunikationskultur“, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 27 (2001); „Landeskunde als Wissenschaft“, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 29 (2003); Transkulturalität im europäisch-islamischen Dialog, Berlin 2007 (hg. zs. mit Jörg Roche).
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Michael Basseler
An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3
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Literaturwissenschaft Rebecca Haar
Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6
Laura Bieger
Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0
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