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German Pages 311 [312] Year 1998
Linguistische Arbeiten
377
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese
Florian Panitz
Die temporalen Elemente des Englischen und deren Zeitbezug in fiktionalen narrativen Texten Semantik, Pragmatik und nicht-monotone Inferenzen in einem indexikalischen Modell temporaler Bedeutung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Panitz, Florian: Die temporalen Elemente des Englischen und deren Zeitbezug in fiktionalen narrativen Texten : Semantik, Pragmatik und nicht-monotone Inferenzen in einem indexikalischen Modell temporaler Bedeutung / Florian Panitz. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Linguistische Arbeiten ; 377) ISBN 3-484-30377-8
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren
Inhalt Vorwort
ix
0 Einleitung 0.1 Problemstellung und Zielsetzung 0.2 Die temporalen Elemente des Englischen 0.3 Theoretischer Rahmen 0.4 Aufbau der Arbeit
1 1 2 9 16
1 Analysen temporaler Elemente nach Reichenbach (1966 /1947) 1.1 Die Tempusanalyse Reichenbachs 1.2 Erweiterte Reichenbach-Semantik (ERS) 1.3 Referenzzeit und Textpragmatik nach bisherigen Ansätzen
19 19 24 38
2 Entwicklung einer temporalen Textpragmatik 2.1 Die erweiterte Reichenbach-Pragmatik (ERP) als Alternativvorschlag zu bisherigen Ansätzen 2.2 Default-Prinzipien der temporalen Strukturierung von (deutschen) Texten nach Ehrich (1992) 2.2.1 Default-Prinzipien und Textkonstitution 2.2.2 Suspendierung allgemeiner Default-Prinzipien durch spezifischere Prinzipien 2.3 Überarbeitung und formale Präzisierung der bisher diskutierten Diskursprinzipien in bezug auf das Englische 2.3.1 Prinzipien der thematischen Textebene 2.3.1.1 Überarbeitung der ERP und ihre Anwendung auf die thematische Textebene 2.3.1.2 Das thematische Rahmenprinzip 2.3.1.3 Das Chronologieprinzip 2.3.2 Prinzipien der lokalen Textebene 2.3.2.1 Das Prinzip der Chronologie zwischen zwei Situationen.. 2.3.2.2 Das Prinzip der thematischen Dissoziation 2.3.2.3 Das Prinzip der Rahmensetzung auf der lokalen Textebene 2.3.2.4 Zustände und Gleichzeitigkeit 2.3.2.5 Zustände und Kausalität 2.3.2.6 Zustände und Referenzzeitabfolge 2.3.2.7 Kausalität und zeitliche Umkehr 2.3.2.8 Past Perfect und Referenzzeitidentität 2.3.2.9 Simple Present und Gleichzeitigkeit 2.3.2.10 Zusammenfassung 2.4 Hierarchische Abhängigkeiten von Diskursprinzipien untereinander und annullierbares Wissen {defeasible knowledge)
47 47 59 59 68 70 70 70 80 95 112 113 120 126 131 135 139 145 149 152 155 157
vi 2.4.1 Inferentielle Schlüsse und nicht-monotone Logik 2.4.2 Annullierbarer Modus Ponens (Defeasible Modus Ponens) 2.4.3 Annullierbare komplexe Folgerung {Defeasible Hypothetical Syllogism) 2.4.4 Die Suspendierung von Inferenzen und das "Pinguin-Prinzip" 2.4.5 Temporales "Pinguin-Prinzip" und Referenzzeitorientierung 2.4.6 Kriterien der Informativität von Inferenzschritten 2.4.7 Komplexes Pinguin-Prinzip und "Zustände und Referenzzeitabfolge" 2.4.8 Ausweitung der Inferenzschemata auf die Interpretation längerer Satzfolgen unter exemplarischer Anwendung auf ein Beispiel 2.4.8.1 Überarbeitung der ERP 2.4.8.2 Annullierbare Inferenzprozesse bei der Einbettung eines lokalen Kontextes in einen größeren thematischen Kontext 2.4.8.2.1 Lokaler vs. thematischer Kontext anhand eines authentischen Beispiels 2.4.8.2.2 Formale Darstellung der Berücksichtigung des thematischen Kontextes in der Interpretation 2.4.8.2.3 Darstellung der Interpretation des lokalen Kontextes 2.4.8.2.3.1 Das Problem der Identifikation eines relevanten lokalen Kontextes 2.4.8.2.3.2 Interpretation eines lokalen Kontextes als DefeasibleInferenzen 2.4.8.2.4 Einbettung des lokalen Kontextes in den größeren thematischen Kontext nach dem Pinguin-Prinzip 2.4.8.3 Interpretation des lokalen Kontextes im Hinblick auf den vollständigen thematischen Kontext 2.4.8.4 Möglichkeiten der Erweiterung des Inferenzschemas und seiner Anwendung auf globalere Textstrukturen 2.4.8.5 Berücksichtigung der Sprechzeit und weiterer Indizes 2.4.9 Schlußfolgerungen 3 Fallstudie: Die Perfekt-Tempora und ihr Zustandsbezug 3.1 Perfect ofResult 3.2 ExperientialPerfect 3.3 Perfect ofa Persistent Situation 3.4 PerfectoftheRecentPast 3.5 Perfect of Occurrence 3.6 Past Perfect im "Past-in-the-Past" Gebrauch und Partikularisierung 3.7 Tempus oder Aspekt? 3.8 Die Perfekttypen als Ergebnisse aus Inferenzprozessen
157 158 162 166 167 175 176 178 178 184 184 186 188 188 190 192 206 216 218 219 220 226 231 233 235 236 237 241 241
vii 4 Temporale Adverbiale 4.1 Lokalisierende Adverbiale 4.1.1 Arten der zeitlichen Lokalisierung 4.1.2 Rahmenadverbiale und die erweiterte ReichenbachPragmatik (ERP) 4.2 Quantifizierende Adverbiale 4.3 Quantifizierende vs. lokalisierende Funktion komplexer Adverbiale: Probleme der Abgrenzung 4.4 Subjektiver Zeitbezug 4.5 Nicht-adverbiale sprachliche Elemente mit "adverbialem" Zeitbezug 4.6 Once 4.7 Now 4.8 Then 4.9 Finally 4.10 Temporale Adverbiale und Inferenzprozesse 4.11 Zusammenfassung
247 248 248
257 260 261 264 265 268 270 271 275
5 Zusammenfassung und Ergebnisse
277
6 Bewertung der Ergebnisse und Ausblick
286
Bibliographie
291
Verzeichnis der Beispieltexte
301
253 256
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Version einer Untersuchung, die ich im Februar 1996 an der Universität Oldenburg abgeschlossen habe (Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften, Anglistik). Es war auf der einen Seite die Menge der zum Thema "Zeitbezug" zu berücksichtigenden Fachliteratur und auf der anderen Seite der Anspruch, mit authentischen, auch komplexeren und längeren Textbelegen zu arbeiten, die den beträchtlichen Umfang der Originalversion der Arbeit bewirkten. Die vorliegende Überarbeitung stellt eine Kürzung auf weniger als die Hälfte des ursprünglichen Umfangs dar. Ich hoffe dennoch, daß die Straffung des Inhalts und die selektive Auswahl der Beispieltexte nicht auf Kosten der Klarheit gegangen sind. Insbesondere sei Joseph P. Calbert gedankt, der mich zur Beschäftigung mit der Sprachwissenschaft brachte und den Anstoß zu diesem Projekt gab. Ferner danke ich Winfried Boeder, dessen gutgemeinte und fundierte Kritik mich stets vor zu großen Leichtsinnigkeiten bewahrt hat. Meinen Eltern sei ebenfalls gedankt, ohne deren moralische und finanzielle Unterstützung die Arbeit in dieser Form nie zustande gekommen wäre. Besonders möchte ich meine liebe Frau Ruth erwähnen, die mir in den schwierigen Anfangsphasen den nötigen Rückhalt gab. Leider sollte sie den Abschluß der Arbeit nicht mehr erleben. Ihr sei dieses Buch gewidmet.
Oldenburg, im Oktober 1997
0 Einleitung
0.1 Problemstellung und Zielsetzung Das Problem der temporalen Bedeutungszuweisung stellt eines der am meisten diskutierten Themen in der Linguistik dar. Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Problembereich läßt sich immer wieder die Erkenntnis gewinnen, daß der Ausdruck von Temporalität in sehr hohem Maße auch als ein textuelles Phänomen anzusehen ist. So geht z.B. Schopf (1984) davon aus, daß die temporalen Elemente einer Sprache im Rahmen eines Verzeitungssystems interagieren. Die Rezeption eines Textes kommt dabei in temporaler Hinsicht der Rekonstruktion einer konzeptualisierten Verzeitungsstruktur gleich. Solche Verzeitungsstrukturen entsprechen zeitlichen Konstellationen in unserer konzeptualisierten Wirklichkeit, die sich z.B. grafisch anhand von Textpartituren darstellen lassen. Ist ein Text wohlgeformt, kann der Leser die vom Autor intendierte Verzeitungsstruktur ohne Schwierigkeiten rekonstruieren. Wenn wir die temporale Bedeutungszuweisung als ein textuelles Phänomen betrachten, stellt sich die Frage, auf welche Weise und mit welchen linguistischen Methoden die textuellen Funktionen der temporalen Formen zu beschreiben sind. Lassen sich Textfunktionen automatisch aus der Semantik der einzelnen sprachlichen Elemente herleiten? Werden Textfunktionen allein durch pragmatische Konventionen bestimmt? Und vor allem: Wie können die offensichtlich komplexen Vorgänge adäquat beschrieben werden, die es einem Leser erlauben, trotz der Vielzahl der dabei zu berücksichtigenden Informationen, innerhalb kürzester Zeit bei der Rezeption eines Textes den Aufbau der intendierten Verzeitungsstruktur nachzuvollziehen? Diesen Fragestellungen widmet sich die folgende Untersuchung. Wir wollen dabei davon ausgehen, daß die semantische Beschreibung der Bedeutung temporaler Elemente auch in formaler Hinsicht von der pragmatischen Beschreibung jener Prinzipien zu trennen ist, welche den Gebrauch temporaler Elemente im Hinblick auf die Konstitution einer bestimmten Textsorte regeln. Beide Teilbereiche treten jedoch in vorhersagbare Wechselwirkungen miteinander. Diese gilt es, in auch formal konsistenter Weise zu untersuchen. Semantische Ansätze, welche die temporalen Bedeutungen einzelner Elemente beschreiben, stehen in großer Anzahl zur Verfügung. Als präziseste Methode dient hier immer noch die wahrheitssemantische Analyse temporaler Formen (vgl. z.B. die Diskussion in Binnick 1991: 371-393). Ziel dieses Buches ist nun die Entwicklung einer Textpragmatik, die in Verbindung mit einer wahrheitssemantischen Darstellung des Bedeutungsgehalts die Verzeitungsfunktion temporaler Formen beschreiben kann. Als Untersuchungsobjekt sollen uns dabei fiktionale erzählende Texte des Englischen dienen. Semantik und Pragmatik werden auf einem miteinander kompatiblen formalen Rahmen beruhen, um die Wechselwirkungen zwischen Semantik und Pragmatik bei der Beschreibung der Verzeitungsfunktionen einzelner Elemente deutlich werden zu lassen. Es ist wünschenswert, eine ähnliche formale Exaktheit in der Beschreibung der Schnittstellen zwischen Semantik und Pragmatik zu erreichen, wie
2 sie in bezug auf die Schnittstellen zwischen Syntax und Semantik bereits erzielt worden ist.
0.2 Die temporalen Elemente des Englischen Unter "temporalen Elementen" oder "temporalen Formen" verstehen wir jene sprachlichen Elemente, welche in irgendeiner Form Zeitbezug herstellen. Elemente mit gemeinsamen formalen Eigenschaften und einer gemeinsamen Bedeutungsbasis können wir unter Kategorien des sprachlichen Ausdrucks von Zeitbezug zusammenfassen (vgl. z.B. Dahl 1985: 21 ff., Kuryiowicz 1975, Smith 1991: 4). Im einzelnen sind dies die Kategorien Tempus, Aspekt, Aktionsart, adverbiale Bestimmung der Zeit, Nominalphrasen mit inhärentem Zeitbezug sowie Partizipien und Sonderformen wie der Infinitiv-Perfekt, bestimmte Adjektive, Attribute und periphrastische Wendungen. Das folgende Beispiel illustriert einige dieser unterschiedlichen Arten der zeitlichen Bezugnahme:
(1) (a) Sims and his wife Marge were on the train to Minot from their home in Spokane, (b) They had left Spokane at five, when Marge got off her shift, and it was after nine now and black outside [...]. (c) "How would you hate to die most?" Marge said, waggling, a ballpoint in her fingers, (d) She was working a crossword puzzle book that had been left on the seat. (e) She had finished the hardest puzzle and gone on to the quiz in the back, (f) The quiz predicted how long people would live by how they answered certain questions, and Marge was comparing her chances to Sims's. (g) "This will be revealing," Marge said, (h) " I ' m sure you've thought about it, knowing you." (i) She smiled at Sims. (j) " I ' d hate to be bored to death," Sims said, (k) He stared out at the glassy darkness of Montana where you could see nothing. (1) No lights, (m) No motion, (n) He'd never been here before. [S.119-120] [...] (o) All the worry was about Marge's sister, Pauline, who was currently in a mental health unit somewhere in Minot [...]. [S. 123] [...] (p) Sims had always been attracted to Pauline, (q) She and Marge had been wild girls together [...]. [S. 126]
[...]
(r) It was quieter in the car now. (s) A couple of new people had gotten on [...]. (t) Sims bought a ham sandwich and a soft drink at the snack bar and sat back in his seat and ate, watching the night go by. (u) He thought he should've taken Marge's mystery novel, (v) That would put him to sleep fast, (w) He wasn't going to be able to sleep in the roomette anyway [...]. [S. 132] (Richard Ford: Rock Springs, S. 119-132)
Die Verwendung der Tempora ist in einem vollständigen englischen Aussagesatz obligatorisch. Durch die grammatische Kategorie Tempus kommt die zeitliche Lokalisierung einer Situation relativ zur Sprechzeit und in einigen Fällen zusätzlich relativ zu einer anderen, kontextuell gegebenen Zeit zum Ausdruck (vgl. z.B. Comrie 1981 /
3 1985). So beziehen sich in (1) die Tempusformen des Simple Past auf die Lokalisierung der jeweils geschilderten Gegebenheiten in der Vergangenheit zur Sprechzeit, das Past Perfect, wie beispielsweise They had left Spokane at five in (lb), jedoch auf die Lokalisierung einer Situation vorzeitig zu einer weiteren Zeit, die in der Vergangenheit zur Sprechzeit lokalisiert ist. Die im folgenden genannten englischen Formen sind im ähnlichen Sinne als Tempora zu betrachten: Das Simple Past (z.B. Sims and his wife Marge were on the train to Minot in la), Simple Present (z.B. I'm sure in lh) und Simple Future (This will be revealing in lg) sind semantisch einfache Tempora, welche jeweils auf eine bestimmte Art der Lokalisierung einer Gegebenheit relativ zur Sprechzeit verweisen. Das Future in the Past (Conditional I) (That would put him to sleep fast in lv), die Perfekt-Tempora des Past Perfect (z.B. in lb), Present Perfect (z.B. I'm sure you've thought about it in lh) sowie die Formen des (nicht in 1 enthaltenen) Future Perfect {he will have written) und Future-in-the-Past Perfect (Conditional II) (he would have written) bringen als zusammengesetzte Tempora jeweils die zeitliche Lokalisierung relativ zu einer Sprechzeit und einer weiteren Orientierungs- oder Referenzzeit zum Ausdruck (im Falle des Conditional II zweier weiterer Referenzzeiten). Der Infinitiv des Perfekts in Sätzen wie He seems to have finished verweist lediglich auf die Relation zwischen der Zeit des Stattfindens eines Ereignisses zu einer Referenzzeit, ohne direkten Bezug auf die Sprechzeit. Er ist daher nicht als eigenständiges Tempus zu klassifizieren, sondern bedarf zu seiner vollständigen Interpretation einer weiteren Tempusform, der er syntaktisch untergeordnet ist und durch die der zeitliche Bezug zur Sprechzeit erst deutlich wird. In Verbindung mit Modalverben referiert have allerdings in der Regel nicht im Sinne eines Perfekts, sondern trägt dazu bei, daß dem Modalverb eindeutig Vergangenheitsbezug zugewiesen wird, wie in (lu): He thought he should've taken Marge's mystery novel. Das Beispiel (1) illustriert unterschiedliche Textfunktionen der Tempora: Während das Simple Past, Past Perfect und Future in the Past (sowie wahrscheinlich auch das Future-in-the-Past Perfect) eher in den erzählenden Passagen auftreten, dominieren das Present Perfect, Simple Present und Simple Future in den direkten Zitaten (wo wir auch das Future Perfect typischerweise erwarten würden, vgl. z.B. Weinrich 1964, Thieroff 1992). Während die Tempora primär die zeitliche Lokalisierung von Situationen relativ zur Sprechzeit kennzeichnen, verweist die Kategorie Aspekt auf die zeitliche Perspektivierung der geschilderten Situationen ("viewpoint aspect" nach Smith 1991). Aspektuelle Bezugnahme entspricht den gängigen Definitionen nach in typischer Weise dem grammatikalisierten Ausdruck des Unterschieds zwischen der Sichtweise einer Gegebenheit als unanalysierbares Ganzes (perfektiver Aspekt) oder als in einzelne Teile zerlegbare, nicht in ihrer Ganzheit gesehene Situation (imperfektiver Aspekt) (vgl. z.B. Bybee 1985, Comrie 1976 / 1985: 6, Thelin 1990). Die englische Verlaufsform (Progressive Tense oder Progressive Aspect) kann als Aspektform betrachtet werden (vgl. z.B. Comrie 1976, Herweg 1990: 13), da durch sie im Vergleich zur einfachen Form (Simple Form) potentiell dieselbe Situation, welche die einfache Form eines Tempus verzeitet, aus der nicht-totalisierenden, imperfektiven Sichtweise von innen heraus gesehen werden kann. So verweist z.B. She was working a
4 crossword puzzle book in (Id) auf dieselbe Art der zeitlichen Lokalisierung relativ zur Sprechzeit, auf welche das nicht-progressive Gegenstück She worked a crossword puzzle book (in an hour) verweisen würde. Das Ereignis 'work- a crossword puzzle book' wird in beiden Beispielsätzen vorzeitig zur Sprechzeit positioniert. Die zeitliche Perspektivierung ist dabei jedoch in dem konstruierten Satz She worked a crossword puzzle book eine totalisierende, d.h. das Ereignis wird hier perfektiv als Ganzes dargestellt, während es in (ld) in nicht-totalisierender Weise von innen heraus, also imperfektiv betrachtet wird. In einer Satzfolge wie She worked a crossword puzzle book. While working it, Sims came in and interrupted her träte dieser Unterschied deutlich zutage. Auch die Hervorhebung der Weiterführung einer Handlung, wie sie z.B. durch She had [...] gone on to the quiz in the back in (le) zum Ausdruck kommt (Kontinualität), kann zumindest in konzeptueller Hinsicht als aspektuelle Perspektivierung aufgefaßt werden. Gleiches gilt für die Darstellung einer Situation als habituell (gewohnheitsmäßig) stattfindend oder vorliegend, wie durch Sims had always been attracted to Pauline in (lp). Ebenfalls dem Bereich der aspektuellen Perspektivierung können wir die Darstellung einer Situation als unmittelbar bevorstehend zuordnen (= Prospektivität; vgl. z.B. Comrie 1976: 64), wie in (lw) He wasn't going to be able to sleep. Letztere Arten der Perspektivierung sind im Englischen jedoch nicht grammatikalisiert und werden durch lexikalische Elemente wie go on, insbesondere komplexere periphrastische Ausdrücke wie be going to oder Adverbiale zum Ausdruck gebracht. Ähnliches gilt für den Verweis auf die Sichtweise einer Handlung als beginnend (Ingressivität), welches in expliziter Form entweder durch "aspektuelle" Verben wie start to do something zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. Meyer 1992: Kap. 9.4) oder durch Adverbiale wie suddenly (Suddenly he moved). Einige Autoren (z.B. Comrie 1976: 3.2, Quirk et al. 1985: 4.18) sehen auch die Perfekt-Tempora nicht als Tempora, sondern als Aspektformen an. Eine Gegebenheit wird demzufolge in der Rückschau perspektiviert (vgl. die Diskussionen in Ehrich & Vater 1988, McCoard 1978, Meyer 1992 und Vater 1991). Wir wollen in der Folge Reichenbachs (1966 / 1947) allerdings von einer primär temporalen Funktion des Perfekts ausgehen (vgl. auch DavidsenNielsen 1990, Declerck 1991, Thieroff 1992, Schopf 1984 und viele andere). Der Bereich der aspektuellen Perspektivierung ist wiederum von jenen temporalen Bedeutungszuweisungen zu unterscheiden, die mit dem prototypischen internen zeitlichen Verlauf einer Situation zusammenhängen (und nicht damit, wie diese Situation gesehen oder perspektiviert wird). So bezeichnet z.B. Sims bought a ham sandwich and a soft drink in (It) eine telische Handlung, d.h. eine Handlung, die auf ein Ziel gerichtet ist und die hier aus mehreren Teilphasen besteht. Sims and his wife Marge were on the train to Minot in (la) verweist hingegen auf eine atelische, nicht auf ein Ziel gerichtete Situation, die ein Zustand ist, der eine zeitliche Begrenzung aufweist. Die Äußerung Sims [...] sat back in his seat in (It) bezieht sich auf eine punktuelle Situation, nämlich den Vorgang des Zurücksetzens. Derartige prototypische Geschehniskonzepte werden als konzeptuelle Entsprechungen jener linguistischen Kategorie angesehen, die zur Zeit recht uneinheitlich als Kategorie der "aspectual classes" (Vendler 1967, Dowty 1972), "inhärenter Zeitbezug" (z.B. Comrie
5 1976, Schopf 1984), "situation aspect" (Smith 1991), "lexical aspect" (Timberlake 1985) oder Aktionsart (Bache 1985) bezeichnet wird, wobei der letzte Begriff die längste Tradition hat. Diese Kategorie ist von der Kategorie "Aspekt" zu unterscheiden. Wir wählen hierfür die traditionelle Bezeichnung "Aktionsart" als Oberbegriff. Aktionsart ist im Englischen nicht grammatikalisiert. Vielmehr wird durch den lexikalischen Gehalt von Ereignisschilderungen jeweils auf prototypische Situationstypen Bezug genommen, und Äußerungen lassen sich entsprechend klassifizieren. In diesem Sinne unterscheidet Dowty (1972 / 1979) in der Folge von Vendler (1967) Kategorien der Prädikate, Verbalphrasen und Sätze als Aktionsartklassen (aspectual classes). Der jeweilige Verweis auf bestimmte Aktionsarten wird dabei durch linguistische Tests nachgewiesen. Hieraus resultiert die folgende Einteilung sprachlicher Äußerungen: (a) States (z.B. Sims and his wife Marge were on the train [...] in la, I'm sure in lh sowie She and Marge had been wild girls together in lq) verweisen auf atelische Gegebenheiten, die zwar potentiell unendlich lange andauern können, in den oben genannten Kontexten jedoch, wie in den meisten Fällen, wahrscheinlich eine zeitliche Begrenzung aufweisen. Sprachlich zeichnen sich Zustandsaussagen durch folgende Eigenschaften aus: Inkompatibilität mit dem Progressive (* Sims and [...] Marge were being on the train, * I'm being sure), fehlender expliziter Bezug auf den internen Verlauf der Gegebenheiten (*Sims and [...] Marge were half-way through being on the train), fehlende Umschreibung in der Form *What Sims and Marge did was be on the train sowie nur in ganz bestimmten Kontexten Verwendung dieser Ausdrücke als Komplemente von force und persuade (Zwar ist He forced/persuaded them to be on the train in bestimmten Kontexten möglich, nicht jedoch He forced her to be sure oder He forced the weather to be fine). (b) Activities wie She smiled at Sims aus (Ii) verweisen ebenfalls auf atelische Situationen. Im Gegensatz zu jenen Gegebenheiten, auf die sich States beziehen, haben die Situationen, auf welche Activities verweisen, dynamischen Charakter. Dies zeigt sich in der Möglichkeit der Umschreibung nach dem Muster What she did was smile at him oder der Kombinierbarkeit von Acnv/ty-Ausdrücken mit dem Progressive (She was smiling at him). Die den Activities zugrundeliegenden Geschehniskonzepte sind in ihrem Ereignisverlauf homogen, d.h. der zeitliche Verlauf dieser Gegebenheiten ist als einphasig zu bezeichnen. Letzteres äußert sich in der Kombinationsmöglichkeit mit einem Adverbial des Typs for x time, wie in She was smiling at him for a while. (c) Accomplishments (z.B. Sims bought a ham sandwich and a soft drink in It) sind Verweise auf telische, terminative und damit zeitlich begrenzte (dynamische) Situationen. Linguistische Eigenschaften sind hier die Kombinationsmöglichkeit mit einem Adverbial des Typs in x time (S. bought a ham sandwich and a soft drink in 10 minutes), nicht jedoch for x time: S. bought a ham sandwich and a soft drink *for ten minutes. (d) Achievements, wie Sims [...] sat back in his seat in (It) und Ausdrücke wie die oder reach the mountain top, verweisen auf das punktuelle Herbeiführen eines Resultatszustands. Da die punktuelle Gegebenheit nicht als Dauer ausgesagt werden kann (außer, man faßt sie als sich wiederholenden Vorgang auf, wie z.B. in he sat
6 back several times), vermögen wir sie auch nicht im Sinne der Progressive-Bedeutung von innen heraus zu sehen. Daher sind Achievements nicht mit dem Progressive kompatibel: Das Progressive könnte sich höchstens auf eine implizierte Prozeßphase beziehen, welche zu der punktuellen Veränderung hinführt. Dies wäre beispielsweise in She was dying when I looked at her der Fall. Adverbiale, welche eine Zeitdauer angeben, vermögen sich in Verbindung mit Achievements entweder auf eine implizierte Resultatsphase zu beziehen, oder sie führen zu einer Umdeutung des Ausdrucks in eine Activity-Aussage, wie im Falle von He sat back for a while: Hier bezieht sich sat back nicht mehr auf den Akt des Zurücksetzens, sondern auf den daraus resultierenden Zustand des Sitzens. Bezeichnungen wie States und Activities werden beispielsweise von Vendler und Dowty primär zur Klassifikation verbaler Ausdrücke eingeführt, von Verkuyl (1972) dagegen eher zur Kennzeichnung ganzer Sätze. Derartige Termini sind jedoch im Grunde nicht als Kennzeichnungen einzelner Verben, Prädikate oder auch Sätze zu verstehen, sondern stellen Bezeichnungen für die durch sprachliche Elemente ausgedrückten Geschehniskonzepte dar (vgl. auch die Diskussion in Depraetere 1995). Termini wie States, Activities, Accomplishments und Achievements stehen dabei für jeweils prototypische Kombinationen bestimmter Bedeutungskomponenten des Bereichs Aktionsart oder situation aspect (vgl. z.B. Couper-Kuhlen 1989). In diesem Sinne wollen wir die Kennzeichnungen nach Vendler/Dowty auch im folgenden verwenden. Hinrichs (1981 / 1986), Partee (1984) und Reyle (1986) fassen die Geschehniskonzepte, welche den Kategorien der States und Activities sowie den durch das Progressive verzeiteten Aussagen zugrundeliegen, als "Zustände" (states) zusammen: Zustände sind prototypischerweise in ihrem Verlauf monophasig, nicht-terminativ und atelisch. Ereignisse (events) sind dagegen jene Gegebenheiten, auf die Accomplishment- und Achievement-Aussagen verweisen: Sie sind typischerweise entweder telisch (d.h. Accomplishments in unserem Sinne) oder punktuell (Achievements). Da das Progressive u.a. auf das Stattfinden der Verlaufsphase einer zielgerichteten Gegebenheit Bezug nimmt, ohne das Erreichen ihres Endpunktes zu implizieren (z.B. in She was working a crossword puzzle book in Id), werden durch das Progressive verzeitete Aussagen als Activity-Aussagen betrachtet, d.h. ebenfalls als Zustandsaussagen (vgl. Hamann 1991, Partee 1984). Die auf Zustände und Ereignisse verweisenden Aussagen erfüllen typischerweise unterschiedliche Textfunktionen (vgl. z.B. Couper-Kuhlen 1989, Kamp & Reyle 1993, Nerbonne 1986, Partee 1984). Während Ereignisaussagen in narrativen Texten meist auf die Haupthandlungskette des Textes verweisen, geben Zustandsaussagen in der Regel Hintergrundinformationen zu dieser Handlüngskette. Die Möglichkeit, auf eine Frage des Typs (i) And what happened then? zu antworten, belegt den Bezug einer Äußerung auf die vordergründige Handlungskette, während Äußerungen, die sich auf den Hintergrund beziehen, Antworten auf Fragen eines Typs (ii) geben, der sich in etwa mit What were things like / What was the world like / What was the state of affairs like when something happened? umschreiben läßt. Die Äußerung Sims bought a ham sandwich aus (1) ist beispielsweise eine Ereignisaussage, welche auf die Frage And what happened then? antwortet. Dieses Textzitat verweist somit
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auf den textuellen Vordergrund. Die Äußerung Sims and his wife Marge were on the train to Minot ist dagegen eine Zustandsaussage, welche auf Fragen des Typs (ii) antwortet. Sie bezieht sich somit auf den textuellen Hintergrund. Die Einführung einer Ereignisaussage in den Diskurs kennzeichnet im allgemeinen die zeitliche Progression der Handlung, während Zustandsaussagen typischerweise mit zeitlichem Stillstand in Verbindung stehen. Dieser zeitliche Stillstand ist durch das simultane Auftreten eines oder mehrerer Zustände mit einem Ereignis gekennzeichnet. Trotzdem kann auch bei Zuständen in bestimmten Kontexten eine sequentielle Abfolge nahegelegt werden, wie in John turned off the light. It was pitch dark. Es lassen sich somit höchstens prototypische Korrelationen zwischen dem Vorliegen einer bestimmten Aktionsart und der Textfunktion der damit verbundenen Äußerung nachvollziehen (vgl. insbesondere Couper-Kuhlen 1989). Neben den Tempora verweisen auch adverbiale Ausdrücke auf die zeitliche Lokalisierung von Gegebenheiten in der Zeit. So bezieht sich das Adverbial at five in (lb) genauso wie das zugehörige Past Perfect They had left Spokane auf die Lokalisierung der geschilderten Gegebenheit in der Zeit. Das Past Perfect stellt relativen Zeitbezug zur Referenzzeit und zur Sprechzeit her. Dagegen werden durch die Verwendung des Adverbials hier in absoluter Form nähere Angaben bezüglich des Zeitpunktes gemacht, an dem die geschilderte Gegebenheit zu positionieren ist, wobei der relative Bezug zur Sprechzeit und zur Referenzzeit durch das Adverbial at five nicht direkt zum Ausdruck kommt. Andere Adverbiale, wie z.B. yesterday, verweisen hingegen, ähnlich der Tempora, auch auf relative zeitliche Beziehungen. Man beachte, daß ein temporaler Nebensatz der Form when Marge got off her shift in (lb) dieselbe Funktion wie die o.g. Adverbiale erfüllt, nämlich die Ergänzung der Informationen, welche durch ein Tempus (hier jenes des Hauptsatzes) hinsichtlich der Zeitbeziehungen zum Ausdruck kommen. Das Adverbial fast in (lv) stellt zwar ebenfalls Zeitbezug her, hier wird jedoch im Gegensatz zu at five oder yesterday nicht Bezug auf die Lokalisierung eines Zeitpunktes bzw. eines Zeitrahmens genommen, sondern die Dauer einer Zeitspanne angezeigt. Des weiteren drücken Nominalphrasen wie new people in (Is) Zeitbezug aus. Die o.g. Nominalphrase bezieht sich auf eine Gruppe von Personen, die zu einem späteren Zeitpunkt als die übrigen Passagiere den Zug bestiegen haben. Auch weisen Partizipien wie waggling a ballpoint in her fingers in (lc) Zeitbezug auf: Ähnlich dem Progressive wird hier auf eine Situation Bezug genommen, die zu einem Betrachtpunkt andauert. Einen eher speziellen Fall des Zeitbezugs, der jedoch in (1) nicht vorliegt, stellen Attribute der Form [He] [...] had in his pocket an invitation to tea on the following day (W. Somerset Maugham: Of Human Bondage, S. 175) dar: In diesem Fall wird auf die zeitliche Lokalisierung der Gegebenheit des geplanten Teetrinkens verwiesen; on the following day erscheint also als Attribut zu tea. Der Vollständigkeit halber sei ebenfalls erwähnt, daß jedes Adjektiv, ähnlich dem Partizip waggling a ballpoint in her fingers in (lc), derart aufgefaßt werden kann, daß Gleichzeitigkeit zum Ausdruck kommt, z.B. in a productive economy. Reichenbach (1966: 292) bezeichnet diesen adjektivischen Zeitbezug als Ausdruck von
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"permanent tense" im Sinne des Verweises auf permanente, zur Betrachtzeit vorliegende Eigenschaften. Nominalphrasen, die keine explizite zeitliche Kennzeichnung aufweisen, können wir ebenfalls so verstehen, daß sie derartigen Gleichzeitigkeitsbezug im Sinne des Vorliegens permanenter oder generischer Tatbestände implizieren (vgl. z.B. 11 No lights oder 1m No motion), und schließlich schreibt Wierzbicka (1988) Infinitiven wie in He planned to leave futurischen Zeitbezug zu; hier beruht diese zeitliche Interpretation m.E. jedoch eher auf dem semantischen Gehalt von planned als auf jenem des Infinitivs. Auch lokale Ausdrücke implizieren häufig zeitliche Relationen, so zum Beispiel in I gave the driver the address of the hospital. At the hospital I went to the porter's lodge (E. Hemingway: ,4 Farewell to Arms, S. 201). Die lokale Präpositionalphrase steht hier mit einem zeitlichen Sprung in der Chronologie in Verbindung. Wir werden auch derartige Formen, sollten sie für die zeitliche Interpretation relevant erscheinen, als Ausdruck des Zeitbezugs zu berücksichtigen haben. Es ist jedoch m.E. etwas zu weit gegriffen, in diesen Fällen von Kategorien des Zeitbezugs im oben erläuterten Sinne zu sprechen, da der Zeitbezug höchstens als Implikatur, als untergeordnete Bedeutungskomponente oder, wie im Falle des Infinitivs und der lokalen Ausdrücke, in Form einer kontextuellen Zuschreibung hervortritt. Die eindeutige Zuordnung der Elemente zu Kategorien wird dadurch erschwert, daß einige Formen des Zeitbezugs polysem sind. So fungiert would+Verb in (lu) That would put him to sleep fast als ein Future in the Past (Conditional I), in (lc) How would you like to die most jedoch als rein modale Form, ohne futurischen Zeitbezug. Die zweite, modale Bedeutung kann nicht, wie echte sekundäre temporale Bedeutungen, aus der ersten, temporalen Bedeutung abgeleitet werden. Eindeutige Zuordnungen zu Kategorien des Zeitbezugs sind im Hinblick auf modale Ausdrücke wie would insbesondere deswegen mit äußerster Vorsicht vorzunehmen, weil z.B. would auch auf das wiederholte oder das habituelle Auftreten einer Situation verweisen kann, wie z.B. in Mr. and Mrs. Guttingen lived downstairs and we would hear them talking sometimes in the evening [...] (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 244). Grafische Mittel, z.B. die Interpunktion oder die Einteilung in Abschnitte und Kapitel, geben oft zusätzlich nicht zu unterschätzende Hinweise auf zeitliche Relationen. Kapitel- und Abschnittwechsel kennzeichnen so häufig zeitliche Brüche, wie im folgenden Beispiel: (a) At the post on the top they took the stretcher out and put another in and we went on. / [Chapter Ten] / (b) In the ward at the field hospital they told me a visitor was coming to see me [...] (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 52). Obwohl (b) als chronologische Fortführiing von (a) interpretiert werden kann, stellt Satz (b) hier nicht die bloße Weiterführung der bisherigen Erzählkette dar, sondern leitet einen neuen, thematisch zusammenhängenden Abschnitt ein. Der Kapitelwechsel stützt dies. Aufgrund der Interpretation der in einem Text enthaltenen temporalen Elemente rekonstruiert der Leser eine Verzeitungsstruktur. Diese zeichnet sich in bezug auf (1) z.B. dadurch aus, daß eine Abfolge von Ereignissen und Dialogen innerhalb des durch Sims and his wife Marge were on the train to Minot charakterisierten Zeitraumes lokalisiert wird. Für den gesamten hier relevanten Zeitraum gilt beispiels-
9 weise als Hintergrundinformation, daß die beiden Protagonisten Spokane um fünf verlassen hatten, und zwar nachdem Marge von der Arbeit kam, daß beide zu Marges Schwester Pauline fahren und daß sie um Pauline besorgt sind, weil diese in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde. Dies wird zum Teil durch die Zustandsschilderungen in (la) (Sims and [...] Marge were on the train to Minot) und in (lo) {All the worry was about Marge's sister [...], who was currently in a mental health unit) zum Ausdruck gebracht. Ebenfalls Hintergrundinformation vermittelt z.B. das Partizip waggling a ballpoint in her fingers in (lc). Diese Information bezieht sich allerdings nur auf einen kleinen Teil des in (1) relevanten Zeitrahmens 'when Sims and Marge were on the train to Minot'. Durch das Past Perfect verzeitete Äußerungen werden in narrativen Kontexten ebenfalls typischerweise mit dem Handlungshintergrund in Verbindung gebracht, wie z.B. A couple of new people had gotten on in (Is). Die durch die letzte Äußerung vermittelten Informationen beziehen sich nur auf einen kleinen Teil des in (la) gekennzeichneten Zeitraumes, im Gegensatz zum Past Perfect in (lb) They had left Spokane at five, welches eher Hintergrundinformationen im Hinblick auf den gesamten für den hier zitierten Textabschnitt relevanten Zeitraum gibt.
0.3 Theoretischer Rahmen Bei der Erfassung jener Interpretationsschritte, welche das Zustandekommen einer Verzeitungsstruktur bewirken, erscheinen in erster Linie zwei Teilbereiche der linguistischen Beschreibung relevant, nämlich die Semantik und die Pragmatik. Die Beschreibung der Bedeutung temporaler Elemente, wie wir sie der Einteilung in Kategorien zugrundegelegt haben, fällt in den Bereich der Semantik. Im Hinblick auf einige temporale Elemente ist dabei zwischen primären und sekundären Bedeutungen zu unterscheiden, wobei sekundäre Bedeutungen aus der jeweiligen primären Bedeutung ableitbar sind (vgl. z.B. Comrie 1985: 1.6, Dahl 1985: 9-11). Der primäre Bedeutungsgehalt des Simple Past (John went to the Station) ist beispielsweise der Ausdruck der Lokalisierung eines Ereignisses vorzeitig zur Sprechzeit. Eine sekundäre Bedeutung des Tempus Simple Past stellt die Angabe modaler Distanz dar, die beispielsweise in Verbindung mit Konditionalsätzen, wie in I f l had money, I wouldn 't be writing papers, ausgedrückt wird: Die Situation 'I have- money' wird hier einer imaginären Welt zugeordnet, die der realen, direkt am Sprechzeitpunkt existierenden Welt gegenübergestellt ist. Eine vollständige semantische Beschreibung hat sowohl primäre als auch sekundäre Bedeutungen in Betracht zu ziehen. Aus dem Bereich der Pragmatik ist im Hinblick auf unsere Zielsetzungen insbesondere die Beschreibung der mit den Bedeutungen temporaler Formen verbundenen Implikaturen relevant. Ebenfalls erscheint die Erfassung der konventionalisierten Prinzipien von Bedeutung, welche den Gebrauch und die interpretatorische Einordnung temporaler Elemente in textuelle Kontexte regeln.
10 Implikaturen stellen pragmatische Bedeutungen dar. Im Unterschied zu semantischen Bedeutungen können Implikaturen außer Kraft gesetzt werden. Eine Implikatur, die mit der Bedeutung des Simple Past in Verbindung steht, ist beispielsweise, daß die in der Vergangenheit zur Sprechzeit lokalisierte Situation auch zum Sprechzeitpunkt ihren Abschluß gefunden hat (vgl. z.B. Quirk et al. 1985: 176). Den Satz Last year John worked in Paris as a sales-assistant interpretieren wir z.B. in der Regel unter der Prämisse, daß John zum Sprechzeitpunkt nicht mehr als Verkaufsassistent in Paris arbeitet. Diese Annahme ist nicht Teil der semantischen Bedeutung des Simple Past, sondern eine Implikatur, die durch bestimmte sprachliche Ausdrücke explizit außer Kraft gesetzt werden kann, wie in Last year John worked in Paris as a salesassistant, and he still does. Eine andere Art pragmatischer Bedeutungen, welche im Zusammenhang mit der temporalen Interpretation relevant erscheinen, repräsentieren Präsuppositionen. Präsuppositionen schreiben wir den temporalen Elementen aufgrund unseres Weltwissens zu, sie kommen aber nicht direkt durch den semantischen Gehalt der Elemente zum Ausdruck. Vielmehr stellen sie Sinnvoraussetzungen für den Gebrauch der Ausdrücke dar. Präsuppositionen unterscheiden sich von semantischen Bedeutungen und Implikaturen dadurch, daß die Negation sie nicht in das Gegenteil verkehrt (vgl. z.B. Levinson 1983: 168 ff.). So setzt die Verwendung des Adverbials finally in Finally he came out of the shelter beispielsweise voraus, daß dem mit finally bezeichneten Zeitpunkt eine relativ lange Zeitspanne vorausging, während der ein Vorgang, eine Abfolge von Vorgängen oder ein Zustand, hier z.B. des Zauderns der fraglichen Person, andauerte. Diese Präsupposition bleibt bei der Verneinung Finally he didn 't come out of the shelter aufrechterhalten. Dies trifft auf semantische Bedeutungen und Implikaturen nicht zu. Im Falle der Negation J. didn 't work in Paris as a salesassistant ist z.B. nicht nur der semantische Gehalt des entsprechenden nicht-negierten Satzes suspendiert, sondern zwangsläufig auch seine Implikatur außer Kraft gesetzt, daß J. zur Sprechzeit nicht mehr in Paris arbeitet. Bei den mit der Rezeption von Texten verbundenen Interpretationsschritten stehen die semantisch zu beschreibenden Bedeutungszuweisungen der temporalen Elemente (und ihre daraus resultierende Kombinatorik) sowie die pragmatischen Bedeutungen mit pragmatisch zu erfassenden Diskursprinzipien in Wechselwirkung. Derartige Diskursprinzipien schreiben vor, welche Arten der temporalen Bezugnahme im Hinblick auf den wohlgeformten Aufbau eines Textes angebracht erscheinen, wobei die Wohlgeformtheit u.a. auf das jeweilige Genre bezogen ist. Es ist in diesem Zusammenhang zwischen der Satzebene und den über der Satzebene liegenden textuellen Ebenen zu unterscheiden. Die Verwendung temporaler Elemente auf der Satzebene unterliegt meist festen Regeln, die sich aus der semantisch zu erfassenden Kombinatorik temporaler Elemente ergeben. So ist ein Satz wie *Yesterday I will go to the museum inakzeptabel, weil sich der semantische Gehalt des Adverbials yesterday und derjenige des Futurs will go to the museum widersprechen. Auch die obligatorische Einhaltung bestimmter Zeitenfolgen in Kontexten der indirekten Rede (consecutio temporum- oder sequence of fe/wes-Regeln) läßt sich mit der Semantik des Tempus
11 des Matrixsatzes im Verhältnis zur Semantik des Tempus aus dem indirekten Zitat erklären (vgl. z.B. Comrie 1981: 28 ff., Declerck 1991: 157 ff., Schopf 1984: 263 ff., von Roncador 1988: 178 ff.). Oberhalb der Satzebene unterliegt der Gebrauch temporaler Formen häufig nicht mehr festen Regeln, deren Verletzung unbedingt zu einem inakzeptablen Ergebnis führt, sondern er unterliegt Prinzipien, deren Verletzung zwar eigenartig erscheinen mag, jedoch oft immer noch im Bereich des Akzeptablen liegt (vgl. z.B. Ehrich 1992: 155 ff.). So werden wir beispielsweise in einem erzählenden Text die Kombination zweier Simple-Past Formen (a) I went up the hill, (b) Everything was dark erwarten. Die hiervon abweichende Version (a) I went up the hill, (b) Everything is dark mag zwar in einer normalen Erzählfolge unglücklich erscheinen, sie wäre aber z.B. in einem Kontext angebracht, in dem (b) als direktes Zitat einen Gedankengang des Protagonisten zitiert (innerer Monolog). Eine Auflistung von pragmatischen Prinzipien des Gebrauchs temporaler Formen bietet in bezug auf das Deutsche Ehrich (1992). Im Hinblick auf erzählende Texte steht demnach als oberstes Prinzip das Prinzip der ikonischen Übereinstimmung zwischen der Nennung von Gegebenheiten im Text und ihrer tatsächlichen Abfolge in unserer Wahrnehmungswirklichkeit (Chronologieprinzip). Dies entspricht der Befolgung der Maxime "Be orderly!" von Grice (1975: 45 ff.). Genette (1980) bezeichnet die Abfolge der Gegebenheiten in der Wirklichkeit bzw. Wahrnehmungswirklichkeit als "histoire", Dry (1983: 32-3) und Reinhart (1984: 781) verwenden hierfür die Bezeichnung der "fabula"-Anordnung. Die Abfolge der Nennung von Gegebenheiten im Text bezeichnet Genette als "récit" und Dry bzw. Reinhart als "sujet". Im allgemeinen gehen wir also davon aus, daß in einem Text, von dem wir annehmen, daß er ein "erzählender" oder narrativer Text ist, die rec/i-Anordnung der Nennung der Gegebenheiten im Text mit der ft/iioire-Anordnung übereinstimmt. Diese Übereinstimmung ist jedoch ein Default-Wert, der in bestimmten Kontexten außer Kraft gesetzt wird, wenn z.B. Zustandsschilderungen Gleichzeitigkeit mit den vorhergehend geschilderten Situationen anzeigen, wie It was after nine now and black outside in (lb), aber noch deutlicher z.B. im Falle der umgekehrten Nennung der Gegebenheiten, wie in Jack died. Max killed him (vgl. Lascarides & Oberlander 1993: 2), und auch wenn ein Past Perfect verwendet wird, wie in AI went to New York. Bo had reserved him a room (vgl. Nerbonne 1984: 6-7). Ebenso wird in partikularisierenden Kontexten die Übereinstimmung der Chronologien suspendiert: (2) [1] Mr Parkis had done his work well: [2] the powder had worked and [3] the flat had been located - the top flat in 16 Cedar Road [...]. (G. Greene: The End of the Affair, S. 95)
Hier werden die in [2] und [3] geschilderten Gegebenheiten nicht chronologisch als auf die in [1] geschilderte folgend interpretiert, sondern vielmehr als Teile dieser ersten Gegebenheit dargestellt. Durch [2] und [3] wird somit eine Partikularisierung der in
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[1] geschilderten Situation zum Ausdruck gebracht. Wir können sagen, daß in der Interpretation von [2] relativ zu [1] ein spezifischeres Prinzip das allgemeine Prinzip der chronologischen Interpretation außer Kraft setzt (vgl. auch Schopf 1984: 247). Diskursprinzipien unterscheiden sich somit anhand des Grades ihrer Spezifität. Während die Anwendung spezifischer Prinzipien auf sehr spezifischem Wissen beruht, z.B. Wissen über die konkrete zeitliche Beschaffenheit der im Text geschilderten Situationen, wie in Verbindung mit (2), liegt allgemeineren Prinzipien weniger spezifisches Wissen zugrunde. Um z.B. die Interpretation im Sinne der ikonischen Übereinstimmung der récit mit der histoire-knorümmg durchzuführen, genügt in der Regel die Berücksichtigung des Wissens, daß ein Textabschnitt als eine Erzählfolge zu interpretieren ist. Dieses Prinzip der ikonischen Übereinstimmung wird nun z.B. in Kontexten wie Max feil. Jack pushed him außer Kraft gesetzt, weil hier ein spezifischeres Prinzip zur Anwendung kommt, welches in diesem konkreten Fall besagt, daß, wenn die im récit zuletzt genannte Gegebenheit die Ursache einer vorher genannten darstellt, diese zuletzt erwähnte Situation in der histoire vorzeitig zu der im récit zuerst genannten anzuordnen ist. Diskursprinzipien unterschiedlichen Grades an Spezifität lassen sich in eine Informationshierarchie zueinander bringen. Wenn sich ein allgemeineres Prinzip und ein spezifischeres nicht widersprechen, impliziert die Anwendung des spezifischeren Prinzips automatisch diejenige des allgemeineren Prinzips. Dies entspricht dem Aufbau von Hierarchien (zum Beispiel in Form der Horn-Skalen), wie sie u.a. von Gazdar (1979), Horn (1976), Levinson (1983: 133 ff.) oder Matsumoto (1995) postuliert werden: Eine weniger spezifische Aussage wie Some students are stupid erscheint in einer derartigen Hierarchie weiter unten angeordnet als z.B. die spezifischere Aussage All students are stupid. Die spezifische Aussage impliziert die nicht so spezifische, wenn sich beide Aussagen nicht widersprechen. So impliziert All students are stupid die hinsichtlich der Menge der Studenten weniger informative Aussage Some students are stupid. Aufgrund der Grice'schen Informativitätsmaxime "Be informative!" bevorzugen wir jedoch in einem Kontext, in dem All students are stupid gilt, tatsächlich auch die informativere Aussage All students are stupid gegenüber der nicht so informativen Some students are stupid (vgl. Grice 1975), obwohl sich beide Aussagen nicht widersprechen. Ebenso gehen wir im Sinne des Grice'schen Relevanzprinzips "Be relevant! " davon aus, daß ein Sprecher, wenn er die informativere Aussage macht, ihren im Verhältnis zu der weniger informativen Aussage reicheren Informationsgehalt als relevant erachtet. Es erscheint angebracht anzunehmen, daß Diskursprinzipien hinsichtlich des ihrer Anwendung zugrundeliegenden Informationsgehalts in einer ähnlichen hierarchischen Beziehung zueinander stehen, wie z.B. die obigen beiden Aussagen. Ein logischer Ansatz, der derartige hierarchische Beziehungen von Diskursprinzipien untereinander zu erfassen vermag, ist von Brewka (1992), Lascarides (1992), Lascarides & Oberlander (1993) und anderen entwickelt worden. Im Rahmen einer nicht-monotonen Logik wird dabei davon ausgegangen, daß die zeitliche Struktur, die der Leser einem Text zugrundelegt, hauptsächlich das Resultat aus defeasibleInferenzen ist, d.h. aus aufhebbaren oder annullierbaren Inferenzen. Während beispielsweise die Folgerung Paris is in France, so Paris is in Europe immer gilt und
13 somit nicht-annullierbar (indefeasible) erscheint, kann eine Inferenz wie z.B. If Tweety is a bird, then Tweety can fly durch die spezifische Information, daß Tweety ein Pinguin ist, suspendiert werden. Dem Schluß von Tweety is a bird auf Tweety can fly liegt dabei das annullierbare Wissen (defeasible knowledge) zugrunde, daß Vögel fliegen können. In ähnlicher Form wird in Texten in bestimmten Kontexten das Grundwissen, demzufolge die histoire-Anordnung mit der récit-Anordnung übereinstimmt, durch spezifischere Informationen suspendiert. Die linguistische Information, daß das vorliegende Tempus ein Past Perfect ist, oder die Information, daß eine geschilderte Situation einen Zustand darstellt, aber auch z.B. unser Weltwissen, daß die im récit zuletzt geschilderte Gegebenheit nur die Ursache für die zuerst geschilderte darstellen kann, suspendieren das allgemeine Chronologieprinzip narrativer Verzeitung. Dieses Prinzip der ikonischen Übereinstimmung ist somit als ein Default-Prinzip anzusehen, das per Default solange gilt, bis es durch das Vorliegen spezifischer Informationen außer Kraft gesetzt wird. Neben dem semantischen Gehalt der sprachlichen Elemente spielen in Verbindung mit der Suspendierung von Diskursprinzipien insbesondere pragmatische Implikaturen und Präsuppositionen eine wichtige Rolle. Wenn wir sowohl der temporalen Interpretation textueller Zusammenhänge durch den Leser als auch dem gezielten Gebrauch temporaler Formen durch den Autor pragmatische Prinzipien zugrundelegen, erscheint relevant, daß Texte einen hierarchischen Aufbau aufweisen (vgl. z.B. Longacre 1983: 3 ff.). So vermögen wir innerhalb eines Textes verschiedene, häufig hierarchisch ineinander verschachtelte, thematisch zusammenhängende Einheiten abzugrenzen. Derartige Einheiten erkennen wir u.a. daran, daß die zu ihnen gehörigen Äußerungen eine gemeinsame Quaestio beantworten (vgl. Klein & von Stutterheim 1987). Eine solche Quaestio könnte z.B. beim Beispiel (1) die Form What happened when Sims and Marge were on the train to Minot? aufweisen. Nicht immer gliedern verschiedene Quaestiones allein den Text derart, daß die resultierenden Einheiten die Basis der temporalen Interpretation bilden, häufig ist dieses jedoch der Fall, wie unsere Textanalysen zeigen werden. Weitere Methoden, welche die Gliederung der Texte deutlich werden lassen, z.B. im Hinblick auf die Identifikation des zur Gliederung relevanten pragmatischen Weltwissens oder des textuellen Skopus der zur Gliederung relevanten linguistischen Elemente, wie z.B. adverbialer Ausdrücke oder auf den Hintergrund bezogener Zustandsschilderungen, werden im einzelnen zu entwickeln sein und bei der Erarbeitung der Diskursprinzipien berücksichtigt werden. Auch die Tests hinsichtlich der Zuordnung von Äußerungen zum Hintergrund bzw. Vordergrund erscheinen hier relevant. Meist bietet jedoch die Zugrundelegung der Quaestiones bereits ein recht umfassendes Bild. Nicht nur zusammenhängende thematische Abschnitte eines Textes, sondern auch ganze Texte werden unter einer gemeinsamen Fragestellung betrachtet. So antworten narrative Texte nach Klein & von Stutterheim generell auf die Frage What happened where and when?. Wir identifizieren einen Text in seiner Gesamtheit somit als eine zusammenhängende Einheit, innerhalb derer wir beispielsweise Kapitel und weitere thematisch zusammenhängende Abschnitte abgrenzen. Größere thematische Abschnitte enthalten in der Regel ihrerseits wieder mehrere ihnen untergeordnete Ab-
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schnitte, die jeweils einer spezifischen Quaestio zugeordnet werden und ebenfalls aus mehreren thematischen Abschnitten zusammengesetzt sein können. Wir wollen daher die Tatsache berücksichtigen, daß Prinzipien, die den Gebrauch temporaler Formen auf der Textebene regeln, dahingehend unterschieden werden müssen, im Hinblick auf welche der hierarchisch ineinandergeschachtelten textuellen Ebenen sie zur Anwendung kommen. So regeln einige Prinzipien die temporale Einordnung eines Satzes relativ zu seinem unmittelbar im Text vorhergehenden Satz. Ein solches Prinzip würde beispielsweise vorschreiben, daß in Verbindung mit der Satzfolge (a) Mary bought a pizza, (b) She had it for dinner die in (b) geschilderte Gegebenheit auf diejenige folgt, welche in (a) geschildert wird, und daß in der Interpretation einer Satzfolge wie (a) Mary bought a pizza, (b) It was a cold afternoon die in (b) geschilderte Gegebenheit wahrscheinlich simultan zu der in (a) geschilderten anzuordnen ist. Solche zeitlichen Einordnungen eines Satzes im Hinblick auf den unmittelbar vorhergehenden Satz sind naheliegende Interpretationsschritte in der Rezeption eines Satzes, weil der Leser die in dem unmittelbar vorhergehenden zur Verfügung gestellten Informationen noch recht wahrscheinlich in seiner Erinnerung hat. Die Interpretation eines neu eingeführten Satzes unter Berücksichtigung weiter zurückliegender Textpassagen oder Sätze erfordert hingegen vom Leser einen größeren Gedächtnisaufwand. Die im Hinblick auf den benötigten interpretatorischen Aufwand ökonomischere Einordnung eines Satzes relativ zu dem unmittelbar vorhergehenden Satz wird durch Diskursprinzipien bestimmt, die auf der lokalen Textebene zur Anwendung kommen. Andere Prinzipien regeln die temporale Einordnung eines Satzes in bezug auf einen thematischen Textabschnitt. Ein solches Prinzip würde z.B. nahelegen, daß ein am Anfang eines Textabschnitts stehendes Zeitadverbial einen zeitlichen Rahmen etabliert, der für die Schilderung der in dem folgenden Textabschnitt enthaltenen Handlungsbeschreibungen relevant ist, wie beispielsweise in In the late summer of that year we lived in a house in a village that looked across the river [...] (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 3). Prinzipien dieser Art kommen auf der thematischen Textebene zur Anwendung. Weitere Prinzipien bestimmen den Gebrauch temporaler Elemente im Hinblick auf einen Text als Ganzes. So stehen innerhalb eines expositorischen Diskurses häufig das Simple Present und das Present Perfect, wenn zum Beispiel am Anfang einer Erzählung allgemeine Informationen hinsichtlich räumlicher Gegebenheiten oder des Charakters der handelnden Personen gegeben werden (vgl. z.B. Longacre 1983: 21), wie z.B. in (a) The Bar Parlour of the Western Hotel, just opposite the Town Hall, is a remarkable one in its way. (b) It's the best-furnished in the place [...]. The Western has always been the venue for the Warley NALGO Men's Evening [...]. (c) One unwritten rule of the Men's Evening is to mix with other departments; that evening, I remember, I talked mostly with Reggie from the Library. (J. Braine: Room at the Top, S. 106). Diese Verwendung des Simple Present und des Present Perfect vollzieht sich ungeachtet der Tatsache, daß ein solcher Textabschnitt die Einleitung zu einer Erzählung darstellt, in deren Verlauf sonst das Simple Past das vorherrschende Tempus ist. Diskursprinzipien der globalen Textebene regeln derartige Verwendungsweisen und die damit verbundenen Interpretationen temporaler Formen.
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Die interpretatorische Konstitution der unterschiedlichen Textebenen stellt einen dynamischen Prozeß dar. Ein Prinzip der lokalen Textebene veranlaßt uns beispielsweise in Verbindung mit einer Satzfolge wie (a) There was another attack just after daylight but it was unsuccessful. (b) We expected an attack all day but it did not come until the sun was going down (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 156) zu einer Interpretation in dem Sinne, daß zwischen (a) und (b) ein zeitlicher Sprung vorliegt, der vermutlich auch mit einem thematischen Bruch in Verbindung zu bringen ist. Auf einer globaleren Textebene mag dieser zeitlich-thematische Bruch jedoch irrelevant erscheinen. Die Ereignisschilderungen in (a) und (b) werden im Hinblick auf einen globaleren, thematisch zusammenhängenden Textabschnitt wahrscheinlich als eine zusammenhängende Erzählfolge angesehen werden, in welcher der zeitliche Bruch zwischen (a) und (b) von untergeordneter Bedeutung ist. Als gemeinsamer übergeordneter Gesichtspunkt des gesamten Textabschnitts könnte z.B. 'how the military Situation developed' betrachtet werden. Wir tendieren hier auf einer untergeordneten Ebene, insbesondere wegen des Adverbials all day, aber dazu, zwischen (a) und (b) einen zeitlichen und wahrscheinlich auch thematischen Bruch zugrundezulegen: (a) beschreibt die Gegebenheiten des frühen Morgens und stellt durch another attack den anaphorischen Bezug zu den vorhergehenden Ereignissen her, während sich (b) auf die Entwicklungen des nächsten Tages bezieht. Derartige untergeordnete zeitliche Strukturen und damit verbundene thematischen Zuordnungen mögen zwar auch für einen größeren textuellen Kontext noch von Relevanz sein, sie können jedoch ebenso in bezug auf diese globalere Textebene irrelevant erscheinen oder gar revidiert werden. Es ist anzunehmen, daß die temporale Interpretation im Hinblick auf globalere textuelle Ebenen zumindest teilweise anderen Prinzipien folgt als die lokale zeitliche Einordnung zweier aufeinanderfolgender Ereignisschilderungen. Zusammenfassend können wir in bezug auf die Rolle der Pragmatik und der Semantik folgendes sagen: Eine Textpragmatik muß der Tatsache gerecht werden, daß der Gebrauch und die Interpretation der temporalen Elemente im Hinblick auf unterschiedliche Textebenen potentiell auch durch verschiedene Arten von Prinzipien bestimmt wird. Im Rahmen dieses Buches wollen wir, wie bereits erwähnt, zwischen drei prototypischen Textebenen unterscheiden: der lokalen, der thematischen und der globalen. Temporale Interpretation auf den Textebenen soll als dynamischer Prozeß der Anwendung von Default-Prinzipien verstanden werden. Die Pragmatik, welche im Rahmen dieser Arbeit entwickelt wird, soll diesem Tatbestand Rechnung tragen. Wir werden die Entwicklung einer solchen Pragmatik, wie eingangs gesagt, so durchführen, daß die Textpragmatik mit der Temporalsemantik in formaler Hinsicht kompatibel ist, um die Wechselwirkungen zwischen Semantik und Pragmatik auch formal anschaulich darstellen zu können. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach einer geeigneten Semantik, die wir als Ausgangsbasis benutzen. Aus der Vielzahl der semantischen Ansätze zur Darstellung temporaler Bedeutungszuweisung werden wir jenen wahrheitssemantisch orientierten Ansätzen folgen, welche auf der Basis der Tempusanalyse nach Reichenbach (1966 / 1947) entwickelt
16 worden sind. Reichenbach beschreibt temporale Bedeutungen anhand der Orientierungsgrößen der Sprechzeit, Referenzzeit und Ereigniszeit. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in seiner weitgehenden Kompatibilität mit den Definitionen der Kategorien temporaler Elemente im eingangs erläuterten Sinne. Einfache Tempora kommen nach Reichenbach semantisch dem Verweis auf eine bestimmte Relation zwischen Referenz- und Sprechzeit gleich (kontextuelle zeitliche Bedeutung nach Vater 1991: 53). Bei den Perfekt-Tempora liegt die Ereigniszeit jeweils vor der Referenzzeit, wobei ebenfalls eindeutige Beziehungen zwischen der Referenzzeit und der Sprechzeit ausgesagt werden, während Aspekt und Aktionsartrelationen bestimmten Beziehungen zwischen der Referenz- und Ereigniszeit entsprechen (intrinsische temporale Bedeutung). In der semantischen Metasprache erscheinen die Korrelate temporaler Elemente als Operatoren über Propositionen (vgl. Dowty 1982, Nerbonne 1984: Kap. 1 mit ausführlichen Diskussionen). Der Wahrheitswert der Aussagen ergibt sich aus den jeweiligen Beziehungen der Operatoren sowie der Propositionen zu den temporalen Indizes der Sprechzeit, Referenzzeit und Ereigniszeit. Er wird also relativ zu drei temporalen Indizes ausgewertet. Die Wahrheitssemantik stellt somit eine indexikalische Semantik dar (vgl. z.B. Ballweg 1991, Dowty 1982, Fabricius-Hansen 1984, Hamann 1991, Nerbonne 1984 / 1986). Einige Autoren versuchen, auf der Basis der indexikalischen Reichenbach-Semantik auch Textpragmatiken aufzubauen (die häufig als Semantiken definiert werden, so z.B. bei Ballweg 1991, Kamp & Reyle 1993). Textuelle Verzeitungsmuster sind demnach bestimmte Konstellationen unterschiedlicher Referenz- und Ereigniszeiten zueinander, die irgendwie aus dem semantischen Gehalt der temporalen Elemente in systematischer Weise hergeleitet werden sollen. Die Entwicklung derartiger Ansätze hat sich bislang im Lichte der Komplexität textueller Verzeitung als recht problematisch erwiesen (vgl. insbesondere Schopf 1989). Es stellt sich die Frage, ob textuelle Verzeitungsmuster automatisch aus der Semantik temporaler Ausdrücke herleitbar sind. Eine klare Trennung zwischen Textpragmatik und Semantik der temporalen Elemente, wie sie z.B. Ehrich (1992) vertritt, erscheint mir vielversprechender.
0.4 Aufbau der Arbeit Aus den eingangs erläuterten Zielsetzungen und dem damit verbundenen theoretischen Rahmen ergibt sich der folgende Aufbau des Buches. In Kapitel 1 werde ich Reichenbachs Ansatz und einige der darauf aufbauenden Semantiken sowie Textpragmatiken besprechen. In Abschnitt 1.1 wird dabei auf Reichenbachs ursprüngliche Theorie und die damit verbundenen Probleme eingegangen, während in Abschnitt 1.2 die wahrheitssemantischen Ansätze zu beleuchten sind. Da hier im Detail recht unterschiedliche Vorgehensweisen existieren, welche insgesamt gesehen jedoch ein relativ zusammenhängendes Bild ergeben, skizziere ich in 1.2 zusammenfassend diesen semantischen Rahmen, den ich "erweiterte Reichenbach-Semantik" nenne. Abschnitt 1.3 wendet sich dann der Pragmatik zu. Hier werden zunächst jene
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textpragmatischen Ansätze diskutiert, welche bislang auf der Basis der erweiterten Reichenbach-Semantik entwickelt worden sind. Wir werden dabei sehen, daß derartige pragmatische Ansätze häufig reduktionistischer Natur sind und der textuellen Realität nicht gerecht werden, weil die in ihnen formulierten Regeln die Diskursorganisation zu sehr vereinfachen. Außerdem werden in den meisten Fällen die Parameter der indexikalischen temporalen Interpretation, nämlich die Sprechzeit, die Referenzzeit und die Ereigniszeit, nicht in ausreichender Weise definiert. Es stellt sich z.B. die Frage, ob diese Zeiten als Intervalle oder als Punkte aufzufassen sind. In Kapitel 2 soll aufgrund dieser Unzulänglichkeiten zunächst in Form der "erweiterten Reichenbach-Pragmatik" (ERP) ein Alternativvorschlag zu den in Kapitel 1 diskutierten pragmatischen Vorgehensweisen entwickelt werden (2.1). Diesem Alternativvorschlag liegt die Annahme zugrunde, daß die Referenzzeit immer als Punkt aufzufassen ist, der einem Betrachtpunkt gleichkommt, von welchem aus das Verlaufsintervall (= Ereigniszeit) einer Situation gesehen wird. Im Hinblick auf die Verzeitungsstruktur eines Kontextes fungieren derartige Referenzzeiten als temporale Orientierungspunkte (landmarks) im Sinne kognitiv ausgerichteter Ansätze (z.B. Langacker 1991). Die erweiterte Reichenbach-Pragmatik legt als Default-Werte bestimmte Beziehungen zwischen dem Verlaufsintervall einer Gegebenheit und der Referenzzeit fest. Diese pragmatisch nahegelegten Default-Relationen können die durch die Semantik der temporalen Ausdrücke festgelegten Relationen modifizieren, sie ergänzen oder ihnen gar widersprechen. In den Abschnitten 2.2 bis 2.4 wollen wir die erweiterte Reichenbach-Pragmatik zu einem pragmatischen Rahmen ausbauen, der die Wechselwirkungen verschiedener Diskursprinzipien untereinander systematisch darzustellen vermag. Dieser pragmatische Rahmen verbindet drei Ansätze der Textpragmatik: (i) Es wird von Diskursprinzipien im Sinne Ehrichs (1992) ausgegangen (2.2). (ii) Wir werden die Abhängigkeiten der Prinzipien voneinander über die von Lascarides, Oberlander und anderen entwickelte Default-Logik darstellen, deren Zielsetzung bereits oben kurz skizziert wurde. Hierzu werden zunächst Prinzipien in bezug auf die thematische und die lokale Textebene entwickelt (2.3), die dann in einen formalen Ansatz integriert werden (2.4). Möglichkeiten der Anwendung der Pragmatik auf die globale Ebene werden dabei ebenfalls skizziert, (iii) Die Formulierung der Prinzipien wird schließlich auf der formalen Grundlage der Reichenbach'sehen Tempusbeschreibung, der erweiterten Reichenbach-Semantik (ERS) aus 1.3 und der erweiterten ReichenbachPragmatik (ERP) aus 2.1 durchgeführt (2.3 - 2.4). Kapitel 3 ist im Lichte der Reichenbach-Semantik und der in Kapitel 2 entwickelten Pragmatik den Perfekt-Tempora und ihren Textfunktionen gewidmet. Es wird insbesondere der Frage nachgegangen, welche Verzeitungskomponenten der englischen Perfekt-Tempora in den Bereich der semantischen Bedeutungszuweisung und welche in den Bereich der Pragmatik fallen. Es ergeben sich hier neue Perspektiven hinsichtlich der Frage nach der Einordnung des Perfekts als Tempus oder als Aspekt. Kapitel 4 befaßt sich mit der durch temporale Adverbiale ausgedrückten Verzeitung. Einer der hier behandelten Schwerpunkte ist die Frage, ob die adverbiale Verzeitung ein eher unabhängiges System von der Tempusverzeitung darstellt oder ob beide Bereiche nicht doch eher eng miteinander verflochten sind, wie z.B. noch bei
18 Bäuerle (1979), Kratzer (1978) oder Smith (1978) angenommen. Insbesondere werden die Textfunktionen einiger solcher adverbialer Elemente beschrieben, welche sich auf die Positionierung von Gegebenheiten innerhalb sequentieller Abfolgen beziehen. Als Textbelege dienen authentische Ausschnitte aus der moderneren erzählenden amerikanischen und englischen Literatur. Zum Zweck der Veranschaulichung bleibt es jedoch nicht aus, teilweise demonstrationshalber auch auf konstruierte Musterbeispiele zurückzugreifen.
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Analysen temporaler Elemente nach Reichenbach (1966/1947)
1.1 Die Tempusanalyse Reichenbachs Die Analyse temporaler Elemente nach Reichenbach (1966 / 1947) ist der am häufigsten beschrittene Weg in der Beschreibung der Bedeutungen temporaler Formen. 1 Wir wollen uns im folgenden auf jene Gesichtspunkte dieser Theorie beziehen, welche für die Erfassung textueller Verzeitungsmuster relevant erscheinen. Reichenbach (1966 / 1947: 287-298) beschreibt den Bedeutungsgehalt der englischen Tempora anhand der Anordnung der drei Zeitpunkte der Sprechzeit (in neueren Notationen häufig als s, bei Reichenbach selbst aber als S dargestellt), der Referenzzeit (r bzw. R) und der Ereigniszeit (e bzw. E). Diese Zeitpunkte werden auf einem konzeptualisierten Zeitstrahl plaziert. Reichenbach nimmt folgende Zuordnungen der englischen Tempora im Hinblick auf die sich seiner Meinung nach ergebenden Positionierungen der drei Zeitpunkte vor (1966 / 1947: 290, 297): (3) Tempusbedeutungen nach Reichenbach (1966 /1947) Tempusbedeutung
Tempus
engl. Entsprechung
E-R-S E.R-S R-E-S
Past Perfect Simple Past Posterior Past (=Future in the Past, auch: Conditional I) Present Perfect (Simple) Present Future Perfect Simple Future
he had gone he went
E-S, R S,RE S-E-R S-R, E
he he he he he
would go has gone goes will have gone will go (tomorrow)
E-R bedeutet z.B., daß die Ereigniszeit zeitlich vor der Referenzzeit liegt (Reichenbach spricht von Ereignis- und Referenzpunkten). Ein Komma signalisiert Gleichzeitigkeit. Dies entspricht den Notationen e < r für 'die Ereigniszeit liegt vorzeitig zur Referenzzeit' und e = r zur Kennzeichnung von Gleichzeitigkeit, wie sie in der Logik
Für ausführliche Diskussionen des Reichenbach'schen Tempussystems vgl. z.B. Comrie (1981), Hamann (1987), Schopf (1984), Thieroff (1992) oder Vikner (1985). Die Anwendung von Reichenbachs Vorgehensweise auf das Arabische, wie sie z.B. bei Eisele (1990) skizziert wird, oder auf die slawischen Sprachen (vgl. z.B. Thelin 1978, Timberlake 1985) belegt die Brauchbarkeit dieses Ansatzes auch im Rahmen kontrastiver Sprachanalysen (vgl. z.B. Dahl 1985).
20 verwendet werden (vgl. z.B. Dowty 1982, McArthur 1976, Nerbonne 1984). Die in der obigen Tabelle enthaltenen Darstellungen der Tempusbedeutungen (von Reichenbach jeweils als "structure " bezeichnet) entsprechen in etwa den in 0.2 skizzierten Tempusbedeutungen. Allerdings berücksichtigt Reichenbach nicht das Future-inthe-Past Perfect (he would have gone). Diese, auch als Conditional II oder Conditional Perfect bezeichnete Form, würde in ihrer temporalen Bedeutung der zeitlichen Relation R1-E-R2-S zuzuordnen sein (wir benötigen hier eine zweite Referenzzeit). Reichenbach versucht, die Beschreibung aspektueller Relationen in sein System zu integrieren. Für die Darstellung des Present Progressive wird die Ereigniszeit als ein Intervall aufgefaßt, in welchem die Referenzzeit und die Sprechzeit eingeschlossen sind. So stellt sich die Verzeitung des Satzes I'm seeing John nach Reichenbach wie folgt dar: 2 I'm seeing John. S, R
Der Aspekt des Progressive wird hier mit der Nichtabgeschlossenheit eines Ereignisses zur Referenzzeit in Verbindung gebracht. Reichenbach spricht jedoch nicht von Aspekt, sondern von "extended tense", also Tempus (S. 292). Man beachte, daß die Ereigniszeit hier als zeitlich begrenzt, aber als Intervall dargestellt ist. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Parameter der Sprech-, Referenz- und Ereigniszeit auch als Intervalle aufgefaßt werden können. Im Originalansatz wird lediglich im Hinblick auf die Ereigniszeit eine intervallartige Darstellung zugelassen; auf Reichenbach aufbauende Ansätze definieren hingegen meist sämtliche der drei Zeiten als Intervalle (vgl. z.B. Dowty 1986, Nerbonne 1984, Hamann 1991, Partee 1984). In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, daß Reichenbach die Funktion der Referenzzeit als eine Art zeitlichen Orientierungspunkt neben der Sprechzeit skizziert, relativ zu welchem sämtliche in einem Textabschnitt geschilderten Gegebenheiten positioniert werden können. Er benutzt folgenden Ausschnitt aus einem Geschichtswerk von Macaulay zur Illustration: (4) In the year 1678 the whole face of things had changed ... eighteen years of misgovernment had made the ... majority desirous to obtain security of their liberties at any risk. The fury of their returning loyalty had spent itself in its first outbreak. In a very few months they had hanged and
Das von Reichenbach gewählte Beispiel I'm seeing John ist etwas problematisch, weil hier, ähnlich wie bei Äußerungen der Form I'm seeing a girl from another village (im Sinne von 'I'm dating a girl ...' ) die habituelle Deutung der Aussage möglich ist. Die Bedeutung des Progressive, wenn es ohne die habituelle Komponente auftritt, z.B. in Äußerungen wie John was reading a book when Mary came in, ist jedoch identisch mit der in dieser Grafik dargestellten.
21 half-hanged, quartered and embowled, enough to satisfy them. The Roundhead party seemed to be not merely outcome, but too much broken and scattered ever to rally again. Then commenced the reflux of public opinion. The nation began to find out to what a man it had intrusted without conditions all its dearest interests, on what a man it had lavished all its fondest affection, (zit. bei Reichenbach 1966 / 1947: 288-9)
Hierzu bemerkt Reichenbach (ebenda): "The point of reference is here the year 1678. Events of this year are related in the simple past, such as the commencing of the reflux of public opinion, and the beginning of the discovery concerning the character of the king. The events preceding this time point are given in the past perfect, such as the change in the face of things, the outbreaks of cruelty [...]."
Nach dieser Interpretation Reichenbachs lassen Beispiele wie (4) somit die Referenzzeit als einen Betrachtpunkt erscheinen, aus dessen Perspektive mehrere Gegebenheiten gesehen sind, die in einem Text geschildert werden. Der gesamte Textabschnitt (4) orientiert sich z.B. an der Betrachtzeit 'the year 1678'. Allerdings ist die von Reichenbach benutzte Terminologie undeutlich. So ist der als "point of reference" definierte Zeitraum '1678' kein Punkt, sondern ein Intervall. Innerhalb dieses Zeitraums sind z.B. die Gegebenheiten positioniert, welche in dem folgenden Ausschnitt aus (4) geschildert werden: The Roundhead party seemed to be not merely outcome, but too much broken and scattered to ever rally again. Then commenced the reflux of public opinion. Während hier die Referenzzeit als eine textuelle Größe erscheint, da sich an ihr vollständige Textabschnitte orientieren, geht aus Reichenbachs Ausführungen ebenfalls hervor, daß die Referenzzeit eine an den Satz und an Satzteile gebundene Größe darstellt. So etabliert jeder englische Aussagesatz aufgrund der darin enthaltenen obligaten Tempusform mindestens eine Referenzzeit. Bestimmte Satzteile, wie temporale Nebensätze, etablieren ebenfalls eine Referenzzeit. In He read the letter before he mailed it wird durch before he mailed it eine eigene Referenzzeit gesetzt. Die Temporalkonjunktion before expliziert die zeitliche Beziehung zwischen den Referenzzeiten der beiden Teilsätze.3 Im Lichte derartiger Analysen müßte (4) so zu interpretieren sein, daß z.B. in The Roundhead party seemed to be not merely outcome [...] Then commenced the reflux of public opinion der durch then eingeleitete Satz aufgrund des Adverbials then einen Referenzpunkt etabliert, der nachzeitig zu dem durch The Roundhead party seemed to be not merely outcome etablierten plaziert ist. Somit wären im Hinblick auf (4) zusätzlich zu der Referenzzeit '1678' weitere Referenzzeiten zugrundezulegen, die für die Interpretation des Textes von Relevanz sind. Reichenbach sieht jedoch nur den mit In the year 1678 gesetzten Zeitpunkt als relevanten Referenzpunkt an. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß streng genommen nicht die Interpretation eines kompletten Satzes oder gar Textabschnitts zur Setzung von nur einer Reichenbach (S. 295) spricht in diesem Zusammenhang von "positional use [of the reference point]". Zur Analyse temporaler Nebensätze in diesem Sinne vgl. z.B. Dinsmore (1982), Hamann (1989) und Hinrichs (1986).
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Referenzzeit führt, sondern daß vielmehr bereits innerhalb eines Satzes mehrere Referenzzeiten etabliert werden können, wenn z.B. ein temporaler Nebensatz vorhanden ist oder wenn mehrere Prädikate in einem Satz enthalten sind, z.B. nach dem Muster I carne, saw, and conqueredA Wir wollen daher im folgenden einen prädikativen Ausdruck, der eine Referenzzeit etabliert und damit auf die Plazierung einer Gegebenheit in der Verzeitungsstruktur verweist, als Ereignisschilderung bezeichnen. Häufig ist für die Rekonstruktion einer Verzeitungsstruktur nicht primär die Identifikation von Sätzen, sondern von derartigen Ereignisschilderungen relevant. Ein Satz kann eine oder mehrere Ereignisschilderungen enthalten. Wie gesagt, wird nicht deutlich, welche Beziehung zwischen Reichenbachs textuellem Referenzpunkt und diesen, durch einzelne Ereignisschilderungen jeweils etablierten Referenzzeiten besteht. Intuitiv können wir vorerst davon ausgehen, daß der übergeordnete Referenzpunkt interpretatorisch aus den Referenzzeiten der einzelnen Ereignisschilderungen hergeleitet wird und daß sich diese Herleitung unter Anwendung pragmatischer Prinzipien der Textkonstitution vollzieht. Ungeachtet der terminologischen Unklarheiten weist Reichenbachs Diskussion des Beispiels (4) somit auf die Möglichkeit hin, die Referenzzeit auch im Hinblick auf die textuelle Verzeitung als temporale Orientierungsmarke zu betrachten, an welcher die Ereignisschilderungen kompletter Textabschnitte orientiert sind. Die Zugrundelegung derartiger Orientierungsmarken erleichtert dem Leser die temporale Interpretation größerer Textabschnitte. So werden wir vermutlich einen größeren Textabschnitt in kleinere, thematisch zusammenhängende Abschnitte einteilen, denen jeweils eine Referenzzeit als zeitlicher Rahmen zugeordnet wird. Diese Referenzzeiten werden wiederum aus den Positionen der Referenzzeiten einzelner Sätze und Ereignisschilderungen hergeleitet. Wir können davon ausgehen, daß unterschiedliche Textsorten durch unterschiedliche prototypische Arten der Positionierung von Referenzzeiten mehrerer Ereignisschilderungen und Sätze zueinander charakterisiert sind. Die Referenzzeiten stellen nicht nur Orientierungsmarken, sondern gleichzeitig Betrachtpunkte dar, von denen aus Gegebenheiten perspektiviert werden. In John was Walking to the station when he met Mary wird beispielsweise die Gegebenheit 'John walk- to the station' von einer bestimmten Referenzzeit aus gesehen oder perspektiviert. Die Art dieser Perspektivierung kennzeichnet hier das Progressive. Nicht immer wird explizit, z.B. durch einleitende Temporaladverbiale, auf die Position der Referenzzeit verwiesen. Reichenbach zitiert in diesem Zusammenhang einen Ausschnitt aus W. Somerset Maughams Of Human Bondage (S. 175), der im Gegensatz zu dem eher beschreibenden Beispiel (4) eine wirkliche Erzählfolge darstellt: (5) But Philip ceased to think of her a moment after he had settled down in his carriage. He thought only of the future. He had written to Mrs. Otter, the mossière to whom Hayward had given him an introduction, and had in his pocket an invitation to tea on the following day. (zit. in Reichenbach 1966 / 1947: 288).
Vgl. insbesondere Allen (1966: 166 ff.).
23 Auch in bezug auf (5) beschreibt Reichenbach die Funktion der Referenzzeit als die eines zweiten Orientierungspunktes neben der Sprechzeit, wobei sich der gesamte Textabschnitt an einer gemeinsamen Referenzzeit orientieren soll (ebenda): "The series of events recounted here in the simple past determine the point of reference as lying before the point of speech. Some individual events, like the settling down in the carriage, the writing of the letter, and the giving of the introduction, precede the point of reference and are therefore related in the past perfect."
Es werden demzufolge wieder mehrere Ereignisse relativ zu einer gemeinsamen Referenzzeit plaziert. Wir erkennen allerdings nicht unmittelbar anhand sprachlicher Elemente, in welcher Weise der Verweis auf diesen gemeinsamen Referenzpunkt in (5) stattfindet, weil der Referenzpunkt nicht wie in (4) direkt mit einem Adverbial in Verbindung gebracht werden kann. Vielmehr erschließt sich uns seine Position erst aus der Interpretation des Textabschnitts als Ganzes. Vage Hinweise auf diese zeitliche Position des Referenzpunktes liefert z.B. der Nebensatz after he had settled down in his carriage: Der Referenzpunkt liegt wahrscheinlich unmittelbar nachzeitig zu der Gegebenheit 'he settle- down in his carriage'. Dies wird aber nur zum Teil durch die Konjunktion after und das Past Perfect zum Ausdruck gebracht; daß der Referenzpunkt unmittelbar nachzeitig zu dieser Gegebenheit liegt, können wir nur über Inferenzen aufgrund unseres Weltwissens bezüglich der in diesem Text geschilderten Gegebenheiten schließen. Ähnlich kennzeichnen die übrigen Past-Perfect Formen in (5) die Position des Referenzpunktes als nachzeitig zu den durch das Past Perfect jeweils lokalisierten Gegebenheiten, z.B. im Fall von He had written to Mrs. Otter, hier allerdings mit dem Unterschied, daß wir auf der Basis unseres pragmatischen Weltwissens nicht schließen werden, daß der Referenzpunkt unmittelbar nachzeitig zu der lokalisierten Gegebenheit liegt. Wir können davon ausgehen, daß die englischen Tempora die Position einer Referenzzeit relativ zur Sprechzeit zum Ausdruck bringen und auch relativ zur Ereigniszeit, wie im Falle des Past Perfect in (5). Dies entspricht dem semantischen Bedeutungsgehalt der Tempora. Ein übergeordneter Referenzpunkt hingegen, wie ihn Reichenbach im Hinblick auf (4) und (5) zugrundelegt, wird eher anhand pragmatischer Prinzipien durch den Leser rekonstruiert, die er in der Interpretation eines narrativen Textes anwendet. Ein pragmatisches Prinzip legt somit z.B. nahe, daß die Referenzzeiten, auf welche unterschiedliche Tempusformen eines Textes verweisen, in einer übergeordneten Referenzzeit interpretatorisch zusammengefaßt werden können, wie in (4). Es zeigt sich hier, daß der Referenzpunkt bei Reichenbach de facto auf der einen Seite in die semantische Beschreibung integriert wird, weil durch seine Einführung überhaupt erst sämtlichen englischen Tempora ein konzeptuelles Korrelat im Sinne von (3) als Bedeutung zugewiesen werden kann. Die Referenzzeit stellt aber auf der anderen Seite eine pragmatische Größe im Sinne eines textuellen Orientierungs- oder Betrachtpunktes dar, wie sich in der Diskussion von (4) und (5) andeutete.
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1.2 Erweiterte Reichenbach-Semantik (ERS) Im folgenden Abschnitt werde ich darlegen, wie die drei Reichenbach'sehen Zeiten, insbesondere die Referenzzeit, auf der Basis bisheriger Ansätze in eine Temporalsemantik integriert werden können. Wir wollen den semantischen Rahmen, der sich dabei im Lichte der zahlreichen Untersuchungen zu diesem Thema herauskristallisiert, als erweiterte Reichenbach-Semantik (ERS) bezeichnen. Wie bereits in der Einführung angedeutet, stellt die Wahrheitssemantik eine brauchbare und vieldiskutierte Möglichkeit dar, temporale Bedeutungszuweisungen zu beschreiben. So können im Einklang mit unseren Definitionen in 0.2 alle englischen Tempora als Formen betrachtet werden, die jeweils auf eine bestimmte Art der Lokalisierung von Ereignissen in der Zeit verweisen. Diese zeitliche Lokalisierung von Gegebenheiten stellt sich in der Wahrheitssemantik als die Zuordnung von Wahrheitswerten relativ zu Zeiten dar. Eine Aussage wie John had already arrived when the opening-ceremony started ist beispielsweise nur dann wahr, wenn sich eine Gegebenheit des Typs 'John arrive-' an einem Zeitpunkt ereignet, der vorzeitig zu dem Zeitpunkt des Stattfindens von 'the opening-ceremony Start-' liegt und wenn letzterer Zeitpunkt vorzeitig zur Sprechzeit positioniert ist. Die tempuslosen Satzreste (= Propositionen) werden somit relativ zu mehreren Zeiten ausgewertet. Temporale Elemente, wie die Tempora oder temporalen Adverbiale, legen jene spezifischen Relationen zwischen diesen Zeiten fest, welche bestehen müssen, damit eine Aussage wahr wird. Die wahrheitssemantische Vorgehensweise läßt sich nun mit Reichenbachs Ansatz verbinden: Der Wahrheitswert einer Aussage, die ein Tempus enthält, ergibt sich demnach aus dem Verhältnis der zugrundeliegenden Proposition relativ zu den drei Zeiten der Sprechzeit, der Referenzzeit und der Ereigniszeit. Tempora erfüllen eine deiktische Funktion, indem sie auf diese drei Zeiten zeigen. Reichenbachs drei Zeiten können daher als temporale Indizes angesehen werden, relativ zu welchen der Wahrheitswert einer Aussage jeweils ausgewertet wird. Die wahrheitssemantische Darstellung ist in diesem Sinne indexikalisch. Die Grenzen der wahrheitssemantischen Vorgehensweise erscheinen recht eindeutig, und wir sollten sie immer vor Augen behalten, um eine korrekte Abgrenzung der Semantik von der Pragmatik vornehmen zu können. So läßt sich textuelle Verzeitung durch Wahrheitssemantik nicht adäquat beschreiben. Wahrheitssemantik kann z.B. nicht erklären, warum Jane posted and wrote the letter im Normalfall nicht wahr ist, weil die implizierte Reihenfolge der Ereignisse wahrscheinlich nicht stimmt, obwohl die aus der Aussage ableitbaren Teilaussagen Jane wrote the letter und Jane posted the letter der Wahrheit entsprechen mögen. Wir sehen, daß bereits die Beschreibung von Sätzen, welche koordinierte Verbalphrasen enthalten, der Wahrheitssemantik Schwierigkeiten bereitet. Dennoch scheint die Wahrheitssemantik im Hinblick auf die Beschreibung temporaler Bedeutungen einzelner temporaler Elemente meist eine adäquate Lösung darzustellen. So ist eine Zuordnung von Wahrheitswerten häufig auch dort möglich, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. Beispielsweise können wir zwar Wahrheitswerte in bezug auf zukünftige Situationen nicht festlegen, da man solchen Gegebenheiten, die noch nicht stattgefunden haben, keinen Wahrheitswert zuordnen kann (man vermag hinsichtlich ihres möglichen Stattfindens
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nur Vermutungen anzustellen). Dennoch sind zukunftsbezogene Aussagen im Englischen falsifizierbar. Comrie (1989: 59) verweist z.B. darauf, daß sich eine Frage wie Will it rain? immer auf den mit dem Futur-Tempus verbundenen Wahrheitswert bezieht; die tempuslose Aussage it rain- ist entweder in bezug auf einen bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft wahr, oder sie ist in bezug auf einen solchen Zeitpunkt falsch, und genau diese Zuordnung eines Wahrheitswertes ist der Gegenstand der Frage Will it rain?. Ich werde nun eine Beschreibung des in dieser Arbeit angewandten wahrheitssemantischen Rahmens, der ihm zugrundeliegenden Konzeptionen und (soweit relevant) seiner historischen Entwicklung durchführen. Um die zahlreichen unterschiedlichen Ansätze miteinander kompatibel zu machen, sind allerdings in formaler Hinsicht einige Modifikationen bisheriger Darstellungen nötig. Wir gehen davon aus, daß jedem Aussagesatz eine Proposition zugrundeliegt. Diese kann in die semantische Metasprache als der tempus- und aspektloser Satzrest integriert werden. Die Proposition stellt somit den semantischen Gehalt des Satzes ohne Berücksichtigung der grammatischen Bedeutungen dar. Dem semantischen Gehalt wird entweder der Wahrheitswert 'wahr' oder 'falsch' zugeordnet. Als Darstellungsvariante der ursprünglich im Rahmen der Montague-Semantik zugrundegelegten Konzeption von Bedeutungszuweisung (Montague 1974) werden Propositionen relativ zu Interpretationsparametern ausgewertet, die in der formalen Beschreibung in einem Interpretationsindex ihren Platz finden (Binnick 1991: 229230, Dowty 1982, Dowty / Wall et al. 1981: 133, Partee / ter Meulen et al. 1990: 331). Hiermit ist folgendes gemeint: Wenn wir z.B. eine Aussage wie Bill Clinton is the American president auf ihren Wahrheitswert hin bewerten, hängt die Festlegung dieses Wahrheitswertes zunächst davon ab, im Hinblick auf welches Modell der Zuordnung von Referenten die Bewertung der Aussage stattfindet. Dies ist in diesem Fall jenes Modell, in welchem dem Ausdruck Bill Clinton der semantischen Sprache die Person 'Bill Clinton' der Wirklichkeit zugeordnet wird. Des weiteren ist die Art des Wahrheitswertes der Aussage davon abhängig, von welcher Welt hier die Rede ist. Im Hinblick auf das obige Beispiel wird wahrscheinlich von der realen Welt die Rede sein, nicht jedoch z.B. von der in einem Roman geschilderten. Ferner hängt der Wahrheitswert von der Zeit ab, auf die sich die Aussage bezieht. Der Wahrheitswert einer Satzproposition wird somit relativ zu den Interpretationsparametern M (= Modell), w (= Welt) und t (= Zeit) festgelegt. In der Interpretation einer Aussage ist es ferner häufig nötig, variablenartigen Ausdrücken (z.B. dem Relativpronomen who) Referenten zuzuweisen. Diese Referentenzuweisung wird durch den Parameter g repräsentiert. Die Auswertung einer Proposition auf einen Wahrheitswert hin vollzieht sich also im Hinblick auf die oben genannten Faktoren 'Modell der Referentenzuweisung' M, 'Welt' w, 'Zeit' t und 'Art der Referentenzuweisung in bezug auf variablenartige Ausdrücke' g. Das Ganze kann als [ p ] M dargestellt werden, was bedeutet, daß der semantische Wert von p relativ zu M, w, t und g festgelegt wird. Die eckigen Doppelklammern kennzeichnen den semantischen Wert von p. In einer intensionalen Semantik wie der Montagues entspricht dieser semantische Wert
26 der Extension, also dem Referenten von p. Da nach Montague die Referenten von Sätzen Wahrheitswerte sind, ist der semantische Wert von p ein Wahrheitswert. Wenn p relativ zu den im Index aufgeführten Interpretationsparametern wahr ist, schreiben wir [ p 1 M,w,'-g = 7, wobei 1 für 'wahr' steht und 0 entsprechend 'falsch' bedeuten würde. Der Proposition p wird also relativ zu den Parametern im Index (M, w, t und g) ein Wahrheitswert als Referent zugeordnet (vgl. z.B. Binnick 1991:230).5 Der Index stellt ein geordnetes Quadrupel aus Interpretationsparametern dar. Dieses Quadrupel notieren wir als , was bedeutet, daß die Reihenfolge der Interpretationsparameter nicht irrelevant ist. Wir haben oben gesagt, daß wir [p] M-WJ,g = 1 als 'p ist wahr relativ zu Modell M, Welt w, Zeit t und der Referentenzuweisung in bezug auf variablenartige Ausdrücke g' zu paraphrasieren haben. Alternativ zu dieser oben angeführten Paraphrasierung ,w,l g von [pI ' = 1 können wir auch sagen, daß die Proposition eine Funktion von dem Index zu einem Wahrheitswert ist (vgl. z.B. Binnick 1991: 238). Dies wäre z.B. als p( )= 1 zu formalisieren, wenn die Proposition relativ zum Index wahr sein soll (ebenda). Nach Montague ist diese Funktion p die Intension eines Satzes, und seine Extension, wie bereits erwähnt, ist der zugeordnete Wahrheitswert, in diesem Fall 1 (= 'wahr'). In unserem Zusammenhang erscheint von Bedeutung, daß auch die Parameter temporaler Interpretation, nämlich die Sprechzeit, die Referenzzeit und die Ereigniszeit, als Interpretationsparameter Eingang in die semantische Beschreibung finden können, was sich in einer neo-Montague'sehen Notation als [ p ] M ' s,e,r darstellt. 6 Die Proposition wird hier im oben erläuterten Sinne relativ zu einem Modell M, einer Sprechzeit s, einer Ereigniszeit e und einer Referenzzeit r ausgewertet. Wir erhalten so eine mehrdimensionale Zeitlogik. Parameter, die nichts mit der temporalen Interpretation zu tun haben, brauchen bei der Analyse temporaler Bedeutung nicht berücksichtigt zu werden. Für [ p ] M-s-e-r können wir als Kurzform auch i p I w schreiben. Im obigen Sinne "indexikalische" Tempusanalysen werden z.B. von Äqvist (1976), Bäuerle (1979), Bäuerle & von Stechow (1981), Ballweg (1991), Dowty (1982), Fabricius-Hansen (1984), Nerbonne (1984 /1986) und Richards (1982) durchgeführt. Die Vorgehensweise ist jedoch nicht einheitlich. So führen z.B. Bäuerle, von Stechow und Fabricius-Hansen andere zeitliche Indizes als die von Reichenbach Die Terminologie ist bei der Bezeichnung der Parameter nicht ganz einheitlich: Während wir hier der z.B. von Nerbonne (1984: 13) und Binnick (1991: 229) gewählten Terminologie folgen und von mehreren Interpretationsparametern in einem Index sprechen, werden häufig auch die Interpretationsparameter selbst als Indizes bezeichnet (vgl. z.B. Binnick 1991: 238); M, w, t, und g wären demnach als vier Indizes anzusehen. Diese terminologischen Unklarheiten sind jedoch im Hinblick auf unsere weitere Diskussion nicht von Relevanz, so daß wir sie außer jipht lassen können. Für [p] ' ' ' benutzt Nerbonne (1984 / 1986) alternative, aber bedeutungsgleiche Notationen wie M hs.e.rP und M, s, e, r /= p sowie A,s,e,r/= p , wobei in letzterer das Modell serem Modell M entspricht. Eine ähnliche Art der indexikalischen Darstellung wird beispielsweise auch von Äqvist (1976) und Guenthner (1977) verwandt (vgl. auch die Diskussion in Binnick 1991: 315-316).
A un-
27 definierten drei Größen ein. Wir folgen in dieser Arbeit Nerbonnes Ansatz, der sich am stärksten an Reichenbachs Schematik orientiert. Nerbonne (1984 / 1986) möchte fast alle lokalisierenden temporalen Ausdrücke, insbesondere Tempusmorpheme und temporale Adverbiale, anhand der drei Interpretationsparameter der Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit interpretiert wissen. Diese drei Interpretationsparameter werden im Diskurs als definit gegeben vorausgesetzt; wir wissen also in der Regel, von welchen Zeiten die Rede ist. Darauf baut sich ein Modell temporaler Interpretation auf, das in etwa diesem Muster folgt (vgl. auch Hamann 1991: 408): (6) [Tempus(p)] M,s ' e ' r =1 gdw. zwischen r und s eine Relation X besteht, zwischen e und r eine Relation Y besteht, und [ p J M,s ' e,r =1. Die Formel (6) bedeutet, daß die durch den Tempus-Operator modifizierte Proposition p relativ zu Modell M, der Sprechzeit s, der Ereigniszeit e und der Referenzzeit r genau dann wahr ist, wenn zwischen der Referenzzeit und der Sprechzeit eine Relation X und zwischen der Ereigniszeit und der Referenzzeit eine Relation Y besteht. Des weiteren ist die Proposition p (der tempuslose Satzrest) ebenfalls relativ zu M, s, e und r wahr. Die hier zur Veranschaulichung gewählte verallgemeinernde Formel ist an eine Darstellungsweise aus Fabricius-Hansen (1991: 737) angelehnt. Tempus ist dabei ein beliebiger Tempusoperator. Die Relationen X und Y entsprechen bei Nerbonne zum Großteil den bei Reichenbach ausformulierten Beziehungen. So gilt z.B. in bezug auf das Past Perfect X = r < s (kontextuelle Bedeutung nach Vater 1991) und Y = e < r (intrinsische Bedeutung). Die Reichenbach'sehen Zeitpunkte werden von Nerbonne (1984), Dowty (1986), Hamann (1987 / 1989) und den meisten anderen Autoren als Intervalle definiert. Wichtig ist, daß alle temporalen Formen anhand derselben Parameter im Index ausgewertet werden. Auch die Auswertung der metasprachlichen semantischen Ausdrücke findet relativ zu denselben drei Indizes statt. Das temporale Modell enthält bei Nerbonne eine Interpretationsfunktion /. Deren Zugrundelegung ist notwendig, um zu formalisieren, daß die tempuslose Proposition, also die Aussage des Satzes ohne irgendeine temporale Modifikation durch Tempus und Aspekt, nur zu einer Zeit wahr ist. Es gilt daher für tempuslose Propositionen: (7) [ p j M ' s ' e ' r =1 gdw. I(p,e)=1
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Dies bedeutet, daß [p] M,s,e,r, also p in Modell M relativ zur Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit, genau dann wahr wird, wenn die Proposition p an der Ereigniszeit wahr ist (vgl. Nerbonne 1984: 9 / 1986: 84, Hamann 1991: 408). Hier könnte man einen Widerspruch sehen, denn [ p 1 W i ' e , r sagt ja aus, daß Propositionen relativ zu drei Zeiten wahr sind, während I(p,e)=1 besagt, daß ihr Wahrheitsgehalt nur relativ zu einer Zeit, der Ereigniszeit, ermittelt wird. Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich lösen, indem wir uns veranschaulichen, daß das System temporaler Interpretation zwar die temporale Lokalisierung relativ zu drei Zeiten vorschreibt, aber für die Auswertung von atomischen Propositionen (ohne Tempusmodifikation) dann nur eine der drei Zeiten relevant ist, wenn wir diese Auswertung losgelöst vom Verzeitungssystem einer Sprache betrachten (also aus einer rein logischen Perspektive heraus). Diese Vorgehensweise hat Nerbonne zufolge den Vorteil, daß Propositionen, unabhängig vom Verzeitungssystem einer Sprache, wie in einfacheren Logiken anhand einer Zeit ausgewertet werden. Da zumindest im Englischen und im Deutschen aber keine Sätze als Propositionen ohne Modifikation durch Tempus interpretiert sind, stellt die Interpretationsfunktion in der obigen Form gewissermaßen die Schnittstelle zwischen der durch Sprache nahegelegten temporalen Interpretation anhand dreier zeitlicher Parameter und der Ebene einfacherer Prädikatenlogik dar (vgl. Nerbonne 1984: 10 / 1986: 84). Sowohl Tempus als auch temporale Adverbiale und aspektuelle Formen werden im Gegensatz zu tempus- und aspektlosen Propositionen relativ zu den drei Zeiten im Index ausgewertet. Dies bedeutet aber im Hinblick auf den tempuslosen Satzrest, daß, wenn der tempus- und aspektlose Satzrest (= die Proposition) durch Tempus-, Adverb- oder Aspektformen modifiziert ist und wir somit z.B. einen Ausdruck der Form Tempus(p) auswerten, im Rahmen dieser Auswertung auch die tempuslose Proposition p als Teil des Verzeitungssystems, d.h. im Hinblick auf die drei zeitlichen Parameter, interpretiert wird.7 Für temporale Adverbiale in Verbindung mit Tempus stellt sich diese dreifache Auswertung wie folgt dar (vgl. Hamann 1991: 410): (8)
[Tempus(Adverb(p))J M s-e-r=l gdw. zwischen r und s eine Relation X besteht, zwischen e und r eine Relation Y sowie r s [Adverb J M ' s ' e,r und[ p J M's'e'r =1. Adverb steht dabei für ein beliebiges Temporaladverbial, das einen Zeitpunkt oder Zeitraum lokalisiert. So verweist eine Proposition wie 'they build- a bridge' auf eine Gegebenheit mit bestimmten Aktionsarteigenschaften. Diese Aktionsarteigenschaften haben einen Einfluß auf die Positionierung der zeitlichen Parameter (z.B. der Ereignis- und der Referenzzeit) zueinander, sofern wir die Aktionsarteigenschaften als Teil einer Verzeitungsstruktur betrachten, wie sie das Verzeitungssystem des Englischen auszudrücken vermag. Auch eine tempuslose Proposition wie 'they build- a bridge' ist daher im Hinblick auf das Verzeitungssystem relativ zu den Reichenbach 1 sehen Parametern zu interpretieren.
29 r £ [Adverb]M,s,e,r bedeutet, daß die Referenzzeit in dem mit Adverb bezeichneten Zeitraum enthalten oder identisch mit diesem Zeitraum ist. Dieser Zeitraum wird relativ zu M, s, e und r ermittelt. Adverb steht in derselben Doppelklammer wie Tempus, weil der semantische Gehalt des Tempus ebenfalls relativ zu denselben Parametern M, s, e und r ausgewertet wird. Dadurch ist vermieden, daß wir in der semantischen Metasprache z.B. eine Formel wie Yesterday(Past(p)) fälschlicherweise als 'p is true in the past of yesterday' interpretieren. Vielmehr benutzt Past nach (8) nun denselben Ausgangspunkt seiner zeitlichen Lokalisierung wie Yesterday, nämlich die für den gesamten Satz relevante Sprechzeit. Somit wird die oben angeführte, falsche Interpretation des Satzes ausgeschlossen (vgl. Dowty 1982: 23, Richards 1982: 63). Wie wir weiter unten sehen werden, trifft die in (8) enthaltene Analyse der Bedeutung temporaler Adverbiale allerdings nur auf eine bestimmte Art der lokalisierenden Adverbiale zu. Zwischen r und s besteht nun wieder die durch das Tempus festgelegte Relation X und zwischen e und r die Relation Y. Die durch das Adverbial und das Tempus jeweils nahegelegten Relationen X und Y dürfen sich nicht widersprechen. Sätze wie *Yesterday John has gone home early sind im Englischen inakzeptabel, weil sich die Reichenbach'sehe Relation r = s des Present Perfect und die durch das Adverbial yesterday ausgedrückte Relation r < s widersprechen. Das System setzt hier voraus, daß sich beide zeitlichen Elemente auf dieselbe Referenz- und Sprechzeit beziehen. Es legt somit eine enge semantische Verbindung zwischen adverbialer und der durch Tempora ausgedrückten Verzeitung nahe. [ p I M-s-e-r = 1 besagt im Sinne von (7), daß der tempuslose Satzrest, d.h. die Proposition, relativ zu dem Modell M und den drei Reichenbach'sehen Zeiten wahr ist. Diese Verbindung des tempuslosen Satzrestes mit dem Modell und den Reichenbach'schen Zeiten impliziert automatisch, daß auch die Interpretationsfunktion I(p,e)= 1 gilt. Aus [p] M,s,e'r = 1 folgt also immer I(p,e)= 1; dieser Schritt wird in der Formalisierung aber der Einfachheit halber zumeist nicht explizit aufgeführt. In der Praxis können wir nun (8) wie folgt anwenden: Wenn beispielsweise in einer Äußerung wie Yesterday J. had a pizza at 12 o'clock von dem Zeitpunkt '12 Uhr mittags' die Rede ist, wäre '12:00' die Referenzzeit, und diese ist in dem mit yesterday bezeichneten Zeitraum enthalten. Da sich das Essen der Pizza aber nicht punktuell um zwölf Uhr vollzogen hat, müssen wir als Ereigniszeit ein Intervall zugrundelegen. Das eigentliche Essen der Pizza hat beispielsweise den Zeitraum von 12:00 bis 12:15 eingenommen: Die Ereigniszeit ist dann der Zeitraum von 12:00 bis 12:15.8 Der Zeitraum 'yesterday' definiert sich über dessen Beziehung zur Sprechzeit (Sprechzeit minus ein Tag), aber auch über dessen Beziehung zur Ereigniszeit und Referenzzeit, denn sowohl die Ereigniszeit als auch die Referenzzeit ist in dem durch yesterday gesetzten zeitlichen Rahmen enthalten. Zwischen der Referenzzeit '12:00' und der Sprechzeit besteht die Relation der Vorzeitigkeit im Sinne von r < s. ZwiNach Nerbonne wäre hier auch die Ereigniszeit als '12:00' darzustellen. Dies läßt aber den Unterschied zwischen der Referenzzeit als einen Betracht- und Orientierungspunkt und der Ereigniszeit als eigentlichem Wahrheitsintervall nicht deutlich werden.
30 sehen der Referenzzeit '12:00' und der Ereigniszeit '12:00 bis 12:15' liegt eine Relation der zeitlichen Überlappung vor, wobei die Referenzzeit '12:00' wahrscheinlich als der Initialzeitpunkt des Ereignisintervalls '12:00 bis 12:15' anzusehen ist. Die Bedingungen, unter denen der Satz Yesterday John had a pizza at 12:00 wahr ist, können nun wie folgt dargestellt werden: (9) [Past(Yesterday(J. have- a pizza))] M ' n o w ' 1 2 : 0 0 until 12:15 ' 12:00 =1 gdw. '12:00' < W und e='12:00 until 12:15' sowie '12:00'= [yesterday] M- now ' 12:00 until 12:15 ' 12:00 u n d [ J. have- a pizza] M ' n o w ' 1 2 : 0 0 until 12:15 ' 12:00 =1 sowie ferner I(J. have- a pizza, 12:00 until 12:15) =1. Nach (9) ist Past(Yesterday(J. have- a pizza)) relativ zu Modell M, der Sprechzeit 'now', der Ereigniszeit '12:00 until 12:15' und der Referenzzeit '12:00' genau dann wahr, wenn die Referenzzeit '12:00' vor der Sprechzeit 'now' liegt und die Ereigniszeit dem Intervall '12:00 until 12:15' entspricht. Des weiteren ist die Referenzzeit in dem Zeitintervall 'yesterday' enthalten, das sich relativ zu Modell M, der Sprechzeit 'now', der Ereigniszeit '12:00 until 12:15' sowie der Referenzzeit '12:00' definiert. Ferner ist die Proposition 'J. have- a pizza' relativ zu M, der Sprechzeit 'now', der Ereigniszeit '12:00 until 12:15' und der Referenzzeit '12:00' wahr, und das Wahrheitsintervall (im Sinne der Interpretationsfunktion (7)) von 'J. have- a pizza' entspricht dem Intervall '12:00 until 12:15'. 'J. have- a pizza' ist also relativ zu einem Modell M nur dann wahr, wenn die Ereigniszeit das Intervall '12:00 until 12:15' darstellt und von dem Zeitpunkt '12:00' als Referenzzeit die Rede ist, die vorzeitig zum Sprechzeitpunkt 'now' liegt, wobei sich die Referenzzeit innerhalb des mit yesterday bezeichneten Zeitintervalls befindet. Es wird im Einklang mit (7) sowohl die Formel Tempus(p) relativ zu s, e und r ausgewertet als auch die Proposition p (d.h. der tempuslose, atomische Satzrest). Die hier diskutierte Semantik stellt die Lokalisierung der drei Reichenbach'sehen Zeiten, wie sie durch Tempora ausgedrückt wird, als eine definite dar. Tempora sollen demnach den definiten Verweis auf die Position der drei Zeiten als Teil ihres Bedeutungsgehalts ausdrücken. Die Argumentation beginnt diesbezüglich in der Regel mit der Begründung der définit lokalisierten Referenzzeit (vgl. z.B. Bäuerle 1989, Kratzer 1978, Dowty 1982, Nerbonne 1984 und Hamann 1987 / 1989 / 1991). So vermögen wir z.B. den Wahrheitswert der obigen Aussage Yesterday John had a pizza nur dann eindeutig festzulegen, wenn wir wissen, von welcher Zeit innerhalb des Zeitraums 'yesterday' die Rede ist. Wenn z.B. die Äußerung Yesterday John had a pizza derart zu bewerten ist, daß John am vorhergehenden Tag zum Mittagessen eine Pizza aß, zum Abendessen jedoch etwas anderes, ist dieselbe Aussage, welche im Hinblick auf das Gesprächsthema 'unser gestriges Mittagessen' wahr ist, in solchen Kontexten falsch, in denen wir uns über das gestrige Abendessen unterhalten. In der Folge von Partee (1973) sehen die oben erwähnten Autoren daher die Notwendigkeit, der wahrheitssemantischen Auswertung von Aussagen neben der eigentli-
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chen Ereigniszeit (und der Sprechzeit) eine weitere Zeit zugrundezulegen, deren zeitliche Position den Wahrheitswert der Aussage beeinflußt. Diese weitere Zeit vermögen wir mit Reichenbachs Referenzzeit gleichzusetzen (vgl. hierzu Nerbonne 1984: 3 ff.). Sie entspricht jener Zeit, welche allen Diskursteilnehmern in einer Äußerungssituation bekannt ist und von welcher in einer Aussage die Rede ist. Diese Zeit kann mit der Ereigniszeit oder mit einer durch Adverbialen gesetzten Zeit identisch sein, sie muß es aber nicht, wie z.B. (9) zeigte. Da der Zuhörer oder der Rezipient eines Textes in der Regel jene Zeit, von der in einem Satz die Rede ist, eindeutig identifizieren kann, wird auch gesagt, daß diese Zeit définit lokalisiert ist. Wir sprechen daher von einer "definiten" Interpretation (vgl. z.B. Nerbonne 1984: 11, vgl. auch z.B. Allen 1966: 15ff„ McCoard 1978: 77ff„ Quirk et al. 1985: 183-184 und Partee 1973). Zeitliche Definitheit wird z.B. bei Nerbonne als Teil der Semantik der Tempora dargestellt. Nach Kratzer, Bäuerle und Nerbonne ist auch die Sprechzeit définit lokalisiert (vgl. auch Kamp 1971). So mag eine Aussage wie Yesterday I went to the cinema heute gesprochen wahr sein, morgen aber eine Lüge. Der Wahrheitswert der Aussage hängt somit von der Lokalisierung der Sprechzeit ab; das Simple Past verweist hier, genauso wie das Adverbial yesterday, auf eine définit lokalisierte Sprechzeit. In Verbindung mit Once I went to the cinema hingegen besteht diese Abhängigkeit des Wahrheitswertes von der Position der Sprechzeit nicht: Die Aussage ist immer wahr, vorausgesetzt, ein entsprechendes Ereignis hat irgendwann einmal in der Vergangenheit stattgefunden. Es kommt im letzten Beispiel somit Nerbonne zufolge indefinite zeitliche Lokalisierung der Sprechzeit zum Ausdruck, die allerdings als markierte Variante zeitlicher Bezugnahme angesehen wird. Schließlich möchte zumindest Nerbonne, im Gegensatz zu Bäuerle, Kratzer und von Stechow (1988), neben der Referenzzeit und der Sprechzeit auch die Ereigniszeit als normalerweise définit lokalisiert aufgefaßt wissen. Dadurch wird Nerbonnes Meinung nach der Tatsache Rechnung getragen, daß in Verbindung mit einem Past Perfect wie in Ed had lost and was in a bad mood die Ereigniszeit von 'E. loose-' définit lokalisiert erscheint, weil sie (a) zu einem bestimmten Ereignis gehört, weil sie (b) in einer eindeutigen zeitlichen Positionierung zu 'E. be- in a bad mood' steht und (c) auch nach unseren oben diskutierten Kriterien als définit lokalisiert anzusehen ist (Nerbonne 1984: 27 ff.). Die indefinite Lokalisierung der Ereigniszeit, wie sie z.B. in John had never won a tennis-match before zum Ausdruck kommt, wäre hingegen wieder als markierter Kontext zu klassifizieren; zeitliche Indefinitheit ist beim letzten Beispiel, wenn wir Nerbonnes Argumentation folgen, dem semantischen Gehalt von never zuzuschreiben, nicht aber der Bedeutung des Tempus. Der Verweis auf die definite Lokalisierung der Ereigniszeit gehört somit Nerbonnes Konzeption zufolge ebenso zum Bedeutungsgehalt der Tempora, wie der definite Bezug auf die Position der Referenz- und der Sprechzeit. Fabricius-Hansen (1989) kritisiert in diesem Zusammenhang allerdings, daß der Begriff der zeitlichen Definitheit bei Nerbonne (ihrer Meinung nach) überstrapaziert wird. Da in einer textuellen Verzeitungsstruktur in der Regel auch die Position der Ereigniszeit als eindeutig gegeben vorausgesetzt wird und ihre definite Identifikation die Wahrheitsbedingungen einer Aussage ähnlich der definiten Referenz- und Sprechzeit beeinflußt (siehe oben), wollen wir trotzdem Ner-
32 bonnes Sichtweise folgen. Indefinite zeitliche Interpretation der Ereigniszeit wird an späterer Stelle als Anwendung bestimmter (spezifischer) pragmatischer Prinzipien dargestellt werden. Wir kommen hierauf in Abschnitt 2.3 zurück. Wir können also davon ausgehen, daß Tempora im textuellen Kontext normalerweise im obigen Sinne definit referieren. In Verbindung mit einer Erzählfolge wie Last month I went to Munich where I met an old friend of mine and we both went to the 'Oktoberfest' ist die natürlichste Deutung diejenige, in der sich die Tempora jeweils auf eine bestimmte Referenzzeit beziehen, die sich im Hinblick auf den textuellen Kontext eindeutig identifizieren läßt. Der definite Charakter der zeitlichen Lokalisierung äußert sich allein schon dadurch, daß sich zwischen den drei geschilderten Gegebenheiten eine eindeutige zeitliche Beziehung rekonstruieren läßt. Indefinite zeitliche Referenz würde hingegen bedeuten, daß eine Gegebenheit "irgendwann einmal", entweder innerhalb eines größeren Zeitraumes oder überhaupt stattgefunden hat. Derartige zeitliche Lokalisierung kommt in Texten in eher markierten Kontexten vor, so z.B. in Texteinleitungen im Sinne von 'once upon a time'. In Verbindung mit einem Satz wie At least once John got thrown out of class during his high-school years wird die Gegebenheit 'J. get- thrown out of class' beispielsweise indefinit innerhalb des Zeitraumes 'J.'s high-school years' lokalisiert. Auch in Verbindung mit einem Present Perfect wie in I have been to England before kann eine Gegebenheit indefinit im Sinne von 'at least once' zeitlich eingeordnet werden. Meist wird indefinite zeitliche Lokalisierung explizit durch das Adverbial once gekennzeichnet, was ihren markierten Charakter untermauert. Ein häufig in textuellen Kontexten auftretender Vorgang ist die erst im Laufe der Rezeption des weiteren textuellen Zusammenhangs erfolgende definite Verankerung zunächst indefinit lokalisierter Zeiträume. Dies können wir z.B. anhand des folgenden Textausschnitts nach vollziehen: (10) (a) On some nights, New York is as hot as Bangkok, (b) The whole continent seems to have moved from its place and slid nearer to the equator, the bitter gray Atlantic to have become green and tropical, and the people, thronging the streets, barbaric fellahin among the stupendous monuments of their mystery, the lights of which, a dazing profusion, climb upward endlessly into the heat of the sky. (c) On such a night, Asa Leventhal alighted hurriedly from a Third Avenue train. [...] (Saul Bellow: The Victim, S, 11).
In (a) wird eine Menge von Zeiten, die durch on some nights bezeichnet sind, eher indefinit lokalisiert, aber im weiteren Verlauf des Textes fungiert eine dieser Zeiten als definiter Ausgangspunkt einer Handlungsfolge. So identifiziert in (10c) das Adverbial on such a night in definiter Weise eine der Zeiten, die durch on some nights in (10a) zunächst indefinit lokalisiert wurden. Eine derartige "nachträgliche" definite Identifikation eines Zeitraumes liegt auch Aussagen wie J. went to England once and three weeks later got seriously ill zugrunde: once lokalisiert eine Zeit zunächst indefinit, und three weeks later benutzt diese Zeit als definite zeitliche Verankerung, von der aus die Zeitspanne 'three weeks' gezählt wird.
33 Wir sehen auch hier, daß indefinite Lokalisierung meist durch Adverbiale wie once oder des Typs at some time zu explizieren ist. Für derartig modifizierte Aussagen lassen sich die folgenden Wahrheitsbedingungen formulieren (vgl. Nerbonne 1984: 20): (11)
[once(p)l M , s , e , r =1 gdw. 3e' (e' s e) und [ p ]
M e
- '- r =1
Die Formel (11) besagt, daß once(p) relativ zu M, s, e und r genau dann wahr ist, wenn zusätzlich zu s, e und r mindestens eine Zeit e' existiert. Dies ist durch die Bindung von e' an den Existenzquantor in der Form 3 e' dargestellt. Für e' gilt nun e' £ e, was bedeutet, daß e' entweder in der Ereigniszeit e enthalten oder mit e identisch ist. Ferner gilt [ p ] M , e ,r = 1. Letzteres besagt, daß die Proposition p nicht mehr im Hinblick auf die ursprünglichen, definiten Indizes e und r wahr ist, sondern relativ zu e' und r. Dies bedeutet, daß die geschilderte Gegebenheit nicht mehr an der bei Nerbonne per definitionem definit lokalisierten Reichenbach'sehen Ereigniszeit e stattfindet, sondern an der indefinit lokalisierten Zeit e'. Dabei können auch mehrere Zeiten e' vorhanden sein (denn der Existenzquantor in 3 e' besagt, daß mindestens eine Zeit e' existiert). Die in (11) dargestellten Wahrheitsbedingungen liegen nach Nerbonne auch indefiniten Aussagen zugrunde, in welchen die Indefinitheit nicht explizit durch once gekennzeichnet ist. Die Darstellungsweise der temporalen Bedeutungen nach den Formeln aus (6) bis (11) ist in späteren Ansätzen dahingehend modifiziert worden, daß die Proposition p nur noch relativ zur Ereigniszeit e und zur Referenzzeit r ausgewertet wird, die Formel Tempus(p) jedoch relativ zu s und r. Es gilt also jeweils [Tempus(p)]M,sr=1 Mre Ms er gdw.... i(p)] ' ' = 1 anstatt [Tempus(p)] = 1 gdw. ... [(p)] M's'e'r= 1 (vgl. Hinrichs 1987 und die Diskussion in Herweg 1990: 118 ff.). Dadurch soll hervorgehoben werden, daß durch die Tempusverzeitung primär die Lokalisierung einer Referenzzeit relativ zur Sprechzeit zum Ausdruck kommt, während sich der zeitliche Aufbau des durch die Proposition repräsentierten Ereignistyps hauptsächlich in einem spezifischen Verhältnis der Referenzzeit zur Ereigniszeit äußert. Weitere Modifikationen der ursprünglich bei Nerbonne gewählten Darstellungsweise betreffen die Reihenfolge, in der die drei Zeiten im Index als Parameter s, e und r genannt werden. Diese Reihenfolge 's vor e vor r' stellt nach Nerbonne eine Ordnung dar, die reflektiert, in welcher Abfolge die Zeiten lokalisiert werden. Während nun Nerbonne diesbezüglich die Reihenfolge s, e, r vorschlägt, legen spätere Ansätze s, r, e zugrunde (z.B. Hinrichs 1987, vgl. Herweg 1990: 120ff.), weil die Tempora zuerst eine Referenzzeit in Beziehung zur Sprechzeit setzen und wir erst in einem weiteren Schritt eine Ereigniszeit in Beziehung zur Referenzzeit bringen (vgl. auch Schopf 1987 und Panitz 1994 für eine genauere Analyse dieses Lokalisierungsvorgangs). Wir gehen im folgenden von der modifizierten Darstellung s, r, e aus. Schließlich ist die bei Nerbonne (und z.B. auch bei Dowty 1986) in Anlehnung an Reichenbach in bezug auf die einfachen Tempora zugrundegelegte Relation e = r problematisch und entsprechend geändert worden (vgl. z.B. Hamann 1991, Partee
34 1984): Wenn z.B. in einem Satz wie At 8 o'clock John had breakfast das Zeitadverbial 5 o'clock auf eine punktuelle Referenzzeit verweist, kann die Referenzzeit nicht mit der intervallartigen Ereigniszeit identisch sein, wie es das Gleichheitszeichen suggerieren würde (vgl. auch (9)). Im Hinblick auf die einfachen Tempora müssen wir somit folgern, daß es bereits ausreicht, wenn die Referenzzeit die Ereigniszeit in mindestens einem Punkt überlappt, um die Aussage wahr zu machen; komplette Identität der beiden Zeiten ist aber nicht erforderlich. Wir wollen die obigen Modifikationen in der semantischen Analyse berücksichtigen. Für die Bedeutung des Simple Past erhalten wir dann beispielsweise die folgende Darstellung:
(12) Simple Past ([ Past(p) 3 M,s,r=1 gdw. |[ (p)l besteht, für die r überl e gilt.
M,r,e
=1 sowie r < s und zwischen r und e eine Relation Y
Es gilt nun [Past(p)] M,s'r = 1 gdw. [(p)]M'r'e = 1, wonach Past(p) im Hinblick auf das Modell M, die Sprechzeit s und die Referenzzeit r (nicht im Hinblick auf die Ereigniszeit) genau dann wahr ist, wenn die tempuslose Proposition relativ zum Modell, der Referenzzeit und der Ereigniszeit wahr ist (aber nicht im Hinblick auf die Sprechzeit). Ferner gilt für das Simple Past die Relation r < s. In bezug auf das Verhältnis zwischen der Referenzzeit und der Ereigniszeit legt das Simple Past die Relation r überl e ('Referenzzeit überlappt die Ereigniszeit') fest. Somit erscheint es unerheblich, ob die Referenz- und die Ereigniszeit als Punkte oder Intervalle definiert werden (auf dieses Problem kommen wir in 1.3 zu sprechen), und es entsteht kein Widerspruch zu Interpretationsweisen, wie sie unter (9) dargestellt sind. Die beiden Zeiten r und e müssen lediglich zu mindestens einem Punkt simultan liegen. Die recht vage Relation r überl e kann jedoch modifiziert oder spezifiziert werden, und zwar dann, wenn die pragmatische Einordnung von Äußerungen in ihren Kontext oder unser Weltwissen hinsichtlich der zeitlichen Konstitution bestimmter Ereignistypen dies nahelegt. In Analogie zu (12) lassen sich die Bedeutungen der übrigen einfachen Tempora darstellen. Weiterhin gilt jeweils r überl e. Es sind lediglich die Tempusoperatoren entsprechend auszutauschen und die Relation r zu s durch die jeweiligen Relationen, wie sie Reichenbach definiert hat, zu ersetzen. Im Falle des Simple Present (dargestellt als Pres(p)) ist dies s = r und im Falle des Simple Future (Fut(p)) ist es s < r. Den Perfekt-Tempora legen wir einen Perfekt-Operator zugrunde. Dieser Perfekt-Operator bewirkt, daß die Relationen r überl e der einfachen Tempora durch die Beziehung e < r ersetzt wird. Den Perfekt-Operator wollen wir wie folgt definieren:
35 (13) Perfekt-Operator [Perf(p)l Kr ' e =1 gdw. [ ( p ) l M'r'e=1 und e < r. Perf(p) ist also relativ zu Modell M, zur Referenzzeit r und zur Ereigniszeit e genau dann wahr, wenn die tempuslose Proposition relativ zum Modell, der Referenzzeit und der Ereigniszeit wahr ist und die Ereigniszeit vor der Referenzzeit liegt. Da die Perfekt-Komponente des Englischen nur die Beziehung zwischen der Referenzzeit und der Ereigniszeit spezifiziert, wird Perf(p) nicht relativ zu s und r, sondern wie der tempuslose Satzrest in bezug auf r und e interpretiert. Die obige Formel gilt für sich genommen z.B. im Hinblick auf den Infinitiv-Perfekt. In der Regel tritt jedoch die Perfekt-Komponente in Verbindung mit einem einfachen Tempus auf. Die Rolle des Perfekts ist dabei, die durch das Tempus festgelegte Beziehung zwischen r und e zu modifizieren. So stellen sich z.B. die Wahrheitsbedingungen des Past Perfect folgendermaßen dar: (14) Past Perfect [Past(Perf(p))]| M ' s ' r =1 gdw. [ Perf(p)J M'r'e=1, | ( p ) l M'r'e=1 und r < s sowie e < r. Past(Perf(p)) ist dabei in bezug auf das Modell M, die Sprechzeit s und die Referenzzeit r genau dann wahr, wenn Perf(p) relativ zum Modell, der Referenzzeit und der Ereigniszeit wahr ist und der tempuslose Satzrest ebenfalls im Hinblick auf das Modell, die Referenzzeit und die Ereigniszeit den Wahrheitswert 1 (= 'wahr') zugeschrieben bekommt. Durch den Past-Operator aus (12) wird die Relation r < s vorgeschrieben, und die Perfekt-Komponente ersetzt die Relationen r überl e aus (12) durch e < r. In Analogie hierzu können die Perfekt-Tempora des Present Perfect und Future Perfect dargestellt werden, wobei die kontextuelle Bedeutung jeweils derjenigen der zugehörigen einfachen Tempora entspricht: (15) Present Perfect [Pres(P6rf(p))l M,s,r=1 gdw. [ Perf(p)l M'r'e=1, [ (p)] M,r,e=1 und r = s sowie e < r. Future Perfect [Fut(Perf(p))] M,s>r=1 gdw. [ Perf(p)| M'r'e=1, [ (p)I M'r'e=1 und s < r sowie e > r.
36 Die Formeln unter (15) sind wie (14) zu lesen. Als Implikatur in Verbindung mit dem Future Perfect gilt zusätzlich zu der hier dargestellten Bedeutung, daß die Ereigniszeit posterior zur Sprechzeit liegt. So interpretieren wir eine Aussage wie Your books will have arrived tomorrow normalerweise derart, daß die Bücher zur Sprechzeit noch nicht eingetroffen sind. Wie bereits diskutiert, wollen wir Implikaturen nicht als Teil der Semantik, sondern der Pragmatik auffassen. Sie sind daher in (15) nicht berücksichtigt. Auf der Basis der Reichenbach'sehen Darstellungen sind auch die Future-in-thePast Tempora (he would go und he would have gone) als zusammengesetzte Tempora anzusehen. Das Future in the Past drückt nach Reichenbach die Relation r < e < s aus. Hier wäre die Anordnung eines Futur-Operators im Skopus des Past-Operators in der Form Past(Fut(p)) denkbar, wobei der Futur-Operator die Referenzzeit des PastOperators als Sprechzeit benutzt. In He said that he would go to Berlin tomorrow kann tomorrow beispielsweise entweder die Referenzzeit in der Zukunft zur "Sprechzeit" des eingebetteten Futurs lokalisieren oder in der Zukunft zur Sprechzeit des Simple Past he said. Rein modale Verwendungsweisen (Conditional I) von would+Verb in Form eines präsentischen Konditionals, wie z.B. in Wouldn't it be good to be in your shoes? oder I would like to go to the cinema now, würden durch eine solche Darstellung nicht erfaßt. Dem Future-in-the-Past Perfect können wir die zeitliche Relation r1 < e < r2 < s zuschreiben. Die Referenzzeit r 1 entspricht derjenigen des einfachen Future in the Past (sie kommt also der "Sprechzeit" des eingebetteten Futurs gleich), die zusätzliche Referenzzeit r2 ersetzt die Ereigniszeit des Future in the Past, und e ist durch das Perfekt vorzeitig zu r2 lokalisiert. Die entsprechende Konstellation in der semantischen Metasprache wäre als Past(Fut(Perf(p))) darstellbar. Dies gilt nur für die Verwendungsweise als ein Perfekt des Future in the Past, wie sie in He knew that they would have finished it three hours later zum Ausdruck kommt, nicht jedoch für eher modale Verwendungsweisen von would+have W-ed, wie sie im folgenden Beispiel zutage treten:
(16) (a) [...] Jurgis had noticed that the beautiful young girl who sat by the center table was listening with something of the same look that he himself had worn, the time when he had first discovered Socialism, (b) Jurgis would have liked to talk to her, he felt sure that she would have understood him. (c) Later on in the evening, when the group broke up, he heard Mrs. Fisher say to her, in a low voice, "I wonder if Mr. Maynard will still write the same things about Socialism", to which she answered, "I don't know—but if he does we shall know that he is a knave!" (Upton Sinclair: The Jungle, S. 338)
Hier stellt beispielsweise would have liked nicht das Perfekt eines Future in the Past dar, sondern die Vergangenheitsform eines präsentischen, rein modalen Konditionals des Typs Jurgis would like to talk to her (dies entspricht dem präsentischen Konditional I would like to go to the cinema now oben). Auf weitere Formalisierungen des Future in the Past und Future-in-the-Past Perfect sei hier verzichtet. Eine Implikatur ließe sich für das Future in the Past beispielsweise
37 dahingehend formulieren, daß die Ereigniszeit vor der Sprechzeit liegt. Diese Implikatur wäre jedoch bereits dann aufgehoben, wenn He said that he would leave tomorrow dahingehend zu deuten ist, daß die fragliche Person einen Tag nach der Sprechzeit des Simple Past he said abzufahren gedenkt. Auch adverbiale Bedeutungen lassen sich in dem weiterentwickelten indexikalischen Rahmen darstellen. Bei der Modifikation einer Aussage durch ein sprechzeitorientiertes Rahmenadverbial gilt beispielsweise, daß die Referenzzeit in dem durch das Rahmenadverb bezeichneten Zeitraum enthalten ist: (17) Temporaladverbial (sprechzeitorientiertes Rahmenadverbial) I Adv(p)l M,s>r=1 g dw. |[(p)] M>r'e=1 und r
AdvJ
Msr
''.
Wir gehen dabei in (17) davon aus, daß Adv für ein lokalisierendes Adverbial steht, welches auf die zeitliche Lokalisierung mit den Sprechzeit als Ausgangspunkt verweist, wie z.B. yesterday. Theoretisch kann die Referenzzeit mit der durch das Adverbial bezeichneten Zeit identisch sein, sie kann aber auch lediglich einen Teil dieser Zeit darstellen. Es gilt daher in (17) die Bedingung r g [Adv] M,s,r, d.h. die Referenzzeit ist in der durch das Adverbial bezeichneten Zeit enthalten oder identisch mit dieser. Da es auch Adverbiale gibt, welche die zeitliche Lokalisierung einer Ereigniszeit relativ zur Referenzzeit durchführen, wie z.B. 50 years earlier, müßten wir für einige Adverbiale eine wahrheitssemantische Auswertung in bezug auf die Parameter der Referenzzeit und der Ereigniszeit zugrundelegen. Es würde für derartige Adverbiale also [Adv(p)] M'r'e gelten. Dies bedeutet, daß wir hier die durch ein Adverbial modifizierte Aussage in bezug auf das Modell, die Referenzzeit und die Ereigniszeit auswerten. Die oben skizzierte Semantik vermag somit sowohl die primären Bedeutungen der Tempora in Reichenbachs Sinn als auch einige adverbiale Bedeutungen in einem wahrheitssemantischen Rahmen darzustellen. Nicht in vollständiger Weise darstellbar sind indes sekundäre Bedeutungskomponenten, wie sie z.B. beim futurischen Gebrauch des Simple Present nach dem Muster The plane to Ankara leaves at 8 o'clock tomorrow morning zum Ausdruck kommen: Die Gegebenheit 'the plane ... leave-' wird hier als unumstößliche Planung beschrieben. Derartige Bedeutungen vermag die obige Darstellungsweise nicht zu erfassen, sie vermag jedoch grundlegende zeitliche Relationen aufzuzeigen, aus denen sich die sekundären Bedeutungen in irgendeiner Form ableiten lassen. In bezug auf den futurischen Gebrauch des Simple Present könnte dies sich z.B. derart darstellen, daß die gemeinsame Bedeutungskomponente der primären Reichenbach'sehen Bedeutung s = r = e mit der sekundären Bedeutung des Zukunftsbezugs die Gleichzeitigkeit der Referenzzeit mit der Sprechzeit s = r ist. Für den futurischen Gebrauch würde dann s = r < e gelten, wobei sich
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der Charakter des mit e verbundenen Ereignisses als unumstößliche, konkrete Planung in der Simultaneität der Sprechzeit mit der Referenzzeit, also mit der Betrachtperspektive, von der aus die Planung vorgenommen wird, äußert. Wir werden auf sekundäre Bedeutungen dort eingehen, wo sie zur Beschreibung textueller Interpretationsmuster relevant erscheinen. Eine ausgearbeitete Aspekt- und Aktionsartsemantik hätte im Gegensatz zu der obigen Skizzierung temporaler Bedeutungszuweisungen auch zu beschreiben, wie z.B. in Verbindung mit den einfachen Tempora die vage Relation r überl e unter Vorliegen bestimmter Propositionen (d. h. bestimmter Ereignistypen) oder aspektueller Formen, wie dem Progressive, spezifiziert wird. Wir werden auf das Problem der aspektuellen Bedeutungszuweisungen im folgenden Abschnitt zu sprechen kommen.
1.3 Referenzzeit und Textpragmatik nach bisherigen Ansätzen Im Lichte der obigen Semantik stellt sich das Verhältnis zwischen Semantik und Pragmatik wie folgt dar: Die semantisch zu beschreibende Bedeutung der Tempora ist der Verweis auf die Bezugsparameter der Sprechzeit, der Referenzzeit sowie der Ereigniszeit, die zueinander in den oben ausformulierten Beziehungen stehen, und die Rekonstruktion der Relationen von Referenzzeiten und Ereigniszeiten zueinander auf der Textebene unterliegt pragmatischen Prinzipien des zeitlichen Textaufbaus. Die Verwendung temporaler Elemente hinsichtlich dieses Textaufbaus folgt pragmatischen Prinzipien des Gebrauchs dieser Elemente. Diese Prinzipien sagen aus, ob es angebracht erscheint, in einem jeweiligen Kontext eine bestimmte temporale Form zu benutzen oder ob nicht. Die pragmatisch konventionalisierte Verwendung bestimmter Tempora im Hinblick auf die Konstitution einer bestimmten Art von Kontexten ist in der Regel mit dem semantischen Gehalt dieser Tempora kompatibel, es ist jedoch denkbar, daß z.B. bei stilistisch markierten Verwendungsweisen auch Widersprüche zwischen semantischem Gehalt und pragmatisch motivierter Verwendungsweisen auftreten. Die aus einer Pragmatik im obigen Sinne und der erweiterten Reichenbach-Semantik resultierenden formalen Darstellungen weisen in bezug auf eine einfache Erzählfolge beispielsweise die folgende Form auf: (18)
Objektsprachliches Beispiel: I lost my wallet and couldn 't pay the waiter.
Semantik: (a) [Past(I lose- my wallet)! s,r = wahr gdw. rrj
Die Referenzzeiten der beiden in dem objektsprachlichen Beispiel in (18) enthaltenen Ereignisschilderungen werden unter Anwendung eines Chronologieprinzips (das noch zu formalisieren wäre) in die chronologische Anordnung gebracht. Das Chronologieprinzip schreibt vor, daß die Abfolge der Verweise auf Referenzzeiten im Text (recii-Abfolge) ikonisch mit der Abfolge der Referenzzeiten in unserer konzeptualisierten Wirklichkeit (/zwioi're-Anordnung) übereinstimmt. Der Unterschied zwischen Referenz- und Ereigniszeiten ist im Hinblick auf die chronologische Interpretation relevant. So ist die zeitliche Begrenzung des Ereignisintervalls von 'I can't pay the waiter' beispielsweise vage. Primär relevant sind hier vielmehr die Abfolgen der Betrachtperspektiven, aus welchen die beiden geschilderten Gegebenheiten gesehen werden. Diese Betrachtperspektiven entsprechen den Referenzzeiten, nicht den Ereignisintervallen. Der Unterschied zwischen Referenz- und Ereigniszeiten ist somit auch in Verbindung mit den einfachen Tempora im Hinblick auf die textuelle Verzeitung ein sehr relevanter Faktor. Die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen Referenz- und Ereigniszeiten wird auch dadurch deutlich, daß im Gegensatz zu den Simple-Past Formen in (18) unter Verwendung bestimmter zeitlicher Elemente (z.B. des Infinitiv-Perfekts) eindeutig Ereigniszeiten in eine chronologische Beziehung zueinander gebracht werden, nicht aber Referenzzeiten, wie das folgende Beispiel zeigt: (19) Objektsprachliches Beispiel: To have lost his wallet and to have been kicked out by the waiter was too much for John.
Semantik: (a) [Perf(J. lose- his wallet)] r'e = wahr gdw. e r (b) und der Referenzzeitpunkt r steht mit der intervallartigen Ereigniszeit e jeweils in folgender Beziehung: (I) r = e oder (II) Rel(r,e), wobei Rel(r,e) gdw. ((r e) A (r 0 e)) v (r c pf e), sowie (r < e) v (r > e) für Accomplishments und Achievements. Die erweiterte Reichenbach-Pragmatik (30) wollen wir als ein Default-Prinzip textueller Verzeitung auffassen. Dies bedeutet, daß zwar die hier angegebenen Relationen normalerweise der Verzeitungsstruktur eines Textes zugrundegelegt werden, aber in bestimmten Kontexten Teile aus (30) oder auch (30) als Ganzes suspendiert werden. Im Hinblick auf eine zusammenhängende Textpassage gilt nach (30) im allgemeinen r(a) -i > rß). Wir folgen hierin Nerbonne (1984: 23 / 1986), der diesen Teil des Prinzips als "Reichenbach 's Pragmatics" in ähnlicher Form eingeführt hat. Die obige Relation besagt, daß die Referenzzeit einer Ereignisschilderung (a) nicht später als diejenige der auf (a) folgenden Ereignisschilderung (b) positioniert ist. Damit erfassen wir die beiden grundlegenden Verzeitungsmuster narrativer Texte: Die recit-Abfolge sprachlicher Verweise auf Referenzzeiten durch die Schilderungen (a) und (b) stimmt ikonisch mit der histoire-Abfolge der Referenzzeiten überein; es gilt also in der Regel r(a) < r(b). In einigen Kontexten, z.B. wenn (b) eine Zustandsschilderung ist, bleibt die Referenzzeit, auf welche (a) und (b) verweisen, dieselbe; es gilt dann r(a) = r(b). Dies haben bereits die im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Ansätze erfaßt. Die Formel r(a) -> > r(b> läßt in diesem Sinne sowohl r(a) < r(b) als auch r(a) = r(b) zu. Eine Interpretation in der Form r(b) < r(a) wäre somit als nicht-narrativ zu klassifizieren; die ihr zugrundeliegende Interpretation folgt anderen Prinzipien als (30). Letzteres würde auf Satzfolgen nach dem Muster Jack died. John killed him zutreffen; das Prinzip (30) erscheint in diesem Fall suspendiert. Auch dies ließ sich aus den bereits diskutierten Ansätzen zur Textpragmatik folgern. Unter (I) und (II) sind in (30) nun diejenigen zeitlichen Beziehungen aufgeführt, welche wir normalerweise dem Verhältnis der Referenzzeit zur Ereigniszeit einer
53 Ereignisschilderung zugrundelegen und deren Erfassung in dieser Form über die bisherige Darstellungen hinausgeht. Die Relation rG e besagt in (30.1), daß die punktartige Referenzzeit immer in dem Ereignisintervall enthalten ist, aber beide Zeiten identisch sein können, wenn die Ereigniszeit ebenfalls ein Punkt ist. (30.11) sagt in einem abstrakteren Sinne aus, daß zwischen dem Referenzpunkt r und dem Ereignisintervall e eine Relevanzrelation besteht, dargestellt durch Rel(r,e). Dabei kann die Referenzzeit im Sinne von (28) der Initialzeitpunkt des Ereignisintervalls ((r e) A(r0 e)). Des weiteren besteht die Möglichkeit, daß in Verbindung mit der Relevanzrelation (II) die zeitliche Inklusion r e pf e vorliegt. Diese Inklusionsbeziehung ist im Falle von (30.11) im Gegensatz zu (30.1) nun so zu verstehen, daß sie einer zeitlichen Perspektivierung gleichkommt, in welcher das Ereignis in einem Referenzpunkt in perfektiver Weise "zusammengefaßt" gesehen wird, d.h., daß die Referenzzeit im oben erläuterten Sinne "stellvertretend" für das Ereignis steht. Wenn die Interpretation einer Ereignisschilderung im Sinne von (I) nicht möglich ist, muß zumindest (II) zutreffen, wenn es sich nicht um einen besonders markierten Kontext handeln soll. In Verbindung mit Accomplishments und Achievements können nach (II) auch die Relationen r < e und r >e zum Tragen kommen. Dies bedeutet, daß der Referenzpunkt vorzeitig oder gleichzeitig bzw. nachzeitig oder gleichzeitig zum Ereignisintervall plaziert ist. Die Referenzzeit kann hiernach also auch außerhalb der eigentlichen Ereigniszeit liegen, wobei jedoch zwischen der Referenzzeit und der Ereigniszeit eine Relevanzbeziehung im Sinne von (II) besteht. Dies bedeutet, daß eine solche Relevanzbeziehung unter Umständen in Verbindung mit Accomplishments und Achievements auch dann noch zugrundegelegt werden kann, wenn die Referenzzeit, welche im Hinblick auf einen diskursiven Zusammenhang relevant wird, nicht innerhalb des Ereignisintervalls der zugehörigen Gegebenheit liegt. In When they built the sewageplant, they threw a big opening-party beispielsweise ist in bezug auf den diskursiven Kontext ein Zeitpunkt relevant, der nachzeitig zu der Gegebenheit 'they build- the sewage-plant' liegt, nämlich derjenige Zeitpunkt, an welchem die Eröffnungsparty gefeiert wird. Sowohl Accomplishments als auch Achievements sind Ereignisse, deren Stattfinden das Vorliegen eines Vorzustands zu dem eigentlichen Ereignis und die Existenz eines Nachzustands impliziert, wobei der Nachzustand durch das Stattfinden der Gegebenheit herbeigeführt wird. In Verbindung mit dem Accomplishment 'I go- to the Station' beispielsweise wird der Vorzustand 'I not be- at the Station' durch das Stattfinden der Gegebenheit in den Nachzustand 'I be- at the Station' überführt. Für den diskursiven Zusammenhang kann nun auch eine Referenzzeit relevant erscheinen, die innerhalb des Vor- oder des Nachzustands und somit außerhalb des eigentlichen Ereignisverlaufs liegt. In I hurried down to the Station where I met an old friend ofmine läßt beispielsweise die zweite Satzhälfte im Hinblick auf 'I hurry- down to the Station' eine Referenzzeit relevant werden, die innerhalb des Ereignisintervalls des Nachzustandes von 'I hurry- down to the Station' positioniert ist. Es sei noch angemerkt, daß (30), trotz seiner elaborierten Darstellung der Beziehung von r zu e, nicht der den einfachen Tempora in der erweiterten Reichenbach-
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Semantik aus 1.2 zugrundegelegten Relation r überl e widerspricht: Prinzip (30) sagt lediglich aus, daß wir bei der Interpretation eines Textabschnitts, von dem wir annehmen, daß er zeitlich zusammenhängend erscheint, den Ereignisschilderungen nicht in absoluter Weise jeweils r überl e zugrundelegen, sondern in der Regel diese Relation im Sinne des obigen Prinzips modifizieren. Wenn wir also im Hinblick auf die Interpretation eines zusammenhängenden Textes von (30) ausgehen, widerspricht dies nicht der Tatsache, daß wir der Interpretation einer Tempusform in Isolation lediglich die in der Semantik festgelegte Relation r überl e zuschreiben. Zusammengefaßt gesehen, sind nach (30) die folgenden Positionierungen der Referenzzeit relativ zur Ereigniszeit festgelegt: (31) Mögliche Positionierungen der Referenzzeiten nach (30):
= nach (30.1)
= nach (30.11) = weitere theoretische Möglichkeiten, die nicht durch (30) nahegelegt werden
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Man beachte im Hinblick auf diese vielfältigen Möglichkeiten der Positionierung einer Referenzzeit relativ zur Ereigniszeit insbesondere die folgenden, teilweise bereits in ähnlicher Form diskutierten Beispiele: (32)
Somebody had breakfast at 8 o'clock. (Schopf 1987: 182)
(33)
When they built the bridge, they made several geological surveys. (Hamann 1991)
(34)
John was very excited when he went to America.
(35a)
From the eighteenth century on, great private palaces went up.
(35b)
Until that meeting, most of us knew very little about him. (COBUILD, S. 278)
Wie bereits erwähnt, ist im Hinblick auf (32) gemäß der in (31) illustrierten zeitlichen Anordnungen eine durch das Zeitadverb at 8 o'clock gesetzte Referenzzeit der Initialzeitpunkt des eigentlichen Ereignisintervalls von 'somebody have- breakfast'. In der Regel gehen wir davon aus, daß der Referenzpunkt hier tatsächlich den Anfangspunkt des Ereignisintervalls darstellt, nicht jedoch vollständig vor dem Beginn des Ereignisintervalls plaziert ist. In (33) bezieht sich der Hauptsatz they made several geological surveys hingegen auf eine Zeit, die vorzeitig zu dem eigentlichen Ereignisintervall des im temporalen Nebensatz geschilderten Accomplishments 'they build- the bridge' liegt. In bezug auf 'they build- the bridge' in Kontext (33) wird somit eine Referenzzeit relevant, die vorzeitig zum Ereignisintervall dieser Gegebenheit positioniert ist. Es wird deutlich, daß die Referenzzeiten, mittels derer auf Ereignisse Bezug genommen wird, nicht unbedingt in einer derart engen zeitlichen Relation zum Verlaufsintervall des Ereignisses stehen müssen, wie sie eine zeitliche Inklusion darstellt. Die Beziehung zwischen der Referenzzeit und der Ereigniszeit kann vielmehr auch abstrakterer Natur sein und sich erst aus der Relevanz ergeben, die einem bestimmten Zeitpunkt im Hinblick auf einen Ereignisverlauf nach vollständiger Interpretation eines Kontextes zugeschrieben wird. Dabei können auch Zeitpunkte aus Vorzustands- und Resultatsphasen von Ereignissen als Referenzzeiten Relevanz erlangen. 2 Wenn wir die Beziehungen zwischen Referenzzeiten und Ereigniszeiten als Relevanzbeziehungen im obigen Sinne verstehen, könnte man in bezug auf (34) ebenfalls davon ausgehen, daß der Zustand 'J. be- excited' zu einer Referenzzeit Relevanz erlangt, die vorzeitig zu dem Ereignisintervall von 'J. go- to America' liegt. 'J. go- to America' orientiert sich also an einer Referenzzeit, die vorzeitig zum eigentlichen Ereignis 'go- to America' plaziert ist. In der Interpretation einer Äußerung wie (35a) Dies entspricht in etwa auch der Auffassung von aspektueller Perspektivierung, wie sie insbesondere von Johnson (1981) formuliert wird und die implizit auch Hopper (1979) oder Timberlake (1982) vertreten. Johnson bemerkt hierzu (1981: 152): "Verb aspect involves reference to one of the temporally distinct phases in the evolution of an event through time. The key point here is that an event is said to evolve through a series of temporal 'phases'. [...] The aspect of a verb [...], then, is whatever determines whether the verb refers to the time of the whole event itself, or to its coming about, or to the subsequent state."
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würden wir den Initialzeitpunkt der durch das Simple Past lokalisierten Gegebenheit 'great private palaces go- up' als Referenzpunkt betrachten, auf welchen hier durch die Präpositionalphrase from the eighteenth Century on verwiesen wird, und in (35b) fungiert der Finalzeitpunkt der Gegebenheit 'most of us know- very little about him' als Referenzzeit, auf welche sich die temporale Präpositionalphrase until that meeting bezieht. Der Referenzpunkt steht in sämtlichen der obigen Beispiele, ungeachtet der hier illustrierten unterschiedlichen Möglichkeiten seiner Positionierung relativ zur Ereigniszeit, immer in enger Verbindung mit der Ereigniszeit: Es lassen sich nur schwer Beispiele finden oder konstruieren, in denen in einem einfachen Aussagesatz, ohne PerfektTempora, ohne die Hinzufügung eines temporalen Nebensatzes oder das Vorliegen eines sehr spezifischen textuellen Kontextes, der Satz dahingehend interpretiert wird, daß die Referenzzeit außerhalb und völlig getrennt von der Ereigniszeit liegt (ein derartiges Beispiel werden wir weiter unten diskutieren). In diesem Sinne müssen wir die Relation r £ e in (30.11) von der reinen Nachzeitigkeit der Referenzzeit zur Ereigniszeit r > e unterscheiden, die der Perfekt-Operator ausdrückt, und analog hierzu differenzieren wir in dem hier vertretenen Ansatz zwischen der "strengen" Vorzeitigkeitsrelation < und der "schwachen" Vorzeitigkeit < . Unsere Darstellung (30.11) erlaubt es uns, hinsichtlich der Beziehungen zwischen r und e, wie sie in Verbindung mit Ereignissen von komplexer interner Verlaufsstruktur auftreten, zu differenzieren, r £ e und r s pf e entsprächen der eigentlichen Inklusion (z.B. r e im Falle von Becker wins the tennis-match oder r 9 e bei partikularisierenden Ereignisbeschreibungen, in denen der Ereigniszeit des übergeordneten Ereignisses durch die Erwähnung eines partikularisierenden Ereignisses eine Referenzzeit zugewiesen wird). Die Formeln r e oder sogar r > e plaziert werden (vgl. 30.11), mag das folgende Beispiel dienen (zit. bei Nerbonne 1986: 92-93):
57 (36) (a) It was eventually arranged that for the present Babun should live in the house while he put up another house for himself and Punchi Menika. (b) Silindu took no part in the discussion, (c) After Karlinahami intervened, he became silent. (L. Woolf: The Village in the Jungle, Oxford University Press 1981: 37-38)
Hier wird das Ereignis '[Silindu] become- silent' aus der Sicht einer Referenzzeit perspektiviert, die mit dem Zustand 'Silindu take- no part in the discussion' in Verbindung steht. Dieser Zustand resultiert aus dem Ereignis '[S.] become- silent'. Die Gegebenheit 'it be- eventually arranged' liegt innerhalb der Ereigniszeit dieses Resultatszustands. In bezug auf den Hauptsatz he became silent in (c) bieten sich drei Darstellungsweisen der Verzeitungsstruktur an: (i): Der Zeitpunkt des Stattfindens der eher perfektiv und punktuell konzeptualisierten Gegebenheit 'it be- eventually arranged' fungiert als die im Hinblick auf diesen Textausschnitt relevante Referenzzeit r1. Dies entspräche in bezug auf (c) der Relation r1 >e(he became silent) oder gar r1 > e(he became silent), denn die durch It was eventually arranged etablierte Referenzzeit r 1 ist nachzeitig zu der Ereigniszeit von '[S.] become- silent' lokalisiert. Diese von uns als r1 bezeichnete Referenzzeit scheint für die Lokalisierung des Ereignisses '[S.] become- silent' relevant zu sein, weil das Ereignis, wie der gesamte Textabschnitt, aus der Perspektive von r1 gesehen dargestellt wird. Man beachte, daß r1 zwar vor dem Ereignis '[S.] become- silent' in den Diskurs eingeführt wird, aber in der Verzeitungsstruktur nachzeitig zu ihm liegt. (ii): Als detailliertere Darstellung könnten wir die (36) zugrundeliegende Verzeitungsstruktur derart aufbauen, daß he became silent eine zweite Referenzzeit r2 etabliert, die vorzeitig zu r1(It was eventually arranged) liegt. Es gilt nun in bezug auf (c) primär r2 = e(he became silent), wobei r1 > e(he became silent) zwar ebenfalls gefolgert werden kann, aber nur von untergeordneter Bedeutung erscheint. Die zeitliche Anordnung r2 = e(he became silent) würde der Semantik des Simple Past nach Reichenbach (vgl. (3)) entsprechen. Diese zeitliche Anordnung wäre im Kontext (36) jedoch höchstens von untergeordneter Wichtigkeit und sprachlich nicht direkt nachweisbar. Dagegen läßt sich die Annahme einer im Hinblick auf den Hauptsatz von (c) primär relevanten Interpretation im Sinne von r1 > e(he became silent) dadurch untermauern, daß die Verwendung des Past Perfect [...] he had become silent hier die Verzeitungsstruktur nicht ändern würde. Dabei bringt das Past Perfect in eindeutiger Weise eine Relation im Sinne von r > e zum Ausdruck. Weil der Kontext somit offensichtlich für die Verwendung des Past Perfect prädestiniert ist, zeigt sich in bezug auf das Simple Past he became silent eine sehr starke Tendenz, pragmatisch die Relation r = e zugunsten von r > e zu suspendieren. (iii): Zusätzlich lokalisiert After Karlinahami intervened eine weitere Referenzzeit, welche vorzeitig zu der Ereigniszeit von '[Silindu] become- silent' liegt. Die dritte Möglichkeit wäre also, r(Karlinahami intervened) < e(he became silent) als primär relevante Relation zugrundezulegen. Die Referenzzeit des temporalen Nebensatzes After Karlinahami intervened ist jedoch, im Gegensatz zur Referenzzeit von It was eventually arranged, nicht für den gesamten Textabschnitt relevant, sondern nur im
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Hinblick auf die Interpretation von (c). Auch die letzte Relation ist daher von eher untergeordneter Bedeutung. Die Herleitung der in einem Textabschnitt relevanten Referenzzeiten erscheint hier als ein komplexer Interpretationsvorgang, der durch die indexikalische Tempussemantik allein nicht mehr erklärt werden kann. Pragmatische Prinzipien wie (30) spielen zusätzlich zur Semantik eine wichtige Rolle. Der gängigen, sowohl im "indexikalischen" Rahmen als auch im DRT-Ansatz vertretenen Ansicht nach würde man (30.1) eher mit innerlich prototypisch nicht-strukturierten Ereignisverläufen in Verbindung bringen (also mit States und Activities) und (30.11) mit innerlich strukturierten Accomplishments sowie mit Achievements. Die ERP integriert diese Differenzierung der Aktionsartklassen jedoch nicht als absolute Grundlage, da z.B. auch Zustände, wie wir bereits gesehen haben, perfektiv perspektiviert (und in einer chronologischen histoire-Abfolge angeordnet) zu erscheinen vermögen. Wir können an dieser Stelle bereits festhalten, daß die Befolgung bestimmter Prinzipien diskursiver Verzeitung in der Interpretation eines Textes nicht a priori durch das Vorliegen bestimmter Aktionsartklassen determiniert erscheint und perfektive vs. imperfektive zeitliche Perspektivierung ebenfalls nicht zwingend durch bestimmte Aktionsartklassen herbeigeführt wird. Dennoch haben wir durch die Formulierung der zusätzlichen Bedingung (r < e)v (r > e) in der ERP (30.11) berücksichtigt, daß es wohl eher Accomplishments und Achievements sind, in Verbindung mit welchen Zeitpunkte aus Initialphasen im losen Sinne (also auch "Vorlaufphasen", welche eigentlich noch nicht zum eigentlichen Ereignisverlauf gehören) und aus Resultatsphasen als zeitliche Orientierungspunkte im Hinblick auf die textuelle Verzeitung benutzt werden. Einige Hinweise sprechen dafür. In (36) könnte z.B. he became silent durch die Zustandsschilderung he was silent ersetzt werden, und es würde rs e, nicht aber r > e gelten. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, daß wir r > e primär mit Accomplishments und Achievements in Verbindung bringen, £ aber mit Zuständen. Da he was silent eine Zustandsschilderung ist, gilt in diesem Fall r £ e. Damit legt das pragmatische Prinzip (30) zweierlei fest, nämlich (i) die prototypische Anordnung der Referenzzeiten zweier aufeinanderfolgender Sätze oder Ereignisschilderungen zueinander sowie (ii) die damit verbundenen prototypischen Positionierungen der jeweiligen Ereigniszeiten relativ zu ihren Referenzzeiten. Der Aufbau derartiger zeitlicher Muster wird zum Teil (aber nicht ausschließlich) von dem Vorliegen bestimmter Aktionsartklassen abhängen. Das Prinzip ist sehr allgemein gehalten; es läßt eine große Anzahl an Verzeitungsstrukturen zu, um der Komplexität textueller Verzeitung gerechter zu werden als die im vorhergehenden diskutierten Ansätze. Wünschenswert wäre nun eine Präzisierung der in (30) skizzierten Pragmatik durch die Hinzufügung weiterer, spezifischerer Prinzipien, mittels derer wir auch die komplexeren, in narrativen Kontexten vorkommenden Verzeitungsmuster erklären können, welche bisherige Ansätze nicht adäquat zu erfassen vermochten. Einen Versuch in diese Richtung unternimmt Ehrich (1992) im Hinblick auf das Deutsche. Ich werde ihren Ansatz im folgenden diskutieren und ihn dabei, soweit möglich, auf das Englische anwenden.
59 2.2
Default-Prinzipien der temporalen Strukturierung von (deutschen) Texten nach Ehrich (1992)
2.2.1
Default-Prinzipien und Textkonstitution
Die meisten Schwierigkeiten in der systematischen Erfassung von Prinzipien der Textkonstitution resultieren daraus, daß allgemeine diskurspragmatische Prinzipien, wie z.B. unsere ERP, keine obligatorischen Regeln des Gebrauchs temporaler Elemente und ihrer Interpretation sind. Solchen (bis zu einem gewissen Grad) obligatorischen Regeln unterliegt z.B. die Verwendung der Tempusformen in der indirekten Rede des Englischen. Abweichungen von derartigen Regeln führen meist zu einem nicht-wohlgeformten Satz. Pragmatische Prinzipien der Textkonstitution können nun im Gegensatz zu strikten Regeln befolgt werden, sie müssen es aber nicht. Eine entscheidende Eigenschaft solcher Prinzipien ist gerade die Möglichkeit ihrer Suspendierung in entsprechenden Kontexten. Derartige Prinzipien sind daher als Default-Prinzipien (d.h. annullierbare Prinzipien) anzusehen. Diese Einsicht dient auch Ehrich als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen (1992: 155). Sie bemerkt diesbezüglich (ebenda): "Texte sind - anders als Sätze - nicht durch Regeln, sondern durch Prinzipien strukturiert. Regeln sind deterministisch und kanonisch, jede einzelne operiert über einer bestimmten Domäne und muß in dieser Domäne befolgt werden, andernfalls ist das Ergebnis abweichend. Prinzipien sind flexibler in der Anwendung: Sie können sich gegenseitig außer Kraft setzen; werden sie nicht befolgt, so mag das Ergebnis unangemessen oder ungeschickt sein, es ist aber deshalb noch nicht notwendig irregulär. Prinzipien der Diskursorganisation richten sich auf Verständlichkeit, Informativität oder Eleganz von Formulierungen; sie sind damit weniger grammatischer als kommunikationsästhetischer und -psychologischer Natur."
Mit diesen Grundüberlegungen als Ausgangsbasis formuliert Ehrich nun die im folgenden diskutierten Prinzipien der Interpretation erzählender Texte. Ehrichs Ausführungen sind auf das Deutsche bezogen. Wir werden die Prinzipien, soweit möglich, im Hinblick auf das Englische überprüfen. An erster Stelle wird das Chronologieprinzip genannt. Ehrichs Chronologieprinzip bezieht sich auf die ikonische Übereinstimmung der linearen Abfolge der Verweise auf Situationen im Text mit der Abfolge der Situationen in der konzeptualisierten Wirklichkeit (Ehrich 1992: 155): (37) Chronologieprinzip Jede neue Äußerung Si verschiebt die Referenzzeit Rj in Richtung der Zeitfolge: R, ist nachzeitig relativ zu Rj.n (Rj > Rj.n).
60 Dies entspricht insofern unserer ERP, als eine zeitliche Rückwärtsbewegung der Referenzzeiten im sukzessiven Aufbau einer Verzeitungsstruktur während der Rezeption eines Textes ausgeschlossen wird. Da die Reihenfolge der Verweise auf Referenzzeiten ikonisch mit deren Abfolge in der Wahrnehmungswirklichkeit übereinstimmt, ist zeitlicher Stillstand in der konzeptualisierten Wirklichkeit, wie er in Verbindung mit Zuständen zutage tritt, durch dieses Prinzip nicht erfaßt. 3 Der Eindruck eines derartigen zeitlichen Stillstands resultiert Ehrichs Meinung nach vielmehr aus der Befolgung eines Rahmenprinzips, nach welchem mehrere (partiell) gleichzeitige Situationen in einer übergeordneten Situation, die als zeitlicher Rahmen dient, zusammengefaßt werden. Dieses Rahmenprinzip ist bei Ehrich nicht explizit formalisiert. Ehrich möchte mit dem Rahmenprinzip nur jene Kontexte erfassen, in denen die innerhalb eines Rahmens lokalisierten Teilsituationen völlig oder partiell gleichzeitig liegen, d.h. es unterliegt nur die Interpretation solcher Kontexte diesem Prinzip, in denen sich sämtliche Ereigniszeiten gegenseitig zumindest partiell überlappen. Ehrich spricht davon, daß diese (partiell) gleichzeitigen Gegebenheiten in einer übergeordneten Situation zusammengefaßt sein müssen. Dies bedeutet, daß sämtliche Gegebenheiten in einem engen thematischen Zusammenhang zueinander stehen (sowohl die untergeordneten mit der übergeordneten als auch die untergeordneten miteinander). Sie bemerkt hierzu (S. 155-156): "Nicht alle Situationen, die in einer Geschichte erwähnenswert sind, stehen in einer Reihenfolgebeziehung zueinander. Nicht nur wie alles nacheinander geschah, sondern auch was (partiell) gleichzeitig der Fall war, ist für den Zusammenhang einer Erzählung relevant. Neben dem Chronologieprinzip steht daher das Rahmenprinzip, das (partiell) gleichzeitige Gegebenheiten in einer Situation zusammenfaßt. Natürlich macht nicht alles, was gleichzeitig der Fall ist, eine gemeinsame Situation aus. Daß der Bundespräsident in Bonn einen Staatsgast empfängt, während Konstanze in Berlin ihre Abschlußprüfung an der Schauspielschule ablegt, hat, auch wenn es zur selben Zeit geschieht, nichts miteinander zu tun. Mehrere (partiell) gleichzeitige Ereignisse bilden nur dann eine Situation, wenn sie unter demselben Gesichtspunkt betrachtet werden, etwas technischer ausgedrückt, wenn sie von einem gemeinsamen Referenzpunkt aus zugänglich sind."
In einer Rahmensituation zusammengefaßte Gegebenheiten müssen hiernach also unter demselben Gesichtspunkt gesehen werden. An anderer Stelle spricht Ehrich davon, daß mehrere Situationen nach dem Rahmenprinzip "assoziativ zu deuten" sind (S. 162). Dies trifft z.B. auf die Satzfolge Hans ging in den Garten. Auf dem Wege rauchte er eine Zigarette zu: Das erste Ereignis liefert einen Rahmen für die Lokalisierung des zweiten, und beide Ereignisse sind thematisch assoziiert, was hier den Leser dazu bringt, sie im Sinne des Rahmenprinzips miteinander zu verbinden.
Die ERP-Grundversion (30) schloß zwar die Möglichkeit des zeitlichen Stillstands nicht aus, weil sie die Konstellation der Gleichzeitigkeit zweier Referenzzeiten zuließ, sie legte aber nicht explizit fest, wann nun zeitlicher Stillstand und wann eine chronologische A b f o l g e von Referenzzeiten vorliegt.
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Wir werden im Einklang mit Ehrichs Begriff der (eher thematischen) Assoziation an späterer Stelle den Begriff der zeitlichen Assoziation einführen. Zwei Gegebenheiten sind dann zeitlich assoziiert, wenn sie unter demselben Gesichtspunkt gesehen werden, d.h., wenn sie in einer thematischen und damit auch zeitlichen Verbindung stehen. Ein Vorschlag zur formalen Erfassung dieses Konzepts wird in Abschnitt 2.3.1.2 gemacht werden. Zeitliche Assoziation in Ehrichs Sinne spielt z.B. bei der Positionierung der Gegebenheiten, welche im folgenden Beispiel (38) geschildert werden, eine Rolle: (38) (a) It turned cold that night and the next day it was raining, (b) Coming home from the Ospedale Maggiore it rained very hard and I was wet when I came in. (c) Up in my room the rain was coming down heavily outside on the balcony, and the wind blew it against the glass doors, (d) I changed my clothing and drank some brandy but the brandy did not taste good, (e) I felt sick in the night and in the morning after breakfast I was nauseated. (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 118)
Die in (b) geschilderten Situationen 'it rain- very hard', 'I be- wet' und 'I come- in' sind in der Ereigniszeit der Situation '[I] come- home' zusammengefaßt und unter demselben Gesichtspunkt wie diese Rahmensituation gesehen. Daß es regnet, steht hier z.B. ebenso in einem direkten thematischen Zusammenhang mit dem Nachhausekommen, wie die Tatsache, daß der Protagonist naß ist und daß er seine Unterkunft betritt. Wie gesagt, sieht Ehrich (S. 162) in derartigen Fällen Teilsituationen als "assoziativ zu deuten" und gemeinsam eine (Rahmen-) Situation bildend an, wobei die Rahmensituation "sprachlich durch das Rahmenprinzip zusammengehalten wird" (ebenda). Die Lage ist aber in (38) insofern komplizierter, als hier mehrere temporale Rahmen ineinander verschachtelt sind, die allesamt (partiell) gleichzeitig liegen. So etabliert das Adverbial the next day in (38a) einen zeitlichen Rahmen, der erst in (e) durch in the night von einem neuen Rahmen abgelöst wird. Das Partizip coming home in (38b) etabliert in Form seiner Ereigniszeit einen weiteren Rahmen, der ein Teil von 'the next day' ist und innerhalb dessen die Gegebenheiten 'it rain- very hard', 'I be- wet' und 'I come- in' lokalisiert sind. Zusätzlich wird in (38c) ein lokaler Raum durch die Präpositionalphrase up in my room abgegrenzt: up in my room drückt aus, daß die in (38c) bis (e) geschilderten Gegebenheiten entweder im selben Raum stattfinden oder mit diesem Raum in enger Verbindung stehen. Die Raumangabe untermauert damit den ursächlich-kausalen Zusammenhang zwischen den in (38c) bis (e) geschilderten Situationen und hebt hervor, daß die Gegebenheiten 'the rain be- coming down heavily...', 'the wind blow- ...', 'I change- my clothing', 'I drink- some brandy' und 'the brandy not taste- good',' I feelsick' sowie 'I be- nauseated' in einem thematischen Zusammenhang stehen. Per Inferenz steht der mit up in my room verbundene Rahmen in einer zeitlichen Beziehung der Posteriorität zu der Ereigniszeit von coming home in (38b). Die lokale Präpositionalphrase up in my room etabliert damit indirekt auch einen zeitlichen Rahmen, der den durch coming home gesetzten ablöst. Gleichzeitig ist der mit up in my room verbundene zeitliche Rahmen innerhalb von 'the next day', also dem in (a)
62 etablierten Rahmen, zu positionieren. Das Adverbial the next day bezieht sich hier somit auf ein übergeordnetes Intervall, innerhalb dessen diverse weitere zeitliche Rahmen verschachtelt sind. In ähnlicher Weise werden innerhalb des mit der Raumangabe up in my room verbundenen zeitlichen Rahmens auf einer rein temporalen Ebene weitere Rahmen gesetzt, nämlich durch in the night und in the morning. Das Temporaladverbial in the night löst, wie bereits erwähnt, den ursprünglichen zeitlichen Rahmen 'the next day' aus (38a) ab, und in the morning etabliert einen wiederum auf 'in the night' folgenden Rahmen. Der räumliche, mit 'up in my room' verbundene Rahmen ändert sich dabei jedoch nicht. Beispiele wie (38) deuten darauf hin, daß das Rahmenprinzip als globales Prinzip auch auf die Beziehung von Rahmensituationen untereinander angewandt werden kann, wodurch sich das Bild der Verschachtelung solcher Rahmensituationen ergibt. Ein formaler Ansatz wird dies zu berücksichtigen haben. Die Diskussion von (38) zeigte, daß Tempusformen, Partizipialkonstruktionen, Temporaladverbiale sowie Adverbiale räumlicher Bedeutung einen zeitlichen Rahmen zu etablieren vermögen. Obwohl dies bei Ehrich nicht expliziert wird, können wir davon ausgehen, daß bereits allein das Setzen eines temporalen Rahmens durch ein Temporaladverbial unabhängig von der hiermit unmittelbar verbundenen Lokalisierung eines Ereignisses mittels des Tempus ausreicht, um nachfolgende Situationen unter einem gemeinsamen (temporalen) Gesichtspunkt zu betrachten. Dies zeigt sich z.B. in folgender Texteinleitung: (39) (a) In the late summer of that year we lived in a house in a village that looked across the river and the plain to the mountains, (b) In the bed of the river there were many pebbles and boulders [...]. (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 3)
Die durch das Tempus lokalisierte Ereigniszeit der Situation 'we live- in a house' muß nicht unbedingt mit dem durch das Adverbial in the late summer of that year gesetzten zeitlichen Rahmen identisch sein; Identität der beiden Zeitspannen gilt hier höchstens als Implikatur (die Ereigniszeit von 'we live- in a house' kann z.B. über den Zeitraum 'late summer of that year' hinausreichen). Relevant ist im Hinblick auf den Textabschnitt der durch das Adverbial gesetzte Zeitrahmen, nicht jedoch die exakte Ereigniszeit von 'we live- in a house ...'. Im Gegensatz hierzu ist z.B. in Verbindung mit During the late summer of that year we lived in a house in a village [...] die Ereigniszeit des Tempus mit der adverbialen Rahmenzeit zwangsläufig identisch. Meist entsprechen allerdings die zeitlichen Erstreckungen explizit genannter Situationen dem mit dem jeweiligen Textabschnitt verbundenen, durch ein Rahmenadverbial gesetzten zeitlichen Rahmen, wenn die Ereigniszeiten dieser Situationen als relevante temporale Rahmen im Hinblick auf den Textabschnitt dienen. Man beachte erneut, daß bei unserer punktuellen Konzeption der Referenzzeit nur die Ereigniszeit einen
63
solchen übergeordneten zeitlichen Rahmen darstellt, da die Referenzzeit immer als Punkt gesehen wird. Ehrichs Bedingung, daß die innerhalb des Rahmens lokalisierten Situationen von einem gemeinsamen Referenzpunkt aus zugänglich sind, wird theoretisch dadurch erfüllt, daß entweder sämtliche Teilsituationen relativ zu demselben Referenzpunkt lokalisiert werden oder daß von einer innerhalb des Rahmens eingebetteten Handlungsabfolge der ersten Gegebenheit dieser Folge derselbe Referenzpunkt zugeschrieben wird wie der Rahmensituation. Dies zeigte sich z.B. im Zusammenhang mit den bei Reichenbach diskutierten Beispielen (4) und (5). Nach Ehrich unterliegen jedoch nur jene Fälle dem Rahmenprinzip, bei denen sich sämtliche Ereigniszeiten (partiell) überlappen. Die Einschachtelung einer sukzessiven Ereignisabfolge innerhalb eines Rahmens ist demnach ausgeschlossen (sie würde also nicht unter das Rahmenprinzip fallen). Kontexte, in denen ein Ereignis partikularisiert wird, wobei sich diese Partikularisierung in Gegebenheiten vollzieht, die sich nicht gegenseitig zeitlich überlappen (z.B. nach dem Muster (2)), fallen Ehrich zufolge ebenfalls nicht unter das Rahmenprinzip. Ehrich schreibt statt dessen die Konstitution derartiger Kontexte einem weiteren Prinzip zu, welches sie als "Prinzip der temporalen Teilhabe" bezeichnet und auf das wir weiter unten zurückkommen werden. Häufig reicht die Schilderung sich (partiell) überlappender Gegebenheiten ohne Einführung eines expliziten (Rahmen-) Adverbials aus, um einen temporalen Rahmen im Sinne des Rahmenprinzips zu implizieren. Dies sind jene Fälle, welche Ehrich primär über das Rahmenprinzip zu erklären versuchte. Auf Basis unserer obigen Diskussion sollte jedoch der Anwendungsbereich des Rahmenprinzips weiter gefaßt werden; auch Partikularisierungsvorgänge fallen demnach z.B. unter die Verzeitung nach dem Rahmenprinzip - Ehrich zufolge wären sie jedoch dem Prinzip der temporalen Teilhabe zuzuordnen. Die Überarbeitung der Prinzipien in 2.3 wird die Terminologie hier etwas entwirren. Ehrich weitet das Rahmenprinzip auf den Bereich der räumlichen Referenz durch die Einführung eines Prinzips der Raumkonstanz aus (S. 156), welches de facto ein räumliches Rahmenprinzip darstellt. Es besagt, daß wir in Verbindung mit einer zusammenhängenden Erzählfolge im allgemeinen davon ausgehen können, daß die geschilderten Ereignisse innerhalb eines konstanten, fest umrissenen räumlichen Rahmens stattfinden, also einer Art setting oder konzeptueller "Bühne", und dieser räumliche Rahmen bei der Einführung eines neuen Ereignisses beibehalten wird: (40) Prinzip der Raumkonstanz Jede neue Äußerung Uj behält die zuvor eingeführte Lokalität bei (Li = Lj_i). Beispiel (38) belegte, daß zwischen diesem Prinzip der Raumkonstanz und dem temporalen Rahmenprinzip eine komplexe Wechselwirkung besteht: Es kann zum einen ein zeitlicher (durch Adverbiale angedeuteter) Sprung in einer Erzählung vor-
64 liegen. Damit ist das Rahmenprinzip suspendiert, während die Raumkonstanz häufig bewahrt bleibt. Es sind zum anderen aber auch Fälle zu erwarten, in denen umgekehrt die Raumkonstanz nicht beibehalten bleibt, aber das Rahmenprinzip Gültigkeit behält. Wir werden diesbezügliche Textanalysen unter 2.3.1.2 durchführen.4 In Verbindung mit der Beschreibung von Zuständen, die an derselben Zeit lokalisiert werden und deren zeitliche Positionierungen damit unter Ehrichs Rahmenprinzip fallen, insbesondere in Kontexten von Raumbeschreibungen, tritt das spezielle Problem auf, daß, durch die eindimensional-lineare (Oberflächen-) Struktur eines Textes bedingt, z.B. räumliche Gegebenheiten in einer linearen Abfolge geschildert werden müssen, dies aber kein Korrelat in der Wirklichkeit findet, da räumliche Positionierungen zueinander objektiv immer statischen Charakter haben. Der Eindruck einer dynamischen zeitlich-linearen Abfolge im Sinne von Narrativität kann hier aber durch sukzessive Verweise auf bestimmte Fixpunkte oder landmarks herbeigeführt werden, wenn der Bezug auf derartige landmarks im Text jeweils als das Erreichen einer bestimmten Betrachtperspektive in der konzeptuellen Wirklichkeit gedeutet wird: Der Leser bewegt sich gewissermaßen von einer Betrachtperspektive zur anderen, und die récit-Abfolge spiegelt diese imaginäre Bewegung wider. Ehrich unterscheidet in diesem Zusammenhang die zwei Möglichkeiten der Darstellung räumlicher Verhältnisse als imaginäre Wanderung oder als statisches tableau. Bei der imaginären Wanderung werden räumliche Zustände in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Wahrnehmung geschildert. Es wird somit indirekt eine zeitliche Dimension in die konzeptualisierte Wirklichkeit eingeführt, die im récit auch expliziert werden kann, etwa in der Form First, you reach a railroad crossing. Then, to the left of it, you '11 see an old warehouse. Behind the warehouse you'll finally find a parking lot. Als typisches sprachliches Element treten hier Temporaladverbiale wie then auf. Die tableau-Schilderung bedient sich hingegen hauptsächlich lokaldeiktischer Ausdrücke, wie in front ofthat table, behind the cupboard etc.. Die zeitliche Dimension bleibt hier ausgeklammert, da die räumlichen Gegebenheiten zusammengenommen sprachlich als das statische Konstrukt dargestellt werden, welches sie in Wirklichkeit auch sind, wie in folgender Satzfolge: There is a railroad crossing. To the left of it, there is an old warehouse. Behind the warehouse there is a parking lot. Jede der geschilderten Gegebenheiten ist zur selben Zeit wahr. Der Nachvollzug räumlicher Orientierung in der Rekonstruktion dieser Gegebenheiten durch den Leser oder Hörer beruht allein auf der Interpretation der lokaldeiktischen Ausdrücke. Da diese ohne vorheriger Festlegung eines primären deiktischen Zentrums oft mehrdeutig sind (wie beispielsweise in front of to the left of behind; vgl. z.B. Fillmore 1972), führen Schilderungen im tableau-Format leicht zu Mißverständnissen. Die Disambiguierung von to the left of setzt z.B. die Existenz eines deiktischen Zentrums voraus, von dem aus der beschriebene Gegenstand gesehen wird. Wie wir dort und anhand der meisten anderen authentischen Textbelege sehen werden, ist das Prinzip der Raumkonstanz als allgemeines Default-Prinzip narrativer Textkonstitution unhaltbar.
65 Es stellt sich die Frage, ob eine reine tableau-Schilderung überhaupt ohne Elemente der imaginären Wanderung auskommt, wenn die Beschaffenheit der räumlichen Verhältnisse durch den Rezipienten eindeutig und ohne Mühe nachvollzogen werden soll. Häufig ist man bestrebt, auch rab/eaw-Schilderungen mit dynamischen Elementen der imaginären Wanderung zu kombinieren: (41) (a) Let us drop into a broadcasting studio for a rehersal. (b) Studios are numbered and are always designated by the number which they bear, (c) The rehersal which we are about to hear is taking place in studio 9. (d) It is a room of about fifty feet square, (e) The walls are paneled in an absorbent material and all the lights are flush with the ceiling, (f) At each end is a balcony separated from the studio by double glass panels, (g) One of these balconies is for the use of the sponsor and his guests, (h) The other is for visitors, (i) Under one of these balconies is another glass panel behind which is the sound engineer and his highly complicated mixing board. (J. F. Floherty: On the Air. The Story of Radio, S. 19)
Obwohl die Schilderung des Studios von (b) bis (i) nach Ehrichs Kriterien als tableau-Beschreibung zu klassifizieren ist, entsteht durch die Einleitung Let us drop into a broadcasting studio und Formulierungen wie The rehersal which we are about to hear der Eindruck einer imaginären Tour durch das Studio, auf welcher dem Gast die wichtigsten Teile der Einrichtung erklärt werden, bevor er einer Sendung beiwohnen darf. Offensichtlich entspricht die Annahme eines Kontinuums zwischen reinen taWeaw-Schilderungen und prototypischer imaginärer Wanderungen am ehesten der Realität. Die meisten Raumbeschreibungen sind irgendwo dazwischen anzusiedeln. Analog zu der Ineinanderverschachtelung zeitlicher Rahmen (vgl. (38)) werden sowohl bei der imaginären Wanderung als auch bei der tableau-Schilderung abgegrenzte Teilräume lokalisiert, die ebenfalls ineinander verschachtelt sind. Hieraus leitet Ehrich ein Prinzip der lokalen Teilhabe ab (vgl. Ehrich, S. 156): (42) Prinzip der lokalen Teilhabe Das an n-ter Stelle in einem Diskurs durch Lokaladverbiale spezifizierte Gebiet Ln ist als Teilregion eines zuvor eingeführten Gebiets Ln-1 zu deuten, es sei denn, es wird (z.B. durch Bewegungsverben) ein Ortswechsel von Ln-1 zu Ln angezeigt. In unserem Zusammenhang der Untersuchung temporaler Bezugnahme ist interessant, daß Ehrich diesem Prinzip der lokalen Teilhabe eine temporale Entsprechung zuordnet, nämlich das bereits erwähnte Prinzip der temporalen Teilhabe (S. 164):
66 (43) Prinzip der temporalen Teilhabe "[...] die Teilhandlungen [...] sind zeitlich jeweils in die Ereigniszeit der Gesamthandlung [...] eingeschlossen (ei => &2, e3)." Während sich das eingangs angeführte Rahmenprinzip (nach Ehrich) nur auf gleichzeitig liegende Gegebenheiten bezieht, kommt das Prinzip der temporalen Teilhabe dann zur Anwendung, wenn Teilereignisse eines Überereignisses sukzessiv zu deuten sind: Die Teilereignisse mögen unter sich eine dem Chronologieprinzip folgende Handlungsabfolge bilden, sie können aus einer globaleren Perspektive heraus aber gleichzeitig als Teile eines Überereignisses gesehen werden. Partikularisierungsvorgänge, wie sie in (2) zum Ausdruck kommen, fallen also unter dieses Prinzip. Ein Sukzessionsprinzip soll der Interpretation jener Kontexte zugrundeliegen, in denen die Einführung von Zuständen einer zeitlichen Vorwärtsbewegung der Handlung gleichkommt, weil der neu in den Diskurs eingeführte Zustand das Resultat des im vorhergehenden geschilderten Ereignisses darstellt (S. 161): (44) Sukzessionsprinzip Eine Abfolge von Verben < Vi, Vi+1 > muß sukzessiv gedeutet werden, wenn ei+1 nur unter der Voraussetzung stattfinden kann, daß der Resultatzustand ej/res von ei erreicht ist. Ist diese Bedingung nicht gegeben, sind beide Deutungen, die inklusive und die sukzessive möglich. Als "inklusive" Deutung ist dabei die Interpretation von V,+ f relativ zu V, nach Ehrichs Rahmenprinzip zu verstehen, als "sukzessive" Deutung hingegen die Interpretation von V,+ ? relativ zu V, nach dem Chronologieprinzip. Die Befolgung des Sukzessionsprinzips kommt somit der Anwendung des Chronologieprinzips auf die Interpretation von Zustandsschilderungen gleich. Abschließend formuliert Ehrich einige Prinzipien, welche die ihrer Meinung nach enge Beziehung räumlicher zu temporaler Referenz genauer erfassen sollen. Ehrich (S. 167-168) geht hier von dem Grundgedanken aus, daß die temporale und thematische Verbindung zwischen zwei Situationen ("Assoziation") auch eine Assoziation der mit diesen Situationen verbundenen Ereignisorte untereinander impliziert (S. 168):
67 (45) Assoziation zweier Situationen Wenn die Ereigniszeiten von Thema- und Antezedenssituation assoziiert sind (Ei-n, Ei), dann besteht auch eine Assoziation zwischen den Ereignisorten (Li-n, Li). Es wird nun von Ehrich auf die bei Rauh (1983), Herweg (1991) und anderen eingeführten deiktischen Dimensionen der Proximität und Distalität5 zurückgegriffen und entsprechend (45) eine Verbindung zwischen temporaler und lokaler Proximität sowie temporaler und lokaler Distalität postuliert (S. 170): (46) Lokalisierung in Proximalregionen Wenn die Themasituation innerhalb der temporalen Proximalregion auf die Antezedenssituation folgt (Ei > Ej-n & Ei = PROX (Ei-n)), dann ist der Ort der Themasituation vorzugsweise in der lokalen Proximalregion der Antezedenssituation zu suchen (Li c PROX (Li-n)). (47) Lokalisierung in Distalregionen Wenn die Themasituation innerhalb der temporalen Distalregion auf die Antezedenssituation folgt (Ei > Ei-n & Ei = DIST (Ei-n)), dann ist der Ort der Themasituation vorzugsweise in der lokalen Distalregion der Antezedenssituation zu suchen ( L i c DIST (Li-n)). Auch diese Prinzipien der engen Verbindung räumlicher mit temporaler Referenz stellen Default-Prinzipien dar: Sie können, aber sie müssen nicht befolgt werden.
So kennzeichnet ein lokaldeiktischer Ausdruck wie there lokale Distalität, während here auf lokale Proximität verweist. In ähnlicher Form können wir die Tempora auf der Grundlage dieser unterschiedlichen deiktischen Funktionen differenzieren: Das Present Perfect würde demnach z.B. eher auf temporale Proximität verweisen, was in diesem Zusammenhang bedeutet, daß eine Gegebenheit entweder in der unmittelbaren Vergangenheit zur Sprechzeit plaziert wird oder daß sie zumindest eine enge psychologische Verbindung mit der Sprechzeit aufweist. Durch das Simple Past kommt hingegen temporale Distalität zum Ausdruck. In diesem Fall erscheint die geschilderte Gegebenheit in tatsächlicher oder psychologischer Distanz zur Sprechzeit (vgl. insbesondere Rauh 1983 / 1988). Dies äußert sich auch in sekundären Verwendungsweisen des Simple Past, wie in If I had money, [...]: Die geschilderte Gegebenheit befindet sich hier in einem Verhältnis modaler Distalität zur Sprechzeit. Im indexikalischen Rahmen entspricht der Ausdruck temporaler Distalität jenen Fällen, in denen die Referenzzeit nicht simultan zur Sprechzeit liegt.
68
2.2.2
Suspendierung allgemeiner Default-Prinzipien durch spezifischere Prinzipien
Welche systematischen Beziehungen bestehen nun zwischen derartigen Prinzipien? Wie bereits angedeutet, ist eine wichtige Eigenschaft von Default-Prinzipien, daß allgemeinere Prinzipien zugunsten spezifischerer Prinzipien suspendiert werden können. Dies ist immer dann der Fall, wenn der spezifischere Informationsgehalt eines kontextuell nahegelegten Prinzips im Widerspruch zum Informationsgehalt eines allgemeineren Prinzips steht, dessen Anwendung wir normalerweise in Verbindung mit derselben Textsorte erwarten. Die Anwendung eines spezifischeren Prinzips wird dabei durch spezifischere kontextuelle Informationen nahegelegt als die Anwendung eines allgemeineren. Ist ein allgemeineres Prinzip mit einem spezifischeren kompatibel, entsteht eine Informationshierarchie (vgl. 0.3): Die Gültigkeit des spezifischeren Prinzips impliziert in diesem Fall automatisch die Gültigkeit des allgemeineren Prinzips, aber wenn nur die Gültigkeit des allgemeineren Prinzips einwandfrei zugrundegelegt werden kann, impliziert dies nicht notwendigerweise auch die Gültigkeit des spezifischeren Prinzips. In Verbindung mit einer Erzählsequenz, die nach dem Chronologieprinzip interpretiert wird, setzen wir z.B. in der Regel voraus, daß die Ereignisse innerhalb eines geschlossenen zeitlichen Rahmens positioniert sind und dabei miteinander in thematischer Verbindung (Assoziation) im Sinne eines Rahmenprinzips stehen. Ein derartiges Rahmenprinzip allein besagt jedoch noch nicht, daß unbedingt eine narrative Sequenz im Sinne des Chronologieprinzips vorliegt, denn die in dem übergeordneten zeitlichen Rahmen eingebetteten Ereignisse können durchaus, abweichend vom Chronologieprinzip, als zeitlich "ungeordnet" interpretiert werden, obwohl unser (in seiner endgültigen Form noch zu formulierendes) Rahmenprinzip auch dann weiterhin Gültigkeit behielte. So verweist z.B. Couper-Kuhlen (1989) darauf, daß in dem folgenden Beispiel die recit-Abfolge der in den hervorgehobenen Textpassagen geschilderten Gegebenheiten wahrscheinlich als zeitlich "ungeordnet" (d.h. nicht nach dem Chronologieprinzip) zu deuten ist: (48) (a) I finished a cigarette and lit another. (b) The minutes dragged by. (c) Horns tooted and grunted on the boulevard. (d) A big red interurban car grumbled past. (e) A traffic light gonged. (Raymond Chandler: The Big Sleep, S. 22, zit. bei Couper-Kuhlen 1989: 18).
Ungeachtet ihrer zeitlichen "Unordnung" werden die in (c) bis (e) beschriebenen Situationen dem durch The minutes dragged by in (b) etablierten thematischen und zeitlichen Rahmen im Sinne des von Ehrich vorgeschlagenen Rahmenprinzips untergeordnet. Der Informationsgehalt des Rahmenprinzips ist insofern mit demjenigen des Chronologieprinzips kompatibel, als sich die Anordnung von Ereignissen innerhalb eines zeitlichen Rahmens nach dem Rahmenprinzip und deren sukzessive Anordnung nach dem Chronologieprinzip nicht widersprechen (wie bereits gesagt, müssen wir dabei aber von Ehrichs Annahme Abstand nehmen, daß eine Befolgung des Rahmenprin-
69 zips notwendigerweise die partielle oder vollständige Überlappung der Ereigniszeiten sämtlicher geschilderter Gegebenheiten miteinander voraussetzt). In Yesterday Sue met John at the Station and they both went Shopping werden beispielsweise die beiden beschriebenen Gegebenheiten aufgrund ihrer recit-Abfolge nach dem Chronologieprinzip in der konzeptualisierten Wirklichkeit angeordnet, und in bezug auf den mit yesterday bezeichneten Zeitraum sind beide Gegebenheiten nach dem Rahmenprinzip zu interpretieren. Beide Gegebenheiten stehen zusätzlich in thematischer Assoziation zueinander. In der Regel gehen wir in Verbindung mit einer chronologischen Ereignisabfolge davon aus, daß ein solcher übergeordneter thematischer Rahmen existiert und daß dieser thematische Rahmen zumindest in narrativen Kontexten wiederum in enger Verbindung mit einem zeitlichen Rahmen steht. Das Rahmenprinzip und das Chronologieprinzip sind hier kompatibel: Beide Prinzipien widersprechen sich nicht, sondern sie ergänzen sich. Häufig erweist sich jedoch der Informationsgehalt zweier potentiell in einem Kontext anwendbarer Prinzipien als nicht miteinander kompatibel. Dies bedeutet, daß jeweils das spezifischere Prinzip das allgemeinere aufhebt, wobei der Informationsgehalt des allgemeineren Prinzips einen Fall von annullierbarem Wissen (defeasible knowledge) darstellt (vgl. 0.3). Wenn z.B. ein Satz S j auf eine Gegebenheit referiert, die aus der in Satz S2 geschilderten Situation resultiert (z.B. im Mustertext Jack died. John killed him), wird die ERP zugunsten eines Kausalitätsprinzips aufgehoben. Ehrich bietet eine umfangreiche Auflistung möglicher Fälle der Suspendierung eines ihrer Prinzipien durch ein anderes. In Satzfolgen wie John visited the museum. Afterwards / Twelve hours later / The next day he met an old friend of his wird Ehrich zufolge beispielsweise das Rahmenprinzip zugunsten des Chronologieprinzips suspendiert: Das jeweilige Temporaladverbial etabliert einen neuen zeitlichen Rahmen, der chronologisch auf den für den ersten Satz gültigen Rahmen folgt. In John visited the museum where he met an old friend of his erscheint nach Ehrich hingegen das Chronologieprinzip zugunsten des Rahmenprinzips suspendiert, weil beide Gegebenheiten nicht chronologisch anzuordnen sind und innerhalb desselben zeitlichen und räumlichen Rahmens lokalisiert werden. Wenn wir nun davon ausgehen, daß ein spezifischeres Prinzip im Falle eines Widerspruchs das allgemeinere Prinzip suspendiert, können wir nicht eindeutig festlegen, ob das Rahmen- oder das Chronologieprinzip das spezifischere ist, denn offensichtlich vermag, je nach Kontext, entweder das Chronologie- das Rahmenprinzip zu suspendieren oder umgekehrt. Ich möchte Ehrichs Schematik, insbesondere wegen der mit dem (ohnehin nicht formalisierten) Rahmenprinzip verbundenen Unklarheiten, an dieser Stelle nicht übernehmen, sondern, ausgehend von einer überarbeiteten Version unserer ERP als allgemeinstem Grundprinzip, eine eigene Textpragmatik des Englischen entwickeln.
70 2.3
Überarbeitung und formale Präzisierung der bisher diskutierten Diskursprinzipien in bezug auf das Englische
2.3.1
Prinzipien der thematischen Tetxtebene
Der erste Hauptabschnitt 2.3.1 dieses Unterkapitels widmet sich Prinzipien, nach welchen ein thematisch zusammenhängender Textabschnitt aufgebaut ist, d.h. Prinzipien der thematischen Textebene. Im zweiten Abschnitt 2.3.2 werden wir dann Prinzipien betrachten, welche lediglich der lokalen Einordnung eines Satzes relativ zu seinem unmittelbaren Antezedenssatz zugrundeliegen, also Prinzipien der lokalen Textebene.
2.3.1.1 Überarbeitung der ERP und ihre Anwendung auf die thematische Textebene Unser textpragmatisches Prinzip der ERP (30) schrieb in direkter Weise nur die zeitliche Einordnung eines in den Diskurs eingeführten Satzes oder einer Ereignisschilderung relativ zu dem unmittelbaren Antezedenssatz oder der unmittelbaren Antezedensschilderung vor - die ERP stellte also ein Prinzip der lokalen Textebene dar. Wie sich schon anhand des Beispiels (36) andeutete, vollzieht sich die temporale Einordnung einer neu eingeführten Ereignisschilderung oder eines Satzes jedoch nicht immer relativ zu der unmittelbaren Antezedensschilderung oder dem unmittelbaren Antezedenssatz. Dies trifft auch auf den folgenden Mustertext zu (vgl. Lascarides & Asher 1991a, 1991b, Lascarides & Oberlander 1993: 29): (49) (a) Guy experienced a lovely evening last night, (b) He had a great meal. (c) He ate salmon. (d) He devoured lots of cheese. (e) He won a dancing competition. (Lascarides & Oberlander 1993: 29)
Die Referenzzeit von (49e) wird wahrscheinlich nicht relativ zu jener von (d) positioniert, sondern relativ zu der Referenzzeit von (a), wir "überspringen" also die Sätze (b) bis (d) bei der zeitlichen Einordnung von (49e) in den Text ("discourse hopping" nach Lascarides & Oberlander). Als Prinzip der thematischen Textebene sollte die ERP auch Verzeitungsstrukturen erfassen, wie sie (49) zugrundeliegen, denn solche treten in erzählenden Texten häufig auf. Ich schlage daher die folgende Modifikation der ERP-Grundversion vor:
71 (50) Erweiterte Reichenbach-Pragmatik (ERP) als Prinzip der thematischen Textebene: Es gilt für eine zeitlich zusammenhängende Textpassage (S"|, S2, S3,..., Sn): r(Si)"1 > r(Si+k)> wobei 1 < i < n und k > 1: Der Referenzzeitpunkt r steht mit der intervallartigen Ereigniszeit e jeweils in folgender Beziehung: (I) r e e oder (II) Rel(r,e), wobei Rel(r,e) gdw. ((r e) A (r 0 e)) v (r s P f e ), sowie (r < e) v (r > e) für Accomplishments und Achievements. Die modifizierte ERP in (50) sagt mittels rfSip > r(Si+k) aus, daß die Referenzzeit einer Ereignisschilderung (5,) nicht später als die Referenzzeit von irgendeiner Ereignisschilderung Si+k positioniert ist. Wir beziehen uns nicht mehr auf zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen (oder Sätze) (a) und (b) wie in (30), sondern legen die Beziehung von einer Ereignisschilderung 5, zu irgendeiner, an späterer Stelle im Text folgenden Ereignisschilderung fest. In bezug auf eine solche Ereignisschilderung ist die Referenzzeit von 5, entweder vorzeitig positioniert oder 5, ist mit der Referenzzeit von S/+* identisch, d.h. sie darf nicht posterior zu Si+k positioniert sein. Die Beschreibung der intrinsischen temporalen Komponente, d.h. der Beziehungen zwischen den Referenzzeiten und Ereigniszeiten innerhalb der Sätze, bleibt im Vergleich zur ERP-Grundversion unverändert (zu näheren Erklärungen von I und II vgl. die Diskussion in Verbindung mit (30)). Wenn sich mehrere Gegebenheiten an derselben Antezedenssituation orientieren, wird in jedem der hiermit verbundenen Interpretations Vorgänge dem Antezedensereignis eine spezifische Referenzzeit zugewiesen. Diese Referenzzeiten, die insgesamt gesehen demselben Antezedensereignis zugeordnet werden, können unterschiedlich sein, aber auch identisch, wie das folgende Beispiel zeigt: (51) (a) I watched him from my window with his thin macintosh turned up and his old hat turned down; the snow had increased and already under the third lamp he looked like a small snowman with the mud showing through, (b) It occurred to me with amazement that for ten minutes I had not thought of Sarah or of my jealousy; I had become nearly human enough to think of another person's trouble. (G. Greene: The End of the Affair, S. 53)
In (51) beziehen sich he looked like a small snowman und it occurred to me auf unterschiedliche Referenzzeitpunkte aus dem Ereignisintervall der mit I watched him from my window beschriebenen Gegebenheit, während sich the snow had increased und he looked like a small snowman dagegen auf dieselbe Referenzzeit beziehen. 6 Man beachte, daß durch die Einführung von 'he look- like a small snowman' in den Diskurs hier auch 'the snow have- increased' aus einer ganz bestimmten Perspektive, nämlich der the-
72
Jede der hier hervorgehobenen Schilderungen beleuchtet einen Teilaspekt des Antezedensereignisses 'I watch- him from my window', das dadurch in einem gewissen Sinne partikularisiert wird. Die sich an einer Antezedenssituation verankernden Gegebenheiten können sich auch an jene Referenzzeit binden, an der die Antezedenssituation selbst im vorhergehenden textuellen Zusammenhang verankert ist: (52) (a) Melanie's eyes were fixed on his, but vacantly, (b) Her body was listening to the music, (c) Her eyelids listened, her nipples listened, her little toes listened, (d) The music had gone very quiet, but they didn't lose it. (e) She swayed, he swayed, they all swayed, swayed and nodded, very slightly, keeping time, responsive to the sudden accelerations and slowings of the plucking fingers, the light patter of the drum, the swerves and undulations of tone and timbre, (f) Then the tempo became faster, the twanging notes louder, faster and louder, and they moved more violently in response to the music, they writhed and twitched, stamped and lifted their arms and snapped their fingers and clapped their hands. (D. Lodge: Changing Places, S.99)
(52c) beschreibt Teilaspekte der in (52b) geschilderten Situation 'her body listen-to the music' und bezieht sich vermutlich auf dieselbe Referenzzeit, an der (52b) in den Diskurs verankert wurde. Die in (52c) beschriebenen Teilaspekte der Situation 'her body listen- to the music' erscheinen nicht chronologisch angeordnet, sondern werden in ihrer thematischen Assoziation zueinander und relativ zu (52b) eher im Sinne des Rahmenprinzips nach Ehrich interpretiert, d.h. an derselben Referenzzeit. (52d) verweist hingegen auf einen Zeitpunkt nachzeitig zu jenem, auf den sich (52c) bezieht, da die Musik höchstwahrscheinlich im Laufe der Zeit, zu welcher 'her body listen- to the music' vorliegt, leiser wird. Das Past Perfect lokalisiert die Referenzzeit nachzeitig zu diesem Vorgang, aber immer noch innerhalb der Ereigniszeit von 'her body listen- to the music'. Die Referenzzeit des Past Perfect ist hier also nachzeitig zu der gemeinsamen von (52b) und (52c) positioniert: (c) und (d) beleuchten somit jeweils einen anderen Teilaspekt von (b), und beide Teilaspekte lassen sich in eine chronologische Anordnung bringen. Auch (52f) könnte man noch in diesem Sinne auf (b) bezogen interpretieren. Dann würde (f) wiederum den Antezedenssatz (b) aus einer Perspektive betrachten, die nachzeitig zu derjenigen von (c) zu lokalisieren ist. Hier expliziert jedoch das temporale Adverbial then die direkte temporale Bindung an den unmittelbaren Antezedenssatz. Bei der zeitlichen Einordnung von (d) ist diese Bindung die naheliegendere. matischen Verbindung mit der Ursache für das Aussehen der fraglichen Person, gesehen wird. Die Positionierung beider Gegebenheiten an zeitgleich liegenden Referenzzeiten, welche durch die Verwendung des Past Perfect erzielt wird, betont diese thematische Verbindung. Da jedoch sowohl 'he look- like a small snowman' als auch 'the snow have- increased' aus ganz spezifischen Blickwinkeln heraus betrachtet werden, ist es hier ebenfalls angebracht, den mit beiden Gegebenheiten in Verbindung stehenden Tempusformen jeweils eine eigene Referenzzeit zuzuordnen.
73 In den Beispielen (51) und (52) konnte die zeitliche Positionierung der mit der Einführung neuer Sätze verbundenen Betrachtperspektiven in bezug auf den gemeinsamen Antezedenssatz jeweils aus der wahrscheinlichen temporalen Anordnung der behandelten Teilaspekte des Antezedensereignisses abgeleitet werden. Die jeweils unterschiedlichen Betrachtungsweisen einer Antezedenssituation bei der Einführung mehrerer auf sie bezogener Folgeereignisse müssen aber nicht unbedingt aus rein zeitlichen Anordnungen von Teilaspekten resultieren: (53) (a) While I was walking, I passed these two guys that were unloading this big Christmas tree off a truck, (b) One guy kept saying to the other guy, 'Hold that sonuvabitch up\ Hold it up for Chrissake!' (c) It certainly was a gorgeous way to talk about a Christmas tree, (d) It was sort of funny, though, in an awful way, and I started to sort of laugh, (e) It was about the worst thing I could've done, because the minute I started to laugh I was going to vomit, (f) I really did. (g) I even started to, but it went away. (J. D. Salinger: The Catcher in the Rye, S. 203)
In (53) beziehen sich I started to sort of laugh und I was going to vomit auf unterschiedliche Aspekte von It was sort of funny, though in an awful way, das hier als thematischer und zeitlicher Antezedent fungiert. Die beiden unterschiedlichen, mit der Einführung der hier hervorgehobenen Folgepassagen betrachteten Aspekte der Antezedenssituation werden bereits in der Schilderung der Antezedenssituation in (53d) explizit erwähnt, nämlich 'it be- funny' und 'it be- awful', was sich auf die Unterhaltung der beiden Männer beim Weihnachtsbaumtransport bezieht. Mit dem ersteren Aspekt steht 'I start- to laugh' und mit dem letzteren 'I start- to vomit' in Verbindung. Der Autor spielt hier mit der Möglichkeit, auf unterschiedliche mögliche Sichtweisen einer Antezedenssituation im Text durch die Einführung von Folgesituationen Bezug zu nehmen. Hierdurch ist in (53) eine zynische, verbissene Einstellung der geschilderten Situation gegenüber zum Ausdruck gebracht. Bildlich gesehen bleibt dem Protagonisten das Lachen im Halse stecken, und dies impliziert die zeitliche Abfolge 'I start- to laugh' anterior zu 'I start- to vomit'. Beides ist dabei mit bestimmten Teilphasen des zeitlichen Verlaufs von 'it be- funny in an awful way' verbunden. Als Ausgangspunkt der zeitlichen Interpretation stehen hier jedoch nicht in unserem Weltwissen verankerte Inferenzen bezüglich zeitlicher Beziehungen zwischen Typen von Teilsituationen, sondern unser Wissen bezüglich thematischer Relationen und modaler Einstellungen, welches dennoch Einfluß auf die Rekonstruktion der Verzeitungsstruktur hat. Die obige Diskussion hat gezeigt, daß die Referenzzeit in bezug auf die Ereigniszeit definit lokalisiert ist. Dies trifft sowohl auf die Referenzzeit der neu in den Diskurs eingeführten Gegebenheit zu als auch auf die Referenzzeit, die dem Antezedensereignis in einem Interpretationsprozeß zugeordnet wird. Diese Annahme der definiten Lokalisierung der Referenzzeit relativ zur Ereigniszeit lag auch der indexikalischen Temporalsemantik zugrunde, wo wir der Ansicht von Nerbonne folgten, alle drei Reichenbach'sehen Zeiten als definit lokalisiert aufzufassen.
74
Bei jeder Einführung eines Folgesatzes kann die dem Antezedenssatz zugeordnete definite Referenzzeit eine andere sein (solange ihre Positionierung mit der Reichenbach-Semantik der Tempora und der in der Textpragmatik ERP ausgedrückten aspektuellen Perspektivierung kompatibel ist). Wir haben dies damit begründet, daß bei jeder Einführung eines neuen Satzes die im Antezedenssatz geschilderte Gegebenheit aus einer ganz spezifischen zeitlichen Perspektive betrachtet wird, z.B. in partikularisierenden Kontexten nach dem Muster (2) sowie (51), oder im Falle des discourse hopping nach (49). Wenn sich mehrere Folgesätze oder Ereignisschilderungen an demselben Antezedenssatz orientieren, z.B. in den partikularisierenden Kontexten (51) und (2), wird in der Regel mit jedem Folgesatz eine andere Referenzzeit aus dem Ereignisintervall des Antezedenssatzes relevant. In der Verzeitungsstruktur des Textabschnitts als Ganzes, also auf der thematischen Textebene, kommt jedoch nur eine dieser möglichen definiten Referenzzeiten des Antezedenssatzes zum Tragen, denn nach der indexikalischen Temporalsemantik etabliert jedes Tempus, also auch das eines rahmensetzenden Antezedenssatzes, nur eine Referenzzeit. Dies bedeutet, daß einige Referenzzeiten ausschließlich in Verbindung mit der Einführung eines Folgesatzes, also auf der lokalen Textebene, relevant sind, aber in der Verzeitungsstruktur der thematischen Ebene keine Rolle mehr spielen. Wie die Referenzzeit der thematischen Textebene aus mehreren Möglichkeiten ausgewählt wird, werde ich als nächstes klären. Es wird sich zeigen, daß es gerade das in der ERP zusammengefaßte Wissen bezüglich der typischen Interpretation erzählender Texte ist, welches die Auswahl dieser Referenzzeit aus mehreren möglichen Alternativen steuert. Wir gehen in unserem referenzzeitorientierten Rahmen also davon aus, daß bei jeder Einführung eines neuen Satzes in den Diskurs sowohl dem interpretatorisch neu einzuführenden Satz als auch seinem Antezedenssatz eine Referenzzeit zugeordnet wird und beide Referenzzeiten nicht nur relativ zueinander, sondern auch in bezug auf die zu ihnen gehörigen Ereigniszeiten definit lokalisiert sind. Für eine vollständige temporale Interpretation des Musterbeispiels (49) erscheint so beispielsweise der Vollzug der in folgender Grafik dargestellten Interpretationsschritte wahrscheinlich:
75 (54) Wahrscheinliche temporale Interpretation des Musterbeispiels (49): (a) Guy experienced a lovely evening last night, (b) He had a great meal, (c) He ate salmon, (d) He devoured lots of cheese, (e) He won a dancing competition.
i(a)
m r(c)
r(d)
r(e)
'Guy experience- a lovely evening
'Guy have- a great meal' r
Direkte Interpretationsschritte bei der Einführung eines neuen Satzes (lokale Textebene)
a
'G. eatsalmon'
1,2,3,4
'G. devourlots of cheese' 'Guy win- a dancing competition'
Reihenfolge der lokalen Interpretationsschritte (siehe Text)
r(a),r(b),.. Auf der thematischen Textebene den Sätzen zugeordnete Referenzzeiten
= Indirekte Interpretationsschritte, die sich aus der Interpretation des Diskurses als Ganzes ergeben (thematische Textebene), im einzelnen: i
r(G. devour- lots of cheese)
ii
r(G. win- a dancing competition)
iii r(G. win- a dancing competition) i v e(G. win- a dancing competition)
c >
e(G.have- a great meal) c e(G. experience- a lovely evening) r(Guy devour- lots of cheese)
> -i
e(Sn)). t R a h m e n ] , wobei im speziellen Fall (i) t R a h m e n 6 (e(S1), e(S2)»-, e(Sn)} oder tRahmen e TADV und TADV die Menge der in S"| bis S n durch Temporaladverbiale gesetzten Intervalle ist, oder im Normalfall (ii) Assoz(tR a hmen> t'), wobei t'e {e(S1), e(S2), e(Sn)} oder t'e TADV oder t' auf andere Weise plausibel aus dem weiteren Kontext hergeleitet werden kann. Zwischen den Ereigniszeiten und Referenzzeiten innerhalb der Paare in {,, ...,) gelten jeweils die Prinzipien (I) und (II) der ERP. Die in (a) aufgeführte zeitliche Anordnung ist identisch mit dem Inhalt von Ehrichs Chronologieprinzip (68). Zusätzlich zu der dort festgelegten ikonischen Übereinstimmung der Abfolge der Verweise auf Referenzzeiten mit deren Abfolge in der Wahrnehmungswirklichkeit integriert (81) unter (b) die Rahmensetzung nach dem Rahmenprinzip (65). Des weiteren besagt das thematische Chronologieprinzip, daß zwischen den Ereignis- und Referenzzeiten jeweils die in der ERP ausformulierten Relationen (I) und (II) bestehen, welche in Verbindung mit (30) beschrieben wurden. Die Befolgung des thematischen Chronologieprinzips impliziert also sowohl die gleichzeitige Befolgung des thematischen Rahmenprinzips als auch jene der ERP.
111 Bei unserer Unterscheidung zwischen der thematischen und der lokalen Textebene ergibt sich nun folgendes Bild: Auf der thematischen Textebene kommen die ERP, das thematische Rahmenprinzip und das Chronologieprinzip zur Anwendung, die sich gegenseitig nicht widersprechen. Diese Prinzipien repräsentieren allgemeines Wissen, nach dem wir einen zeitlich und thematisch zusammenhängenden, erzählenden Textabschnitt interpretieren, sofern keine spezifischeren Informationen relevant erscheinen, die etwas anderes nahelegen. Auf der lokalen Ebene, d.h. mit der Einführung eines neuen Satzes und dessen zeitlicher Einordnung relativ zu seinem unmittelbaren Antezedenssatz, kommen nun gegebenenfalls spezifischere Prinzipien zur Anwendung, welche die allgemeinen Prinzipien der thematischen Textebene (ERP, thematisches Rahmen- und Chronologieprinzip) außer Kraft setzen, sofern ein Widerspruch zu ihnen entsteht. Gemäß der Grice'schen Maxime der Informativität ist nämlich der Anwendung dieser spezifischeren Prinzipien mit ihrem spezifischeren Informationsgehalt der Vorzug zu geben, wenn diese Möglichkeit in einem Kontext besteht. Wir können aber erwarten, daß das Außerkraftsetzen derartig grundlegender Prinzipien wie des Chronologieprinzips oder der ERP nur innerhalb sehr begrenzter, lokaler Verzeitungsmuster zum Tragen kommt. Die "Umkehrung" der zeitlichen histoire-Abfolge, wie sie in Jack died. John killed him beispielsweise nahegelegt wird, ist in der Regel nur zwischen zwei einzelnen Ereignisschilderungen relevant, nicht aber über längere Textabschnitte hinweg, da der Text dann leicht unverständlich werden würde. Diese Tendenz einer strikt lokalen Anwendung belegten beispielsweise (75) und (76): Das Muster der temporalen Umkehrung galt dort immer nur in bezug auf zwei sukzessiv aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen. Das Chronologieprinzip und das Rahmenprinzip sind hingegen Prinzipien, nach denen größere Textabschnitte zu interpretieren sind. Sie können daher als Prinzipien der thematischen Textebene aufgefaßt werden. Im folgenden werde ich auf der lokalen Ebene anwendbare spezifischere Prinzipien diskutieren. Ich werde dabei auch der Frage nachgehen, inwieweit die hier angenommene "lokale" Textebene überhaupt als echte pragmatische Repräsentationsebene narrativer Sprachkompetenz betrachtet werden kann. In den Kontexten des "discourse hopping" wie (49) deutete sich bereits an, daß Rekonstruktionen einiger lokaler Verzeitungsmuster eher Zwischenstadien auf dem Weg zur Konstitution der vollständigen Verzeitungsstruktur darstellen, als daß hier die Erstellung echter Verzeitungsstrukturen vollzogen wird. Auch deutet die häufig relevante hierarchische Ineinanderverschachtelung thematischer Texteinheiten darauf hin, daß ein Kontinuum zwischen eher lokalen und eher thematisch oder globalen Einordnungsmustern besteht (vgl. insbesondere die Kontexte thematischer Brüche wie (79)). Einer auch formal exakten Identifikation unterschiedlicher Typen lokaler Einordnungsprozesse wollen wir uns in den nächsten Abschnitten annähern.
112
2.3.2
Prinzipien der lokalen Textebene
Es wurde bereits in 2.3.1.1 in Verbindung mit (54) dafür argumentiert, zwischen den lokalen Interpretationsvorgängen zu unterscheiden, durch die eine Situation relativ zu ihrer unmittelbaren Antezedenssituation in den Text eingeordnet wird, und Interpretationsvorgängen, welche die temporale Struktur eines thematischen Textabschnitts als Ganzes bestimmen. Neben den im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Prinzipien, nach denen wir Ereignisschilderungen in einen größeren thematischen Zusammenhang einordnen, vollziehen wir bei der Einführung einer neuen Ereignisschilderung in den Diskurs wahrscheinlich auch die zeitliche Interpretation relativ zu der unmittelbaren Antezedensschilderung (d.h. der unmittelbar vorhergehenden). Dies ist ein naheliegender Interpretationsschritt der zeitlichen Einordnung: Demnach wird zunächst überprüft, welche lokalen zeitlichen Beziehungen zwischen der neuen Ereignisschilderung und der ihr im récit unmittelbar vorhergehenden bestehen, bevor die Einordnung der neuen Schilderung in den größeren thematischen Zusammenhang stattfindet. Die lokale Einordnung einer Situation kann dann für die Herstellung des thematischen Zusammenhangs relevant erscheinen, sie muß es jedoch nicht, wie z.B. bei der Einordnung nach dem discourse-hopping (vgl. (54)). Wie wir gesehen haben, stellt die Konstitution lokaler Verzeitungsmuster in derartigen Kontexten nur ein Zwischenstadium in der Rekonstruktion textueller Verzeitungsmuster dar. Vermutlich ist die lokale Textebene daher nicht als echte pragmatische Repräsentationsebene "narrativer" Sprachkompetenz anzusehen, sondern eher als ein Performanzphänomen; dies wäre jedoch durch entsprechende Daten zu untermauern. Eine solche Auffassung würde allerdings den in 1.3 diskutierten Ansätzen völlig zuwiderlaufen - dort definierte sich narrative Sprachkompetenz nur über das Wissen bezüglich lokaler Interpretationsmuster. Da diese Ansätze bei allem Reduktionismus zumindest die Konstitution grundlegender Verzeitungsmuster adäquat zu erklären vermochten, können wir im allgemeinen weiterhin von der lokalen Textebene als einer pragmatischen Repräsentationsebene im obigen Sinne ausgehen. Auf Einschränkungen bezüglich dieser Sichtweise komme ich an entsprechender Stelle zurück. Formal gesehen legen pragmatische Prinzipien der lokalen Textebene fest, welche Beziehungen zwischen Indizes bestehen, relativ zu denen die mit zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Ereignisschilderungen verbundenen Propositionen ausgewertet werden. Lokale Prinzipien beziehen sich nur auf die Einordnung zweier unmittelbar aufeinanderfolgender Ereignisschilderungen in Isolation, ohne die Rolle der beiden Schilderungen bei der Rekonstruktion eines größeren thematischen Zusammenhangs zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht sind die lokalen Prinzipien weniger spezifisch als die thematischen. Wir werden jedoch an späterer Stelle sehen, daß die lokalen Prinzipien im Vergleich zu den thematischen die konkret vorliegenden Ereignistypen stärker berücksichtigen. Der semantische Gehalt der Proposition spielt bei der Befolgung lokaler Prinzipien eine größere Rolle. In dieser Hinsicht sind sie spezifischer als die thematischen. Die temporalen Beziehungen, welche den in diesem Abschnitt zu entwickelnden Prinzipien zugrundeliegen, sind zwar in der Regel mit der erweiterten Reichenbach-
113
Semantik aus 1.2 kompatibel. Dies bedeutet, daß meist kein Widerspruch zu den Bedeutungen der Tempora, wie sie dort als primäre Bedeutungen beschrieben wurden, entstehen darf. In bestimmten stilistisch markierten Kontexten sind jedoch durchaus Abweichungen der durch die jeweils relevanten pragmatischen Diskursprinzipien nahegelegten zeitlichen Beziehungen von den durch die Temporalsemantik als primäre Bedeutungen erfaßten Relationen denkbar. So werden wir in diesem Kapitel beispielsweise Kontexte untersuchen, in denen sich das Simple Present abweichend von seinem (semantisch festgelegten) präsentischen Zeitbezug auf in der Vergangenheit zur Sprechzeit lokalisierte Gegebenheiten bezieht (vgl. (115) - (118) unten). Dies wird dann entweder als sekundäre Bedeutung (die von der primären Bedeutung semantisch abgeleitet werden kann) oder als metaphorischer Tempusgebrauch (in dem die Pragmatik eine der semantischen Bedeutung völlig widersprechende Gebrauchsweise nahelegt) zu deuten sein. Im Einklang mit unserem bisher entwickelten pragmatischen Rahmen stellen auch die in diesem Abschnitt formulierten pragmatischen Prinzipien der lokalen Textebene suspendierbare (Default-) Prinzipien dar. Dies bedeutet, daß die durch sie vorgeschriebenen Arten der temporalen Interpretation automatisch zur Anwendung kommen, solange nichts anderes durch spezifischere Informationen nahegelegt wird.
2.3.2.1
Das Prinzip der Chronologie zwischen zwei Situationen
Das allgemeinste Prinzip, das der lokalen temporalen Einordnung zugrundeliegt, ist das der chronologischen Anordnung. Ich werde diesen Default-Fall der lokalen Verzeitung durch das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene 17 erfassen: (82) Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [ p 1 1 r 1 , e 1 und [ p 2 j r2,e2 : r1 < r 2 und e1 < e2. Wir gehen in der Formulierung (82) davon aus, daß zwei im Text direkt aufeinanderfolgenden Ereignisschilderungen S1 und S2 die Propositionen (atomischen Sätze) p 1 und p2 zugrundeliegen und p 1 relativ zu den temporalen Indizes r 1 und e 1 sowie p2 relativ zu den Indizes r2 und e2 wahr ist (dargestellt durch [p1 ] r1,e1 bzw. [p2] r2, e2 ). Im Normalfall positionieren wir nach diesem Prinzip r1 anterior zu r2 und e 1 ebenfalls anterior zu e2. Das Prinzip der Chronologie (82) legt also im Hinblick auf den zeitlichen histoireAufbau der lokalen Textebene als Normalfall (per Default) fest, daß die Referenz- und 17
Ich werde der Einfachheit halber auf dieses Prinzip im folgenden auch als das "lokale Chronologieprinzip" Bezug nehmen.
114 Ereigniszeiten zweier Situationen, auf die unmittelbar hintereinander im Text verwiesen wird, chronologisch aufeinanderfolgen. Die in unserer Wahrnehmungswirklichkeit rekonstruierte chronologische Abfolge der Referenz- und Ereigniszeiten ist dabei isomorph zu der chronologischen Abfolge der Verweise auf diese Zeiten im Text. Im Prinzip entspricht (82) somit Ehrichs Chronologieprinzip (68). Im Unterschied zu Ehrich beziehen wir uns hier jedoch nicht nur auf Referenzzeiten, sondern auch auf Ereigniszeiten. Beide Relationen, die der Referenzzeiten und die der Ereigniszeiten zueinander, stellen dabei annullierbare (Default-) Werte dar. Wenn in einem Kontext unzweifelbar r1 < rl gilt, gehen wir normalerweise (per Default) davon aus, daß gleichzeitig auch die Beziehung e1 < e2 vorliegt. Wird in umgekehrter Weise durch den textuellen Kontext die Beziehung r1 < r2 eindeutig nahegelegt, setzen wir in der Regel e1 < e2 voraus. Worin der Vorteil dieser im Vergleich zu Ehrichs Chronologieprinzip umständlicheren Darstellung liegt, kläre ich im folgenden. 18 Es existieren temporale Konstellationen, in denen sich die Ereigniszeiten überlappen und die Referenzzeiten trotzdem im Sinne von (82) aufeinanderfolgen. Dies ist beispielsweise in Kontexten der erlebten Wahrnehmung in Verbindung mit einer Man beachte, daß derartige Prinzipien in einem bestimmten Punkt nicht so weit gehen wie die Semantik, obwohl Prinzipien des Textaufbaus wie (82) hinsichtlich der textuellen Verzeitungsstruktur informativer sind als z.B. die erweiterte Reichenbach-Semantik. Während in der Semantik nämlich die den einzelnen Tempora zugrundeliegenden spezifischen zeitlichen Beziehungen festgelegt werden, stellt ein Prinzip wie (82) kein spezifisches Prinzip des Tempusgebrauchs dar, sondern es legt lediglich ein allgemeines Muster fest, nach dem zusammenhängende Satzfolgen interpretiert werden. So sagt das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) nur aus, daß die Gegebenheiten entsprechend ihrer Erwähnung im Text chronologisch anzuordnen sind. Es wird jedoch nichts darüber ausgesagt, welche Tempora diese Chronologie herbeiführen. Die Satzfolge Yesterday John had a yoghurt and today he will have the children's portion of sausages folgt dem lokalen Chronologieprinzip genauso, wie die indefinite Lokalisierung von Gegebenheiten in I never knew me a better time, and I guess I never will (aus einem Pop-Song), da in beiden Beispielen im Hinblick auf die ausgedrückte Ereignisabfolge r1 < r2 und e1 < e2 gilt. Dies entspricht unserer Intuition: Die Textausschnitte erscheinen zusammenhängend (allerdings nicht-narrativ). Die durch die Tempusfolge 'Simple Past - Simple Future' herbeigeführte unterschiedliche Positionierung von e und r relativ zur Sprechzeit und die modale Komponente des Simple Future sind in der Interpretation nach dem lokalen Chronologieprinzip jedoch nicht berücksichtigt, da dieses Prinzip, wie bereits gesagt, nur ein allgemeines Interpretationsmuster festlegt. Auch die indefinite Lokalisierung von Gegebenheiten durch Tempora, wie sie in bestimmten markierten Kontexten vorkommt, vermag dieses Prinzip nicht zu erklären. Die hier entwickelten allgemeineren Diskursprinzipien werden somit an späterer Stelle durch spezifischere Prinzipien des Tempusgebrauchs zu ergänzen sein, die dann beispielsweise Verzeitungsmuster festlegen, die wir typischerweise mit Kombinationen wie 'Simple Past - Simple Future' oder 'Simple Past - Simple Present' in Verbindung bringen. Der allgemeinere Charakter der bisher diskutierten und auch der in diesem Abschnitt zu entwickelnden Diskursprinzipien (im Vergleich zu Prinzipien, die sich auf den spezifischen Tempusgebrauch beziehen) wird in der Formalisierung dadurch ausgedrückt, daß die in diesem Abschnitt eingeführten Prinzipien nur auf die zwei Parameter r und e Bezug nehmen, die Sprechzeit i jedoch außer acht lassen. Letztere wird in der Formulierung von Prinzipien des Tempusgebrauchs wieder eine Rolle spielen.
115
imaginären Wanderung der Fall, etwa nach dem Muster: (a) He looked out of the window, (b) A car was parked on the left side of the road, (c) The car had a broken window, (d) Inside the car a female person was apparently sleeping, with her head over the steering-wheel. Hier überlappen sich die Ereigniszeiten der in (b) bis (d) beschriebenen Zustände. Die Abfolge der Schilderung dieser Gegebenheiten erfolgt jedoch im Einklang mit der zeitlichen Folge der Wahrnehmung dieser Situationen durch den Protagonisten. 19 Die Anordnung der Situationsschilderungen wird in einer Weise durchgeführt, bei der sie nicht nur ikonisch mit der zeitlichen Abfolge der Wahrnehmungen durch den Protagonisten übereinstimmt, sondern gleichzeitig den Eindruck einer imaginären Wanderung vom Standpunkt des Protagonisten aus hin zu der sich im Auto befindlichen Person erzeugt. Die mit der imaginären Wanderung verbundene zeitliche Abfolge, bei der die Erwähnung der Gegebenheiten in den einzelnen Sätzen gewissermaßen Zwischenstationen auf dem Weg vom beobachtenden Protagonisten hin zu dem Zielpunkt der im Auto befindlichen Person sind, läßt sich am adäquatesten über eine sukzessive Anordnung der Referenzzeiten darstellen. Die Referenzzeiten sind dann Betrachtpunkte, und jeder Betrachtpunkt repräsentiert die zeitliche Verankerung einer der Zwischenstationen auf unserer imaginären Wanderung. 20 In einem solchen Fall würde ein spezifischeres Prinzip, das in Kontexten der erlebten Wahrnehmung und der imaginären Wanderung zur Anwendung kommt, die auf der Anwendung des Chronologieprinzips (82) beruhende Annahme, daß e 1 vor e2 liegt, suspendieren, während hingegen die Positionierung der Referenzzeiten zueinander nach dem Prinzip der Chronologie der lokalen Textebene vorgenommen wird. Auch die Relation r1 < r2 ist in bestimmten Kontexten suspendiert. Dann können jedoch die Ereigniszeiten immer noch chronologisch angeordnet erscheinen. Diese Konstellation finden wir z.B. in Verbindung mit dem Past Perfect: Bei der Interpretation von Ereignisschilderungen wie (a) He was happy when he got on the plane, (b) He had withdrawn all his money and (c) had paid off his wife with a substantial amount out of it in order to be left alone gehen wir normalerweise davon aus, daß die Referenzzeit in (b) und (c) dieselbe bleibt, nämlich die durch (a) gesetzte, aber die Ereigniszeiten von (b) und (c) chronologisch aufeinanderfolgen, wobei sie vorzeitig zu der Referenzzeit liegen. Ein gesondertes Prinzip, das in Verbindung mit dem Past Perfect zum Tragen kommt, muß in derartigen Kontexten die Relation r1 < r2 des Prinzips der Chronologie auf der lokalen Textebene suspendieren. Satz (a) weist den Mustertext durch das Wahrnehmungsverb looked als erlebte Wahrnehmung aus. Dies ähnelt einem langsamen Kameraschwenk über Örtlichkeiten hinweg in einem Film. Der Unterschied ist jedoch, daß uns das Medium der Sprache dazu zwingt, das graduelle Schwenken der Betrachtperspektive über die örtlichen Gegebenheiten hinweg in indirekter Weise herzuleiten, während wir im Film aufgrund der optischen Täuschung durch die schnell an unserem Auge vorbeilaufenden Einzelbilder diesen Schwenk direkt als eine graduelle Bewegung durch die Örtlichkeiten empfinden. Im Text werden wir so mit einer zwangsläufig ruckartigen zeitlichen Vorwärtsbewegung konfrontiert, die daraus resultiert, daß wir uns in der sukzessiven Aufnahme von temporalen Verweisen im Text sprungartig von Referenzzeit zu Referenzzeit bewegen müssen. Jede Referenzzeit repräsentiert dabei eine andere Betrachtperspektive, von der aus die Örtlichkeiten jeweils unterschiedlich gesehen werden.
116
Durch die Integration von Referenz- und Ereigniszeiten in (82) beziehen wir uns auf eine deutlich reichere temporale Struktur, als wir durch die ausschließliche Zugrundelegung entweder von Ereignis- oder von Referenzzeiten zu erhalten vermögen: Auf der Basis von (82) können mehr Möglichkeiten der Verzeitung systematisch erfaßt werden als durch ein Chronologieprinzip, das ausschließlich entweder auf den Relationen zwischen Referenzzeiten untereinander oder zwischen Ereigniszeiten aufbaut. Dies untermauert die Zugrundelegung sowohl von r1 < r2 als auch von e 1 < e2 in der in (82) durchgeführten Form. Um zu demonstrieren, wie wir uns angesichts komplexerer Verzeitungsmuster in authentischen Textbelegen die Rolle des Prinzips der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) konkret vorzustellen haben, betrachten wir noch einmal den thematischen und zeitlichen Bruch in (79): [...] A date was fixed for Brideshead's wedding, early in the Christmas holidays, so that his future step-children might take part. One afternoon in November Julia and I stood at a window in the drawing-room watching the wind at work [...].
Der thematische Bruch vollzieht sich hier zwischen den unmittelbar aufeinanderfolgend in den Handlungsverlauf eingeführten Ereignisschilderungen a date was fixed for Brideshead's wedding und Julia and I stood at a window [...]. Die attributivische Präpositionalphrase early in the Christmas holidays fungiert als Adjektiv zu der Nominalphrase a date [...] for Brideshead's wedding. Den Nebensatz so that his future step-children might take part können wir als zu der ersten Ereignisschilderung a date was fixed for Brideshead's wedding gehörige adverbiale Form betrachten. Die Präpositionalphrase und der Nebensatz stellen daher keine eigenständigen Beschreibungen von Ereignissen dar, weil sie beide zu der Schilderung des Ereignisses 'a date be- fixed for Brideshead's wedding ...' gehören. 21 Folglich sind die beiden in diesem Textausschnitt enthaltenen Sätze als in konzeptueller Hinsicht unmittelbar aufeinanderfolgende Schilderungen lediglich zweier Gegebenheiten zu betrachten, nämlich der Situationen 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window ...'. Konsequenterweise müßten wir als Ereignistyp und damit als Proposition hier eigentlich 'a date early in the Christmas holidays so that Brideshead's future step-children take- part befixed' o. ä. zugrundelegen. Da die Berücksichtigung der in der Präpositionalphrase und der im Nebensatz enthaltenen Informationen in dem hier beschriebenen Interpretationsprozeß der zeitlichen Einordnung der beiden aufeinanderfolgenden Sätze nur eine untergeordnete Rolle spielt (mit Ausnahme des Hinweises early in the Christmas holidays vielleicht), ist es gerechtfertigt, für den Interpretationsvorgang Ereignistypen in der "unvollständigen" Form 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window ...' als relevant zu erachten. Auch die auf das letztere Ereignis bezogene Proposition müßte in ihrer vollständigen Form mehr Informationen enthalten, als hier dargestellt. Diese Informationen werden jedoch erst im auf die zitierte Passage folgenden Kontext gegeben und stehen dem Leser in dem hier diskutierten lokalen Interpretationsprozeß noch nicht zur Verfügung.
117 Bei der Einführung des zweiten Satzes aus dem obigen Ausschnitt vollzieht nun der Leser zunächst nicht dessen zeitliche Einordnung in den globaleren thematischen Zusammenhang, sondern eher die Einordnung relativ zu dem unmittelbar vorhergehenden Satz. In bezug auf diesen unmittelbareren Interpretationsvorgang, den der Leser bei der Rezeption des zweiten Satzes vollzieht, wollen wir zunächst davon ausgehen, daß weiteres kontextuelles Wissen ausgeblendet wird. So überprüfen wir, ob eine lokale Verzeitung überhaupt als unabhängige Repräsentationsebene vorliegt. Um den hier postulierten Vorgang der Interpretation auf der lokalen Textebene nachvollziehen zu können, ist es daher nötig, sich vorzustellen, daß der obige Textausschnitt in Isolation steht. Es wird deutlich, daß schon allein auf der Basis der so zitierten beiden Sätze der Eindruck eines thematischen und zeitlichen Bruchs zwischen diesen Sätzen entsteht. Dessenungeachtet werden, wie wir bereits gesehen haben, die mit den beiden Hauptsätzen in Verbindung stehenden Gegebenheiten normalerweise chronologisch angeordnet. Die zeitliche Einordnung der Situationen zueinander ist also trotz des zwischen ihnen liegenden thematischen Bruchs nicht völlig irrelevant. Woraus diese chronologische Interpretation auch ohne Hinzuziehung des weiteren Kontextes resultiert, werde ich im folgenden darlegen. Zwei Arten von Wissen tragen zu der Interpretation des thematischen Bruchs bei: unser Wissen bezüglich der Ereignistypen 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window...' sowie unser Wissen über die zeitliche Einordnung des Adverbials one afternoon in November. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel festgestellt, erscheint die Textpassage ohne das Adverbial weniger verständlich:22 [...] A date was fixed for Brideshead's wedding, early in the Christmas holidays, so that his future step-children might take part. ? Julia and I stood at a window in the drawing-room watching the wind at work [...].
Hier würden wir nicht zwingend dieselbe Art der Chronologie in die Abfolge der Ereignisse hineininterpretieren wie in der Originalversion, sondern könnten 'Julia and I stand- at a window...' auch als einen Teil der mit dem Verlauf von 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' verbundenen Phasen betrachten, etwa in der Form, daß Julia und der Protagonist unmittelbar nach Bekanntgabe der Entscheidung bezüglich der Festlegung des Hochzeitsdatums am Fenster stehen (der weiterführende Kontext würde aber auch unter Auslassung des Adverbials den Kontext disambiguieren und die letztere Deutung ausschließen; dieser weiterführende Kontext steht dem Leser in
Da es mir hier um die Erfassung der Interpretationsvorgänge geht, die wir unmittelbar in Verbindung mit der Einführung des zweiten Ereignisses 'J. and I stand- at a window...' relativ zu jenem Ereignis vollziehen, das im Text unmittelbar vorhergehend beschrieben wird ('a date be- fixed for B.'s wedding...'), bezieht sich das Kriterium "weniger verständlich" auch nur auf den hier zitierten Ausschnitt, d.h. die zwei sukzessiv aufeinanderfolgenden Sätze aus (79), ohne Hinzuziehung des weiteren Kontextes: Wir stellen uns vor, daß wir mit diesen beiden Sätzen in Isolation konfrontiert werden. Auch unter dieser Voraussetzung müssen wir die Version mit dem Adverbial als die eindeutig verständlichere klassifizieren.
118
dem hier beschriebenen lokalen Interpretationsprozeß jedoch angenommenermaßen noch nicht zur Verfügung). In der Version mit dem Adverbial one afternoon in November gelangen wir dagegen automatisch zu einer ganz bestimmten chronologischen Anordnung von 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window', die sich dadurch auszeichnet, daß zwischen den beiden Ereignissen wahrscheinlich ein größerer Zeitraum liegt, denn 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' findet vermutlich nicht an jenem Nachmittag oder Tag statt, an dem wir 'Julia and I stand- at a window...' lokalisieren. Wenn nämlich letzteres der Fall wäre, müßte dies explizit durch ein Adverbial wie in on that day / on that afternoon Julia and I stood at a window o. ä. gekennzeichnet werden. In Verbindung mit dem Adverbial one afternoon in November interpretieren wir hingegen die Gegebenheiten 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window...' zwar chronologisch, wir sehen sie jedoch nicht als direkt thematisch zusammenhängend an. Dieser Zusammenhang wird, wie wir in der Diskussion des weiteren Kontextes bereits festgestellt haben, erst mit der Einordnung des Textausschnitts in einen größeren thematischen Zusammenhang durch den impliziten Verweis auf den November 1938 hergestellt. Dieser Bezug ist indirekt auch durch one afternoon in November ausgedrückt, und durch ihn erscheinen die Gegebenheiten 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window ...' unter dem Gesichtspunkt 'things that happened in autumn 1938' gesehen, was jedoch auf Basis des oben zitierten Ausschnitts nicht nachvollzogen werden kann (dabei kann ersteres Ereignis in direkterer Weise unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden als letzteres). Wir vermögen der Interpretation des Ausschnitts ohne Hinzuziehung des weiteren Kontextes also die folgenden Komponenten zugrundezulegen: einen thematischen Bruch zwischen den beiden geschilderten Ereignissen 'a date be- fixed for B.'s wedding...' und 'J. and I stand- at a window...', einen größeren Zeitraum, der zwischen diesen Ereignissen liegt und eine chronologische Anordnung der beiden Ereignisse zueinander, in der die Reihenfolge ihrer Erwähnung der Abfolge dieser Ereignisse in der Wahrnehmungswirklichkeit entspricht. Wie stellt sich nun diese Art der Verzeitung im Hinblick auf die Anwendung oder Nichtanwendung der bisher eingeführten Diskursprinzipien dar? Das Fehlen einer direkten thematischen Assoziation führt dazu, daß bei der Einordnung von 'Julia and I stand- at a window' relativ zu 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' das thematische Chronologieprinzip und das thematische Rahmenprinzip außer Kraft gesetzt sind, jedoch das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) Gültigkeit behält. Die beiden Situationen stehen in einer Beziehung der chronologischen Abfolge nach (82) zueinander, sie sind aber thematisch nicht direkt miteinander assoziiert. Eine solche Assoziation schrieb sowohl das thematische Chronologieprinzip als auch das thematische Rahmenprinzip vor. Beide Prinzipien sind daher in diesem Kontext außer Kraft gesetzt. Dies gilt jedoch nur für den hier beschriebenen lokalen Interpretationsprozeß: Auf der lokalen Ebene ist die Relation Assoz(e 1,e2) suspendiert, auf einer höheren Ebene wird jedoch ein thematischer Zusammenhang zwischen e 1 und e2 hergestellt. Das
119 thematische Rahmen- und Chronologieprinzip kommen in dem lokalen Interpretationsprozeß nicht zur Anwendung, da wir auf Basis der beiden Sätze die Ereigniszeiten e 1 und e2 nicht zu assoziieren vermögen. 23 Die Frage ist nun, wie ein spezifischeres Prinzip diese beiden allgemeineren Prinzipien suspendiert. Wir stellen in diesem Zusammenhang zunächst fest, daß es nicht das hier zur Anwendung kommende Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene sein kann, welches das thematische Chronologieprinzip außer Kraft setzt, denn diese beiden Prinzipien sind aufgrund der durch sie festgelegten temporalen Relationen kompatibel: Die Relation r1 < r2 aus dem Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) ist in dem Verzeitungsmuster r(S1) < r(S2)... < r(Sn) des thematischen Chronologieprinzips enthalten. Aufgrund unseres Wissens um die in (79) geschilderten Ereignistypen 'a date befixed for Brideshead's wedding' und 'Julia and I stand- at a window ...' folgern wir, daß zwischen 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' und 'one afternoon in November (Julia and I stand- at a window)' keine direkte thematische Assoziation besteht. 24 Derartiges Wissen um die Interpretation eines thematischen Bruchs zwischen zwei sukzessiv geschilderten Gegebenheiten muß in einem spezifischeren Prinzip als dem Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene zusammengefaßt werden. Dieses neu einzuführende Prinzip möchte ich als "Prinzip der thematischen Dissoziation" bezeichnen.
Das Adverbial one afternoon in November weist aber darauf hin, daß auf irgendeiner höheren Ebene ein thematischer Zusammenhang zwischen den beiden Ereigniszeiten besteht, es ist aber erst unter Hinzuziehung des weiteren Kontextes 'summer and autumn 1938' vollständig interpretierbar. Man beachte, daß ich hier als Ereignistyp der zweiten Situation nicht nur die einfache Proposition, sondern einen Prädikatausdruck mit einem Adverb-Operator über der Proposition zugrundelege. Wir ordnen hier genaugenommen nämlich nicht ein Ereignis des Typs 'Julia and I stand- at a window ...' in den Diskurs ein, sondern eher des Typs 'one afternoon in November Julia and I stand- at a window...'. Dies können wir auf der Basis der ReichenbachSemantik als [one afternoon in November(Julia and 1 stand- at a window)] s'e'r darstellen. Die Einführung komplexer Ereignistypen in der obigen Form ist mit der ReichenbachSemantik kompatibel, da Tempora und Adverbiale für sich genommen temporale Bezüge auf die drei Reichenbach'schen Interpretationsindizes herzustellen vermögen (sie haben daher auch nicht zwangsläufig Skopus übereinander, wie die Interpretation von Formeln wie Yesterday(Past(p)) zeigte). Wir können daher in diesem speziellen Interpretationsprozeß der Identifikation eines Ereignistyps einen adverbialen Ausdruck (in Form des Adverb-Operators über der Proposition) ohne Berücksichtigung der Tempora zugrundelegen, ohne dabei im Widerspruch zur indexikalischen Semantik zu sein. Diese Vorgehensweise ist auch im Einklang mit unserer eingangs getroffenen Grundannahme, daß die hier eingeführten pragmatischen Prinzipien allgemeine Prinzipien der Textinterpretation darstellen, die sich noch nicht auf die konkrete Anwendung bestimmter Tempora beziehen. Die Einführung von komplexeren Ereignistypen ist ebenfalls kompatibel mit Ansätzen der Aspektsemantik (z.B. Löbner 1988, Herweg 1990), in denen ebenfalls komplexere Prädikatausdrücke in Form von "Zustands-" und "Ereignisradikalen" anstatt einfacher Propositionen zugrundegelegt werden (dort jedoch auf ganz andere Art und in einem völlig anderen theoretischen Rahmen).
120 2.3.2.2
Das Prinzip der thematischen Dissoziation
Wir haben gesehen, daß in dem oben diskutierten Auszug aus (79) zwei Gegebenheiten, auf die im Text aufeinanderfolgend verwiesen wird, nicht in direkter Weise thematisch miteinander verbunden erscheinen. Dennoch können die beiden Situationen im Sinne des Prinzips der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) interpretiert werden. Dies brachte uns zu der Schlußfolgerung, daß zwar das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene hier Gültigkeit behält, das thematische Chronologieprinzip und das thematische Rahmenprinzip jedoch außer Kraft gesetzt sind, nämlich durch ein spezifischeres Prinzip, das spezifisches Wissen über die Ereignistypen zusammenfaßt und dessen Wissen mit dem thematischen Chronologieprinzip im Widerspruch steht. Dieses spezifischere Prinzip bezeichne ich als das "Prinzip der thematischen Dissoziation". Wie läßt sich dieses nun in einer allgemeinen Form darstellen? Während wir das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene noch als ein allgemeines Default-Prinzip (ähnlich den Prinzipien der thematischen Textebene) zu formulieren vermochten, wird das in dem Prinzip der thematischen Dissoziation enthaltene Wissen schon so sehr mit dem jeweiligen idiosynkratischen lexikalischen Gehalt der Ereignisschilderungen verbunden sein, daß eine Verallgemeinerung des Prinzips nicht möglich sein wird: Wir müßten theoretisch für jede unterschiedliche Gegebenheit, bei der das thematische Chronologieprinzip wie in (79) außer Kraft gesetzt ist, ein eigenes Prinzip der thematischen Dissoziation zugrundelegen, da das spezifische Wissen bezüglich der idiosynkratischen Ereigniseigenschaften immer ein anderes ist. Nun ergibt sich das Problem, daß das thematische Chronologieprinzip (81) durch die in ihm enthaltene Relation Assoz[(e(si), e(s2), ••> efsn)), t Rahmen7 zusätzlich zu der chronologischen Anordnung der Referenzzeiten r(S-i) < r(Sz) ••• < r(S„) vorschreibt, daß die Ereigniszeiten mit der Rahmenzeit t Rahmen und damit auch miteinander assoziiert sind. Das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Ebene schreibt jedoch nur die chronologische Anordnung zweier aufeinanderfolgender Ereignisse vor. Demnach enthält das thematische Chronologieprinzip spezifischere Informationen als das lokale Chronologieprinzip. 25 Wir aber haben das lokale Chronologieprinzip als das spezifischere Prinzip definiert. Wie läßt sich dieser scheinbare Widerspruch lösen? Die Antwort liegt in der hier vollzogenen Unterscheidung zwischen einer lokalen und einer thematischen Textebene. Während das thematische Chronologieprinzip, Auf der anderen Seite enthält das lokale Chronologieprinzip jedoch Informationen, die das thematische Chronologieprinzip nicht enthält, nämlich die Bedingung, daß die Ereigniszeiten per Default chronologisch aufeinanderzufolgen haben (e 1 < e2). Demnach spielt die Relation zwischen den Ereigniszeiten (=intervallartige Verlaufszeiten der Gegebenheiten) zusätzlich zur sukzessiven Anordnung der Referenzzeiten (=Betracht- oder Perspektivpunkte) nur in dem lokalen Interpretationsprozeß eine Rolle, und wir haben das lokale Chronologieprinzip in dieser Hinsicht als spezifischeres Prinzip ausgewiesen. Daß die explizite Positionierung von Ereigniszeiten (im Sinne der ERP) eine Domäne der lokalen Diskursprinzipien ist, wird auch die weitere Diskussion zeigen, in der wir Diskursprinzipien besprechen, die in Verbindung mit der Einführung von Zuständen zur Anwendung kommen.
121
genauso wie das thematische Rahmenprinzip, ein Verzeitungsmuster nahelegt, das sich im Hinblick auf einen thematischen Textabschnitt als Ganzes ergeben muß, wird das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Ebene bei der Einführung eines neuen Ereignisses relativ zu seinem unmittelbaren Antezedensereignis angewandt. In dieser Hinsicht gibt das lokale Chronologieprinzip spezifische Informationen bezüglich der Einordnung eines neuen Ereignisses in den Diskurs, denn es schreibt konkret vor, wie ein spezifisches Ereignis unter Berücksichtigung seiner idiosynkratischen Eigenschaften in den Diskurs zu integrieren ist. Das thematische Chronologieprinzip dagegen repräsentiert ein allgemeines Verzeitungsmuster, das sich aus der Menge der lokalen Interpretationsprozesse in bezug auf einen größeren Textabschnitt ergeben muß. Die lokalen Interpretationsprozesse brauchen nicht unbedingt, wie wir in den folgenden Abschnitten sehen werden, der lokalen Chronologie zu folgen. Aber auch wenn von der lokalen Chronologie abgewichen wird, mag sich uns der Textabschnitt auf der thematischen Ebene als ein zeitlich zusammenhängender erzählender Diskurs darstellen, denn der Leser wird auch in diesem Fall bemüht sein, die in den thematischen Textprinzipien ausgedrückten Verzeitungsmuster in den Text hineinzuinterpretieren. Sie stellen allgemeines Wissen dar, nach dem wir einen globaleren textuellen Zusammenhang rekonstruieren; lokale Prinzipien, wie das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Ebene, repräsentieren im Gegensatz hierzu spezifischeres Wissen, nach dem wir eine neu eingeführte Situation unter Berücksichtigung ihrer idiosynkratischen Eigenschaften in die Verzeitungsstruktur einzuordnen haben. In diesem Sinne "spezifischer" als die thematischen Prinzipien ist auch ein Prinzip der thematischen Dissoziation. Im Hinblick auf den oben diskutierten thematischen Bruch in (79) weist ein solches Prinzip die folgende Form auf: (83) Thematische Dissoziation in (79) Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [ p 1 1 r 1 , e 1 und [ p 2 l r 2 , e 2 : Dissoz(e1, e2), wobei Dissoz(e1, e2) gdw. -> Assoz(e1, e2), und -i Assoz(e1,e2) gdw. 'a date be- fixed for Brideshead's wedding'(el) und 'one afternoon in November (Julia and I stand- at a window)'(e2). Die Formulierung Dissoz(e1, e2), wobei Dissoz(e1, e2) gdw. ->Assoz(e1, e2) besagt, daß die Ereigniszeiten e 1 und e2 genau dann zeitlich (und damit auch thematisch) dissoziiert sind, wenn sie nicht im Sinne der bereits eingeführten Assoziationsrelation in einer direkten thematischen Verbindung miteinander stehen.26 Auf (79) angewandt bedeutet dies, daß keine thematische Verbindung zwischen den beiden Ereigniszeiten D.h. einer thematischen Verbindung, die allein aus der Art der beiden Ereignistypen resultiert (beispielsweise durch eine Kausalitätsbeziehung) und die nicht erst durch Hinzuziehung weiterer kontextueller Faktoren hergestellt werden muß.
122 vorliegt, also -> Assoz(e1,e2) gilt, und zwar genau dann, wenn das mit e 1 verbundene Ereignis vom Typ 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' ist und das mit e2 verbundene vom Typ 'one afternoon in November(Julia and I stand- at a window...)'. Diese in bezug auf (79) spezifizierte Definition der thematischen Dissoziation ist in Form von -> Assoz(e1,e2) gdw. 'a date be- fixed for Brideshead's wedding'(el) und 'one afternoon in November (Julia and I stand- at a window)'(e2) dargestellt. Da das thematische Chronologieprinzip und das thematische Rahmenprinzip die Relation Assoz(e1,e2) enthalten, widerspricht nun (83) durch -> Assoz(e1,e2) diesen Prinzipien. Weil (83) spezifischere Informationen enthält als das thematische Chronologieprinzip und als das thematische Rahmenprinzip (denn hier wird nicht nur allgemein auf die wahrscheinliche zeitliche Anordnung der Situationen in der histoire, sondern explizit auf den lexikalischen Gehalt der Ereignisschilderungen Bezug genommen), setzt (83) auf Basis der Grice'schen Informativitätsmaxime das thematische Chronologieprinzip und das thematische Rahmenprinzip außer Kraft. Gleichwohl ist (83) mit dem Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene (82) kompatibel, denn diesem liegt die hier außer Kraft gesetzte Bedingung, daß zwei in einer Chronologie aufeinanderfolgende Gegebenheiten auch zeitlich und thematisch assoziiert zu sein haben, nicht zugrunde. Die in Verbindung mit (79) zur Anwendung kommenden thematischen und lokalen Diskursprinzipien und deren Kompatibilität bzw. Inkompatibilität mitinander können wir nun wie folgt darstellen:
123 (84) Anwendung von Diskursprinzipien in (79) [...] A date was fixed for Brideshead's wedding, early in the Christmas holidays, so that his future step-children might take part. One afternoon in November Julia and I stood at a window in the drawing-room watching the wind at work [...].
Textebene
themat. Text-
Diskursprinzipien
zeitliche Relationen
ERP
rl -i > r2
thematisches Rahmenprinzip
Assoz(el,e2) A
•thematisches Chronologieprinzip
rl < r2 A Assoz(el,e2) A (rl,r2) c t(Rahmen)
Inkompatibilität
( r l , r 2 ) c t(Rahmen)
ebene
lokale Textebene
Chronologie auf der lokalen Textebene thematische Dissoziation in (79)
rl < r2
A
el < e 2 -i Assoz(el,e2) gdw. 'a date befixed for B.'s wedding'(el) und 'one afternoon in Nov.(J. and I standat a window)'(e2)
= suspendierte Diskursprinzipien IUP
=
widersprechende zeitliche Relationen
In der oberen Hälfte der Tabelle sind die Prinzipien der thematischen Textebene dargestellt, in der unteren jene der lokalen Textebene. Die thematische Dissoziation in (79) ist ein Prinzip der lokalen Textebene: Der thematische Bruch ergibt sich hier aus der Einordnung einer Gegebenheit relativ zu ihrer unmittelbaren Antezedenssituation, in diesem Fall der zeitlichen Einordnung einer Ereignisschilderung relativ zu dem unmittelbar im Text vorhergehend geschilderten Ereignis der Haupthandlungskette.
124 Die dritte Spalte der Tabelle listet die für die Interpretation des Kontextes (79) relevanten zeitlichen Beziehungen auf, welche die einzelnen Prinzipien nahelegen. 27 r 1 ist die Referenzzeit, die dem ersten Satz zugeordnet wird, und r2 jene, die in dem hier beschriebenen lokalen Interpretationsprozeß dem unmittelbar darauffolgenden Satz zuzuordnen ist. e 1 ist die Ereigniszeit des ersten Satzes und e2 die des zweiten. Weiter oben in der Tabelle aufgeführte Prinzipien und zeitliche Relationen sind allgemeinerer Natur, weiter unten aufgeführte hingegen spezifischer. Durch die Interpretation nach der thematischen Dissoziation in (79), welche aufgrund der Zuordnung eines Ereignisses vom Typ 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' zu e 1 und 'one afternoon in November (Julia and I stand- at a window)' zu e2 bewirkt wird, entsteht zu einigen der allgemeineren Prinzipien ein Widerspruch. Im einzelnen widerspricht die der thematischen Dissoziation in (79) zugrundeliegende Relation -i Assoz(e1,e2) der Relation Assoz(e1,e2) des thematischen Chronologieprinzips und des thematischen Rahmenprinzips. Da "thematische Dissoziation in (79)" spezifischere Informationen enthält als das thematische Rahmenprinzip und das thematische Chronologieprinzip, werden die letzten beiden Prinzipien suspendiert. Unter Befolgung der Grice'schen Informativitätsmaxime ziehen wir nämlich die Anwendung des Prinzips vor, das am informativsten ist, also jenes Prinzips, welches auf dem spezifischsten Informationsgehalt basiert. Die Inkompatibilität der Prinzipien im Hinblick auf (79) ist in der vierten Spalte der Tabelle dargestellt. Wir stellen fest, daß dabei das lokale Chronologieprinzip in Kraft bleibt, weil der Informationsgehalt der thematischen Dissoziation in (79) keine Verbindung zum Informationsgehalt des Prinzips der Chronologie auf der lokalen Textebene aufweist. Eine Verallgemeinerung des Dissoziationsprinzips muß, wie wir in der obigen Diskussion festgestellt haben, unvollständig bleiben. Der Kern des Prinzips der thematischen Dissoziation im Hinblick auf (79) war die Zuordnung eines spezifischen Ereignisses des Typs 'a date be- fixed for Brideshead's wedding' zu e 1 und des Typs 'one afternoon in November (Julia and I stand- at a window)' zu der unmittelbar darauffolgenden Ereigniszeit e2. Da sich der in einer temporalen Interpretation relevante idiosynkratische lexikalische Gehalt der Ereignisschilderungen nur bis zu einem
Die Prinzipien der thematischen Textebene sind hier in vereinfachender Weise bereits auf die Anwendung in unserem speziellen Fall bezogen worden: Wenn dem thematischen Chronologieprinzip beispielsweise die Relation r(Si) < r(S2) ...< r(Sn) zugrundeliegt, folgt in bezug auf unser hier untersuchtes Beispiel daraus die Relation r1 < r2. In etwas komplexerer Weise leiten wir die auf unser Beispiel bezogene Relation Assoz(e1,e2) aus Assozl(e(S1), e(S2) e
(Sn)> tRahmen1 des thematischen Chronologieprinzips und des thematischen Rahmenprinzips ab: Wenn sämtliche Ereigniszeiten mit der Rahmenzeit assoziiert sind, sind sie es auch miteinander. Dies wäre in vollständiger Weise durch einen logischen Schluß darzustellen, dem Konnektivität zugrundeliegt und der zur besseren Übersichtlichkeit in dieser Darstellung ausgelassen wurde. Die Prinzipien sind in der Tabelle somit unmittelbar auf das zu untersuchende Beispiel bezogen worden, unter Auslassung der Herleitung dieser konkreten Anwendung aus den allgemeinen Prinzipien. Eine vollständige Darstellung der mit der Herleitung aus den allgemeinen Formulierungen der Prinzipien verbundenen Schlüsse erfolgt an späterer Stelle.
125
gewissen Grad verallgemeinern läßt (z.B. im Sinne von Dowtys Aktionsartklassen), kann die Formulierung eines allgemeinen Dissoziationsprinzips nur die folgende, unvollständige Form aufweisen: (85) Prinzip der thematischen Dissoziation Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie I p11 r 1 , e1 und [ p2l r 2 ' e 2 : Dissoz(e1, e2) gdw. -> Assoz(e1, e2), wobei -> Assoz(e1, e2) gdw. sich zwischen den Ereigniszeiten e1 und e2 auf der Basis der durch p1 und p2 ausgedrückten Ereignistypen keine direkte thematische Verbindung herstellen läßt. Das Prinzip der thematischen Dissoziation (85) ist nicht vollständig: Die Schlußfolgerung, daß zwei Situationen thematisch dissoziiert sind, können wir nur unter Berücksichtigung des idiosynkratischen lexikalischen Gehalts der auf sie referierenden Situationsschilderungen treffen. Im Vergleich zum Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene ist somit (85) ein spezifischeres Prinzip, das sich nicht in derselben Form verallgemeinern läßt, wie es bei der lokalen Chronologie der Fall war. Das Prinzip der thematischen Dissoziation ist mit dem Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene kompatibel, da sich der Gehalt der beiden Prinzipien an keiner Stelle widerspricht. Dies wird der textuellen Realität gerecht: Beispiele wie (79) haben gezeigt, daß wir in der Regel zwei Situationen, auf die sukzessiv im Text verwiesen wird, chronologisch deuten, auch wenn sie nicht thematisch assoziiert erscheinen. Im Normalfall gehen wir jedoch davon aus, daß zwei chronologisch aufeinanderfolgende Situationen auch thematisch assoziiert sind. Die Anwendung des Prinzips der thematischen Dissoziation stellt somit kein Default-Muster der Interpretation von Texten dar, das wir automatisch zugrundelegen, sondern wird als Verzeitungsmuster vielmehr durch spezifische Kontexte nahegelegt und stellt somit einen Spezialfall der Interpretation dar. Das Prinzip der thematischen Dissoziation ist aber dennoch in dem Sinne als Default-Muster der Interpretation anzusehen, als wir automatisch dieses Interpretationsmuster anwenden, wenn einmal durch den Kontext die thematische Dissoziation nahegelegt wird. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Prinzip der thematischen Dissoziation in bestimmten Kontexten wiederum durch ein noch spezifischeres Prinzip außer Kraft gesetzt werden kann. Hierauf werden wir an späterer Stelle zurückkommen. Das Prinzip der thematischen Dissoziation repräsentiert des weiteren ein strikt lokales Interpretationsmuster (d.h., daß es in der Regel nicht über zwei Sätze hinaus zur Anwendung kommt): Erschienen alle in einem größeren Textabschnitt geschilderten Gegebenheiten miteinander dissoziiert, würde für uns dieser Textabschnitt sinnlos erscheinen und nicht als zusammenhängender Text angesehen werden. Dies ist ein typisches Phänomen spezifischerer Diskursprinzipien: Ihre Anwendung ist zumeist
126 auf einen strikt lokalen Kontext begrenzt, während allgemeinere Prinzipien im Hinblick auf größere Textabschnitte zur Anwendung kommen.
2.3.2.3
Das Prinzip der Rahmensetzung auf der lokalen Textebene
Ein Typ von Kontexten, in denen das Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene außer Kraft gesetzt wird, ist jener, wo die Antezedenssituation mittels ihrer Ereigniszeit einen zeitlichen Rahmen für die temporale Lokalisierung der neu eingeführten Situation darstellt, wie z.B. in dem Musterbeispiel eines partikularisierenden Kontextes (2) [1 ] Mr Parkis had done his work well: [2] the powder had worked and [3] the flat had been located - the top flat in 16 Cedar Road. Wir wollen das hiermit verbundene Interpretationsmuster so darstellen, daß in derartigen Kontexten die unmittelbar nach der Rahmensituation in den Text eingeführte Gegebenheit nicht in bezug auf die Rahmensituation chronologisch gedeutet wird, sondern nach einem Prinzip der Rahmensetzung auf der lokalen Textebene einzuordnen ist. In unserem pragmatischen Rahmen bedeutet dies, daß die Ereigniszeit des Rahmenereignisses den temporalen Rahmen für die Lokalisierung des Folgeereignisses darstellt und daß die Referenzzeit der Folgesituation mit der Referenzzeit, von der aus die Rahmensituation betrachtet wird, identisch ist: (86) Prinzip der Rahmensetzung auf der lokalen Textebene Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [ p 1 1 r 1 , e 1 und 1 p 2 ] r2,e2 : e2 c e1 und r1 = r2, wenn das Intervall e1 plausibel einen temporalen Rahmen für die Lokalisierung von e2 darzustellen vermag. Die Ereigniszeit der neu eingeführten Situation ist also in jener der unmittelbaren Antezedenssituation enthalten (hier dargestellt durch e2 er e1), und die Referenzzeiten der beiden Situationen sind in der Regel identisch (r1 = r2), sofern e1 plausibel einen zeitlichen Rahmen für die Lokalisierung von r2 und e2 darzustellen vermag. Die Inklusion e2 Zust(e2). Nach dieser in bezug auf (90) spezifizierten Version von (89) schließen wir auf eine Relation der Überlappung zwischen e1 und e2 (Überl(e1,e2)) sowie der Gleichzeitigkeit der Referenzzeiten (r1=r2) genau dann, wenn der Ereigniszeit e 1 eine Situation des Typs 'B. O'Shaughnessy jump- up from her chair' zugeordnet wird und wenn mit der Ereigniszeit e2 eine Gegebenheit vom Typ '[Brigid O'Shaughnessy's] lips be- between her teeth' in Verbindung steht. Des weiteren müssen wir die erste Gegebenheit im Hinblick auf den hier vorliegenden zeitlichen Kontext, d.h. relativ zu der Referenzzeit und der Ereigniszeit, plausibel als ein Ereignis identifizieren können (dargestellt in der indexikalischen Form durch ['B. O'Shaughnessy jump- up from her chair'] r,e=> Ereig(el)) sowie die zweite Situation als einen Zustand (['[Brigid O'Shaughnessy's] lips be- between her teeth'] r,e => Zust(e2)). Relativ zu den allgemeineren Diskursprinzipien stellt sich nun die Einordnung von "Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)" wie folgt dar:
134 (92) Diskursprinzipien
zeitliche Relationen
ERP
rl i > r2
Inkompatibilität
themat. Text-
thematisches Rahmenprinzip
Assoz(el,e2)A
*thematisches Chronologieprinzip
rl < r2 A Assoz(el,e2)
( r l , r 2 ) c t(Rahmen)
ebene
(rl,r2) c
lokale
*Chronologie der lokalen Textebene
A
t(Rahmen)
rl < r2 A el < e2
Textebene
Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)
Überl(el,e2) A rl = r2 gdw.
*T
(Br.S. jump- up from her chair)(el) und (Br. S.'s lip be between her teeth)(e2)
A
(Ereig(el)A Zust(e2))
*
= suspendierte Diskursprinzipien
•••HHI •••
= sich widersprechende zeitliche Relationen
Die Relation r1 = r2 aus "Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)" widerspricht der Relation r1 < r2, die in dem lokalen Chronologieprinzip enthalten ist und die auch dem thematischen Chronologieprinzip zugrundeliegt. Das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" ist als das spezifischere anzusehen, da es im Vergleich zu den beiden Chronologieprinzipien Aktionsarteigenschaften der vorliegenden Gegebenheiten berücksichtigt. Es suspendiert daher die Chronologieprinzipien. Die Relation Überl(e1,e2) des Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" widerspricht des weiteren der Relation e1 < e2 des lokalen Chronologieprinzips. Es sind somit beide Relationen des lokalen Chronologieprinzips suspendiert: rl < r2 und e 1 < e2. Wie wir noch sehen werden, müssen jedoch auch Kontexte erklärt werden,
135 in denen nur eine dieser beiden Relationen durch ein spezifisches Prinzip suspendiert ist. Da wir den Schluß von der Relation der Ereigniszeiten untereinander auf die Relation der Referenzzeiten zueinander und umgekehrt als suspendierbaren DefaultSchluß definiert haben, vermag unser Ansatz derartige Kontexte ohne Probleme zu erfassen. Es ist also theoretisch möglich, daß ein spezifischeres Prinzip (z.B. in Verbindung mit Zuständen) nur eine der beiden Relationen des lokalen Chronologieprinzips suspendiert. Es kann beispielsweise Gleichzeitigkeit der Ereigniszeiten bei Progression der Referenzzeiten vorliegen, wenn wir Zustände in einem Text in der zeitlichen Abfolge ihrer Wahrnehmung betrachten. Wir kommen hierauf noch zurück. In Verbindung mit dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)" werden jedoch beide Relationen des lokalen Chronologieprinzips, r1 < r2 und e1 < e2, suspendiert. Durch das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" (89) setzen wir im Hinblick auf eine Erzählfolge zeitlichen Stillstand in Verbindung mit Zuständen als Default-Fall voraus: Ist eine der zwei in den lokalen Interpretationsprozeß involvierten Gegebenheiten ein Zustand, überlappen sich die Ereigniszeiten der beiden Gegebenheiten, und es wird im Normalfall keine sukzessive Abfolge von Referenzzeiten zugrundegelegt. Jene Kontexte, in denen Zustände mit einer zeitlichen Vorwärtsbewegung der Handlung in Verbindung gebracht werden, und zwar in dem Sinne, daß zwei Referenzzeiten aufeinanderfolgen, obwohl eine der beiden Situationen ein Zustand ist und sich die Ereigniszeiten immer noch überlappen mögen,29 wollen wir derart darstellen, daß das Prinzip (89) durch ein noch spezifischeres Prinzip außer Kraft gesetzt wird.
2.3.2.5
Zustände und Kausalität
Die Einführung eines Zustands in den Diskurs muß zu einer chronologischen Deutung in bezug auf die unmittelbar vorhergehend im Text erwähnte Situation führen, wenn dieser Zustand nur als ein Resultat der vorhergehenden Gegebenheit gedeutet werden kann. Ein Prinzip, das dieses aussagt, wollen wir wie folgt aufbauen: (93) Zustände und Kausalität Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [ p 1 1 r 1 , e1 und [ p 2 l r 2 , e2: Falls e2 ein Zustand zugeordnet wird, gilt r1 < r2 und e1 < e2 gdw. e2 die Resultatsphase zu der mit e1 verbundenen Situation darstellt oder
Die Ereigniszeiten von unmittelbar aufeinanderfolgend geschilderten Zuständen müssen sich aber nicht zwingend überlappen. So haben wir bereits Kontexte diskutiert, in denen die Ereigniszeiten von Zuständen aufeinanderfolgen, z.B. nach dem Muster First, J. was in love with Jane, then he was in love with Mary [...]: Hier folgen sowohl die Referenz- als auch die Ereigniszeiten chronologisch aufeinander.
136 wenn zwischen den durch p1 und p2 ausgedrückten Situationen eine direkte oder indirekte Kausalitätsbeziehung besteht, und zwar in der Form, daß die mit p1 verbundene Situation die Ursache der durch p2 ausgedrückten Gegebenheit ist. Auch dies ist eine allgemeine Formulierung, die im Hinblick auf jeden spezifischen Kontext und die damit jeweils verbundenen Ereignistypen zu spezifizieren sein wird. Die in S1 geschilderte Gegebenheit wird zumeist ein intern komplexes Ereignis sein, das zumindest eine Zustandsänderung in seinem Verlauf enthält, denn sonst gäbe es keine als Resultatsphase anzusehende Zeitspanne, und die in S2 geschilderte Situation wird in der Regel als Zustand zu konzipieren sein. Ein typisches Beispiel ist John turned off the light. It was pitch dark around him: Hier bezieht sich der erste Satz auf eine Situationsänderung, weswegen sich der im zweiten Satz geschilderte Zustand nur auf den durch das erste Ereignis herbeigeführten neuen Zustand beziehen kann. Die beiden Sätze sind relativ zueinander chronologisch zu deuten. Bezieht sich der erste Satz ebenfalls auf einen Zustand, wird auf die chronologische Anordnung meist zusätzlich durch Adverbiale verwiesen, man vergleiche z.B. das unvollständig wirkende ?l was asleep at nine. I felt awake mit der vollständigeren Version I was asleep at nine. I felt awake in the morning. Während wir in der Version ohne das Temporaladverbial in the morning die Satzfolge nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" zu interpretieren hätten, was keinen Sinn ergäbe, da man nicht eingeschlafen sein kann und sich zur selben Zeit wach zu fühlen vermag, wird in der Version mit dem Temporaladverbial die chronologische Deutung nach (93) nahegelegt. In ähnlicher Form vermochten wir in die Folge der Schilderungen habitueller Situationen in (69) über Adverbiale eine chronologische Anordnung hineinzuinterpretieren: [...] [I] went to bed immediately hour before reveille.
after the nine o'clock news. I was always awake and fretful an
Hier wird der Zustand 'I be- awake and fretful' in bezug auf 'I go- to bed' nicht im Sinne von Gleichzeitigkeit interpretiert, sondern chronologisch, weil zwischen 'go- to bed' und 'be- awake and fretful' eine indirekte kausale Beziehung besteht. Die Adverbiale after the nine o'clock news und an hour before reveille betonen die mit der kausalen Beziehung verbundene zeitliche Abfolge. Der Interpretation liegt hier das folgende, in bezug auf (69) spezifizierte Prinzip zugrunde: (94) Zustände und Kausalität in (69) Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [p1 ] r1, e1 und [ p 2 j ' e 2 : r1 < r2 und e1 < e2, gdw. always(immediately after the nine o'clock news(I go- to bed))(e1) und always(an hour before reveille(I be- awake
137 and fretful))(e2) 30 , sowie [[ always(immediately after the nine o'clock news(I go- to bed))] r1,e => Ereig(el) A [always(an hour before reveille(I be- awake and fretful))]! r2,e2 => Zust(e2) und Vorauss((Ereig(e1), Zust(e2)). Die Referenzzeiten r 1 und r2 sowie die Ereigniszeiten e 1 und e2 sind hiernach chronologisch anzuordnen, wenn e1 ein komplexes Ereignis des Typs 'always(immediately after the nine o'clock news(I go- to bed))' zugeordnet wird sowie e2 eines des Typs 'always(an hour before reveille(I be- awake and fretful))', und wenn wir folgern, daß die erste Situation im Hinblick auf den zeitlichen Kontext als Ereignis zu klassifizieren ist, die zweite Situation im Hinblick auf den Kontext ein Zustand ist und das Ereignis an e1 in irgendeiner Form die Voraussetzung dafür darstellt, daß der Zustand an e2 vorliegen kann. Diese letztere Beziehung habe ich hier durch die Relation Vorauss (für 'Voraussetzung') dargestellt. Vorauss(Ereig, Zust) gilt genau dann, wenn der Zustand im Sinne von (93) in einer direkten oder indirekten Kausalitätsbeziehung zum Antezedensereignis steht, und zwar derart, daß das Antezedensereignis die Voraussetzung dafür ist, daß der Folgezustand überhaupt eintreten kann. Es ergibt sich das folgende Verhältnis zwischen (94) und den anderen Diskursprinzipien:
Der metasprachliche Ausdruck 'always' stellt hier einen Operator dar, der Iterativität und Habitualität kennzeichnet. Diese Habitualität wird in Verbindung mit I went to bed immediately after the 9 o 'clock news zwar nicht explizit ausgedrückt, sie liegt der Aussage aber implizit zugrunde.
138
(95)
themat. Text-
Diskursprinzipien
zeitliche Relationen
ERP
rl -i >
Inkompatibilität
T2
thematisches Rahmenprinzip
Assoz(el,e2)A
thematisches Chronologieprinzip
rl < r2 A Assoz(el,e2) A (rl,r2) c t(Rahmen)
( r l , r 2 ) c t(Rahmen)
ebene
Chronologie der lokalen Textebene
lokale Text-
•Zustände und Gleichzeitigkeit in (69)
ebene
rl < r 2
A
el < e 2
Überl(el,e2) A rl = r2 gdw. always(imm.after the nine o'clock news(I go-to bed))(el) und always(an hour before reveille(I beawake and fretful))(e2)
P
II1
A (Ereig(el) AZust(e2))
Zustände und Kausalität in (69)
rl < r2
A
e l < e2 gdw. always(imm.after the nine o'clock news(I go-to bed))(el) und always(an hour before reveille(I beawake and fretful))(e2) A (Ereig(el) A Zust(e2)) A Vorauss(Ereig(el), Zust(e2))
= suspendierte Diskursprinzipien H H "'
=
widersprechende zeitliche Relationen
139 Im Vergleich zum Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" berücksichtigt "Zustände und Kausalität" die Relation Vorauss zwischen den beiden Gegebenheiten. Daher ist das letztere Prinzip das informativere. Wir ziehen die ihm zugrundeliegenden Beziehungen r1 < r2 und e1 < e2 gegenüber den Relationen r1 = r2 und Überl(e1,e2) des Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" vor. Damit sind nun auch wieder die beiden Chronologieprinzipien in Kraft.
2.3.2.6
Zustände und Referenzzeitabfolge
In der Regel interpretieren wir die Einführung eines Zustands im Sinne der Gleichzeitigkeit dieses Zustands mit einem unmittelbar vorhergehend erwähnten Zustand oder Ereignis (im Sinne einer Überlappung der Ereigniszeiten), es sei denn, wir können eine kausale Beziehung zwischen den beiden aufeinanderfolgend erwähnten Situationen zugrundelegen. In einigen Kontexten wird jedoch eine Art chronologische Interpretation mit der Einführung von Zuständen in Verbindung gebracht, ohne daß eine direkte kausale Beziehung zwischen den zwei Gegebenheiten vorliegt, nämlich immer dann, wenn eine Interpretation dahingehend plausibel erscheint, daß die Betrachtpunkte, also die Referenzzeiten, von denen aus die Zustände gesehen werden oder an denen die Zustände wahrgenommen werden, zeitlich aufeinanderfolgen. In diesem Sinne war der in (64) beschriebene Zustand 'there be- a break in the mountains' chronologisch einzuordnen: (a) We went on up the lake. (b) There was a break in the mountains on the right bank, a flattening-out with a low shore line that I thought must be Cannobio. (c) / stayed a long way out because it was from now on that we ran the most danger of meeting guardia.
Diesen Sachverhalt soll das Prinzip "Zustände und Referenzzeitabfolge" erfassen: (96)
Zustände und Referenzzeitabfolge Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Prcposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie 2 Cp1] r 1 > e 1 und [ p 2 j : Wenn sowohl p1 als auch p2 Zustandsaussagen sind oder wenn p2 eine Zustandsaussage ist, die auf eine Ereignisaussage p1 folgt: r1 < r2, wobei r1 und r2 chronologisch anzuordnende Betrachtpunkte darstellen, von denen aus die Zustände gesehen werden, an denen die Zustände wahrgenommen werden oder an denen sie von Relevanz für den textuellen Zusammenhang sind. Dieses Prinzip ist vom Informationsgehalt her allgemeiner als das Prinzip "Zustände und Kausalität" nach (93) und (94), weil in (96) im Vergleich zu (93) und (94) nur ausgesagt wird, daß die Referenzzeiten aufeinanderfolgen, nicht jedoch, daß dabei
140
zwischen den beiden geschilderten Gegebenheiten eine Kausalitätsbeziehung besteht. Eine Verzeitungsstruktur, bei welcher zusätzlich zu der Aufeinanderfolge der Referenzzeiten eine Kausalitätsbeziehung zwischen den beiden Gegebenheiten vorliegt, stellt einen Spezialfall der Referenzzeitabfolge dar, weil hier zusätzlich zu den Referenzzeiten auch die Ereigniszeiten aufeinanderfolgen (sofern wir Kausalität im Sinne von (93) und (94) definieren). Wir können daher die beiden Prinzipien "Zustände und Kausalität" und "Zustände und Referenzzeitabfolge" derart formulieren, daß das Prinzip "Zustände und Kausalität" wie "Zustände und Referenzzeitabfolge" aufgebaut ist, jedoch mit dem Unterschied des zusätzlichen Bestehens einer kausalen Beziehung zwischen den beiden Situationen nach "Zustände und Kausalität" (und damit der sukzessiven Abfolge der Ereigniszeiten). Die beiden Prinzipien wären dann in dieselbe Hierarchie von Diskursprinzipien einzugliedern: Die Befolgung des spezielleren Prinzips "Zustände und Kausalität" würde automatisch die Befolgung von "Zustände und Referenzzeitabfolge" implizieren. Als eine weitere Möglichkeit bietet sich, die Prinzipien "Zustände und Kausalität" und "Zustände und Referenzzeitabfolge" völlig unterschiedlichen Kontexten zuzuordnen, d.h. sie nicht in dieselbe Hierarchie von Diskursprinzipien zu integrieren: Die Anwendung von "Zustände und Kausalität" impliziert dann nicht mehr die Anwendung des allgemeineren Prinzips "Zustände und Referenzzeitabfolge". Entweder gilt nämlich "Zustände und Kausalität" bei der Einführung eines Zustands oder es gilt "Zustände und Referenzzeitabfolge", nicht jedoch beide Prinzipien gleichzeitig, weil sie in völlig unterschiedlichen Arten von Kontexten als überhaupt potentiell anwendbare Prinzipien in unsere interpretatorischen Überlegungen einbezogen werden. Warum diese Sichtweise angebracht ist, werde ich im folgenden darlegen. Wie "Zustände und Kausalität" ist "Zustände und Referenzzeitabfolge" in bezug auf das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" spezifischer: Aufgrund zusätzlicher Informationen wird hier die Default-Relation r1=r2 des Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" zugunsten von r1 < r2 suspendiert. Als ein derartiges spezifisches Prinzip ist auch (96) unvollständig: In seiner vollständigen, auf einen bestimmten Interpretationsvorgang bezogenen Form haben wir dieses Prinzip durch spezifische Informationen bezüglich der Ereignistypen zu ergänzen. Obwohl ich, wie oben angedeutet, davon ausgehen werde, daß die beiden Prinzipien "Zustände und Kausalität" sowie "Zustände und Referenzzeitabfolge" in direkter Form nichts miteinander zu tun haben, weist "Zustände und Referenzzeitabfolge" eine gewisse Affinität zu dem Prinzip "Zustände und Kausalität" auf. Dies zeigte sich z.B. in dem oben zitierten Beispiel (64): We went on up the lake. There was a break in the mountains
[...].
Der Zustand 'there be- a break in the mountains' ist in bezug auf 'we go- on up the lake' in dem Sinne chronologisch zu deuten, daß die Referenzzeit (also der Betrachtpunkt), von dem aus der Zustand gesehen wird, nachzeitig zu der Ereigniszeit und der Referenzzeit von 'we go- on up the lake' liegt (dabei überlappt die Ereigniszeit des Zustands aber die des vorhergehenden Ereignisses, denn die Lücke in der Bergkette ist natürlich schon dort, als der Protagonist den See hinaufrudert). Gleich-
141 zeitig kommt hier in indirekter Weise eine Interpretation nach dem Prinzip "Zustände und Kausalität" zum Tragen: Die Wahrnehmung des Zustands 'there be- a break in the mountains' resultiert direkt aus dem Ereignis 'we go- on up the lake', nicht jedoch der Zustand selbst, wie es bei der Anwendung des Prinzips "Zustände und Kausalität" der Fall war. Auch überlappt sich, wie bereits gesagt, die Ereigniszeit des Zustands mit jener der Antezedenssituation. Bei der Verzeitung nach dem Prinzip "Zustände und Kausalität" ist jedoch in der Regel auch die Ereigniszeit des Zustands sukzessiv zu der Ereigniszeit der unmittelbaren Antezedenssituation anzuordnen, wie in I turned off the light. It was dark oder in I went to bed at ten and woke up refreshed in the morning. Das Prinzip "Zustände und Referenzzeitabfolge" bezieht sich somit nicht nur auf andere Verzeitungsmuster als "Zustände und Kausalität", sondern auch auf einen anderen Interpretationsprozeß: Während sich beim Kausalitätsprinzip die kausale Relation mehr oder weniger aus den Ereignistypen selbst ergab, ist nach "Zustände und Referenzzeitabfolge" die Sukzession der Referenzzeiten indirekter herzuleiten. Ich schlage die folgende spezifizierte Version des Prinzips der Referenzzeitabfolge in bezug auf das obige Beispiel We went on up the lake. There was a break in the mountains [...] vor: (97) Zustände und Referenzzeitabfolge in (64) Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [ p 1 ] r 1 , e 1 und [ p 2 ] • e2 : r1 < r2 gdw. 'we go- on up the lake'(el) A 'there be- a break in the mountains'(e2), wobei (|[we go- on up the lake! r1 ' e1 => Ereig(el) A [there be- a break in the mountains]] r2 ' e2 => Zust(e2)) und aus dem obigen folgt: => [ w e go- on up the lake] r1,E1 A [ [ w e notice-] r2: there be- a break in the mountains] r2'E2 A Vorauss(Ereig(e1), Ereig(e2)). Es gilt hiernach die Relation r1 < r2, wenn e 1 eine Gegebenheit des Typs 'we go- on up the lake' zugeordnet wird und el eine des Typs 'there be- a break in the mountains'. Aufgrund dieser Zuordnung folgern wir, daß die zu e 1 gehörige Gegebenheit als Ereignis zu klassifizieren ist und die e2 zugeordnete als Zustand. Auf der Basis dieses Wissens um die Ereignistypen folgern wir weiter, daß die Proposition 'we go- on up the lake' relativ zu den Indizes r1 und e 1 wahr ist. Im Hinblick auf das zweite Ereignis erscheint nun nicht die Zuordnung des Zustands 'there be- a break in the mountains' zu r2 und e2 plausibel, sondern eher eines komplexeren Ereignisses, dem wir in der Metasprache das Korrelat eines Verbs der Wahrnehmung zugrundelegen, wie 'we notice-'. Dies repräsentiert ein punktartiges Ereignis, das direkt an der punktartigen Referenzzeit r2 positioniert ist. Die Gegebenheit 'we notice-' wird also r2 zugeordnet.
142 Den Zustand 'there be- a break in the mountains' ordnen wir der intervallartigen Ereigniszeit e2 und der Referenzzeit r2 zu, von der aus der Zustand betrachtet wird. Der gesamte metasprachliche Ausdruck 'we notice- : there be- a break in the mountains' ist nun relativ zu r2 und e2 wahr. Wegen des so dargestellten erweiterten Ereignistyps wird r2 und e2 kein Zustand, sondern ein Wahrnehmungsereignis zugeordnet (obwohl die Zustandskomponente immer noch in der Darstellung enthalten ist). Auf dieser Basis können wir die Kausalitätsbeziehung Vorauss zwischen 'we go- on up the lake' und 'we notice-: there be- a break in the mountains' zugrundelegen, die nun die sukzessive Anordnung der Referenzzeiten r1 r2
thematisches Rahmenprinzip
Assoz(el,e2)A
thematisches Chronologieprinzip
r l < r2 A Assoz(el,e2)
Inkompatibilität
( r l , r 2 ) c t(Rahmen)
ebene
(rl,r2) c
Chronologie der lokalen Textebene
lokale
*Zustände und Gleichzeitigkeit in (64)
Textebene
rl < r2
A
t(Rahmen)
A
el < e 2
Überl(el,e2) A r l = r2 gdw. we go- on up the lake(el) und there be- a break in the mountains(e2) A (Ereig(e 1) A Zust(e2))
Zustände und Referenzzeitabfolge in (64)
VA
1
rl < r2 gdw. we go- on up the lake(el) und there be- a break in the mountains(e2) A (Ereig(el) AZust(e2)) wobei aus dem obigen folgt: we go- on up the lake ( r l , e l ) A (we notice-(r2): there be- a break in the mountains) (r2,e2) A
Vorauss(Ereig(rl,el), Ereig(r2,e2))
*
• HHI • •
= suspendierte Diskursprinzipien = sich widersprechende zeitliche Relationen
144 Die Relation r1 < r2 aus "Zustände und Referenzzeitabfolge in (64)" widerspricht r1 = r2 aus "Zustände und Gleichzeitigkeit". Dem Prinzip "Zustände und Referenzzeitabfolge in (64)" liegt eindeutig der komplexere Informationsgehalt zugrunde. Wir bevorzugen daher die Anwendung dieses Prinzips gegenüber "Zustände und Gleichzeitigkeit". Der in "Zustände und Referenzzeitabfolge" nahegelegte Interpretationsvorgang führt dazu, daß nun nicht ein Ereignis und ein Zustand, sondern zwei Ereignisse in Beziehung zueinander gebracht werden, nämlich ein Betrachtereignis an e2 und das Ereignis, welches wir e 1 zuordnen. Auf die Positionierung dieser Ereignisse zueinander wird nun die Default-Chronologie nach dem lokalen Chronologieprinzip angewandt. Die Relation r1 < r2 nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" ist mit dem Prinzip der Chronologie auf der lokalen Textebene kompatibel. Damit haben wir formal dargestellt, daß die dem Auszug aus (64) zugrundeliegende Interpretation im Sinne einer lokalen Chronologie nicht allein auf der Anwendung des lokalen Chronologieprinzips basiert, sondern indirekt hergeleitet wird, nämlich aus der zusätzlichen Anwendung einer Reihe spezifischerer Prinzipien. Dies entspricht der Art, in der wir in derartigen Kontexten interpretieren. Auch die Verzeitung nach dem Prinzip "Zustände und Referenzzeitabfolge" ist in bezug auf "Zustände und Gleichzeitigkeit" als speziellerer Fall anzusehen: Die Zustände werden nun sukzessiv gedeutet, wobei sich diese Sukzession nicht unbedingt auf die Ereigniszeiten beziehen muß, sondern in der Regel über die zeitliche Anordnung von Referenzzeiten äußert. Im Normalfall werden jedoch Zustände nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" in den Kontext eingeordnet. Die Verzeitung nach "Zustände und Kausalität" stellt ebenfalls einen spezielleren Fall der Einordnung von Zuständen in den Kontext dar. Letzteres Prinzip bezieht sich jedoch auf andere Kontexte als "Zustände und Referenzzeitabfolge". Der markiertere Charakter der Verzeitung nach "Zustände und Kausalität" und "Zustände und Referenzzeitabfolge" wird besonders dadurch deutlich, daß häufig adverbiale Verweise die Interpretation nach diesen Prinzipien explizieren. Eine solche explizite Nahelegung der Befolgung des Prinzips "Zustände und Referenzzeitabfolge" anstatt des allgemeineren Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" zeigt sich z.B. in folgender Passage aus dem Textbeleg (38): I was wet when / came in. Up in my room the rain was Coming down heavily outside on the balcony [...].
Der Zustand 'the rain be- coming down heavily' ist hier in der histoire als Wahrnehmung des Protagonisten sukzessiv auf 'I be- wet' anzuordnen, wobei letzteres ebenfalls eine Wahrnehmung darstellt. Diese chronologische Interpretation einer zeitlichen Abfolge wird durch den temporalen Nebensatz when I came in und das Lokaladverbial up in my room untermauert. Ohne diese Temporaladverbiale würde hier eine Interpretation im Sinne der Gleichzeitigkeit beider Zustände vorzuziehen sein: I was wet. The rain was Coming down heavily outside on the balcony
[...].
145
Wir sehen somit, daß die Verzeitung nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" den Default-Fall der in Verbindung mit Zuständen auftretenden Verzeitungsmuster darstellt und daß diesem Prinzip zugrundeliegende Default-Muster durch die Anwendung spezifischerer Prinzipien wie "Zustände und Kausalität" sowie "Zustände und Referenzzeitabfolge" entweder modifiziert oder ganz suspendiert werden können.
2.3.2.7
Kausalität und zeitliche Umkehr
Ich habe bereits einige Beispiele diskutiert, in denen die Abfolge der Situationen in der Wahrnehmungswirklichkeit umgekehrt zu der Abfolge der Verweise auf diese Situationen im Text gedeutet werden muß (vgl. (75) und (76)). Dabei war festzustellen, daß dies ein eher lokales Verzeitungsmuster darstellt: Würde ein größerer Textabschnitt derartig zeitlich "ungeordnet" zu interpretieren sein, wäre dieser Text als erzählender Text nicht mehr verständlich, da das allgemeinste narrative Prinzip der ERP über einen größeren Abschnitt hinweg suspendiert erschiene. Das Prinzip "Kausalität und zeitliche Umkehr" soll die lokale Suspendierung des der ERP zugrundeliegenden Verzeitungsmusters erfassen: (99) Kausalität und zeitliche Umkehr Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie e2 [ p 1 1 r 1 ' e 1 und [ p 2 j : r2 < r1 und per Default e2 < e1, oder e2 < e1 und per Default r2 < r1, gdw. entweder Vorauss(p2, p1) gilt oder wenn auf der Basis unseres Weltwissens bezüglich der e1 und e2 zugeordneten Ereignistypen e2 plausibel vor e1 zu lokalisieren ist. Die Kausalitätsbeziehung ist wieder durch die bereits eingeführte Relation Vorauss dargestellt, nur daß diesmal p2 die Voraussetzung für das Stattfinden von p 1 ist, nicht aber umgekehrt. Zwischen den beiden durch die Proposition repräsentierten Situationen muß nicht unbedingt eine direkte kausale Beziehung bestehen. Es kann auch aufgrund anderer, unterschiedlichster Arten von Weltwissen und kontextuellem Wissen die Anordnung e2 < e1 nahegelegt werden. Auch dem Prinzip (99) sind Default-Schlüsse von den Relationen der Referenzzeiten zueinander auf die Beziehungen zwischen den Ereigniszeiten und umgekehrt zugrundegelegt worden: Wenn ein Kontext eindeutig die Abfolge r2 < r1 nahelegt, gilt normalerweise (per Default) auch el < e1\ sollte ein Kontext eindeutig e2 < e1 nahelegen, gilt in der Regel r2 < r1. Eine direkte kausale Beziehung nach (99) im Sinne von Vorauss lag der zeitlichen Interpretation von (76) zugrunde:
146 He [Mr. Antolini] knew old Sally Hayes. I introduced him once.
Die Gegebenheit 'I introduce- Mr. Antolini to Sally Hayes' kann nur als direkte Ursache von 'Mr. Antolini know- Sally Hayes' interpretiert werden. Auf diesen Kontext bezogen weist das Prinzip "Kausalität und zeitliche Umkehr" die folgende Form auf: (100) Kausalität und zeitliche Umkehr in (76) Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie [p1 ] r 1 ' e 1 und [ p 2 j r t e2: r2 < r1 und e2 < e1 gdw. ([ Mr. Antolini know- old Sally Hayes] r1,E1 A [ I introduce- Mr. Antolini to Sally Hayes] r2,e2 => Vorauss(p2, p1)). Es gilt demzufolge r2 < r1 und e2 < e1 genau dann, wenn relativ zu r 1 und e 1 'Mr Antolini know- old Sally Hayes' wahr ist, relativ zu r2 und e2 7 introduce- Mr. Antolini to Sally Hayes' und wir aus der Zuordnung beiden so dargestellten Gegebenheiten zu ihren Indizes plausibel folgern, daß das Stattfinden der durch p2 beschriebenen Situation die Voraussetzung für das Stattfinden der durch p 1 beschriebenen ist. Wie wir gesehen haben, ist eine solche direkte kausale Beziehung nicht in allen Kontexten zeitlicher Umkehr nach (100) nachvollziehbar, wie das folgende Beispiel zeigt: (101) (a) So what I did finally, I gave old Carl Luce a buzz, (b) He graduated from the Whooton School after I left. (J. D. Salinger: The Catcher in the Rye, S. 142)
Die in (b) geschilderte Situationen 'Carl Luce graduate- from the Whooton School' und 'I give- C.L. a buzz' stehen nicht in einem unmittelbaren Kausalitätsverhältnis zueinander, aber aufgrund unseres Weltwissens bezüglich der wahrscheinlichen Einordnung der beiden Situationen schließen wir auch hier auf eine temporale Anordnung nach (99). Diese Verzeitungsstruktur legen wir dem Beispiel auch ohne Hinzuziehung eines weiteren Kontextes zugrunde, also nur auf Basis des hier zitierten Ausschnitts. Es ist in diesem Fall jedoch nicht angebracht, ausgehend von unserer Definition der Relation Vorauss zu sagen, daß 'after I leave the Wooton School(Carl Luce graduatefrom the Whooton School)' die Voraussetzung für das Eintreten von 'I give- Carl Luce a buzz' ist. Vielmehr läßt unser Wissen um die zeitliche Konstitution der beiden Gegebenheiten die Positionierung von 'Carl Luce graduate- from the Whooton School after I leave-' nach 'I give- Carl Luce a buzz' unwahrscheinlich erscheinen. Hier spielt insbesondere unser Wissen um die Komplexität eines Ereignisses wie 'graduate- from high school' eine Rolle, das aus zahlreichen komplexen Teilphasen zusammengesetzt ist und in seiner Gesamtheit einen größeren Zeitraum in Anspruch
147
nimmt: Der komplexe zeitliche Aufbau dieses Ereignisses und seine längere Dauer machen die Positionierung nachzeitig zu der in ihrem Verlauf kürzeren und eher beiläufig durchgeführten Alltagshandlung 'I give- Carl Luce a buzz' unwahrscheinlich. Das Wissen um die Erstreckung der Ereignisintervalle der beiden Gegebenheiten beeinflußt hier unsere Art der Interpretation (aber nicht ausschließlich dieses Wissen).31 Ich schlage daher die folgende Version von (99) für den Kontext (101) vor:
(102) Kausalität und zeitliche Umkehr in (101) Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die Proposition p1 zugrundeliegt und S2 die Proposition p2, sowie Í p 1 Í r 1 , e 1 und [ p 2 ] ri> e2 : r2 < r1 und e2 < e1 gdw. I give- Carl Luce a buzz(e2) A after I leave- the Whooton School(Carl Luce gradúate- from the Whooton School(e1))=>e2 < e1. Wir schließen also auf e2 < e1 genau dann, wenn (e2) ein Ereignis der Form 'I giveCarl Luce a buzz' zugeordnet wird und e 1 eines der Form 'after I leave-(Carl Luce gradúate- from the Whooton School)'. Es ist in diesem Fall nicht unser Wissen um die kausale Beziehung zwischen den beiden Gegebenheiten, das uns zu der Anwendung von (99) veranlaßt, sondern unser Wissen um die wahrscheinliche Erstreckung und Positionierung der Ereignisintervalle der beiden. Die zwei Situationen sind daher nach (102) in unmittelbarer Weise nur relativ zu ihren Ereigniszeiten eingeordnet (dargestellt durch I give- Carl Luce a buzz(e2) und after I leave- the Whooton School(Carl Luce gradúate- from the Whooton School(el)). Wie schon bei einigen der vorhergehenden Prinzipien, stellt der Schluß von e2 < e1 auf r2 < r1 einen annullierbaren (Default-) Schluß dar, der in entsprechenden Kontexten gilt, solange nichts Gegenteiliges nahegelegt wird. Da letzteres in (101) nicht der Fall ist, können wir plausibel von e2 < e1 auf r2 Vorauss(p2, p1)). Die Interpretation nach dem Prinzip "Kausalität und zeitliche Umkehr" wird in diesem Kontext nicht allein durch die Art der Ereignistypen nahegelegt, sondern bedarf der Hinzuziehung weiteren kontextuellen Wissens. Dies stellt für unseren formalen Rahmen jedoch kein Problem dar: Indem wir Propositionen relativ zu den Interpretationsindizes auswerten und diese Auswertung unseren Diskursprinzipien zugrundelegen, setzen wir voraus, daß die Prinzipien nur dann in Kraft treten, wenn die Propositionen auch tatsächlich relativ zu diesen speziellen, kontextuell eingebundenen Indizes wahr sind. Da wir die genaue Positionierung dieser Indizes nicht aus dem hier gegebenen lokalen Kontext alleine herleiten können, sind wir auf den weiteren Kontext verwiesen. Dies stellt der hier entwickelte Ansatz zwar formal adäquat dar, die Elemente des weiteren Kontextes, aus denen wir nun unser Wissen konkret herziehen, vermögen die bisher entwickelten Prinzipien indes nicht festzulegen.
2.3.2.8
Past Perfect und Referenzzeitidentität
Wir haben bislang Prinzipien diskutiert, die als allgemeine Diskursprinzipien die Einordnung einer neu in den Diskurs eingeführten Gegebenheit relativ zu ihrer unmittelbaren Antezedenssituation im allgemeinen festlegen. Den konkreten Gebrauch der Tempora haben wir dabei außen vorgelassen. Zusätzlich zu den bislang formulierten Diskursprinzipien sind spezielle pragmatische Prinzipien erforderlich, die den Gebrauch und die Interpretation der Tempora im diskursiven Zusammenhang festlegen, weil sich die aus dem Tempusgebrauch resultierenden textuellen Verzeitungsmuster nicht nur kompositionell aus der erweiterten Reichenbach-Semantik ergeben, sondern auch aus der Anwendung pragmatischer Prinzipien.
150
Die auffälligste Abweichung von den chronologischen Verzeitungsmustern ist die Verwendung des Past Perfect in Kombination mit dem Simple Past. In Verbindung mit einem Mustertext wie AI went to New York. Bo had found him a room (vgl. Nerbonne 1984: 6-7) gehen wir beispielsweise als Normalfall davon aus, daß die Referenzzeit des zweiten Satzes mit der des ersten identisch ist und die Ereigniszeit des zweiten Satzes vorzeitig zu seiner Referenzzeit liegt. Die Positionierung der Ereigniszeit des Past Perfect vorzeitig zur Referenzzeit ist durch die Temporalsemantik festgelegt. Die Bedingung, daß die Referenzzeiten der beiden Sätze identisch sind, beruht jedoch auf der Befolgung eines pragmatischen Prinzips, das ich als "Past Perfect und Referenzzeitidentität" bezeichne: (109) Past Perfect und Referenzzeitidentität Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die logische Form [ P a s t ( p 1 ) l s , r 1 , e 1 zugrundeliegt und S2 s r2, [ Past(Perf(p2)) ] ' : r1 = r2 sowie e1 = r1, ferner gilt e2 < r2 nach der erweiterten Reichenbach-Semantik. Durch dieses Prinzip wird (per Default) festgelegt, daß mit der Einführung eines Past Perfect in den Diskurs, das auf ein Simple Past folgt, die Referenzzeit dieselbe bleibt. Dies ist beispielsweise im folgenden Beleg der Fall: (110) It was there that the offensive was to begin. It had been impossible to advance [...] the year before [...]. (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 19)
Die Referenzzeiten sind hier identisch: Die in dem zweiten Satz geschilderte Situation wird unter dem Aspekt der ersten gesehen und umgekehrt. Beide Situationen werden daher relativ zu demselben Betrachtpunkt (also derselben Referenzzeit) eingeordnet. Das gleiche gilt für den folgenden Auszug: (111) He was hit low in the back of the neck and the bullet had ranged upward and come out under the right eye. (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 179)
Die Betrachtung der Wunde und die daraus resultierende Schlußfolgerung darüber, wie die Kugel durch den Kopf geflogen ist, sind von demselben Betrachtpunkt aus gesehen. Durch das Default-Prinzip (109) ist die Beziehung r1 = r2 als Default-Relation ausgewiesen, die unter bestimmten Umständen suspendiert werden kann. Diese Dar-
151
stellungsweise ist dadurch gerechtfertigt, daß es Kontexte gibt, in denen es angebracht erscheint, die Bedingung r1 = r2 mit der Einführung eines Past Perfect als suspendiert zu betrachten. Ein solcher Fall liegt in (112) vor (f und g entsprechen (110)): (112) "A rivederla." (a) I saluted and went out. (b) It was impossible to salute foreigners as an Italian, without embarrassment, (c) The Italian salute never seemed made for export, (d) The day had been hot. (e) I had been up the river to the bridgehead at Plava. (f) It was there that the offensive was to begin, (g) It had been impossible to advance on the far side the year before [...]. (E. Hemingway: A Farewell to Arms, S. 18-19)
Hier wird durch The day had been hot ein neuer thematischer Textabschnitt eingeleitet. Die in den beiden Sätzen (c) und (d) geschilderten Gegebenheiten erscheinen nicht miteinander assoziiert. Wenn wir von unserer Definition der Referenzzeit als einen Betrachtpunkt ausgehen, ist es nun nicht angebracht, hier beiden Sätzen dieselbe Referenzzeit zugrundezulegen. Vielmehr bewegt sich die Betrachtperspektive vorwärts: Der Autor leitet einen neuen thematischen Abschnitt ein und bringt die Handlung somit voran. Es ist also eher angebracht, die Relation r1 < r2 anstatt r1 = r2 zugrunclezulegen, woraus die folgende Verzeitungsstruktur resultiert: (113)
p i : the Italian salute never seem- to be made for export [I recapitulate-: p2] p2: the day be- hot
An r 1 schließt der Protagonist aufgrund einer vorhergehenden Gegebenheit, daß der italienische Salut eigenartig wirkt, und an r2 rekapituliert der Erzähler das Wetter des Tages. Dies gibt die dem Ausschnitt aus (112) zugrundeliegende Verzeitung angemessen wieder: The day had been hot leitet einen neuen thematischen Textabschnitt ein, und weitere Ereignisschilderungen werden sich entweder an der Ereigniszeit von p2 oder an der neuen Referenzzeit r2 orientieren. r1 und r2 sind chronologisch ange-
152
ordnet. Das lokale Verzeitungsmuster ist damit angemessen wiedergegeben. Die Zugrundelegung der Gedankenvorgänge 'I think-' und 'I recapitulate-' ergibt sich allerdings erst unter Hinzuziehung des weiteren Kontextes.
2.3.2.9
Simple Present und Gleichzeitigkeit
Eine andere Abweichung von den grundlegenden narrativen Interpretationsmustern wird in Kontexten nahegelegt, in denen ein Simple Present verwendet wird, das direkt auf ein Simple Past oder ein Past Perfect folgt. Dies kann in kausalen Nebensätzen der Fall sein, wie in (114) Marcia had been crazy about [the film 'Camille'] because she is crazy about Greta Garbo. (J. Thurber: The Thurber Carnival, S. 110)
Hier ist 'Marcia be- crazy about Greta Garbo' die Ursache für 'Marcia be- crazy about the film'. Eine Darstellung der zeitlichen Interpretation im Sinne der umgekehrten histoire- Chronologie nach (99) in der Form 'r2(Marcia be- crazy about Greta Garbo) < r1(M. be- crazy about the film 'Camille')' kommt nun nicht in Frage, da r1 durch das Past Perfect vor der Sprechzeit positioniert ist, sich jedoch r2 wegen des Simple Present gleichzeitig zur Sprechzeit befindet. Die korrekte Anordnung nach der Reichenbach-Semantik ist also r1 < r2. Eine Deutung in der Form r2 < r1 ist hier schon deswegen nicht angebracht, weil r2 durch ihre simultane Positionierung zur Sprechzeit eine völlig andere Betrachtperspektive als r1 darstellt. Die beiden Referenzzeiten sind also nicht unmittelbar miteinander assoziiert. Deshalb gilt zwar rl < r2, dies sollte jedoch nicht im Sinne einer normalen narrativen Abfolge (z.B. nach dem thematischen oder lokalen Chronologieprinzip) gedeutet werden. Auch eine Positionierung im Sinne von "Zustände und Gleichzeitigkeit" in der Form r1 = r2 ist ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit, das obige Verzeitungsmuster in unserem Reichenbach'sehen Rahmen zu erfassen, besteht darin, Gleichzeitigkeit derart zugrundezulegen, daß sich die Ereigniszeiten überlappen. Das Ereignisintervall des Simple Present überlappt dann sowohl die Sprechzeit als auch die durch das Past Perfect etablierte Ereigniszeit. Diese mit der Reichenbach-Semantik kompatible Verzeitungsstruktur hat somit die folgende Form:
153 (115) rl
s(=r2) •
1 ; M. be- crazy about thé film Camille(el) A (Kausalität) M. be- crazy about G. Garbo(e2)
In (115) ist die Verzeitungsfunktion des Simple Present in seiner "generischen" Gebrauchsweise adäquat dargestellt: Wenn Marcias Vorliebe für Greta Garbo aus der Sicht des Autors zu ihren unveräußerlichen Eigenschaften gehört, liegt diese Eigenschaft sowohl zur Sprechzeit als auch zu den hier in der Vergangenheit zur Sprechzeit lokalisierten Zeiträumen vor; die unveräußerliche Eigenschaft 'M. be- crazy about Greta Garbo' kann folglich auch die Ursache für in der Vergangenheit zur Sprechzeit plazierte Ereignisse sein (vgl. Panitz 1994: 167). Es besteht dabei zwar jene bereits diskutierte Tendenz, die Einführung eines Simple Present, das auf ein Vergangenheitstempus folgt, so zu deuten, daß sich die Ereigniszeiten überlappen. Die Interpretationen der Gleichzeitigkeit der Referenzzeiten nach "Zustände und Gleichzeitigkeit" oder ihrer narrativ-chronologischen Abfolge nach dem lokalen Chronologieprinzip sind aber aufgrund der wegen der beiden Tempora unterschiedlichen Positionierung von r1 und r2 relativ zu s ausgeschlossen. Der Interpretation einer Verzeitungsstruktur wie der obigen liegt vielmehr das folgende Diskursprinzip zugrunde: (116) Simple Present und Gleichzeitigkeit Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 entweder die logische Formt Past(p1)] s , , e 1 oder [Past(Perf(p1))]| s ' r1,e1 zugrundeliegt, und S2 [Present(p2)]l s r2 e2: Überl(e1 ,e2). Zusätzlich gelten in bezug auf die beiden Tempora die in der erweiterten Reichenbach-Semantik zusammengefaßten invariablen zeitlichen Beziehungen. Man beachte, daß die Relation Überl(e1,e2) auch dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" zugrundeliegt. Es sind daher in der Regel Zustandsschilderungen, die ein Verzeitungsmuster nach (116) nahelegen. Dabei sind iterativ wiederkehrende Ereignisse als Zustände zu konzipieren. Dies zeigt das folgende Beispiel:
154 (117) It was purple dusk, that sweet time when the day's sleeping is over [...]• (J. Steinbeck: Tortilla Flat, S. 26)
Hier ist 'the day's sleeping be- over' als Zustand aufzufassen, der sowohl die Referenzzeit des Simple Present als auch die Ereigniszeit des unmittelbaren konzeptuellen Antezedenten 'it be- purple dusk' überlappt. Die Interpretation folgt demnach (116), auch wenn in Verbindung mit der jeden Tag wiederkehrenden, iterativ perspektivierten Gegebenheit 'the day's sleeping be- over' zusätzlich die Bedingung gilt, daß 'it be- purple dusk' an einem der Momente vorliegt, auf den 'the day's sleeping be- over' tatsächlich zutrifft (diese zeitliche Bedingung wird hier explizit durch that sweet time untermauert). Im obigen Beispiel ist das Simple Present in einem Nebensatz enthalten: Durch die damit verbundene Subordination ist syntaktisch die Abhängigkeit des Simple Present von dem Simple Past des Hauptsatzes gekennzeichnet. Dadurch wird der Kontext als markiert ausgewiesen; die Interpretation des Ausschnitts als zusammenhängender Text bedarf dieser syntaktischen Markierung, andernfalls wäre der textuelle Zusammenhang zwischen den Past-Tempora und dem Simple Present nicht eindeutig rekonstruierbar, man vergleiche z.B. den obigen Textausschnitt mit (117')
?It was purple dusk. The day's sleeping is over [...].
In der letzteren Variante wäre der textuelle Zusammenhang höchstens indirekt aus dem weiteren thematischen Kontext herleitbar, er ließe sich aber nicht auf Basis des hier zitierten lokalen Kontextes nachvollziehen. Die syntaktische Unterordnung des Simple Present in einem temporalen Nebensatz, der seinerseits in einem Relativsatz enthalten ist, erscheint hier also obligatorisch. Eine weitere Möglichkeit der Markierung wäre der anaphorische Verweis mittels eines Demonstrativpronomens: (117")
It was purple dusk. This is the time when the day's sleeping is over [...].
Im Gegensatz zu der einfachen Aneinanderreihung zweier unabhängiger Hauptsätze ist die Einleitung des zweiten Satzes durch einen derartigen anaphorischen Verweis wieder akzeptabel. Wir sehen, daß im Falle der Kombination eines Past-Tempus mit einem Simple Present zumindest in den bisher diskutierten Beispielen irgendeine Form der zusätzlichen Markierung nötig ist, um textuelle Kohärenz herzustellen. In dem ersten Beispiel Marcia had been crazy about [the film] because she is crazy about [...] wurde dies durch die Einleitung des Satzes, der das Simple Present enthielt, mit because bewirkt, in dem letzten Beispiel durch die syntaktische Subordination des zweiten Satzes. Ein Simple Present kann auch die mit e 1 verbundene Antezedenssituation selbst lokalisieren, wobei dann die Folgesituation durch ein Simple Past lokalisiert wird. Dies illustriert das folgende Beispiel:
155 (118) As you go up Maiden Lane on the left-hand side there is [=e1] a doorway and a grating that we passed [=e2] without a word to each other. (G. Greene: The End ofthe Affair, S. 40-41)
In (118) erscheint das Simple Past des Relativsatzes in syntaktischer Abhängigkeit von dem Simple Present des Hauptsatzes. Das Resultat ist jedoch das gleiche wie in den vorhergehenden Beispielen: Die Ereigniszeit der durch das Simple Present lokalisierten Situation überlappt die Ereigniszeit e2 der durch das Simple Past lokalisierten Gegebenheit. Dies wollen wir durch ein zweites Prinzip "Simple Present und Gleichzeitigkeit" erfassen: (119) Simple Present und Gleichzeitigkeit II Für zwei unmittelbar im Text aufeinanderfolgende Ereignisschilderungen S1 und S2 gilt, wenn S1 die logische Form [ P r e s e n t ( p 1 ) ] s ' r ' e 1 zugrundeliegt und S2 [Past(p2)l s , r 1 , e 1 oder [ Past(Perf(p2))J s , r 2 , e 5 : Überl(e1,e2). Dieser Fall der Verzeitung tritt häufig in Texteinleitungen auf, in denen der Leser über ein zunächst "besprechendes" Simple Present zu der eigentlichen Handlung hingeführt wird, die dann im Simple Past geschildert ist.
2.3.2.10
Zusammenfassung
Durch die hier entwickelten Prinzipien der lokalen Textebene haben wir die in den bisher analysierten Textausschnitten auftretenden Phänomene der lokalen Verzeitung systematisch zu beschreiben vermocht. Daß eine lokale Ebene der textuellen Interpretation existiert, auf der wir eine Ereignisschilderung relativ zu ihrer unmittelbaren Antezedensschilderung einordnen, sah man daran, daß bei den meisten der bisher diskutierten Beispiele die zeitliche Einordnung einer dem Diskurs hinzugefügten Ereignisschilderung relativ zu ihrer unmittelbaren Antezedensschilderung auch ohne Berücksichtigung des weiteren Kontextes ein in sich nachvollziehbares und kohärentes Verzeitungsmuster ergab. Die Diskussion der lokalen Diskursprinzipien hat gezeigt, daß eine Vielzahl solcher pragmatischer Prinzipien mit der erweiterten Reichenbach-Semantik kompatibel sind. Somit können zahlreiche Möglichkeiten textueller Verzeitung in einem einheitlichen formalen Rahmen erfaßt werden. Bedingung hierfür ist insbesondere die Referenzzeitorientierung: Durch sie wird die Interpretation von Kontexten systematisch erklärbar, die eine reine Ereignisorientierung nicht zu erfassen vermag.
156 Es treten nun einige Fragen bezüglich des Verhältnisses der lokalen zur thematischen Textebene auf: Können zwei Prinzipien, deren Anwendungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, ebenfalls in eine Art Informationshierarchie zueinander gebracht werden (beispielsweise das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" und das "thematische Chronologieprinzip"), wie die thematischen und die lokalen Prinzipien jeweils unter sich? Eher intuitiv haben wir thematische Prinzipien als im Vergleich zu den lokalen Prinzipien allgemeiner und weniger spezifisch betrachtet. Das Kriterium "allgemeiner" beruhte dabei auf der geringeren Menge spezifischer kontextueller Informationen, welche die Anwendung eines allgemeinen Prinzips nahelegen. In diesem Sinne kommen thematische Prinzipien, wie z.B. das thematische Chronologieprinzip, automatisch bei der Interpretation eines narrativen Textes zur Anwendung, auch wenn sie nicht durch allzu spezifische kontextuelle Faktoren nahegelegt werden. Sie sind aber häufig in markierten Kontexten durch spezifischere lokale Prinzipien, beispielsweise "Zustände und Gleichzeitigkeit", suspendiert. Diese Sichtweise ist etwas problematisch, weil die Prinzipien der thematischen Textebene zwar insofern im Vergleich zu den lokalen Prinzipien allgemeiner sind, als ihre Anwendung nicht durch spezifische Informationen bezüglich der Ereignistypen nahegelegt wird, wie es bei der Anwendung der meisten lokalen Prinzipien der Fall ist. Die thematischen Prinzipien können aber genausogut als spezifischer im Vergleich zu den lokalen Prinzipien aufgefaßt werden, weil ihre Anwendungen auf den Informationen eines gesamten thematischen Textabschnitts basieren. Die Entscheidung zugunsten der Befolgung bestimmter lokaler Prinzipien beruht dagegen lediglich auf solchen kontextuellen Informationen, wie sie aus zwei sukzessiven Ereignisschilderungen gewonnen werden. Die berücksichtigte Informationsmenge ist hier also geringer, weil der weitere Kontext ausgeklammert ist. Beispiele wie (79) oder (75/103) ließen wie vermutet Zweifel daran angebracht erscheinen, die lokale Textebene überhaupt als echte pragmatische Repräsentationsebene aufzufassen. Zumindest in bezug auf diese Beispiele schienen lokale Verzeitungsmuster eher Zwischenschritte auf dem Wege zur Rekonstruktion einer vollständigen Verzeitungsstruktur darzustellen - die Konstitution der lokalen Textebene könnte in diesen Kontexten durchaus als reines Performanzphänomen betrachtet werden. Es erscheint weiterhin unabstreitbar, daß mit jedem lokalen Interpretationsschritt der Einführung eines neuen Ereignisses in den Diskurs auch die Verzeitung der thematischen Textebene modifiziert wird. Um zu klären, inwieweit dieses dynamische Element in der Textinterpretation überhaupt formal in einer generalisierten Form erfaßt werden kann und um das Problem der Klassifizierung des Grades der "Spezifität" eines Prinzips hinsichtlich seines Informationsgehalts zu lösen, benötigen wir einen genaueren formalen Rahmen, als er uns bislang zur Verfügung steht. Die Möglichkeit der Erstellung eines solchen wollen wir in dem folgenden Abschnitt 2.4 skizzieren: Ich werde dabei die hier entwickelte Referenzzeitorientierung in ein formales System nicht-monotoner Inferenzschlüsse einbeziehen.
157
2.4
Hierarchische Abhängigkeiten von Diskursprinzipien untereinander und annullierbares Wissen (defeasible knowledge)
2.4.1
Inferentielle Schlüsse und nicht-monotone Logik
Wir sind in der Lage, die bisher entwickelten Diskursprinzipien in den Rahmen einer nicht-monotonen Default-Logik zu integrieren. Wir wollen uns hierzu den von Asher & Morreau (1991), Brewka (1991), Lascarides (1992), Lascarides & Oberlander (1993), Shoham (1988) und anderen entwickelten Ansatz zunutze machen. Es ergeben sich aus der bisherigen Diskussion dabei die folgenden Ziele: (a) Schaffung eines formalen Rahmens, in dem die bislang eher informell dargestellten Relationen zwischen den Prinzipien einheitlich erfaßt werden können, (b) Integration der Referenzzeitorientierung und (c) formale Ausweitung der Logik auf die Analyse längerer Satzfolgen sowie kompletter thematischer Textabschnitte. Insbesondere ist im Hinblick auf den letzten Punkt zu klären, ob zwischen Prinzipien der thematischen Textebene und solchen der lokalen Textebene dieselben Arten der logischen Beziehungen zugrundegelegt werden können, wie sie zwischen den Prinzipien der lokalen Textebene untereinander bestehen. Nicht-monotone Logik beruht auf der Grundannahme, daß sich ein komplexer logischer Schluß nicht automatisch aus der Kombination einfacher Aussagen ergibt, sondern daß er nur dann angebracht erscheint, wenn keine spezifischen Informationen vorliegen, die einen anderen Schluß nahelegen. Sofern keine derartigen Informationen vorliegen, gehen wir in der Regel davon aus, daß jeweils ein bestimmter logischer Schluß auf der Basis einfacher Aussagen getroffen werden kann, wobei sich dieser Schluß allerdings unter Hinzuziehung spezifischer zusätzlicher Informationen, wenn solche relevant erscheinen sollten, suspendieren läßt. Eine derartig suspendierbare Inferenz gilt also nicht per se, sondern lediglich per Default, weshalb wir im Zusammenhang mit ihrer logischen Beschreibung auch von einer Default-Logik sprechen. 32 So läßt sich eine Folgerung wie Tweety flies beispielsweise aus der Aussage Tweety is a bird aufgrund des Weltwissens 'birds fly' nur dann plausibel herleiten, wenn keine spezifischen Informationen vorliegen, die einen anderen Schluß wahrscheinlicher machen. Die Inferenz von Tweety is a bird auf Tweety flies gilt daher per Default. Eine Information, welche die Inferenz von Tweety is a bird auf Tweety flies außer Kraft setzt, wäre z.B. das Wissen um die Tatsache, daß Tweety seine Flügel Man vergleiche hierzu beispielsweise Shoham (1988: 282): "The last decade or so has seen many logical systems which support so-called nonmonotonic inferences. In these formalisms one is allowed not only traditional inferences of classical logic, but also more 'speculative' ones. It is often said that in those systems one may 'jump to a conclusion' in the absence of evidence to the contrary, or that one may assign formulas a 'default value,' or that one may make a 'defeasible inference.' [...] such formalisms are called nonmonotonic: a fact entailed by a theory might no longer be entailed by a larger theory. Of course, classical logic is monotonic."
158
verloren hat, beispielsweise in einem Unfall. Da wir im allgemeinen davon ausgehen, daß in der sprachlichen Kommunikation die Grice'sche Informativitätsmaxime befolgt wird, wonach eine Aussage so informativ wie möglich zu gestalten ist, 33 können wir uns darauf verlassen, daß, wenn beispielsweise in einem Text die Information Tweety is a bird ohne Hinweise auf Gegenteiliges gegeben wird, der Schluß auf Tweety flies tatsächlich vollzogen werden kann. Hinweise, die diese Inferenz außer Kraft setzen, müßten in irgendeiner Form explizit durch einen Text zur Verfügung gestellt werden, sollten sie relevant erscheinen. Andernfalls würde der Text die Informativitätsmaxime verletzen, da er nicht so informativ erschiene, wie es für die vom Autor intendierte vollständige Interpretation der Aussage nötig wäre.
2.4.2
Annullierbarer Modus Ponens (Defeasible Modus Ponens)
Eine Inferenz wie die von Tweety is a bird auf Tweety flies gilt als annullierbare (Default-) Inferenz, weil sie zwar im Lichte des Fehlens weiterer Informationen normalerweise automatisch vom Leser vollzogen wird, aber dann suspendiert werden kann, wenn entsprechende zusätzliche Informationen dies nahelegen. Dadurch hebt sich diese Art der Schlüsse von jenen Inferenzen ab, die nicht annullierbar (indefeasible) sind. Annullierbare (defeasible) Schlüsse vollziehen wir auf der Basis von anzweifelbarem, in entsprechenden Kontexten widerlegbarem, annullierbarem Wissen (defeasible knowledge)-, nicht annullierbaren Schlüssen liegt hingegen unanzweifelbares, unwiderlegbares, nicht-annullierbares Wissen (indefeasible knowledge) zugrunde. Die Folgerung If F. lives in France, F. lives in Europe ist beispielsweise nicht annullierbar, weil die Tatsache, daß Frankreich in Europa liegt, nicht suspendiert werden kann. Der Schluß basiert auf dem nicht annullierbaren Wissen 'France is a part of Europe'. Die Inferenz IfT. is a bird, T. flies erscheint hingegen annullierbar, weil es unter bestimmten Umständen der Fall sein mag, daß T. nicht fliegt, zum Beispiel dann, wenn T. krank ist oder wenn T. zu einer jener Vogelarten gehört, die wie der Pinguin nicht fliegen können. Das Wissen 'birds fly' ist somit annullierbar. Es wird beispielsweise durch das zusätzliche Wissen 'penguins don't fly' suspendiert, wenn wir davon ausgehen, daß auch Pinguine Vögel sind. Das dem annullierbaren Schluß Tweety is a bird Tweety flies zugrundeliegende Inferenzmuster bezeichnen Lascarides & Oberlander (1993:11) als annullierbaren
Vgl. Grice (1975: 45): "1. Make your contribution as informative as is required (for the current purpose of the exchange). - 2. Do not make your contribution more informative than is required."
159
Modus Ponens (Defeasible Modus Ponens). Es läßt sich in der folgenden Weise grafisch darstellen:34 (120) Annullierbarer Modus Ponens (Defeasible Modus Ponens)
1 1 bird (Tweety) 'birds fly' J
2 fly (Tweety)
2 Die Nummern repräsentieren Informationsstadien in einem Interpretationsprozeß: Aus dem Wissen unter 1 folgern wir das Wissen unter 2. Weitere Folgerungen könnten nun auf der Basis dieses neuen Informationsstadiums getroffen werden. In 1 finden sich die Informationen, welche uns z.B. durch einen textuellen Kontext zur Verfügung gestellt werden, und unter 2 das Ergebnis der daraus getroffenen Schlußfolgerung. Diese Schlußfolgerung wird auf Basis der unter 1 angegebenen spezifischen Informationen 'Tweety is a bird' und der neben dem Pfeil dargestellten allgemeineren Information 'birds fly' vollzogen. Das unter 1 aufgeführte Wissen liefert uns der textuelle Kontext, und die über dem Pfeil genannte Information beruht auf unserem Weltwissen. Der Schluß von 1 nach 2 ist deswegen als annullierbar ("defeasible") zu bezeichnen, weil er beispielsweise unter Hinzuziehung des Wissens 'have lost both wings in an accident(Tweety)' unter 1 nicht mehr gelten würde. Wenn dort die im Vergleich zu bird(Tweety) spezifischere Information bird(Tweety) A have lost both wings(Tweety) steht, ergibt sich die Suspendierung der Schlußfolgerung, daß Tweety fliegt:
Die hier gewählte und im folgenden benutzte grafische Darstellungsweise der Inferenzschlüsse ist an diejenige in Lascarides & Oberlander (1993) angelehnt. Der Modus Ponens ist ein grundlegendes Inferenzschema der Aussagenlogik in der Form P-> Q P
•••Q Dies bedeutet, daß, wenn aus P folgt Q wahr ist, auch in einem Kontext, in dem nur P eindeutig gegeben ist, zwangsläufig Q gilt (auf letzteres bezieht sich Q) (vgl. Partee, ter Meulen et al. 1990: 118). Wenn beispielsweise If F. is in Paris, F. is in France gilt (P—>Q), und als P die Aussage F. is in Paris wahr ist, folgern wir daraus, daß ebenfalls F. is in France als Q gilt. Dieser Modus Ponens ist im Vergleich zu dem hier im Haupttext diskutierten Modus Ponens nicht-annullierbar (indefeasible).
160
(121) Suspendierung des annullierbaren Modus Ponens (120) .< bird(Tweety) A have lost both wings(Tweety)
bird(Tweety) 3
/\
I
birds without wings don't fly
birds fly
fly(Tweety) 5
2 bird(Tweety)A have lost both wings(Tweety)
'///y
4 -, fly(Tweety)
gültige Folgerung ••l||H" suspendierte Folgerung sich widersprechende Resultate
Wenn wir von der nun erweiterten Informationsmenge unter 1 ausgehen, die das Wissen darüber enthält, daß Tweety ein Vogel ist und daß Tweety beide Flügel verloren hat, können wir hier neben dem bereits bekannten annullierbaren Modus Ponens von 3 nach 5, der nur auf der Information bird(Tweety) beruht, eine zweite Folgerung ableiten, nämlich auf der Basis unseres Wissens darüber, daß Vögel ohne Flügel normalerweise nicht fliegen. Diese zweite Folgerung ist in (121) als Schluß von 1 über 2 auf 4 dargestellt. Man beachte, daß diesem Schluß sowohl die Information, daß Tweety ein Vogel ist, als auch die zusätzliche Information, daß Tweety beide Flügel verloren hat, zugrundeliegen muß. Er basiert also auf einer Informationsgrundlage, die spezifischer ist als jene, auf der der ursprüngliche annullierbare Modus Ponens aufbaute, für dessen Anwendung die Information 'Tweety is a bird' ausreichte. Da sich das Ergebnis fly(Tweety) aus dem zuerst diskutierten, einfachen Modus Ponens und die Schlußfolgerung -1 fly(Tweety) aus dem zweiten, komplexeren Interpretationsschritt widersprechen, bevorzugen wir von den beiden Möglichkeiten jene Inferenz, die auf dem spezifischeren Informationsgehalt beruht. Dieses ist hier der Interpretationsschritt von 2 nach 4, nicht aber jener von 3 nach 5, weil 2 informativer als 3 ist. Somit ist der Modus Ponens von 3 auf 5 in (121) suspendiert. Suspendierte Interpretationsschritte wollen wir durch einen dünnen Pfeil kennzeichnen, gültige Schritte durch einen dicken. Die in einem Interpretationsmuster gültigen Informationsstadien werden durch fette Nummern angedeutet, suspendierte Informationsstadien durch kursive. Wir können dieses Schema nun in folgender Weise auf unsere temporalen Diskursprinzipien anwenden: Es wird dieselbe Art der grafischen Darstellung zugrundegelegt wie in (121). Unter 1 ist das spezifische Wissen einzufügen, welches uns der Kontext zur Verfügung stellt, und an den Endpunkten der Pfeile werden die daraus gefolgerten temporalen Relationen aufgeführt. Anstatt des in der obigen Grafik neben dem Pfeil angegebenen allgemeineren (Welt-) Wissens setzen wir an dieser Stelle die Diskursprinzipien ein, die uns zu den jeweiligen Schlußfolgerungen veranlassen. Im Hinblick auf die Anwendung des Prinzips (91) "Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)" stellt sich nun ein annullierbarer Modus Ponens wie folgt dar :
161 (122) Annullierbarer Modus Ponens in (90)35 Brigid O'Shaughnessy jumped up from her chair. Her lower lip was between her teeth [...].
1
1
'Br.S. jump- up from her chair'(rl,el) A
'Br.S.'s lower lip bebetween her teeth'(r2,e2)
Zustände und Gleichzeitigkeit
A
Ereig(el) A Zust(e2)
• 2
2 Überl(el,e2) A rl = r2
Am Ausgangspunkt 1 des Schlusses (Lascarides und Oberlander sprechen hier von einem "Antezedenten") 3 6 stellt uns der textuelle Kontext die Information zur Verfügung, daß relativ zu e 1 und r1 eine Gegebenheit des Typs 'Br. S. jump- up from her chair' vorliegt und relativ zu r2 und e2 eine Situation des Typs 'Br. S.'s lower lip be- between her teeth'. Des weiteren wissen wir, daß die e 1 zugeordnete Situation ein Ereignis darstellt und die e2 zugeordnete Situation einen Zustand. Aufgrund unseres Wissens bezüglich der Einordnung von Zuständen bringen wir nun das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" zur Anwendung, durch welches die unter 2 aufgeführten temporalen Relationen der Überlappung der Ereigniszeiten Überl(e1, e2) und der Referenzzeitidentität r1 = r2 nahegelegt werden. Es ist nun festzustellen, daß der annullierbare Modus Ponens (122) im Hinblick auf die tatsächlich in Verbindung mit (90) zur Anwendung kommenden Interpretationsvorgänge in dieser Form lediglich vereinfacht dargestellt ist. So enthält das unter 1 aufgeführte Wissen bereits einen weiteren interpretatorischen Schluß, in dem gefolgert wird, daß p 1 ein Ereignis ist und p2 ein Zustand, und zwar auf der Basis der Information, daß dem Paar (r1,e 1) die Proposition 'Br. S. jump- up from her chair' als p1 zugeordnet wird und (r2,e2) 'Br. S.'s lower lip be- between her teeth' als p2. Diese Inferenz auf die Ereignistypen weist somit die folgende Form auf: In ähnlicher Form stellen Lascarides (1992) und Lascarides & Oberlander (1993) temporale Inferenzprozesse dar. Dort werden jedoch nur Ereigniszeiten in Beziehung zueinander gesetzt, ohne Reichenbachs Referenzzeitorientierung zu integrieren. Des weiteren untersuchen die o.g. Autoren nur unmittelbar aufeinanderfolgende Sätze. Dies ist etwas irreführend, da der Begriff des "Antezedenten" bereits im Zusammenhang mit Phänomenen der Anaphora verwendet wird. In Verbindung mit der Beschreibung von Inferenzmustern werde ich mich im folgenden daher statt dessen auf den "Ausgangspunkt" einer Inferenz beziehen.
162
(123) 1
'Br. S. jump- up from her chair' (=pl) ist wahr relativ zu el und rl; 'Br. S.'s lower lip be- between her teeth' (=p2) ist wahr relativ zu e2 und r2
Wissen um die (prototypische) Zeitkonstitution der Situationen
2
Ereig(pl) a Zust(p2)
Die Inferenz auf die Art der Ereignistypen beruht auf unserem Wissen um die prototypische zeitkonstitutionelle Klassifizierung zweier Gegebenheiten des hier beschriebenen Typs. Auch diese Inferenz auf die Klassen der Ereignistypen können wir als annullierbar ansehen: Unter Verwendung des Progressive erscheint beispielsweise 'Br. S. jump- up from her chair' als ein Zustand, aber nicht als ein Ereignis. Die Hinzufügung der Information Progr(p2) unter 1 suspendiert somit die Annahme unter 2, daß p2 ein Ereignis ist. Auch die in (122) unter 2 als Resultat aufgeführte Konjunktion Überl(e1,e2) A r1 = r2 impliziert einen weiteren annullierbaren Schluß, der in (122) ebenfalls nicht dargestellt wurde: Wir schließen per Default von Überl(e1, e2) auf r1 = r2. Diese Inferenz wird beispielsweise durch das Prinzip "Zustände und Referenzzeitabfolge" in solchen Kontexten außer Kraft gesetzt, in denen statt r1 = r2 die Relation r1 < r2 in Verbindung mit Zuständen gilt (vgl. (96)). Das Inferenzmuster, welches der Interpretation nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" zugrundeliegt, enthält somit nicht, wie in (122) dargestellt, lediglich einen inferentiellen Schritt, sondern stellt vielmehr eine Verschachtelung mehrerer Interpretationsschritte dar. Dies gilt für die meisten Interpretationen nach den im vorhergehenden Abschnitt formulierten Diskursprinzipien.
2.4.3
Annullierbare komplexe Folgerung (Defeasible Hypothetical
Syllogism)
Ein im Vergleich zum annullierbaren Modus Ponens komplexeres Muster logischer Folgerungen, das die oben angedeutete Verschachtelung mehrerer Schlüsse in einem Inferenzmuster zu erfassen vermag, wird von Partee und anderen als "Hypothetical
163
Syllogism" bezeichnet (vgl. u.a. Partee, ter Meulen et al. 1993: 118).37 Dies ist die Kombination zweier oder mehrerer Schritte nach dem Modus Ponens: Aus den beiden Folgerungen If T. is a bird, then T. has two wings und If T. has two wings, then T. flies können wir beispielsweise IfT. is a bird, then T. flies schließen. Dies entspricht dem folgenden Interpretationsmuster: (124) Komplexes annullierbares Inferenzmuster ("defeasible" Hypothetical Syllogism) bird(Tweety)
bird(Tweety)
bird(Tweety) birds have two wings
birds fly
have- two wings(Tweety) animals with two wings fly
? fly(Tweety)
t fly(Tweety)
Die Interpretationsschritte auf der rechten Seite des Diagramms führen zu demselben Ergebnis wie der einfache Modus Ponens auf der linken Seite. Da wir in der Interpretation von Sprache der Grice'sehen Informativitätsmaxime folgen, können wir wieder davon ausgehen, daß, wenn ein Kontext tatsächlich den informativeren, kom-
Hypothetical P —> Q Q —» R
Syllogism der Aussagen log ik:
P —» R Dies bedeutet, daß, wenn aus P folgt Q und aus Q folgt R gilt, ebenfalls aus P folgt R wahr ist. Zum Beispiel sei If F. lives in Paris, F. lives in France wahr (P—>Q) und If F. lives in France, F. lives in Europe (Q—>R). Dann können wir ebenfalls If F. lives in Paris, F. lives in Europe schließen. Diese Inferenzen sind nicht annullierbar (indefeasible): Sie können nicht außer Kraft gesetzt werden. Die im Haupttext diskutierten Inferenzen sind im Gegensatz hierzu wieder als annullierbar zu klassifizieren.
164 plexeren Interpretationsschluß auf der rechten Seite nahelegt, dieser auch der einfachen Inferenz der linken Seite vorzuziehen ist. Wir wenden den komplexeren Schluß aufgrund der Vorschrift Be relevant! jedoch nicht an, wenn dieser in einem Kontext irrelevant erscheint. In einem solchen Fall würden wir einen einfachen Modus Ponens von bird(Tweety) a u f f l y ( T w e e t y ) vorziehen, dem dann das allgemeinere Wissen 'birds fly' zugrundeliegt. 38 Ich komme nun zur Analyse des komplexeren Interpretationsschritts auf der rechten Seite des Diagramms: Sowohl IfT. is a bird, then T. has two wings als auch IfT. has two wings, then T. flies sind als annullierbare Inferenzen anzusehen. Die Schlußfolgerung ... then T. flies ist dabei mit... then T. can fly gleichzusetzen. Wenn T. beide Flügel verloren hat, ist er trotzdem ein Vogel, er hat aber keine Flügel mehr. Die Inferenz IfT. is a bird, then T. has two wings ist dann außer Kraft gesetzt. Wenn T. schwerkrank ist, kann T. unter Umständen nicht fliegen, obwohl T. zwei Flügel hat, die dies normalerweise erlauben würden. In diesem Fall wird die Inferenz IfT. has two wings, then T. flies / then T. can fly außer Kraft gesetzt. Ist aber eine der Inferenzen des Schemas (124) suspendiert, gilt das gesamte Inferenzschema nicht mehr - es ist also auch in seiner Gesamtheit anzweifelbar: Der auf der linken Seite dargestellte direkte Schluß von bird(Tweety) auf fly(Tweety) wäre dann ebenfalls nicht mehr nachvollziehbar. Aus den obigen Überlegungen können wir nun folgern, daß die Anwendung des Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" in bezug auf (90) nicht der Inferenz nach einem einfachen Modus Ponens in der Form (122) entspricht, sondern eher einer komplexen Verschachtelung logischer Schlüsse nach dem Muster (124). Ein solches Inferenzschema ist, auf (90) angewandt, wie folgt aufgebaut:
Wir lassen bei diesen theoretischen Überlegungen zunächst einmal außer acht, welche sprachlichen Elemente als kontextuelle Faktoren nun konkret den einen oder anderen Schluß nahelegen.
165 (125) Komplexes Interpretationsmuster in (90)
1 1
1 Br.S. jump- upfront her chair()A Br.S. 's lower lip bebetween her teeth() 2 3
Ereig(el) A Zust(e2) Überl(el,e2)
4 rl = r2 A
t 4
Überl(el,e2)
Wissen um die zeitliche Konstitution der Situationen
J
Zustände und Gleichzeitigkeit
laus Überl(el,e2) ¡folgt rl=r2
4
Hier liegt, wie oben gefordert, der Interpretation nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" nicht mehr die Anwendung eines, sondern mehrerer Interpretationsschritte zugrunde, und zwar in der folgenden Weise: Zunächst schließen wir zwischen 1 und 2 auf die zeitliche Konstitution der Ereignisse. Wie bereits erläutert, ist es angebracht, diesen Schluß als annullierbaren Schluß darzustellen. Zwischen 2 und 3 vollzieht sich nach dem Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" die Inferenz auf die Überlappung von e 1 und e2. Zwischen 3 und 4 unterliegt unsere temporale Interpretation dann einem weiteren annullierbaren Schluß, nämlich dem, daß aus der Überlappung von e 1 und e2 die Identität von r 1 mit r2 folgt. Daß auch diese Bedingung in bestimmten Kontexten suspendiert wird, habe ich bereits gezeigt. Auch die Folgerung von 3 auf 4 ist somit eine annullierbare Inferenz. Die komplexe Schlußfolgerung auf der rechten Seite des Diagramms impliziert im Sinne von (124) auch die direkte Folgerung von 1 auf 4, die auf der linken Seite dargestellt ist, denn wenn (1 2) A (2 3) A (3 ->4) gilt, ist auch 1 —>4 wahr. Sämtliche der hier enthaltenen Interpretationsschritte wurden durch unser Prinzip (91) "Zustände und Gleichzeitigkeit in (90)" tatsächlich vorgeschrieben. 39 Den eigentlichen Kern des Prinzips stellt jedoch der Schluß von 2 auf 3 dar.
Allerdings hatten wir dort die Inferenz von Überl(e1,e2) auf r1 = r2 nur implizit vorausgesetzt, vgl. Prinzip (91) sowie die Erläuterungen dazu im vorhergehenden Unterkapitel.
166 Wir sehen somit, daß die Befolgung eines der im vorhergehenden Abschnitt identifizierten Diskursprinzipien nicht mit dem Vollzug eines einzigen Interpretationsschrittes gleichzusetzen ist, sondern der Durchführung einer Vielzahl solcher Interpretationsschritte gleichkommen kann. Dabei werden nicht zwangsläufig in jedem Kontext sämtliche der einem Prinzip zugrundeliegenden Schritte zur Anwendung gebracht. Wir wollen davon ausgehen, daß es Abstufungen bezüglich des Grades der Einhaltung eines Diskursprinzips gibt: Es mögen alle durch ein Prinzip festgelegten temporalen Relationen in einem Kontext relevant erscheinen oder auch nur ein Teil von ihnen. Das Prinzip "Zustände und Gleichzeitigkeit" schrieb beispielsweise in Verbindung mit der Einführung von Zuständen in den Diskurs die Interpretation im Sinne der beiden Relationen Überl(e1,e2) und r1=r2 vor. Wie wir aber gesehen haben, wird in bestimmten Kontexten r1 = r2 zugunsten von r1 < r2 suspendiert, obwohl die Relation Überl(e1,e2) in Kraft bleibt. Dies war z.B. in (64) We went [=r1] on up the lake. There was [=r2] a break in the mountains [...] der Fall.
2.4.4
Die Suspendierung von Inferenzen und das "Pinguin-Prinzip"
In den bisher diskutierten zeitlichen Inferenzmustern nach (124) wurden noch keine Schlüsse suspendiert, da bislang jeweils sämtliche Inferenzen miteinander kompatibel waren. Ergeben sich jedoch aus zwei Inferenzen widersprüchliche Ergebnisse, müssen wir einer der beiden möglichen Inferenzen (und damit deren Ergebnis) den Vorzug geben, wie dies in dem nicht-temporalen Inferenzschema (121) der Fall war. Im Hinblick auf die Bewertung sich widersprechender Inferenzen und ihrer Resultate gibt es zwei Möglichkeiten: (i) Entweder ist der Widerspruch zwischen zwei Informationsstadien nicht zu lösen oder (ii) wir können uns eindeutig für eines der Resultate entscheiden, wie in (121). Ein nicht-lösbarer Widerspruch liegt z.B. dann vor, wenn wir aus der Aussage Nixon is a quaker and Nixon is a Republican sowohl Nixon is a pacifist ableiten (weil Quaker Pazifisten sind) als auch Nixon is a non-pacifist (weil wir aufgrund von Nixon is a Republican in einem bestimmten historischen Kontext dieses per Default zu schließen vermögen). Wir können jedoch nicht eindeutig festlegen, welche der sich widersprechenden Inferenzen wahr ist und welche nicht (vgl. z.B. Lascarides & Oberlander 1993: 11). Derartige nicht-lösbare Inferenzmuster sind in unserem Untersuchungsbereich der temporalen Interpretation von Texten im Normalfall jedoch nicht relevant. Würde die temporale Interpretation eines Textes zu derartigen nicht-auflösbaren Widersprüchen führen, wäre die textuelle Kohärenz nur schwer herstellbar, weil wir die Verzeitungsstruktur nicht eindeutig zu rekonstruieren vermögen. In der temporalen Interpretation eines wohlgeformten Erzähltextes wird darum in der Regel einer der sich gegenseitig widersprechenden zeitlichen Relationen der Vorzug gegeben. Die normale temporale Interpretation von Texten folgt somit (ii). Wenn der Widerspruch zwischen zwei möglichen Inferenzen durch die Suspendierung einer der Inferenzen nach (ii) eindeutig gelöst werden kann, folgt die Interpretation von Aussagen einem als "Pinguin-Prinzip" bezeichneten Muster. So veranlaßt uns die Aussage T. is a penguin beispielsweise zu den zwei möglichen Folgerun-
167
gen T. flies auf der einen Seite, weil Pinguine Vögel sind und wir wissen, daß Vögel fliegen, und T. doesn 't fly auf der anderen, weil wir wissen, daß Pinguine nicht fliegen. Wir können aber auf Basis unseres Weltwissens aus der Aussage T. is a penguin gemeinhin eindeutig folgern, daß T. nicht fliegen kann. Es ist nun in einem Inferenzschema glaubhaft darzustellen, warum das Wissen darüber, daß Pinguine nicht fliegen, hier den Schluß, daß Pinguine Vögel sind und Vögel fliegen (also auch Pinguine fliegen), überschattet. Dies bringt uns nun zu der Schematik des Pinguin-Prinzips (vgl. z.B. Lascarides & Oberlander 1993: 11): (126) Pinguin-Prinzip 1
penguins are birds
identische Aussagen
penguins don 'tfly
birds fly
f 5
á
•
1
penguin
(Tweety)
2
penguin
(Tweety)
3
bird
4
~> fly (Tweety)
5
fly
(Tweety)
(Tweety)
4
Aus Tweety is a penguin unter 1 folgern wir als Tautologie 2, nämlich daß Tweety ein Pinguin ist, aber wir folgern auch unter 3, daß Tweety ein Vogel ist. Den Schlüssen von 1 auf 3 und von 2 auf 3 liegt jeweils das Wissen 'penguins are birds' zugrunde. Aus der Tatsache, daß Tweety ein Pinguin ist (Informationsstadium 2), schließen wir nun unter 4, daß Tweety nicht fliegen kann. Diesem Schluß liegt das Wissen 'penguins don't fly' zugrunde. Aus 3, wonach Tweety ein Vogel ist, folgern wir jedoch aufgrund des Weltwissens 'birds fly' die Formel 5, welche besagt, daß Tweety fliegt. Die beiden Folgerungen 4 und 5 widersprechen sich nun: Nach 5 kann Tweety fliegen, nach 4 jedoch nicht. Da der Ausgangspunkt des Schlusses von 2 auf 4, demzufolge Tweety ein Pinguin ist, jedoch spezifischere Informationen enthält als 3, wonach Tweety lediglich ein Vogel zu sein hat, suspendiert der Schluß von 2 auf 4 jenen von 3 auf 5. Auch (121) folgte diesem Schema des Pinguin-Prinzips. Wie ich im folgenden zeigen werde, entspricht dieses nun exakt dem Inferenzschema, das wir der temporalen Interpretation von (90) zugrundegelegt hatten.
2.4.5
Temporales "Pinguin-Prinzip" und Referenzzeitorientierung
Die Suspendierung des lokalen Chronologieprinzips zugunsten des Prinzips "Zustände und Gleichzeitigkeit" ist in Form des Pinguin-Prinzips als die Bevorzu-
168
gung der Inferenz auf Überl(e1,e2) A r1=r2 nach (125) gegenüber dem Schluß auf die chronologische Abfolge r1 < r2 A e1 < e2 darstellbar. Im Hinblick auf den Kontext (90) ergibt sich folgendes Bild: (127) Pinguin-Prinzip in (90) Brigid O'Shaughnessy
logischer iß (siehey Schluß (siehe Text)
jumped
upfront
her chair. Her lower lip was between her teeth [...].
Wissen um die zeitliche . Konstitution der ' -V Situationen
(pl(), p2()) A Br.S. jump- up from her chaiii) A Br.S. 's lower lip be- between her teeth() (pl(), P2()) A Br.S. jump- up from her chair() A Br.S. 's lower lip bebetween her teeth() A Ereig(el) A Zust(e2)
logischer Schluß (siehe Text) Chronologie auf der lokalen Textebene
Zustände und Gleichzeitigkeit
t 4
3
4
aus rl