Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900 [1. Aufl.] 9783839414118

Stadt und Vergnügen waren um 1900 eng miteinander verbunden. Tanzveranstaltungen und Theater, Kino und Kneipen boten den

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German Pages 340 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Die Metropole der tausend Freuden. Stadt und Vergnügungskultur um 1900
REPRÄSENTATIONEN – POLITIK UND VERGNÜGEN IN DER METROPOLE
Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900
Die drei Bühnen der Stadt. Der Berliner Königsplatz als lokaler, nationaler und globaler Ort
Periphere Urbanisierung. Massenkonzepte der Unterhaltungskultur in Wien und Budapest in den 1920er Jahren
UNGLEICHHEITEN – GESELLSCHAFT UND VERGNÜGEN IN DER METROPOLE
Wie ›jüdisch‹ war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende?
Kiezvergnügen in der Metropole. Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten
Das Vergnügungsviertel. Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende
UNGLEICHZEITIGKEITEN – BLICKE JENSEITS DER METROPOLE
Die Flucht des Theaters vor der Metropole. Das Kraiburger Volksschauspiel in der Zeit des späten Kaiserreiches
Die temporäre Verdorfung Berlins. Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900
Frühes Kino zwischen Stadt und Land. Einige Überlegungen zum Verhältnis von Kinoprogrammgestaltung, Kinopublikum und moderner Stadterfahrung vor 1914
VERFLECHTUNGEN – INTERMEDIALITÄT DES VERGNÜGENS
Comme il faut. Theater und Mode um die Jahrhundertwende
»Welt von Wundern«. Die Berliner Urania um 1900
Ein Kabinett im Panoptikum. Musikautomaten und die Ökonomisierung der Kunst
Bildnachweis
Personen- und Sachregister
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Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900 [1. Aufl.]
 9783839414118

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Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.) Die tausend Freuden der Metropole

1800 | 2000 Kulturgeschichten der Moderne | Band 6

Editorial Die Reihe 1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne reflektiert die Kulturgeschichte in ihrer gesamten Komplexität und Vielfalt. Sie versammelt innovative Studien, die mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium neue Perspektiven auf die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts erschließen: die vertrauten und fremden Seiten der Vergangenheit, die Genese der Moderne in ihrer Ambivalenz und Kontingenz. Dazu zählen Lebenswelten und Praxisformen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso wie Fragen kulturund sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Die Reihe weiß sich dabei einer Verbindung von strukturalistischen und subjektbezogenen Ansätzen ebenso verpflichtet wie transnationalen und transdisziplinären Perspektiven. Der Bandbreite an Themen entspricht die Vielfalt der Formate. Monographien, Anthologien und Übersetzungen herausragender fremdsprachiger Arbeiten umfassen das gesamte Spektrum kulturhistorischen Schaffens. Die Reihe wird herausgegeben von Peter Becker, Jane Caplan, Alexander C.T. Geppert, Martin H. Geyer und Jakob Tanner.

Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.)

Die tausend Freuden der Metropole Vergnügungskultur um 1900

Diese Publikation wurde mit den Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Kennzeichen 01GWS050 gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Reproduktion: Tiller-Girls, in: Programmheft der Haller-Revue »An und Aus«, Berlin 1926. © StiftungStadtmuseumBerlin Mitarbeit-Lektorat: Anne Gnausch Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1411-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Die Metropole der tausend Freuden Stadt und Vergnügungskultur um 1900 Tobias Becker und Johanna Niedbalski | 7

R EPRÄSENTATIONEN – P OLITIK UND V ERGNÜGEN IN DER M ETROPOLE Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900 Angelika Hoelger | 23

Die drei Bühnen der Stadt Der Berliner Königsplatz als lokaler, nationaler und globaler Ort Tim Opitz | 43

Periphere Urbanisierung Massenkonzepte der Unterhaltungskultur in Wien und Budapest in den 1920er Jahren Amália Kerekes und Katalin Teller | 67

U NGLEICHHEITEN – G ESELLSCHAFT UND V ERGNÜGEN IN DER M ETROPOLE Wie ›jüdisch‹ war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende? Peter Jelavich | 87

Kiezvergnügen in der Metropole Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten Hanno Hochmuth und Johanna Niedbalski | 105

Das Vergnügungsviertel Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende Tobias Becker | 137

U NGLEICHZEITIGKEITEN – B LICKE JENSEITS DER M ETROPOLE Die Flucht des Theaters vor der Metropole Das Kraiburger Volksschauspiel in der Zeit des späten Kaiserreiches Karl Borromäus Murr | 171

Die temporäre Verdorfung Berlins Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900 Franka Schneider | 197

Frühes Kino zwischen Stadt und Land Einige Überlegungen zum Verhältnis von Kinoprogrammgestaltung, Kinopublikum und moderner Stadterfahrung vor 1914 Andrea Haller | 229

V ERFLECHTUNGEN – I NTERMEDIALITÄT DES V ERGNÜGENS Comme il faut Theater und Mode um die Jahrhundertwende Stefanie Watzka | 259

»Welt von Wundern« Die Berliner Urania um 1900 Kristin Becker | 283

Ein Kabinett im Panoptikum Musikautomaten und die Ökonomisierung der Kunst Rebecca Wolf | 303

Bildnachweis | 325 Personen- und Sachregister | 329

Die Metropole der tausend Freuden Stadt und Vergnügungskultur um 1900 Tobias Becker und Johanna Niedbalski

The City of Pleasure. A Fantasia on Modern Themes heißt ein 1907 veröffentlichter, heute nahezu vergessener Roman des britischen Schriftstellers Arnold Bennett (1867-1931). Bennett entwirft darin das Porträt eines fiktiven Londoner Stadtviertels, welches von der aufkommenden Unterhaltungsindustrie in das »gigantischste Vergnügungsunternehmen […], das Europa jemals gesehen hatte«, verwandelt wird.1 Nicht mehr Fabriken-, Kirchen- oder Rathaustürme waren es, die das Bild dieser Stadt der tausend Freuden – so der deutsche Titel – prägten, sondern »das Theater, das Varieté, die Konzerthalle, der Zirkus, das Panorama, die Lesehalle, die Menagerie, die Kunstausstellung, das Haus der Geschichtenerzähler, Tanzdielen, Restaurants, Cafés, Bars und zahlreiche Läden«.2 Manche dieser öffentlichen Vergnügungsstätten erscheinen heute antiquiert oder gehören der Vergangenheit an. Nur wenige, namentlich das Kino, sind hinzugekommen. Bennetts Vision der Verwandlung des urbanen Raums durch Unterhaltungsunternehmen aber war zu seiner Zeit nicht nur in London, sondern auch in zahlreichen anderen Metropolen bereits Wirklichkeit geworden. Der Roman Die Stadt der tausend Freuden steht beispielhaft für die Expansion des Vergnügens um 1900. Neben Kneipen und Wirtshäuser, Sommergärten und Theater, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Orte des Vergnügens in den großen Städten gewesen waren, trat seit der Mitte des Jahrhunderts eine Fülle neuer Angebote. Zahlreiche neue Theater, Kinos und Tanzpaläste veränderten ebenso wie Schilder, Plakate, Leuchtreklamen und Handzettel mit ihren Aufforderungen, sich zu vergnügen, zunehmend das physische Bild der Städte. Es galt aber auch das Umgekehrte: Denn bevor Medien wie Radio, Fernse1 | Arnold Bennett: Die Stadt der tausend Freuden, Berlin 1925, S. 9 (zuerst als: The City of Pleasure. A Fantasia on Modern Themes, London 1907). Für Kritik und Kommentare danken wir Alexander C.T. Geppert und Daniel Morat. 2 | Bennett: Die Stadt, S. 10.

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hen und Internet die Unterhaltung in die privaten Wohnzimmer brachten, musste, wer das Vergnügen suchte, sich hinaus in die Stadt begeben, so dass der Raum auch das Vergnügen prägte. Ausgehend von der Beobachtung, dass einerseits die Herausbildung einer modernen Vergnügungskultur nicht ohne die Urbanisierung gedacht werden kann und dass andererseits die Vergnügungskultur eine wichtige Rolle im Prozess der »inneren Urbanisierung«, der Anpassung der Menschen an das Leben in der Großstadt, spielte, widmet sich der vorliegende Band den Wechselwirkungen zwischen Metropole und Vergnügungskultur um 1900.3 Für diese Wechselbeziehungen war die ›lange Jahrhundertwende‹, die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930, in dreifacher Hinsicht entscheidend.4 Erstens beschleunigten sich in diesen Jahrzehnten die Verstädterung und Urbanisierung in zuvor unbekanntem Ausmaß. Millionen Menschen strömten auf der Suche nach Arbeit in die urbanen Ballungsräume, und ihr Zuzug veränderte nicht nur die physische Gestalt der Städte, sondern auch die Lebensweise ihrer Bewohner in erheblichem Maße. Zweitens waren die Jahrzehnte um 1900 geprägt durch eine allmähliche Ausdehnung der Freizeit und die Wandlung der Freizeitgewohnheiten. Erst infolge der Industrialisierung entstand eine starke Dichotomie zwischen Arbeitsund Freizeit, die zuvor in dieser Form nicht bestanden hatte. Die neue Freizeit in der urbanen Umwelt wollte gestaltet und ausgefüllt werden.5 Und drittens ereignete sich um 1900, wie Bernd Weisbrod schreibt, ein »zweiter Strukturwandel der Öffentlichkeit«. Traditionelle Unterhaltungsformen wie das Theater erschlossen sich durch die Entwicklung neuer Genres wie dem Varieté und der Music Hall ein Massenpublikum, und mit Fotografie, illustrierter Presse, Kino und Radio bildeten 3 | Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361. 4 | Vgl. August Nitschke u.a. (Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 18801930, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1990; Paul Nolte: »1900. Das Ende des 19. Jahrhunderts und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 281-300; ders.: »Abschied vom 19. Jahrhundert. Auf der Suche nach einer anderen Moderne«, in: ders./Jürgen Osterhammel/ Dieter Langewiesche (Hg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 103132; Ulrich Herbert: »Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century«, in: Journal of Modern European History 5 (2007) Nr. 1, S. 5-20; Habbo Knoch/Daniel Morat: »Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit«, in: dies. (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder, München 2003, S. 9-33, hier S. 20. 5 | Hans-Werner Prahl: Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002, S. 98-106; Gerhard Huck: »Freizeit als Forschungsproblem«, in: ders. (Hg.): Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, S. 7-17; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 2001, S. 38-40.

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sich die bis heute prägenden Massenmedien aus.6 Im Zusammentreffen dieser Faktoren entstand in den Metropolen der Jahrhundertwende eine neue, zukunftsweisende Vergnügungskultur.

M E TROPOLEN Metropole ist kein Begriff, der sich eindeutig definieren lässt. Aber als »faszinierender und sinnfälligster Sonderfall des Städtischen«, wie Heinz Reif schreibt, hat er in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftliche Verwendung gefunden.7 Das liegt sicher auch daran, dass heute mehr Menschen als jemals zuvor in Städten leben und sich mit den ›Global Cities‹ und ›Megacities‹ ganz neue urbane Typen herausgebildet haben. Im Vergleich zu diesen wirken die Metropolen der Jahrhundertwende fast schon so altmodisch wie Gustave Dorés (1832-1883) Darstellungen der Londoner Slums angesichts heutiger Favelas.8 Auch wenn inzwischen der Begriff Metropole nahezu allgegenwärtig geworden ist – vom Synonym für Megastadt bis zur ›Finanzmetropole‹ Frankfurt am Main oder gar der ›Ostwestfalen-Metropole‹ Bielefeld –, verweist der Begriff ebenso wie das, was er beschreibt, auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der »Zeit der Metropolen«.9 Wie Clemens Zimmermann in dem gleichnamigen Buch zeigt, definieren sich Metropolen nicht allein durch die Anzahl ihrer Einwohner oder den Umfang ihrer Fläche, obwohl dies immer zentrale Kriterien gewesen sind. Was die Metropole jenseits bloßer Größe und Dichte ausmacht, ist ihr Reichtum an materiellen und kulturellen Ressourcen, ihre ethnische, soziale und kulturelle Diversität und ihre Einbindung in ein Netzwerk, dass heißt ihre Beziehung zum Umland, dem Nationalstaat und zu anderen Metropolen, durch die sie selbst erst zur Metropole wird. Darüber hinaus schafft und definiert sich die Metropole über ein schwer zu fassendes »Mehr«, das 6 | Bernd Weisbrod: »Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert«, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270-283, hier S. 271. 7 | Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden«, CMS Working Paper Series 001/2006, www.metropolitanstudies.de/fileadmin/filestorage/reif_001.pdf, S. 2. 8 | Saskia Sassen: The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton 1991; Peter Feldbauer (Hg.): Megastädte. Zur Rolle von Metropolen in der Weltgesellschaft, Wien/Köln/ Weimar 1993; Dirk Bronger: Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Verstädterung der Erde, Darmstadt 2004; Wolfgang Schwentker (Hg.): Megastädte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Mike Davis: Planet of Slums, London 2006; für eher journalistische Impressionen siehe Alex Rühle (Hg.): Megacitys. Über die Zukunft der Städte, München 2008; Gustave Doré/Blanchard Jerrold: London. A Pilgrimage, London 1872. 9 | Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1996; ähnlich: Anthony Sutcliffe (Hg.): Metropolis, 1890-1940, Chicago 1984; Reif: »Metropolen«, S. 3-4.

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zu erforschen Heinz Reif einer kulturgeschichtlichen und kultursoziologischen Metropolenforschung aufgibt.10 Der vorliegende Band plädiert dafür, die Vergnügungskultur als ein bedeutendes Element dieses »Mehr« zu verstehen, durch das sich die Metropole von der bloß großen Stadt unterscheidet. Erstens bot nur die Metropole den notwendigen Nährboden für die aufkommende Vergnügungsindustrie: die Nachfrage eines großen, heterogenen und Neuem gegenüber aufgeschlossenen Publikums, ausreichend Kapital, um risikoreiche Experimente durchzuführen, ein kreatives Milieu, genügend Arbeitskräfte und die Infrastruktur, beispielsweise Raum und Technik, aber auch Kommunikations- und Transportwege, über die die Erzeugnisse der Vergnügungsindustrie ins Umland und in andere Städte transportiert werden konnten.11 Zweitens prägte die Vergnügungsindustrie die Kultur der Metropolen, sie gehörte integral zum urbanen Lebensstil wachsender Teile der Bevölkerung und lockte zudem Reisende aus der Provinz und dem Ausland an. Die Stadt im weiteren und die Metropole im engeren Sinn sind keineswegs neue Untersuchungsgegenstände, doch hat sich vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft lange überwiegend für das Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert, für Stadtplanung, Wohnsegregation, den Nahverkehr oder die Herausbildung der kommunalen Selbstverwaltung interessiert.12 Darüber hinaus zeigen bereits Buchtitel wie City of Dreadful Delight oder Cities, Sin, and Social Reform bis hin zu Slumming, dass bislang oft eher die Schattenseite der Metropolen – Segregation, Rassismus, Armut und Prostitution – und deren zeitgenössische Perzeption im Vordergrund des Interesses standen.13 Unter dem Einfluss eines zunehmenden Interesses an Raum und Stadt, dem so genannten ›Spatial Turn‹, insbesondere inspiriert durch Überlegungen von Soziologen und Geographen wie Henri Lefebvre, Michel de Certeau, David Harvey und Edward W. Soja, sind neue Fragen entstanden, die zunehmend auch von Histori10 | Reif: »Metropolen«, S. 4. 11 | Vgl. Martina Heßler/Clemens Zimmermann (Hg.): Creative Urban Milieus. Historical Perspectives on Culture, Economy, and the City, Frankfurt a.M./New York 2008. 12 | Vgl. etwa: Jürgen Reulecke: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985; Wolfgang R. Krabbe: Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Einführung, Göttingen 1989; Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.): Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln/Wien 1983; Adelheid von Saldern: Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1995; Klaus Tenfelde: »Urbanization and the Spread of an Urban Culture in Germany in the Nineteenth an Twentieth Centuries«, in: Friedrich Lenger (Hg.): Towards an Urban Nation. Germany since 1780, Oxford/New York 2002, S. 13-42. 13 | Judith R. Walkowitz: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in LateVictorian London, London 1994; Andrew Lees: Cities, Sin, and Social Reform in Imperial Germany, Ann Arbor, Mass. 2002; Seth Koven: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton, New Jersey 2004.

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kern aufgegriffen werden.14 Der vorliegende Band reflektiert den Einfluss dieser kulturwissenschaftlichen und soziologischen Stadtforschung, in der der Mentalität der Großstadtmenschen zentrale Bedeutung beigemessen wird. Dabei bezieht er sich insbesondere auf das Konzept der ›inneren Urbanisierung‹, wie es Gottfried Korff in seinem Aufsatz »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt« formuliert hat.15 An die französische Mentalitätsgeschichte anknüpfend versteht Korff Mentalität als Dialog zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Gefühlen, denn »Mentalitäten formieren und ändern sich in Kommunikationsund Interaktionsprozessen, die ihrerseits von historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen prägend bestimmt werden«.16 Korff betont die prozessuale Dimension von Mentalitäten. Anstatt Urbanität als etwas Gegebenes zu untersuchen, will er herausfinden, wie sich im Prozess der ›inneren Urbanisierung‹ großstädtische Mentalitäten herausbilden und verändern. Dazu schlägt er vor, neben Wohnen und Arbeiten auch »›entlegene‹ Handlungsbereiche« wie Nahrungskonsum, Feste und Vergnügungen zu betrachten.17 Zwei dieser Handlungsbereiche untersuchen Joachim Schlör und Peter Fritzsche in ihren Studien über das städtische Nachtleben beziehungsweise die Presselandschaft der Jahrhundertwende, denen sie, das Konzept der ›inneren Urbanisierung‹ aufgreifend, einen Beitrag zur Anpassung der Bewohner an das Leben in der modernen Großstadt bescheinigen.18 Während in vielen Studien zur Populär- und Vergnügungskultur die Stadt entweder keine Rolle spielt oder lediglich als abstrakter Schauplatz auftritt, hat die Stadtgeschichte die Rolle der Vergnügungskultur bislang nicht ausreichend integriert. Ausgehend von Korffs Konzept der ›inneren Urbanisierung‹ und aufbauend auf die Studien von Peter Jelavich, Peter Bailey, Joachim Schlör, Peter Fritzsche, 14 | Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford 1991 (zuerst als La production de l’espace, Paris 1974); Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (zuerst als L’Invention du Quotidien, Bd. 1: Arts de Faire, Paris 1980); David Harvey: The Limits of Capital, Oxford 1982; ders.: The Urbanization of Capital, Baltimore 1985; Edward W. Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-imagined Places, Cambridge/ Oxford 1996; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001; siehe auch Jörg Dünne/ Hermann Doetsch (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006. Zum ›Spatial Turn‹ siehe Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a.M. 2006, insbes. S. 6071; Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold: »Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930«, in: dies. (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 15-49. 15 | Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt«. 16 | Ebd., S. 345. 17 | Ebd., S. 352. 18 | Vgl. Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, München 1991, S. 17; Peter Fritzsche: Reading Berlin 1900, Cambridge, Mass. 1996, S. 31, 214, 219-220.

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Vanessa Schwartz und Martin Baumeister bringen die Beiträge des Bandes Metropole und Vergnügen zusammen, indem sie spezifische Phänomene oder konkrete Orte der urbanen Vergnügungskultur um 1900 betrachten.19

V ERGNÜGEN Nicht nur Metropole, auch Vergnügen ist ein Begriff ohne eindeutige Definition. In Only Entertainment argumentiert der Kulturwissenschaftler Richard Dyer, dass Vergnügen oftmals weniger der Ausgang für Untersuchungen als der Endpunkt einer Debatte ist. »It’s only entertainment«, »einfach gute Unterhaltung«, sagen wir ihm zufolge, wenn wir keine Lust verspüren, über ein bestimmtes Vergnügen nachzudenken oder uns dafür zu rechtfertigen, dass uns ein in den Augen anderer zweifelhaftes Vergnügen gefällt. Dyer registriert die Schwierigkeiten, die wir haben, wenn begründet werden soll, warum ein Film oder ein Theaterstück gefällt – oder warum eben nicht.20 Was den einen Vergnügen bereitet, langweilt die anderen. In seiner Autobiographie beschreibt Golo Mann (1909-1994) die 1920er Jahre in Berlin, die das kollektive Gedächtnis der Mitteleuropäer als eine Hochzeit hedonistischer Unterhaltung bewahrt hat: Immer blieb mir ›sich amüsieren‹ fremd; ging ich doch einmal Samstag abends aus […] so konnte ich mich des Verdachts nicht erwehren, daß viele, die am Kurfürstendamm oder nahebei ihr Geld verausgabten, keineswegs auf ihre Kosten kamen. Darüber gab es ein Gedicht von Tucholsky mit dem Refrain: ›Und dafür zieh’n Sie den Smoking an?‹ Nichts öder als Vergnügen, das keines ist. 21

Nichts ist öder als Vergnügen, das keines ist. Das Zitat verweist darauf, dass Vergnügen eine äußerst subjektive Angelegenheit ist, deren soziologische und psychologische Dynamiken nur schwer fassbar sind. Hinzu kommt, dass das Vergnügen der einen die Langeweile, die Arbeit oder sogar das Leid der anderen sein kann. Der Euphemismus vom ›Freudenhaus‹ weist auf diese Dichotomie hin. Richard Dyer unterscheidet zwischen Vergnügen (›pleasure‹) und Unterhaltung (›entertainment‹). Während der erste Begriff in seinen Augen ein überhistorisches Gefühl beschreibt, ordnet er den zweiten einer bestimmten historischen 19 | Peter Jelavich: Berlin Cabaret, Cambridge, Mass. 1996; Peter Bailey: Popular Culture and Performance in the Victorian City, Cambridge 1998; Schlör: Nachts in der großen Stadt; Fritzsche: Reading Berlin; Vanessa Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley 1998; Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur, Essen 2005. 20 | Richard Dyer: Only Entertainment, London/New York 2 2002, S. 1-9. 21 | Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a.M. 1997, S. 238-239.

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Phase zu, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann und bis in unsere unmittelbare Gegenwart reicht. Dyers Unterscheidung macht auf ein begriffliches Dilemma aufmerksam, das sich im Nachdenken über Vergnügen unweigerlich einstellt. Denn einerseits existieren eine Fülle von Begriffen, die alle mehr oder weniger dasselbe Phänomen umreißen. Vergnügen, Unterhaltung, Amüsement, Plaisir, Belustigung, Zerstreuung, mit Einschränkungen auch Freude, Spaß oder Zeitvertreib umschreiben alle das positive Gefühl, das sich einstellt, wenn man sich gut ›unterhalten‹ fühlt. Andererseits benutzt fast jeder, der sich mit Phänomenen der populären Vergnügungskultur beschäftigt, unterschiedliche Begriffe.22 So bevorzugt beispielsweise auch der Kulturwissenschaftler Hans-Otto Hügel den Begriff ›Unterhaltung‹, allerdings aus anderen Gründen als Dyer. Es geht ihm weniger darum, eine historische Periodisierung vorzunehmen; vielmehr betont er das Kommunikative des Unterhaltungsprozesses, das schon durch die Bedeutungsdoppelung im Sinne von ›Gespräch‹ deutlich werde. Er schlägt deshalb vor, unterhaltende Rezeption als ästhetische Wahrnehmung zu begreifen, die sich, anders als Informationen, nicht über Begriffe vermittelt. Ihr Markenzeichen (und hierin unterscheide sie sich von der Kunstwahrnehmung) sei ihre Rezeptionsoffenheit. Die Rezipienten haben grundsätzlich die Möglichkeit, die Mitteilungskraft des Wahrgenommenen als Erfahrung aufzunehmen – sie müssen es aber nicht. Während Kunstrezeption ihrem Anspruch nach Unbedingtheit fordert, keine Beliebigkeit in der Wahrnehmung und im Interesse erlaubt, […] erlaubt die Unterhaltungsrezeption (fast) jedes Maß an Konzentration und Interesse. Nicht ›richtiges‹ Verstehen, sondern Teilhabe ist wichtig, wenn wir uns unterhalten wollen. 23

Der Begriff der Vergnügungskultur bezeichnet im Folgenden weniger einen gefühlsgeschichtlichen, rezeptionsorientierten oder anthropologischen Ansatz als die Summe dessen, was in einer Epoche als Vergnügen wahrgenommen wird. Damit ist nicht gesagt, dass es dabei nicht um Gefühle ging, die die Produzenten der Vergnügungskultur herzustellen bemüht waren und die Konsumenten nachfragten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie dieses Vergnügen zum Gegenstand ökonomischer Transaktionen und zum Produkt einer industriellen (oder semi-industriellen) internationalen Vergnügungsindustrie wurde. Es war Teil eines Prozesses der »Kommerzialisierung der Gefühle«, wie er für das 19. und 20. Jahrhun-

22 | Vgl. etwa die zahlreichen konzeptionellen Zugänge zur Populärkultur im ersten Teil »Konzepte Populärer Kultur« des Sammelbands: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart/Weimar 2003, S. 23-89. 23 | Hans-Otto Hügel: »Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie«, in: montage/av 2 (1993), S. 119-141, hier S. 130, siehe auch Hans-Otto Hügel: »Unterhaltung«, in: ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart/Weimar 2003, S. 73-82.

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dert konstatiert worden ist.24 Mit unterschiedlichen Schwerpunkten werden daher in den Beiträgen sowohl die Produktion der einzelnen Vergnügungsangebote als auch die Rezeptionsmöglichkeiten des kommerziellen Vergnügens im Kontext der Stadtgeschichte um 1900 beleuchtet.

M E TROPOLE UND V ERGNÜGUNGSKULTUR Die Metropolen der Jahrhundertwende waren – so die These des Bandes – der Geburtsort einer neuen Vergnügungskultur und diese umgekehrt ein Teil jenes von Heinz Reif beschworenen »Mehr«, durch das sich die Metropole von der großen Stadt unterschied. Zugleich war sie mehr als einfach ›nur‹ Vergnügen im Sinne Dyers, das es zu allen Zeiten und in vielen Kontexten gab. Daher richtet sich der Blick des Bandes auf die Vergnügungskultur eines spezifischen Zeitraums, der ›langen Jahrhundertwende‹, die zugleich das Zeitalter der Metropolen war. Sieben Charakteristika zeichneten diese urbane Vergnügungskultur – im Unterschied zum bloßen Vergnügen – aus. Zunächst bezeichnet Vergnügungskultur die Summe aller Angebote, die darauf abzielten, zu zerstreuen und dem Publikum Abwechslung und Ablenkung von Arbeit und Alltag zu bieten. Hierfür bot sie sinnliche und ästhetische Eindrücke, überwältigende und beeindruckende Erlebnisse und visuell und akustisch überbordende Inszenierungen. Die Vergnügungskultur versuchte – zweitens – stets ein möglichst breites Publikum anzusprechen, sie richtete sich an die Masse der Bewohner der urbanen Zentren. Vergnügungskultur war – drittens – in erster Linie eine kommerzielle Kultur: Die Unternehmer, die Zirkus-, Zoo- oder Theaterdirektoren, die Wirte und Kinobetreiber, sie alle suchten immer auch den kommerziellen Erfolg. Je größer das Publikum, desto höher die Einnahmen – diese einfache kapitalistische Gleichung veranlasste die Akteure, immer neue Massenspektakel zu erproben und umzusetzen. Die öffentliche und tendenziell egalitäre Zugänglichkeit der Unterhaltungsangebote war – viertens – ein weiteres Merkmal, das die Vergnügungskultur auszeichnete. Zwar lösten sich die Klassenschranken und die Geschlechtertrennung in der Vergnügungskultur nicht vollständig auf, aber die grundsätzliche Zugänglichkeit aller Angebote für jede und jeden stellte eine qualitative Neuerung und einen Schritt hin zu einer egalitäreren Gesellschaft dar.25 Die umfassende Verfügbarkeit und ständige Sichtbarkeit der Vergnügungskultur war ein fünftes Charakteristikum. Nicht nur die Fülle von Kinos und Theatern, Music Halls und Varietés, sondern auch andere Formen 24 | Arlie Russell Hochschild: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, aus dem Englischen von Ernst von Kardoff, mit einem aktuellen Vorwort von Arlie Russell Hochschild und einer Einleitung von Sighard Neckel, Frankfurt a.M. 2006 (zuerst als The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling, Berkeley 1983). 25 | Siehe dazu die Beiträge von Peter Jelavich sowie von Hanno Hochmuth und Johanna Niedbalski in diesem Band.

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der Vergnügungskultur waren in den Metropolen um 1900 allgegenwärtig: Postkarten und Werbeplakate, Neonlicht und illustrierte Zeitschriften, Kunstdrucke und Grammophonmusik. All diese Elemente der Vergnügungskultur trugen zu einer »Ästhetisierung der Lebenswelt« der Großstadtbewohner bei und bestimmten die sinnlichen Erfahrungswelten ihrer Rezipienten.26 Die Vergnügungskultur war – sechstens – keineswegs unumstritten. Vielmehr gab es stets scharfe Auseinandersetzungen über Sinn und Unsinn von Unterhaltung, über gutes und schlechtes Vergnügen, über Gefahren und Chancen oder über Schmutz und Schund im Vergnügen.27 Bürgerliche Sittenwächter, Lehrer, Erzieher, Pfarrer und staatliche Institutionen kämpften für eine Einschränkung oder Reglementierung des Vergnügens, das ihrer Meinung nach eine Gefahr für die unmündigen oder minderjährigen Rezipienten darstellte.28 In eine andere Richtung zielte der Vorwurf von Theodor Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973), populäre Unterhaltung sei nicht nur unpolitisch, sondern konditioniere ihre Konsumenten zu willigen Subjekten des kapitalistischen Systems.29 Die Vertreter der Cultural Studies hingegen betonen, dass auch den Produkten der scheinbar trivialen Unterhaltungskultur ein subversives Potential innewohnen kann und die Rezipienten keinesfalls als willenlose Konsumenten der Angebote der Vergnügungsindustrie angesehen werden sollten.30 Schon in diesen Debatten zeigt sich – siebtens –, dass die Vergnügungskultur durchaus politisch war. Auch vordergründig unpolitische, rein kommerzielle Angebote der Vergnügungskultur integrierten bisweilen politische Elemente, wenn beispielsweise in Vergnügungsparks der Sedantag gefeiert wurde oder wenn im Varieté tagesaktuelle Geschehnisse aufgegriffen und satirisch verarbeitet wurden. Umgekehrt wurde die Vergnügungskultur sowohl durch politische Bewegungen als auch durch staatliche Institutionen für ihre jeweiligen Zwecke vereinnahmt, sei es mit subversiver oder systemstabilisierender Absicht.31 Nicht jedes dieser Charakteristika fand sich in jedem Angebot der Vergnügungskultur wieder. Dennoch zeigen diese sieben Punkte, welche Gemeinsamkei26 | Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 147. 27 | Kaspar Maase: »›Schmutz und Schund‹. Die Auseinandersetzung um die Massenkultur im deutschen Kaiserreich 1871-1918«, in: Humboldt-Spektrum 4 (1997), S. 48-54. 28 | Vgl. den Aufsatz von Angelika Hoelger in diesem Band. 29 | Max Horkheimer/Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1948. 30 | Vgl. etwa: John Fiske: Understanding Popular Culture, London/New York 1989; John Fiske: »Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur«, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen 21999, S. 67-85; Rainer Winter: »Spielräume des Vergnügens und der Interpretation. Cultural Studies und die kritische Analyse des Populären«, in: Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt a.M. 1999, S. 35-48 oder: Christina Lutter/Markus Reisenleiter: Cultural Studies. Eine Einführung (Cultural Studies 0), Wien 2002. 31 | Vgl. den Beitrag von Amália Kerekes und Katalin Teller in diesem Band.

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ten Theater, Varieté, Konzerthalle, Zirkus, Panorama und die vielen anderen Vergnügungsorte miteinander verbanden, die Bennett in die Stadt der tausend Freuden aufzählt. Diese sieben Punkte beschreiben die Vergnügungskultur in den Metropolen und ihre Entstehung vor dem Hintergrund der Herausbildung von Metropolen um 1900. Noch nicht geklärt ist dadurch, wie genau die Wechselwirkungen zwischen Metropole und Vergnügungskultur aussahen. Einige Perspektiven sollen im Folgenden diese Beziehungen veranschaulichen. Die Vergnügungskultur war an der medialen Konstruktion der Metropole beteiligt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Posse Haussegen, oder: Berlin wird Weltstadt!, in der David Kalisch (1822-1872) bereits 1866 Berlin eine Zukunft als Weltstadt prophezeite.32 Diese Formel entwickelte sich schnell zum Selbstläufer. Vor allem nach der Reichsgründung forderten viele Berliner für ihre Stadt, dem ›Nachzügler‹ unter den Metropolen, den Rang einer Weltstadt ein.33 Auch die mit wachsendem Tourismus immer zahlreicher erscheinenden Reiseführer beteiligten sich an der Erzeugung einer metropolitanen Aura.34 Aber nicht nur die mediale Konstruktion einer Metropole kann anhand der Vergnügungskultur verfolgt werden, auch die Verarbeitung metropolitaner Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt erfolgte in der und durch die Vergnügungskultur. Die Stadt diente nicht nur dem von Peter Fritzsche untersuchten boomenden Zeitungsmarkt, sondern allen Formen der Vergnügungskultur als eine unerschöpfliche Quelle von Themen und Charakteren. Das Berliner Metropol-Theater, das bereits in seinem Namen den Weltstadt-Anspruch proklamierte, feierte einen Erfolg nach dem anderen mit Jahresrevuen, die die Berliner Geschehnisse und Moden des vergangenen Jahres satirisch Revue passieren ließen.35 In Kinofilmen wurden die alltäglichen Erfahrungen von Verkehr und Hektik beispielsweise durch besondere Schnitttechniken oder in so genannten ›phantom rides‹ visualisiert.36 Aber auch die Erfahrung des Verlusts von ›Ursprünglichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ wurde in der metropolitanen Vergnügungskultur verarbeitet: Alpenbälle, Volkspossen oder Historienstücke ließen die Großstädter in romanti-

32 | David Kalisch: Haussegen, oder: Berlin wird Weltstadt!, Berlin o.J. [1866]. 33 | Walther Rathenau: »Die schönste Stadt der Welt«, in: ders.: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, Berlin 1928, S. 259-280, 260-262 (zuerst in der Zukunft 7.1.1899). 34 | Vgl. Nicholas T. Parsons: Worth the Detour. A History of the Guidebook, Stroud 2007 und den Beitrag von Tobias Becker in diesem Band, der auf Reiseführer und deren Beteiligung an der medialen Konstruktion der Städte eingeht. 35 | Jelavich: Berlin Cabaret, S. 104-117; Marline Otte: Jewish identities in German popular entertainment, 1890-1933, Cambridge 2006, S. 205-213; Tobias Becker: »Feste des Konsums? Unterhaltungstheater und Warenhäuser in Berlin und London um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hg.): Staging Festivity: Theater und Fest in Europa, Tübingen/Basel 2009, S. 216-237. 36 | Siehe hierzu den Aufsatz von Andrea Haller im vorliegenden Band.

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schen oder historisierenden Kulissen schwelgen und gleichzeitig durch den Kontrast die moderne großstädtische Realität umso deutlicher hervortreten.37 Die Vergnügungskultur griff Erfahrungen, Themen und Ereignisse aus dem Leben der Großstadtbewohner auf und thematisierte sie in Theaterstücken, Kinofilmen, Panoramen oder Zirkusvorstellungen. Sie ermöglichte den Zuschauern und Besuchern auf unterhaltende Weise eine emotionale oder intellektuelle Auseinandersetzung mit ihren Großstadterfahrungen – ohne dabei, im Gegensatz zur etablierten Hochkultur, ein spezielles Wissen vorauszusetzen. Auf diese Weise trug sie zur ›inneren Urbanisierung‹ bei. In der Tat unterschied sich das Leben in rasant wachsenden Städten wie Berlin damals noch sehr viel fundamentaler von demjenigen in den Dörfern und ländlichen Gemeinschaften, aus denen ein großer Teil der neuen Großstadtmenschen kam. Die Expansion und Beschleunigung des Verkehrs, die Zeitrhythmen der Fabrikarbeit, die Verdichtung der gebauten Umwelt, die Enge der Wohnverhältnisse, die Kommerzialisierung von Versorgung und Dienstleistungen, die Anonymität des Lebens stellten die Neuankömmlinge vor eine Fülle von Herausforderungen, die diese kreativ bewältigen mussten. Vergnügungsorte mit einem Massenpublikum stellten darüber hinaus Räume dar, in denen das Zusammenleben einer großen Anzahl unterschiedlicher Menschen ganz praktisch eingeübt werden konnte. Hierfür, so argumentiert der vorliegende Band in Adaptation des Konzepts von Korff, leistete die Vergnügungskultur einen entscheidenden Beitrag. Der Soziologe Georg Simmel (1858-1918) kann als Urvater des Konzepts der ›inneren Urbanisierung‹ angesehen werden, da er in seinem Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« bereits als Zeitgenosse die Auswirkungen des Großstadtlebens auf die Mentalität der Menschen analysierte.38 Die Dichte, die durch die Nähe zahlreicher Menschen entstand und die damit verbundene Fülle von Eindrücken, die die Großstadtbewohner verarbeiten mussten, bestimmten jenen Wahrnehmungsmodus der Großstadtmenschen, den Simmel als eine »Steigerung des Nervenlebens« beschrieb. Um unter diesen Bedingungen leben zu können, umgab sich der Städter Simmel zufolge mit einer reservierten Intellektualität, mit 37 | Siehe hierzu die Beiträge von Franka Schneider und Karl Borromäus Murr in diesem Band. Siehe auch Katja Zelljadt: »Presenting and Consuming the Past. Old Berlin and the Industrial Exhibition of 1896«, in: Journal of Urban History 3 (2005), S. 306-333. 38 | Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1995, S. 116-131; siehe dazu auch Lothar Müller: »Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel«, in: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 14-33; Paul Nolte: »Georg Simmels Historische Anthropologie der Moderne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms«, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 225-247; Rolf Lindner: »›Die Großstädte und das Geistesleben‹. Hundert Jahre danach«, in: Walter Siebel (Hg.): Die europäische Stadt, Frankfurt a.M. 2004, S. 169-178.

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einer Blasiertheit und Distanziertheit, die einerseits Selbstschutz war, andererseits auch Möglichkeiten zur persönlichen Freiheit und Individualität bot. Die Vergnügungskultur half bei der Anpassung an diesen Zustand, indem sie das Leben in der Stadt zum Thema machte, trug aber selbst wiederum zu dem Eindruck von Dichte und Fülle und damit zur »Steigerung des Nervenlebens« bei. Sie kann daher als Katalysator all jener Reaktionen angesehen werden, die Simmel beschrieb. Während die Metropole der Vergnügungskultur als Nährboden diente, war die Vergnügungskultur der Katalysator der ›inneren Urbanisierung‹. * * * Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Vergnügungskultur in Metropolen während der ›langen Jahrhundertwende‹ beschäftigen. Die Konzentration auf Berlin reflektiert einen allgemeinen Trend in der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung zur Vergnügungskultur. Berlin galt um 1900 als die am schnellsten wachsende Stadt der Welt, als ›Chicago Europas‹, als Sinnbild für Fortschritt, Schnelligkeit, Modernität, aber auch für Laster und Sittenlosigkeit. Berlin war Verkehrsknotenpunkt, Dienstleistungs- und Handelszentrum, Regierungssitz und Zentrum der Hochkultur. Kurz: Berlin verkörperte all das, was in den Augen der Zeitgenossen eine Metropole ausmachte. Die Besonderheit Berlins bestand aber im Gegensatz etwa zu Paris oder London darin, dass seine Entwicklung zur Metropole erst im späten 19. Jahrhundert eingesetzt hatte und dann in extrem beschleunigter Form vonstattenging. Hier können die Prozesse der Verstädterung und Urbanisierung in »Überschärfe« und »Übergröße«39 betrachtet werden, sie bündeln sich quasi wie in einem Brennglas.40 Auch konnten, abgesehen von Wien, kaum andere deutschsprachige Städte um 1900 um den Rang der Metropole konkurrieren. Dennoch richten die Beiträge immer wieder Blicke über Berlin hinaus, wenn sie Transferoder Austauschprozesse zwischen einzelnen Metropolen oder zwischen Metropole

39 | Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt«, S. 344. 40 | Zur Geschichte Berlins vgl. etwa: Detlef Briesen: »Berlin – Die überschätzte Metropole. Über das System deutscher Hauptstädte zwischen 1850 und 1940«, in: Gerhard Brunn/ Jürgen Reulecke: Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871-1939, Bonn/Berlin 1991, S. 39-78; Michael Erbe: »Aufstieg zur Weltstadt«, in: Werner Süß/Ralf Rytlewski (Hg.): Berlin. Die Hauptstadt. Vergangenheit und Zukunft einer europäischen Metropole, Berlin 1999, S. 52-99; Horst Matzerath: »Berlin, 1890-1940«, in: Anthony Sutcliffe (Hg.): Metropolis 1890-1940, London 1984, S. 289318. Zum Vergleich Berlins mit Chicago: Ralf Thies/Dietmar Jazbinsek: »Embleme der Moderne. Berlin und Chicago in Stadttexten der Jahrhundertwende«, Discussion Paper FS-II 99-501, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin 1999.

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und Provinz untersuchen.41 Denn Metropolen lassen sich nur relational, in Abgrenzung zu anderen ländlichen oder urbanen Räumen definieren. Aber auch in ganz praktischer Hinsicht sind Metropolen von der Provinz abhängig: sei es hinsichtlich der Versorgung der Bewohner mit Nahrungsmitteln, der Entsorgung von Abfall und Abwasser oder der Verkehrsanbindungen. Ein besonderer Schwerpunkt des Bandes liegt auf den Austauschprozessen mit der tatsächlichen oder auch nur imaginierten Provinz. Dabei fungierte ›das Provinzielle‹ häufig als vermeintlich authentischer Sehnsuchtsort und damit auch als Gegenort zur Metropole, der in der Vergnügungskultur verklärt und überhöht wurde. Es zeigt sich aber auch, wie sehr dieses Bild der Provinz von städtischen Illusionen geprägt war und dass auch die Provinz um 1900 bereits an der Vergnügungskultur partizipierte.42 Die Vergnügungskultur zeichnete sich durch eine große Innovationskraft aus, mit der stets andere Akteure mit immer neuen Ideen versuchten, das Publikum für Unterhaltungs- und Vergnügungsangebote zu gewinnen. Vor allem technische Neuerungen wurden genutzt, um sie in Vergnügungsangebote umzuwandeln oder ›sensationelle‹ und attraktive neue Angebote zu erfinden. Mischformen und Verflechtungen zwischen den einzelnen Medien und Gattungen der Vergnügungskultur entstanden. Nicht alle waren erfolgreich, manche Mischformen hatten nur eine kurze Überlebensdauer oder wurden durch technisch überzeugendere Innovationen abgelöst. Andere hingegen blieben über Jahrzehnte hinweg erfolgreich; so unterhielten etwa Musikautomaten bis in die 1970er Jahre hinein ihr Publikum, wenn auch mit anderer Technik als um 1900.43 In verschiedenen politischen Systemen wurde mit unterschiedlichem Ziel und unterschiedlichem Erfolg versucht, Unterhaltung und Politik miteinander zu verbinden beziehungsweise im Gegenteil strikt auseinanderzuhalten. So konnte einerseits politische Repräsentation in der städtischen Öffentlichkeit mit populärem Vergnügen eine enge Allianz eingehen. Andererseits ist die Geschichte der Vergnügungskultur auch immer die Geschichte ihrer Einschränkung und Reglementierung.44 Diese disparaten Reaktionen seitens der kommunalen oder staatli41 | Amália Kerekes und Katalin Teller vergleichen zwei Vergnügungsparks in Wien und Budapest, Tobias Becker die Vergnügungsviertel von sechs verschiedenen Metropolen. Stefanie Watzka untersucht die Transferprozesse von Mode zwischen Pariser und Berliner Theaterbühnen und Tim Opitz die globalen Vernetzungen eines Nationaldenkmals. Kristin Becker untersucht den Transfer eines populären Theaterspektakels der Berliner Urania nach New York und Rebecca Wolf die Vorführung von Musikautomaten auf diversen Reisen quer durch Europa. 42 | Vgl. die Beiträge im Kapitel »Ungleichzeitigkeiten – Jenseits der Metropole« von Karl Borromäus Murr, Franka Schneider und Andrea Haller. 43 | Vgl. die Beiträge im Kapitel »Verflechtungen – Intermedialisierung des Vergnügens« von Stefanie Watzka, Kristin Becker und Rebecca Wolf. 44 | Vgl. die Beiträge von Amália Kerekes und Katalin Teller, von Tim Opitz und Angelika Hoelger im Kapitel »Repräsentationen – Politik und Vergnügen in der Metropole«.

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chen Akteure waren in hohem Maße von den sozialen und politischen Konstellationen und den jeweiligen Schauplätzen abhängig. So wurde oben zwar konstatiert, dass in der Vergnügungskultur gesellschaftliche Schranken tendenziell aufgeweicht wurden. Allerdings entstand auch in der Vergnügungskultur keine egalitäre Gesellschaft. Antisemitismus, Geschlechtertrennung und soziale Segregation ließen sich nicht durch die potentielle Möglichkeit eines gemeinsamen Kino- oder Theaterbesuchs aufheben. Jedoch wurden in der Vergnügungskultur Räume geschaffen, die eine egalitäre Begegnung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Klassen oder Geschlechter immerhin ermöglichten. In diesen Begegnungsräumen konnten sich Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme und Kommunikation ergeben – beides ohne Zweifel Voraussetzungen für einen egalitären Umgang verschiedener Bevölkerungsgruppen.45 Die Beiträge des vorliegenden Bandes knüpfen an frühere Studien zur urbanen Vergnügungskultur und die darin formulierten Thesen und Fragestellungen an und entwickeln das Konzept der ›inneren Urbanisierung‹ weiter.46 Sie untersuchen am Beispiel der Vergnügungskultur die Ausbildung urbaner Lebensstile, Mentalitäten und Identitäten. Ausgangspunkt bildet durchweg die Empirie: Untersucht werden entweder konkrete urbane Räume wie der Königsplatz oder die Fruchtstraße in Berlin oder konkrete Vergnügungsangebote wie die Berliner Urania oder der Alpenball. Ausgehend von diesen Beispielen beleuchten alle Beiträge, inwiefern die Stadt die Vergnügungskultur formte und wie umgekehrt die Vergnügungskultur zum Anpassungsprozess an das Leben in der Stadt beitrug. Dadurch will der Band den Blick schärfen für die räumliche Dimension des Vergnügens. Gleichzeitig werden die einzelnen Vergnügungsangebote als integraler Bestandteil des urbanen Lebens ernst genommen und ihre Funktionen im sozialen Gefüge der Stadt analysiert.

45 | Vgl. die Beiträge im Kapitel »Ungleichheiten – Gesellschaft und Vergnügen in der Metropole« von Peter Jelavich, Hanno Hochmuth und Johanna Niedbalski sowie von Tobias Becker. 46 | Gemeint sind die bereits zitierten Studien von Peter Bailey, Peter Jelavich oder Martin Baumeister.

Repräsentationen — Politik und Vergnügen in der Metropole

Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900 Angelika Hoelger

Vergnügen in Berlin war um 1900 eine ernste Angelegenheit. Ganz gleich, ob es sich um einen öffentlichen Tanzabend, eine Theatervorstellung oder einen einfachen Kneipenbesuch handelte – wer solcherlei kommerzielle Unterhaltung anbieten wollte, musste hierfür zunächst eine Konzession beim Königlichen PolizeiPräsidium beziehungsweise beim Stadt-Ausschuss einholen und gegebenenfalls dem Zensor, dem Sittenbeamten oder dem Bauinspekteur Rede und Antwort stehen.1 Die zu erfüllenden Kriterien für die Erteilung einer Schanklizenz beziehungsweise die Erlaubnis, Singspiele oder theatralische Vorstellungen aufzuführen, betrafen die Person des Antragstellers selbst, den Inhalt der Darbietungen, den baulichen Zustand des Veranstaltungslokals sowie dessen Standort innerhalb Berlins. Erstmals ausführlich und umfassend geregelt wurde die Kontrolle der öffentlichen Unterhaltung Berlins im Juli 1851. Unter dem Polizeipräsidenten Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey (1805-1856) ergingen seinerzeit die Polizeiliche Verordnung über öffentliche Theater und ähnliche Vorstellungen sowie die Polizeiverordnung über öffentliche Lustbarkeiten, die zwar durch nachfolgende Regelungen ergänzt und teilweise entscheidend verändert wurden, jedoch bis Juli 1908 beziehungsweise 1919 in Kraft blieben.2 Die Langlebigkeit dieser und anderer Verordnungen ist umso erstaunlicher als Berlin 1871 nicht nur Reichshauptstadt 1 | Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den engeren und weiteren Polizeibezirk Berlins in den Stadtgrenzen vor 1920 (Groß-Berlin-Gesetz). 2 | Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Stück 29, 18.7.1851. Verordnungen und Bekanntmachungen der Behörde der Stadt Berlin. Polizeiliche Verordnung über öffentliche Theater- und ähnliche Vorstellungen in Berlin. Diese Verordnung wurde durch die »Polizeiverordnung betreffend Tanzlustbarkeiten, Basare, Ausstellungen, musikalische oder deklamatorische Aufführungen, Kostümfeste, Schaustellungen, theatralische Vorführungen und ähnliche Veranstaltungen im Landespolizeibezirk Berlin« vom 2.6.1908 bzw. die »Polizeiverordnung vom 27.6.1919« außer Kraft gesetzt.

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wurde, sondern um die vorletzte Jahrhundertwende auch in einem rapiden Tempo zu einer der bevölkerungsreichsten Städte Europas und dem größten Industriestandort des Kontinents herangewachsen war. Infolge der Gewerbefreiheit 1869, die bis dahin geltende Restriktionen vor allem für Theaterunternehmer aufhob und somit zahlreiche Neugründungen ermöglichte, erlebte Berlin einen wahren Boom an Privattheatern und Amüsierbetrieben.3 Nichtsdestotrotz korrespondierte diese Entwicklung nicht unbedingt mit der Reaktionsfähigkeit beziehungsweise Zugeständnisbereitschaft der städtischen Polizeibehörden. Vielmehr zeigte sich, dass die zuständigen Abteilungen des Königlichen Polizei-Präsidiums (vornehmlich die Gewerbe-, Theater-, Sitten- und Politische Polizei) noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestrebt waren, die Zunahme von Unterhaltungseinrichtungen sowie die dort stattfindenden Veranstaltungen nicht nur zu kontrollieren, sondern vielmehr diese einzuschränken, wenn nicht sogar ganz zu unterbinden. Die hierbei zugrunde gelegten Entscheidungskriterien für die tägliche Polizeipraxis wurden indes nur langsam an die Realitäten einer Metropole angepasst, so dass es immer wieder zu Konflikten zwischen Polizei und Unterhaltungsanbietern kam. Die Berliner Populärkultur war seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts maßgeblich durch eben dieses Zusammenspiel von politisch restriktiven und kulturell sowie wirtschaftlich die Stadtentwicklung beschleunigenden Faktoren gekennzeichnet. Sie liefert somit eine faszinierende Fallstudie für die Kontinuität preußischer Sitten- und Sozialpolitik, die ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis zwischen traditionellen Moralvorstellungen und modernen Stadtbedingungen hervorgerufen hat. Diese Auseinandersetzungen erfuhren ferner eine besondere Dynamik, da eine immer stärker werdende Sittlichkeitsbewegung, vor allem getragen durch die Evangelische Kirche, sowie seit den 1880er Jahren zunehmend einflussreichere Berufsverbände (insbesondere die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und seit 1901 die Internationale Artisten-Loge), vermehrt auf die Entscheidungen der Berliner Polizei wirkten oder aber dies zumindest versuchten.4 Weder die Polizei noch die Berufsverbände oder die Synoden konnten die Entfaltung einer bunten und vielfältigen Unterhaltungsszene in Berlin um 1900 aufhalten. Zum einen hatten die zuständigen Behörden nicht ausreichend Beamte zur Verfügung, um sämtliche Lokale kontrollieren und gegebenenfalls sanktionieren 3 | Vgl. hierzu Ruth Freydank (Hg.): Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin 1995; Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899), Bielefeld 2007. 4 | Vgl. Isabell Lisberg-Haag: ›Die Unzucht – das Grab der Völker‹. Die evangelische Sittlichkeitsbewegung und die ›sexuelle Moderne‹ 1870-1918, Münster 2002, S. 9-47; Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914), Köln 2006, S. 1-30; Andrew Lees: Cities, Sin, and Social Reform in Imperial Germany, Ann Arbor 2002, S. 75-131.

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zu können. Zum anderen wurde nicht selten anderen stadt- und sozialpolitischen Maßnahmen der Vorrang vor der Überwachung und Ahndung von Amüsierbetrieben eingeräumt. Hinzu kommt, dass es den städtischen Autoritäten nicht um eine Einschränkung beziehungsweise Vermeidung von öffentlichen Vergnügen per se ging, sondern vielmehr um ein In-Schach-Halten von bestimmten sozialen Gruppen und Amüsements. Nichtsdestotrotz lohnt ein Blick auf die zahlreichen Anstrengungen, die seitens der Behörden unternommen wurden, um einer allgemeinen ›Entsittlichung‹ entgegenzuwirken. Die »ernste Bekämpfung entarteter Volksbelustigungen«, die im Jahre 1909 vom Königlichen Konsistorium der Provinz Brandenburg angemahnt wurde, richtete sich seinerzeit vornehmlich gegen den »Tingel-Tangel, schlechte Varietes und Kabarets«, doch galten auch Gastwirtschaften, Tanzlustbarkeiten und Rummel als potentielle Orte und Gelegenheiten für »Excesse«.5 Zweifellos waren auch andere Unterhaltungseinrichtungen sowie zeitweise das bürgerliche Theater polizeilicher Reglementierung und kirchlicher Kritik unterworfen, jedoch waren es in erster Linie die Vergnügungsetablissements der so genannten ›niederen Stände‹, die besonders von der bereits angesprochenen Kontinuität preußischer Sitten- und Sozialpolitik betroffen waren. Weder die Rhetorik noch die Gesetze waren indes ein Ergebnis des Zeitalters der Metropolen oder eine Erfindung des 20. Jahrhunderts: Vielmehr wurden die im 19. Jahrhundert angelegten Denkbilder eines sozialen ›Krebsschadens‹ und moralischen Verfalls sowie die im selben Zeitraum verabschiedeten rechtlichen Bestimmungen in die Großstadt hinübergerettet und adaptiert. Bestimmend für die zeitgenössischen Wertevorstellungen und somit auch für die Motive der wichtigsten Regulierungsmaßnahmen waren vor allen Dingen Auffassungen über den vermeintlichen Lebenswandel der städtischen Unterschichten, denen ein Hang zu Gewalt, sexuellen Ausschweifungen, Arbeitsunlust und Trunksucht nachgesagt wurde. Die hier kurz skizzierten Reibungspunkte sollen im Folgenden am Beispiel von drei wesentlichen Merkmalen Berliner Polizeipraxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert näher erläutert werden. Eine Darstellung der so genannten Bedürfnisfrage, der Polizeistunde (auch als Sperr- oder Schließstunde bekannt) und der Lizenzvergabe erscheinen hier besonders aufschlussreich, da sich diese Regelungen teilweise bis in das späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und dadurch ein wesentliches Moment der bereits angesprochenen Kontinuität aufweisen. Während die Bedürfnisfrage und Aspekte der Konzessionierung sowohl für Gaststätten als auch für Theater und theaterähnliche Einrichtungen wichtig waren, so spielte die Polizeistunde vor allem für die Regulierung von Gastwirtschaften, Cafés und Tanzlokalen eine Rolle. Mit der Verhängung der Schließstunde sollten hauptsächlich zwei mögliche Folgen verhindert werden: Zum einen sollte garantiert wer5 | Schreiben des Königlichen Konsistoriums der Provinz Brandenburg vom 25.2.1909 an Evangelischen Ober-Kirchenrat betreffend Maßnahmen zur Bekämpfung der Unsittlichkeit. Evangelisches Zentralarchiv (im Folgenden EZA), Bestand 7, Nr. 3805, April 1906 – December 1911, f. 106.

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den, dass die Besucher rechtzeitig die Kneipe verließen, um am nächsten Morgen nüchtern zur Arbeit erscheinen zu können – die Sicherstellung der Arbeitskraft in einer stetig wachsenden Industrie im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts darf hier nicht unterschätzt werden. Zum anderen sollte die nächtliche Ruhe gesichert werden. Beschwerden von Privatleuten beziehungsweise Berichte von Nachtwächtern und Polizeibeamten über Schlägereien, lautes Singen, Randalieren und andere ›Auswüchse‹ infolge starken Alkoholkonsums waren für die zuständigen Behörden immer wieder Anlass, auf die Einhaltung der Sperrstunde zu bestehen. Als allgemeines Charakteristikum der preußischen Polizei im 19. und frühen 20. Jahrhundert kann die Verknüpfung von wohlfahrts- und sicherheitspolizeilichen Aufgaben zum Schutze einer scheinbar unauflöslichen Trias von Ruhe, Sicherheit und Ordnung angesehen werden, und diese war selbstredend auch in Berlin maßgeblich.6 Hinsichtlich der Regulierung und Behandlung von öffentlichen Vergnügungsstätten speisten sich die Motive jedoch ferner aus einer gezielten Überwachung und Disziplinierung der Berliner Unterschichten, der Bekämpfung von Prostitution und Alkoholkonsum (vor allem Branntwein) sowie der Zensur von als unsittlich und obszön erachteten Darstellungen und Vorträgen. Eine Ausnahme bildeten die Jahre zwischen 1878 bis 1890, als auf Grund des Sozialistengesetzes der Schwerpunkt von Kontrollen und Überwachungen auf vermuteten oder tatsächlichen Zusammenkünften und Versammlungsorten von Arbeitern und Sozialdemokraten lag. Die rechtlichen Grundlagen für das Vorgehen der Polizei basierten im hier behandelten Zeitraum auf Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794), der Gewerbeordnung von 1845 und 1869 sowie den erfolgten Änderungen der Reichsgewerbeordnung (RGO, vor allem 1876, 1880 und 1883) und einer Reihe von Polizei-Verordnungen, die im Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin veröffentlicht wurden. Bedeutsam waren allerdings auch Anweisungen des Monarchen und interne, vom jeweiligen Polizeipräsidenten erlassene Memos und Instruktionen, die wesentlich von ordnungs- und sicherheitspolizeilichen Interessen bestimmt waren. So ordnete bei6 | Vgl. hierzu die Bände von Alf Lüdtke: ›Gemeinwohl, Polizei und Festungspraxis‹. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen, 1815-1850, Göttingen 1982; Wolfram Siemann: ›Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung‹. Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866, Tübingen 1985; Alf Lüdtke (Hg.): ›Sicherheit‹ und ›Wohlfahrt‹. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992; Elaine Glovka Spencer: Police and the Social Order in German Cities. The Düsseldorf District, 1848-1914, DeKalb 1992; Herbert Reinke (Hg.): ›… nur für die Sicherheit da …‹? Zur Geschichte der Polizei im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1993; Frank J. Thomason: The Berlin Police in the 19th Century. Origin and Establishment of the Royal Constabulary, 1848-1871, Twin Falls 1998; Stephan M. Eibich: Polizei, ›Gemeinwohl‹ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident von 1848 bis 1856, Berlin 2004.

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spielsweise 1843 der damalige Polizeipräsident Eugen von Puttkamer (1800-1874) an, dass öffentliche Tanzabende in der Residenz einzuschränken seien, da sie häufig zu unsittlichen Handlungen zwischen den Geschlechtern führten. Zudem sei »dem übermäßigen Hange der untern Volksklassen, welcher leicht einen für ihre Ordnungsliebe und Thätigkeit schädlichen Einfluß gewinnt«, entgegenzutreten.7 Das Gebot zur Mäßigung war auch entscheidend für die Anwendung der Bedürfnisfrage, die zwischen 1830 und 1900 als ein wesentliches Kriterium über das Für und Wider der Konzessionierung eines Gewerbes fungierte.

D IE B EDÜRFNISFR AGE Einer der ältesten Hinweise auf die Bedürfnisfrage findet sich in einem Amtsblatt von 1834. Im November jenes Jahres wurde das »gewerbetreibende Publikum« Berlins daran erinnert, dass für die Erlangung der polizeilichen Erlaubnis zur »Errichtung eines Verkehrs« nicht nur die »persönliche Rechtlichkeit und sonstige Qualifikation des Unternehmers in Betracht komme«, sondern auch »die örtlichen Umstände und sonstigen allgemeinen polizeilichen Rücksichten bei Beurtheilung der Zulässigkeit solcher Anlagen« erwogen werden müssten.8 Vereinfacht ausgedrückt bedeutete dies, dass die zuständigen Behörden prüften, ob in der Gegend, in der ein Antragsteller beispielsweise eine Kneipe betreiben wollte, überhaupt ein Bedürfnis für eine solche Einrichtung vorhanden ist. Grundlage der Bemessung war die Anzahl bereits existierender Etablissements im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte der Umgebung. Diese Regelung war zunächst insbesondere für die Eröffnung und Fortführung von Schank- und Gastwirtschaften relevant, wurde jedoch im Laufe der 1840er Jahre zunehmend auch angewandt, um über Anträge auf Zulassung von Privattheatern, Theatervereinen, Tanzveranstaltungen und ähnlichen Zusammenkünften zu entscheiden.9 Der Bedürfnisfrage lag die Annahme zugrunde, dass es umso seltener zu Ausschweifungen kommen würde, 7 | Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden GStAPK), I HA Rep. 77, Tit. 318 a, Nr. 50, Bd. 2, Acta betr. die wegen der Tabagien und Tanzboden-Wirthschaften ergangenen Vorschriften (18.3.1839–11.2.1846). 8 | Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Stück 46, 14.11.1834, Nr. 55. 9 | Soichiro Itoda ist einer der wenigen Autoren, der die Relevanz der Bedürfnisfrage für die Berliner Theater ausführlich behandelt hat. Siehe Soichiro Itoda: Berlin & Tokyo – Theater und Hauptstadt, München 2008, S. 51-63. § 32 der Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund vom 1.6.1869 legte fest, dass »eine Prüfung des Bedürfnisses fernerhin nicht mehr zulässig« sei. Diese Bestimmung bezog sich allerdings nur auf Theater und galt nicht für Kneipen, Varieté- und Tingeltangelbühnen usw. Siehe auch Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Stück 38, 17.9.1869. Siehe auch Elisabeth Kosok: »Die Reglementierung des Vergnügens. Konzessionspraxis und Tanzbeschränkungen

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je weniger Einrichtungen existierten und Gelegenheiten geboten würden.10 Das Hauptaugenmerk dieser Kontrollpolitik lag eindeutig auf der Disziplinierung der städtischen Unterschichten, die noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 80 Prozent der Berliner Bevölkerung ausmachten.11 Die bewusste Einschränkung der Anzahl von Gaststätten, aber auch das häufige Untersagen von Tanzlustbarkeiten sollten ›Excessen‹ Einhalt gebieten. Die im zeitgenössischen Sprachgebrauch als ›Excesse‹ bezeichneten Ausschweifungen bezeichneten in der Regel starken Alkoholkonsum, Prostitution, Völlerei, sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit und nächtliche Ruhestörung. Ein Blick auf die Anzahl der in den Gewerbetabellen angegebenen Gastwirtschaften, Weinstuben und Destillationen sowie auf die tatsächlich existierenden Theater macht indes deutlich, dass Berlin im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl zumindest bis zur Jahrhundertwende alles andere als ein gesättigter Markt gewesen ist. So nimmt es nicht wunder, dass sich 1862 ein Autor namens Eugen Richter in seiner Schrift Die Freiheit des Schankgewerbes über die standardisiert anmutenden Antworten der verantwortlichen Stellen folgendermaßen mokierte: Liest man die von Behörden auf Konzessionsgesuche ertheilten abschlägigen Bescheide, so wird man unter zwanzig Fällen neunzehnmal die Konzession aus dem Grund verweigert finden, weil in der unmittelbaren Nähe des vom Gesuchsteller zur Schankwirthschaft auserlesen Locals sich bereits so und so viele Gastwirthschaften befänden.12

Es sollte bis 1873 dauern, bis zum ersten Mal von offizieller Seite Zweifel über die Angemessenheit der Bedürfnisfrage laut wurden. In einem Schreiben an den Berliner Polizeipräsidenten Guido von Madai (1810-1892) gab Innenminister Friedrich zu Eulenburg (1815-1881) zu bedenken: Sodann erscheint in einer Stadt wie Berlin eine rein objektive Prüfung, ob in dem einzelnen Falle das Bedürfnis der Anlage [von Schankstellen, A.H.] zu bejahen oder zu verneinen sei, kaum möglich, da die zeitweise größere oder geringere Zunahme der Bevölkerung, im Ruhrgebiet«, in: Dagmar Kift (Hg.): Kirmes – Kneipe – Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1914), Paderborn 1992, S. 60-82. 10 | Maßgeblich war hier eine Anordnung Friedrich Wilhelms IV. an Staatsminister von Rochow, 17.12.1840. »Die Vermehrung der Schankstätten dient in den meisten Fällen zur Beförderung der Immoralität und es ist die Beschränkung derselben daher ein wichtiger Gegenstand der polizeilichen Verwaltung.« GStAPK, I HA Rep. 77, Tit. 318 a, Nr. 1, Bd. 8/9, Acta betr. Anlegung und Fortführung von Krug-, Schank- und Gastwirthschaften, 31.8.1848–22.10.1849, f. 19, Beilage III. 11 | Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 73-75. 12 | Eugen Richter: Die Freiheit des Schankgewerbes. Ein Beitrag zur Reform der preußischen Gewerbe-Polizei, insbesondere des Conzessionswesens, Düsseldorf 1862, S. 12.

D IE R EGLEMENTIERUNG ÖFFENTLICHER L USTBARKEITEN des Fremdenverkehrs, die periodisch langsamere oder schnellere Entwickelung des Orts, des bestehendes Stadttheils, der Einfluß der Persönlichkeit des Wirths, sowie die ganze Einrichtung des Lokals, welche oft aus entfernteren Stadtgegenden Besuch heranzieht, die Beurtheilung mehr oder minder unsicher erscheinen lassen oder gar unmöglich machen. Aus diesen Gründen wird nach der Absicht des Gesetzes der Bedürfniserörterung in Städten wie Berlin nicht diejenige Bedeutung beigelegt werden können, welche dieselbe in kleineren Städten und auf dem platten Lande für die volkswirtschaftlichen und sittlichen Zustände hat.13

Berlin war zu diesem Zeitpunkt zu einer Stadt von circa 850.000 Einwohnern herangewachsen. Jedoch stellte nach Ansicht von Madai »die Erörterung der Bedürfnisfrage ein geeignetes Auskunftsmittel« dar und »wird dieselbe auch für die Zukunft beizubehalten sein.« So versagte noch im Mai 1875 die zuständige Behörde dem Gastwirt Ernst Schober in der Skalitzerstraße 141 die Errichtung eines Branntweinschanks, da »in dortiger Gegend hauptsächlich ein Publikum der geringeren Stände verkehrt und für dessen Bedarf eine völlig ausreichende Anzahl von Schankwirthschaften vorhanden ist.« Ferner legte das Polizei-Präsidium im Juni 1875 fest, […] sich eine selbständige Prüfung der Bedürfnisfrage in denjenigen Fällen vorbehalten zu müssen, in denen es sich um die Concessionierung von Schankanlagen außerhalb der früheren Stadtmauer und in der Nähe der Bahnhöfe, soweit diese Schankwirthschaften ihrer ganzen Einrichtung nach für den Verkehr des geringeren Publikums bestimmt sind, handelt.14

Eine neue Entwicklung trat im Juli 1876 ein, als aufgrund einer Änderung von § 128 des Zuständigkeits-Gesetzes die bisherige Konzessionserteilung für Gastwirtschaften nicht mehr beim Polizei-Präsidium lag, sondern nunmehr dem Stadt-Ausschuss übertragen wurde, »vor welchem das Polizei-Präsidium seinen etwaigen Widerspruch gegen dergleichen Anträge geltend zu machen hat.«15 Eine Änderung von § 33, Absatz 3 der Gewerbeordnung vom 23. Juli 1879 legte jedoch fest, dass »die Erlaubnis zum Betriebe einer Gastwirthschaft […] von dem Nachweis eines vorhandenen Bedürfnisses abhängig sein solle, und daß vor Ertheilung der Erlaubniß die Ortspolizei und die Gemeindebehörde gutachterlich darüber zu hören sei.« Zwar räumte nun auch das Polizei-Präsidium ein, dass es »gerade in einer 13 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318 a, Nr. 50, Bd. 3, Acta betr. die wegen Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, Schankwirthschaften und Tanzböden in der Stadt Berlin getroffenen polizeilichen Anordnungen, 11.3.1871–15.3.1875. 14 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 4, Acta betr. die Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, 10.5.1875–30.10.1880. 15 | Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums von Berlin für die Jahre 18711880, Berlin 1882, S. 51.

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Großstadt wie Berlin […] schwer zu beantworten« sei, ob »ein Bedürfnis zur Anlage einer Schankstätte vorhanden ist oder nicht«, doch insistierte es, bestärkt durch die Gesetzesänderung von 1879, im selben Atemzug auf seiner (gutachterlichen) Autorität. Zur Entscheidung über ein »Zuwenig oder Zuviel der Schanklocale« sei »weniger der Richter, als der praktische, täglich mit diesen Fragen beschäftigte Polizeibeamte befähigt.«16 Der polizeiliche Verwaltungsbericht gibt an, dass sich infolge der veränderten Zuständigkeiten die Anzahl der Konzessionsgesuche bedeutend mehrten, […] weil ein großer Theil der Nachsuchenden im Stillen die Hoffnung hegte, daß der vom Magistrat zum Theil aus der Mitte der Bürgerschaft gewählte Stadtausschuß ihr Anliegen milder beurtheilen und willfähriger sein könnte. Gerade dieser Ansturm nöthigte das Polizei-Präsidium, eine strengere Prüfung bei der Beurtheilung der Gesuche eintreten zu lassen, da es in der schnellen und übermäßigen Vermehrung der Schankstätten eine erhebliche Gefahr für das Gesammtwohl erblicken musste. Es glaubte deshalb das Bedürfnis zur Anlage neuer Verkaufsstellen von Spirituosen gerade in Berlin besonders streng und eingehend prüfen zu müssen, hier, wo an sich schon eine übermäßig große Anzahl von Schanklocalen bestand und die Folgen der Entsittlichung schwerer in das Gewicht fallen.17

Die Anzahl der Schankstätten hatte sich in der Tat deutlich vermehrt: Waren im Jahre 1860 in Berlin 3637 Lokale vorhanden, so stieg die Zahl von 5395 im Jahre 1875 auf 11.169 im Jahre 1880.18 Allerdings war sowohl das Stadtgebiet als auch die Bevölkerung Berlins signifikant gewachsen: Lebten 1860 ca. 547.000 Menschen in Berlin, waren es 1880 bereits 1.123.749. Das Polizei-Präsidium machte jedoch ausgiebig von seinem Recht Gebrauch, bei den einzelnen Berliner Bezirks-Verwaltungsgerichten die Entziehung von bereits durch den Stadt-Ausschuss erteilten Konzessionen zu beantragen. Im Jahre 1880 tat es dies in insgesamt 89 Fällen, wobei es hiervon nur in 78 Fällen zu einer Entscheidung kam: 38 blieben erfolglos; 40 der Anträge führten zu einer nachträglichen Entziehung der Konzession. »In den meisten Fällen ist die Concession zurückgezogen worden wegen im Locale vorgekommener Unsittlichkeiten.«19 Zehn Jahre später sahen die Zahlen allerdings schon anders aus. An der gesetzlichen Regelung hatte sich seit 1876 nichts geändert, doch hatte sich das Vorgehen des Königlichen Polizei-Präsidiums erheblich intensiviert. 1889 legte das Polizei-Präsidium in insgesamt 1239 Fällen ein Veto gegen die Errichtung einer neuen Schankstätte (Gast- und Schankwirtschaften sowie Kleinhandlungen für Branntwein) ein, wobei es seinen Einspruch in 1015 Fäl16 | Verwaltungsbericht, Berlin 1882, S. 418-419. 17 | Ebd., S. 417. 18 | Dies umfasst Gastwirtschaften, Konditoreien, Wein- und Branntweinschänken sowie Ausschänke für Bier, Selterwasser, Kaffee etc. Siehe: Zweiter Verwaltungs-Bericht des Königlichen Polizei-Präsidiums von Berlin für die Jahre 1881-1890, Berlin 1892, S. 268. 19 | Verwaltungsbericht, Berlin 1882, S. 422-423.

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len mit »mangelndem Bedürfnis« begründete.20 Daraufhin wurden in insgesamt 930 Fällen die Konzession versagt. Im Vergleich zur ›Erfolgsquote‹ von 1880 ist dies ein enormer Anstieg. Ein Jahr später, 1890, wurde von insgesamt 1465 Widersprüchen nur in 218 Fällen die Konzession bewilligt.21 Bis zur Jahrhundertwende stieg die Anzahl der Gastwirtschaften beziehungsweise war der Einspruchseifer des Polizei-Präsidiums deutlich abgeschwächt. So wurden von den insgesamt 194 zwischen 1891 und 1900 beantragten Entziehungen der Konzession in 172 Fällen stattgegeben, wobei das Hauptmotiv des Polizei-Präsidiums weiterhin ein »Mangel des Bedürfnisses« war.22 Um 1900 existierten in Berlin 14.247 Schankstätten (1890 waren es noch 10.913). Die rechtliche Zulässigkeit der Bedürfnisfrage wurde jedoch durch Ziffer 45 der Preußischen Ausführungs-Anweisung bis mindestens 1904 bestätigt, wobei sich die faktische Anwendung noch bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges nachweisen lässt.23 Ein Rückgang beziehungsweise eine Tendenz zur Stagnation zeigt sich auch in der Lizenzierung der öffentlichen Tanzabende, deren Bewilligung seit 1794 nach wie vor in der Zuständigkeit der Polizeibehörde lag. Während 1880 noch 114 Lokale die Erlaubnis hatten, an einem oder mehreren Abenden eine Tanzveranstaltung abzuhalten, waren es 1890 nur noch 77.24 Hinsichtlich der Tanzabende beziehungsweise Tanzlokale sind zwei Entwicklungen von Interesse. Zwar gab es 1900 insgesamt 204 Lokale, »die ihrer baulichen Anlage nach zur Veranstaltung öffentlicher Tanzlustbarkeiten zugelassen« waren, jedoch war der größte Anstieg bei Balllokalen zu verzeichnen, die »durchweg von Herrenpublikum aus den besser gestellten Kreisen besucht« wurden.25 Die Anzahl der gewöhnlichen Tanzlokale, die öffentliche Tanzlustbarkeiten anboten, wurde 1900 mit 173 angegeben (im Vergleich zu 77 im Jahre 1890). Was auf den ersten Blick wie ein erheblicher Zuwachs 20 | Zweiter Verwaltungs-Bericht, S. 268. 21 | Ein zeitweiliger Rückgang zeigt sich auch im Verhältnis von der Anzahl der Schankstätten zur Einwohnerzahl. Im Jahre 1881 lag das Verhältnis bei einer Gesamtbevölkerung Berlins von 1.156.387 Einwohnern bei 1:170; 1885 (1.315.000 Einwohner) bei 1:185, 1890 (1.578.794 Einwohner) bei 1:185, im Jahre 1890 (1.884.345 Einwohner) bei 1:172, im Vergleich zu 1849, als das Verhältnis bei 400.000 Einwohnern bei 1:302 lag. 22 | Dritter Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums von Berlin für die Jahre 1891-1900, Berlin 1902, S. 395-396; Landesarchiv Berlin (im Folgenden LAB), A Pr. Br. Rep. 030, Tit. 41, Nr. 1597, Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betr. Die summarischen Uebersichten der in den Polizeibezirken von Berlin vorhanden gewesenen Gast- oder Schankwirtschaften, 1878-1920, S. 152. 23 | Vgl. Emil Müller: Die Gast- und Schankwirtschafts-Polizei in Preußen, Halle 1909, S. 48-51; LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05, Nr. 141, Akten des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend Anträge von Personen, die patriotische Vorträge aus § 33a in Berliner Lokalen zu halten beabsichtigen, 1915. 24 | Zweiter Verwaltungs-Bericht, Berlin 1892, S. 272. 25 | Dritter Verwaltungsbericht, Berlin 1902, S. 399.

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aussieht, ist jedoch irreführend, da infolge eines Erlasses vom 14. Dezember 1898 die Erlaubnis zur Abhaltung von Tanztagen nur einen Monat betrug – zuvor war eine Erlaubnis ein ganzes Jahr gültig. De facto stieg die Zahl von wöchentlichen Tanzabenden zwischen 1890 und 1900 somit von 339 auf 378. Wenngleich öffentliche Tanzlustbarkeiten bereits in den 1840er Jahren von staatlicher und kirchlicher Seite kritisiert wurden, so schien sich diese Debatte seit den späten 1870er Jahren zu intensivieren. Vor allen Dingen der Evangelische Ober-Kirchenrat sah in der Veranstaltung öffentlicher Lustbarkeiten »schwere sittliche, religiöse und wirthschaftliche Schädigungen« und wurde wiederholt beim Innenminister vorstellig, um ein Verbot von Tanzvergnügungen am Samstagabend sowie das der Teilnahme von Jugendlichen unter 16 Jahren an solchen Tanzabenden durchzusetzen.26 Insbesondere die von Vereinen und anderen geschlossenen Gesellschaften veranstalteten Tanzabende gerieten zunehmend ins Visier der Sittlichkeitswächter, wobei die 1891 eingeführte Sonntagsruhe generell zu einer Welle von Forderungen nach der äußeren Heilighaltung des Sonntags führten.27 Die Androhung, die von Vereinen und geschlossenen Gesellschaften veranstalteten Tanzabende am Samstagabend verbieten zu wollen, löste 1895 eine Reihe von Protesten aus. So reichte beispielsweise der Deutsche Gastwirths-Verband verschiedene Petitionen ein, um seinen Unmut zu bekunden: In gewissen kirchlichen Kreisen erblickt man zwar in dem Tanzen an Sonnabenden eine ganz besondere Unsitte […] Nicht Jeder geht all und jeden Sonntag zur Kirche, und wer nun einmal einen Sonnabend Abend dem Vergnügen opfern und den nachfolgenden Tag mehr der Sonntagsruhe als der Sonntagsheiligung – durch Kirchenbesuch – widmen will, den sollte die Kirche ruhig gewähren lassen. […] Zu Asketen werden weder Synoden noch Polizei das Volk erziehen […]. 28

26 | GStAPK, I HA Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 48, Bd. 6, Acta betr. die hinsichtlich der Tabagien und Tanzbodenwirthschaften ergangenen polizeilichen Vorschriften, 18.2.1859– 22.1.1895, Schreiben des Evangelischen Ober-Kirchenrates an Innenminister von Eulenburg, 7.5.1894. 27 | §§ 41a, 55a und 105a der Reichsgewerbeordnung vom 1.6.1891 regelten die Sonntagsruhe. Die Debatten um die äußere Heilighaltung des Sonntags gingen teilweise so weit, dass das Abgeordnetenhaus darüber diskutierte, ob sonntags auch außerhalb der Zeit des Gottesdienstes Schaufenster verhängt und das Auslegen von Waren verboten werden solle. Tenor war jedoch, dass der weitaus größte Teil »des deutschen Volkes […] sich seinen guten deutschen Sonntag als einen Tag der Erbauung aber auch als einen Tag der Erholung und Ausspannung nicht nehmen lassen will […].« Sitzungsprotokoll, Haus der Abgeordneten, 18.2.1898, 25. Sitzung, S. 757. 28 | »Denkschrift des Deutschen Gastwirths-Verbandes betr. schankgewerbliche Zeit- und Streitfragen«, GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318 a, Nr. 48, Band 7, Acta betr. die Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, 9.2.1895–20.2.1908.

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Für Berlin trat ein solches Verbot nicht in Kraft, allerdings wurden öffentliche Tanzlustbarkeiten und Bälle (neben Theatervorstellungen, Gesangsvorträgen usw.) für die Karwoche und die »ersten Tage der drei großen Feste« (Weihnachten, Ostern und Pfingsten) untersagt.29

D IE P OLIZEISTUNDE Neben der Prüfung der Bedürfnisfrage diente auch die Polizeistunde der Kontrolle von öffentlichen Unterhaltungseinrichtungen sowie einer allgemeinen Ordnungssicherung. Für Berlin wurde dies lange Zeit durch eine General-DirektoriatVerfügung vom 23. Dezember 1785 geregelt; später wurde die »verbotene Zeit« in einer Verordnung vom 9. März 1866 auf »11 Uhr abends bis 4 Uhr morgens« festgelegt.30 Ziel einer solchen Schließstunde war zunächst die Sicherung der nächtlichen Ruhe, jedoch erfolgte weder die Verhängung noch die Überprüfung der Polizeistunde nach einem einheitlichen Muster. Vielmehr war die Festsetzung eines Lokals auf eine bestimmte Schließstunde maßgeblich abhängig von der Person des Gastwirtes, dem zu erwartenden Publikum sowie der Annahme, ob es in der jeweiligen Einrichtung zu Prostitution beziehungsweise unsittlichen Handlungen kommen werde. Die Polizeistunde war somit nicht nur Instrument einer klassenspezifischen Kontrolle, sondern sollte auch und vor allem die Prostitution zumindest erschweren sowie den moralischen und finanziellen Ruin männlicher Besucher verhindern, den das Polizei-Präsidium, das Innenministerium sowie zahlreiche Sittlichkeitsvereine durch die Animation durch weibliches Bedienungspersonal in entsprechenden Lokalen, später so genannten ›Animierkneipen‹, befürchteten.31 Für nächtliche Konditoreien galten oftmals andere Schließzeiten; ihnen war es in der Regel gestattet, bis Mitternacht Gäste zu bedienen.32 Eine erste auffällige Häufung von Anträgen, die Sperrstunde von gewöhnlich 23 Uhr zu erweitern, findet sich seit Mitte der 1860er Jahre. Im Februar 1865 reichten zehn Konditorei-Besitzer eine Petition beim Königlichen Polizei-Präsidium 29 | Dritter Verwaltungsbericht, Berlin 1902, S. 384. 30 | Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840 bis 1930, München 1994, S. 102. 1865 wurde die Polizeistunde somit einheitlich für ein ganzes Jahr festgelegt und nicht wie zuvor zwischen Sommer und Winter unterschieden. 31 | Am 1.4.1854 kam es erstmals zu einem Verbot »weiblicher Dienstboten für die Gäste in Kaffee-, Bier- und Weinhäusern.« Siehe GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 2, Acta betr. die wegen Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, Schankwirthschaften und Tanzböden in der Stadt Berlin getroffenen polizeilichen Anordnungen, 4.6.1859 -30.11.1870. 32 | Ausnahmen finden sich auch bei gewöhnlichen Schanklokalen, doch wurde eine Sperrstunde bis Mitternacht oder eventuell sogar später nur selten gewährt und setzte dies eine mehrjährige ›Bewährung‹ des Wirts voraus.

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ein, da sie eine Festsetzung auf die Sperrstunde nicht nur als »störend, sondern auch vernichtend« ansahen. Bemerkenswert ist der Verweis auf Berlins Rolle als […] hervorragende Residenz, Großstadt, Fabrikort und Centralpunkt eines großen Eisenbahn-Netzes, das allnächtlich […] Fremde aus der Nähe und allen fernen Ländern […] entladet. Von diesen namentlich wird es häufig genug dankend anerkannt, wenn sie […] sich bei uns mit einer Taße heißem Caffee und Thee […] den durchkühlten oder von Näße schauernden Körper erwärmen können […]. 33

Sich auf seine Nähe zum Bahnhof beziehend, argumentierte 1871 auch der Restaurationsbesitzer Karl Maaß, dessen Lokal in der Invalidenstraße, »vis a vis dem Stettiner Bahnhof« lag. Früher wurde sein Lokal […] hauptsächlich von den mit den Eisenbahnzügen vor 11 Uhr Nachts ankommenden und abgehenden Passagieren frequentirt. Während früher die Eisenbahnzüge auf der BerlinerStettiner Eisenbahn meistens im Tage abgingen und ankamen, findet dies jetzt meistentheils des Nachts statt, wo ich mein Local geschlossen halten muß und erleide ich dadurch eine große Einbuße in meinem Geschäfte. 34

Die Argumentation der Gastwirte reichte von dem Hinweis auf die Bedeutung ihres Lokals als letzte Zuflucht in der Nacht über finanzielle Fragen bis hin zur bloßen Beschwerde über als Bevormundung empfundene Entscheidungen der Polizeibehörde. Der Grund für die Polizei, eine spätere Sperrstunde zu verweigern, lag, wie oben bereits angesprochen, in einer sozial- und ordnungspolitischen Kontrolle. Im August 1879 erneuerte das Polizei-Präsidium die Auffassung, dass es […] im öffentlichen Interesse dringend geboten [sei, A.H.], daß die Polizeistunde im Allgemeinen auf 11 Uhr beschränkt bleibt und Ausnahmen nur in den selteneren Fällen stattfinden, niemals aber bei Localen, in denen vorzugsweise Branntwein consumirt wird, oder in denen ein mit der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit nicht vereinbares Treiben stattfindet. 35

So versagten die Behörden im Oktober 1879 dem Wirt Otto Bratz in der Schwedter Straße eine Ausweitung der Sperrstunde auf Mitternacht, da 33 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 2, Acta betr. die wegen Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, Schankwirthschaften und Tanzböden in der Stadt Berlin getroffenen polizeilichen Anordnungen, 4.6.1859–30.11.1870. 34 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 3, Acta betr. die wegen Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, Schankwirthschaften und Tanzböden in der Stadt Berlin getroffenen polizeilichen Anordnungen, 11.3.1871–15.3.1875. 35 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Band 4, Acta betr. die Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, 10.5.1875–30.10.1880, 27.8.1879.

D IE R EGLEMENTIERUNG ÖFFENTLICHER L USTBARKEITEN […] dasselbe Local […] eine ganz gewöhnliche Branntweinschanke [ist], in welcher nicht nur ein dem niedrigsten Arbeiterstande angehörendes Publikum, sondern auch Louis verkehren. […] Wenn die Gäste zum Weitertrinken kein Geld mehr haben, so übergeben sie dem Wirth Wäsche, Schuhe, Ringe etc. zum Pfande, wofür ihnen dieser Branntwein und Bier creditirt. 36

Dem Wirt Gustav Seeger in der Brunnenstraße wurde 1879 ebenfalls keine verlängerte Öffnungszeit gewährt. In der Begründung hieß es unter anderem: Die Gäste, welche das Geschäft besuchen, sind in ihrem besseren Theile zu den gewöhnlicheren, dem Arbeiterstande angehörenden Publikum zu rechnen, doch gehört auch ein weiterer Theil derselben zu der in Betracht kommenden Gegend, besonders in der Brunnenstraße, viel verkehrenden Viehtreibern, Schlächtergehilfen und Arbeiterburschen vom Viehhof. Diesen Leuten, die fast durchweg zu der rohesten und mindersten Volksklasse gehören, sind lärmende Exzesse, Schlägereien, nächtliche Ruhestörungen, so zur Natur geworden, daß fast keine Nacht vergeht, in der nicht derartige Ausschreitungen vorkommen, sei es nun innerhalb der Locale, die sie besuchen, sei es beim Verlassen derselben auf der Straße. 37

Die Agenda des Polizei-Präsidiums hinsichtlich der Verhängung und Überwachung der Sperrstunde speiste sich zunächst aus einem traditionellen Bekenntnis zur Mäßigkeit, dessen Gebot vor allem die sozialen Unterschichten zu Sparsamkeit, ›Arbeitslust‹ und Sittlichkeit erziehen sollte. Seit den späten 1870er Jahren – das Sozialistengesetz trat 1878 in Kraft – vermengte sich diese Auffassung mit einer Anklage gegen die Sozialdemokratie, von der es hieß, der »Arbeiterstand und die dienenden Klassen« könnten ihr anheimfallen: […] die in den letzten Jahrzehnten so vielfach vermehrte Gelegenheit zur Völlerei und Lüderlichkeit und deren Folgen [haben] wesentlich mit dazu beigetragen, den Arbeitern Anlaß zu geben, früher nie gekannte Bedürfnisse und Genüsse sich anzugewöhnen, in dem allabendlichen Wirtshausleben ihren kärglichen Lohn zu vergeuden und ihre Vermögensverhältnisse zu zerrütten. Schließlich legen sie dann ihren Vermögensverfall der Regierung zu Last […]; sie werden dadurch zu unzufriedenen Staatsbürgern und fallen der Socialdemokratie anheim. […] es [ist] mit einer guten vorsorglichen Polizei und dem öffentlichen Wohl unverträglich, wenn eine zu große Anzahl von Schanklocalen der Bevölkerung Gelegenheit

36 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 4, Acta betr. die Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, 10.5.1875–30.10.1880, 15.10.1879. Louis war die zeitgenössische Bezeichnung für einen Zuhälter. 37 | GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 318a, Nr. 50, Bd. 4, Acta betr. die Anlegung und Beaufsichtigung der Tabagien, 10.5.1875–30.10.1880, 27.10.1879.

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A NGELIKA H OELGER bietet, die Nächte zu durchschwärmen, das an sich schon unzureichende Einkommen zu verprassen und obenein die Gesundheit zu schädigen. 38

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hin waren diese Motive weiterhin von Bedeutung, doch dominierte spätestens seit den 1880er Jahren der Kampf gegen die Prostitution und als unsittlich erachtete Handlungen und Darstellungen. Das bereits Mitte der 1860er Jahre vorgebrachte Argument, dass eine erweiterte Polizeistunde vor allen Dingen für Konditoreien und Nachtcafés sinnvoll sei, wurde von den zuständigen Behörden erst seit etwa 1890 anerkannt. Die Nachtcafés können für Berlin in gewisser Hinsicht als ein Bedürfnis bezeichnet werden, da der Verkehr namentlich in den Hauptstraßen und in der Nähe der Bahnhöfe auch während der Nachtzeit ein ziemlich reger bleibt und sich so zu jeder Nachtstunde Personen finden, die einer Erfrischung, wie die Nachtcafés sie bieten, geradezu bedürfen. 39

Das Polizei-Präsidium beurteilte es als ein »Bedürfnis der Großstadt, wenn den Nachtcafés allgemein die Polizeistunde bis 2 Uhr und bei erprobter Zuverlässigkeit des Wirtes bis 4 Uhr morgens verlängert wird«. Eine weitere Liberalisierung trat im November 1886 in Kraft, als es öffentlichen Tanzlokalen gestattet wurde, bis zwei Uhr nachts geöffnet zu bleiben. Hintergrund dieser Regelung war allerdings nicht unbedingt ein Zugeständnis an die Großstadt, als vielmehr die Überlegung, »daß die Prostitution sich dann weniger auf der Straße bemerkbar macht, wenn ihr Gelegenheit geboten wird, bis zwei Uhr Morgens unter polizeilicher Aufsicht in den Tanzlokalen zu verweilen«.40 Sittenpolizeilich motiviert war auch die Behandlung von Lokalen mit Kellnerinnenbedienung. Da diese sich nach Ansicht der Behörden »zum Theil zu wahren Höhlen des Lasters« herausgebildet hätten, wurde in einer Polizeiverordnung vom 27. Juli 1892 festgelegt, dass sie frühestens um 7 Uhr morgens öffnen durften und spätestens um 23 Uhr nachts schließen mussten. An den hier skizzierten Regelungen hielt das Königliche Polizei-Präsidium bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fest. Im März 1907 bekräftigte eine polizeiliche Anweisung »betreffend die Mißstände im Berliner Nachtleben« die Norm einer Polizeistunde von »11 Uhr abends bis 6 Uhr morgens«. Eine Verlängerung bis Mitternacht oder aber sogar bis 2 Uhr nachts könne nur bei »einwandsfreier Geschäftsführung« gestattet werden. Einzig »Cafes ohne Dirnenverkehr, für welche nach Lage und Besuch, zum Beispiel Reiseverkehr, ein Bedürfnis von unbeschränktem Nachtverkehr anzuerkennen ist«, war es erlaubt, die ganze Nacht hindurch zu öffnen.41 38 | Verwaltungsbericht, Berlin 1882, S. 428. 39 | Dritter Verwaltungsbericht, Berlin 1902, S. 396. 40 | Ebd., S. 273. 41 | Registratur an Polizei-Präsidenten betreffend die Mißstände im Berliner Nachtleben, 25.3.1907, LAB, A Pr. Rep. Br. 030-05, Nr. Th 1467, Akten des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend Varietés, 1903-1914, f. 16.

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Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Durchsetzung dieser Regelungen tatsächlich überprüft worden ist beziehungsweise ob sie überhaupt effektiv kontrolliert werden konnte. Das Nachtwachwesen ging Ende des 19. Jahrhunderts sukzessive in den Aufgabenbereich der Schutzmannschaft über, deren Zahl sich 1890 auf 2906, im Jahre 1900 auf 4444 Schutzmänner belief. In Anbetracht der Größe Berlins, der verfügbaren Beamten sowie des Spektrums sonstiger Polizeiarbeit kann angenommen werden, dass die Einhaltung der Sperrstunde nicht in dem Maße gewährleistet worden ist, wie es sich das Polizei-Präsidium vermutlich gewünscht hätte. Zudem betrachteten die zuständigen Behörden selbst eine Übertretung der Polizeistunde als zu geringfügig, um ernsthaft die strafrechtliche Verfolgung eines Schankwirts zu initiieren. Allerdings drohten einem Lokalbesitzer entweder die Festsetzung auf eine frühere Polizeistunde oder aber, bei wiederholten Verstößen, gar die Entziehung beziehungsweise Nichtverlängerung der Konzession. Eine Betrachtung der Kriterien für die Verhängung der Sperrstunde ist jedoch insoweit relevant, als sie, ähnlich wie auch die Bedürfnisfrage, deutlich macht, dass es gerade für eine Auseinandersetzung mit Kontrollmechanismen großstädtischer Vergnügungskultur wichtig ist, sich die räumliche und soziale Aufteilung einer Metropole zu vergegenwärtigen. Der Einsatz von Nachtwächtern und Polizeibeamten beziehungsweise die Einteilung der Nachtwachtbezirke richtete sich nach den »Verkehrsverhältnisse[n], de[m] Charakter der Bewohner und d[er] Art der Bebauung der Straßen«.42 Wie die oben zitierten Beispiele andeuten, waren ähnliche Faktoren ausschlaggebend für die Abwägung des Bedürfnisses und die Festlegung der Sperrstunde. Eine umfassende Untersuchung über die einzelnen Standorte beziehungsweise Nachbarschaften kann hier nicht erbracht werden, doch sind die zitierten Beispiele insoweit repräsentativ, als aus den Akten eine Konzentration der Polizeiarbeit auf Gegenden hervorgeht, die vornehmlich von der Berliner Arbeiterschaft und den städtischen Unterschichten bewohnt wurden.

D IE L IZENZ VERGABE Das oben erwähnte Spannungsfeld zwischen traditionellen Moralvorstellungen und modernen Stadtbedingungen, das charakteristisch war für die Konditionen, unter denen sich die Berliner Populärkultur vor allem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigen sich auch an der Konzessionspraxis der Berliner Polizei. § 32 der im Juni 1869 verabschiedeten Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund sah vor, dass Schauspielunternehmern die Erlaubnis zum Betrieb eines Gewerbes zu erteilen sei, »wenn nicht Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Nachsuchenden in Beziehung auf den beabsichtigten Gewerbebetrieb darthun. Beschränkungen auf bestimmte Kategorien theatrali-

42 | Zweiter Verwaltungs-Bericht, Berlin 1892, S. 329.

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scher Darstellungen sind unzulässig«.43 Infolge dieser weit reichenden Änderung bisheriger Bestimmungen kam es in Berlin zu zahlreichen Neugründungen von Privattheatern. Bestanden bis 1870 außer den Königlichen Bühnen 13 öffentliche Theater, so kamen bis 1880 noch 13 weitere hinzu. Diesen Aufschwung versuchten allerdings die Polizeibehörden und das Innenministerium durch verschiedene zusätzliche Gesetze und Verordnungen seit den frühen 1880er Jahren zu bremsen, wobei hier sowohl Fragen der Sittlichkeit, des ›künstlerischen Wertes‹ eines Stücks oder einer Aufführung sowie gewerbe-, bau- und feuerpolizeiliche Aspekte eine Rolle spielten. Die hitzigste Kontroverse fand um 1900 über Fragen der Zensur und Bühnenfreiheit statt.44 Auf diese Diskussion, die unter anderem auch die Verfassungsmäßigkeit der oben angesprochenen Polizeiverordnung von 1851 zum Gegenstand hatte, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, dass der Eindruck eines unkontrollierten Wachstums von Theatern und theaterverwandten Unterhaltungseinrichtungen in Berlin seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts insoweit modifiziert werden muss, als nach dem Signaljahr 1869 allmählich versucht wurde, das »Theaterfieber« wieder herunterzukühlen.45 Wohlgemerkt, diese Entwicklung war nicht ausschließlich einer klassenspezifischen Kontrolle unterworfen oder gänzlich der Rettung der Sittlichkeit gewidmet. Seit den 1880er Jahren spielten vor allem unter dem Eindruck der verheerenden Brände des Ringtheaters in Wien und des Opernhauses in Nizza feuerpolizeiliche Bedenken eine zunehmend wichtige Rolle für die Konzessionsvergabe. Zahlreiche Gesuche von Vereinen für wohltätige Zwecke, eine Theatervorstellung in einem Lokal aufzuführen, wurden aufgrund baupolizeilicher Bedenken abgelehnt.46 Jedoch zeigen die im Folgenden erläuterten Novellen, dass die Vergabebedingungen nach dem wichtigen Startschuss von 1869 wieder erschwert worden waren. Mit einem am 15. Juli 1880 verabschiedeten Zusatz zur RGO war eine Person, die sich für eine Konzession als Theaterunternehmer bewarb, verpflichtet, »vor Ertheilung der Concession seine Befähigung in moralischer, artistischer und finan-

43 | Zit.n. Freydank (Hg.): Theater als Geschäft, S. 232. 44 | Vor allem seit dem 1892 eingebrachten Gesetzesentwurf zur so genannten Lex Heinze. Die Änderung von § 184 des Reichsstrafgesetzbuches hinsichtlich der Zensurierung von als unzüchtig erachteten Darstellungen in Kunst, Literatur und Theateraufführungen wurde zunächst im Februar 1900 und schließlich nach erheblichen Protesten verändert im Mai 1900 verabschiedet. 45 | Heinrich Hart: »Plädoyer für eine Theaterreform« [27./29.7.1883], in: ders.: Mongolenherden im Zoologischen Garten. Berliner Briefe, hg. von Lars-Broder Keil, Berlin 2005, S. 69-76, hier S. 69. 46 | LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05, Nr. 1154, Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend Anträge um Erlaubnis zur Abhaltung von Theater-Vorstellungen in solchen Localen, die nicht als öffentliche Theater anerkannt sind, 1884–Sept. 1898.

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zieller Beziehung nachzuweisen.«47 Die Beurteilung der artistischen Fähigkeiten eines Antragstellers oder einer Antragstellerin wurden zumeist von der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und später auch von der Internationalen Artisten-Loge vorgenommen. Dies war ein Umstand, der vor allem den Anwärtern zum Nachteil gereichen sollte, die tatsächlich fachfremd waren oder aber eine Bühnenkunst abseits des klassischen Bildungskanons aufführen wollten. In einer weiteren Gesetzesnovelle von § 33a der RGO wurde am 1. Juli 1883 bestimmt, dass eine Person, die zur gewerbsmäßigen Veranstaltung von […] Singspielen, Gesangs- und deklamatorischen Vorträgen, Schaustellungen von Personen oder theatralischen Vorstellungen, ohne daß ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet, in seinen Wirtschafts- oder sonstigen Räumen öffentlich veranstalten will, […]

eine Erlaubnis benötige. Hiervon waren zunächst Besitzer von Singspielhallen, so genannten Spezialitätentheatern, Cafés chantants und ähnlichen Einrichtungen betroffen, allerdings erweiterte sich der Kreis durch einen Zusatz vom Dezember 1896, wonach »jeder Gewerbetreibende, welcher dramatische Vorstellungen irgend welcher Art veranstalten will […] als Schauspielunternehmer im Sinne des § 32 zu gelten habe«.48 Infolge dieses Zusatzes mussten nun auch Gastwirte und so genannte Restaurateure, die entweder gelegentlich oder regelmäßig ein Theaterstück oder Ähnliches aufführen wollten, sich um eine Konzession bewerben. Die Erlangung einer solchen Erlaubnis scheiterte nicht selten am Gutachten der bereits erwähnten Berufsgenossenschaften, die aus nahe liegenden Gründen einem Schankwirt eine ›artistische Befähigung‹ absprachen. Anfang der 1890er Jahre kam es laut Aussage des Polizei-Präsidiums häufig zu einem Zusammenbruch von Theaterunternehmen, da die jeweiligen Besitzer nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügt hätten. Zwar war Antragstellern bereits aufgrund der Änderung der RGO vom Juli 1880 auferlegt, ihrer ›finanzielle Befähigung‹ nachzuweisen, doch schien diese Regelung nicht ausreichend. Zur besseren Überprüfung der finanziellen Situation eines Antragstellers wurde am 6. August 1896 eine veränderte Fassung von § 32 RGO eingeführt, […] durch welche der Polizeibehörde die Möglichkeit gegeben, zugleich aber auch die Pflicht auferlegt wurde, die Erlaubnis zur Begründung eines Theaterunternehmens zu versagen, wenn der sie Nachsuchende den Besitz der zu dem Unternehmen nötigen Mittel nicht nachzuweisen vermag. 49

47 | Verwaltungsbericht, Berlin 1882, S. 62. 48 | Dritter Verwaltungsbericht, Berlin 1902, S. 377. 49 | Ebd., S. 394.

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Zwischen 1891 und 1900 wurden insgesamt 126 Personen eine Konzession nach § 32 der RGO erteilt, 33 wurden im selben Zeitraum abschlägig beschieden, wobei der Mehrheit entweder wegen »artistischer Unfähigkeit und Mittellosigkeit« oder aber wegen eines der beiden Defizite die Konzession verweigert wurde. Im Jahre 1900 gab es laut offiziellen Angaben 109 Lokale in Berlin, die nach § 33a der RGO konzessioniert worden waren.50 Nach Ansicht des Polizei-Präsidiums war somit dem Bedürfnis »in überreichem Maße genügt«. Es befürchtete zudem, dass eine zu große Konkurrenz an Vergnügungslokalen dazu führen würde, dass Unternehmer »die zensur- und ordnungspolizeilichen Vorschriften außer Acht« lassen würden, »um durch das Darbieten pikanter Lieder Gäste anlocken zu können«.51 Gleichwohl musste es konzedieren, dass zu einer umfassenden Kontrolle schlicht zu wenig Beamten und zu viele Unterhaltungseinrichtungen vorhanden seien, um alle Übertretungen feststellen und ahnden zu können. In der Tat konnten weder die Zensur noch die nach 1869 erlassenen gesetzlichen Auflagen den Aufstieg des Theaters, der Varietés, Kabaretts und Singspielhallen aufhalten. Und auch die Zahl der Gastwirtschaften und Cafés nahm zu; bald schon bewegten Phonographen und schließlich Kinematographen die Gemüter und machten sich verstärkt Rummelplätze breit. Die Zahlen brachen erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ein, als Berlin schon längst mehr als zwei Millionen Einwohner hatte. * * * Politik und Vergnügen – den Siegeszug einer öffentlichen und immer vielfältiger werdenden kommerziellen Populärkultur in Berlin um 1900 konnte noch nicht einmal die preußische Polizei verhindern. Und doch war und blieb das Amüsement stets ein Politikum. Die Regulierung öffentlicher Lustbarkeiten ist an und für sich eine wenig überraschende Angelegenheit und kann sicherlich nicht per se als Indikator für eine allzu strenge Sittenwacht oder aber eine repressive Polizeiherrschaft ausgemacht werden. Schließlich müssen auch heute noch Gewerbetreibende – ob nun Gastwirte, Theaterunternehmer oder Zirkusbesitzer – zahlreiche bau-, gewerbe- und feuerpolizeiliche Auflagen der zuständigen Behörden erfüllen und sich an Vorgaben (beispielsweise zum Jugendschutz oder an das Rauchverbot) halten. Worin lag somit der politische Charakter im Falle Berlins um 1900? Und wie erklärt sich die Gleichzeitigkeit von restriktiver Handhabung von Konzessionsvergabe und Sperrstunde auf der einen und stetem Wachstum von Vergnügungsmöglichkeiten auf der anderen Seite?

50 | LAB, A Pr. Br. Rep. 030-05, Nr. 5, Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend Verwaltungsbericht des Polizeipräsidiums 1891-1900, f. 21-22. Siehe auch Artikel »Tingeltangelwesen«, in: Die Post, Nr. 21, 7.5.1902, Hauptblatt. 51 | Dritter Verwaltungsbericht, Berlin 1902, S. 380.

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Zur Beantwortung dieser Fragen erscheinen drei Aspekte wesentlich: die Kontinuität traditioneller, das heißt im Wesentlichen im 19. Jahrhundert verankerter Wertvorstellungen, die stark von klassenspezifischen Moralprinzipien geprägt waren, die Diskrepanz zwischen angestrebter und tatsächlich umsetzbarer Polizeipraxis sowie ein vor allem seit 1871 erkennbarer Balanceakt zwischen einem Zugeständnis an die Metropole Berlin und dem Bestreben, jeglichen ›Sittenverfall‹ zu verhindern. Letzteres erklärt beispielsweise, aus welchen Gründen die Polizeibehörden sich zunehmend freigiebiger zeigten, wenn es um die Verlängerung der Sperrstunde von Lokalen ging, die vor allem auch von Touristen besucht wurden, jedoch strengere Maßstäbe anlegten, sobald ein Etablissement im Verdacht stand, ein Ort für Prostitution zu sein. Die Behörden erkannten durchaus die Wichtigkeit einer Imagepflege zur Steigerung der Attraktivität Berlins als Reiseziel, das mindestens so großstädtisch erscheinen wollte wie beispielsweise London oder Paris. In die gleiche Kategorie mögen auch Bestimmungen zum Bau- und Brandschutz fallen, die weder einen klassen- oder moralorientierten Impetus hatten, sondern vielmehr als Ausdruck einer zunehmenden Modernisierung und Verstädterung zu lesen sind. Vereinfacht ausgedrückt ließe sich sagen, dass die Reglementierung der Berliner Vergnügungen um die vorletzte Jahrhundertwende in einem steten Spannungsverhältnis zwischen tradierten Auffassungen von Sittlichkeit und Klassenkontrolle und modernen, metropolitanen Herausforderungen stattfand und somit sowohl von einer strikten Einschränkungspolitik als auch von einer selektiven Liberalisierung gekennzeichnet war. Dieser Dynamik und den inhärenten Paradoxa ist in einer historischen Aufarbeitung sicherlich nicht mit einem Top-down-Modell beizukommen. Die Betonung der Kontinuität von moralischen Wertvorstellungen und den damit teilweise zusammenhängenden klassenspezifischen Disziplinierungsmaßnahmen sollte nicht vergessen machen, dass die diese Entwicklung begleitenden Schritte und Regulierungen sowohl für das Publikum, die Unterhaltungsanbieter als auch für die Polizei ein Lernprozess gewesen sind. Gleichermaßen wichtig ist die Tatsache, dass der festgelegte Katalog an Kriterien, an die beispielsweise die Sperrstunde gebunden war, sowie die aufgrund der Gesetze erfolgten Kontrollen, durchaus Spielraum für Übertretungen, Ausnahmen, Verhandlungen, andere Prioritäten und Einsprüche ließ. Es ist ja kein Zufall, dass sich diese Form der Populärkultur in Großstädten entfaltet hat. Soviel Einsicht in die Realitäten rein praktischer und logistischer Natur hatte selbstverständlich auch die Berliner Polizei, dass sie schon bald erkannte, dass weder Polizeiverordnungen noch Strafandrohungen das Zuwenig an Beamten und das Zuviel an Stadt hätten wettmachen können. Doch ist ein Blick auf die bloße Effizienz von Polizeiarbeit nur bedingt interessant. Die Frage nach den Motiven scheint weitaus aufschlussreicher zu sein. Die Reglementierung von Unterhaltungseinrichtungen, die vornehmlich von Angehörigen der Berliner Unterschichten besucht wurden, begründete sich in bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts tradierten Auffassungen über die so genannten ›gefährlichen Klassen‹: Die Annahme, dass ›Excessen‹ Einhalt geboten werden

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müsse, die infolge übermäßigen Alkoholkonsums, eines Hangs zur Gewalt und sexueller Ausschweifungen auftreten würden, war eines der wesentlichen Motive, die die städtischen Polizeibehörden veranlasste, hier besonders strenge Maßstäbe anzusetzen. Zwischen den späten 1870er und 1890er Jahren (das Sozialistengesetz bestand zwischen 1878 und 1890) war die polizeiliche Kontrolle und Sanktionierung von Vergnügungs- und Versammlungsstätten jedoch eindeutig politisch motiviert. Dieser Punkt ist nicht nur für eine sozialhistorische Analyse relevant, sondern auch für methodische Fragen von Bedeutung. Die Lokalisierung von Populärkultur kann innerhalb eines städtischen Kontexts natürlich auf verschiedene Arten stattfinden: Der Fokus lässt sich entweder auf einen bestimmten Bezirk richten, eine ausgesuchte Unterhaltungsstätte, beispielsweise ein Theater, oder auf eine zentrale Meile wie die Friedrichstraße oder die Elsasser Straße. Mit Blick auf die Bedürfnisfrage war es für die Berliner Polizeibehörden offensichtlich von Bedeutung, wo ein Lokal oder Theater angelegt werden sollte. Es war somit wichtig, welche soziale Zusammensetzung eine bestimmte Nachbarschaft hatte, und ob aufgrund dessen Probleme zu erwarten seien. Die seit den 1880er Jahren stärker werdenden Debatten um das bürgerliche Theater zeigen indes, dass sich die städtische und staatliche Kontrolle nicht ausschließlich unter klassenspezifischen Aspekten erklären lässt, sondern vielmehr auch als klassenübergreifendes und moralhistorisches Phänomen verstanden werden muss. Der Kampf um die Bewahrung von Sittlichkeit, der nicht nur von der Berliner Polizei, sondern vor allem auch von der Evangelischen Kirche sowie von den mit ihr affiliierten Sittlichkeitsvereinen ausgefochten wurde, macht deutlich, welch zentrale und langlebige Rolle Sittlichkeit beziehungsweise Vorstellungen hiervon gespielt haben. »Wenn der Berliner sehr lustig wird, dann ist der Schutzmann nicht mehr fern.« Diese von Edmund Edel im Jahre 1910 gemachte Beobachtung traf zweifellos auch noch für die Zeit nach der festen Etablierung der Berliner Vergnügungskultur zu.52 Das Berliner Beispiel zeigt, dass Kontrolle, Wachstum und Kommerzialisierung öffentlicher Unterhaltungseinrichtungen keine sich gegenseitig ausschließenden Erscheinungen gewesen sind, sondern durchaus gleichzeitig bestanden haben. Die hieraus resultierenden Konflikte zwischen Polizei und Betreibern von Vergnügungsstätten liefern wertvolle Einblicke in das Aufeinandertreffen von langfristig angelegten Vorstellungen von Moral und Ordnung und der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend wichtiger werdenden Bedeutung von Modernisierung und Urbanisierung.

52 | Edmund Edel: Neu-Berlin, Berlin/Leipzig um 51910, S. 47.

Die drei Bühnen der Stadt Der Berliner Königsplatz als lokaler, nationaler und globaler Ort Tim Opitz

Spätestens um 1870 begann Berlin zu der Stadt zu werden, in der die zentralen Entwicklungslinien des späten 19. Jahrhunderts emblematisch zusammenliefen.1 Die Stadt veränderte sich massiv und wurde zur Bühne verschiedener, sich immerfort beschleunigender Prozesse. Ein immenses, zuvor nie gesehenes Bevölkerungswachstum begann. Ebenso trieb ein ökonomischer Boom die wirtschaftliche Entfaltung der Stadt zu einem wichtigen Industriestandort voran. Berlin als neue Hauptstadt wurde zur selben Zeit nicht nur Macht- und Verwaltungszentrum des neu gegründeten deutschen Staates, sondern auch dessen kultureller und meinungsbildender Mittelpunkt. Parallel zu diesen Veränderungen in der Stadt faltete sich auch der räumliche Bezugsrahmen der Städter immer weiter auf: Der Blick der Zeitgenossen fiel immer häufiger auf ferne Länder und die anderen großen Städte jenseits des begrenzten eigenen Hinterlandes. Anregung, Vorbilder und Konkurrenz wurden zunehmend über politische Grenzen hinweg gesucht. Zugleich wurde die Einbindung in internationale Zusammenhänge immer deutlicher, Import und Export von Waren, Ideen und Menschen aus und in alle Welt wurden durch die sich durchsetzende Globalisierung zur Normalität. Berlin um 1870 entwickelte sich unwiderruflich zur großen Stadt von Welt.2

1 | Vgl. zum Überblick über die Geschichte Berlins: Ruth Glatzer: Berlin wird Kaiserstadt. Panorama einer Metropole 1871-1890, Berlin 1993; Alexander Reissner: Berlin 16751945. The Rise and Fall of a Metropolis. A Panoramic View, London 1984. 2 | Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Globalisierung auch in Deutschland nachweisbar, vgl. dazu und zur ökonomischen Chronologie: Kevin O’Rourke/Jeffrey G. Williamson: »When did globalisation begin?«, in: European Review of Economic History 6 (2002), Nr. 1, S. 23-50. Und insbesondere zu Deutschland: Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860-1914, Göttingen 2005.

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Wie allerdings lassen sich diese unterschiedlichen Entwicklungen, die Spannung zwischen lokalen Problemen und globalen Fragen in eine zusammenhängende, die divergenten Elemente zusammenbringende Geschichte von Berlin integrieren? Wie kann ein Ort zugleich auf dessen innere Entwicklung fokussiert, auf nationale Sinngebungen konzentriert und in einen globalen Zusammenhang eingebunden gewesen sein? Wie kann dieser Ort im gleichen Moment involviert gewesen sein in die Begründung des Nationalstaates, die Nationalisierung des entstandenen föderalen Staates und die Herausbildung und Aufrechterhaltung eines – übersee-kolonialen wie auch im Osten beheimateten kontinentalen – Empires?3 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese unterschiedlichen Blickrichtungen an einem konkreten Ort im Herzen Berlins – dem Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik – zusammenzuführen. Dieser Platz, der sich seit den 1870er Jahren immer mehr zu einem Zentrum mit besonderer Symbolkraft in Berlin entwickelte, wurde bisher vor allem mit Blick auf die in seiner Mitte errichtete Siegessäule und deren Ästhetik und Bedeutung für den deutschen Nationalstaat analysiert.4 Andere Untersuchungen blicken, ausgehend von der speziellen Lage des Platzes an der Berliner Mauer und aus der Perspektive der Berliner Teilungsgeschichte, auf die bauliche Entwicklung des Platzes zurück, die durch den Bau des Kanzleramtes im Spreebogen in den 1990er Jahren weitere Relevanz bekommen hat.5 Verknüpfende Interpretationen verschiedener Bedeutungsstränge oder Auseinandersetzungen, die eine mögliche globale Dimension des Königsplatzes betonen, sind bisher nicht vorgenommen worden. Genau dies soll mit dem vorliegenden Aufsatz verändert werden, dessen These ist, dass der Berliner Königsplatz nur dann in seiner komplexen Bedeutung angemessen analysiert und verstanden werden kann, wenn verschiedene räumliche und symbolische Ebenen verbunden und gemeinsam betrachtet werden. Durch diesen Ansatz, der zum Ziel hat, verschiedene Ebenen in der Untersuchung des Königsplatzes zusammenzubringen, soll zugleich ein Beitrag zu generellen Fragen der Stadtgeschichte geleistet werden. Was die Stadt – und insbesondere die große, bedeutende Stadt, die Metropole6 – als historisches Phänomen 3 | Edward Ross Dickinson: »The German Empire: an Empire?«, in: History Workshop Journal 66 (2008), S. 129-162. 4 | Reinhard Alings: Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871-1918, Berlin 1996; ders.: Die Berliner Siegessäule. Vom Geschichtsbild zum Bild der Geschichte, Berlin 2000. 5 | Vgl. Landesarchiv Berlin (Hg.): Platz der Republik. Vom Exerzierplatz zum Regierungsviertel. Eine Ausstellung des Landesarchivs Berlin 1992, Berlin 1992; Dieter Genske/ Ernest Hess-Lüttich: Wo steht das Kanzleramt? Der Spreebogen – eine raum-zeitliche Spurensuche, Berlin 2004; Heinrich Wefing: Kulisse der Macht. Das Berliner Kanzleramt, Stuttgart 2001. Siehe allgemein auch: Brian Ladd: The Ghosts of Berlin, Chicago 1997. 6 | Gotthard Fuchs (Hg.): Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995; Dirk Matejewski (Hg.):

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spezifisch macht, ist immer wieder Gegenstand von Debatten.7 In diesem Text wird die Auffassung vertreten, dass die Besonderheit der Stadt und in gesteigertem Maße von Städten, die als Metropolen bezeichnet werden, darin liegt, dass es keinen anderen Ort gibt, der eine Verknüpfung so verschiedener Entwicklungen und Handlungsebenen, etwa der Urbanisierung und der Globalisierung, zulässt. Dabei bietet die Betrachtung von Städten die Möglichkeit, unterschiedliche Interpretationsansätze in einem fest abgesteckten räumlichen Rahmen auszuprobieren. Das Charakteristische der Stadt ist gerade die Vielfalt und Komplexität von Bezugspunkten und Interaktionen konzentriert an einem Ort. Und das Besondere gerade an der Stadt im Europa des 19. Jahrhunderts ist neben der »inneren Urbanisierung«,8 so die hier vertretene These, eben auch ihre sich zeitgleich entwickelnde ›innere Globalisierung‹. Die großen Städte dieser Zeit sind unter den Vorzeichen der europäischen Expansion geformte ›global cities‹.9 Als ein Teil einer solchen, in einem hierarchischen System eingebundenen, globalen Stadt soll der Berliner Königsplatz im Folgenden untersucht werden. Wichtig für eine solche Untersuchung ist, dass in einer Geschichte der weltweiten Verflechtung der Stadt – und insbesondere den größeren, zentraleren Metropolen – eine Sonderrolle zukommt: »Einflüsse dringen von außen über Städte in Gesellschaften ein; sie sind Tore zur ›Welt‹«.10 In gleichem Maße muss aber auch die umgekehrte Blickrichtung berücksichtigt werden, denn Gesellschaften artikulieren sich durch Städte nach außen. So versuchen etwa Nationalstaaten, sich über Städte, deren Aussehen und insbesondere deren öffentliche Repräsentierarchitektur darzustellen. Dies funktionierte im hier betrachteten Zeitraum in besonderer Weise, denn das Ende des 19. Jahrhunderts war zugleich eine Zeit der Wiederentdeckung der Stadt und insbesondere ihres Inneren. Eine Zeit also, »in der die Macht von Bauwerken« und damit verbunden deren Möglichkeit »Botschaften zu formulieren, allgemein verstanden und anerkannt wurde.«11 Zudem übernahmen Metropolen. Laboratorien der Moderne, Frankfurt a.M. 2000; Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden«, CMS Working Paper Series 001/2006, www.metropolitan studies.de/fileadmin/filestorage/reif_001.pdf, S. 1-21. 7 | Vgl. hierzu etwa: Harry S. Jansen: »Wrestling with the Angel. On Problems of Definition in Urban Historiography«, in: Urban History 23 (1996), Nr. 3, S. 277-299. Auch: Charles Tilly: »What is good Urban History«, in: Journal of Urban History 22 (1996), Nr. 6, S. 702-719. 8 | Vgl. Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361. 9 | Vgl. Paul L. Knox/P.L. Taylor (Hg.): World Cities in a World-System, Cambridge 2000; Saskia Sassen: The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton 1991. 10 | Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 357. 11 | Matthew Jefferies: »Wilhelminischer Monumentalismus. Zur politischen und kulturellen Rolle der Architektur im Deutschen Kaiserreich«, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp

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in der Stadt abgehaltene Veranstaltungen – wie etwa Feste, Paraden oder Ausstellungen – die Funktion von Kommunikationsmitteln. Dieser Zusammenhang zwischen der Stadt und ihren verschiedenen Repräsentationen und (Selbst-)Darstellungen soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen: Die Stadt soll dementsprechend als eine doppelte ›Bühne‹ gesehen werden, auf der Informationen von außen – im 19. Jahrhundert aus der ganzen Welt – gezeigt und in die städtische und nationale Gesellschaft eingeführt wurden, auf der aber zugleich auch Informationen und Vorstellungen für ein potentiell globales Publikum dargeboten wurden.12 Diesen Überlegungen folgend, versucht dieser Aufsatz zu zeigen, dass Berlin um 1870 bereits ein Ort war, der zur Nation, zur Welt, zu sich selbst und zu seiner Entwicklung als Stadt, in intensiven Kontakt- und Austauschbeziehungen stand und dessen Entwicklung massiv von diesen Wechselbeziehungen beeinflusst wurde. Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, wird das Beispiel Berliner Königsplatz im Folgenden in drei Schritten betrachtet: Der Blick fällt auf den Berliner Königsplatz als städtische, nationale und globale Bühne.13

D ER STÄDTISCHE P L AT Z : N UT ZEN UND V ERGNÜGEN Um 1865 war der Königsplatz noch eine Leerstelle in Berlin, ein ungenutzter Platz zwischen zwei privaten Gebäuden, dem Kroll’schen Etablissement und dem Palais Raczyński. Bereits zehn Jahre später jedoch handelte es sich um einen wichtigen und zentralen Platz der Stadt. Zu dessen bedeutenden Funktionen gehörte es, für die Bewohner Berlins begehbar und zugänglich zu sein. Das Areal um die Siegessäule war zur Bühne für die selbstbewussten Städter und die sich selbst findende Stadt geworden. Der Plan, den gerade auf diesen Namen getauften Königsplatz durch öffentliche Bebauung zu nutzen und auf ihm ein Siegesdenkmal zu errichten, stammt bereits aus dem Jahr 1864 und bezog sich ursprünglich allein auf den ersten (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 233-245, hier S. 238. 12 | Zur Benutzung der Metapher Bühne, siehe auch: David Blackbourn: »Politics as Theatre: Metaphors of the Stage in German History, 1848-1933«, in: Transactions of the Royal Historical Society 37 (1987), S. 149-167. 13 | Hier sei kurz auf die vielfältigen Performativitätstheorien verwiesen, in die Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen 2003 einen Einstieg liefert. Darin insbes.: Christian Horn/Matthias Warstat: »Politik als Aufführung«, S. 395-417. Zu Performativität und Stadt, siehe die kurzen, aber hilfreichen Überlegungen bei: Andreas W. Daum: »Capitals in Modern History. Inventing Urban Spaces for the Nation«, in: ders./Christof Mauch (Hg.): Berlin – Washington, 1800-2000. Capital Cities, Cultural Representation, and National Identities, Cambridge 2005, S. 3-28, hier S. 18.

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Einigungskrieg gegen Dänemark. Es sollte ein eher kleines und zurückhaltendes Monument errichtet werden. Leider ist nicht überliefert, warum dieser Platz ausgewählt wurde, ein ehemaliger Exerzierplatz, der an einen etablierten Berliner Vergnügungsdistrikt grenzte, welcher sich von dem Kroll’schen Etablissement an der Westseite des Platzes bis zu den zahlreichen Ausflugslokalen in der Straße In den Zelten erstreckte. Es lässt sich jedoch vermuten, dass die Kombination aus relativer Nähe zum Stadtzentrum, fast auf der Achse von Unter den Linden und in Blickweite zum Brandenburger Tor, und einem bereits für ein Denkmal angelegten, aber noch unausgefüllten Platz den Ausschlag gaben. Zudem war das Areal in öffentlichem beziehungsweise königlich-preußischem Besitz und so schnell zu bebauen. Letztendlich war es der König selbst, der den Standort, ohne klar benannte Entscheidungsgrundlagen, bestimmte.14 Doch bevor die Arbeiten am Denkmal begannen, hatten die politischen Ereignisse bereits die Planungen eingeholt und obsolet gemacht. Wegen der zwei nachfolgenden Kriege gegen die Habsburger Monarchie und Frankreich wurde in den Jahren 1866 und 1870/71 jeweils mit Planungen für ein größeres Denkmal begonnen.15 Im Zuge der von den zuständigen königlichen Behörden veränderten Konzeption wandelte sich der ursprüngliche Entwurf entscheidend. Von einem moderaten, kleinen Obelisken wuchs das Denkmal hin zu einer großen, durch eine innen liegende Treppe besteigbaren, von einer vergoldeten Figur gekrönten Säule. Diese wurde auf einer gemäldegeschmückten Rundhalle platziert, welche von einem offen zugänglichen und begehbaren Sockel abgeschlossen wurde. Gebildet wurde dieses Podest der Säule von umlaufenden Treppenstufen, die somit die Säule zum Platz hin öffneten und von allen Seiten aus erreichbar machten. Dadurch entwickelte sich das Denkmal bereits während der Bauphase von einem zurückhaltenden Entwurf, der an einen preußischen Sieg erinnerte, zu einem komplexeren Ehrenmahl, das den Betrachter zur Interaktion aufforderte. Es regte zur aktiven Nutzung an, indem man seine verschiedenen Bilderreihen einzeln und im Zusammenhang betrachten und das Denkmal als Ganzes betreten und erklimmen konnte. Zudem legte es die Anlage der Siegessäule nahe, den umliegenden Stadtraum, der auf die Säule hin ausgerichtet wurde, in den Gebrauch des Platzes zu integrieren. Durch die Errichtung eines Denkmals wurde aus dem gesamten Platz ein kleiner Park, mit Wegen, Bänken und Springbrunnen, der in den Tiergarten überging. Auf dem Königsplatz, einst im Volksmund als ›Sandwüste‹ verpönt, ließ es sich nun sehr gut spazieren und flanieren. 14 | Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStAPK) I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 20846, (Vol. 1); 1865-1873, »Das auf dem Königsplatze zu Berlin zu errichtende Siegesdenkmal«. Siehe auch Alings: Monument und Nation, S. 161. 15 | Klaus Dettmer: »Die Grundsteinlegungsurkunden der Siegessäule. Drei Begründungen für ihren Bau und einen für ihren Standortwechsel«, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 3 (1984), S. 49-70.

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Abb. 1: Auf dieser Karte des Königsplatzes und seiner Umgebung zeigt sich die Beschaffenheit des gesamten Bauensembles um 1902. Die Siegessäule auf ihrem runden Platz, umgeben von Denkmälern zu Ehren der Staatsmänner aus der Reichsgründungszeit. Im Westen wird der Platz von der Krolloper begrenzt, im Osten vom Reichstag, nördlich lässt sich noch das Generalstabsgebäude erkennen. Im Süden öffnet sich der Platz in den Tiergarten, aus dem die Siegesallee mit ihren Statuen von wichtigen Hohenzollern direkt auf die Säule zuläuft. Alle Straßen und Wege sind auf den Königsplatz oder das nahe Brandenburger Tor ausgerichtet. Kartenausschnitt. Diese Begehbarkeit und Offenheit, die man auch als Freizeitaspekt des Platzes deuten kann, wurde durch seine Lage begünstigt, denn der westliche und südliche Rand des Platzes waren Ausgeh- und Flaniergebiet, dort beginnt der Tiergarten.16 Vormals königliches Jagdgebiet war er um 1870 schon lange ein großer öffentlicher Park, in dem insbesondere das Berliner Bürgertum gerne spazierte. An seinem Rand lag nun der Königsplatz, ideal um diesen in einen Rundgang einzuschließen. Folgerichtig wurde der Platz auch durch eine umfangreiche Begrünung als ein Teil des Parks erschlossen. Hierin zeigt sich eine städtebauliche Wechselbeziehung zwischen dem Platz, der eine symbolische Funktion hatte und auf dem spaziert werden konnte, und dem Park, in dem Reiten und Müßiggang

16 | Folkwin Wendland: Der Große Tiergarten in Berlin. Seine Geschichte und Entwicklung in fünf Jahrhunderten, Berlin 1993.

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gepflegt wurden, der jedoch auch immer weiter mit Bedeutung aufgeladen werden sollte. Dies dokumentierte nicht zuletzt das kaiserliche Projekt der Siegesallee.17 Zusätzlich verstärkt wird der öffentlich zugängliche Charakter des Platzes durch die Nähe zum Kroll’schen Etablissement,18 der späteren Krolloper, einer etablierten städtischen Vergnügungsinstitution, deren Zugang nun über den Königsplatz mit seinem Denkmal für drei Kriege führte. Innerhalb dieses Umfeldes ging es dem bürgerlichen Berliner, der den Platz besuchte, vermutlich ähnlich wie den Autoren der ›Heimatkunde‹ Weltstadt Berlin: »Bei Betrachtung dieser Säule rufen wir uns die drei Kriege von weltgeschichtlicher Bedeutung, […] gern in das Gedächtnis zurück […].«19 Während und nach dem Erinnern konnte man ungezwungen an der Säule vorbei über den Platz flanieren. In diesem Kontext ist es besonders interessant, dass sich zahlreiche Darstellungen der Siegessäule finden lassen, auf denen – wenn auch klein – Menschen abgebildet sind, die um diese herum spazieren.20 Die den Platz und die Säule benutzenden Menschen gehörten anscheinend fest zum Bildprogramm der Denkmaldarstellungen, für das so zugleich Akzeptanz, Benutzbarkeit und Attraktivität reklamiert werden konnten. Und im Zuge der touristischen Aufwertung Berlins durch seinen Status als Reichshauptstadt wurde auch das gesamte Ensemble auf dem Königsplatz schnell in den Kanon der wichtigen, zu besuchenden Orte der Stadt aufgenommen und fand lobende, sternenbewehrte Erwähnung in den gängigen Reisehandbüchern. So rühmte der Baedecker für Nord- und Mitteldeutschland bereits kurz nach dem Bau der Säule: »Von dem Brandenburger Thor führt rechts die Friedensallee nach dem Königsplatz, dessen Umgebung zu einem der prächtigsten u. imposantesten Theile Berlins sich gestaltet.«21 Damit wurde der gerade erst angelegte Königsplatz zu einem Beispiel der »wachsenden Bedeutung 17 | Helmut Caspar (Hg.): Die Beine der Hohenzollern. Schüleraufsätze von 1901 über die Figuren der Berliner Siegesallee, Berlin (Ost) 1990; Uta Lehnert: Der Kaiser und die Siegesalle, Berlin 1998; Harald Reissig: »Die Siegesallee«, in: Helmut Engel/Stefi Jersch-Wenzel/ Wilhelm Treue (Hg.): Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse. Bd. 2: Tiergarten. Teil 1: Vom Brandenburgertor zum Zoo, Berlin 1989, S. 37-48. 18 | Vgl. Hans J. Reichhardt: …bei Kroll 1844 bis 1957. Etablissement. Ausstellungen. Theater. Konzerte. Oper. Reichstag. Gartenlokal, Berlin 1988; Thomas Wiecke: Vom Etablissement zur Oper. Die Geschichte der Kroll-Oper, Berlin 1993. 19 | Friedrich Gindler/O. Stephan: Die Weltstadt Berlin. Sehenswürdigkeiten und Denkmäler, Einrichtungen und Umgebung der Stadt Berlin, Berlin 1893, S. 80. 20 | Tatsächlich habe ich bisher keine einzige Darstellung der Siegessäule gefunden, auf der keine Menschen abgebildet sind. 21 | K[arl] Baedeker: Mittel- und Nord-Deutschland. Handbuch für Reisende, Leipzig 181878, S. 64. Einen eigenen Baedeker für Berlin gab es erst einige Jahre später. Die Doppelung Friedensallee vs. Siegesallee, die ein wenig westlich verlief, verweist auf die deutschlandweit errichteten Denkmäler für die Einigungskriege, die beinahe synonym Sieges- oder Friedens-Denkmäler hießen.

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der Reichshauptstadt« und als etwas Besonderes in der Stadt Berlin den Reisenden empfohlen.22

Abb. 2: Die Siegessäule und die Westseite des neuen Reichstagsgebäudes. Zu sehen ist die Säule, umringt von zahlreichen kleinen (und unverhältnismäßig stark kleiner werdenden) Figurengruppen, in ihrem parkähnlichen Umfeld. Während einerseits die vielen Menschen bemerkenswert sind, ist andererseits die Darstellung der Säule selbst von Interesse: Durch den gewählten Blickwinkel und die kaum akkurate Perspektive wirkt das Denkmal größer und scheint sogar die ›Skyline‹ der Stadt zu dominieren. 22 | Ebd., S. 1.

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Es ist diese Doppelcodierung des Königsplatzes zugleich als dynastisch-nationaler Repräsentationsort, der an militärische Siege erinnern sollte und als bürgerlich-offener Flanierort als Teil des innerstädtischen Naherholungsgebietes Tiergarten, die das Ensemble zu einem Stellvertreter für eine Entwicklung der Stadt machte, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Es wurde immer mehr zu einer Besonderheit der Stadt, dass sie Dichte erzeugt und somit Vielfalt und Auswahl ermöglicht – dies ist ein zentraler Aspekt städtischer Kultur und Urbanität.23 Spätestens mit dem immensen Urbanisierungsschub des 19. Jahrhunderts entstanden nicht nur neue und immer größere Städte, Industrieanlagen und Arbeitersiedlungen, vielmehr wurden auch besondere Seiten jeder Stadt, Schönheiten und Spezifika, wie Parks, die umgebende Landschaft oder pittoreske Gebäude überhaupt erst entdeckt. Im Anschluss an eine unzweifelhafte Verdichtung von Möglichkeiten in der Stadt bekam im Zuge dessen auch der physische Raum zwischen den nutzbaren Orten, etwa der Königsplatz jenseits der Siegessäule, eine eigene Rolle zugeschrieben. Die Stadt ist nicht mehr nur die Summe ihrer Angebote; der Stadtraum wird selbst, zusätzlich zu und unabhängig von den Angeboten zu einem Ort von eigenem Recht. Aus dem Stadtraum, dem öffentlichen, zuvor unbenutzten oder als unbenutzt begriffenen Raum, wird ein eigener, spezieller Ort.24 Dieser ist es, der die besondere Qualität der Stadt jenseits ihrer eindeutig identifizierbaren und mit festen Funktionen versehenen Orte ausmacht. Straßen, Wege, Gassen, neu angelegte Bürgersteige, Plätze, öffentlich zugängliche Parks werden zu einem positiv konnotierten Aspekt von Städten und deren Wahrnehmung. Seit dem 19. Jahrhundert benutzen Menschen dementsprechend die vormals undefinierten Räume der Stadt auf neue Art, etwa die Straßen, nicht mehr allein, um sich fortzubewegen, zu handeln, Müll zu entsorgen. Stattdessen wurden sie um ihrer selbst willen genutzt, zur Rekreation, zum Spazieren, Sehen, Zeigen; ›Flanieren‹, nicht als eigentliche Tätigkeit, wohl aber als Diskurs und gesellschaftliches Ereignis, war erfunden.25 Das Bewegen im Stadtraum bekam zunehmend eine eigene Bedeutung und ein Eigenleben, es gab bald immer mehr ›Flaneure‹. Diese waren laut Walter Benjamin Stadtbewohner, die die spezifische Qualität des Städtischen zum ersten Mal bewusst und unverhohlen auszunutzen trachteten, indem sie nichts taten, als (absichtlich langsam) im von ihnen neu gesehenen Stadtraum zu spazieren.26 23 | Vgl. hierzu allgemein: Richard T. LeGates/Frederic Stout (Hg.): The City Reader, London 2005. Hier insbes. Part 2. Auch: Heinz Schilling (Hg.): Urbane Zeiten. Lebensstilentwürfe und Kulturwandel in einer Stadtregion, Frankfurt a.M. 1990. 24 | Siehe hier: Andrew Lees/Lynn Hollen Lees: Cities and the Making of Modern Europe, 1750-1914, Cambridge 2007, S. 223-225. 25 | Nancy Forgione: »Everyday Life in Motion. The Art of Walking in Late-Nineteenth-Century Paris«, in: The Art Bulletin 87 (2005), Nr. 4, S. 664-687. 26 | Dieser kulturellen Figur nachzuspüren ist ein großer Teil der Aufgabe Walter Benjamins: Das Passagen-Werk hg. v. Rolf Tiedemann., 2 Bde., Frankfurt a.M. 1982.

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Genau einen solchen Raum, offen, begehbar und mit symbolischen Funktionen versehen, stellte der Berliner Königsplatz nach dem Bau der Siegessäule dar. Und so beschreibt ihn auch Benjamin selbst, wenn er sich den »weiten Platz« mit seinen »breiten Stufen« in Erinnerung ruft.27 Der Platz wurde durch seine weitflächige, zugängliche Anlage und seine Position in der Stadt zur potentiellen Bühne der Menschen, die in Berlin lebten. Hier konnte man zugleich spazieren, sich entspannen, sich darstellen – er war eine Bühne in der Stadt, auf der man sich den Städtern präsentieren konnte und wollte. Zugleich war der Königsplatz damit aber auch eine Bühne für die neue Attraktivität der Stadt, auf der vermittelt wurde, wie schön und angenehm selbst ein großer Industriestandort wie Berlin sein konnte.

D ER NATIONALE P L AT Z : P OLITIK UND M ILITÄR Das Spazieren der Berliner auf der Bühne Königsplatz, die Selbstvorführungen der Städter im öffentlichen Raum fanden im Kontext eines Denkmals statt, das vor allem eine politische Funktion, die Selbstdarstellung des Staates, hatte. In diesem Sinne war der Platz eine komplexe Bühne, die zugleich Aussage- und Aushandlungsfunktionen für das diffizile Gefüge des deutschen Nationalstaates hatte. Zuerst erinnerte die auf Geheiß des preußischen Königs gebaute und mit preußischen Geldern bezahlte Siegessäule an die drei Kriege, die zur Gründung des ersten deutschen Nationalstaates führten.28 Genau hierin, im Zweierpaar Preußen und Deutschland, spiegeln sich bereits die divergenten Ansprüche und Erwartungen an den noch jungen Staat, denn zum Zeitpunkt seiner Gründung war es noch keineswegs eindeutig, was ein Deutsches Reich sein würde.29 Ein besonderes Symbol hierfür fand sich in der Siegessäule selbst. Die unterschiedlichen Interpretationen der sie abschließenden Goldfigur wirken wie ein Brennglas der Anforderungen und Einstellungen gegenüber dem in Versailles gegründeten Staat. Die Figur war je nach Standpunkt eine Viktoria,30 die Allegorie des Sieges, eine 27 | Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt a.M. 2006, S. 16-17. 28 | Zu den später so genannten »Einigungskriegen«: Geoffrey Wawro: The Austro-Prussian War. Austria’s War with Prussia and Italy in 1866, Cambridge 1996; ders.: The Franco-Prussian War. The German Conquest of France in 1870-1871, Cambridge 2003. 29 | Man denke insbes. an: James J. Sheehan: »What Is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography«, in: Journal of Modern History 53 (1981), Nr. 1, S. 2-23. Auch: David Blackbourn: History of Germany 1780-1918. The Long Nineteenth Century, Oxford 2005; James J. Sheehan: German History, 1770-1866, Oxford 1993. 30 | Vgl. Hermann Hoffmeister: Das National-Siegesdenkmal der Deutschen Kaiserstadt in Photographie nebst einer volksthümlichen Darstellung des Entwicklungsvorganges der dem Berliner neuen Siegesdenkmal zu Grunde liegenden deutschen Einheitsidee. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk, Berlin 1873, hier S. 7.

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Borussia,31 die Verkörperung Preußens, was aus der Siegessäule letztlich ein Denkmal des zerklüfteten Nationalstaats und des Föderalismus machte, oder sie war eine Germania,32 die Personifikation eines geeinten Nationalstaats. Durch diese widersprüchlichen Deutungsmöglichkeiten fällt es schwer, das Denkmal auf dem Königsplatz als ein Nationaldenkmal zu klassifizieren.33 Während die Siegessäule durchaus in Bau, Gestalt und Gepräge an viele andere Berliner Denkmäler erinnert und mit vielen Monumenten wichtige Eigenschaften teilt, etwa die zentrale Rolle des Monarchen, das Berufen auf Religion oder den expliziten Borussismus,34 lassen sich zugleich verschiedene, ineinander verschraubte Wege, dieses Denkmal zu deuten, erkennen. Diese sich vordergründig widersprechenden Interpretationen der Säule ermöglichen es, das – durchaus schwierig und zwiespältig zu nennende – Selbstverständnis und die Selbstrepräsentation des deutschen Nationalstaates, gerade in den Gründungsjahren, näher zu beleuchten. Weiter geben diese Überlegungen Aufschluss über die besondere Rolle und Konstruktion des Königsplatzes, der hier als Bühne für die Selbstrepräsentation dieses werdenden deutschen Staates verstanden werden soll. Denn während die verschiedenen Deutungsansätze, etwa Preußen versus Deutschland, als konkurrierend erschienen und erscheinen, so wurden sie doch gemeinsam in den Symbolgehalt der Siegessäule integriert. Ein gutes Beispiel für diese Kombination von scheinbar Gegensätzlichem ist die von außen betrachtet explizit preußische Planung der Feierlichkeiten zur Enthüllung des Denkmals im September 1873, am zweiten Jahrestag des Sieges bei Sedan. Die Armee war angetreten, Zuschauertribünen und ein Pavillon für die Fürstlichkeiten errichtet, die preußische Politprominenz war versammelt, um auf Wink des Kaisers die provisorische Verhüllung fallen zu sehen und kollektiv in lautes ›Hurrah‹ auszubrechen.35 Die zuständigen preußischen Behörden verzichteten darauf, Abordnungen aus anderen deutschen Teilstaaten oder Vertreter der anderen Teile der Armee des Deutschen Reiches einzuladen. Stattdessen konzen31 | Etwa: Provinzial-Correspondenz Jg. 11, Nr. 36, 4.9.1873. 32 | Etwa: Dioskuren Jg. 18, Nr. 35, 28.9.1873. 33 | Im klassischen Aufsatz von Nipperdey spielt die Siegessäule dementsprechend kaum eine Rolle, sie sei einzig »in gewisser Weise […] ein Nationaldenkmal«: Thomas Nipperdey: »Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert«, in: ders. (Hg.): Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 133-173, hier S. 142. 34 | Helke Rausch: Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London, 1848-1914, München 2006, S. 671-673. 35 | W. Wassermann: Die Enthüllung des Sieges-Denkmals zu Berlin am 2. September 1873. Vollständige Darstellung der Geschichte und Ausführung des Denkmals, seiner Reliefs und Gemälde, sowie der Enthüllungsfeierlichkeiten, Berlin 1873. Siehe auch: J.L. Fernbach: Illustrierte Festzeitung zur Enthüllung der Sieges-Säule am 2. September 1873, Berlin 1873.

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trierte man sich komplett auf das preußische Militär und begründete dies gerade nicht mit preußisch-partikularen Argumenten, sondern mit deutsch-nationalen: Rücksichtnahme auf die Animositäten der Teilstaaten, die in einem der drei Einigungskriege auch gegen Preußen gekämpft haben, sei das Ziel gewesen.36 Mit einer solchen Darstellung, immerhin war die feierliche Enthüllung der Siegessäule zugleich die ›Premierenveranstaltung‹ auf der Bühne Berliner Königsplatz, war der Versuch verbunden, den neuen deutschen Nationalstaat nach innen als sich vorsichtig zusammenfindendes Gebilde zu zeigen und die preußische Dominanz gleichsam zu untermauern und zu relativieren. Allerdings wurde mit dieser Choreographie eine Institution massiv in den Mittelpunkt gerückt: das preußische Militär. Eine solche militärische Prägung des Platzes und seiner Eröffnungszeremonie erscheint nur folgerichtig, wenn man bedenkt, dass die Armee durch die Einigungskriege unweigerlich im Zentrum der deutschen Nationalstaatsgründung stand. Auch dadurch, dass in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts drei Kriege zu einem deutschen Nationalstaat führten, befanden sich das gesellschaftliche Ansehen und der Symbolwert der Armee auf dem Höhepunkt. Insbesondere der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 fungierte als wichtiger Katalysator auf dem Weg zur Herausbildung einer Nation im Sinne einer deutschen »imagined comunity«:37 Er erschuf in allen am Krieg beteiligten Teilstaaten, die zum deutschen Nationalstaat werden sollten, etwas Gemeinsames, das es vorher so nicht gegeben hatte.38 Vor allem war der Krieg eine Möglichkeit für die bürgerliche Öffentlichkeit, jenseits von Parteigrenzen und ideologischen Gegensätzen das Verbindende des Konzepts Nation als Abgrenzungsgemeinschaft zu artikulieren.39 Zu der enormen Integrationswirkung des Deutsch-Französischen Krieges trug weiter dessen Charakter bei: Der Krieg wurde von den Soldaten und Teilen der Bevölkerung40 zunehmend intensiv erlebt und zugleich nach neuen Regeln geführt.41 Die Wahrnehmung der Armee als integraler Teil der Nation wurde so verfestigt und schuf eine ›Nation vor der Nation‹. Das (preußische) Militär war, auch in Ermangelung genuin nationaler Symbole, zur wichtigsten Pro36 | Siehe hierzu die Festplanungen im preußischen Finanzministerium: GStAPK, HA Rep 151 Finanzministerium I C 8324 Vol. I, Die Siegesdenkmäler zu Berlin, Düppel und Alsen. 37 | Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Oxford 2006. 38 | Vgl. vor allem Nikolaus Buschmann: Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003. 39 | Frank Becker: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001. 40 | Ob man tatsächlich von einer ›Heimatfront‹ im bisher etablierten Verständnis sprechen kann, scheint trotzdem fraglich: Alexander Seyferth: Die Heimatfront 1870/71. Wirtschaft und Gesellschaft im deutsch-französischen Krieg, Paderborn 2007. 41 | Stig Förster/Jörg Nagler (Hg.): On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997.

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jektionsfläche eines deutschen Nationalstaates geworden.42 Der Armee wurde ein Gang von Sieg zu Sieg zum Nationalstaat zugeschrieben. Dies verhalf dem oft als preußisch deklarierten, letztlich aber gesamtdeutschen Militarismus, seinen Weg in die Mitte der gesellschaftlichen Ansehens- und Vorstellungswelt anzutreten.43 In Gestalt der Siegessäule lässt sich dieser Komplex auch in der Mitte der Stadt wiederfinden und wurde integraler Teil ihrer Symbolarchitektur. Der an der Siegessäule ablesbare Zusammenhang von Armee, Stadt und Nation reichte zudem noch weiter. Bereits im Jahr der Reichsgründung wurde Berlin schon einmal zur Bühne eines Schauspiels, das die gleichen Elemente beinhaltete wie die Säule: die Siegesfeierlichkeiten nach dem Deutsch-Französischen Krieg, die im Einzug der Truppen in Berlin im Sommer 1871 ihren Höhepunkt fanden. Diese Parade ist auf einem der vier Bronzereliefs des Sockels der Siegessäule abgebildet, wodurch eine direkte Verbindung zwischen der Stadt und dem Bauwerk hergestellt wird. Dadurch, dass nicht allein die drei gewonnenen Kriege, sondern auch die Feierlichkeiten in der neuen Hauptstadt in die Ikonographie der Säule aufgenommen wurden, wird die lange Zeit umstrittene Stellung Berlins als Hauptstadt des deutschen Nationalstaates von Beginn an gestärkt.44 Der rasante Aufstieg Berlins musste nun auch in nationalen Kategorien gedacht werden: »Deutschland schuf sich Berlin.«45 Und in Berlin wurde eine ideale Bühne für den Nationalstaat geschaffen, die bereits vor ihrer Vollendung auf eine Geschichte erfolgreicher Kriege und eine Tradition von Siegesparaden zurückblicken konnte.

42 | Vgl. etwa Ralf Pröve: Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006, S. 42-44; Becker: Bilder von Krieg und Nation, S. 340-341; John Breuilly: »Nationalism and the First Unification«, in: Ronald Speirs/John Breuilly (Hg.): Germany’s Two Unifications. Anticipations, Experiences, Responses, Basingstoke 2005, S. 101-121, hier S. 113-115. 43 | Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland, 1871-1945, Berlin 2005; siehe auch Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. 44 | Vgl. hier vor allem: Detlef Briesen: »Weltmetropole Berlin? Versuch, sich einem deutschen Mythos über die Zeit zwischen den Weltkriegen empirisch zu nähern«, in: Gerhard Brunn/Jürgen Reulecke (Hg.): Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871-1939, Bonn 1992, S. 151-186; Gerhard Brunn: »Die deutsche Einigungsbewegung und der Aufstieg Berlins zur deutschen Hauptstadt«, in: Theodor Schieder/Gerhard Brunn (Hg.): Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten, München 1983, S. 15-33. Auch: Andreas W. Daum/Christof Mauch (Hg.): Berlin – Washington, 1800-2000. Capital Cities, Cultural Representation, and National Identities, Cambridge 2005. 45 | Immer noch informativ: Hans Herzfeld: »Berlin als Kaiserstadt und Reichshauptstadt, 1871-1945«, in: Friedrich-Meinecke-Institut (Hg.): Das Hauptstadtproblem in der Geschichte, Tübingen 1952, S. 141-170, hier S. 164.

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Aus diesem Kontext der bereits erfolgten Aufführungen auf dem Königsplatz entstand nach der Einweihung der Siegessäule auch ein weiteres verbindendes Element im Kaiserreich: der erste – inoffizielle – Nationalfeiertag, der Sedantag. Die Initiative, diesen Tag einzuführen, ging bereits 1871 von Privatpersonen aus und verlangte den Jahrestag des Sieges bei Sedan als reichsweiten Feiertag zu etablieren.46 Doch erst der Festakt zur Enthüllung des Monumentes auf dem Königsplatz, am 2. September, dem Jahrestag des Sieges bei Sedan, diente als Präzedenzfall wie als Vorbild und machte eine weitreichende Akzeptanz des Tages als Feiertag möglich. Auch wenn er nicht als gesetzlicher Feiertag verankert war, wurde er sehr wohl von vielen Bürgern als solcher angesehen und begangen.47 In den folgenden Jahren wurde in Berlin immer zu diesem Anlass ein Manöver der Gardetruppen abgehalten und so die Bühne des Königsplatzes ausgiebig genutzt und mit einem festen Aufführungskalender versehen. Selbst der 1892 – und damit deutlich nach dem Höhepunkt des in den 1890er Jahren sukzessive durch die Kaisergeburtstagsfeiern verdrängten Sedanfeiertages – geborene Walter Benjamin assoziiert mit der Siegessäule den »ewigen Sedantag«.48 Während jedoch der Sedantag spätestens mit dem Ende des Kaiserreiches endgültig verschwunden war, zeigte ein anderer Teil des Königsplatzes eine deutlich höhere Durabilität. Denn der nächste große Bau, der auf dem Platz errichtet werden sollte, wurde bereits vor Vollendung der Siegessäule geplant und war ein wichtiger Aspekt im Bedeutungskosmos des Nationalstaats: das nationale Parlament, der heute wieder als solches benutzte Reichstag. Bereits ab 1871 wurde der Bau des Parlamentsgebäudes an diesem Ort, gegenüber der entstehenden Säule und neben dem angrenzenden Generalstabsgebäudes, geplant.49 Dieser Standort ist zugleich ein Zeichen für die besondere Stellung des Königsplatzes im neu geschaffenen Bedeutungsgefüge der Stadt Berlin, wie auch ein Sinnbild für die Kräfteverhältnisse im politischen System des Kaiserreichs.50 Denn seit Gebäude mit öffentlichen 46 | Fritz Schellack: »Sedan- und Kaisergeburtstagsfeste«, in: Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 278-297; Ute Schneider: »Einheit ohne Einigkeit. Der Sedantag im Kaiserreich«, in: Sabine Behrenbeck/Alexander Nützenadel (Hg.): Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/71, Köln 2000, S. 27-44. 47 | Jakob Vogel: Nationen im Gleichschritt. Der Kult der ›Nation in Waffen‹ in Deutschland und Frankreich, 1871-1914, Göttingen 1997, S. 145. 48 | Benjamin: Berliner Kindheit, S. 17. 49 | Siehe etwa Michael S. Cullen: Der Reichstag. Die Geschichte eines Monumentes, Berlin 1983. 50 | Einen guten Einstieg in diese ewige Debatte liefern: Margaret Lavinia Anderson: »Reply to Volker Berghahn«, in: Central European History 35 (2002), Nr. 1, S. 83-90; Volker Berghahn: »The German Empire, 1871-1914. Reflections on the Direction of Recent Research«, in: Central European History 35 (2002), Nr. 1, S. 75-81.

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Funktionen am Königsplatz angesiedelt wurden, dominierte hier die militärische Erinnerung an die Gründung der Nation – bei Abendsonne stand selbst der Reichstag zum Teil im Schatten der Siegessäule. Die oftmals als Kulissen gebrauchten Gebäude auf der und um die Bühne Königsplatz waren vielfältig und widersprüchlich, fügten sich zugleich aber in ein komplexes Gesamtbild, das den diffizilen Zusammenhang aus Preußen und Deutschland, Staat, Nation und Armee im deutschen Nationalstaat versinnbildlichte. Mit den dominierenden Gebäuden des Platzes, der Krolloper im Westen, dem Reichstag im Osten und der Siegessäule in der Mitte, war eine vielfältige Szenerie entstanden, die unterschiedlichen Repräsentationen Platz bot. Während der Platz im frühen Kaiserreich durch die enge Verknüpfung mit dem Sedantag und den in der Folge in Berlin abgehaltenen Gardeparaden mit einem spezifisch militärischen Repertoire bespielt wurde, entwickelten sich später zunehmend andere Nutzungen. Mit der wachsenden Bedeutung der Institution des Reichstages etwa wurde der Königsplatz auch vermehrt für politische Demonstrationen benutzt – ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung wohl mit der Ausrufung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg am 9. November 1918 durch Phillip Scheidemann. Er hielt seine bahnbrechende Rede vom Reichstag aus einer unüberschaubaren, auf dem gesamten Königsplatz versammelten Menge. Im Übrigen war damit der Platz um die Siegessäule die Bühne für die letzte offizielle Aufführung des Kaiserreiches – und selbst diese fand, durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedingt, unter militärischen Vorzeichen statt.

D ER GLOBALE P L AT Z : W ELTSTADT UND I MPERIUM Auf dem Königsplatz in Berlin liefen verschiedene Bedeutungsstränge zusammen, die nicht ohne einen transnationalen und globalen Blickwinkel zu erklären sind. Ohne den Bezug auf faktische und phantasierte imperiale Konstellationen kann man den Platz und die Siegessäule auf ihm nicht angemessen deuten – zugleich ermöglichen solche Überlegungen aber auch Rückschlüsse auf das »transnationale« Kaiserreich.51 Der Platz im Herzen Berlins, so wird erkennbar, war auch eine Bühne mit globalem Anspruch und ist eng verknüpft mit Entwicklungen, die über den deutschen Nationalstaat hinausreichten. Einerseits hatte alles auf dem Königsplatz eine national-militärisch codierte Seite, vom privat-patriotischen Vergnügen unter der Siegessäule bis hin zur regelmäßigen Selbstrepräsentation des Nationalstaates auf dem weitläufigen Areal. Dies galt in gleichem Maße für das 1901 fertiggestellte Bismarckdenkmal, 51 | Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004. Und hierin insbes. den abschließenden Aufsatz von David Blackbourn: »Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze«, S. 302-324.

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das zwischen Reichstag und Säule errichtet wurde. Bismarck wurde hier ganz in der Tradition seines Bonmots als Gründer des Reiches aus ›Blut und Eisen‹ dargestellt, als »super-statesman embodying the mighty, united, warlike nationstate«.52 Er trägt seine Kürassieruniform, einen Helm, und an seiner Seite hängt ein Säbel. Um den Sockel der Bismarckstatue sind drei weitere Figuren gruppiert, von denen mittig, in Richtung der Siegessäule weisend, ein Atlas hervorsticht, der sich tief unter die Weltkugel beugt. Er legt dem Geehrten den Globus zu Füßen, den dieser mit nur einem kleinen Stoß zum Siegesdenkmal hinüberrollen könnte. Andererseits kann dieses kleine Detail zum Ausgangspunkt einer großen Frage genommen werden. Denn warum zeigt ein Denkmal im Herzen der Berliner Symbolarchitektur, auf einem Platz, an dem, wie bereits gezeigt werden konnte, sich die verschiedenen Fasern des komplexen Gewebes des deutschen Nationalstaates miteinander verbinden, eine Weltkugel? Erklärungen außer Acht lassend, die auf die Bedeutung der Figur in der griechischen Mythologie verweisen, soll an dieser Stelle die Bismarck zu Füßen gelegte Welt als Hinweis auf die dritte Bühne begriffen werden, als die der Königsplatz fungierte: die Bühne für die Welt. ›Welt‹ soll in diesem Zusammenhang vereinfacht als der physische Globus verstanden werden, der von den Zeitgenossen in seiner Ende des 19. Jahrhunderts neuen Verfügbarkeit53 immer wieder neu gedacht, beschrieben und diskutiert wurde. Zum Zeitpunkt des Baus der Siegessäule begannen die Menschen in Deutschland in globalen Zusammenhängen zu denken und zu handeln, es gab Orte, an denen man unweigerlich immer wieder an über Grenzen reichende, europäische und weltweite Verknüpfungen erinnert wurde.54

52 | Frank Lorenz Müller: »Man, Myth and Monuments. The Legacy of Otto von Bismarck (1866-1998)«, in: European History Quarterly 38 (2008), Nr. 4, S. 626-636, hier S. 632. Siehe auch: Wolfgang Hardtwig: »Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914«, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 269295, insbes. S. 290-292. 53 | Siehe hier Osterhammel: Verwandlung der Welt, insbes. das Kapitel »Raum«. Man beachte auch, dass der Roman der Globalisierung des 19. Jahrhunderts, Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt, in dem Jahr erschienen ist, in dem auch die Siegessäule eröffnet wurde, 1873. 54 | Vgl. allgemein als Anregungen zum Verständnis der Auswirkungen einer sich globalisierenden Welt: Sebastian Conrad: »Globalization effects. Mobility and nation in Imperial Germany, 1880-1914«, in: Journal of Global History 3 (2008), Nr. 1, S. 43-66; ders.: »Transnational Germany«, in: James Retallack (Hg.): Imperial Germany 1871-1918, Oxford 2008, S. 219-241; Bradley D. Naranch: »Inventing the Auslandsdeutsche«, in: Eric Ames/ Marcia Klotz/Lora Wildenthal (Hg.): Germany’s Colonial Pasts. Emigration, Colonial Fantasy, and German National Identity, 1848-1871, Lincoln, Nebraska 2005, S. 21-41.

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Abb. 3: Fotografie des Bismarckdenkmals vor dem Reichstag. Mittig unter Bismarck ist der Atlas mit der Weltkugel zu erkennen. Zudem sind zahlreiche Menschen abgebildet, die um das Denkmal herumlaufen und die elegant gekleidet sind, als würden sie einen sonntäglichen Ausflug machen. Für eine globalisierte Bühne Königsplatz gibt es vor allem zwei Blickrichtungen, die Beachtung finden müssen. Einerseits kann man Einflüsse der Welt auf den Platz selbst – und dann auch auf Berlin und auf Deutschland – nachvollziehen. Andererseits lässt sich dieser Ort begreifen und beschreiben als eine Bühne, auf der sich die Stadt und der Nationalstaat der Welt gegenüber darstellten. Dementsprechend ist hier an die Doppelcodierung der Stadt als Bühne in der an Geschwindigkeit gewinnenden Globalisierung zu erinnern: Eine Stadt kann in einem reziproken Prozess zugleich auf und vor der Bühne stehen. Genauer: Äußere Einflüsse aus der ganzen Welt können in der Stadt wahrgenommen, dargestellt und vermittelt werden. Von innen – aus der Stadt, der Nation, von bestimmten Interessengruppen – können Aussagen in der Stadt gut und effektiv an eine sich konstituierende Weltöffentlichkeit – an ein gedachtes Außen – kommuniziert werden. Besonders deutlich lässt sich zeigen, dass der Königsplatz und die auf ihm stehende Säule bereits bei ihrem Bau von außen, von der Welt, beeinflusst wurden. Die Siegessäule als großes Bauprojekt – lange Zeit das teuerste Denkmal des deutschen Nationalstaates55 – war zugleich eine Baustelle mit übernationalen Verbindungen. Sie war nicht nur »zusammengetragen aus Baumaterialien der ver-

55 | Alings: Monument und Nation, S. 157.

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schiedensten deutschen Länder«,56 sondern zu ihrer Fertigstellung wurden zudem auch Teile aus ganz Europa, so etwa Schweden, Österreich-Ungarn und Italien, angekauft. Ebenso haben Handwerker aus verschiedenen Ländern am Bau teilgenommen, oftmals, weil man ihr spezielles Wissen benötigte; bestes Beispiel ist ein Glasmosaiksetzer von der venezianischen Insel Murano. Darüber hinaus erinnert das fertige Denkmal als Ganzes in seiner Funktion als Siegessäule daran, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates selbst ein transnationaler Akt war,57 der an Orten in Dänemark, dem habsburgischen Böhmen und Frankreich vollzogen wurde. Diese Orte jenseits der Grenzen des Nationalstaates wurden in der Folge im kollektiven deutschen Gedächtnis als nationale Erinnerungsorte verankert. Zudem verweist eines der am Sockel angebrachten Bronzereliefs darauf, dass es sich nicht einmal um eine allein von Europäern ausgetragene Serie von Konflikten handelte.58 Denn auf dem Relief zum Deutsch-Französischen Krieg sind Afrikaner dargestellt: Zuaven und Turkos, französische Kolonialsoldaten.59 Diese finden sich ebenfalls auf dem säulenumgebenen Innengemälde. Hier sollen sie »den Ueberfall der Germania durch die Franzosen und die afrikanischen Horden in ihrem Dienst dar[stellen]«.60 Betrachtet also der Spaziergänger die Siegessäule aufmerksam, so sieht er mehr als einen deutschen Sieg, er kann diesen vielmehr umgehend in einen transnationalen, globalen Kontext von europäischer Imperienbildung und erzwungener Migration einordnen. Die Abbildung von französischen Kolonialsoldaten kann dabei als mehrdeutige Chiffre verstanden werden: Sie ist zugleich allgemein als Faszination für das Fremde, Exotische zu sehen61 und auch als neidvoller Bezug auf das Empire des ›Erzfeindes‹ zu bezeichnen.62 56 | Hoffmeister: National-Siegesdenkmal, S. 19. 57 | Siehe hier: Katherine Anne Lerman: »Bismarckian Germany«, in: James Retallack (Hg.): Imperial Germany 1871-1918, Oxford 2008, S. 18-39; vgl. allgemein auch: Stefan Berger/Aleksey Miller: »Nation-Building and Regional Integration, c. 1800-1914. The Role of Empires«, in: European Review of History 15 (2008), Nr. 3, S. 317-330. 58 | Bereits in der Reichsgründung zeigt sich somit exemplarisch, was für das spätere Kaiserreich bereits häufig attestiert wurde: »Deutsche Geschichte fand keineswegs nur innerhalb der Grenzen des Nationalstaats statt. Zugleich blieb die Welt nicht außerhalb, sondern reichte tief in die deutsche Gesellschaft hinein.«, Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 7. 59 | Der Topos des (französischen) Kolonialsoldaten zieht sich weiter durch die deutsche Geschichte, vgl. etwa: Christian Koller: ›Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt‹. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonialund Militärpolitik (1914-1930), Stuttgart 2001. 60 | Provincial Correspondenz 4.9.1873. 61 | Vgl. Alexander Honold/Klaus Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart 2004; Kristin Kopp/Klaus Müller-Richter (Hg.): Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart 2004. 62 | Allgemein: Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen

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Abb. 4: Ausschnitt des Bronzereliefs an der (ehemaligen) Westseite des Sockels der Siegessäule. Es ist dem Deutsch-Französischen Krieg gewidmet und an dieser Stelle ist die Kapitulation der kaiserlich französischen Armee durch General Reille gegenüber Wilhelm I. und dem preußischen Kronprinz dargestellt. Links und rechts neben dem Standartenträger erkennt man französische Kolonialsoldaten, von denen die beiden direkt neben dem Träger als Schwarzafrikaner dargestellt sind. Denn während insbesondere das noch junge Kaiserreich lange Zeit nach der Vorgabe Bismarcks als in kolonialen Fragen ›saturiert‹ galt, zeigte sich doch das große Interesse der Zeitgenossen an der weiten Welt außerhalb der neu entstandenen Grenzen.63 Zahlreiche Zeitschriften wie die Gartenlaube und Globus berichteten aus aller Welt, Bücher mit ›exotischen‹ Geschichten verkauften sich gut, deutsche Geschäftsleute agierten global, und in der Öffentlichkeit wurde begonnen, von überseeischen Besitzungen zu träumen.64 Und in diesem Zusammenhang wurden in den 1870er Jahren auch die Ambition des deutschen Nationalstaates zur Machtausübung und Hierarchiebildung im internationalen Maßstab deutlich: Die Reichsgründung galt vielen Deutschen nur als ein erster Schritt hin zu einem größeren deutschen Empire; das wurde insbesondere unter der Regentschaft Wilhelms II. ab den 1890er

Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. 63 | Vgl. etwa Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. 64 | Matthew P. Fitzpatrick: »Imperialism from Below: Informal Empire and the Private Sector in Nineteenth-Century Germany«, in: Australian Journal of Politics and History 54 (2008), Nr. 3, S. 358-372.

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Jahren offenkundig.65 Der tatsächliche Erwerb von ›Schutzgebieten‹ in Übersee ab 188466 ist so besehen nur ein logischer Schritt in einer älteren Tradition.67 Diese wurde auch sichtbar, als der Kaiser anlässlich der Eröffnung der Siegessäule betonte, dass »ein Deutsches Reich […] seinen Platz auf der Bühne der Welt« nun eingenommen habe, zu behalten gedenke und zudem gezeigt habe, dass es durchaus nicht vor dem »Schwertstreich« zurückschrecke68 – Artikel, die die Eröffnung der Siegessäule Revue passieren ließen, klangen keineswegs ›saturiert‹. Zugleich deutete sich bereits in den Gründerjahren der doppelte Charakter im deutschen Streben nach einem Empire an, denn neben den Interessen in Übersee blickten viele Akteure vor allem nach Osten und dachten an ein kontinentales Reich. Dass jedoch gerade dieses durch die Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 bereits in weiten Teilen Realität geworden war,69 dafür stand letztlich auch die Siegessäule. Sie erinnert an einen Sieg, der unter anderem die östlichen Provinzen Preußens und damit Millionen sich als Polen, Masuren, Kaschuben begreifende Menschen in einen deutschen Nationalstaat integrierte,70 und war ein Denkmal, das insbesondere mit Sandstein aus dem polnisch geprägten Schlesien erbaut wurde. Beides sind zaghafte, in der Siegessäule zu erkennende Symbole für das Deutsche Reich als kontinentales, multiethnisches Empire.71 Eine mit der Reichsgründung Realität gewordene Variation von ›Bismarcks Imperialismus‹ war damit bereits auf dem Königsplatz sichtbar, lange bevor es Kolonien in Afrika gab.72 65 | Siehe etwa die Hinweise bei Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 214-215; Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007, S. 45-47. 66 | Vgl. Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 2000. 67 | Vgl. etwa Matthew P. Fitzpatrick: »A Fall from Grace? National Unity and the Search for Naval Power and Colonial Possessions 1848-1884«, in: German History 25 (2007), Nr. 2, S. 135-162; Naranch: »Inventing Auslandsdeutsche«. 68 | Provincial Correspondenz 6.9.1873. 69 | Vgl. Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, Bonn 2007. Dieser interpretiert die Reichsgründung als Expansionsprozess Preußens; Deutschland ist damit das preußische Empire. 70 | Helmut Walser Smith: »An Preußens Rändern oder: Die Welt, die dem Nationalismus verloren ging«, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 149-169. 71 | Siehe vor allem Phillip Ther: »Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire«, in: Conrad/ Osterhammel (Hg.): Das Kaiserreich transnational, S. 129-148. Vgl. auch: Kristin Kopp: »Constructing Racial Difference in Colonial Poland«, in: Ames/Klotz/Wildenthal (Hg.): Germany’s Colonial Pasts, S. 76-96. 72 | Zur weiteren Entwicklung der kolonialen Aspekte in Berlin siehe: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002.

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Diese Verknüpfung der Siegessäule auf dem Königsplatz mit weiterreichenden europäischen und globalen Zusammenhängen weist allerdings auch auf die zweite Funktion des Platzes als Bühne hin. Denn der Blick auf die Welt war ein wichtiger Aspekt im zeitgenössischen Diskurs über das Denkmal. Dieses wurde als Bühne des neu entstandenen Nationalstaates in der Welt begriffen. Für die Berliner, die die Säule diskutierten, schien es das Wichtigste an dem Bauwerk zu sein, dass es das größte seiner Art auf der Welt war. In einem immer wiederkehrenden Vergleich befassten sich die Zeitgenossen damit, wo die höchste, beste Säule zu finden sei, wobei als Maßstab die Trajans-Säule in Rom, die Vendôme-Säule in Paris und die Trafalgar-Säule in London herangezogen wurden. So hielt etwa die Deutsche Bauzeitung in Bezug auf die Siegessäule fest: »Mit dieser Höhe überragt das Denkmal alle mit ihm etwa in Parallele zu stellenden Monumente […]. Nahezu gleichhoch ist die Trafalgar-Säule in London, […] doch erscheint dieselbe schwächlich gegenüber den Maassen unseres Siegesdenkmals.«73 Solche Vergleiche sind Elemente des in Berlin seit den 1860er Jahren nachweisbaren Weltstadtdiskurses.74 Vor allem das Berliner Bürgertum versuchte im Kaiserreich intensiv, die Größe und überstaatliche Bedeutung Berlins herauszustellen,75 um so nicht nur die eigene Stadt, sondern auch den Nationalstaat auf einer internationalen Bühne sichtbar zu machen. Berlin als »eine Weltstadt ersten Ranges« war immer auch verbunden mit der »Liebe zu unserer Heimat und zu unserem teueren Vaterlande«.76 Die Stadt Berlin wurde so in einem nationalen Projekt positioniert, das eindeutig imperiale Züge trug. Die Hauptstadt Deutschlands sollte zu den bedeutenden Metropolen der Zeit gehören, sollte eine vergleichbare Größe und einen ebenbürtigen Rang bekommen, sollte Ausstrahlung und Anziehungskraft besitzen, wie etwa London und Paris, die Hauptstädte der wichtigsten europäischen Nationalstaaten. Was Berlin aus der Sicht vieler Zeitgenossen noch fehlte, war die Akzeptanz als eine Stadt, die globale Hierarchien dominierte und als ›imperial city‹ das Zentrum eines Empires war.77 Die Aufführungen auf der Bühne Königsplatz zeigten, dass alle Elemente, die eine wichtige Stadt in der Welt ausmachten, wie etwa Größe, Macht und Einfluss, bereits im Ansatz vorhanden waren. Allerdings wurden sie 1873 noch zurückhaltend kommuniziert und daher die Einweihung der Siegessäule 73 | Deutsche Bau-Zeitung, 4 (1873), Nr. 35. 74 | Benedikt Goebel: Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum. Planungs-, Bau- und Besitzgeschichte des historischen Berliner Stadtkerns im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 41-42. 75 | Vgl. auch: Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 2000, S. 37. 76 | Gindler/Stephan: Weltstadt Berlin, S. 150, Vorwort. Siehe auch S. 173. 77 | Zentral: Felix Driver/David Gilbert (Hg.): Imperial Cities. Landscape, Display and Identity, Manchester 1999.

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im Ausland kaum wahrgenommen – denn wie die restlichen deutschen Staaten waren auch internationale Teilnehmer nicht zu den Eröffnungsfeierlichkeiten eingeladen. Diese Bescheidenheit veränderte sich jedoch im Laufe der Zeit, und die bereits auf dem Königsplatz vorhandenen Gebäude lieferten zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein deutlicher artikuliertes Anspruchsdenken im globalen Maßstab. Als ein erstes Indiz der abgelegten Zurückhaltung könnte bereits die gewaltige Darstellung Bismarcks über der Weltkugel dienen, doch die weiteren baulichen Pläne für den Königsplatz wurden noch eindeutiger. So wurden ab 1910 Überlegungen angestellt, den Platz zum »Forum des Deutschen Reiches« auszubauen, mit einem eindeutigen Ziel: »Die Verherrlichung nationaler Größe zum Ruhme unseres Vaterlandes! [In] eine[r] Bauanlage, wie sie grossartiger in der ganzen Welt nicht zu finden sein wird!«78 Während der Phase der »Weltpolitik«79 musste auch die imperiale Metropole Berlin weiter geplant werden – und zwar als beeindruckende Bühne, auf der man aufwendigere Aufführungen inszenieren konnte. Realisiert wurden diese Pläne jedoch nicht, sondern durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert.

F A ZIT : D IE KOMPLE XE B ÜHNE . B ERLINER K ÖNIGSPL AT Z ALLERORTEN In diesem Aufsatz wurde vorgeschlagen, einen Ort in der Stadt – den Berliner Königsplatz – unter drei verschiedenen Blickwinkeln, einem lokalen/städtischen, einem nationalen und einem globalen, als Bühne zu betrachten. Auf diesem Weg sollte aufgezeigt werden, in welche verstrickten Bedeutungszusammenhänge ein solcher Ort eingebunden sein kann und dass eine Analyse nur eines Aspektes allein womöglich zu kurz greift. Dabei wurde deutlich, dass in Berlin, einer nach europäischen Verhältnissen jungen und vor allem erst spät internationale Bedeutung erringenden Stadt, bereits zu einem frühen Zeitpunkt, um 1873, als die Siegessäule eröffnet wurde, für das 19. Jahrhundert wichtige Prozesse aufeinandertrafen. Zum Ersten zeigt sich gerade in Berlin durch das faktische ›Explodieren‹ der Stadt in Bezug auf Einwohnerschaft und Flächenausdehnung deutlich, dass es sich, befeuert von der immer weiter an Fahrt gewinnenden Industrialisierung, um 78 | Felix Wolff: »Das Forum des Deutschen Reiches«, 1910/15, in: GStAPK, HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 28662, Bl. 212-214. 79 | Siehe: Gregor Schöllgen: Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute, Bonn 2005. An dieser Stelle immer noch instruktiv: Theodor Schieder: »Nationalismus und Imperialismus – Triebkräfte einer Epoche (1848-1914)«, in: ders.: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1991, S. 113-127; ders.: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Göttingen 1992.

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die absolute Hochphase des Stadtwachstums und der Urbanisierung handelte.80 Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Zeitgenossen sich in neuer Weise der Stadt selbst, ihrer Größe, Bedeutung, Schönheit, Möglichkeiten und Probleme bewusst – ein bis heute anhaltender Diskurs über Stadt begann.81 Der Stadtraum wurde als eigener, neuer Wert genutzt, und Denkmäler wie die Siegessäule mussten zu ihrem baulichen Umfeld integrativer und interaktiver gestaltet werden, damit sie benutz- und erfahrbar werden konnten. Zum Zweiten findet sich im gerade zur Hauptstadt des Deutschen Reiches gewordenen Berlin anno 1873 beispielhaft das Jahrhundert von Nationalismus und Nationalstaat wieder.82 An kaum einem anderen Ort wird zugleich so sehr um eine nationale deutsche Identität gerungen und diese im gleichen Moment idealtypisch verkörpert wie in Berlin. Der Königsplatz wird in diesem Prozess zu einem Ort, an dem sich die verschiedenen Entwicklungen wie durch ein Brennglas bündeln. Zugleich wird an seinem Beispiel aber auch deutlich, dass scheinbare Gegensätze in der politischen Debatte, etwa Ideen von ›Preußen‹ und ›Deutschland‹, durchaus zusammen auf einer Bühne repräsentiert werden konnten. Zum Dritten lässt sich auch das »Age of Empire«,83 die in jüngster Zeit intensiv erforschte globalgeschichtliche Konstante des 19. Jahrhunderts,84 im Berlin der Gründerzeit finden. Zwar ist die Stadt an der Spree zu diesem Zeitpunkt vordergründig noch kaum von globalen Zusammenhängen erfasst, zugleich lassen sich alle Facetten von Berlin jedoch kaum mehr in den Blick bekommen, ohne auch die sich zunehmend globalisierende Welt mit zu bedenken. Selbst die oft als vor allem preußisches Ehrenmahl oder als deutsches Nationaldenkmal verstandene Siegessäule,85 erscheint in einem solchen Blickwinkel als ein Bauwerk mit transnationalem Hintergrund und global gedachter Ausstrahlung. Auf diesem Weg verweist der Bau bereits zur Zeit der Reichsgründung deutlich auf die sich immer stärker entwickelnden imperialen Ambitionen des Kaiserreiches. 80 | Vgl. allgemein Wolfgang R. Krabbe: Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Einführung, Göttingen 1989; Lees/Hollen Lees: Cities; Matejewski (Hg.): Metropolen; Jürgen Reulecke: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985. 81 | Ein Beispiel wären das Aufkommen von Großstadtromanen und Großstadtlyrik, vgl. etwa die erste deutschsprachige Anthologie: Heinz Möller (Hg.): Großstadtlyrik, Leipzig 1903. 82 | Allgemein: Henning Borggräfe/Christian Jansen: Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a.M. 2007; Ernest Gellner: Nationalism, London 1997. Mit besonderem Augenmerk auf Deutschland: Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat; Langewiesche: Nation. 83 | Robert Aldrich (Hg.): The Age of Empires, London 2007; Eric Hobsbawm: The Age of Empire, 1875-1914, London 1987. 84 | Um nur die wichtigsten Monographien zu nennen: Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004; Osterhammel: Verwandlung der Welt. 85 | Alings: Berliner Siegessäule.

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Der Königsplatz war eine Bühne für Flaneure und Soldaten, Spaziergänger und Politiker. Er stand im Fokus der städtischen und nationalen Baupläne, wenn es um die Errichtung und Erweiterung der Berliner und deutschen Symbol- und Repräsentierarchitektur ging. Auf ihm und mit ihm wurde versucht, ein bestimmtes Bild des eigenen Nationalstaates an eine gedachte Weltöffentlichkeit zu vermitteln – dadurch war allerdings zugleich dieser imaginierte Globus immer ein Aspekt des Königsplatzes selbst. Durch diese Komplexität und Mehrdimensionalität, die den Königsplatz auszeichnet, lässt sich auch etwas über die Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert aussagen: Bereits einzelne Teile von ihr sind zu vielschichtig, um sie mit einfachen Interpretationen erklären zu können. Jede Geschichte ist verstrickt und komplex zu denken, und es ist gerade ein möglicher, hilfreicher Beitrag der Stadtgeschichte, dass sie all die unterschiedlich verlaufenden Stränge und (Fall-)Stricke an einem Ort untersuchen kann, an dem sie alle zusammenkommen: in der Stadt.86 Zu der Geschichte von Orten in der Stadt gehört es allerdings auch, dass sie ihre Funktionen verlieren oder mit neuen aufzuladen versucht werden. Das Dramatische an der weiteren Geschichte des Königsplatzes ist, dass er eine fast schon paradoxe Entwicklung nimmt. Denn ausgerechnet der Königsplatz stand im Zentrum der nationalsozialistischen Planungen für eine ›Welthauptstadt Germania‹, und die Aufstockung und Drehung der Siegessäule sowie die Umsetzung an ihren heutigen Standort, dem Großen Stern in der Mitte des Tiergartens, gehört zu den wenigen vollendeten Maßnahmen dieses Projekts. Sie musste der überhöhten Idee eines – wiederum als weltgrößten projektierten – Repräsentierbaus an der Spree weichen, der jedoch nie gebaut wurde. Allerdings nahm die Wiederaufstellung der Säule 1938/39 den Menschen in Berlin alle Möglichkeiten zur Flanerie um sie herum. Bis heute ist sie Bühne des großen Umgestalters der Städte im 20. Jahrhundert geblieben und bildet die Kulisse für den sie umkreisenden Autoverkehr.

86 | Vgl. Charles Tilly: »Entanglements of European Cities and States«, in: ders./Wim P. Blockmans (Hg.): Cities and the Rise of States in Europe, A.D. 1000 to 1800, Boulder 1989, S. 1-27; ders.: »What is good Urban History«, S. 702-719.

Periphere Urbanisierung Massenkonzepte der Unterhaltungskultur in Wien und Budapest in den 1920er Jahren Amália Kerekes und Katalin Teller

… in the midst of this sterile wilderness … – Arnold Bennett 1

Einer der Protagonisten in Arnold Bennetts (1867-1931) Roman The City of Pleasure, Ilam, begibt sich des Nachts in einem utopischen London an die Peripherie des Vergnügungsparks, um die Spuren seines Verbrechens, eines mysteriösen Mordes, zu beseitigen. Das hier entfaltete Szenenbild zeigt dabei sehr genau die Kontraste dieses urbanen Ortes. In unmittelbarer Nachbarschaft des so genannten Amusement Parks, einer gigantischen Illusionsfabrik, in der die beiden finanziell und medial kapitalstarken Protagonisten ihr atemberaubendes Spektakel zur Berauschung, Manipulation und Unterjochung der Massen zeigen, liegt eben jene »sterile Wildnis«, die sowohl als praktische wie auch moralische ›Abfallgrube‹ der neu entstehenden Stadt fungiert. Das dem Verfall anheimgegebene, einst dem Stadtgefüge organisch eingegliederte Areal steht symbolisch für die Nebenwirkungen der Wandlungen städtischer Raumnutzung, wobei sich Aufbruch und Niedergang, ideologisch-politische oder rein finanzwirtschaftliche Projekte untrennbar mit den Funktionen von urbanen Räumen verschränken. Obwohl es sich hier um die geheimnisvollen, durch Geld-, Machtgier und Rivalität gelenkten Machenschaften der Romanfiguren handelt, beleuchten jene utopischen Elemente beziehungsweise szenischen Beschreibungen – die die gesteuerte massenhafte Nutzung von Vergnügungsetablissements vor Augen führen – Aspekte der kulturpolitischen Verwertung solcher Areale: Illusionsstiftung, Manipulation und pragmatische Überlegungen prägen die Vergnügungsparks ebenso wie ihre Nutzbarmachung für Repräsentationszwecke. 1 | Arnold Bennett: The City of Pleasure. A Fantasia on Modern Themes, Leipzig 1919 (Collection of British Authors 4529), S. 50.

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Unser Beitrag nimmt in diesem Sinne die massenhafte Inbesitznahme und teilweise organisierte und gelenkte funktionale Umwandlung zweier Gebiete in Budapest und Wien in den Blick: Anhand pressegeschichtlicher Quellen sollen die politischen Regulierungsversuche mit der symbolischen Aufladung der Unterhaltungseinrichtungen des Budapester Stadtwäldchens (Városliget) und des Wiener Praters konfrontiert werden. Der Prater und dessen Pendant, das Stadtwäldchen, galten um 1900 zeitweilig als Orte staatlicher Repräsentation, wodurch ihr Status als Wahrzeichen und die soziale Zusammensetzung ihrer Klientel maßgeblich geprägt wurden. Nach den politischen Umbrüchen um 1919, als beide Unterhaltungsareale mehr oder minder wichtige Schauplätze im kulturellen und politischen Leben beider Städte und in der Freizeitgestaltung der Stadtbewohner waren, zeichneten sich jedoch Tendenzen ab, die sowohl Bestrebungen der Depolitisierung als auch die Entstehung einer gänzlich neuen politischen Funktion umfassten. Der Fokus unseres Beitrags richtet sich auf die Veränderungen der sozialen Schichtung des Publikums, auf das Wechselspiel von politischer Ästhetik und dem Interesse der Massen, aber auch auf den Status der Gebiete im urbanen Gefüge und in der Lebensführung der Stadtbewohner.

A N DER S CHNIT TSTELLE DER V OLKS - UND A RBEITERKULTUR Das Budapester Stadtwäldchen, einst ein an der Stadtperipherie gelegenes Jagdgebiet, avancierte 1896 zu einem der zentralen kulturpolitischen Schauplätze der Feierlichkeiten zum 1000. Jahrestag der ungarischen Staatsgründung. Mehrere integrative städtebauliche Maßnahmen wurden zu diesem Anlass vollendet, etwa der Bau der U-Bahn, die zusammen mit der prunkvollen Radialstraße die Verbindung zur Innenstadt gewährleistete. In unmittelbarer Nähe des Stadtwäldchens wurden der Heldenplatz mit seinen mächtigen Statuen mit Motiven aus der Landesgeschichte sowie die Kunsthalle und das Museum für Bildende Künste eingeweiht, um den Staatsfeiern eine würdige Kulisse zu verleihen. Dies rief nicht nur die bereits 1885 im Park veranstaltete erste repräsentative Landesausstellung in Erinnerung, die bereits die Verbindung des Stadtwäldchens mit der nationalen Bildpolitik zur Folge hatte, sondern lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die sozial und kulturell kontrastreichen Funktionalisierungen des Gebiets. Doch nichts prägte die Symbolträchtigkeit des Stadtwäldchens derart wie die Feierlichkeiten zum 1. Mai 1919. Dies war nicht nur die bis dahin größte Massenversammlung in Budapest, an der 600.000 Menschen teilnahmen, sondern auch der erste und gleichzeitig der letzte feierliche Akt der insgesamt nur 133 Tage alt gewordenen Republik. Die zentralen Orte in der Stadt wurden rot eingehüllt und mit Symbolen der Arbeiterbewegung versehen, wobei das Stadtwäldchen zu einer Schnittstelle von zwei scheinbar verschiedenen Ordnungen wurde. Der Heldenplatz, auf dem die Schlüsselfiguren der ungarischen und der österreichisch-ungarischen Geschichte aufwendig mit

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rotem Stoff umhüllt wurden, wobei das magyarische Urväterchen Árpád durch einen beeindruckenden Marx-Koloss ersetzt wurde, stand im Zentrum als Ort der staatlichen Repräsentation der Volksherrschaft schlechthin.2

Abb. 5: Das eingehüllte Denkmal am Budapester Heldenplatz am 1. Mai 1919. Gleich dahinter breitete sich das Stadtwäldchen aus, das mit den durch die Rätefunktionäre verstaatlichten Buden als irdisches Arbeiterparadies erscheinen sollte und mit dem Versprechen eines dauerhaften, sorglosen Wohlstands für die künftig 2 | Vgl. Boldizsár Vőrős: »Verschiedene politische Mächte – in derselben Hauptstadt. Symbolische Raumbesetzungen in Budapest 1918-1919«, in: Károly Csúri/Magdolna Orosz/ Zoltán Szendi (Hg.): Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft 14), Frankfurt a.M. 2009, S. 17-33 sowie Katalin Sinkó: »Zur Entstehung der staatlichen und nationalen Feiertage in Ungarn (1850-1991)«. Aus dem Ungarischen von Julia Bendl, in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 251-271. Die dekorative Umgestaltung beschränkte sich natürlich nicht bloß auf den Heldenplatz als zentralen Aufmarschplatz: Anlässlich des Festes »wurden die Straßen Budapests geschmückt, eine Vielzahl von provisorischen Denkmälern aufgestellt, die älteren Denkmäler teilweise umgestaltet. Um die Petőfi-Statue wurde wortwörtlich ein Wald aus Fahnenmasten aufgestellt, mit dem Zeichen der Kommunistischen Partei an ihrer Spitze. Am Blutacker (Vérmező), dem Ort der Hinrichtung von Ignác Martinovics am 20.5. 1795, wurde ein provisorisches ›Mausoleum‹ aus rot gefärbten Materialien errichtet. An der Kreuzung Ringstraße-Üllői-Straße ragte eine gigantische Faust aus der Erde, so hoch wie eine Etage, sozusagen als Symbol der Diktatur des Proletariats« (ebd., S. 263).

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dominierende urbane, proletarische Schicht lockte. Der Heldenplatz fungierte als Ziel des Maiaufzugs und als Eingang zum Vergnügungsviertel, das dem neuen utopischen Konzept zufolge der neuen proletarischen Öffentlichkeit übergeben wurde. In den zeitgenössischen Filmwochenschauen wurde die Darstellung des Heldenplatzes mit Berichten über die Eroberung jüngst verstaatlichter aristokratischer Gärten durch eine Kinderschar und über Essensverteilungen auf öffentlichen Plätzen kombiniert.3 Die Tradition des Stadtwäldchens als Unterhaltungsareal reicht bis in die 1810er Jahre zurück, als ein ›ringlispíl‹ (Ringelspiel, Karussell) in Betrieb genommen wurde. Seit den 1820er Jahren traten Puppenspieler, Seiltänzer und Reiterartisten im so genannten Vurstli auf. Der Name des Areals geht einer Deutung zufolge auf die Figur des Hans Wurst zurück. Laut ungarischer Volksetymologie ist die Benennung aber auf die überall verkaufte Wurst mit Meerrettich zurückzuführen. In den 1860er Jahren bot das Riesenrad einen Ausblick auf die Stadt, und das einen leichten Stromschlag produzierende Schüttelbecken gab einen Einblick in die Welt der technischen Neuerungen. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts kamen weitere Sehenswürdigkeiten hinzu, wie beispielsweise der Zoo und das auch als anatomisches Museum fungierende Panoptikum namens Plastikon. Der Höhepunkt des Vergnügungsangebots des Stadtwäldchens eröffnete 1910: der von einer bayrischen Familie gegründete, höchst professionell geführte Angol Park (Englischer Park, eigentlich Lunapark). Sein Unterhaltungsangebot folgte weitgehend internationalen Vorbildern: Der Zuzug ausländischer Unternehmer und die Gastauftritte europaweit agierender Schausteller brachten die neuesten Trends der Massenunterhaltung in erreichbare Nähe. Diese renommierten Spektakel machten dem jahrmarktsähnlichen Betrieb des Wurstels zunehmend Konkurrenz. Auch das Kino und die von der Lebensreformbewegung inspirierte ›Weekend-Bewegung‹ trugen dazu bei, die Unterhaltungsangebote des Stadtwäldchens zunehmend als billiges Vergnügen erscheinen zu lassen.4 Obwohl das Stadtwäldchen in den Jahren 1885 und 1896 vorübergehend zum Ort der staatlichen Repräsentation wurde und sich dementsprechend die Zusammensetzung des Publikums zugunsten einer Dominanz von Aristokratie und Bürgertum veränderte, konnten diese temporären Überschreibungen das Gesamtbild der volkstümlichen Besuchermassen nicht dauerhaft beeinflussen.5 3 | Vgl. Vőrős Riport Film [Rote Filmwochenschau] 4 (April 1919), 5 (Mai 1919, unter dem Titel Der erste freie Erste Mai), 18 (Juni 1919), 19 (Juli 1919). 4 | Zur Geschichte des Stadtwäldchens vgl. Tibor Thaly: A 200 éves Városliget [Das zweihundertjährige Stadtwäldchen], Budapest 1958 sowie Péter Granasztói: »Tőmegszórakozás a Városligetben – A Vurstli [Massenunterhaltung im Stadtwäldchen – Der Wurstel]«, in: Budapesti Negyed 2-3 (1997), S. 163-191. 5 | Vgl. Amália Kerekes/Peter Plener: »Die teuersten Schaufenster der Monarchie. Wien 1873, Budapest 1885, 1896«, in: dies. u.a. (Hg.): Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns, Tübingen/Basel 2004, S. 68-89.

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Vor diesem Hintergrund zielte die Funktionalisierung des Stadtwäldchens durch den Arbeiterstaat im Mai 1919 auf die Verwandlung des Proleten in einen selbstbewussten Proletarier. Das Nebeneinander von populärem Vergnügen und politischer Aktivität sollte dabei nicht als Kontrast, sondern als sinnvolles Wechselspiel empfunden werden. Die Massenkultur sollte dadurch nicht als »Reaktion auf den Arbeitsschock der Moderne«, sondern vielmehr als seine zweckmäßige Erweiterung erfahrbar werden.6 Welch revolutionäre Konnotation die massenhafte Nutzung eines Unterhaltungsareals aufweisen konnte, wird auch am Beispiel des Zirkus Busch in der Ausstellungsstraße im Wiener Prater deutlich. Der Prater fungierte als ›Zwischenzone‹ zwischen der bürgerlichen Innenstadt und dem so genannten ›Jenseitsgürtel‹, der die Grenze zu den Elendsquartieren der Arbeiterviertel markierte und stark durch Prostitution geprägt war. Als Erholungs- und Vergnügungspark – mit dem Stadtwäldchen vergleichbar – bestand seine innovative Kraft »in der Adaptation wissenschaftlicher, technischer und politischer Sensationen an die kleinbürgerliche Vorstellungswelt und deren Semantiken«, was in der Deutung von Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz dem Publikum half, »mit dem noch unvertrauten Neuen durch Verkleinerungen und Fusionen mit der Alltagswelt zurechtzukommen«.7 Ursprünglich war der Prater ein weitläufiger Landschaftspark, ein kaiserliches Jagdgebiet, das 1766 für die breiten Volksmassen zugänglich gemacht wurde. Schon im 18. Jahrhundert entwickelte sich innerhalb des Parks ein Vergnügungsareal, das Wurstel-, später auch Volksprater genannt wurde. So wie das Stadtwäldchen war der Prater insbesondere bis zum Ersten Weltkrieg Schauplatz des zeitlich und räumlich geregelten Aufeinandertreffens unterschiedlicher sozialer Schichten. Diese Schichten waren stets darauf bedacht, die sie trennenden Grenzen gerade noch im zulässigen, das heißt die jeweiligen kulturellen und sozialen Zuordnungen nicht gefährdenden Maße zu belassen und eine Illusion der Nivellierung aufrechtzuerhalten. 8 Dies zeigte sich nicht nur in den zum Normalbetrieb gehörenden Feiertagsausflügen, sondern auch in den zu verschiedenen Anlässen veranstalteten Spektakeln, deren Blütezeit zweifelsohne in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert fiel. In dieser Zeit fanden eine Reihe politisch-ideologisch vielfältig besetzter Veranstaltungen von den kaiserlichen Geburtstags- und Hochzeitsfesten über große Volksbelus-

6 | Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: »Die Logik der Transgression. Masse, Kultur und Politik im Wiener Fin-de-Siècle«, in: dies. u.a. (Hg.): Metropole Wien. Texturen der Moderne, Wien 2000, Bd. 1, S. 97-168, hier S. 101. 7 | Siegfried Mattl/Werner Michael Schwarz: »Delirious Wien? Der Wiener Prater und die Assimilierung der Moderne«, in: Christian Dewald/Werner Michael Schwarz (Hg.): Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos, Wien 2005, S. 87-100, hier S. 95. 8 | Vgl. Maderthaner/Musner: »Die Logik der Transgression«, S. 99-110.

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tigungs- und Ausstellungsprojekte bis hin zu den massenhaften Aufzügen der Maifeierlichkeiten statt.9 Selbst wenn die herkömmlichen Aufgaben des Vergnügungsparks immer wieder zugunsten temporärer Umfunktionierung überschrieben wurden, galten die Monate nach dem Ersten Weltkrieg als einmalige Umbruchsphase in der Geschichte des Gebietes. Eine zentrale Rolle kam hierbei dem stattlichen klassizistischen Gebäude des privaten Zirkusbetriebs Busch zu. Der Zirkus Busch fungierte in seiner Stammstadt Berlin bei Ausbruch der deutschen Novemberrevolution als Versammlungsort der revolutionären Massen. Aber auch in Wien diente er nach dem Ersten Weltkrieg als zentraler Ort der Arbeiter- und Angestelltenbewegung,10 wenngleich er zuvor von einem Publikum dominiert worden war, das mehrheitlich aus Soldaten, Stubenmädchen, Bürgern und Aristokraten bestand, wie aus literarischen und journalistischen Schilderungen hervorgeht.11 Im März und April 1919 hielt man hier ohne das Einverständnis des Hausherren Paul Busch (1850-1927) täglich mehrere politische Versammlungen ab. Der Höhepunkt war die Versammlung von 17.000 städtischen Angestellten am 6. April, die zwar keinen Streik oder Revolution, sehr wohl aber eine Lohnverbesserung zum Ziel hatten. Der lakonische Kommentar der Wiener Illustrierten Zeitung hierzu lautete: »Weil das Lokal allen erschienenen Personen keinen genügenden Raum bot, fanden zwei Parallelversammlungen in der Venedigerau hinter dem Zirkus statt.«12 Am selben Nachmittag veranstalteten die revolutionären ungarischen Proletarier gemeinsam mit der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs (KPDÖ) eine Massenversammlung im Zirkus Busch, bei der mit feurigen Reden für die ungarische Räterepublik geworben wurde. Der Prater mit seinem Zirkus Busch sowie die beinahe tagtäglich stattfindenden Versammlungen von linken politischen Organisationen und

9 | Zur Geschichte des Praters vgl. Hans Pemmer/Ninni Lackner: Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu bearb. von Günter Düriegl und Ludwig Sackmauer, Wien/ München 1974. 10 | Zur Geschichte des Wiener Zirkus Busch vgl. ebd., S. 91-94, 165-166, 188-189 und 293; Gisela Winkler: Circus Busch. Geschichte einer Manege in Berlin, Berlin 1998. Zu den sozialen Spannungen im Prater vgl. Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a.M. 1999, S. 70. Zur Praterschlacht von 1848 vgl. Wolfgang Maderthaner: »Pathologie der Großstadt – Geschichte um den Praterstern«, in: Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen. Festschrift für Fritz Mayrhofer, Linz 2004, S. 829-838, hier S. 830. 11 | Alfred Pfoser: »Schnitzler gegen Lueger. Schnitzlers Stadtansichten – Von den Vorzügen und Grenzen seines Werkes beim Studium von Wien um 1900«, in: Maderthaner u.a. (Hg.): Metropole Wien, Bd. 1, S. 214-283, hier S. 268. 12 | Illustriertes Wiener Extrablatt 7.4.1919, S. 4; vgl. Ewald Weillechner: Flugblätter und Flugschriften der Arbeiterbewegung in Ostösterreich. Vom November 1918 bis zum 17. Oktober 1920. Analyse und Interpretation, Diss., Wien 1984, S. 263.

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Abb. 6: Massenkundgebung im Zirkus Busch. gewerkschaftlichen Interessengruppen, die sich vom Prater ausgehend zunehmend in das Stadtzentrum verlagerten, bedeuteten im Frühling 1919 eine ernste sicherheitspolitische Herausforderung für die Staats- und Stadtführung. Der Konflikt kulminierte am Gründonnerstag, als eine Demonstration in gewaltsamen Ausschreitungen endete, denen Wachmänner und Demonstranten zum Opfer fielen. Insgesamt wurden die Unruhen auf die zunehmende kommunistische Agitation zurückgeführt und weitere Versammlungen unter freiem Himmel während der Sitzungen der Nationalratsversammlung völlig untersagt beziehungsweise zu anderen Terminen an strikte behördliche Auflagen gebunden.13 Dies schien umso stärker erforderlich zu sein, da die Maifeierlichkeiten vor der Tür standen: Nach dem Gründonnerstag riefen etliche Zeitungen zu einer friedlichen und »grandiosen« Gestaltung des Maifests auf und erklärten die vollständige Arbeitsruhe als »erstes Gebot«.14 Die Nationalversammlung deklarierte daraufhin den 1. Mai nicht nur zum Staatsfeiertag, sondern verbot auch – im Gegensatz zur früheren Praxis – den Maiaufzug im Prater. Somit wurde der Prater als Veranstaltungsort tabuisiert: Die Sozialdemokratische Kulturstelle bot in den Theatern und Konzertsälen Wiens klassische und moderne Aufführungen für die Arbeiterschaft, und die traditionell im Prater kulminierenden Maiumzüge fanden dezentral in den einzelnen Bezirken statt.15 Sowohl die protestierenden Massen als auch die sozialdemokratische 13 | Vgl. z.B. »Warnung vor Ausschreitungen. Eine Kundmachung der Wiener Polizeidirektion«, in: Illustriertes Wiener Extrablatt 28.4.1919, S. 4. 14 | Vgl. u.a. das Titelblatt der Volkstribüne 16.4.1919. 15 | Vgl. Dieter Fricke: Kleine Geschichte des Ersten Mai. Die Maifeier in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, Berlin 1980, insbes. S. 154-158; Béla Rásky: Arbeiterfesttage. Die Fest- und Feiernkultur der sozialdemokratischen Bewegung in der Ersten Republik Österreich 1918-1934, Wien u.a. 1992, insbes. S. 60-64.

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Stadtführung zogen nun das Stadtzentrum beziehungsweise die Repräsentativität von Veranstaltungen im und vor dem Rathaus der ›Zwischenzone‹ des Praters vor. Im Zuge dieser Konsolidierung wichen also die Kundgebungen von Arbeitern und Angestellten im Prater den zentral oder gewerkschaftlich organisierten, in der Stadtmitte stattfindenden Veranstaltungen. In den »dem Hergebrachten treuen« und konservativen Prater16 kehrte somit Ruhe ein; mit der graduellen Restaurierung des Etablissements und dem Übergang des Areals in die öffentliche Hand wurde der Normalbetrieb als Vergnügungspark wieder aufgenommen.

Z WISCHEN ›V ERLUMPUNG ‹ UND P RESTIGEPROJEK TEN Die Einbindung beider Gelände in die Topographie der Städte nach 1919 verdeutlicht, wie einstige Randgebiete durch verkehrs- und bautechnische Maßnahmen zunehmend ins Zentrum rückten. Die Folge davon war jedoch keine eindeutige Funktionalisierung dieser Gebiete als moderne Umschlagplätze, sondern eine Art ›periphere Urbanisierung‹, das heißt die Herausbildung von Gebieten, die randständige und massenpolitisch relevante Schichten ansprachen. In beiden Fällen handelte es sich um einen »Sinnes-, Bewegungs-, Bahnungs- und Schwellenraum«,17 der auf die gescheiterte Integration der zuziehenden Arbeiter hinwies, die hier nach vertrauten ländlich-vormodernen Volksbelustigungen suchten. Die ästhetische Verarbeitung dieser stadtinternen Antimodernität setzt ebenfalls an diesem Punkt an: Fritz Langs (1890-1976) erster in der Emigration gedrehter Film Liliom (F 1934) geht auf das gleichnamige Drama von Franz Molnár (1878-1952) zurück, das Naivität und Orientierungslosigkeit mit der Kenntnis großstädtischer Spielregeln konfrontiert. Mit Blick auf das dramaturgische Potenzial wird auch der Prater […] zum Synonym natürlichen und zwecklosen Begehrens und zum letzten Schauplatz eines ›gesunden Volkes‹, das noch außerhalb der modernen Kategorien nicht Souverän, sondern Untertan sein will und dessen ›nacktes Leben‹ von Bürgern und Adeligen gegen deren sexuelle und ›seelische Impotenz‹ konsumiert wird. 18

Als Experimentierfelder der Urbanisierung widersetzten sich beide Orte sowohl der unternehmerischen als auch der sozialen Homogenisierung.19 Im (partiellen) Gegensatz zur von Gottfried Korff beschriebenen »inneren Urbanisierung«, die die mentale Uniformierung der Arbeitsmigranten in der Großstadt als Ergebnis gleichzeitiger

16 | »Eine Luftfahrt 20 Kronen. Die neueste Pratersensation«, in: Kleine Volks-Zeitung 1.6.1919. 17 | Hartmut Böhme: »Kulturwissenschaft«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, S. 191-207, hier S. 195. 18 | Mattl/Schwarz: »Delirious Wien«, S. 88. 19 | Ebd.

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»sensueller Vigilanz« und Ignoranz erfasst,20 werden in beiden Städten interne Peripherien herausgebildet, die im Gegensatz zur »relativ hohe[n] Stabilität der sozialen ›Gestalt‹ einzelner Viertel und eine[r] geringe[n] innerstädtische[n] (transurbane[n]) Mobilität im Vergleich mit Städten wie London«21 Merkmale von Heterogenität aufweisen. Diese Heterogenität wird durch eine Mobilität verursacht, die sich in dieser einmaligen Intensität innerhalb der Stadt nur auf das Stadtwäldchen beziehungsweise den Prater richtete. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist die sensuelle Herausforderung die Mischung aus Reizbarkeit, Teilnahme und Betrachtung. Das Publikum jedoch bleibt im Wesentlichen unbeteiligt; der Prater (aber ebenso das Stadtwäldchen) »gilt nicht als politischer Ort oder als Ort der kulturellen Repräsentation, obwohl er auch Schauplatz von Paraden und Demonstrationen war, sondern […] als Prisma«, durch das man den Charakter der Menschen untersuchen kann.22 Dieser Blick auf das bunte Treiben, die Beobachtung der Beobachter widerspiegelt zugleich die funktionelle Verarmung der beiden Orte, wie dieser Artikel aus dem Jahr 1926 deutlich macht: Das Volk muß man betrachten, wie es geht und steht, nämlich geht, wie es seine Beine, und steht, wie es seine Augen wollen. Es wirkt immer erfrischend, wenn man sich überzeugt, daß dieses Volk, für das man angeblich sein Bestes hingibt, indem man sein Schlechtestes offenbart, so ganz anders ist wie jene, die es zu beherrschen vermeinen. Es lebt nur wie hinter einer Plakatwand, die vollgeklebt ist mit Parteiaufrufen, Haßgesängen und Eitelkeitseruptionen, aber es liest all diese Affichen nicht. Es läßt sich nicht einmal einreden, daß der Wurstelprater tot sei, und vergnügt sich dort genau so wie vor dem Kriege, wo das Schwarzgelbe im Braun der Kastanien zu einer Einheitsfarbe verschmolz, wo die Akazien ebenso dufteten wie heute und wo der Mensch im Dunkel eines einsamen Weges ganz vergißt, daß es drüben im Reich der Glühbirnen so etwas wie eine Sittlichkeit gibt. 23

Beide im Ersten Weltkrieg fast völlig verwahrlosten Gelände standen symbolisch für den Untergang und den Neuaufbau in den ersten Nachkriegsjahren. Die Schrebergartenprojekte im Wiener Prater sind für diese Entwicklung eine gutes Beispiel. Nicht nur die massenhafte Einquartierung von Heimkehrern und Kriegsinvaliden im Prater, sondern auch der akute und für kontroverse Diskussionen sorgende Nahrungs- und Wohnungsmangel führten Anfang 1919 zu Überlegungen, das Gebiet zugunsten landwirtschaftlicher Bewirtschaftung umzuwidmen. Allerdings scheiter20 | Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361. 21 | Siegfried Mattl: »Wiener Paradoxien. Fordistische Stadt«, in: Maderthaner u.a. (Hg.): Metropole Wien, S. 22-96, hier S. 82. 22 | Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt a.M. 2009, S. 224-225. 23 | Jobs: »Volk im Prater«, in: Die Stunde 8.7.1926.

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ten die Pläne, den Prater für Wohnungs- und Produktionszwecke zu nutzen, an der von der Presse angeregten Diskussion, in der sich diejenigen durchsetzten, die den symbolischen Status des Praters als Wahrzeichen Wiens wieder herstellen wollten.24 Die periphere Position beider Orte wurde jedoch auch in der Öffentlichkeit rege diskutiert. Mit Blick auf das Stadtwäldchen wurden die ›Verlumpung‹ der Klientel und die einfachen Unterhaltungsangebote als Zeichen der vermeintlichen Rettungslosigkeit wahrgenommen. Im Fall des Praters standen die Klein- und Jugendkriminalität, die Prostitution sowie die Obdachlosigkeit im Mittelpunkt der Debatten. Die sozialen Randgruppen, die den Prater zu ihrem legalen und illegalen Wirkungsraum machten, sorgten für die disparate Perzeption des Areals, die der Vermittlung eines touristisch-repräsentativen Prater-Bildes entgegenstand. Prostituierte, Taschendiebe, Gaukler, Fälle von Messerstechereien und Raufereien im Prater waren in den Presseberichten allgegenwärtig und stellten somit für besorgte Bürger und die Behörden eine Herausforderung dar. Dadurch wurde nicht nur eine randständige kulturelle Schicht des Publikums in den Vordergrund gerückt, sondern auch die Frage aufgeworfen, inwiefern der Prater eine Ausnahme hinsichtlich unterschiedlicher Legalisierungs- und Regulierungsversuche darstellen könnte, und das obwohl unsittliche Sensationen europaweit zum festen Bestandteil (und auch zum speziellen Reiz) von Rummelplätzen gehörten.25 In beiden Arealen überwogen also die Bestrebungen seitens der staatlichen Akteure, die Aktivitäten des Proletariats zu unterbinden und ein kleinbürgerliches Besuchermilieu zu kreieren. Deswegen wurden vor allem unterhaltende Spektakel wie traditionelle Volksstücke, Revuen oder Zirkusproduktionen aufgeführt. Eine Besonderheit stellten Adaptionen hochkultureller Aufführungen dar, die bereits in den 1910er Jahren beliebt waren. Die Inszenierungen Max Reinhardts (1873-1943) in den Zirkussen beider Städte sowie die klassischen Konzerte im Budapester Tiergarten zogen zwar ein Massenpublikum an. Die Preise entsprachen jedoch denen der bürgerlichen Theater, wodurch die pädagogisch-aufklärerische Absicht, den ungebildeten Volksmassen Bildungsgüter zu vermitteln, aufgeweicht wurde.26 Die wenigen Beispiele für eine parteipolitische Indienstnahme beider Gelände finden sich erst Mitte der 1920er Jahre, als in Budapest dem Verbot der Maiaufzüge getrotzt wurde und es im Prater zwischen linken Gruppierungen und einzelnen rechten paramilitärischen Organisationen regelmäßig zu Zusammenstößen kam. Ein Vorfall im Mai 1924 im Prater zeigt beispielsweise, wie politisch explosiv eine musikalische Veranstaltungsreihe sein konnte. Der Besitzer des Gasthauses Zum goldenen Kreuz lud einen Münchner Ochsenbrater samt Musikkapelle in sein Restaurant ein. Trotz wiederholter polizeilicher Warnungen spielte die Kapel24 | Vgl. unter anderem »Gartensiedlungen im Prater. Ein neues Projekt der Gemeinde Wien«, in: Neues Wiener Journal 14.1.1919; Innozenz Scherwing [Egon Erwin Kisch]: »Der Volksprater in Gefahr!«, in: Der neue Tag 25.4.1919; »Der bedrohte Prater«, in: Der neue Tag 8.6.1919. 25 | Vgl. etwa R. E.: »Berliner Wurstelprater«, in: Arbeiter-Zeitung 8.7.1928. 26 | Vgl. unter anderem »[Volksfestspiele]«, in: Arbeiter-Zeitung 3.5.1911.

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Abb. 7: Der Chor der Vierzigtausend. Die dritte Hauptaufführung in der Sängerhalle vor über 50.000 Zuhörern.

le nationalsozialistische Märsche. Das mehrheitlich sozialdemokratisch geprägte Publikum verlieh daraufhin in einer Wirtshausschlägerei seinem Unmut unmissverständlich Ausdruck.27 Im Juli 1928 fand allerdings mit dem Sängerbundesfest eine groß angelegte politische Feier im Prater statt. Sie wurde zwar überwiegend von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung Wiens gesponsert, das Aufgebot an Teilnehmenden und offiziellen Rednern trug jedoch eher zur ideologischen Unterstützung der auf Landesebene regierenden Konservativen bei. Auf der Jesuitenwiese des Pratergeländes wurde in fünf Monaten Bauzeit eine Halle für etwa 100.000 Zuhörer errichtet. Sie verfügte über moderne massenmediale Hilfsmittel, wie etwa eine Lautsprecheranlage, die auch das Gelände rund um die Halle beschallen konnte. Jenseits der musikalischen Repräsentation deutschsprachiger Sängerbünde aus aller Welt war das Fest nicht nur ein Anlass, die beinahe zehn Jahre alte Republik zu feiern, sondern auch die deutsch-österreichische Anschlussidee zu propagieren.

27 | Vgl. »Politische Exzesse beim Ochsenbraten. Wüste Schlägerei im Gasthaus Kadermann. Ein Teilnehmer leicht verletzt. Überflüssige Demonstrationen völkischer Gäste. Vier Personen arretiert«, in: Der Morgen 26.5.1924.

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Sogar die liberale ungarische Presse zitierte aus der Rede des Präsidenten des Deutschen Sängerbundes, in der die mit der Nationalromantik assoziierten Nibelungen und Franz Schubert (1797-1828) als Embleme der deutschen Kultur genannt wurden. Es wurden selbst solche Passagen der Rede zitiert, in denen die wunderbare Verwandlung der deutschen »Blutsgemeinschaft« in die deutsche »Schicksalsgemeinschaft« beschworen und der »heldenhaften Kämpfer« des Ersten Weltkriegs gedacht wurden.28 In Teilen der Presse ging indessen ein eigenartiger Wandel in der Interpretation der Veranstaltung vor sich. Am markantesten ausgeprägt war dies in der regierungsnahen ungarischen Pesti Hírlap und in der sozialdemokratischen Wiener Arbeiter-Zeitung. In beiden wurde zunächst unmissverständlich vor der Politisierung des Festes im Zeichen der Anschlussbestrebungen sowie vor der Kommerzialisierung des Schubert-Gedenkjahres gewarnt.29 Später wurde aber für die Vereinigung des »durch die Sänger repräsentierten kleinbürgerlichen Deutschlands« und des »sozialistischen Wiens im Zeichen des Anschlussgeistes« plädiert.30 Die Debatte wurde von ungarischer Seite durch die 28 | Vgl. »Viharosan ünnepelték Ausztria csatlakozását a bécsi dalosversenyen [Der Anschluss Österreichs wurde am Wiener Sängerfest stürmisch gefeiert]«, in: Újság 22.7.1928. Was Österreich betrifft, so lieferte die Neue Freie Presse als zunehmend offizielles Organ die ausführlichsten, der offiziellen Linie treuesten Berichte. Hier wurden sämtliche Reden abgedruckt und über die einzelnen Veranstaltungen detailliert informiert. 29 | Die merkwürdige Allianz zwischen den 40.000 Sangesbrüdern und dem Schubert-Jahr wird auch in Soma Morgensterns Erinnerungen an Joseph Roth festgehalten: »Als erster Punkt dieses Konzerts stand: Leise flehen meine Lieder. Schon beim Lesen des Programms wäre Roth beinahe vom Stuhl gefallen. Für mich war das Überraschende, noch mehr als der Einfall, 40 000 Sänger just auf dieses Lied loszulassen, das Erlebnis, daß 40 000 Stimmen tatsächlich ein Pianissimo zuwege brachten. Als ich ihm den Satz zeigte: ›Donnerwetter! War das ein Pianissimo!‹, sah er mich wie betäubt an und sagte: ›Das ist ein Treffer! Aber du kommst damit nicht durch.‹« Mit dem Einwand war die den Anschluss befürwortende Linie der Frankfurter Zeitung gemeint. Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende, Köln 2008, S. 65. 30 | Zum Ersteren vgl. I. V.: »Dalosvilág Bécsben [Sängerwelt in Wien]«, in: Pesti Hírlap 20.7.1928 bzw. H. Sch.: »Das große Sängerfest in Wien«, in: Arbeiter-Zeitung 17.7.1928; »Das Sängerfest«, in: Arbeiter-Zeitung 20.7.1928; Ernst Fischer: »Schubert und der Fremdenverkehr. Eine Nachlese«, in: Arbeiter-Zeitung 23.7.1928. Zur Wende in den Auslegungen beider Organe vgl. Viktor Lányi: »Negyvenezer férfi a pódiumon. Képek a bécsi dalosünnepről [40.000 Männer auf dem Podest. Bilder vom Wiener Sängerfest]«, in: Pesti Hírlap 22.7.1928 bzw. »Ein Nachwort«, in: Arbeiter-Zeitung 24.7.1928. Zum publizistischen Schlagabtausch zwischen der Arbeiter-Zeitung und der Neuen Freien Presse vgl. Gabriele Johanna Eder: Wiener Musikfeste zwischen 1918 und 1938. Ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung (Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte 6), Wien/Salzburg 1991, insbes. S. 160-165 und 194-198 und Amália Kerekes/Katalin Teller: »›Die Masse besitzt nicht nur Phantasie, sondern auch Gedächtnis‹. Massenpolitik auf den Unterhaltungsarealen von

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Verpflichtung, einzelnen Gruppen deutscher Sänger einen Staatsempfang vor dem Parlament zu gewähren, und von österreichischer Seite durch das Hochhalten der vereinigenden republikanischen Idee bestimmt. Das Ergebnis der keine journalistischen Raffinessen scheuenden Debatte lässt sich am eindringlichsten mit den Worten Karl Hans Strobls (1877-1946) zusammenfassen, der in der Neuen Freien Presse schrieb: Zum erstenmal seit damals [der großen Völkerwanderungszeit] wieder eine Völkerwanderung aller deutschen Stämme, aber ohne anderen Vernichtungswillen als etwa den dursterzeugter sommerlicher Angriffslust auf Schwechater Lager und Grinzinger Heurigen, ohne andere Streitbarkeit als die des friedlichen Wettbewerbes im Reich des Gesanges. Solche Völkerwanderung ist etwas anderes als etwa Straßenumzüge und Kundgebungen, als das Aufgebot der Massen einer Stadt, deren Zahl und politisches Gewicht dann, durch die Parteibrille gesehen, ruhmredig vergrößert und neidvoll verkleinert wird. […] Dieser Sommer 1928 aber bringt zum erstenmal seit dem Krieg wieder eine organisierte Völkerwanderung, eine Massenbewegung, beseelt durch den gleichen Willen, geleitet von der gleichen Absicht, gerichtet nach einem gemeinsamen Ziel. 31

Vergleichbare parteipolitische Debatten sucht man im Budapest der 20er Jahre vergeblich, denn den Kommunisten nahe stehenden Gruppierungen der Sozialdemokraten wurden öffentliche Kundgebungen auf zentralen Plätzen untersagt, und die Maifeierlichkeiten fanden am Stadtrand statt. Ein politisch aufgeladenes Ereignis fand allerdings im Stadtwäldchen statt: Im Jahre 1929 sollte Ernst Tollers (1893-1939) Drama Die Maschinenstürmer im Budapester Theater im Stadtwäldchen aufgeführt werden. Dieses seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestehende Theater, in dem auch das Wiener Burgtheater häufig gastierte, bezog nämlich durchaus politisch Position, indem es die Tradition des jiddischen Schauspiels pflegte und in seinen Operetten, Kabarett-Stücken und Revuen den nach dem Ersten Weltkrieg auch auf höchster politischer Ebene präsenten Antisemitismus und die Repressalien gegen Juden thematisierte.32 Das Stück von Toller wurde, zumal in der geplanten Inszenierung mit Arbeiterschauspielern besetzt, kurz vor der Aufführung verboten und das Publikum in einem Polizeieinsatz gewaltsam vertrieben. Die überall in der Stadt groß beworbene Zurschaustellung der organisierten Masse auf der Bühne weckte Ängste vor einer potenziellen politischen Aktivierung des Publikums und vor dem Schüren revolutionärer Ideen. Die Zuschauermassen könnten sich – so die Befürchtung – spiegelbildlich mit dem Dargestellten iden-

Wien und Budapest in der Zwischenkriegszeit«, in: Csúri/Orosz/Szendi (Hg.): Massenfeste, S. 35-54. 31 | Karl Hans Strobl: »Sängerfest in Wien«, in: Neue Freie Presse 15.7.1928. 32 | Zur Geschichte des Theaters vgl. Ágnes Alpár: A Városliget színházai [Die Theater des Stadtwäldchens], Budapest 2001.

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tifizieren und selbst im heterogenen Raum des Stadtwäldchens zum politischen Akteur werden.33 Abgesehen von der politischen Homogenisierung der Gelände kann in beiden Städten in der Zwischenkriegszeit eine umfassende Umstrukturierung der Freizeitkultur beobachtet werden. Die Anhänger der ›Weekend-Bewegung‹ präferierten zwar die Grünflächen in der Nähe der Städte. Der Prater und das Stadtwäldchen konnten aber vor allem bei jenen Besuchern ihre zentrale Stellung als Unterhaltungsangebot bewahren, die ohne feste Bindung als Arbeitsmigranten in den Städten lebten. Mit einigen wenigen Veranstaltungen versuchten Schausteller an die inzwischen verblasste, aber einst in beiden Gebieten zentrale Tradition der Ausstellungskultur und des Experimentierens mit technischen Erfindungen anzuknüpfen. Die Messen, die jeweils nur ein kleines Segment der Areale bespielten, waren in Budapest von internationalem Rang. Auf die seit den 1910er Jahren im Frühsommer organisierte Budapester Internationale Messe kamen etwa ein Viertel aller Budapest besuchenden ausländischen Touristen. Die fast 200 Berufszweige versammelnde Messe fungierte als Drehscheibe zwischen Ost und West und setzte einen deutlichen Akzent auf den Balkan. Sie verwandelte Teile des Stadtwäldchens in eine Art industriellen und gewerblichen Themenpark, um etwa Bauprojekte großflächig veranschaulichen zu können.34 Diese Teile des Stadtwäldchens, besonders die Industriehalle, galten seit den monumentalen Ausstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts als Sinnbilder der Modernisierung. Die Messen stellten zusammen mit ihrem Rahmenprogramm mehrere Wochen lang ein komplexes und unterhaltendes Bildungsangebot dar und repräsentierten gleichzeitig die vielfältige Stadtkultur und die Internationalität des Landes. Bereits während des Ersten Weltkriegs wurden in beiden Gebieten auch populärwissenschaftliche Bildungsangebote initiiert. Mit den damaligen Kriegs- und Hygieneausstellungen vergleichbar, aber auch den sonstigen anthropologischen Spektakeln des Stadtwäldchens nicht unverwandt, war 1926 in Budapest zwei Monate lang die Internationale Ausstellung für Menschenschutz zu sehen. Während die darwinistisch geprägten Eröffnungsreden die Gesundheit des Einzelnen mit dem ›gesunden Staatskörper‹ in Verbindung brachten, erinnern andere Presseberichte mit Blick auf die Schaulust der Besucher an frühere Artikel über die benachbarten Kuriositätenkabinette und Panoptiken: Das Ausstellungskonzept und die

33 | Ernst Toller: A géprombolók [Die Maschinenstürmer], übers. v. Pál Justus, Budapest 1961. 34 | Nebst damaligen Pressenotizen vgl. András Sipos: »A hivatalos várospropaganda Budapest-képe a két világháború kőzőtt [Das Budapest-Bild der offiziellen Stadtpropaganda in der Zwischenkriegszeit]«, in: Tímea N. Kovács (Hg.): Terek és szővegek. Újabb perspektívák a városkutatásban, Budapest 2005, S. 155-161.

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darin intendierte Wissensvermittlung nahm somit in einem durchaus positiven Sinne auf die Gesamtkulisse des Stadtwäldchens Bezug.35 Ähnliche Bemühungen lagen auch der Errichtung des Sportpalasts in der Rotunde im Wiener Prater zugrunde; allerdings waren sie nicht von Erfolg gekrönt. Um den veränderten Freizeitgewohnheiten der Bevölkerung und den Idealen eines gesunden Körpers zu entsprechen, sollte der mächtige Kuppelbau, der ursprünglich als eine der Hauptattraktionen der Weltausstellung 1873 entstanden war, in eine Radrennbahn und eine Leichtathletikhalle umgebaut werden. Zur Eröffnung im Februar 1921 schien jedoch nicht einmal das erstere Projekt verwirklicht: Statt eines Sportpalastes fanden die Zuschauer, wie ein Zeitgenosse in Anspielung auf die notdürftigen architektonischen Lösungen formulierte, einen Eispalast vor. Dieser mobilisierte die Massen nur insofern, als sich die Unzufriedenheit des Publikums über das hohe Eintrittsgeld in gewaltsamen Ausschreitungen artikulierte.36 So wurde der Sportplast noch im selben Jahr durch neue Räumlichkeiten für die nun jährlich stattfindende Wiener Messe ersetzt. Als Gesamtschau der einheimischen Gewerbetätigkeit sollten die Messen im Frühling und Herbst sowohl die einheimische Produktion als auch den Fremdenverkehr ankurbeln; beide Wirtschaftsbereiche litten noch unter den Nachwirkungen des Krieges. Während die Wiener Stadtregierung als Veranstalter stets an die Erfüllung dieser Ziele glaubte, zeigen Nahaufnahmen ein von der offiziellen Linie abweichendes Bild: 1921 zum Beispiel förderte die Messewoche vor allem die gewerbliche Prostitution, und das Jahr 1924 war, zumindest für die Autoindustrie, ein beschämender Misserfolg.37 Betrachtet man jedoch die Funktion des Stadtwäldchens und des Praters als touristisches Ziel, sind in beiden Städten konträre Entwicklungen zu beobachten. So wurde der Prater im betrachteten Zeitraum zu einem Wahrzeichen Wiens und etablierte sich gleichzeitig als Kontrapunkt zur monumentalen historischen Kulisse der Innenstadt. Das Budapester Stadtwäldchen hingegen – einst ein Ort staatstragender Repräsentation – verschwand als komplexes Gelände allmählich aus den Reiseführern und fungierte, außer in den Ausstellungswochen, als vergleichsweise wenig beliebtes Ziel für innenstädtisches Vergnügen, dessen Einzigartigkeit kaum mehr sichtbar war. Die zeitweilig gegebene vielfältige Nutzung der Gelände wurde in beiden Fällen durch ein relativ homogenes Kulturangebot abgelöst, das bis heu-

35 | Vgl. »A kormányzó megnyitotta a Nemzetkőzi Embervédelmi Kiállítást [Der Reichsverweser hat die Internationale Ausstellung für Menschenschutz eröffnet]«, in: Pesti Hírlap 30.5.1926 sowie die offizielle deutschsprachige Broschüre: S.O.S.! Internationale Ausstellung für Menschenschutz Budapest Mai-August 1926 Stadtwäldchen Industriehalle, Budapest 1926. 36 | Vgl. »Eröffnung des Sportpalastes in der Rotunde«, in: Der Morgen 14.2.1921. 37 | Vgl. »Messe und Sittenamt. Die Moral der abgelaufenen Messewoche«, in: Der Morgen 19.9.1921; »Die faustdicke Messe-Lüge«, in: Der Morgen 31.3.1924.

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te nur anlässlich weniger Gelegenheiten (etwa am 1. Mai und am Tag des Kindes) durch politische Massenveranstaltungen unterbrochen wird.

D IE KLEINEN E RZ ÄHLUNGEN DES V ERGNÜGENS Das Spannungsverhältnis zwischen Volksbelustigung und organisierten und gelenkten Veranstaltungen, das hier im Falle des Stadtwäldchens und des Praters beschrieben wurde, war auch in anderen europäischen Städten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar. Entsprechend dem Leitbild der ›rational recreation‹ vereinten die Vergnügungsparks in idealer Weise genüsslichen und nicht selten ausschweifenden Zeitvertreib mit dem Ziel, die Arbeitsfähigkeit der Vergnügungssuchenden zu erhalten. Hinzu kamen Massenveranstaltungen, die jeweils unterschiedlichen Ideologien folgten und die neben der Repräsentation der Stadt oder des Staates auch das Stammpublikum der Vergnügungsareale einzubinden versuchten.38 Durch diese Verschränkung wird deutlich, wie die Kontinuität einer ursprünglich ländlichen Jahrmarktskultur und die urbanen Modernisierungsprozesse an einem städtischen Ort wie einem Vergnügungspark aufeinandertrafen, sich gegenseitig schwächten und überschrieben, um sich letztendlich auszutarieren. Die funktionale Beständigkeit beider Areale zeugt von diesen Kompensationsprozessen. Die ›periphere Urbanisierung‹ sorgte dafür, dass Zerstreuung sowie Staats- und Stadtpolitik letztendlich eine friedliche Koexistenz aufbauen konnten. Dabei ist freilich nicht zu übersehen, dass die gewünschte Vielfalt und vor allem die spektakuläre Massenhaftigkeit der Veranstaltungen nur im Rahmen der Urbanisierung herbeigeführt werden konnten. Lediglich in einer Großstadt, die über eine tragfähige Infrastruktur und über hinreichende kulturpolitische Macht verfügte, konnten ein solches Vergnügungsangebot oder solche politischen Massenbewegungen generiert werden. Die zeitweilige Verschränkung von politischen und apolitischen Veranstaltungen mag zum Teil auf die Intention hegemonialer Schichten zurückzuführen sein, die versuchten, Akteure und Produkte sowohl der Hoch- als auch der Massenkultur politisch fruchtbar zu machen, wobei die vertrauten Vergnügungsräume hierfür ideale Schauplätze darstellten. Die monumentalen architektonischen Projekte – hierfür sind die internationalen Messen das beste Beispiel – fügten sich hingegen nur schwer in das Gesamtbild ein oder versuchten gar, die zunehmend negativ wahrgenommene Heterogenität beider Gelände zu verdecken. Die Beschreibung der Vergnügungskultur und ihre Verbindung mit dem Begriff der Kolportage in Ernst Blochs (1885-1977) Erbschaft dieser Zeit zeigt hier zum

38 | Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 18501970, Frankfurt a.M. 1997, S. 48-52, S. 96-103 sowie S. 160-167.

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einen die stets präsente Möglichkeit der Vereinnahmung der Massenkultur, zum anderen die ihr inhärenten Transgressionspotenziale: Und doch ist lehrreich, in veränderter Zeit, in den Zeiten abnehmender, ja, verschwindender bäuerlicher Folklore: je mehr Proleten gerade eine Stadt hat, desto weniger ist dieser Volkszauber verschwunden, desto greller sehen seine Meßplätze aus, desto lebhafter ist alte Folklore gerade in eine neue umgesetzt. […] Hier eben arbeitete schon von Anfang an jener Doppelsinn von Folklore, welcher heimische Sitte und städtisch abgestoßene Wunderschau zusammen erträgt […]. Wobei sogar diesen Großmeistern [den Autoren wertvoller Kolportageliteratur, Anm. d. Verf.] fehlt, was lediglich die Literatur der Enterbten (auf dem Marsch) haben kann: nämlich Rettungs-Stil, ja, um an das größte Beispiel Kolportage zu erinnern: Fidelio-Stil. Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch letzthin Revolution, Glanz dahinter; und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt. 39

Die Vermutung, das Aufrührerische, Revolutionäre lauere in den durch die urbane Kultur neu gestalteten, aber ihre traditionellen Wurzeln nicht verleugnenden Unterhaltungsformen, mochte viel dazu beigetragen haben, dass diese Areale immer wieder in den Blick der politischen Akteure und ihrer Disziplinierungsbemühungen gerieten. Die peripheren Vergnügungsorte von Wien und Budapest sprachen im behandelten Zeitraum und im alltäglichen Betrieb allerdings die randständigen Bevölkerungsschichten an, die vor Ort auf ein Angebot trafen, in dem sich preiswerte und nostalgische Überreste einst progressiver Unterhaltungsund Wissensformen kreuzten. Vor diesem Hintergrund ist die politische Tendenz der Zwischenkriegszeit zu sehen, nicht nur diese Schichten, sondern auch die historischen Spuren der Arbeiterbewegung und die Ansätze zu ihrer Neubelebung unsichtbar zu machen. Deswegen wurde an vorzeigbare, bautechnisch überwältigende Kulissen der Vorkriegszeit angeschlossen, die dem Schaubedürfnis und den Massenvorstellungen des an der Aristokratie orientierten Bürgertums entgegenkommen sollten. Die Wandlung und Akzentverlagerung der Funktionen des Stadtwäldchens und des Praters in der Zwischenkriegszeit zeigen indessen, wie solche urbanen Prozesse durch Medien und durch Veränderungen der Freizeitkultur beeinflusst wurden. Während sich das Aufkommen der Massenmedien sowie die Bevorzugung außerstädtischer Erholungsorte für die einschlägigen Belustigungen des Stadtwäldchens als verhängnisvoll erwiesen, konnte der Prater durch gezieltes Stadtmarketing zumindest das Riesenrad als Touristenattraktion (bis heute) bewahren.

39 | Ernst Bloch: »Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage«, in: ders.: Erbschaft dieser Zeit. Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1985, S. 173-181, hier S. 176.

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Ungleichheiten – Gesellschaft und Vergnügen in der Metropole

Wie ›jüdisch‹ war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende? Peter Jelavich

Obwohl Juden äußerst wichtige Rollen im Berliner Theaterleben der Jahrhundertwende spielten, war das Ausmaß der explizit ›jüdischen‹ Dimensionen ihres Wirkens jedoch höchst differenziert. Otto Brahm und Max Reinhardt, die bedeutendsten Regisseure jener Zeit, waren Juden, doch spielten jüdische Themen eine unwesentliche Rolle in ihren Produktionen. Jüdische Charaktere und Themen waren eher in den populären Bereichen der Schauspielkunst zu finden: im Kabarett, in Revuen, im Jargontheater und im Film. In dieser Abhandlung werde ich versuchen, diese Situation zu erklären, indem ich jüdische Auffassungen von Bildung und Kultur, jüdische Reaktionen auf ihre Exklusion aus höheren Kulturbereichen und jüdisches Engagement für kulturelle Vielfalt und Pluralität untersuche. Dabei werde ich die meines Erachtens überbewertete Rolle des jüdischen Bildungsbürgertums in der herkömmlichen Forschung revidieren und nachweisen, dass Juden, die aus kleinbürgerlichen und mittelständischen Familien stammten, oft eine innovativere Rolle für die Entwicklung des Theaters und der darstellenden Künste gespielt haben.1 Otto Brahm (1856-1912), der wichtigste Wegbereiter des modernen Dramas in Deutschland, entstammte einer Hamburger Kaufmannsfamilie und arbeitete als junger Mann drei Jahre lang in einer Bank. Danach zog er nach Berlin, um Literatur an der dortigen Universität zu studieren. Nach dem Besuch einer Vorstellung der Stützen der Gesellschaft schwärmte er für Ibsen. In den darauffolgenden Jahren, als er zum beachteten Kritiker avancierte, unterstützte er die neuesten realis1 | Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung (mit freundlicher Genehmigung des Verlags University of Iowa Press) von Peter Jelavich: »How ›Jewish‹ was Theatre in Imperial Berlin?«, in: Jeanette Malkin/Freddie Rokem (Hg.): Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City 2010, S. 39-58. Vgl auch: Peter Jelavich: »Performing High and Low. Jews in Modern Theater, Cabaret, Revue, and Film«, in: Emily Bilski (Hg.): Berlin Metropolis: Jews and the New Culture 1890-1918, New York/Berkeley 1999, S. 208-235.

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tischen und naturalistischen Richtungen des Theaters. Gerade diese aber kamen in den 1880er Jahren aus kommerziellen und zensurpolizeilichen Gründen nicht zum Durchbruch. Theaterdirektoren bestanden zum Beispiel auf ein Happy End für Ibsens Nora: Die Protagonistin sollte am Ende zu ihrem Mann zurückkehren. Das Drama Gespenster wurde gar von der Zensur jahrelang wegen seiner Darstellung von heuchlerischer Ehemoral und den medizinischen und geistigen Folgen der Syphilis verboten. Brahm gründete 1889 die Freie Bühne als »eine Bühne […], welche frei ist von den Rücksichten auf Theatercensur und Gelderwerb«2 mit dem Ziel, solche Stücke zu fördern, die durch die Zensur reglementiert oder an anderen Theatern nicht gespielt wurden. Um die Zensur zu umgehen, wurde die Freie Bühne als geschlossener Verein betrieben, zu dessen Aufführungen nur eingeschriebene Mitglieder Zutritt hatten. Durch die Mitgliedergebühren konnten wiederum die Aufführungen der Dramen finanziert werden, die von kommerziellen Theatern als nicht profitabel betrachtet wurden. Zuerst wurde im September 1889 Ibsens Gespenster aufgeführt und einen Monat später das Drama des jungen und noch unbekannten Gerhart Hauptmann Vor Sonnenaufgang. Im Februar 1893 fand die Premiere von Hauptmanns Weber, die mehrmals von der Zensur verboten worden war, als geschlossene Aufführung der Freien Bühne statt. Brahms Bestrebungen führten zum Durchbruch des naturalistischen Theaters, so dass er 1894 ein kommerzielles Theater – das Deutsche Theater – übernehmen und es öffentlich und erfolgreich mit modernen Dramen bespielen konnte. Die Tatsache, dass Brahm Jude war, wäre an sich uninteressant gewesen – sie wird aber interessant dadurch, dass seine Anhängerschaft und seine Netzwerke überwiegend jüdisch waren. So enthalten auch die Mitgliederlisten der Freien Bühne viele als jüdisch erkennbare Namen.3 Jüdische Bürger haben auch das Deutsche Theater gefördert: Die Berliner Polizei notierte, dass Brahm finanzielle Unterstützung von 20 Personen bekam, von denen neunzehn Juden waren.4 Als dann im Jahre 1894 das Verbot der Weber aufgehoben wurde und das Stück öffentlich gespielt werden konnte, notierte der Polizist, der bei der Premiere anwesend war: »Die Besucher des ausverkauften Hauses bestanden zum erheblich überwiegenden Theile aus jüdischen Elementen.«5 Was war überhaupt ›jüdisch‹ am naturalistischen Theater? Auf den ersten Blick würde man sagen: überhaupt nichts. Realismus und Naturalismus konnten 2 | Aus der ersten Ankündigung der Freie Bühne, zit.n. Paul Schlenther: Wozu der Lärm? Genesis der Freien Bühne, Berlin 1889, S. 5. 3 | Die Mitgliedslisten der Freien Bühne von Juni 1889 und Januar 1890 sind abgedruckt in: Friedrich Pfäfflin/Ingrid Kussmaul (Hg.): S. Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil, Marbach 1985, S. 34-44. 4 | Polizeibericht vom 26.3.1895, zit.n. Alfred Dreifuss: Deutsches Theater Berlin, Berlin 1987, S. 118. 5 | Polizeibericht vom 2.10.1894, zit.n. Helmut Praschek (Hg.): Gerhart Hauptmanns ›Weber‹. Eine Dokumentation, Berlin 1981, S. 288.

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kaum als ›jüdische‹ Tendenzen bezeichnet werden, da weder Ibsen noch Hauptmann Juden waren; auch die Hauptvertreter dieser Richtungen in anderen Kunstbereichen (zum Beispiel Käthe Kollwitz) oder in anderen Ländern (Émile Zola) waren keine Juden. Die Frage wird noch bedenklicher, wenn wir in Betracht ziehen, dass manche Juden, die Brahm unterstützten, Gegner des Naturalismus waren. Bei der Premiere von Vor Sonnenaufgang kam es zu einem berühmten Eklat, als die Vorstellung zweimal von Isidor Kastan (1840-1931), einem jüdischen Arzt, der wie viele Mitglieder des Vereins den Text schon im Voraus gelesen hatte, unterbrochen wurde. Während einer inzestuösen Szene im zweiten Akt rief er: »Sind wir hier in einem Bordell oder in einem Theater?« Und im letzten Akt, während eine Frau eine lange und schwierige Geburt durchleidet, schwenkte Kastan eine Geburtszange. Das wiederum provozierte Proteste im Theatersaal für und gegen den Arzt und das Stück. Aber Kastan wollte die Freie Bühne weiterhin unterstützen – so sehr, dass er, nachdem er vom Verein ausgeschlossen wurde, vor Gericht ging, um seine Mitgliedschaft einzuklagen.6 Auch von anderer jüdischer Seite wurden Brahms Unternehmen kritisiert. In einem Bericht über die angeblich radikalen Tendenzen seiner Aufführungen notierte die Berliner Polizei 1895: »Auch jüdische Blätter, die dem Deutschen Theater nahestehen, wie das ›Kleine Journal‹, haben die subversive Tendenz des gegenwärtigen Direktors öffentlich gemißbilligt.«7 Es scheint also, dass weder die Stilrichtung (naturalistisch) noch die sozialpolitische Tendenz (subversiv) das jüdische Publikum Berlins zu Brahms Aufführungen lockten. Wie können wir also die hohe jüdische Teilnahme erklären? Eine mögliche Deutung wäre: Assimilation. Die gesetzliche Emanzipation der Juden, die in der Napoleonischen Zeit anfing und im Kaiserreich vollendet wurde, machte Assimilation theoretisch realisierbar. Etliche Historiker haben den Drang deutscher Juden beschrieben, in das Bildungsbürgertum aufgenommen zu werden. Da das Theater seit der Zeit Lessings, Goethes und Schillers als Königin der Künste angesehen wurde, könnte man meinen, dass jüdisches Mäzenatentum im Theaterbereich ein Zeichen dafür sei, dass Juden in die deutsche Majoritätskultur integriert werden wollten. Das war wohl gewiss zum Teil der Fall, es betraf aber nicht die Freie Bühne, da sie unkonventionelle Stücke aufführte, die der klassischen Bühnentradition und dem offiziellen Geschmack widersprachen. Unterstützung des Naturalismus führte sogar zu Konflikten mit dem wilhelminischen Establishment, wie bekanntermaßen mit dem Berliner Polizeipräsidenten von Richthofen (»Die janze Richtung passt uns nich!«) und dem Kaiser, der eine Kunst förderte, die »erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt«.8 Unterstützung der Freien 6 | Vgl. »Der Naturalismus vor Gericht«, in: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), S. 132-134; Schlenther: Wozu der Lärm?, S. 22-35. 7 | Polizeibericht vom 26.3.1895, zit.n. Dreifuss: Deutsches Theater Berlin, S. 119. 8 | Oscar Blumenthal: Verbotene Stücke, Berlin 1900, S. 17; »Die wahre Kunst. 18. Dezember 1901«, in: Johannes Penzler (Hg.): Die Reden Kaiser Wilhelms II., Dritter Teil, Leipzig 1907, S. 62.

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Bühne und des Deutschen Theaters bedeuteten also nicht, dass man sich in die dominante Kultur einfügen wollte. Warum wurde also Otto Brahm von so vielen Juden unterstützt? Meine These ist, dass Berlins jüdische Gemeinde kulturelle Institutionen förderte, in denen ästhetische Experimente und soziale Offenheit gepflegt wurden. Dies war eindeutig Brahms Meinung: Obwohl er ein begeisterter Befürworter des Realismus und des Naturalismus war, war ihm klar, dass nicht alle Theaterbesucher seine ästhetischen Vorlieben teilen würden. Im Juli 1891 schrieb er: »Denn keineswegs ist es eine Gemeinde von Gleichgesinnten, die sich hier zusammengetan hat: Lauter sind nirgends die Gegensätze, heftiger treffen in keinem Theatersaal die Meinungen aufeinander als in diesen Vorstellungen der Freien Bühne.«9 Solange man die Vorstellungen nicht störte – wie Kastan es getan hatte –, hatten die Zuschauer die Möglichkeit, ihre Meinungen offen kundzutun. Aber es sollte informierte Kritik sein, und dies war nur möglich, indem man die neuesten Dramen zu sehen bekam. Da Juden jahrhundertelang unter Diskriminierung gelitten hatten, war es verständlich, dass sie eine offene Kulturpolitik befürworteten. Die pluralistische Weltanschauung jüdischer Bürger bedeutete aber nicht notwendigerweise, dass sie zum deutschen Bildungsbürgertum gehören wollten. Meine These gliedert sich in zwei Teile und hängt erstens mit der sozialen Abstammung der im Theaterbereich tätigen Juden und zweitens mit Änderungen im nichtjüdischen Bildungsbürgertum zusammen. Es ist nicht zu bestreiten, dass mit der fortschreitenden Emanzipation junge Juden an Gymnasien und Universitäten überproportional vertreten waren. 1906 waren 16 Prozent aller Berliner Gymnasiasten Juden, was ihren Anteil an der gesamten Berliner Bevölkerung um das Fünffache übertraf. Fast sechs Prozent aller Studenten an Preußens Universitäten waren Juden, was auch dem Fünffachen ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung entsprach.10 Es war dennoch nur ein Bruchteil der jüdischen Bevölkerung, welche zum Gymnasium und zur Universität ging. 1895 waren 65 Prozent aller Juden in Handel und Gewerbe beschäftigt, davon waren 60 Prozent selbstständig.11 In der Tat stammten die meisten Juden, die die Theaterkultur beeinflusst haben, nicht aus bildungsbürgerlichen Kreisen. Der weitaus größere Anteil von im Theaterbereich tätigen Juden kam aus Familien, die im Handel und besonders in der Textilbranche beschäftigt waren. Brahm selbst stammte zwar auch aus einer Handelsfamilie, er studierte aber an der Berliner Universität und stellt somit eine Ausnahme dar. Dass die einflussreichsten Juden im Theaterbereich eben nicht aus Familien mit einer langen bildungsbürgerlichen Vergangenheit kamen, ist sogar ein wichtiger Aspekt der Fragestellung, wie Arnold Zweig (1887-1968) in seinem Buch Juden 9 | Hugo Fetting (Hg.): Otto Brahm. Theater, Dramatiker, Schauspieler, Berlin 1961, S. 409. 10 | Vgl. Monika Richarz: »Occupational Distribution and Social Structure«, in: Michael A. Meyer (Hg.): German-Jewish History in Modern Times, Bd. 3: Integration in Dispute, 18711918, New York 1997, S. 55-56. 11 | Ebd., S. 37-38.

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auf der deutschen Bühne schon 1928 festgestellt hatte. Zweig behauptete, dass die Berliner Juden für neuere Tendenzen besonders aufnahmefähig waren, weil ihre Beziehungen zur deutschen »ästhetische[n] Tradition nicht älter als ein paar Generationen« waren.12 Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass viele jüdische Bildungsbürger im Berliner Theaterpublikum zu finden waren. Aber auch sie konnten nicht unbedingt als ›assimiliert‹ betrachtet werden, da sich der deutsche Bildungsbegriff im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts weitgehend geändert hatte, wie George Mosse hervorgehoben hat.13 Mosse behauptet, dass die deutsche Kultur, die den gebildeten Juden besonders entsprach, die weltbürgerliche Kultur der deutschen Aufklärung und der deutschen Klassik war; dieser offene Kulturbegriff wurde aber im Laufe der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert radikal eingeschränkt. Die europäische Dimension fiel weg, ein Kanon deutscher Schriftsteller und Künstler wurde entworfen, so dass fremde Einflüsse ferngehalten oder rhetorisch eingedeutscht wurden – eine Entwicklung, die so weit ging, Shakespeare als germanischen Autor zu bezeichnen. Das Wertesystem des offenen, kosmopolitischen 18. Jahrhunderts mutierte im 19. Jahrhundert zu einem Projekt der Eingrenzung und Homogenität: Die deutsche Kultur wurde patriotisch, christlich, fremdenfeindlich – und zunehmend antisemitisch codiert. Die Universitäten, bekannt als Türhüter zum Bildungsbürgertum, waren die Wegweiser dieser fatalen Entwicklung. Während die Burschenschaften Brutstätten des Antisemitismus waren, entwarfen deutsche Professoren einen diskriminierenden kulturellen Kanon – in der Tat, eine Leitkultur. Ein Jahrzehnt vor der Begründung der Freien Bühne hatte bekannterweise Heinrich von Treitschke (1834-1896), Berlins führender Geschichtsprofessor (der Rankes Lehrstuhl innehatte), den so genannten ›Berliner Antisemitismusstreit‹ mit der Behauptung entfacht: »Die Juden sind unser Unglück.«14 Die Folge dieser Entwicklung war, dass Juden, trotz rechtlicher Gleichsetzung mit Nichtjuden, von den höheren Sphären der traditionellen und staatlichen Bildungs- und Kulturinstitutionen (zum Beispiel Universitäten, Hoftheater und Museen) ausgeschlossen waren; die Spitzen der wilhelminischen Kulturlandschaft blieben ›judenfrei‹. Konsequenterweise wurde der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die wichtigste Abwehrorganisation deutscher Juden, 1893 als Reaktion gegen den zunehmenden Antisemitismus gegründet. Vier Jahre zuvor wurde die Freie Bühne lanciert, nicht nur um verbotene und kommerziell untaugliche Stücke aufzuführen, wie immer behauptet wird, sondern auch um – so meine These – einen kulturellen Freiraum für Juden in einem zunehmend antisemitischen Umfeld zu schaffen. Er wurde gegründet von Juden, die 12 | Arnold Zweig: Juden auf der deutschen Bühne, Berlin 1928, S. 101-102. 13 | Vgl. George Mosse: German Jews Beyond Judaism, Bloomington 1985. 14 | Vgl. Karsten Krieger (Hg.): Der ›Berliner Antisemitismusstreit‹ 1879-1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Bde., München 2003.

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von der damaligen Leitkultur ausgeschlossen waren. Der Kulturraum aber, den sie errichtet haben, war nicht nur für Juden bestimmt, sondern er stand allen offen, die innovativ und experimentierfreudig waren. Dieser Kulturraum griff auf die Ideale der Aufklärung zurück – das heißt auf Ideale, die der nationalistischen Kulturauffassung des Wilhelminismus widersprachen. Nicht alle Aufführungen der Freien Bühne wurden von allen Mitgliedern gebilligt; aber ihnen war klar, dass nur offene kulturelle Unternehmen, wie die von Brahm, eine uneingeschränkte jüdische Partizipation ermöglichten. In der Tat waren es überwiegend junge nichtjüdische Dramatiker, die von der Freien Bühne und später vom Deutschen Theater profitierten. Deswegen waren weder der Stil noch die Thematik ihrer Stücke explizit jüdisch. Dennoch waren kulturelle Initiativen wie die von Brahms ›jüdische‹ Organisationen, insofern sie von Juden gegründet und überwiegend von Juden unterstützt wurden – von einer Gruppe also, die wegen ihrer Ausgrenzung eine offene Kultursphäre schaffen wollte. * * * Aus dieser Perspektive sind auch die Bestrebungen Max Reinhardts (1873-1943) anders zu verstehen. Die Tatsache, dass seine Produktionen oft antinaturalistisch (also gegen Brahm gerichtet) waren, deutet darauf hin, dass es keinen ›jüdischen Stil‹ in der Theaterregie gegeben haben kann. Brahm und Reinhardt haben auf jeweils verschiedene Weise, jedoch auf ähnliche soziale und kulturelle Hindernisse reagiert, was auch nicht verwunderlich ist, da beide für eine pluralistische und heterogene Kultur plädierten. Reinhardt, der Sohn eines bescheidenen jüdischen Geschäftsmanns aus Wien, hatte seine Lehre in einer Bank früh aufgegeben, um Schauspieler zu werden. 1894 wurde er in Salzburg von Brahm entdeckt und nach Berlin geholt – was sich als Paradox herausstellte, denn es war Reinhardt, der Brahms Naturalismus schließlich ein Ende bereiten sollte. Obwohl er ein angesehenes Mitglied des Deutschen Theaters war, fühlte sich Reinhardt von Brahms ultrarealistischer Regie eingeengt. Ab 1901 entfernte sich Reinhardt allmählich von ihm, ein Prozess, der mit der Gründung des Kabaretts Schall und Rauch einsetzte. Das Kabarett war, wie früher die Freie Bühne, anfangs eine aus Theaterliebhabern bestehende geschlossene Gesellschaft; folglich waren die meisten Nummern der ersten Programme Theaterparodien (wie zum Beispiel eine vierfache Parodie des Don Carlos, gespielt als Aufführung eines Schmierentheaters, als naturalistisches Drama, als völlig unverständliches symbolistisches Stück und als eine Varieté- und Kabarett-Nummer).15

15 | Zur Geschichte von Schall und Rauch vgl. Peter Jelavich: Berlin Cabaret, Cambridge, Mass. 1993, S. 62-84; Peter Sprengel (Hg.): Schall und Rauch. Erlaubtes und Verbotenes, Berlin 1991.

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Reinhardt parodierte das Theater gewiss nicht, um es zu verleumden; in der Tat waren wenige Leute so theaterbegeistert wie er. Er kritisierte aber die Zersplitterung der Theaterkunst in mehrere exklusive Stilrichtungen, wie er schon 1895 andeutete: Früher gab es gute und schlechte Schauspieler. Heute gibt es pathetische, naturalistische, deklamatorische, moderne, realistische, ideale, pathologische, äußerliche und innerliche Schauspieler, Stimmungsschauspieler, Gefühlsschauspieler u. Vernunftschauspieler etc. etc. etc. etc. Früher gab’s Menschendarsteller. Heute existieren Ibsen-Darsteller, Hauptmann-Darsteller, Stilschauspieler u.s.w. – Auch ein Zeichen unserer Zeit, die das Bedürfnis hat, mit kleinlicher Pedanterie auch in der Kunst alles einzuschachteln, in Fächer, Kasten u. Formen einzuzwängen.16

Reinhardt opponierte nicht gegen eine bestimmte Stilrichtung – auch nicht gegen den Naturalismus –, sondern gegen jede Stilrichtung, die sich als die allein seligmachende ausgab. Als er vom Kabarettleiter zum Regisseur von Einaktern und dann abendfüllenden Stücken avancierte, setzte er ein äußerst breites Spektrum von Dramen in Szene, von antiken Stücken über Shakespeare und die deutschen Klassiker bis zu modernen Autoren wie Oscar Wilde (1854-1900), August Strindberg (1849-1912), Maurice Maeterlinck (1862-1949), Frank Wedekind (1864-1918) und Hugo von Hofmannsthal (1874-1929). In seinen Aufführungen wurde derjenige Regie- und Ausstattungsstil verwendet, der nach Reinhardts Empfinden am besten zum jeweiligen Drama passte. Obwohl er gegen Brahms Naturalismus rebellierte, war sein Bestreben dem der Freien Bühne vergleichbar: Mit einem viel breiteren Stilspektrum erweiterte er den kulturellen Freiraum, den Brahm eröffnet hatte. Und wie Brahm wurde Reinhardt besonders von jüdischen Kreisen unterstützt. Die Mitgliedslisten von Schall und Rauch und von der Nachfolgebühne, das Kleine Theater, enthalten – wie die von der Freien Bühne – viele jüdische Namen.17 Reinhardt hat gelegentlich jüdische Themen behandelt; Brahm vermied sie. Obwohl Brahm sich als »der alte (konfessionslose) Jude« bezeichnete, hat er eine Aufführung von Arthur Schnitzlers (1862-1931) Professor Bernhardi – ein Stück über den katholischen Antisemitismus in Wiener Ärztekreisen – abgelehnt, nicht nur, weil Katholiken keine wesentliche Rolle in Berlin spielten, sondern auch mit der irrtümlichen Behauptung: »Die Berliner jüdischen Ärzte sind nicht verfolgt, sie dominieren.«18 Dagegen wurden jüdische Themen von Reinhardt aufgegriffen; 16 | Brief an Berthold Held, 9.3.1895, in: Hugo Fettig (Hg.): Max Reinhardt. Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, Berlin 1989, S. 61. 17 | Siehe zum Beispiel die Einladungsliste zur geschlossenen Aufführung von Wildes Salome am 15.11.1902, in: Landesarchiv Berlin [im Folgenden LAB], Pr. Br. Rep. 30 Berlin C, Pol. Präs. Tit. 74, Th 815, Bl. 39-49. 18 | Brahm an Schnitzler, 19.9.1912, in: Oskar Seidlin (Hg.): Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm, Tübingen 1975, S. 347-348.

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aber die Reaktionen darauf beweisen, dass auch in dem angeblich freien, von Juden für Juden sowie auch Nichtjuden geschaffenen Kunstraum jüdische Themen zu Differenzen führen konnten. Wie schon erwähnt: Am Anfang wurde Schall und Rauch als geschlossene Gesellschaft betrieben, deren Mitglieder nicht nur Theaterliebhaber, sondern auch überwiegend Juden waren. Deswegen zögerte Reinhardt nicht, Witze über Juden zu machen, auch solche, die vor einem nichtjüdischen Publikum unangebracht gewesen wären. In der naturalistischen Fassung der Don Carlos-Parodie erscheint zum Beispiel die Figur des Abgeordneten Markwitz, der im Text so beschrieben wird: Er ist zweifellos Hebräer, giebt sich aber ungerne zu erkennen. Im übrigen hat er sich bereits mehrmals, aber ohne ersichtlichen Vorteil der Taufe unterzogen. Seine Nase hat die kühne Bogenlinie des auserwählten Volkes. Sie ist weiß und gewaltig und schwitzt beständig. Unter dieser Nase sträubt sich ein Schnurrbart gegen die ihm aufgenötigte ›Es ist erreichtForm‹. Seine Zunge ist ziemlich anstößig, seine Sprechweise guttural und auch die Beine sind nicht ganz einwandfrei. Sie bedienen sich beim Gehen des jüdischen Jargons. 19

Mit dieser krassen Karikatur zeigte Reinhardt deutlich, dass bedingungslose Assimilation nicht seine Sache war. Dabei zögerte er aber auch nicht, mehrere üble antisemitische Klischees zu verwenden. Dies war auch der Fall in seiner Orestie-Parodie, die einen Börsianer-Chor folgendermaßen beschreibt: »Es sind wohlgenährte und wohlgekleidete Männer in Hut und Überrock und mit intensiv römischen Nasen. Sie beugen und krümmen sich, murmeln und seufzen wie vor den Klagemauern Jerusalems.«20 Solche Parodien haben anscheinend zu keinen Protesten geführt, solange Reinhardt und seine Kollegen vor einem überwiegend jüdischen Publikum gespielt haben; sie waren aber weniger gern gesehen, als die Schall und Rauch-Truppe ab Oktober 1901 öffentlich auftrat. Im März 1902 berichtete die Berliner Polizei, dass Emanuel Reichers (1849-1929) Vortrag einer »Geschichte des toten Rabbi« niedergezischt wurde, wonach sieben jüdische Studenten vorübergehend verhaftet wurden.21 Obwohl es aus den Archiven nicht zu erfahren ist, wogegen genau die Studenten protestierten, kann man vermuten, dass sie sich über Anekdoten ärgerten, die Stereotypen des Judentums reproduzierten. Danach vermied Reinhardt es drei Jahre lang, jüdische Themen auf die Bühne zu bringen, bevor sie in seiner Inszenierung vom Kaufmann von Venedig im November 1905 wieder auftauchten. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits zu Berlins meistdiskutiertem Theaterregisseur avanciert; am Anfang des Jahres hatte er sogar 19 | Max Reinhardt: »Karle. Diebskomödie«, in: ders. (Hg.): Schall und Rauch, Berlin 1901, S. 79. 20 | Max Reinhardt: »Diarrhoesteia des Persifleges. Durchfallstragödie in mehreren Aktionen«, in: ebd., S. 129. 21 | Polizeibericht vom 21.3.1902, in: LAB Pr. Br. Rep. 30 Berlin C, Pol. Präs. Tit. 74, Th 804, Bl. 245.

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das Deutsche Theater, wo seine Berliner Karriere zehn Jahre früher unter Brahms Leitung begonnen hatte, übernommen. Sein Konzept vom Kaufmann von Venedig war für jene Zeit völlig neu. Im 19. Jahrhundert wurde das von Shakespeare selbst als »Komödie« bezeichnete Stück zumeist als ein dunkles Drama inszeniert; oft wurde sogar der fröhliche fünfte Akt gestrichen, die Aufführungen wurden mit Shylocks Demütigung im vierten Akt beendet. Reinhardt dagegen ließ alle fünf Akte spielen, wobei Shylock fast als Nebenrolle behandelt wurde. Die Figur wurde von Rudolf Schildkraut (1862-1930) vorwiegend mit Zurückhaltung gespielt. Der Kritiker Heinrich Stümcke (1872-1923) beschrieb, wie Schildkrauts Shylock zuerst wohl eher gelassen auf antijüdische Sticheleien reagierte, als ob er daran gewöhnt wäre. Erst als er mit dem Verlust seiner Tochter Jessica konfrontiert wird, explodiert der »Haß, den Shylock infolge jahrelang erduldeter Unbill in sich aufgespeichert hat«. Dieser »Haß reißt Schildkrauts Juden so weit fort, daß er sich selbst korrigiert und beispielsweise, wenn er die Verwünschung der Tochter ausgestoßen hat, sich erschrocken auf den Mund schlägt, um die Worte zu bannen.« Im Gegensatz zu sonstigen Aufführungen war »die hervorstechendste Eigenschaft« von Schildkrauts Shylock der »Haß, nicht die Gewinnsucht und der Handelsgeist«.22 Heinrich Hart (1855-1906) schrieb in seiner Rezension, dass Schildkrauts Shylock »anfangs etwas Behagliches [hat], er ist nicht ohne Vornehmheit und nicht ohne Humor. Ein Hasser nicht aus Herzensniedrigkeit, aus Bosheit, sondern aus leidvoller Erfahrung. […] Und ins Unmenschliche, ins Unbarmherzige steigert erst der Verrat der Tochter seinen Haß«. Hart empfand Reinhardts Kaufmann von Venedig als »eine heimliche Predigt für Toleranz und Humanität, die durch eine Darstellung, wie sie Schildkraut wagt, viel an Deutlichkeit gewinnt«.23 Dagegen kritisierte die ausgesprochen antisemitische Neue Preußische Zeitung (Kreuz-Zeitung) – deren Feuilleton ständig über die »Verjudung« der Berliner Theaterlandschaft schimpfte – Reinhardts Versuch, »Shakespeare für den Philosemitismus zu retten […] indem man den geizigen Juden idealisiert.«24 Obwohl von Kritikern viel beachtet, war Schildkrauts Shylock aber eher eine sekundäre Erscheinung in Reinhardts Inszenierung. Die Aufführung war auf die Liebesgeschichte zwischen Portia und Bassanio fokussiert, für die eine farbenprächtige venezianische Ausstattung des Jugendstilkünstlers Emil Orlik (1870-1932) mit Musik von Engelbert Humperdinck (1854-1921) als Rahmen diente. Wohl deswegen wurde Reinhardts Kaufmann von Venedig zum Erfolg und wurde über 200 mal aufgeführt. Siegfried Jacobsohn (1881-1926) bemerkte: »Venetianische Lebenslust 22 | Heinrich Stümcke: »Von den Berliner Theatern 1905/06«, in: Bühne und Welt 8 (19051906), S. 210-211. Zu Schildkrauts Shylock-Darstellung vgl. Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen 2008, S. 165-179. 23 | Heinrich Hart: Der Tag 11.11.1905, in: Norbert Jaron/Renate Möhrmann/Hedwig Müller (Hg.): Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914), Tübingen 1986, S. 595. 24 | Theodor Müller-Fürer in: Neue Preussische Zeitung 10.11.1905, zit.n. ebd., S. 592.

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ist die Dominante der Aufführung, hebräisches Lebensleid nur ein dissonierender Ton.«25 Fünfzig Jahre später schrieb Fritz Kortner (1892-1970) im Rückblick: »Von heute aus gesehen war die gesamte Reinhardtsche Aufführung gesellschaftsunkritisch. Alle waren bezaubernd, lustig, übermutig, charmant, melancholisch; und Shylock ein trauriger, bedauerlicher, aber auch herzgewinnender Einzelfall.«26

Abb. 8: Rudolf Schildkraut als Shylock.

Reinhardts ambivalente Inszenierung des Kaufmanns von Venedig – worin Shylock sympathisch dargestellt, jedoch zugleich als Nebenrolle behandelt wurde – unterstreicht das Dilemma derjenigen Theaterdirektoren, die Dramen mit jüdischen Themen aufführen wollten. Mit wenigen Ausnahmen (an erster Stelle Lessings Nathan der Weise) waren die Darstellungen jüdischer Figuren bestenfalls sentimental, zumeist aber von antisemitischen Stereotypen geprägt, als Musterbeispiele gelten Shakespeares Shylock wie auch Marlowes Jude von Malta. Erst die moderne jiddischsprachige Literatur bot andere Muster an, und in der Tat wurde Der Gott der Rache von Schalom Asch (1880-1957) auf Reinhardts Bühne gespielt (obwohl nicht von ihm, sondern von Ephraim Frisch inszeniert) – eine Tragödie, in der ein Bordellbesitzer (von Schildkraut dargestellt) verzweifelt versucht, seine 25 | Siegfried Jacobsohn: Max Reinhardt, Berlin 1910, S. 2. 26 | Fritz Kortner: Aller Tage Abend, München 1959, S. 86.

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Tochter vor seinem eigenen unehrbaren Ruf zu schützen. Das Stück wurde nur 20mal gespielt – und auch das wohl nur wegen der reißerischen Thematik, darunter eine lesbische Szene zwischen der Tochter und einer Prostituierten (das Drama wurde sogar 1923 in New York aus Sittlichkeitsgründen verboten).27 Danach hatten zeitgenössische jiddische Stücke auf Reinhardts Bühnen überhaupt keinen Erfolg mehr: 1911 wurde David Pinskis (1872-1959) Der Schatz nur dreimal gespielt, 1913 Der Bund der Schwachen von Asch nur viermal.28 Während Brahm kein Interesse an jüdischen Themen zeigte, waren Reinhardts gelegentliche Versuche, jüdische Dramen aufzuführen, mit Ausnahme vom Kaufmann von Venedig gescheitert. Anders sah es in den neuesten und populärsten Theaterbereichen aus: im Kabarett, in Revuen, im Jargontheater und im Film. Je ›tiefer‹ man in die Theaterlandschaft herunterstieg und je neuer die Medien, desto offener wurden jüdische Themen behandelt. Was aber die ›unteren‹ mit den ›oberen‹ Bereichen des von Juden getragenen Theaters gemein hatten, war das Engagement für Offenheit und Pluralismus. Steigen wir also kurz hinab. * * * Das deutsche Kabarett wäre ohne Juden undenkbar gewesen. Im Gegensatz zum Sprechtheater und Drama, wo kaum jüdische Schriftsteller zu finden waren, spielten Juden eine zentrale Rolle in allen Aspekten des Kabaretts, zumal als Lyriker und Komponisten. Das erste deutsche Kabarett, das Bunte Theater in Berlin, das im Januar 1901 eröffnete, wurde nicht von einem Juden gegründet – Ernst von Wolzogen (1855-1934) selbst war sogar ausgesprochen antisemitisch –, aber die Musik des jüdischen Hauskomponisten Oscar Straus (1870-1954) trug wesentlich zum Erfolg des Unternehmens bei. Bald danach kam Schall und Rauch als zweites bedeutendes Berliner Kabarett hinzu. Langfristig waren die erfolgreichsten Kabaretts der Kaiserzeit die von Rudolf Nelson (1878-1960) geleiteten, der als junger Mann einige sehr unglückliche Jahre in der Textilbranche verbrachte, bevor er sich der Musik zuwandte. Bekannt wurde er als Pianist und Chansonkomponist, der für äußerst exklusive, auch aristokratische Berliner Kreise spielte; 1908 gab er sogar eine Privatvorstellung für den Kaiser. Gleichzeitig gründete er zwei Kabaretts, das Roland von Berlin und das Chat Noir. Auch dort bestand sein Publikum hauptsächlich aus reichen Nichtjuden. Das Hauptthema seiner Lieder war konsequenterweise die Berliner High Society. Aber Nelson verheimlichte seine jüdische Identität nicht, denn manche seiner erfolgreichsten Lieder erinnerten an das jüdische Handelsmilieu seiner Jugend. Sehr populär war zum Beispiel sein Lied Jacques Manasse

27 | Vgl. Nahma Sandrow: Vagabond Stars. A World History of Yiddish Theater, New York 1977, S. 183-184. 28 | Statistik nach Franz Horch (Hg.): Die Spielpläne Max Reinhardts, 1905-1930, München 1930, S. 11, 14, 22, 28.

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(1912), worin am Anfang eine junge Frau ihre erste Stelle antritt und den anderen Angestellten vorgestellt wird: Zuerst dem Lehrling Jacques Manasse, dem Jüngling mit der Portokasse, hierauf dem strengen Prokurist, der im Haus Reklamechrist, und dann dem stillen Compagnon, der über fünfzig und Garçon, und dann in eigener Person, dem Chef der Firma I. S. Cohn. 29

Abb. 9: Jacques Manasse: Titelbild. Die folgenden Strophen beschreiben, wie diese Männer sich in sie verlieben, wie die junge Frau Rendezvous mit allen hat und wie sie am Ende – nachdem sie ein Kind bekommen hat – die Runde macht, um Alimente zu kassieren. Sogar das Titelbild zitierte visuelle Klischees von Juden. Eine ähnliche Kombination von hauptsächlich nichtjüdischer Thematik mit einer leichten Beimischung von jüdischen Sujets war auch in den Programmen 29 | Rudolf Nelson/Willy Hagen: Jacques Manasse, Berlin 1912.

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der äußerst erfolgreichen Revuen zu sehen, die im Metropol-Theater zwischen 1903 und 1913 aufgeführt wurden.30 Der Hauslyriker Julius Freund (1862-1914) und der Hauskomponist Victor Hollaender (1866-1940) waren beide Juden. Das Hauptthema der Revuen war Berlin, insbesondere die Lebendigkeit und Vielfalt seiner großstädtischen Kultur. Vom Kabarett Schall und Rauch übernahm Freund die Idee, andere Theaterstücke zu parodieren, auch die von Reinhardt. Aber die Metropol-Revuen haben zumeist Berlins kommerzielle Seiten zugleich gepriesen und persifliert, insbesondere die Mode. Textilindustrie und Modehandel waren Berlins zweitgrößte Erwerbsbranche (der Staatsdienst stand an erster Stelle), und sie wurden überwiegend von Juden betrieben. Die Darstellung der neuesten Moden auf der Bühne des Metropol-Theaters machte also Reklame für die ›jüdischste‹ Branche der Berliner Wirtschaft. Obwohl die ausgesprochen nicht-kommerzielle Freie Bühne und das äußerst kommerzielle Metropol-Theater zu zwei entgegengesetzten Kulturbereichen gehörten, hatten ihre Direktoren dennoch ein gemeinsames Ideal: nämlich das Anpreisen ihrer Unvoreingenommenheit dem Neuen gegenüber. Beide führten das Neueste auf – sei es in der Theaterkunst, sei es im Kommerz. Beide waren aber auch der Meinung, dass nicht alles Neue unkritisch akzeptiert werden sollte. Deswegen erwartete Brahm Kritik und förderte sie auch, während die Metropol-Revuen die neuesten Trends sowohl präsentierten als auch wohlwollend parodierten. Wie schon erwähnt, diese Mentalität war nicht ausschließlich ›jüdisch‹ denn auch Nichtjuden haben davon profitiert, aber sie führte zur Gründung mehrerer Organisationen, die den Juden einen Platz in der deutschen Kulturlandschaft sichern konnten. Toleranz wurde ausdrücklich in einem Sketch des Metropol-Theaters aus dem Jahre 1907 thematisiert, in einer Parodie der damaligen Debatte über den Einfluss von Anlage oder Umwelt in der persönlichen Entwicklung. In dem Sketch wurden zwei Kinder aus unterschiedlichen Familien sechs Monate lang ausgetauscht.31 Das eine Kind wurde als Sohn des als rabiaten Antisemiten sehr bekannten Graf Pückler dargestellt. Das andere Kind wurde als Herrnfeld-Tochter präsentiert – eine Anspielung auf die Brüder Herrnfeld, die ein beliebtes jüdisches Jargontheater leiteten. Nach sechs Monaten unter den Juden redet Pücklers Sohn wie ein Großstadtjunge mit pseudo-jiddischer Aussprache; nach sechs Monaten auf dem Gutshof spricht die Herrnfeld-Tochter wie eine hochnäsige Aristokratin, die sich als teutonisch ausgibt und auf die Großstadt schimpft. Das Stück widersprach also klar der Behauptung der Rassisten, dass Mentalitäten vererbbar seien. Auch visuell parodierte der Sketch die Antisemiten, denn während die Herrnfeld-Tochter von der sehr glamourösen und jüdischen Sängerin Fritzi Massary (1882-1969) dargestellt wurde, wurde Pücklers Sohn von dem kleinen, 30 | Zur Geschichte des Metropol-Theaters vgl. Jelavich: Berlin Cabaret, S. 104-117; Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, Cambridge 2006, S. 205-244. 31 | Julius Freund: Das muß man seh’n!, Typoskript 1907 (LAB), S. 51-58.

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dicken und nichtjüdischen Charakterdarsteller Guido Thielscher (1859-1941) gespielt – also eine Umkehrung der rassistischen These von arischer Schönheit und jüdischer Hässlichkeit.

Abb. 10: Fritzi Massary und Guido Thielscher als Herrnfeld-Tochter und Pückler-Sohn.

Diesselbe Offenheit hat das Gebrüder Herrnfeld-Theater charakterisiert. Alle Stücke wurden von Anton (1866-1929) und Donat Herrnfeld (1868-1916) geschrieben, sie traten auch selbst auf, wobei Donat zumeist eine jüdische Rolle übernahm, während Anton einen Böhmen, Bayer oder Berliner mimte.32 Es war das Berliner Musterbeispiel von ›Jargontheater‹, da Donat in einer künstlichen Sprache redete, die sich durch einen angeblich jiddisch klingenden Satzbau und die Beimischung 32 | Zur Geschichte des Gebrüder Herrnfeld Theaters vgl. Peter Sprengel: Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877 bis 1933, Berlin 1997, S. 55-117; Heidelore Riss: Ansätze zu einer Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin 1889-1936, Frankfurt a.M. 2000, S. 20-54; Otte: Jewish Identities, S. 128-165; dies.: »Eine Welt für sich? Bürger im Jargontheater, 1890-1920«, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001, S. 121-145.

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von hebräischen und jiddischen Worten auszeichnete. Dieses ›Mauscheln‹ sowie die oft klamaukige Schauspielerei irritierten manche jüdische Bildungsbürger, auch wurde in der internen Korrespondenz der Berliner Zensurbehörde herablassend über das Herrnfeld-Theater geschrieben: Die hauptsächlichen Repertoirestücke […], in denen jüdischer Jargon und jüdische Lebensgewohnheiten eine Hauptrolle spielen, stehen in keiner Weise auf einem höheren künstlerischen Niveau. Die Mehrzahl von ihnen […] sind derart, daß sie einem künstlerisch und ästhetisch feinfühligen Menschen kein Interesse einflößen können, einen solchen vielmehr eher abstoßen als anziehen müssen. Wenn sie gleichwohl bei dem meist den kleinen oder mittleren jüdischen Kreisen angehörenden Publikum lebhaften Beifall finden, so spricht dies nicht für die künstliche Qualität der Stücke, sondern nur für die Anspruchslosigkeit der Zuschauer in künstlerischer Beziehung. 33

Wie dem auch sei, bemerkenswert ist, dass auch im Herrnfeld-Theater gegenseitige Toleranz humorvoll propagiert wurde. In den Stücken wurden Juden als gleichberechtigter ›Stamm‹ unter mehreren deutschen ›Stämmen‹ dargestellt: Nicht nur Juden, sondern auch Preußen, Sachsen, Böhmern, Bayern und andere wurden liebevoll karikiert, und am Ende wurden alle Unterschiede aufgehoben.34 Deutschland wurde dadurch als multiethnische und multikulturelle Gesellschaft dargestellt – eine Vision, die dem völkischen Bild einer rassisch und kulturell homogenen Nation widersprach. Auch der Film, das neueste Massenmedium im Kaiserreich, bot den Juden neue Möglichkeiten, an der Unterhaltungskultur mitzuwirken. Der Film wurde besonders von denjenigen Mittelschichten – ob jüdisch oder nichtjüdisch – entwickelt und getragen, die ausdrücklich nicht zum Bildungsbürgertum gehörten. Bildungsbürger bekämpften sogar den frühen Film heftig.35 Die Filmhistorikerin Heide Schlüpmann schreibt:

33 | Reg.-Assessor Klotz an den Oberpräsident in Potsdam, Februar 1902, LAB Pr. Br. Rep. 30 Berlin C, Pol. Präs. Tit. 74, Th 777, Bl. 90-90r. 34 | Zum Begriff der Juden als deutscher ›Stamm‹ vgl. Michael Brenner: »Religion, Nation oder Stamm. Zum Wandel der Selbstdefinition unter den Juden«, in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 587-601; Till van Rahden: »Germans of the Jewish Stamm. Visions of Community between Nationalism and Particularism, 1850 to 1933«, in: Neil Gregor/ Nils Roemer/Mark Roseman (Hg.): German History from the Margins, Bloomington 2006, S. 27-48. 35 | Vgl. Peter Jelavich: »›Darf ich mich hier amüsieren?‹ Bürgertum und früher Film«, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 283-303.

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P ETER J EL AVICH Kino und Filmproduktion entwickelten sich jedoch im wilhelminischen Deutschland noch weitgehend unabhängig vom Bildungsbürgertum. Sie stützten sich auf alle jene bürgerlichen Kräfte, die sich von der ›Kultur‹ ausgeschlossen fanden: Technik, Wirtschaft, Artistik und Schaustellertum, sowie die Schauspieler als Produktivkräfte; dazu Frauen unterschiedlichster Herkunft, die ›kleinen Leute‹, Arbeiter und Angestellte als Publikum. 36

Insbesondere Juden begriffen den Film als Chance für eine Partizipation an der Unterhaltungskultur.37 Ein Musterbeispiel hierfür war Paul Davidson (1867-1927), Sohn eines ostpreußischen Kaufmanns und selbst in seiner Jugend Textilkaufmann, der sich in Frankfurt am Main niederließ und eine ganze Filmbranche aufbaute. 1906 wurde die erste Filiale seiner rasch expandierenden Union-Theater Kette in Mannheim eröffnet; vier Jahre später gründete er die PAGU Filmproduktionsfirma, zwei Jahre danach verlegte er seinen Geschäftssitz nach Berlin. Davidson lancierte Asta Nielsen (1881-1972), den ersten Star des deutschen Films, er ermunterte auch viele bekannte jüdische Bühnenschauspieler (Reicher, Schildkraut) und Regisseure (Reinhardt) zum Film.38 Die ersten Filme von Ernst Lubitsch (1892-1947) waren auch PAGU-Produktionen. Auch Lubitsch – der Sohn des Inhabers eines Berliner Frauenkleidergeschäfts – fing als Lehrling bei einer Kleiderfirma an und wurde dann Buchhalter im Geschäft seines Vaters. Aber auch ihn zog es zum Theater. Nachdem er kleine Rollen in Reinhardts Deutschem Theater gespielt hatte, wechselte er zum Film. In Die Firma heiratet (1914) spielte Lubitsch eine wichtige Nebenrolle: Moritz Abramowsky, Lehrling in einem jüdischen Kleidergeschäft, der alles vermasselt, aber dennoch seinen Job rettet, indem er eine Frau für seinen Chef findet. Film und Schauspieler waren so populär, dass Lubitsch in seinem nächsten Film – Der Stolz der Firma (auch 1914) – die Hauptrolle übernehmen konnte. Auch hier spielte er einen Lehrling in einem Geschäft in einer östlichen Provinzstadt. Nachdem er aufgrund seiner Ungeschicklichkeit den Laden demoliert hat, verliert er diesen Job und zieht nach Berlin, wo er nochmals in einem Kleidergeschäft angestellt wird. Diesmal gelingt es ihm, sich hochzuarbeiten, und am Ende heiratet er die Tochter des Ladeninhabers. Diese und auch spätere Lubitsch-Filme spielten unter jüdischen Kleiderhändlern – ein Milieu, das nie auf der ›großen‹ Bühne und nur

36 | Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel 1990, S. 13. 37 | Vgl. Hans Feld: »Jews in the Development of the German Film Industry. Notes from the Recollections of a Berlin Film Critic«, in: Leo Baeck Year Book 27 (1982), S. 337-365; Irene Stratenwerth/Hermann Simon (Hg.): Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004. 38 | Zu Davidson vgl. Evelyn Hampicke/Christian Dirks: »Paul Davidson 1867-1927. Produzent und Kinobetreiber«, in: Stratenwer th/Simon (Hg.): Pioniere in Celluloid, S. 49-55.

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gelegentlich im Kabarett und in Revuen zu sehen war; dahingegen war es oft der Schauplatz von Stücken des Gebrüder Herrnfeld-Theaters.39 Trotz thematischer Differenzen zeichnet sich in dem ganzen Spektrum der jüdischen Teilnahme am Berliner Theater ein spezifisches Muster ab: Juden gründeten und förderten Institutionen, mithilfe derer sie (zusammen mit Nichtjuden) neue Kulturformen und Genres auf allen Ebenen entwickeln konnten und die auch inhaltlich Offenheit und Pluralität propagierten. Dieses Muster war sogar in den neuen und ›untersten‹ Gattungen und Medien der Schauspiel- und Unterhaltungskunst offensichtlich. Dass sich nach wie vor Historiker in der Aufarbeitung dieses Segments der Theatergeschichte vorwiegend auf das Bildungsbürgertum konzentrieren, lässt diesen Umstand unberücksichtigt: ein verständlicher Irrtum, denn auch damals wollten viele arrivierte jüdische Bürger ihre nichtbürgerliche Herkunft vertuschen. Das wohl prägnanteste Bild, welches diese Problematik thematisiert, ist die letzte Szene von Lubitschs Stolz der Firma.

Abb. 11: Zweimal Lubitsch: Der Stolz der Firma, Schlussbild. Auf der linken Seite des Bildes sehen wir den jungen Lehrling, wie am Anfang des Films, der lächelnd direkt in die Kamera schaut und mit seinem Daumen nach rechts zeigt; dort sehen wir ihn gleichzeitig als ›gemachten‹ Mann am Ende des Films, der nach links blickt und mit einer entsetzten, abwehrenden Geste versucht, sein früheres Ich und seine soziale Vergangenheit abzuschütteln. Damit wollten 39 | Zur Beziehung zwischen den Herrnfeld-Brüdern und Lubitsch vgl. Irene Stratenwerth: »Vorspiel auf dem Theater: Vom Possenspiel der Brüder Herrnfeld zu den Lubitsch-Komödien im Kino«, in: dies./Simon (Hg.): Pioniere in Celluloid, S. 147-165.

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Lubitsch und die anderen Produzenten des Films wohl sagen: Die ›arrivierten‹ Juden sollen ihre eigene soziale Vergangenheit nicht verheimlichen, sie sollen auch nicht diejenigen verleugnen, welche immer noch zu den ›unteren‹ Schichten gehören. Und was für die soziale Solidarität gilt, gilt auch für die Kultur: Denn in den populärsten Ebenen der Unterhaltung zeigte sich in aller Deutlichkeit eine offene und pluralistische Mentalität, die auch in den höchsten Sphären der Schauspielkunst, in denen Juden tätig waren, vorhanden war – wenn auch in indirekter und verschleierter Form.

Kiezvergnügen in der Metropole Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten Hanno Hochmuth und Johanna Niedbalski

Die tausend Freuden der Metropole boten nicht nur Vergnügen, sondern auch Anlass zur Sorge. Dies galt in besonderem Maße, wenn die neuartigen populären Unterhaltungsformen von den städtischen Unterschichten genutzt wurden. Bildungsbürgerliche Eliten sahen darin eine gefährliche Mesalliance und warnten auf vielfältige Art und Weise vor den Übeln, die die Großstadt mit ihren zahllosen Vergnügungsangeboten vor allem für die ungebildeten Schichten bereithalte. Um diesen Warnungen bei den gefährdeten Adressaten selbst Gehör zu verschaffen, verließen einige protestantische Großstadtkritiker ihr bürgerliches Umfeld und siedelten sich inmitten der proletarischen Lebensräume an, die ihnen häufig wie eine fremde Welt erschienen. Die Industriestädte des 19. Jahrhunderts zeichneten sich durch schroffe soziale Gegensätze aus. Bürgerliche Repräsentation und proletarisches Elend, mondäner Luxus und ländliche Zuwanderung, Villen am Stadtrand und Massenquartiere in den ärmeren Vierteln, hohe Mobilität der Bevölkerung bei gleichzeitiger starker räumlicher Segregation prägten die urbanen Landschaften und die Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner. Den Wohlhabenden erschien ein Besuch in den ›Slums‹ genauso exotisch wie eine Expedition in ein fernes Land. ›Slumming‹, der touristische Besuch in den armen Quartieren der eigenen Stadt, wurde zu einer weit verbreiteten Modeerscheinung. Für einige sozialreformerisch oder missionarisch motivierte Bildungsbürger wurde das ›Absteigen‹ in die sozialen ›Tiefen‹ der Stadt jedoch auch über den modischen Event hinaus zu einer Lebensaufgabe. Vor allem in den Industriestädten Großbritanniens und der USA reichte dieses Engagement so weit, sich dauerhaft in den Elendsquartieren niederzulassen. Diese so genannten ›Settlements‹ waren ein Versuch, die räumliche Segregation zu überwinden, durch Bildungsarbeit soziale Spannungen abzubauen und den Klassenkampf durch praktische Nächstenliebe zu überwinden.1 1 | Vgl. Seth Koven: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton,

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H ANNO H OCHMUTH UND J OHANNA N IEDBALSKI

In Deutschland wurden die englischen und amerikanischen Ideen zwar rezipiert und aufgenommen, fanden aber nur wenige Nachahmer.2 Eine Ausnahme bildete der junge protestantische Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze (18851969), der das Settlement-Modell auf einer Englandreise kennengelernt hatte und es daraufhin vom Londoner East End auf den Berliner Osten übertrug. Mitsamt Familie verließ er im Jahre 1911 seine Stelle in Potsdam-Sanssouci und zog in das Stralauer Viertel.3 Der Stadtteil, der seit 1920 den westlichen Teil des neu gebildeten Bezirks Friedrichshain bildete, hatte sich seit den 1860er Jahren zu dem am dichtesten bevölkerten Gebiet Berlins entwickelt4 und galt als einer der ›Hinterhöfe‹ der Stadt.5 Dem ausgesprochenen Arbeiter- und Kleinbürgerviertel hing darüber hinaus der Ruf an, das Zentrum der Berliner Unterwelt zu sein, in dem kriminelle Ringvereine mehr zu sagen hätten als die Polizei.6 Diese Gegend, dessen Postzustellbezirk O 17 auch als Chiffre für das ›Dunkle Berlin‹ stand, erschien Siegmund-Schultze als genau der richtige Ort für sein inneres Missionswerk. Noch im selben Jahr 1911 gründete Siegmund-Schultze die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG), die ihren Sitz zunächst in der Friedenstraße 61 hatte. Ziel der SAG war es, die eigenen sittlichen Maßstäbe zu verbreiten und die ungebildeten Arbeiterinnen und Arbeiter des Berliner Ostens zu kultivieren, indem vor allem den jugendlichen proletarischen Bewohnern Ersatzangebote gemacht

New Jersey 2004; Rolf Lindner: »Vom Besucher zum Nachbarn. Eine kurze Passage durch die Geschichte der Liebesarbeit«, in: ders. (Hg.): ›Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‹. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 15-25. 2 | Vgl. Christoph Sachße: »Friedrich Siegmund-Schultze, die ›Soziale Arbeitsgemeinschaft‹ und die bürgerliche Sozialreform in Deutschland«, in: Heinz-Elmar Tenorth/Rolf Lindner/Frank Fechner/Jens Wietschorke (Hg.): Friedrich Siegmund-Schultze (18851969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, Stuttgart 2007, S. 35-49. 3 | Vgl. Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 97-111; Christa Stache (Bearb.): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969), Begleitbuch zu einer Ausstellung des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin anläßlich seines 100. Geburtstags, Berlin 1985; Sachße: »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 40-45. 4 | Vgl. Wanja Abramowski: Siedlungsgeschichte des Bezirks Friedrichshain von Berlin bis 1920, Berlin 2000.  Zur Geschichte des Berliner Ostens immer noch sehr informativ: W. Gensch/H. Liesigk/H. Michaelis: Der Berliner Osten, Berlin 1930. 5 | Vgl. Jens Wietschorke: »Stadt- und Sozialforschung in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: Heinz-Elmar Tenorth/Rolf Lindner/Frank Fechner/Jens Wietschorke (Hg.): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, Stuttgart 2007, S. 51-67, hier S. 51. 6 | Vgl. Jan Feustel: Raub und Mord im Kiez. Historische Friedrichshainer Kriminalfälle, Begleitmaterial zur Ausstellung im Heimatmuseum Friedrichshain, Berlin 1996.

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wurden, die ein sittliches Gemeinschaftsleben erlaubten.7 Zu diesen Substituten gehörten die Lesehallen, Klubs und ›Kaffeeklappen‹ der SAG, die im Gegensatz zu den Kneipen ein geselliges Zusammensein ohne Alkohol ermöglichen sollten, sowie zahlreiche sittsame Feste, die als Alternative zum Rummelplatzvergnügen gedacht waren.8 Um aber die jungen Proletarier erfolgreich abwerben zu können, musste die SAG erst einmal die Gegend erkunden und das Terrain abstecken. Hierfür wurden mehrere Kommissionen gebildet, die sich jeweils mit wichtigen Lebensbereichen der ansässigen Bevölkerung befassten. So untersuchte eine Wohnungskommission mit dem Einsatz hunderter Fragebögen die prekären Wohnverhältnisse im Stralauer Viertel. Mit dieser Untersuchung steht die SAG in der Tradition zweier bedeutender empirischer Annäherungen an das Berliner Wohnungselend; zum einen der Erhebung der Wohnungsverhältnisse in der Sorauer Straße durch die Berliner Arbeiter-Sanitätskommission aus dem Jahre 1893 und zum anderen der Wohnungs-Enquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker aus den Jahren 1901-1920.9 Einzigartig ist dagegen die Vergnügungskommission der SAG, die das Freizeitverhalten der Arbeiter erkunden sollte. Hierfür wurde ein umfangreiches Untersuchungspanorama entworfen, das alle denkbaren Spielarten des großstädtischen Vergnügens umfasste.

7 | Vgl. Wietschorke: »Stadt- und Sozialforschung«, S. 60-61. 8 | Vgl. die Beiträge in: Rolf Lindner (Hg.): ›Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‹. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997. 9 | Vgl. Adolf Braun: Berliner Wohnungsverhältnisse. Denkschrift der Berliner-ArbeiterSanitätskommission, Berlin 1893; Eduard Bernstein: Die Geschichte der Berliner ArbeiterBewegung. Ein Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 3: Fünfzehn Jahre Berliner Arbeiterbewegung unter dem gemeinen Recht, Berlin 1910, S. 385-386; Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus, Bd. 2: 1862-1945. Eine dokumentarische Geschichte ›von Meyer’s Hof‹ in der Ackerstraße 132-133, der Entstehung der Berliner Mietshausquartiere und der Reichshauptstadt zwischen Gründung und Untergang, München 1984, S. 452-466; Gesine Asmus (Hg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in das Berliner Wohnungselend 1901-1920. Die Wohnungs-Enquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, Reinbek bei Hamburg 1982.

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Konzept der Vergnügungskommission der SAG10 A. Lokale gesellige Lokale: Cafés mit und ohne Musik, Cafés mit Tanz, Cafés mit Kabarett, Kneipen, Weinlokale mit Kabarett (Dielen), Tanzlokale verborgene Lokale: Animierkneipen, homosexuelle Cafés und Tanzlokale, Kokainhöhlen B. Kino- und Theateraufführungen Kino, Kino mit Bühnenschau, Revue, Variété und Kabarett, Cirkus, Theater (Rose-, Residenz- und Wallnertheater), Konzerte, sonstige Vorführungen: Sport usw. C. Rummelplätze D. Feste und Feiern Familienfeste: Taufe, Konfirmation, Verlobung, Hochzeit, Begräbnis, Jugendweihe, Geburtstage, Weihnachten, Sylvester Vereinsfeste: politische (Reichsbanner, Rotfront, Parteifeste), Sparverein, Kegelklub, Gesangsverein, Theaterverein, Turnverein, Schwimmverein, Geselligkeitsverein Hoffeste (Erntefest), Laubenfeste Ausflüge, Partien (Herrenpartien), Badepartien, Zoo, Kreuzberg, Tempelhofer Feld Stralauer Fischzug usw. Kirchliche Feste (vgl. mit Kirchenkommission) Gelegenheitsfeste, einzelne Tage, Hausbau, Geschäftsabschluss E. Die Strasse Fliegende Händler: Lebensmittel (Eis, Würstchen, Waffeln usw.), Nepp (Wahrsagen, Horoskope, Zauberer, Spielzeug usw.) Anpreisungen, Reklame, Anzeigen für Vergnügungen usw. F. Der Hof Musik: Rezitationen (Cabarettcharakter; mit und ohne Musik), Gesang, Instrumente: Orgel, Harmonium, Ziehharmonika (Bandonion), Mundharmonika, Geige, Cello, Guitarre, Mandoline, Harfe, Horn, Jazz, Ein-Mann-Orchester; einzelne und mehrere Ausrufer: Händler, Handwerker, politische und andere Ankündigungen Vorführungen: Tierstimmenimitator, sportliche Vorführungen: Akrobatik, Expandor usw. G. Radio […] H. Wettannahmen/Rennen I. Konfitüreläden11 K. Das Kind und sein Vergnügen Strassenspiel (Verwechselt, verwechselt das Bäumelein, Ostseedünen, Sandspielen zwischen den Steinen usw.) mit Schulen in Verbindung setzen, durch Aufsätze etwas erfahren. 10 | Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (im Folgenden EZA) 626/II 20,4: Konzept der Vergnügungskommission. Leider ist das Dokument nicht datiert. Wir vermuten aber, dass es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entstand, da auch das Radio als eigener Punkt aufgeführt wird. 11 | Konfitüreläden sollten untersucht werden, weil hier auch alkoholische Getränke, vor allem Liköre, verkauft wurden.

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Bemerkenswert sind die wissenschaftliche Programmatik und der Methodenmix, mit dem der Survey erfolgen sollte: Zunächst sollte das Material gesammelt, dann nach statistischen und soziologischen Gesichtspunkten geordnet und schließlich um qualitative Milieuschilderungen ergänzt werden. Die Vergnügungskommission konnte diese ehrgeizige Konzeption längst nicht vollständig umsetzen. Es entstanden jedoch einige detaillierte Teilstudien zu ausgewählten Bereichen des Vergnügens im Osten Berlins, die eine einzigartige ethnographische Quelle darstellen. Dabei unterlag der Blick der bürgerlichen Beobachter einerseits einer stark paternalistischen Perspektive. So […] verhinderte die Präventions- und Verbesserungsstrategie der SAG und die damit verbundene kulturkritische Ablehnung der proletarischen Lebenswelten gerade ein wirklich existenziell berührtes und fasziniertes Nachvollziehen des Alltags im Osten. Es handelte sich sozusagen um eine Leidenschaft für den ›Nächsten‹ ohne die Faszination des ›Anderen‹. Der ›therapeutische Blick‹ revidierte dabei in gewisser Weise den ›ethnographischen Blick‹.12

Andererseits haben die evangelikalen Ethnographen der SAG äußerst genau hingesehen und ihre Eindrücke vom Berliner Osten mit wissenschaftlicher Akribie festgehalten. Die Ergebnisse sind daher nicht nur wissenschaftshistorisch für die Geschichte der Stadt- und Sozialforschung interessant.13 Sie sind bei aller gebotenen Quellenkritik auch bedeutende Dokumente zur Sozial- und Kulturgeschichte Berlins. Auf Basis der SAG-Studien sowie theaterpolizeilicher Akten und zeitgenössischer Adressbücher soll nun im Folgenden die Topographie des Vergnügens im Berliner Osten rekonstruiert werden. Dabei folgen wir ein Stück weit dem Programm der Vergnügungskommission und blicken erstens auf die Kneipen einer ausgewählten Straße. Daraufhin untersuchen wir zweitens die Kinos der Umgebung, bevor wir uns drittens dem Theater und Varieté des Stralauer Viertels zuwenden. Indem wir nach dem sozialen Zuschnitt und der lokalen Reichweite der einzelnen Vergnügungsangebote fragen, richten wir den Blick auf das Verhältnis des Vergnügungsensembles zur sozialräumlichen Ordnung des Berliner Ostens. Wir fragen nach der sozialen Inklusion beziehungsweise Exklusion durch die verschiedenen Vergnügungsangebote, die – so unsere Grundannahme – die Freizeitgestaltung und die Lebenswirklichkeit der großstädtischen Bevölkerung um 1900 wesentlich prägten. Das Untersuchungsgebiet dient als Fallbeispiel für die vielfältige Berliner Vergnügungskultur der ›langen Jahrhundertwende‹. Dabei ist die Auswahl des Gebiets zum einen der besonderen Überlieferungssituation geschuldet. Zum anderen erscheint uns der Berliner Osten als Armenhaus der stark segregierten Reichshauptstadt eine eigenständige Betrachtung wert, die nach dem 12 | Wietschorke: Stadt- und Sozialforschung, S. 65. 13 | Dieses Erkenntnisinteresse dominiert die jüngere Forschung zur SAG von Lindner und Wietschorke.

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Besonderen des Vergnügens abseits der einschlägigen Vergnügungsviertel fragt.14 Statt der Friedrichstraße möchten wir daher Friedrichshain untersuchen.

D IE K NEIPEN DER F RUCHTSTR ASSE Im Bezirk Friedrichshain lebten Mitte der 1920er Jahre etwa 330.000 Menschen.15 Die meisten von ihnen waren nicht in Berlin geboren. Der Berliner Osten diente mit seinen überfüllten Mietskasernen in der Phase der Hochurbanisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Auffangbecken und Durchlaufstation für Millionen Zugereiste. Wer es sich leisten konnte, zog bald weiter Richtung Westen. Gleichwohl war das Leben in Friedrichshain nicht nur von großstädtischer Anonymität geprägt. Die relative soziale Homogenität des Zuwandererbezirks, in dem vor allem Kleinbürger und Arbeiter lebten, führte auch zu intensiveren nachbarschaftlichen Beziehungen.16 Diese waren oft alles andere als friedlich und harmonisch. Dennoch entwickelten die Bewohner Formen der Zusammengehörigkeit, der Nähe und auch der gegenseitigen Solidarität.17 Dieses ambivalente Nachbarschaftsgefühl fand in Berlin sein soziales Bezugssystem im Quartier, Viertel oder Kiez.18 Alle Begriffe meinen einen lokal erfahrbaren, in sich relativ geschlossenen städtischen Nahbereich mit einer eigenen Infrastruktur als Lebenszentrum seiner Bewohner. Zu den Besonderheiten dieser Infrastruktur zählten bestimmte Institutionen und Verhaltensweisen, die nicht zum Bild der anonymen Großstadt passen – etwa 14 | Vgl. hierzu den Beitrag von Tobias Becker in diesem Band. 15 | Vgl. Berliner Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg, hg. v. Hans-Jürgen Mende und Kurt Wernicke, Berlin 2003, S. 46. 16 | Entscheidend ist hierfür weniger die räumliche Nähe, sondern die soziale Homogenität, die allgemein von ähnlichen Einkommen, vergleichbarem Bildungsstand und ähnlichen Familienverhältnissen gekennzeichnet wird. Zu diesem Phänomen der Großstadt siehe Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. u.a. 2004, S. 109-112. 17 | Vgl. hierzu auch Bruno Fritzsche: »Das Quartier als Lebensraum«, in: Werner Conze/ Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, S. 92-113. 18 | Im Gegensatz zu den Begriffen Quartier oder Viertel ist der Begriff Kiez eine nordostdeutsche, v.a. eine Berliner Besonderheit. Wir verwenden diesen Begriff bevorzugt, da er in besonderem Maße auch die nachbarschaftliche Dimension zum Ausdruck bringt und überdies im norddeutschen Raum auch synonym für Vergnügungsviertel steht. Ursprünglich bezeichnete der Begriff Kiez eine Fischersiedlung der slawischen Bevölkerung vor den Toren von Städten, die im Zuge der hochmittelalterlichen Ostsiedlung mit deutschem Stadtrecht versehen wurden. Später übertrug sich der Begriff auch auf ärmliche Vorstadtgebiete. Erst in den 1980er Jahren wandelte sich der Begriff im Zuge der behutsamen Stadterneuerung zum symbolisch stark positiv besetzten Trendbegriff.

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der Laden, in dem die Kiezbewohner anschreiben lassen konnten, oder der Friseur, bei dem sie die neusten Gerüchte hörten. Diese Art von Gemeinschaft in der Großstadt lässt sich generell vor allem in Einwanderervierteln finden. Der amerikanische Soziologe Herbert J. Gans (geb. 1927) bezeichnet solche von Nachbarschaft und Migration gekennzeichneten Quartiere als »urban villages«, in denen nicht-urbane Institutionen und Kulturen in das urbane Milieu überführt würden. Es geht Gans dabei nicht um eine Idealisierung von großstädtischer Vergemeinschaftung. So betont er, dass der Unterschied zwischen den nachbarschaftlichen »urban villages« und den »pathologischen« »urban jungles« oft fließend sei.19 Was Gans für das einstige Bostoner West End beschreibt, lässt sich auch auf den historischen Berliner Osten übertragen. Das Stralauer Viertel war gleichermaßen von Migration, anonymer Urbanität und von einer nachbarschaftlichen Kiezstruktur geprägt. Dazu gehörte das normale Alltagsleben kleinbürgerlicher und proletarischer Familien, aber auch Kriminalität und Alkoholsucht. An der Schnittstelle dieser Sphären befanden sich die zahlreichen Kneipen der Gegend zwischen dem Schlesischen Bahnhof und der Großen Frankfurter Straße. Sie stehen nicht zuletzt dafür, dass dieser Kiez einmal ein urbaner Raum des Vergnügens war.20 Allein auf der knapp einen Kilometer langen Fruchtstraße gab es nicht weniger als 32 Lokale, in denen alkoholische Getränke ausgeschenkt wurden. Heute wird die Straße der Pariser Kommune, wie die Fruchtstraße seit 1971 heißt, von vielgeschossigen Plattenbauten aus DDR-Zeiten dominiert. Nur am nordwestlichen Ende haben einige Altbauten den Zweiten Weltkrieg und die Flächensanierung überdauert und erinnern vage an die Zeit, in der fast die ganze Straße mit fünfstöckigen Mietskasernen bebaut war.21 Die meisten von ihnen waren in den 1870er Jahren entstanden, wiesen einen bescheidenen Standard auf und besaßen tiefe Hinterhöfe mit kleinen Stube- und Küche-Wohnungen und zahlreichen Gewerbebetrieben. Und in jedem zweiten Haus befand sich eine Kneipe. Diese hohe Kneipendichte lässt sich nicht allein auf die Nähe zum Schlesischen Bahnhof zurück19 | Vgl. Herbert J. Gans: The Urban Villagers. Group and Class in the Life of Italian-Americans, updated and expanded edition, New York 1982, S. 4. Gans verwendet den Begriff »pathologisch«, um die »urban jungles« als Viertel zu charakterisieren, die durch Gewalt und Kriminalität geprägt sind. 20 | Lothar Uebel bezeichnet die Gegend nördlich der Mühlenstraße sogar explizit als Vergnügungsviertel. Vgl. Lothar Uebel: Spreewasser, Fabrikschlote und Dampfloks. Die Mühlenstraße am Friedrichshainer Spreeufer, Berlin 2009, S. 75. 21 | Zur alten Fruchtstraße siehe die Fotos von 1952 und den vorzüglichen Essay von Annett Gröschner, »Heute prima rote Rüben. Auf der Fruchtstraße am 27. März 1952«, in: So weit kein Auge reicht. Berliner Panoramafotografien aus den Jahren 1949-1952. Aufgenommen vom Fotografen Tiedemann, rekonstruiert und interpretiert von Arwed Messmer, hg. v. Florian Ebner und Ursula Müller für die Berlinische Galerie unter Mitarbeit von Benedikt Goebel, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Berlinischen Galerie vom 2.11.2008-22.2.2009, Berlin 2008, S. 78-85, 128-136 und 177.

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führen. Die Lokale waren gleichmäßig auf der Straße verteilt und prägten ebenso den weiter vom Bahnhof entfernten nördlichen Straßenabschnitt, in dem die SAG bereits 1913 einen zweiten Stützpunkt errichtete. Anfang 1916 zog dann auch die Geschäftsstelle von der Friedenstraße in die Fruchtstraße.22 Von hier aus erkundeten die Mitarbeiter der SAG die Gegend. Bereits bevor Friedrich Siegmund-Schultze 1926 an der Berliner Universität Honorarprofessor für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt wurde, betraute er im Wintersemester 1924/25 einige Theologiestudenten mit der empirischen Erhebung der Kneipen zwischen der Großen Frankfurter Straße und dem Schlesischen Bahnhof. Im Doppelpack zogen sie verkleidet los und untersuchten jeweils eine Straße.23 Hierfür besuchten sie nacheinander jedes Lokal und hielten ihre Eindrücke zunächst in Notizen fest, um sie später statistisch auswerten zu können. Abschließend wurde die jeweilige Straße genau kartiert. Die Berichte, die im Nachlass SiegmundSchultzes erhalten sind, verraten ganz spezifische Interessen.24 So wurde jedes Mal die Biermarke festgehalten, die in der jeweiligen Kneipe meist exklusiv ausgeschenkt wurde, um die Abhängigkeit der Gastwirte von den großen Brauereien der Umgebung zu dokumentieren.25 Außerdem fragten die Studenten stets nach 22 | In der Fruchtstraße 62/63 wurde 1913 die erste »Frauenkolonie« gegründet. Hier entstanden Räume für Mädchenklubs und eine Lesehalle. Vgl. Stache: Siegmund-Schultze, S. 50. 23 | Die Methode, sich zu verkleiden, um unauffällig in die fremde Welt der Anderen (meist der Armen) einzudringen, war bereits um 1900 weit verbreitet. Hans Ostwald führte etwa bei seinen Wanderungen mehrere Kostüme mit, um sich je nach Anlass maskieren zu können. Vgl. Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die ›GroßstadtDokumente‹ (1904-1908), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 49. Vgl. auch: Rolf Lindner: »Ganz unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung«, in: Werner Michael Schwarz/ Margarethe Szeless/Lisa Wögenstein (Hg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York, Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung, Wien Museum Karlsplatz vom 14.6.-28.10.2007, Wien 2007, S. 19-25 sowie Koven: Slumming, S. 156-157. 24 | EZA 626/II 29,7. 25 | In einem Vortragsmanuskript mit dem Titel »Unsere Schuld« begründet Friedrich Siegmund-Schultze bereits 1914 die Motivation für die Kneipenstudien: »Ich merkte, dass ich dem Zusammenhang von Alkoholismus und Kapitalismus auf die Spur kam«. Daher wollte er die Frage nach dem ›Alkohol-Kapitalismus‹ näher erforschen. Anhand der angefertigten Studien über Kneipen und Brauereien stellte er ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Brauereien fest. So hießen die Kneipen nicht nach dem Besitzer, sondern nach der Brauerei (»Böhmisches Brauhaus«). Hinzu kam, dass das Mobiliar oft von den Brauereien gestellt wurde. Siegmund-Schultze konstatiert: »Die Budiker waren nichts weiter als Agenten des Brauereikapitals« [.] »Dafür mussten ›die Lumpen‹ trinken«. EZA 626/II 29,8. Mit dieser Frage beschäftigte sich u.a. auch Gustav Stresemann in seiner Dissertation: Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschaefts, Diss., Leipzig 1900.

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alkoholfreien Getränken und notierten gewissenhaft deren Preis: meist 20 Pfennig für ein Glas »Selters«. Für uns sind hingegen vor allem die Angaben interessant, die die Studenten zur Art des Lokals und zur Zusammensetzung der Besucher machten. Dies möchten wir uns im Folgenden für die Fruchtstraße, für die gleich zwei Kneipenstudien überliefert sind, etwas genauer anschauen.26

Abb. 12: Die Kneipen der Fruchtstraße, 1925. 26 | Beide Studien in: EZA 626/II 29,7. Leider enthält nur eine der beiden Kneipenstudien zur Fruchtstraße nähere Angaben zum Gegenstand der Untersuchung und zum Verfasser: EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. Eine Übersicht über die Kneipen der Fruchtstraße, Madaistraße und der Straße »Am Schles. Bahnhof« mit Plan, Beschreibung und Statistik von Hans Rücker, stud. theol., Heilbronn a. N.

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Die 32 Lokle der Fruchtstraße verteilten sich auf 73 Mietshäuser. Zählt man die Adressbucheinträge des Jahres 1925, kommt man auf 1327 Mietparteien, die in diesen Häusern lebten. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von drei Personen dürften in der Fruchtstraße insgesamt etwa 4000 Menschen gewohnt haben, die vielen Schlafgänger jedoch nicht mit eingerechnet.27 Auf ein Lokal kamen somit ungefähr 125 Bewohner.28 Dabei variierte die Kapazität der einzelnen Kneipen erheblich. Im Durchschnitt zählten die Studenten nicht mehr als 25 Stühle pro Kneipe. Alle Kneipen der Fruchtstraße wiesen zusammen 796 Sitzplätze auf. Davon wich der tatsächliche Besuch, den die Studenten in einer der Studien ebenfalls notierten, erheblich ab. Insgesamt zählten sie am Abend ihrer sechsstündigen Expedition durch die Fruchtstraße 294 Gäste, die sich relativ gleichmäßig auf die einzelnen Kneipen verteilten. Auf jedes Lokal entfielen durchschnittlich neun Gäste, wobei es erstaunlicherweise kaum einen Unterschied machte, ob die Studenten das Lokal gleich um sechs Uhr abends oder erst um Mitternacht besucht hatten. Bei den Gästen handelte es sich vor allem um die zumeist männlichen Haushaltsvorstände. Mit 70 Prozent bildeten erwachsene Männer erwartungsgemäß den größten Anteil der Kneipenbesucher. Erwachsene Frauen machten dagegen nur 18 Prozent aus. Die größten Sorgen dürften den Mitarbeitern der SAG die minderjährigen Gäste bereitet haben, die die verbleibenden 12 Prozent umfassten, sowie die insgesamt 17 betrunkenen Personen beiderlei Geschlechts. 27 | Im Bezirk Friedrichshain wurden bei der 1925 durchgeführten Volkszählung 108.900 Haushalte gezählt, in denen insgesamt etwa 330.000 Menschen lebten. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Haushaltsgröße von drei Personen. Siehe P. Mielitz: »Eine soziale Studie über den Osten Berlins. Ein Rundfunkvortrag von Bürgermeister P. Mielitz«, in: Heimatkalender für den Bezirk Friedrichshain 1932, Berlin 1932, S. 18-28. Im kinderreichen proletarischen Osten Berlins überrascht diese geringe Personenzahl je Haushalt. Zu beachten ist jedoch die große Zahl von Witwen, die vor allem der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte. Allein für die Fruchtstraße weist das Berliner Adressbuch von 1925 nicht weniger als 176 Witwen auf. 28 | Dieser Wert lag deutlich oberhalb des Friedrichshainer Durchschnitts von 209 Einwohnern je Kneipe, der sich für das Jahr 1924 ergibt, wenn man die ca. 330.000 Einwohner Friedrichshains durch die 1574 Schankwirtschaften mit voller oder beschränkter Konzession zum Alkoholausschank teilt. Darüber hinaus gab es 54 Schankstätten für alkoholfreie Getränke, worunter auch die Kaffeeklappen der SAG gefallen sein dürften, sowie 291 zum Kleinhandel mit Spirituosen zugelassene Verkaufsstellen. In ganz Groß-Berlin gab es 1924 eine Kneipendichte von 246 Schankwirtschaften je Einwohner. Siehe Dr. jur. Jason: »KinoTheater und andere Vergnügungsstätten. Ein statistischer Überblick«, in: Reichsfilmblatt 11.7.1925, S. 13-14. Ganz andere Zahlen werden dagegen angegeben bei Manfred Hübner: Zwischen Alkohol und Abstinenz. Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914, Berlin 1988, S. 108. Er spricht von einem Alt-Berliner Durchschnitt von 129 Einwohnern je Kneipe, der allerdings für 1907 errechnet wurde. Hier finden sich auch Vergleichszahlen zu anderen deutschen Städten.

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Aufschlussreich sind vor allem die Bemerkungen zur sozialen Zusammensetzung der Gäste, die allerdings auf dem bloßen Augenschein beruhten und leider nur für die Hälfte der Kneipe gemacht wurden. In sieben von insgesamt 16 näher klassifizierten Lokalen verkehrten demzufolge ausschließlich Proletarier. Demgegenüber wurden nur zwei Lokale als dezidiert bürgerlich charakterisiert. Nur eine Kneipe wurde von den Studenten als ausgesprochene Erwerbslosenkneipe bezeichnet. Am bemerkenswertesten ist schließlich die Zahl von sechs Lokalen, die sowohl von Mittelständlern als auch von Proletariern besucht wurden. Diese soziale Mischung entsprach genau dem Sozialprofil der Fruchtstraße, das sich durch die Analyse der Berufsangaben in den Berliner Adressbüchern rekonstruieren lässt.29 Demnach stellten Arbeiterhaushalte mit 55,4 Prozent den größten Anteil. Beamte und Angestellte machten 27 Prozent der Bewohner aus, während Selbständige auf 15,2 Prozent kamen. Hausangestellte bildeten mit 2,3 Prozent in dieser Gegend erwartungsgemäß eine verschwindende Minderheit.30 Damit entsprach die Fruchtstraße ihrerseits sehr genau dem kleinbürgerlich-proletarischen Sozialprofil des gesamten Bezirks Friedrichshain.31 Im Vergleich mit den westlichen Bezirken bestätigt sich hier das Bild von der stark segregierten Reichshauptstadt, in der Klassenunterschiede manifeste räumliche Gestalt annahmen.32 In der Nahsicht widersprechen die Zahlen dagegen dem Bild von Friedrichshain als einem reinen Arbeiterbezirk. Der Osten Berlins wies durchaus eine soziale Mischung auf, die allerdings vor allem untere und mittlere Schichten umfasste. Unterschiede zwischen den sozialen Milieus zeigten sich primär in Fragen des Geschmacks und der Repräsentation. Facharbeiter und Kleinbürger mochten finanziell recht ähnlich gestellt sein; ihr Konsumverhalten unterschied sich hingegen 29 | http://adressbuch.zlb.de. Hierbei enthielten nur 1092 der insgesamt 1327 ausgewiesenen Mietparteien eine Berufsangabe, wobei es sich allerdings um Selbstangaben der Bewohner handelte. Gleichwohl stellen die Adressbücher eine einzigartige sozialgeschichtliche Quelle dar. Für die aufwendige Auswertung sei Frederick Jenkins herzlich gedankt. 30 | Zu den häufigsten Berufen in der Fruchtstraße gehörten (ungelernte) Arbeiter und Arbeiterinnen (153), Kaufmänner/kaufmännische Angestellte (66), Tischler (41), Näherinnen (39), Postbeamte (30) und schließlich die Gastwirte selbst (22). Die größte Gruppe markierten allerdings die 176 Witwen ohne Berufsangabe, die das Berliner Adressbuch sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg für die Fruchtstraße ausweist. 31 | Für den ganzen Bezirk Friedrichshain ergab die Berufszählung von 1925 die folgende Verteilung der Erwerbstätigen nach der sozialen Stellung im Beruf: Arbeiter 55,4 % (einschließlich Hausgewerbetreibende), Beamte und Angestellte 22 %, Selbständige 11,6 %, Berufslose Selbständige 7,8 %, Hausangestellte 1,9 % und Mithelfende Familienangehörige 1,3 %. Siehe Berthold Grzywatz: Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische Untersuchung (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 63), Berlin 1988, S. 356. 32 | Vgl. Hartmut Häußermann/Andreas Kapphan: Berlin. Von der geteilten Stadt zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000, S. 35.

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sehr. Kleinbürger, zu denen auch die zahlreichen kleinen Beamten wie Schutzmänner, Postboten oder Kanzleidiener zählten, versuchten durch Statussymbole von der Kleidung bis zur Wohnung ihrem Sozialprestige gerecht zu werden. Daher fehlten ihnen nicht selten die Mittel für bestimmte Genussmittel und Freizeitaktivitäten, die sich Arbeiter eher gönnten.33 Hinzu kamen geschmackliche Differenzen. Arbeiter gaben zum Beispiel weniger Geld für Rundfunkgeräte und -gebühren aus, da sie sich von anderen Medien und Unterhaltungsangeboten mehr Vergnügen versprachen als vom elitären, wortlastigen Radioprogramm des frühen Rundfunks.34 Die Studenten der SAG-Vergnügungskommission waren sich dieser Unterschiede zwischen den Sozialformationen und ihren Geschmacksmustern wohl bewusst. Dabei trafen sie ihre Urteile zum Sozialprofil der jeweiligen Vergnügungsorte aus bildungsbürgerlicher Perspektive gewissermaßen von oben herab. Umso mehr muss daher erstaunen, dass die Studenten nicht alle inneren Differenzen, die sie im Berliner Osten vorfanden, nivellierten, sondern vielmehr systematisch festhielten. Zugleich zeigten sie sich jedoch auch sensibel, wenn sich in bestimmten Etablissements die feinen Unterschiede auflösten. Auf diese Weise hinterließ die SAG ein ernst zu nehmendes und differenziertes Bild von der sozialen Mischung und Segregation der Bevölkerung der Fruchtstraße und der dortigen Kneipen. Vom Lokaltypus her lassen sich die untersuchten Kneipen nicht eindeutig einer sozialen Schicht zuordnen. Der häufigste Lokaltypus, der in den Studien als »Restaurant und Frühstücksstube« bezeichnet wird, vereinigte sowohl reine Proletarierkneipen als auch solche mit einem gemischten Publikum auf sich. Dasselbe galt auch für die acht »Groß-Destillationen«, die sich anscheinend weniger in ihrem Sortiment und ihrer Kapazität, sondern vielmehr in ihrem etwas prahlerischen Namen von den gewöhnlichen Kneipen unterschieden. Lediglich die beiden bürgerlichen Lokale, die jeweils in exponierter Lage in Eckhäusern am Küstriner Platz beziehungsweise an der Mühlenstraße lagen, wiesen als »Restaurant-Casino mit Billard« beziehungsweise als »Restaurant, Bier- und Weinstube« einen besonderen Charakter auf. Ihr Besuch diente sicherlich der sozialen Distinktion, während andere Kneipen sozial durchlässiger waren. Letzteres galt im besonderen Maße für die drei Animierkneipen, die die Studenten in der Fruchtstraße entdeckten.35 Die Eldorado-Diele in der Fruchtstraße 52 war eine solche »typische Animierkneipe«, in der »zwei ältere weibliche Ange33 | Vgl. Rosmarie Beier: »Leben in der Mietskaserne. Zum Alltag Berliner Unterschichtenfamilien in den Jahren 1900 bis 1920«, in: Gesine Asmus (Hg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in das Berliner Wohnungselend 1901-1920. Die Wohnungs-Enquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 244-270, hier S. 248-249. 34 | Vgl. Karl Christian Führer: Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten 1930-1960 (Forum Zeitgeschichte 20), München/Hamburg 2008, S. 45. 35 | Ähnlich wie die bürgerlichen Lokale lagen auch die Animierkneipen jeweils in der Nähe der beiden großen Magistralen Mühlenstraße und Große Frankfurter Straße. Durch diese

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stellte um Zigaretten und Likör betteln und sehr aufdringlich sind«, um die Gäste zu einem größtmöglichen Getränkekonsum zu animieren.36 In dieser Weinund Bierstube beobachteten die Studenten vier Mittelständler, von denen einer die ungeheure Summe von 90 Reichsmark ausgab, aber auch drei jugendliche Proletarier, die offenbar auf der Suche nach ersten sexuellen Erfahrungen waren. Dieser Befund passt zu dem Bild, das Hans Ostwald (1873-1940), der »Ethnograph des dunklen Berlin«,37 1928 von den Animierkneipen entwarf: »[…] nicht nur in Kleinbürgerkreisen gab es Männer, die ab und zu in solche Lokale einkehrten. Alle Kreise, alle Klassen, alle Berufe stellten ihr Teil der Besucher von Animierkneipen.«38 Es gab einen gleitenden Übergang dieser Lokale entlang der gesellschaftlichen Schichtung. Hier fanden halböffentlich jene »lustvollen körperlichen Vermischungsprozesse« statt, durch welche soziale Distanzen aufgehoben wurden.39 Damit waren die Animierkneipen Teil des demokratischen Wesens der städtischen Massenvergnügungen.40 Gleichwohl blieben auch hier Unterschiede bestehen. In das so genannte Weinzimmer, in das sich die Kellnerinnen schließlich mit ihren Kunden zurückziehen konnten, drangen zumeist nur finanzkräftigere bürgerliche Gäste vor. Arbeiter konnten es sich dagegen in der Regel nur auf den obligatorischen Sofas im vorderen Gastraum bequem machen, und auch das meist nur an ihrem Zahltag.41 Doch auch für sie verband sich der Alkoholgenuss mit sexuellen Freuden. Darin lag das schichtenübergreifende Vergnügen, das die Animierkneipen trotz räumlicher Segregation boten. Die sexuellen Dienstleistungen beschränkten sich nicht nur auf die Animierkneipen. Die ganze Gegend galt als Zentrum der Prostitution. Der Schlesische Bahnhof wurde auch ›Drei-Groschen-Bahnhof‹ genannt, weil dort wohl schon sehr preiswert Bekanntschaften gemacht werden konnten. In der Langen Straße und

verkehrsgünstige Lage gewannen die Animierkneipen womöglich eine größere Attraktivität für Besucher aus den bürgerlicheren Stadtteilen. 36 | EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. Bei den Animierkneipen handelte es sich meist um Lokale, in denen auch Wein und Likör ausgeschenkt wurde, da sich hiermit der größere Profit erzielen ließ. 37 | Vgl. Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. 38 | Hans Ostwald: Das galante Berlin, Berlin-Grunewald o.J. [1928], o.S. 39 | Vgl. Ulrich Linse: »›Animierkneipen‹ um 1900. Arbeitersexualität und bürgerliche Sittenreform«, in: Dagmar Kift (Hg.): Kirmes, Kneipe, Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1904), Paderborn 1992, S. 83-118. 40 | Ebd., S. 105 sowie auch Paul Thiel: Lokal-Termin in Alt-Berlin. Ein Streifzug durch Kneipen, Kaffeehäuser und Gartenrestaurants, Berlin 1988, S. 94. 41 | Dabei übernahmen die Arbeiter gleichwohl das herablassende männliche Überlegenheitsgefühl der bürgerlichen Kunden, die die Kellnerinnen als moralisch und sozial tiefer stehend betrachteten. Vgl. Linse: »Animierkneipen«, S. 96-100 sowie 117.

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in der Fruchtstraße gab es mehrere Bordelle.42 Hierhin haben sich die Studenten der SAG offenbar nicht vorgewagt. An einigen Stellen gibt es aber Andeutungen, dass auch in den gewöhnlichen Kneipen einzelne Frauen auf Freier warteten. Die Kneipen der Fruchtstraße wurden also vermutlich von Männern auch deshalb gezielt aufgesucht, um ein sexuelles Vergnügen zu finden. Das führt uns zu den unterschiedlichen Funktionen der Kneipen. Wenzel Holek (1864-1935), ein ehemaliger Wanderarbeiter, der seine Lebensgeschichte aufgeschrieben und sich 1916 der SAG angeschlossen hat, beschreibt die Kneipe als »Familienheim« und unterstreicht deren nachbarschaftliche Funktion: Der Gastwirt und seine Frau sind gute Nachbarn. Allerdings nicht aus ethischen Trieben, sondern aus Erwerbsgründen. Ihnen liegt alles daran, das Vertrauen ihrer Stammgäste zu gewinnen, um so ein festes persönliches Verhältnis zu schaffen. Es sind Vertrauensleute, Ratgeber und Vermittler in vielen Angelegenheiten. Da laufen auch alle Tagesneuigkeiten ein und aus. […] Auf diese Weise sind die Kneipen zu einem sozialen Bedürfnis in den Arbeitervierteln geworden. 43

Dies galt umso mehr angesichts der beengten Wohnverhältnisse im Berliner Osten. Die Kneipen dienten als erweitertes Wohnzimmer und als Zufluchtsort vor der tristen Realität. Deutlich wird dies in Werner Sombarts (1863-1941) Beschreibung der Berliner Mietskaserne: […] hier hört Heimlichkeit und Heimischsein auf; hier, wo des Sommers durch die offenen Fenster – denn in den Räumen, in denen zugleich gekocht, gewaschen und gebügelt wird, ist es bei geschlossenen Fenstern nicht auszuhalten – der ganze Klatsch, der ganze Zank, alles Klappern, Schwirren, Surren, Summen der Näh- und Schuhmachermaschinen, alles Kindergeschrei, alles Tosen der Maschinerie der Fabrik im Hofraum, aller Dunst und Duft der 40 oder 50 Küchen mit ihrem Talggeruch und ihrer Ranzigkeit eindringt, wo keine Tür geöffnet werden kann, ohne daß neugierige, neidische oder schadenfrohe Blicke eindringen, hier muß das Heim als Hölle, die Kneipe oder das Bordell als Himmel erscheinen […]. 44

42 | Vgl. Willy Proeger: Stätten der Berliner Prostitution. Von den Elends-Absteigequartieren am Schlesischen Bahnhof und Alexanderplatz zur Luxus-Prostitution der Friedrichstraße und des Kurfürstendamms. Eine Reportage, Berlin 1930. 43 | Wenzel Holek: »Deutsche Settlements«, in: Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft, Nr. 8, Dez. 1916, zit.n.: ders.: Meine Erfahrungen in Berlin Ost, Weimar u.a. 1998, S. 42. Zu Wenzel Holek vgl. Annette Vogelsberg: »Wenzel Holek«, in: Rolf Lindner (Hg.): ›Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‹. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 161-178; Alfred Kelly: The German Worker. Working-Class Autobiographies from the Age of Industrialization, Berkeley u.a., 1987, S. 97-120. 44 | Werner Sombart: Das Proletariat, Frankfurt a.M. 1906, S. 29-30.

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Die letzten Zeilen deuten an, was auch die statistischen Erhebungen der SAG bestätigen: Die Kneipe stand vor allem den männlichen Bewohnern als Refugium zur Verfügung. Während verheiratete Frauen neben der Heimarbeit auch noch den Haushalt und die Kinder versorgen mussten, besuchten die Männer die Kneipen, um der häuslichen Enge zu entfliehen.45 Die Kneipen der Fruchtstraße dienten zudem als Anlaufstation für die zahlreichen Migranten, die in die Gegend kamen. Dies galt nicht nur für die vielen jungen Männer und Frauen aus den preußischen Ostprovinzen, die in Berlin ihr bescheidenes Glück als Fabrikarbeiter oder als Dienstmädchen suchten.46 Am Schlesischen Bahnhof traf auch ein Großteil der polnischen Zuwanderer ein, von denen sich viele gleich in der Nähe ansiedelten, wie die Namen in den Adressbüchern verraten.47 So nimmt es nicht wunder, dass die Studenten der SAG in der Fruchtstraße 25 auf eine Kellerkneipe mit polnischen Wirtsleuten und »polnischen Mädels« stießen.48 Daneben gab es im Viertel um den Schlesischen Bahnhof auch eine chinesische Kolonie, deren Treffpunkt das Schultheiss-Lokal in der Lange Straße Ecke Krautstraße war, in dem die Chinesen in einem hinteren Raum MahJongg spielen und traditionelle Speisen zubereiten konnten.49 Für viele Menschen, insbesondere für jüdische Emigranten aus Osteuropa, war der Schlesische Bahnhof lediglich eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Amerika; er galt seit den 1880er Jahren als der ›Auswandererbahnhof‹ schlechthin. Da die Bahnhofsräumlichkeiten für die vorgeschriebenen polizeilichen Kontrollen bald zu klein waren, wurden hierfür in der Fruchtstraße zwei Baracken errichtet, die den Auswanderern eine notdürftige Unterkunft boten.50 Es ist anzunehmen, dass auch die umliegenden Kneipen ihnen als Wartesaal dienten. Hier warteten häufig Nepper, Kofferschlepper und Bauernfänger auf ahnungslose Reisende. Zahlreiche Kleinkriminelle bevölkerten die Straßen und Kneipen

45 | Vgl. Beier: »Leben in der Mietskaserne«, S. 251. 46 | Zu den Dienstmädchen siehe v.a. Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914), Köln u.a. 2006. 47 | Vgl. Gröschner: »Heute prima rote Rüben«, S. 130. 48 | EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. Die Studie gibt keinen Aufschluss darüber, welche Funktion die »polnischen Mädels« in der Kneipe erfüllten. 49 | Das Berliner Chinesenviertel rund um den Schlesischen Bahnhof wurde auch das ›Gelbe Quartier‹ genannt. Hier lebten in den 1920er und 1930er Jahren etwa 200 Chinesen in einfachsten Verhältnissen. Es waren ehemalige Heizer, Seeleute, Artisten oder Händler, die sich nun als Wäscher, Hausierer oder Kleinhändler eine bescheidene Existenz aufzubauen suchten, indem sie mit importierten Spezialwaren wie Porzellanvasen, Specksteinfiguren oder Schmuck handelten. Vgl. Dagmar Yu-Dembski: Chinesen in Berlin, Berlin 2007, S. 20-26. 50 | Vgl. Laurenz Demps: Der Schlesische Bahnhof in Berlin. Ein Kapitel preußischer Eisenbahngeschichte, Berlin 1991, S. 211; Karl Schlögel: Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas, Berlin 2007, S. 21-50.

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des Stralauer Viertels. Seinen zweifelhaften Ruf, das »Chicago von Berlin«51 zu sein, verdankte die Gegend jedoch vor allem den so genannten Ringvereinen. Diese waren syndikatähnliche Zusammenschlüsse von Dieben, Einbrechern, Betrügern, Straßenräubern, Zuhältern, Rauschgifthändlern, Falschspielern und Schutzgelderpressern, die sich als Spar-, Sport- oder Gesangsvereine tarnten und große Teile des Vergnügungsgewerbes beherrschten.52 Die Kneipen rund um den Schlesischen Bahnhof bildeten das Zentrum der organisierten Kriminalität. Sie waren zudem Schauplatz von erbitterten Saalschlachten. Besonderes Aufsehen erregte am 29. Dezember 1928 die brutale Auseinandersetzung zwischen 20 Hamburger Maurern und Zimmerleuten und 150 schwerbewaffneten Mitgliedern der Ringvereinigung Immertreu im Zunftlokal Nabur in der Breslauer Straße 1.53 In der politisierten Atmosphäre der Weimarer Republik waren die Kneipen nicht zuletzt politische Versammlungsorte. Das galt vor allem für die Arbeiterbewegung, die sich seit der Zeit des Sozialistengesetzes in Gasthäusern organisierte.54 Aber auch ›nationale Kreise‹ wie der Bund der Ost- und Westpreußen trafen sich in den Kneipen; zum Beispiel im Vereinszimmer des Schlossbräu-Restaurants in der Fruchtstraße 61 bei einem »unsympathischen Wirt«, wie die Studenten der SAG bemerkten.55 Politische Versammlungen fanden ansonsten vor allem in den großen Festsälen statt,56 die in den tiefen Hinterhöfen des Stralauer Viertels lagen und den unterschiedlichsten Aktivitäten dienen konnten. So wurden etwa Kellers Festsäle, die zwischen der Koppenstraße 29 und der Fruchtstraße 61 lagen, als politische Versammlungsstätte, Konzerthalle, Hochzeitssaal und als Kino genutzt. Die Kneipen und Festsäle des Stralauer Viertels waren also multifunktionale Etablissements. Unabhängig von ihrer sozialen, nationalen oder politischen Prägung waren sie dabei vor allem Orte des Vergnügens. Wie aus den Kneipenstudien klar hervorgeht, dienten sie dem Rausch, der Lustbefriedigung und der Realitätsflucht. In einigen Lokalen wurde auch getanzt, wie zum Beispiel in der polnischen Kellerkneipe, die am Wochenende stets »ungeheuer voll« gewesen sein soll.57 In 51 | Gegen diesen häufig verwandten Vergleich verwahrte sich der Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Mielitz ganz entschieden. Der Ruf des Ostens als zweites Chicago sei v.a. der Sensationslust der Medien geschuldet. Siehe Mielitz: »Eine soziale Studie über den Osten Berlins«, S. 22. 52 | Zu den Ringvereinen siehe Uebel: Spreewasser, Fabrikschlote und Dampfloks, S. 84 sowie Feustel: Raub und Mord im Kiez, S. 17-21. 53 | Vgl. ebd. sowie John Stave: Stube und Küche. Erlebtes und Erlesenes, Berlin 1987, S. 5-13. 54 | Vgl. Linse: »Animierkneipen«, S. 83-84. 55 | EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925. 56 | Die Concordia-Festsäle im zweiten Hof der Andreasstraße 64 dienten wiederholt SPD-Parteitagen. Hier sprach 1894 Friedrich Engels vor 4000 Arbeitern. Vgl. www.friedrichshainer-chronik.de/spip.php?article246 [Zugriff: 5.6.2009]. 57 | EZA 626/II 29,7: Die Kneipen an der Fruchtstraße 1925.

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vielen Kneipen wurde schließlich Skat gespielt, wobei sich offenbar die Wirte nicht selten an den Partien beteiligten. Um in der großen Konkurrenz bestehen zu können, mussten die Gastwirte ihr Vergnügungsangebot an die Bedürfnisse des überwiegend lokalen Publikums anpassen und ihre Lokale dem sozialen Spektrum der Gegend öffnen. Dabei hatten bestimmte soziale Grenzlinien durchaus Bestand. Gleichwohl gab es offenbar eine ganze Reihe von Kneipen, die einen sozial inklusiven Charakter besaßen und Orte eines schichtenübergreifenden Vergnügens waren. Die enorme Kneipendichte trug mit dazu bei, dass an diesem Vergnügen fast jeder teilhaben konnte, wobei der Kneipenbesuch allerdings klar männlich codiert war. Die Kneipen boten den schnellsten und einfachsten Weg, sich ein wenig zu amüsieren. Damit bildeten sie so etwas wie die Basiseinheit der Vergnügungstopographie im Berliner Osten.

D IE L ICHTSPIELTHE ATER IM V IERTEL RUND UM DIE F RUCHTSTR ASSE Neben den Kneipen waren die Kinos die zweite Vergnügungsform, die das Interesse der SAG in besonderem Maße weckte. Zwar untersuchten die jungen Forscher/-innen der SAG die Lichtspieltheater weniger systematisch als die Kneipen, und anders als bei den Kneipenstudien basieren die Kinostudien eher auf qualitativ beschreibenden Beobachtungen als auf systematischen und quantitativ auswertbaren Untersuchungen. Aber über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entstanden mehrere Studien von unterschiedlichen Autoren, die insgesamt ein lebhaftes Bild der sich ständig wandelnden frühen Kinolandschaft des Stralauer Viertels zeichnen.58 In den meisten Studien der SAG lag der Schwerpunkt auf den Filmen, die gezeigt wurden, und insbesondere auf der Frage, ob diese Filme einen unerwünschten Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben könnten.59 Hier zeigt sich die paternalistische und kulturkritische Haltung der SAG, deren Untersuchungen im Kontext des weit verbreiteten Kampfes gegen »Schmutz und Schund« zu lesen sind.60 Uns interessieren vor allem die Orte des Kinokonsums, die frühen Lichtspieltheater, sowie deren Besucher. Eine für diese Frage besonders ergiebige Studie wurde von der SAG in den 1920er Jahre angefertigt.61 Sie vergleicht zwei Kinos, die in Eckhäusern auf der Nordseite der Großen Frankfurter Straße lagen 58 | Vgl. die Bestände des EZA: EZA 626/II 29,8 sowie EZA 626/II 29,9. 59 | Ein gutes Beispiel hierfür ist die SAG-Kino-Studie von Elisabeth Bengler [oder Benzler?]: EZA 626/II 29,8: Elisabeth Bengler: Kino im Osten. 60 | Vgl. Kaspar Maase: »Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900«, in: ders./Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 9-28, insbes. S. 11-18. 61 | Wie auch in vielen anderen ethnographischen Studien der SAG ließen sich hier weder eine genaue Datierung noch der Name des Autors oder der Autorin ermitteln: EZA 626/II 29,8: Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße.

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Abb. 13: Die Kinos der Großen Frankfurter Straße und der Frankfurter Allee, 1912. und nur durch die Einmündung der Lebuser Straße voneinander getrennt waren: zum einen das Thalia-Theater und zum anderen der Filmstern-Palast (Abb. 13).62

62 | Vgl. auch Antonia Weisz: »Großstadtdrama. Die SAG und das Kino«, in: Rolf Lindner (Hg.): ›Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‹. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 153-159.

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Das Thalia-Theater entstand als eines der ersten Kinos des Stralauer Viertels.63 Im November 1905 bat der Fotograf Stanilaus Kucharski bei der königlichen Theaterpolizei um die Erlaubnis, seine »kinematographischen Vorführungen im Eckhause Gr. Frankfurterstr No 27 und Lebuserstr. veranstalten«64 zu dürfen. Bis zu seiner Schließung 1946 war das Kino über Jahrzehnte hinweg eine feste Adresse in der Vergnügungstopographie des Viertels rund um die Fruchtstraße. Es befand sich im Erdgeschoss des Eckhauses in einem langen schmalen Raum, in dem höchstens acht Sitzplätze nebeneinander aufgereiht werden konnten. Ein Bestuhlungsplan von Oktober 1913 weist 241 Holzsitzplätze aus.65 Mehrere Dokumente belegen, dass sich das Kino trotz seiner Enge großer Beliebtheit erfreute: Sowohl polizeiliche Protokolle als auch die Untersuchungen der SAG berichten von einem überfüllten Saal; sogar Stehplätze wurden vergeben.66 In der Kino-Studie der SAG wird das Publikum des Thalia-Theaters sehr detailliert beschrieben: Fast nur Arbeiter im Alter von 18-30 Jahren, wohl fast nur Erwerbslose, da auch Wochentags um 6 Uhr das Kino sich schon füllte. Z.T. auffallende Burschen, einzelne Frauen und Mädchen fehlten unter den Besuchern. Also ausgesprochen männliches Arbeiter-Erwerbslosen-Publikum. 67

Das besondere Besucherprofil des Kinos zeigt sich im direkten Vergleich mit dem gegenüberliegenden Kino, dem Filmstern-Palast.68 Man erreichte den mit circa 450 Sitzen deutlich größeren Saal durch einen mit Reklamezetteln beklebten Durchgang, der in einen überdachten Hof führte.69 Der Kinosaal war geräumig, die Bühne groß und mit einem eigenen Orchesterraum ausgestattet. Die Preise des Filmstern-Palasts lagen etwas über denen des Thalia: Erwachsene mussten nach 18 Uhr 70 Pfennig bis eine Reichsmark bezahlen, während die Preise des Thalias zwischen 60 und 80 Pfennig schwankten. Das Publikum des Filmstern63 | In Sylvaine Hänsel/Angelika Schmitt (Hg.): Kinoarchitektur in Berlin 1895-1995, Berlin 1995, S. 74 wird sogar behauptet, das Thalia sei das erste Kino Friedrichshains gewesen. Zum Vergleich: Die heute noch existierenden Tilsiter Lichtspiele eröffneten 1908, das Intimes 1908 oder 1909. 64 | Landesarchiv Berlin (im Folgenden LAB) A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1371. 65 | Ebd. 66 | Ebd. sowie: EZA 626/II 29,8: Bengler: Kino im Osten sowie Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße. 67 | EZA 626/II 29,8: Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße. 68 | Wie viele andere Lichtspieltheater wechselte das Kino in der Gr. Frankfurter Str. 28 in den ersten Jahren seines Bestehens mehrmals seinen Namen, bevor sich ein endgültiger etablierte. Im Kino-Pharus-Plan Berlin von 1919 heißt das Kino noch schlicht Lichtspiel-Haus. 69 | Alle folgenden Zitate aus: EZA 626/II 29,8: Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße.

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Palasts wird in der Studie folgendermaßen beschrieben: Es kämen meist Kleinbürger, ältere Frauen und Männer aber auch – anders als im Thalia – junge Mädchen allein. Die meisten Besucher gehörten zum »Stammpublikum (wie der Besitzer bestätigte) aus der näheren Umgebung des Kinos, nicht angelockt durch große Reklame in Zeitungen, und an Litfasssäulen, sondern aus Gewohnheit kommend, und sich anschauend, was gerade geboten wird«. Der Filmstern-Palast, so das Resümee der Studie, sei ein ausgesprochenes »Kleinbürgerkino mit verhältnismäßig geringer Besucherzahl«, das sich »wegen der schlechten Wirtschaftslage nur mühsam zu halten« vermochte. Die Studie beschreibt also ein »Arbeiter-« und ein »Kleinbürgerkino«, die in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander lagen.70 Nicht nur die soziale Herkunft, auch die Rezeptionshaltung der Besucher wurde deutlich unterschiedlich wahrgenommen: Während das Publikum des Filmstern-Palasts dem Programm interessiert folgte, dabei aber »still und genussvoll« das Dargebotene hinnahm, wird das Verhalten des Publikums im Thalia-Theater folgendermaßen geschildert: »Äußerst gespannte Aufmerksamkeit, gelegentlich lebhafte Freuden- oder Entsetzensäußerungen«. Diese lebhafte Aneignung des Leinwandgeschehens durch die Zuschauer artete allerdings nicht in Chaos aus, wie in der Studie anerkennend vermerkt wird: »Erstaunlich war die trotz der Fülle herrschende Ordnung und Ruhe im Kino und das Sich-Fügen der Besucher in die Anordnungen des Besitzers«. Die Studie geht davon aus, dass […] durch die benachbarte Lage sich die Eigenart eines jeden der beiden Kinos besonders ausgeprägt hat. Ein ausgesprochenes Kleinbürgerkino mit einem still genießenden Publikum […] neben einem ausgesprochenen Erwerbslosen-Kino mit einem lebhaft interessierten Publikum, das seinen letzten Groschen für das Kino ausgibt und eine regelmäßig gute Besucherzahl stellt.71

Hier wird also eine deutliche Segregation des Publikums nach sozialer Herkunft aber auch nach Geschlecht beobachtet, die sich auch auf die Rezeptionshaltung der Kinobesucher niederschlug.72

70 | Solche zeitgenössischen Qualifikationen des Kinopublikums nach sozialen Kriterien sind nicht unumstritten. Vgl. Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, Stuttgart 1994. 71 | EZA 626/II 29,8: Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße. 72 | Die unterschiedlichen Rezeptionshaltungen in den beschriebenen Lichtspieltheatern lassen sich in Zusammenhang bringen mit den von Thomas Elsaesser beschriebenen Publikums-Typen im frühen Kino. Elsaesser unterscheidet ein kollektives Publikum, dessen Filmgenuss gemeinschaftlich erfolgte, vom individualisierten Beobachter, der einer filmischen Narration folgte. Vgl. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Mediewandels, München 2002, S. 74 und 87.

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In dieser Deutlichkeit mögen die Unterschiede im Kinopublikum nicht überall anzutreffen gewesen sein. Im Umkreis der Fruchtstraße gab es mindestens sechs kleinere und mittelgroße Kinos.73 Hinzu kamen noch zwei Großkinos, die aus umgebauten Festsälen hervorgingen. So wurde 1912 der große Saal im ersten Stock des Etablissements Kellers Festsäle74 in der Koppenstraße 29 in das Kino Alhambra umgebaut. Die Anzahl der Sitzplätze wurde zunächst seitens der Polizeibehörden auf 988 begrenzt;75 in den 1920er Jahren erhöhte sich die Sitzplatzzahl auf 1200.76 Nur eine Parallelstraße westlich davon, in der Andreasstraße 64, wurde 1918 ein anderer Festsaal in ein Kino umgewandelt:77 Der Concordia-Palast konnte rund 1400 Personen aufnehmen.78 Leider liegen über die Besucher dieser Großkinos kaum Schilderungen vor. Nur eine Kinostudie der SAG berichtet, allerdings sehr knapp, von einem Besuch im Alhambra an einem Freitagabend im Juni 1912. Demnach war der Saal gut besucht, aber nicht ausverkauft, circa 700 Personen waren anwesend.79 Auch die Lebenserinnerungen Waldemar Brusts, der seine Kindheit in der Koppenstraße verbrachte, liefern kaum Hinweise auf das Kinopublikum. Denn obwohl sich die Kinder der Nachbarschaft von den Lichtspieltheatern magisch angezogen fühlten, waren sie offenbar nur selten im Kino und ließen sich als Hilfshausmeister anwerben, um das Flair des Vergnügungsetablissements zumindest von außen genießen zu können.80 Angesichts der Menge von Besuchern, die die Großkinos aufnehmen konnten, ist anzunehmen, dass hier ein Ort war, an dem sich die soziale Mischung 73 | Gemeint sind neben den beiden bereits erwähnten Kinos: Das Lithauer Theater, Lithauer Str. 27; die Lichtspiele am Küstriner Platz, Königsberger Str. 4; das Welt-Theater, Gr. Frankfurter Str. 121 und die Passage-Lichtspiele in der Gr. Frankfurter Str. 106. Vgl. KinoPharus-Plan Berlin, Berlin 1919. 74 | Das Etablissement wurde jeweils nach seinen Betreibern benannt und hieß zwischenzeitlich auch Moerners Festsäle. 75 | LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1365. 76 | Reichs-Kino-Adressbuch, nach amtlichem Material bearbeitet, Teil II: Theater, Berlin 1925, S. 4. 77 | Jahreszahlen aus: Hänsel/Schmitt: Kinoarchitektur in Berlin, S. 265. Möglicherweise existierte das Kino aber auch schon zuvor, denn ein nicht datiertes Programmheft, das mit dem Slogan »Das größte Kino-Varieté Berlins« warb, befindet sich in einer Sammlung von Programmzetteln aus den Jahren 1913/14: EZA 626/II 29,9. 78 | LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1273: Bestuhlungsplan von 1919. Die Platzangaben schwanken bei diesem Kino allerdings erheblich, sie reichen von 1200 bis 2000 Sitzplätzen. Vgl. Kino-Pharus-Plan Berlin 1919 bzw. Reichs-Kino-Adressbuch, S. 5. 79 | EZA 626/II 29,9: Vorbemerkungen für die Berichte über meine Kinematographentheaterbesuche, 1912. 80 | Waldemar Brust: Koppenstraße 60. Eine Berliner Kindheit in der Weimarer Zeit. Episoden aus dem Berlin der 20er und 30er Jahre, Berlin 1987, S. 102-106.

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des Viertels eher widerspiegelte als in den kleineren Lichtspieltheatern, die in der oben zitierten Studie der SAG beschrieben wurden. Allerdings gab es auch in diesen Großkinos Möglichkeiten zur sozialen Distinktion. Wie in zahlreichen anderen Vergnügungsetablissements wurden auch im Alhambra und im ConcordiaPalast so genannte ›Volkstage‹ eingeführt, an denen der Eintritt deutlich billiger war als an den übrigen Tagen: »Jeden Freitag Volks-Tag, Eintritt auf allen Plätzen 30 Pfennige«,81 warb zum Beispiel das Alhambra um 1913. Da einem durchschnittlichen großstädtischen Arbeiterhaushalt in den Jahren 1927/28 monatlich nur 5,68 Reichsmark für Information, Bildung, kulturelle Bedürfnisse und gesellige Aktivitäten aller Familienmitglieder zur Verfügung standen,82 ermöglichte einigen Bewohnern erst eine solche Staffelung der Eintrittspreise den Kinobesuch. Dies führte vermutlich zu einer sozialen Segregation des Publikums, je nachdem, wie hoch das Budget für den elastischen Bedarf des jeweiligen Haushalts war. In ihrer Multifunktionalität ähnelten die frühen Kinos den Kneipen: Auch sie waren Wärmestuben und Ausweichquartiere, verlängerte Wohnzimmer und Fluchträume für alle, die der Enge der Wohnungen entkommen wollten oder auch nur in den Abendstunden Heizmaterial und Energie sparen wollten. Die Kinos boten außerdem jungen Paaren Momente von Intimität und ungestörter Zweisamkeit ohne soziale Kontrolle.83 Darüber hinaus waren Lichtspieltheater selbstverständlich auch Orte des ästhetischen Erlebens und des Kunstgenusses. Der Kinobesuch ermöglichte der breiten Masse die Erfahrung von Schönheit, von Schrecken, von Mitleid, von Exotik und Komik. In diesem neuartigen Massenkonsum lag die demokratisierende Kraft des populären Vergnügens um 1900.84 Das frühe Kino war ein »polymorpher Erlebnisort«,85 in dem gegessen, getrunken, geraucht und das Geschehen auf der Leinwand häufig lautstark kommentiert wurde. Wie allerdings die Aneignung der Filme erfolgte, war nicht unerheblich von der Zusammensetzung des Kinopublikums abhängig. Nicht jeder Film rief daher in jedem Kino die gleichen Effekte hervor: »Der gleiche Film kann in verschiedenen Kinos verschiedener Stadtregionen ganz verschieden sein, je nachdem, in welchem sozialen Milieu und in welchem Gebäude er gezeigt wird.«86 Diese Be81 | EZA 626/II 29,9: Sammlung verschiedener Programmhefte. Das Kino nannte sich zum damaligen Zeitpunkt noch Licht-Schauspielhaus O. 82 | Diese Berechnungen gehen auf Erhebungen des Statistischen Reichsamtes von 1927/28 zurück. Vgl. Führer: Medienmetropole Hamburg, S. 42. 83 | EZA 626/II 29,8: Bengler: Kino im Osten. 84 | Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 30-31. 85 | Elsaesser: Filmgeschichte, S. 75. 86 | Brigitte Flickinger: »Zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Kino im Großstadtraum: London, Berlin und St. Petersburg bis 1930«, in: Clemens Zimmermann (Hg.): Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 135-152, hier S. 152. Ähnliche Beobachtungen machte auch Emilie Altenloh in ihrer Dissertation aus

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obachtung machten auch die Forscher/-innen der SAG, als sie die unterschiedliche Rezeption der Filme durch die Besucher in den benachbarten Kinos auf der Großen Frankfurter Straße festhielten. Die hier dargestellten Beispiele verschiedener Lichtspieltheater eines Viertels zeigen, dass nur eine sehr kleinteilige Analyse Aufschluss über das jeweilige soziale Profil der Kinobesucher zulässt. Eine grundsätzliche schichtenübergreifende Integrationsfunktion aller Kinos kann ebenso wenig festgestellt werden wie eine grundsätzliche Segregation des Kinopublikums. Mit ziemlicher Sicherheit kann aber davon ausgegangen werden, dass die Kinos des Viertels rund um die Fruchtstraße überwiegend von lokalem Publikum aufgesucht wurden. Für Besucher aus anderen Stadtvierteln gab es keinen besonderen Grund, nur für den Kinobesuch ins Stralauer Viertel zu reisen. Schließlich gab es in fast allen Innenstadtbezirken eine ähnliche Kinodichte; der Fruchtstraßenkiez stellte hier keine Ausnahme dar. Andersherum erscheint es – angesichts der Vielfalt der lokalen Kinolandschaft – eher unwahrscheinlich, dass die Bewohner des Stralauer Viertels nur für einen Kinobesuch in die Innenstadt oder gar in den Berliner Westen reisten. Denn das lokale Angebot reichte vom kleinen Ladenkino bis hin zum stuckverzierten Großkino; hier konnte sich die lokale Bevölkerung in Kinos ›um die Ecke‹ ohne lange Fahrtzeiten und gegen ein geringes Eintrittsgeld in ihrer Freizeit unterhalten.

D IE THE ATER - UND V ARIE TÉBÜHNEN RUND UM DIE F RUCHTSTR ASSE Verglichen mit den Kneipen und Kinos gab es im Stralauer Viertel nur wenige Theater. Bis Ende der 1920er Jahre existierten lediglich das Rose-Theater und das Wallner-Theater, das aufgrund seiner Nähe zum Alexanderplatz allerdings nur am Rande dem Fruchtstraßenkiez zuzurechnen ist. Erst 1929 eröffnete mit der Plaza zusätzlich ein Varieté von beachtlicher Größe. Entsprechend gering war auch das Interesse der SAG an den Theatern des Viertels. Obwohl im Programm der Vergnügungskommission geplant war, Kino- und Theateraufführungen gemeinsam zu betrachten, standen die Theaterbühnen kaum im Fokus der Mitarbeiter/-innen der SAG. Vermutlich entsprachen die Theater des Viertels eher deren Vorstellungen von ›guter Unterhaltung‹. Sie stießen bei den bürgerlichen Sozialreformern daher auf weniger Argwohn und lösten entsprechend weniger Untersuchungen aus als die Kneipen und Kinos des Kiezes. Im Gegensatz zu den zahlreichen Kneipen- und Kinostudien sind nur zwei kurze Berichte von Theaterbesuchen durch Studierende im Auftrag der SAG überliefert.

dem Jahre 1913, in der klassen- und geschlechterspezifische Interessen sowie normative und generationsspezifische Unterschiede im Kinopublikum Mannheims und Heidelbergs festgehalten wurden. Vgl. hierzu Clemens Zimmermann: »Das aktive Kinopublikum«, in: Die alte Stadt 3 (2001), S. 206-216, insbes. S. 212-213.

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Das Wallner-Theater befand sich zunächst in der Blumenstraße, dann ab 1864 in der nach ihm benannten Wallner-Theater-Straße.87 Es erlangte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Berühmtheit, als der gebürtige Wiener Schauspieler und Theaterdirektor Franz Wallner (1810-1876) die Theaterkonzession für eine Berliner Bühne, das Neue Königstädtische Theater, erwarb. Wallner feierte schnell Erfolge mit Stücken Alexandre Dumas’ (1824-1895), die die »feine Welt und das große Publikum« erreichten, wie ein Chronist des Wallner-Theaters 1884 notierte.88 Das eigentliche Ziel Wallners war es aber, ein »volkstümliches Theater nach Wiener Vorbild« zu gestalten. In den 1860er Jahren gelang es ihm gemeinsam mit dem Autor David Kalisch (1820-1872), das Genre der Berliner Lokalposse zu etablieren. Zusammen schrieben und inszenierten sie Stücke mit volkstümlichem Inhalt und starkem Lokalkolorit, zuweilen angereichert mit politischer Satire. Vor allem begeisterte die Lokalposse aber durch Situationskomik und zahlreiche Gesangseinlagen, zumeist Couplets, deren zahlreiche Strophen variiert und stets aktuellen Ereignissen angepasst werden konnten. Ihr Publikum fand die Lokalposse vor allem in den unteren Mittelschichten, die die Nachbarschaft des WallnerTheaters prägten. Damit bot es bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Unterhaltung für die lokale Bevölkerung des zunehmend urbanisierten Stralauer Viertels.89 Das Wallner-Theater war die volkstümlichste Bühne Berlins und das erste Theater des Berliner Ostens, das künstlerische Bedeutung erlangte.90 Am Ende der 1920er Jahre wurden allerdings nicht mehr unterhaltsame Komödien, sondern politische Stücke im Wallner-Theater aufgeführt: Nach dem kurzen Gastspiel einer nationalsozialistischen Theatertruppe wurde es im Frühjahr 1930 für ein Jahr zur Spielstätte des Theaterkollektivs um Erwin Piscator (18931966), der mit seinem politischen Theater die Arbeiterschaft des Berliner Ostens zu mobilisieren versuchte. Hier wurde unter anderem Carl Credés (1878-1952) Stück § 218 – Frauen in Not aufgeführt sowie Friedrich Wolfs (1888-1953) Lehrstück Tai Yang erwacht mit Bühnenbildern von John Heartfield (1891-1968).91 Erst aus dieser Zeit stammt auch eine kurze Schilderung des Theaters durch die SAG, was sich eher als Zeichen der politischen denn der sittlichen Sorge um 87 | Die Straße heißt heute noch Wallnerstraße; das Theatergebäude ist allerdings nicht mehr erhalten. 88 | Zit.n. Ruth Freydank: Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988, S. 272. 89 | Vgl. ebd., S. 272; Petra Louis: »Vom Elysium zum Prater. Berliner Vorstadtbühnen, der Beginn des privaten Theaterbetriebs im 19. Jahrhundert«, in: Ruth Freydank (Hg.): Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin 1995, S. 2338, insbes. S. 31-32 oder Martin Baumeister: »Theater und Metropolenkultur: Berlin um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa (Theatralität 10), Tübingen 2009, S. 193-215, insbes. S. 200-205. 90 | Freydank: Theater in Berlin, S. 275 und S. 284. 91 | Ebd., S. 412-416.

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die Besucher deuten lässt. In dieser Schilderung heißt es: »der Einfluss der K.P.D. im Wallnertheater ist ungeheuer stark«; der Büchertisch sei von der KPD finanziert, die Rote Fahne werde dort verkauft; Arbeiter mit Parteizugehörigkeit und Arbeitslose bekämen Rabatte, Studenten hingegen nicht.92 Die Ethnographin oder der Ethnograph besuchte zwei Vorstellungen: die eine an einem Sonntagnachmittag, die andere an einem Wochentagabend. Beide waren nicht ausverkauft; von den 1200 Plätzen waren nur circa 700 beziehungsweise 400 besetzt. Das Publikum bestand bei der Sonntagsvorstellung vor allem aus gut gestellten Arbeitern und kleinen Händlern. Viele kamen mit der gesamten Familie, junge Pärchen hingegen, die man typischerweise im Kino antraf, besuchten diese Vorstellung kaum. Die Abendvorstellung hingegen wurde durch sehr viele junge Leute besucht, allerdings weniger durch Pärchen als durch junge Frauen, die alleine oder gemeinsam mit ihren Freundinnen ins Theater gingen. Insgesamt besuchten mehr Frauen als Männer die Vorstellung. Dem Augenschein nach handelte es sich vorwiegend um Arbeiterinnen oder Verkäuferinnen. Beobachtet wurde auch, dass nur wenige Besucher aus anderen Stadtteilen anreisten, denn es fuhren fast keine Autos vor. Offenbar erreichte Piscators politisches Theater – zumindest in den beiden besuchten Vorstellungen – tatsächlich seine Zielgruppe: diejenigen Arbeiterinnen und Arbeiter des Berliner Ostens, die politisch der KPD nahestanden. Allerdings brachte diese starke Zielgruppenorientierung keine volle Auslastung des Hauses. Das Rose-Theater hingegen wollte ein breiteres Publikumsspektrum anziehen. Es war ein Familienbetrieb: 1906 übernahm Bernhard Rose (1865-1927) das 1877 erbaute Ostend-Theater und leitete das nach ihm benannte Haus bis zu seinem Tod. Anschließend übernahm sein Sohn Paul Rose (1900-1973) das Theater, anfänglich gemeinsam mit seinen Brüdern Hans (1893-1980) und Willi (1902-1978). Alle drei blieben bis zum Ende des Spielbetriebs 1944 zusammen mit ihren Frauen als Schauspieler und Regisseure dem Haus eng verbunden.93 Das Repertoire war, anders als im Wallner-Theater, sehr breit. Es reichte von Operetten und Lustspielen, Possen und Märchenstücken über naturalistische Melodramen bis hin zu Klassikern.94 So stand 1919 eine Inszenierung von Goethes Faust monatelang auf dem Spielplan, wie Hans Rose in seinen Erinnerungen festhielt: Diese glänzende Aufnahme, die niemand vorausgesehen hatte, beweist einmal mehr, daß das zum großen Teil aus Arbeitern bestehende Publikum keineswegs nur die billigen Effekt92 | EZA 626/II 29,8. Die Schilderung ist weder mit Namen versehen noch datiert. 93 | Vgl. Heinz-Dieter Heinrichs: Das Rose-Theater. Ein volkstümliches Familientheater in Berlin von 1906 bis 1944 (Theater und Drama 29), Berlin 1965, S. 16-20; Edith Krull/Hans Rose: Erinnerungen an das Rose-Theater, Berlin 1960; Baumeister: »Theater und Metropolenkultur«, S. 211-213. 94 | Michael Baumgarten: »Die Roses und ihr Publikum«, in: ders./Ruth Freydank (Hg.): Das Rose-Theater. Ein Volkstheater im Berliner Osten 1906-1944, Berlin 1991, S. 31-48, hier insbes. S. 37.

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H ANNO H OCHMUTH UND J OHANNA N IEDBALSKI stücke sehen wollte, […] sondern daß es wertvolle Stücke und gute Inszenierungen wohl zu schätzen wußte und dankbar aufnahm. 95

Der Theatersaal bot Platz für circa 1200 Besucher. Außerdem gab es einen Sommergarten, den Rose-Garten, in dem »Familien Kaffee kochen« und die Aufführungen auf der Freilichtbühne verfolgen konnten.96 Von besonderer Bedeutung für den Betrieb des Theaters war das Stammpublikum, das fast jeder Inszenierung begeistert folgte und häufig über Jahre oder Jahrzehnte hinweg ›seinem‹ Theater die Treue hielt. Diese Treue wurde durch mehrere Faktoren befördert: Die niedrigen Eintrittspreise machten den Theaterbesuch erschwinglich, und ein breites Angebot an Abonnements band die Besucher an das Theater. So kosteten 1930 die Eintrittskarten zwischen 60 Pfennig im Abonnement und 3,50 Reichsmark auf den teuersten Plätzen. Damit hatte das Rose-Theater, abgesehen von den Mitgliedsbeiträgen der Volksbühnen, die niedrigsten Eintrittspreise aller Berliner Theater.97 Die große Nähe zwischen den Theatermachern und dem Publikum zeigte sich auch am gemeinsamen Ausklang des Theaterabends an Stammtischen, an denen Besucher und Schauspieler zusammensaßen. Auch der Spielplan, der den Interessen des Publikums entgegenkam und auf dessen Wünsche einging, trug zur ungewöhnlich festen Bindung des Publikums an das Theater bei.98 Alle diese Faktoren wirkten sich auf die soziale und lokale Zusammensetzung des Publikums aus: Die niedrigen Eintrittspreise, die Lage des Theaters am Rande der Innenstadt […] und das Programm der Roses zog vor allem Zuschauer aus den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten an, die sonst kaum Zugang zum Theater fanden, beziehungsweise um die sich andere Theater vergeblich bemühten. 99

95 | Krull/Rose: Erinnerungen, S. 25. 96 | Es war üblich, dass weniger wohlhabende Familien in großen Biergärten und ähnlichen Etablissements ihren mitgebrachten Kaffee kochen konnten. Über den Sommergarten des Rose-Theaters: Michael Baumgarten: »Der Rose-Garten und die Operette«, in: ders./Ruth Freydank (Hg.): Das Rose-Theater. Ein Volkstheater im Berliner Osten 1906-1944, Berlin 1991, S. 100-125. 97 | Heinrichs: Das Rose-Theater, S. 32-35. Vgl. auch: Kino-Pharus-Plan von Gross-Berlin, Berlin 1925, S. 52-53. 98 | Ebd., S. 24-26. Anlässlich des 25jährigen Bestehens des Theaters 1931 schrieb Herbert Ihering im Berliner Börsen-Courier: »Der Erfolg ist fast ausschließlich: Die Organisierung des Familiensinns. Die Gefühle der Zusammengehörigkeit werden gewahrt. Vertraulichkeit auf der Bühne. Vertraulichkeit im Parkett und auf den Rängen. Man kennt sich. Man weiß Bescheid. […] Das Rosetheater ist eine nach außen getragene gute Stube. Man sitzt wie im Familienzimmer« zit.n. Krull/Rose: Erinnerungen, S. 64. 99 | Baumgarten: »Die Roses und ihr Publikum«, S. 32.

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In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel werden die Beweggründe für das Aufsuchen der Vergnügungsangebote durch die lokale Bevölkerung geschildert: »Hier sucht und findet der Bürger, der kleine Mann, der mit dem Pfennig rechnen muß, der am Abend zu müde ist, um noch einmal in die Stadt zu gehen, der zu sparsam ist, um mehr als zwei Mark zu opfern, sein Theatervergnügen.«100 Ergänzt werden sollte noch, dass nicht nur der ›kleine Mann‹, sondern in hohem Maße die Frauen des Viertels das Rose-Theater, den Sommergarten und die zahlreichen geselligen Zusammenkünfte, die Feste und »Hausfrauentage«, die im Theater gefeiert wurden, aufsuchten.101 Von den Zuschauern des Varietés Plaza wird in einem Bericht der SAG vom November 1930 ein ganz ähnliches Bild gezeichnet. Zwar erregte die Eröffnung der Plaza am 1. Februar 1929 im umgebauten ehemaligen Ostbahnhof am Küstriner Platz – also direkt an der Fruchtstraße – in ganz Berlin Aufsehen. Aber das erklärte Ziel des so genannten Volksvarietés mit fast 3000 Sitzplätzen war es, »der werktätigen Bevölkerung Berlins ein Volksvergnügen zu schaffen«.102 Versprochen wurde nicht weniger als »das größte Programm, bei den kleinsten Preisen in höchster Vollendung«.103 Der Charakter des Volksvarietés wird anhand seines Besucherprofils deutlich, das in der Studie der SAG gezeichnet wird: Das Publikum bestand fast ausschließlich aus Leuten aus dem Osten (nur ganz wenige Autodroschken fahren vor, gar keine Privatautos), davon scheint etwa die Hälfte kleinbürgerlichen Schichten zu entstammen: kleine Angestellte und Beamte, Ladenbesitzer (?), die übrigen sind Proletarier.104

Als bemerkenswert wird festgehalten, dass im Publikum viele Mütter mit Kindern anwesend waren, was darauf zurückzuführen sein mag, dass eine Nachmittagsvorstellung am Wochenende besucht wurde. Deutlich werden aber der lokale und der familiäre Charakter des Theaterbesuchs. Vor allem in den Nachmittagsvorstellungen blieb der Eintritt (zwischen 50 Pfennig und einer Reichsmark) niedrig; abends kosteten die Vorstellungen zwischen einer und zwei Reichsmark.105 Seit ihrer Eröffnung wurden die Räumlichkeiten der Plaza zudem für Großver100 | Berliner Illustrierte Nachtausgabe 19.9.1929, zit.n.: Baumgarten: »Die Roses und ihr Publikum«, S. 33. 101 | Heinrichs: Das Rose-Theater, S. 22-23 und S. 30-32. 102 | Berliner Börsen-Courier 26.1.1929. 103 | Plaza-Programmheft Nr. 1, zit.n.: Wolfgang Jansen: Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst, Berlin 1990, S. 223 [Hervorhebungen im Original]. 104 | EZA 626/II 29,8: Plaza. Varieté am Ostbahnhof, 1930. 105 | Ebd. Damit war das Varieté durchschnittlich noch billiger als das Rose-Theater. Zur lokalen Ausrichtung des Volksvarietés zählt auch, dass in fast allen kleinen Tabak- und Lebensmittelläden in Friedrichshain Plakate aushingen, die für Vorstellungen in der Plaza warben und Eintrittskarten zu verbilligten Preisen anboten, die im jeweiligen Laden

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anstaltungen der Arbeiterbewegung genutzt. So fand hier am 5. März 1929 eine Massenkundgebung zum zehnten Jahrestag der Kommunistischen Internationale statt – offenbar wurde die Plaza von der Arbeiterbevölkerung Friedrichshains gut angenommen.106 Das Programm des Varietés entsprach zunächst dem im Programmheft formulierten Ehrgeiz, »höchste Vollendung« zu präsentieren: Täglich wurden zwei bis drei Vorstellungen geboten, und zwei Mal im Monat wechselte das Programm. Stars wie Claire Waldoff (1884-1957), Oscar Sabo (1881-1969) oder Lotte Werkmeister (1885-1970) traten auf,107 und mit dem Plaza-Ballett verfügte das Varieté über eine eigene Chorusline.108 Die Initiative der Gründung der Plaza war vom Varieté Scala in der Lutherstraße im Berliner Westen ausgegangen. Am Ende der 1920er Jahre suchten die Direktoren des erfolgreichen Varietés nach Expansionsmöglichkeiten.109 Der ehemalige Ostbahnhof am Küstriner Platz, der seit dem Anschluss des Schlesischen Bahnhofs an die Stadtbahn 1882 weitgehend ungenutzt verblieben war, wurde unter Beibehaltung der unter Denkmalschutz stehenden Fassade in ein Großvarieté umgebaut. Für Aufsehen sorgte der große Rang mit 820 Sitzplätzen, der bautechnisch eine besondere Herausforderung darstellte (Abb. 14).110 Als Vorbild dienten die »Verhältnisse in anderen Weltstädten, in denen Volksvarietés in den dichtbevölkerten Wohnvierteln seit langem bestehen und sich bewährt haben«.111 Allerdings geriet der gesamte Scala-Konzern in der Weltwirtschaftskrise zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten.112 Bereits im Frühjahr gleich auch verkauft wurden. Zeitzeugengespräch mit Arno H., Jg. 1930, aufgewachsen in Friedrichshain. 106 | Die Rote Fahne 5.3.1929; LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1366. Auch in der Studie der SAG wird betont, dass es nur in den Arbeiterzeitungen Reklame für die Plaza gegeben hätte: EZA 626/II 29,8: Plaza. Varieté am Ostbahnhof. Diese selbstverständliche Aneignung des Vergnügungsortes durch die organisierte Arbeiterschaft könnte auch für die Geschichte der Arbeiterbewegung von Interesse sein. 107 | Durch die Kopplung von Verträgen – u.a. bestand eine Kooperation mit der Ufa – konnten Stars für das räumlich vom eigentlichen Bühnengeschehen in der Stadtmitte und der City-West weit entfernte Volksvarieté gewonnen werden. Hierzu: Jansen: Das Varieté, S. 224. 108 | Ebd., S. 228. 109 | Der Scala-Konzern übernahm Varietébühnen in Leipzig, Hamburg, Mannheim, Dortmund und Rotterdam. Hierzu: Jens Schnauber: Die Arisierung der Scala und Plaza. Varieté und Dresdner Bank in der NS-Zeit (Kleine Schriften der Gesellschaft für unterhaltende Bühnenkunst 8), Berlin 2002, S. 43. 110 | Vgl. Alfred Wedemeyer: »Plaza, ein Volksvarieté in Berlin«, in: Deutsche Bauzeitung 26 u. 27 (1929), S. 234; LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1366. Zum Umbau vgl. auch: Demps: Der Schlesische Bahnhof, S. 214-215. 111 | Der Abend 20.4.1928, zit.n.: Jansen: Das Varieté, S. 223. 112 | Vgl. Schnauber: Die Arisierung der Scala und Plaza, S. 46-51.

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Abb. 14: Zwei Ansichten des Volksvarietés Plaza. Oben: Der ehemalige Ostbahnhof vom Küstriner Platz aus gesehen. Unten: Blick auf den Rang und den Zuschauerraum, Ansichtskarten um 1930. 1931 vermietete die Direktion des Scala-Konzerns die Spielstätte Plaza an die Brüder Alfred (1886-1933) und Fritz Rotter (1888- um 1939), denen damals mehr als ein Drittel aller Berliner Theater gehörte. Diese stellten den Spielplan auf Operetten um. Gezeigt wurden nun Inszenierungen anderer Bühnen, zum Beispiel des Metropol-Theaters oder des Admiralspalasts. Während allerdings auf den Bühnen der Berliner Innenstadt die Stars auftraten, wurden in der Plaza zwar dieselben Inszenierungen gezeigt, die Stars allerdings durch unbekannte Schauspieler ersetzt. Diese B-Besetzung brachte den Vorteil, dass die Eintrittspreise niedrig gehalten werden konnten.113 Aber auch die Gebrüder Rotter mussten im Herbst 1932 113 | Jansen: Das Varieté, S. 228.

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Bankrott anmelden, und der Spielbetrieb wurde wieder vom Scala-Konzern übernommen. Nach der ›Arisierung‹ des Scala-Konzerns wurde das Theater zunächst als Operettenbühne weitergeführt, bis es von 1938 bis 1944 unter der Regie der NS-Organisation Kraft durch Freude wieder als Varietébühne diente.114 Sowohl das frühe Wallner-Theater, das Rose-Theater als auch die Plaza vertraten explizit den Ansatz, der lokalen Bevölkerung Kultur und Unterhaltung zu bieten. Ihr Anspruch war es, dem Publikum des Berliner Ostens einerseits Möglichkeiten zur Abwechslung und Ablenkung zu offerieren, um Sorge, Not und Elend für eine Weile zu vergessen. Andererseits verschafften Theaterbesuche Bildung- und Kunstgenuss, Erholung und Vergnügen. Der normale Besucher des Rose-Theaters hätte, glaubt man der selbstbewussten Einschätzung Paul Roses, all dies […] niemals kennen gelernt […], denn in die eleganten Theater der Hauptstadt wäre […] er nicht gegangen. Sie waren zu teuer, und er hätte sich unter den wohlhabenden Bürgersleuten, die diese Theater besuchten, auch nicht wohl gefühlt. […] das Rosetheater war sein Theater.115

Um die einfache Bevölkerung des Berliner Ostens zu gewinnen, kamen die Bühnen dem lokalen Publikum sowohl räumlich (bezogen auf die Lage der Spielstätten) als auch programmatisch und ökonomisch entgegen: Sie boten ein preiswertes Theatervergnügen und Aufführungen, die dem Geschmack des Publikums entsprachen. Unter diesen Voraussetzungen entfalteten die beschriebenen Theater innerhalb des sozialen Spektrums des Berliner Ostens ein schichtenübergreifend integratives Potential. Eine ganz andere Art des Bühnenspektakels hingegen bot das spätere Wallner-Theater unter Erwin Piscator. Nicht Unterhaltung, sondern politische Belehrung war das Ziel der Vorstellungen, nicht Abwechslung, Ablenkung oder Flucht vor dem Alltag, sondern die Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Realität. Auch das politische Zielgruppentheater siedelte sich bewusst im Berliner Osten an und konnte dort sein Publikum mobilisieren, wenn auch nicht im erhofften Umfang.

S CHLUSS Zur Charakterisierung des Vergnügungsangebots in den dicht besiedelten Wohnbezirken des Berliner Ostens schlagen wir den Begriff des ›Kiezvergnügens‹ vor. 114 | Ausführlich dazu: Schnauber: Die Arisierung der Scala und Plaza, S. 54 und Jansen: Das Varieté, S. 232-236. Das Gebäude der Plaza wurde in den letzten Kriegstagen zum Kampfschauplatz und zerstört. Seit 1974 befindet sich an derselben Stelle das Verlagsgebäude des Neuen Deutschland. 115 | Krull/Rose: Erinnerungen, S. 47; vgl. auch Schnauber: Die Arisierung der Scala und Plaza, S. 39.

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Wie am Beispiel des Viertels rund um die Fruchtstraße deutlich wurde, gab es ein differenziertes Angebot verschiedener Vergnügungen, die sich an die lokale Bevölkerung des konkreten Einzugsgebiets richteten. Das Stammpublikum bildeten Besucher, die keine weiten Anfahrtswege auf sich nahmen und die ›aus Gewohnheit‹ kamen. Sie waren Inhaber von Theater-Abonnements oder Gäste in ›ihrer‹ Stammkneipe oder ›ihrem‹ Pantoffelkino. Diese lokale Reichweite der Vergnügungseinrichtungen des Fruchtstraßenviertels erscheint uns auf andere dicht besiedelte Wohnviertel Berlins übertragbar. Auch in anderen Vierteln gingen die ›kleinen Leute‹ aus pragmatischen Gründen zunächst in das Kino oder die Kneipe in unmittelbarer Nähe, trafen dort auf Nachbarn und Bekannte aus dem Kiez und trugen so zum nachbarschaftlich-familiären Charakter der Vergnügungseinrichtungen bei. Um das Publikum zu gewinnen, verfolgten die Theater unterschiedliche Strategien und entwickelten jeweils ein unverwechselbares Profil. Demzufolge gab es einen Vergnügungsort wie die Plaza nicht in jedem Wohnviertel des Berliner Ostens. Aber die Orientierung am lokalen Publikum einte auch die drei auf den ersten Blick einzigartigen Theaterprojekte des Fruchtstraßenviertels. Sie waren Teil des lokalen Kiezvergnügens, das die Freizeitgestaltung und das Verständnis von Unterhaltung und Kultur einer Mehrheit der Berliner Bevölkerung prägte. Betrachtet man die soziale Zusammensetzung des Publikums der verschiedenen Vergnügungsorte des Fruchtstraßenviertels, so lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Einerseits gab es Vergnügungsorte, die das gesamte soziale Spektrum der Bewohner des Einwandererviertels in seiner sozialen Heterogenität repräsentierten. Einige der beschriebenen Lokale, insbesondere die Animierkneipen, die Großkinos oder das Volksvarieté waren Orte der sozialen Begegnung und damit Orte eines lokalen schichtenübergreifenden Massenvergnügens, wobei Besucher ›von außerhalb‹, aus dem restlichen Stadtgebiet, auch an diesen Orten eher die Ausnahme blieben. Diese soziale Begegnung konnte allerdings durch die gestaffelten Eintrittspreise vermindert werden. So bevorzugten Familien die preiswerten Nachmittagsvorstellungen, und billigere ›Volkstage‹ verschafften auch denjenigen Zugang, denen die regulären Eintrittspreise noch zu hoch waren. Doch entsprachen diese Abstufungen nicht nur dem Distinktionsbedürfnis der Besucher, sondern auch dem ökonomischen Kalkül der Unternehmer, die ihre Vergnügungsetablissements maximal ausgelastet wünschten. Andererseits gab es im Kiezvergnügen auch Vergnügungsstätten, die soziale Unterschiede abbildeten und reproduzierten. Es lassen sich Vergnügungsorte ausmachen, an denen kleinbürgerlichen Schichten weitgehend unter sich blieben. An anderen wiederum verkehrten überwiegend Proletarier. Die sozialen Unterschiede der Besucher konnten sich auch auf die Rezeptionshaltung und die Aneignungsformen des jeweiligen Vergnügens auswirken, wie in der Kinostudie der SAG betont wurde. Bisweilen konsumierten ärmere und wohlhabendere Besucher dieselben Unterhaltungsangebote, aber an klar getrennten Orten. Beide Tendenzen, sowohl die soziale Inklusion durch das lokale Massenvergnügen als auch die soziale Segregation der Bevölkerung an den Vergnügungs-

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orten, existierten im Viertel rund um die Fruchtstraße während der 1920er Jahre parallel und zeitgleich. Ein vergleichbar differenziertes Bild ergibt sich auch hinsichtlich der geschlechterspezifischen Nutzung der Vergnügungsangebote. Während der Kneipenbesuch ein deutlich männlich geprägtes Vergnügen war, stellten Frauen mit und ohne Familien im Theater und Varieté einen großen Besucheranteil. Kinos hingegen wurden offenbar von beiden Geschlechtern gleichermaßen besucht, allerdings unter Umständen in verschiedenen Lichtspieltheatern. Das Kiezvergnügen war weniger glamourös und hinterließ weniger Spuren als die Vergnügungsstätten der Innenstadt. Die Untersuchungen der SAG stellen hier eine spektakuläre Ausnahme dar, die einen Einblick in die Praxis des Vergnügens erlaubt und in dieser Form leider nur sehr selten überliefert ist. Allerdings sind die Quellen der SAG durch eine kulturkritisch-paternalistische Perspektive geprägt, die der populären Vergnügungskultur des Berliner Ostens kaum Wert beimisst. Eine Geschichte der Metropolenkultur sollte die Orte des lokalen Kiezvergnügens auf jeden Fall mit einbeziehen und sich nicht ausschließlich auf die spektakulären Kultur- und Vergnügungsorte der Innenstädte konzentrieren. Zugleich sollte sie das weite Spektrum des großstädtischen Vergnügens erschließen. Anknüpfungspunkte für eine solche breite Perspektive bietet das Untersuchungsprogramm der SAG-Vergnügungskommission. Besonders lohnend erscheinen uns dabei die Orte und Formen des Freiluftvergnügens. Hierzu gehören neben den Biergärten und Rummelplätzen auch die Hoffeste, die bis in die 1920er Jahre hinein in den Mietskasernen gefeiert wurden. Auch sie bildeten einen wichtigen Bestandteil des Kiezvergnügens in der Metropole.

Das Vergnügungsviertel Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende Tobias Becker

Every great city has its seamy underside. – J. G. Farrell1 … certain activities seem to belong to certain areas, or neighbourhoods, as if time itself were moved or swayed by some unknown source of power. – Peter Ackroyd 2

D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL IN DER M E TROPOLE Vergnügungsviertel, ›entertainment district‹, ›lieu de plaisir‹ sind Begriffe, wie sie in Reiseführern und in der Umgangssprache gerne benutzt werden, weil sich unter ihnen jeder etwas vorstellen kann, die aber gleichzeitig schwer oder gar nicht zu definieren sind. Weder der Brockhaus noch Wikipedia führen einen Artikel und ebenso wenig warten Stadtgeographie und -soziologie mit einer Definition auf. Das Vergnügungsviertel scheint es nur in seiner konkreten Form, als Vergnügungsviertel von Paris, London oder New York zu geben, nicht aber als Abstraktion. Seine ausgesprochene Bildstärke – Großstadtnächte, Neonlicht – korrespondiert mit einer definitorischen Uneindeutigkeit: Wodurch wird ein Stadtraum zum Vergnügungsviertel? Welche Charakteristika muss es besitzen, welche Faktoren erfüllen? Welche Vergnügungen hält es bereit? Inwiefern unterscheidet es sich von anderen Räumen der Stadt? Einige Antworten fallen leicht: In Paris und London gab es ein Vergnügungsviertel, in Madrid, Manchester oder München aber nicht, und so ist das Vergnü1 | J. G. Farrell: The Singapore Grip [1978], London 1992, S. 4. 2 | Peter Ackroyd: London. The Biography, London 2003, S. 774.

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gungsviertel erst einmal ein spezifisch großstädtisches, wenn nicht gar ein Metropolen-Phänomen. Von Metropolen kann aber erst seit dem 19. Jahrhundert die Rede sein, und vieles spricht dafür, das Vergnügungsviertel – obgleich der Begriff bisweilen auf die antike und vormoderne Stadt angewandt wird – vor dem Hintergrund der ›langen Jahrhundertwende‹ zu sehen, die zugleich »Zeit der Metropolen«, »massenmediale Sattelzeit« und Geburtsstunde der modernen Populärkultur war – drei zeitgleiche, historische Prozesse, ohne die das Vergnügungsviertel unvorstellbar ist und die in ihm wiederum einen anschaulichen, materiellen Ausdruck fanden.3 Deshalb gilt es »die ein halbes Jahrhundert lang bemerkenswert einflussreichen ›Vergnügungsviertel‹ […] als genuin städtische Räume verstärkt in den Blick zu nehmen«, wie Pascal Eitler schreibt.4 Um eine Art idealtypisches Vergnügungsviertel zu zeichnen, werden im Folgenden die Vergnügungsviertel der sechs größten und als Metropolen weitgehend unumstrittenen Städte der Jahrhundertwende betrachtet: der Pariser Montmartre (4,1 Millionen Einwohner), das Londoner West End (6,5 Millionen), Friedrichstraße und Kurfürstendamm in Berlin (2,7 Millionen), der Wiener Prater (1,6 Millionen), der New Yorker Times Square (4,9 Millionen) und das Asakusa-Viertel in Tokio (5,2 Millionen).5 Die Entstehungsgeschichte der Vergnügungsviertel und ihre Lokalisierung im Raum der jeweiligen Metropole, der Gegenstand des ersten Abschnittes, erklären allein jedoch noch nicht, was diese Gebiete so besonders macht. Wie die beiden Säulenfiguren des ›Spatial Turns‹, Henri Lefebvre und Michel de Certeau, schrei3 | Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1996; siehe auch Anthony Sutcliffe (Hg.): Metropolis, 1890-1940, Chicago 1984; Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden«, CMS Working Paper Series 001/2006, www.metropolitanstudies.de/fileadmin/filestorage/reif_001. pdf, S. 2; Bernd Weisbrod: »Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert«, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270-283; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 32001, S. 20. 4 | Pascal Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit. Körpergeschichte als Konsumgeschichte«, in: Claudius Torp/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990, Frankfurt a.M. 2009, S. 370-383. 5 | Wolfgang Schwentker: »Die Megastadt als Problem der Geschichte«, in: ders. (Hg.): Megastädte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 7-26, hier S. 9; zwischen Berlin und Wien lagen eigentlich noch Osaka (2 Mio.) und Chicago (1,8 Mio. Einwohner). Zum Metropolen-Diskurs der Jahrhundertwende siehe James Joll: »Die Großstadt – Symbol des Fortschritts oder der Dekadenz«, in: Peter Alter (Hg): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den 20er Jahren, Göttingen 1993, S. 23-39, insbes. S. 24; Peter Hall: Weltstädte, München 1966; Gerwin Zohlen: »Metropole als Metapher«, in: Gotthard Fuchs/Bernhard Moltmann/Walter Prigge (Hg.): Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995, S. 23-34; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 355-464.

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ben, ist »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt« beziehungsweise »space is a practiced place«.6 Das gilt für keinen Raum mehr als für das Vergnügungsviertel, das in besonderem Maße soziale Interaktion und Kommunikation strukturierte, und zugleich »selbst erst kommunikativ geschaffen« wurde.7 Seine, im zweiten Abschnitt untersuchte, spezifische Psychogeographie lässt es als einen grundsätzlich »anderen Raum« erscheinen. Deshalb wird vorgeschlagen, es als einen heterotopischen Raum im Sinne Michel Foucaults zu verstehen.8 Das Konzept der Heterotopie entwickelte Foucault in einer Vorlesung, die mittlerweile zu den klassischen Texten der Raumtheorie gehört und insbesondere in den Kulturwissenschaften einen festen Platz im Nachdenken über Räume behauptet. Als Heterotopie bezeichnet Foucault in Abgrenzung vom Nicht-Ort der Utopie »reale, wirkliche Orte, […] die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden«.9 In der Folge unterscheidet er zwischen vormodernen Krisenheterotopien, das heißt privilegierten oder verbotenen Orten, die Menschen vorbehalten sind, die sich in einem Krisenzustand befinden (z.B. menstruierende Frauen, Heranwachsende, Alte), und den Abweichungsheterotopien moderner Gesellschaften. Unter Abweichungsheterotopien versteht er Orte wie Sanatorien oder Gefängnisse, in denen Menschen untergebracht werden, deren Verhalten von gesellschaftlichen Normen abweicht. Alle Heterotopien unterliegen historischer Wandelbarkeit, wie Foucault am Beispiel des Friedhofs erklärt, der im 19. Jahrhundert von der Stadtmitte an die Peripherie wandert. Ein weiteres Charakteristikum ist die Überlagerung mehrerer, oft miteinander eigentlich inkompatibler Orte, an einem einzigen Ort wie dem Theater oder dem Kino. Grundsätzlich stünden alle Heterotopien in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, die Foucault als »Heterochro6 | Henri Lefebvre: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 330-342, hier S. 330; siehe auch ders.: The Production of Space, Oxford 1984, S. 73; sowie Mark Gottdiener: The Social Production of Urban Space, Austin 1985, S. 123; Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life, Berkeley 1988, S. 117. 7 | Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold: »Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930«, in: dies. (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 15-49, hier S. 18. 8 | Das halb künstlerische, halb wissenschaftliche Konzept der Psychogeographie, ursprünglich von Guy Debord geprägt, ist bislang kaum auf deutsche Städte oder von Historikern angewandt worden, vgl. Guy Debord: »Introduction to a Critique of Urban Geography«, in: Kenn Knabb (Hg.): Situationist International Anthology, Berkeley 1981, S. 5-8; siehe auch Merlin Coverley: Psychogeography, London 2006. 9 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 317329, hier S. 320.

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nien« bezeichnet. Und ihnen allen sei eigen, dass sie ein System der Öffnung und Abschließung voraussetzen, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. Hinsichtlich ihrer Funktion unterscheidet Foucault zwischen »illusorischen Heterotopien«, die »einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum und alle realen Orte […] als noch größere Illusion entlarvt«, und »kompensatorischen Heterotopien«, die »im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung« aufweisen. Foucaults Konzept, das Gefängnis und Garten ebenso umfasst wie Theater, Motel, Fest und das Boot – »die Heterotopie par excellence« –, ist daher denkbar weitgespannt und uneindeutig oder, wie Edward W. Soja schreibt, »frustratingly incomplete, inconsistent, incoherent«.10 Andererseits war es vermutlich gerade diese Offenheit und Ungenauigkeit, die den Reiz des Konzeptes begründete. Jeder, der es benutzt, kann – und muss – es zwangsläufig den eigenen heuristischen Bedürfnissen anpassen. Die hauptsächliche Qualität von Foucaults Heterotopie ist jedoch, dass sie uns auf häufig übersehene Räume überhaupt erst aufmerksam macht, dass sie die Frage aufwirft, wie und warum diese Räume existieren und funktionieren und welche Rolle sie in einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt spielen. Inwiefern nun das Vergnügungsviertel als heterotopischer Raum verstanden werden kann, wird nach einem Blick auf sechs konkrete Viertel geklärt.11

Montmartre Paris gilt als »Stadt der […] Vergnügungsviertel« schlechthin und diesen Ruf verdankt es keinem Viertel mehr als dem Montmartre.12 Seine Geschichte begann bereits im 18. Jahrhundert, als sich in dem außerhalb der eigentlichen Stadt im Norden auf einem Hügel gelegenen Gebiet zahlreiche Kneipen und Tanzböden an10 | Ebd. S. 326-327; Edward W. Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Malden, Mass. u.a. 1996, S. 155-162, hier S. 162. 11 | Zum Konzept der Heterotopie siehe auch Tobias Klass: »Heterotopie«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2008, S. 263-266; Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn 2007, S. 137. Als Beispiele für neuere Studien, die sich das Konzept zu Nutze machen, seien genannt: Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009; Jürgen Hasse: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007; Georg Christoph Tholen: »Der Ort des Raumes. Zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter«, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 99-114. 12 | Walter Benjamin: »Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, in: ders.: Das PassagenWerk, hg. von Ralf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983, S. 45-59; Klappentext zu Lion Feuchtwanger, Exil, Frankfurt a.M. 1979.

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siedelten. 1860 wurde es als 18. Arrondissement von Paris eingemeindet. Trotzdem behielt es mit seinen Windmühlen und Weinbergen noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein einen ausgesprochen dörflichen Charakter. Mit der Vertreibung unterbürgerlicher Schichten aus dem Zentrum von Paris im Zuge der ›Haussmannisierung‹ unter Napoleon III. (1808-1873) und dem Bau der Eisenbahn zog verstärkt eine proletarische Bevölkerung zu. Die Lage Montmartres zwischen zwei Eisenbahnlinien sorgte überdies für einen konstanten Strom von Fremden. Das Verhältnis zwischen Viertel und Stadt blieb gespannt, vor allem nachdem 1871 die Pariser Kommune von hier ihren Ausgang genommen hatte. Es war sein unkonventioneller Ruf, der Bohème und Unterhaltungsindustrie anlockte. Vor allem um die Place de Clichy, Place Blanche und Place Pigalle siedelten sich zahlreiche Vergnügungsetablissements an, wie die Music Halls Moulin Rouge und Folies Bergère. Der Montmartre war allerdings nie das einzige Vergnügungsviertel von Paris. Eine ähnliche Funktion erfüllten die unterhalb des Hügels gelegenen Boulevards mit ihren Theatern und das Gebiet rund um die Opéra Garnier. Die wachsende Popularität des Viertels und der Ansturm der Touristen sorgten für steigende Mieten und die Abwanderung der proletarisch-kleinbürgerlichen Bevölkerung und der Bohème. Diese ließ sich in der Zwischenkriegszeit vor allem auf dem Montparnasse im 14. Arrondissement von Paris nieder, der den Montmartre auch als Vergnügungsviertel ablöste.13 13 | Vgl. Nicholas Hewitt: »Shifting Cultural Centers in Twentieth-century Paris«, in: Michael Sheringham (Hg.): Parisian Fields, London 1996, S. 30-45; Claire Hancock: »Capitale de plaisir. The Remaking of Imperial Paris«, in: Felix Driver/David Gilbert (Hg.): Imperial Cities. Landscape, Display and Identity, Manchester 2003, S. 64-77; Julia Csergo: »Extension et mutation du loisir citadin, Paris XIXe siècle-début XXe siècle«, in: Alain Corbin (Hg.): L’avènement des loisirs, 1850-1960, Paris 1995, S. 121-168; Charles Rearick: Pleasures of the Belle Epoque. Entertainment and Festivity in Turn-of-the-Century France, New Haven/London 1985; Louis Chevalier: Montmarte du plaisir et du crime, Paris 1980; Jean-Paul Crespelle: La vie quotidienne à Montmartre au temps de Picasso, 19001910, Paris 1978; Raymond Rudorff: Belle Epoque. Paris in the Nineties, London 1972, insbes. S. 44-93; Jerrold E. Seigel: Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830-1930, Baltimore u.a. 1999, S. 336-338; sowie die Beiträge in Gabriel P. Weisberg (Hg.): Montmartre and the Making of Mass Culture, New Brunswick u.a. 2001. Zur ›Haussmannisierung‹ und ihren Folgen vgl. Johannes Willms: Paris. Hauptstadt Europas 1800-1914, München 1988, S. 288-326. Zum politischen Charakter des Viertels siehe John Kim Munholland: »Republican Order and Republican Tolerance in Fin-de-Siècle France. Montmartre as a Delinquent Community«, in: Weisberg (Hg.): Montmartre and the Making of Mass Culture, S. 15-36; Judith Stone: Sons of the Revolution. Radical Democrats in France 1862-1914, Baton Rouge 1996, insbes. S. 368-372; zu Sacré-Coeur Raymond A. Jonas: »Sacred Tourism and Secular Pilgrimage. Montmartre and the Basilica of SacréCoeur«, in: Weisberg (Hg.): Montmartre and the Making of Mass Culture, S. 94-119; David Harvey: »Monument and Myth. The Building of the Basilica of the Sacred Heart«, in: ders.

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West End London besaß bereits seit dem späten Mittelalter in dem am jenseitigen Themseufer in Southwark gelegenen Gebiet Liberty of the Clink ein Vergnügungsviertel. Außerhalb des Zugriffs der städtischen Behörden blühten hier Prostitution, Tierkämpfe, Glücksspiel und Theater.14 Spätestens die puritanische Revolution setzte diesem Treiben ein Ende. Nach der Restauration 1660 entwickelte sich am Covent Garden, einem der wichtigsten Marktplätze Großbritanniens, ein neues Vergnügungsviertel. Hier lagen die vom König lizenzierten Theater Drury Lane, Covent Garden und Haymarket, deren Umfeld als Zentrum der Prostitution bekannt war. Obwohl es auch im West End slumartige Gebiete gab, kristallisierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine sozialräumliche Trennung der Stadt in ein feudales West End und ein proletarisches East End heraus, die zum Sinnbild der britischen Klassengesellschaft wurde. Schon seit georgianischer Zeit für seine Luxusgeschäfte bekannt, öffnete sich das West End um 1900 mit der Ansiedlung großer Warenhäuser wie Selfridges für alle sozialen Schichten. Zeitgleich entstand am Leicester Square, dem Strand und der Shaftesbury Avenue eine Fülle neuer Theater und Music Halls. Damit hatte sich das West End zur Jahrhundertwende zu jenem ›shopping and entertainment district‹ entwickelt, der es bis heute geblieben ist.15

Friedrichstraße/Kurfürstendamm Die Berliner Friedrichstraße entstand im späten 17. Jahrhundert als Teil einer durch Bevölkerungswachstum notwendig gewordenen und von Friedrich I. (1657-1713) (Hg): Consciousness and the Urban Experience. Studies in the History and the Theory of Capitalist Urbanization, Baltimore 1985, S. 200-228. 14 | Vgl. Martha Carlin: Medieval Southwark, London/Rio Grande 1996, insbes. S. 199227; David J. Johnson: Southwark and the City, Oxford 1969, insbes. S. 43-92; Frank Rexroth: »Grenzen der Stadt, Grenzen der Moral. Der urbane Raum als Imaginarium einer vormodernen Stadtgesellschaft«, in: Peter Johanek (Hg.): Die Stadt und ihr Rand, Köln u.a. 2008, S. 147-165. 15 | Vgl. D. F. Stevens: »The Central Area«, in: J. T. Coppock/Hugh C. Prince (Hg.): Greater London, London 1964, S. 167-201; Patricia Garside: »West End, East End. London 18901914«, in: Anthony Sutcliffe (Hg.): Metropolis, 1890-1920, Chicago 1984, S. 221-258; Roy Porter: London. A Social History (1994), London 2000, insbes. S. 115-120; Donald J. Olsen: Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 168-172; Judith R. Walkowitz: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, London 1994, insbes. S. 19-26, 45-49; John Eade: Placing London. From Imperial Capital to Global City, New York 2000, insbes. S. 49-64, 123-126; Erika D. Rappaport: Shopping for Pleasure. Women in the Making of London’s West End, Princeton, New Jersey 2000; Ed Glinert: West End Chronicles. 300 Years of Glamour and Excess in the Heart of London, London 2007.

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verfügten Stadterweiterung. Sie durchzog die Friedrichstadt vom Oranienburger Tor im Norden bis zum Halleschen Tor im Süden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die quer zu ihr verlaufende Leipziger Straße als Geschäfts- und Einkaufsstraße und die Friedrichstraße als Vergnügungsmeile Berlins. Zugleich verfügte sie aufgrund ihrer Lage am Bahnhof Friedrichstraße im Norden und am Anhalter und Potsdamer Bahnhof im Süden über eine gute Verkehrsanbindung, was wiederum mit dazu beitrug, dass sie sich zur »Theatergegend« der Stadt entwickelte.16 Hinzu kam eine große Zahl von Restaurants, Cafés und Nachtlokalen, in denen, ebenso wie auf der Straße selbst, viele Prostituierte ihrem Gewerbe nachgingen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann der Aufstieg des Berliner Westens um den Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße. Anfangs ein feudales Wohnviertel, führte die Eröffnung des Kaufhauses des Westens 1907 zur Ausbildung eines neuen Geschäftsviertels, dem bald eine Reihe von Cafés, Tanzpalästen, Kinos und Theater folgten, so dass ein neues Vergnügungsviertel entstand. Als Theatergegend blieb die Friedrichstraße jedoch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bedeutender.17

Prater Der Prater ist eine nordöstlich des Zentrums von Wien zwischen Donau und Donaukanal gelegene ehemalige Aulandschaft. Das Gelände befand sich in kaiserlichem Besitz und wurde 1766 von Joseph II. (1741-1790) für die Öffentlichkeit freigegeben. Daraufhin siedelten sich im Westteil eine Reihe von Buden und Vergnügungslokalen sowie die aus der Stadt vertriebenen Hanswurst-Theater an, nach denen dieses Gebiet bald »Wurstelprater« genannt wurde. Bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts hatte es sich zum »Lieblingsvergnügungsort der Wiener« ent-

16 | Max Epstein: Theater als Geschäft [1911], Berlin 1996, S. 22. 17 | Vgl. Satyr (=Richard Dietrich): Lebeweltnächte der Friedrichstadt (Großstadt-Dokumente 30), Berlin 31907; Peter Mugay: Die Friedrichstraße. Geschichte und Geschichten, Berlin 1991; Volker Wagner: Die Dorotheenstadt im 19. Jahrhundert. Vom vorstädtischen Wohnviertel barocker Prägung zu einem Teil der modernen Berliner City, Berlin/New York 1998, insbes. S. 639-683; Ralph Hoppe: Die Friedrichstraße. Pflaster der Extreme, Berlin 1999; Wolf Jobst: »Berlin. Unter den Linden/Kurfürstendamm. Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt«, in: Klaus Hartung (Hg.): Boulevards. Die Bühnen der Welt, Berlin 1997, S. 219-247; Karl-Heinz Metzger/Ulrich Dunker: Der Kurfürstendamm. Leben und Mythos des Boulevards in 100 Jahren deutscher Geschichte, Berlin 1986; Knud Wolffram: Tanzdielen und Vergnügungspaläste. Berliner Nachtleben in den dreißiger und vierziger Jahren. Von der Friedrichstraße bis Berlin W, vom Moka Efti bis zum Delphi, Berlin 1992; PeterAlexander Bösel: Kurfürstendamm. Berlins Prachtboulevard, Erfurt 2008; Helga Frisch: Abenteuer Kurfürstendamm. Damals und heute, Berlin 2007.

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wickelt, den an Sonn- und Feiertagen bis zu zehntausend Menschen besuchten.18 Mit dem Bau des Wiener Nordbahnhofs wurde sich der nahegelegene Praterstern zu einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Neben zahlreichen Lokalen und Kaffeehäusern, Geister-, Achterbahnen und Karussellen gab es auch mehrere Theater, darunter das Jantsch-Theater und das Prater-Varieté. Über das Jahrhundert hinweg ließen sich auch mehrere Zirkusse im Prater nieder, in dem sich in der Zwischenkriegszeit darüber hinaus sechs Kinos befanden. Für die Wiener Weltausstellung von 1873 wurde ein großes Gelände mit Ausstellungshallen angelegt, darunter die auch als Theater genutzte Rotunde. 1897 bekam der Prater mit dem Riesenrad sein Wahrzeichen, nachdem zwei Jahre zuvor der Vergnügungspark Venedig in Wien seine Pforten geöffnet hatte.19

Times Square New York erlebte in den Jahrzehnten zwischen 1890 und 1940 den wichtigsten Wandlungsprozess seiner Geschichte. Die Expansion des Finanz- und Verwaltungsdistrikts im Süden Manhattans setzte einen Verdrängungsprozess nach Norden in Gang. Die Konfektionsbranche beispielsweise ließ sich zwischen Broadway und Eighth Avenue und zwischen der 35. und 40. Straße im Garment District nieder und vertrieb die dort ansässigen Theater. Bislang über verschiedene Teile der Stadt verstreut, mit einem Schwerpunkt um den Union Square und den Madison Square, folgten sie nach 1900 ihrem Publikum zunehmend in die Mitte Manhattans. Während in anderen Teilen der Stadt viele Theater schlossen, eröffneten im Gebiet um den Times Square zwischen Sixth und Eighth Avenue und der 40. und 53. Straße 80 neue Bühnen. Gleichzeitig ließen sich hier zahlreiche Warenhäuser nieder sowie eine Fülle von Restaurants, Cafés, Cabarets und Nightclubs. Von 18 | Otto Reinsberg-Düringsfeld: Das festliche Jahr in Sitten, Gebräuchen, Aberglauben und Festen der Germanischen Völker, Leipzig 1898, S. 159. 19 | Hans Pemmer/Nini Lackner: Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neu bearb. von Günter Düriegl und Ludwig Sackmauer, Wien/München 1974; Bertrand Michael Buchmann: Der Prater. Die Geschichte des Unteren Werd, Wien u.a. 1979, S. 63-81; Otmar Rychlik: »Die Entwicklung des Wiener Pratersterns«, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 36 (1982), S. 11-26; Jutta Pemsle: Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt, Wien 1989; Bartel F. Sinhuber: Zu Besuch im alten Prater. Eine Spazierfahrt durch die Geschichte, Wien/München 1993; »Prater«, in: Felix Czeike (Hg.): Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden, Bd. 4, Wien 1995, S. 592-594; Norbert Rubey/Peter Schoenwald: Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende, Wien 1996; Marcello La Speranza: Prater-Kaleidoskop. Eine fotohistorische Berg- und Talfahrt durch den Wiener Wurstelprater, Wien 1997; Christian Dewald/Werner M. Schwarz (Hg.): Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos, Wien 2005; zum Prater siehe auch den Beitrag von Amália Kerekes und Katalin Teller in diesem Band.

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Beginn an fungierte der Times Square darüber hinaus als Rotlichtviertel. Ein zentraler Faktor für seine Entwicklung war die durch die Nähe zum Grand Central Terminal im Osten und zur Pennsylvania Station im Südwesten gegebene gute Verkehrsanbindung. Über Eisenbahn und U-Bahn war das Zentrum von Manhattan aus den anderen Teilen der Stadt und der ganzen Nation zu erreichen, während der Hafen ein Einfallstor für Reisende aus aller Welt war. Bevor der Times Square in den 1990er Jahren ein Comeback erlebte, galt er als Symbol für den Niedergang der amerikanischen Städte, der in den 1960er Jahren eingesetzt hatte.20

Asakusa Von all den hier betrachteten Vergnügungsvierteln blickt Asakusa auf die längste Vorgeschichte zurück. Es begann seine Existenz als sakraler Raum aufgrund eines bis heute dort existierenden Shinto-Schreins. Diesen passierten viele Reisende, die in das nordöstlich von Edo (wie Tokio bis 1868 hieß) gelegene Yoshiwara strebten, eine eigenständige Siedlung, in der Shogun Tokugawa Hidetada (1579-1632) im frühen 17. Jahrhundert die Prostitution hatte kasernieren lassen. Als 1842 alle Theater Edos geschlossen und nach Asakusa verlegt wurden, um die Genusssucht der unteren Klassen einzudämmen, begann der Aufstieg Asakusas zum Vergnügungsviertel. 1873 verfügte die Meiji-Regierung seine Umgestaltung zu einem Park nach westlichem Vorbild, um dann doch die Ansiedlung von Vergnügungsetablissements zuzulassen. Neben den Theatern gab es die Nihon Panoramakan (Japanische Panorama-Halle) und den Ryōukaku, einen achteckigen, zwölfstöckigen Aussichtsturm aus rotem Backstein von gut 67 Metern Höhe, dem Wahrzeichen von Asakusa. 1903 eröffnete im sechsten Distrikt mit dem Denkikan (Haus der Elektrizität) das erste, dauerhaft in einem eigenen Gebäude untergebrachte Kino; 20 | Vgl. Kenneth T. Jackson: »The Capital of Capitalism. The New York Metropolitan Region, 1890-1940«, in: Anthony Sutcliffe (Hg.): Metropolis, 1890-1940, Chicago 1984, S. 319353; David C. Hammack: »Developing for Commercial Culture«, in: William R. Taylor (Hg.): Inventing Times Square. Commerce and Culture at the Crossroads of the World, Baltimore/ London 1996, S. 36-50; Brooks McNamara: »The Entertainment District at the End of the 1930s«, in: ebd., S. 178-190; Neil Harris: »Urban Tourism and the Commercial City«, in: ebd., S. 66-82; Laurence Senelick: »Private Parts in Public Places«, in: ebd., S. 329-353, hier S. 331; Mary C. Henderson: The City and the Theater, Clifton 1973; Lewis Erenberg: Steppin’ Out. New York Nightlife and the Transformation of American Culture, 1880-1920, New York 1981, insbes. S. xiii, 15, 114; Timothy J. Gilfoyle: City of Eros. New York City, Prostitution, and the Commercialization of Sex, 1790-1920, New York 1992; William B. Scott/ Peter M. Rutkoff: New York Modern. The Arts and the City, Baltimore 1999, S. 1; Burton W. Peretti: Nightclub City. Politics and Amusement in Manhattan, Philadelphia 2007, insbes. S. 8, 17, 21, 24; Marshall Berman: On the Town. One Hundred Years of Spectacle in Times Square, New York 2006; Lynne B. Sagalyn: Times Square Roulette. Remaking the City Icon, Cambridge, Mass. 2001.

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1930 wies Asakusa mit 14 Kinos die höchste Konzentration an Lichtspielhäusern innerhalb Tokios auf. Obschon Asakusa bis in die 1930er Jahre hinein ein wichtiges Vergnügungsviertel von Tokio blieb, bekam es seit dem Großen Kantō-Erdbeben von 1923 zunehmend Konkurrenz: erst durch die Ginza, eine völlig neue, in westlicher Optik aus roten Backsteinen errichtete Einkaufsstraße südöstlich, dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, in den westlich des Stadtzentrums gelegenen Vierteln Shinjuku und Shibuya.21 * * * Der Vergleich dieser sechs Vergnügungsviertel zeigt zunächst, dass die Vergnügungsorte im Laufe der Zeit ihren räumlichen Schwerpunkt verlagerten, indem sie von der Peripherie der Städte in deren Mitte vordrangen. Während die Vergnügungsviertel der frühen Neuzeit, Southwark und Yoshiwara, ebenso wie die im 18. Jahrhundert gegründeten, Prater, Montmartre und Asakusa, sich außerhalb der Stadtgrenzen befanden, lagen die gegen Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Vergnügungsviertel, Friedrichstraße, West End und Times Square, im Inneren der Städte. Darüber hinaus rückten die ehemals peripher gelegenen Gebiete aufgrund der Schleifung von Stadtmauern, der Eingemeindung alter und der Entstehung neuer Vorstädte sowie des verbesserten Nahverkehrs in eine zentrale Lage vor. Ehemals randständische Räume wie Montmartre und West End waren um 1900 Teil des Zentrums oder doch von diesem aus wesentlich leichter zu erreichen. Die These, Vergnügungsviertel und Rotlichtquartiere seien auch um 1900

21 | Vgl. Joseph Ernest de Becker: The Nightless City, or The History of the Yoshiwara Ynj kaku, Yokohama u.a. 1905; Tresmin-Trémolières: Yoshiwara, die Liebesstadt der Japaner (Sexualpsychologische Bibliothek 4), Berlin o.J., ca. 1910; Nam-lin Hur: Prayer and Play in Late Tokugawa Japan. Asakusa Sensoji and Edo Society, Cambridge, Mass./London 2000; Edward Seidensticker: Low City, High City. Tokyo from Edo to the Earthquake, New York 1983, insbes. S. 8, 20-21, 267-270; Sepp Linhart: »Sakariba. Zone of ›Evaporation‹ between Work and Home?«, in: Joy Hendry (Hg.): Interpreting Japanese Society. Anthropological Approaches, London/New York 1986, S. 231-242; Yoshimi Shunya: »Urbanization and Cultural Change in Modern Japan. The Case of Tokyo«, in: Steffi Richter/Annette Schad-Seifert (Hg.): Cultural Studies and Japan, Leipzig 2001, S. 89-101; Seiji M. Lippit: Topographies of Japanese Modernism, New York 2002, S. 141-143; James L. McClain: Japan. A Modern History, New York/London 2002, insbes. S. 349-353; Fabian Schäfer: »Die Bedeutung des urbanen Raums für die alltägliche Utopie eines modernen Lebensstils in den 1920-30er Jahren«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 28 (2004), S. 6584; Miriam Silverberg: Erotic Grotesque Nonsense: The Mass Culture of Japanese Modern Times, Berkeley 2006, S. 177-269; Soichiro Itoda: Berlin & Tokyo – Theater und Hauptstadt, München 2008.

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immer noch segregiert und stigmatisiert worden und hätten deshalb stets am Rand der Städte gelegen, ist daher nicht haltbar.22 Verantwortlich für diese räumliche Verlagerung war zunächst die beschleunigte Urbanisierung des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Konzentration von Dienstleistung und Verwaltung im Stadtzentrum hatte steigende Bodenpreise zur Folge, die wiederum zu einem Abzug der Wohnbevölkerung in neu entstehende Vororte an der Peripherie der Städte führten, so dass es zu einer zunehmenden räumlichen Trennung von Arbeit und Wohnen und zugleich zu einer räumlichen Segregation der unterschiedlichen sozialen Schichten kam. Da sich dieser Prozess erstmals in London beobachten ließ, wo sich die Londoner City zu einem globalen Wirtschafts- und Finanzzentrum entwickelte, wird er als Citybildung bezeichnet. Die entstehenden Cities waren ihrerseits wiederum in verschiedene funktionale Räume untergliedert. Regierung, Verwaltung, Banken, Mode, Zeitungen usw. konzentrierten sich oft in eigenen Vierteln oder Straßen.23 Da die aufkommenden Vergnügungsindustrien ökonomisch gesehen nichts anderes als Dienstleistungsbetriebe waren, war ihre Konzentration in einem zentral gelegenen Stadtraum also nur eine folgerichtige Konsequenz von Urbanisierung und Citybildung und die Vergnügungsviertel letztlich bloß ein funktionaler Stadtraum unter vielen. Mit der Ausnahme von London, dessen urbane Transformation bereits früher eingesetzt hatte, verschob sich der räumliche Schwerpunkt der Vergügunsindustrien teilweise noch. Die meisten der zwischen 1880 und 1900 entstandenen Vergnügungsviertel bekamen zwischen 1900 und 1930 zunehmend Konkurrenz. In Paris löste der Montparnasse den Montmartre ab, in Berlin der Kurfürstendamm die Friedrichstraße. In New verlagerte sich das Vergnügungsviertel vom Union Square an den Times Square und in Tokio von Asakusa an die Ginza. Nach dem Aufstieg von Shinjuku und Shibuya bestand Asakusa nur noch als Tempel- und Touristenbezirk fort. Die Stadträume, die sich in der Zwischenkriegszeit als Vergnügungsviertel etabliert hatten, haben diese Funktion bis heute weitgehend behalten. Der zweite Grund für die räumliche Verlagerung der Vergnügungsviertel hängt eng mit der Disziplinierung des Vergnügens zusammen. John Fiske zufolge enthalten populäre Vergnügen immer Elemente des »Oppositionellen, Ausweichenden, Skandalhaften, Offensiven, Vulgären und Widerständigen«.24 In den Augen 22 | Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«, S. 378. 23 | Zur Citybildung vgl. Heinz Heineberg: Stadtgeographie, Paderborn 32006, S. 169170; Hildegard Schroeteler von Brandt: Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte. Eine Einführung, Stuttgart 2008, S. 160-173; Harald Bodenschatz: »Citybildung und Altstadterneuerung in der Kaiserzeit. Beispiel Berlin«, in: Gerhard Fehl/Juan Rodríguez-Lores (Hg.): Stadt-Umbau. Die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongreß und Weimarer Republik, Basel u.a. 1995, S. 227-248. 24 | John Fiske: »Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur«, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen 1999, S. 67-85, hier S. 84.

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der Herrschenden ging deshalb von dem Vergnügen stets eine potentielle Gefahr für die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung aus. Trunksucht, Prostitution, Glücksspiel und subversives Theater konnten destabilisierend wirken und waren zudem mit den Mitteln, die frühneuzeitlichen Staatsgewalten zur Verfügung standen, nicht zu überwachen und zu kontrollieren. Von Norm und Konventionen abweichende Verhaltensweisen und Praktiken wurden daher außerhalb der Stadt in die Abweichungsheterotopie des Vergnügungsviertels verbannt. So verdankte Yoshiwara seine Gründung dem Versuch, die Prostitution zu kasernieren, Asakusa der Verlagerung der Theater, der Prater dem Verbot der HanswurstTheater – alle gingen sie also direkt oder indirekt auf staatliche Initiativen zurück. Southwark und Montmartre hingegen entwickelten sich zu Vergnügungsvierteln, weil sie sich außerhalb des Zugriffs der städtischen Behörden befanden. Mit dem Ausbau von Polizei und Bürokratie im Laufe des 19. Jahrhunderts standen den Staatsapparaten wirksame Mittel zur Kontrolle und Disziplinierung des Vergnügens zur Verfügung. Alle Zweige und Aspekte der Vergnügungsindustrie wurden juristisch reglementiert. Für jedes Gewerbe, egal ob Theater, Restaurant, Kneipe oder Kino, gab es entsprechende Verordnungen, deren Einhaltung sorgfältig überwacht wurde. Theaterstücke wurden vor der Aufführung zensiert und die Vorstellungen von Polizisten observiert. Prostituierte wurden kontrolliert und medizinischen Untersuchungen unterzogen. Möglich geworden war der neue Grad der Kontrolle auch durch die Einführung der Straßenbeleuchtung – eine wichtige praktische Voraussetzung für nächtliche Polizeipatrouillen, aber auch für das Aufkommen eines Nachtlebens überhaupt. Heimisch geworden im ›ehernen Gehäuse‹ einer rationalisierten Moderne, konnte das nun kontrollierbare Vergnügen ins Zentrum der Metropole einziehen.25 Obwohl die Vergnügungsviertel durchweg in oder in die Nähe der Stadtzentren rückten, galt dies doch für West End, Friedrichstraße und Times Square weit mehr als für Montmartre, Prater und Asakusa. Der Vergleich zeigt, dass generell zwischen zwei Typen zu unterscheiden ist: dem peripheren und dem zentralen Vergnügungsviertel. Dies war keineswegs nur eine Frage der Topographie beziehungsweise die topographische Lage prägte das jeweilige Vergnügungsviertel zu25 | Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983, S. 81-97, 131-137; Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, München 1991, S. 66-71, siehe zum Kontext Alf Lüdtke (Hg.): ›Sicherheit‹ und ›Wohlfahrt‹. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992; zur Theaterzensur siehe Robert Justin Goldstein (Hg.): Political Censorship of the Theater in Nineteenth-Century Europe, New York 2009; zur Kontrolle von Prostituierten Regina Schulte: Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Hamburg 21994, Susanne Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003, insbes. S. 151-160; zur Reglementierung der Vergnügungsindustrie im 19. Jahrhundert siehe den Beitrag von Angelika Hoelger in diesem Band.

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gleich strukturell. Der Prater und Asakusa, die eher Parkanlagen als Stadtviertel waren, lagen nicht nur außerhalb des Stadtraums, sondern erinnerten mit ihren Bäumen, Seen und Jahrmarktsbuden geradezu an ländliche Siedlungen. Dies wird noch deutlicher, stellt man sie neben West End, Friedrichstraße und Times Square, die mit ihren mehrstöckigen Häusern, ihrem rasanten Verkehr und ihrer gleißenden Lichtreklame als Symbole moderner Urbanität galten. Der Montmartre schließlich weist Elemente beider Typen auf: zweifellos städtischer, aber mit seinen rostigen Windmühlen, zwielichtigen Gassen und baufälligen Kneipen dann doch dörflich, den Gegensatz zu den modernen Boulevards der Innenstadt noch eigensinnig bei jeder Gelegenheit betonend. Das Vergnügungsviertel gibt es also ebenso wenig wie die Stadt, aber dennoch gibt es auffällige Gemeinsamkeiten innerhalb und zwischen diesen beiden Typen.

D IE R ÄUME DES V ERGNÜGUNGSVIERTELS Die Lokalisierung des Vergnügungsviertels im Raum der Metropole ist nur ein erster Schritt zu seinem Verständnis. Nun geht es darum herauszufinden, welche Vergnügen dieser Raum für seine Besucher bereithielt, wer diese Besucher waren und was der Aufenthalt in diesem Raum bei ihnen bewirkte – kurz, was das Vergnügungsviertel zum Vergnügungsviertel machte. Wie in Foucaults Heterotopie, so überlappten, überlagerten und überschnitten sich hier eine Vielzahl unterschiedlicher Räume. Es war wechselweise oder zugleich ein liminaler, heterosozialer, egalitärer, kosmopolitischer, kommerzieller, medialer und theatraler Raum.

Liminaler Raum Vergnügungsviertel wie Southwark und Yoshiwara, Montmartre und Asakusa waren schon rein geographisch gesehen liminale Räume, da sie außerhalb beziehungsweise an der Peripherie der jeweiligen Metropole und damit an der Grenze von Stadt und Umland lagen. Liminalität charakterisierte die Vergnügungsviertel aber nicht nur auf einer materiellen, sondern zugleich auf einer sozialen und kulturellen Ebene, und das ganz unabhängig von ihrer Lage. Als liminale Räume oder Schwellenräume bezeichnete der Ethnologe Victor Turner (1920-1983) Orte, an denen »communitas« erfahren und neue Werte in die Körper der Beteiligten eingeschrieben werden. Dies trifft ganz wesentlich auf das Vergnügungsviertel zu, das gemeinschaftlich besucht wurde und das der Festigung bestehender und der Formung neuer Gemeinschaften diente. Zugleich war es ein Raum der Initiation – der gesellschaftlichen im Allgemeinen, insofern es das spielerische Erlernen von Regeln, Verhaltensweisen und Konventionen gestattete (wozu immer auch deren Überschreitung gehört), und der sexuellen Initiation im Besonderen. Ganz im Sinne Turners bekräftigte es die bestehende Ordnung, indem es sie entstrukturierte. Es bot der Transgression einen Raum und trug so dazu bei, diese aus dem geordne-

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ten Raum der Stadt fernzuhalten, wodurch es wiederum zu dessen Stabilisierung beitrug.26 Praktiken, die am deutlichsten die Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung überschritten, waren Kriminalität und Prostitution. Ein gewisses Maß an Kriminalität gab es in jedem Vergnügungsviertel, zumindest Taschendiebe waren geradezu unvermeidlich, denn dort, »wo die entbehrlichen Kreuzer rollen, sitzen auch die Börsen nicht fest«, wie es über den Prater hieß.27 Es ist kein Zufall, dass Kawabata Yasunaris dokumentarischer Roman Die Scharlachrote Bande von Asakusa von einer Gruppe jugendlicher Kleinkrimineller, Schausteller und Prostituierter handelt.28 In der populären Vorstellung der Jahrhundertwende war das Vergnügungsviertel oft zugleich »site of pleasure and danger«, wie dies Judith Walkowitz für das West End feststellt.29 Insbesondere der Montmartre galt als »delinquent community«. Nicht nur aufgrund der sich dort tummelnden »Apachen«, wie die Banden räuberischer Kleinkrimineller hießen, sondern wegen seiner politischen Vergangenheit, der antirepublikanischen Einstellung seiner Einwohner wie überhaupt wegen seiner Reputation als Ort für Vergnügen und sexuelle Freizügigkeit.30 All dies lief bürgerlichen Vorstellungen von Arbeitsethik, Disziplin, Rationalität und der Rolle der Frau in der Gesellschaft zuwider und zog doch zugleich das bür26 | Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Aus dem Engl. und mit einem Nachw. von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York 2000; siehe auch Hartmut Böhme: »Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft) – Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs«, in: Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Kulturwissenschaft – Literaturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Wiesbaden 1996, S. 48-68; Habbo Knoch: »Schwellenräume und Übergangsmenschen. Öffentliche Kommunikation in der modernen Großstadt, 1880-1930«, in: Geppert/Jensen/Weinhold (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 257-285. 27 | Emil Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, mit einem Vorwort von Regierungsrat Friedrich Umlauft, Illustrationen nach Original-Photographien von Hermann Drawe, Wien 1908, S. 84, dort zu Taschendieben S. 83-92. 28 | Kawabata Yasunari: Die Rote Bande von Asakusa [Asakusa kurenaidan]. Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Richmond Bollinger, Frankfurt a.M. 1981; Yoshimi: Urbanization, S. 89-92; Silverberg: Erotic grotesque nonsense, S. 203-206. 29 | Judith R. Walkowitz: »›The Vision of Salome‹. Cosmopolitanism and Erotic Dancing in Central London, 1908-1918«, in: American Historical Review 108 (2003), Nr. 2, S. 337376, hier S. 338. 30 | Munholland: »Republican Order«, S. 15-36 insbes. S. 16-17; Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 133-135; Klaus Schüle: Paris: die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole. Alltag, mentaler Raum und sozialkulturelles Feld in der Stadt und in der Vorstadt, Opladen 2003, S. 63-69; siehe auch Chevalier: Montmarte; Hewitt: »Shifting Cultural Centres«, S. 38; Willms: Paris, S. 441, Seigel: Bohemian Paris, S. 337.

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gerliche Publikum geradezu magisch an, das in Scharen die Varietés und Kneipen des Montmartre frequentierte. So wurde das Vergnügungsviertel wohl vor allem deshalb als gefährlich wahrgenommen, weil hier gesellschaftliche Tabus berührt und verletzt wurden. Prostitution ist ein Element, das in keinem Vergnügungsviertel fehlte. Die aufkommende Vergnügungsindustrie war eng mit der modernen Prostitution verknüpft. Dem Sozialpsychologen Willy Hellpach (1877-1955) zufolge leistete der »sinnenkitzelnde, sinnenbetäubende Charakter« der Großstadt, vor allem die freizügige Unterhaltung der Theater und Varietés, der Prostitution Vorschub.31 Hans Ostwald (1873-1940) zufolge war die Friedrichstraße der »öffentliche Hauptmarkt der Dirnen in Berlin«.32 Ebenso war der Times Square von Beginn an ein Zentrum der New Yorker Prostitution. Obwohl immer wieder durch Verbote, Kontrollen und Razzien in die Illegalität abgedrängt und als liminale Praxis gebrandmarkt, blühte die Prostitution um 1900 in allen Metropolen. Zwar war sie in vielen Teilen der Stadt anzutreffen, ihr Schwerpunkt lag jedoch stets im jeweiligen Vergnügungsviertel. Prostitution allein machte aus einem Stadtquartier aber noch lange kein Vergnügungsviertel, weshalb sie als notwendiges, aber nicht als hinreichendes Merkmal eines Vergnügungsviertels zu sehen ist. Wo sie massiv auftrat, ohne von Vergnügungsetablissements begleitet zu sein, ist deshalb richtiger von reinen Rotlichtvierteln zu sprechen.33 Prostitution beschränkte sich keineswegs auf heterosexuelle Formen, wie überhaupt das Vergnügungsviertel auch ein Zentrum homosexuellen Lebens war. Montmartre und Montparnasse waren ebenso bekannt für einschlägige Lokale, Kneipen und Hotels wie der Berliner Westen und die Friedrichstraße. Selbst im zugeknöpften London dienten die Galerien der Theater und Music Halls der Anknüpfung gleichgeschlechtlicher Kontakte.34 »Überall dieselben Treffpunkte und 31 | Willy Hellpach: »Unser Genußleben und die Geschlechtskrankheiten«, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Bd. 3, Berlin 1905, S. 100-107, hier S. 104; zur Verknüpfung von Prostitution und Vergnügungsmilieu siehe auch Schulte: Sperrbezirke, insbes. S. 56; Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«. 32 | Hans Ostwald: Prostitutionsmärkte (Das Berliner Dirnentum 6), Leipzig 1907, S. 10. 33 | Zur Prostitution siehe auch Walkowitz: City of Dreadful Delight; Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 175-204; Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf, insbes. S. 69-72; 155-157; Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«. 34 | Vgl. Florence Tamagne: A History of Homosexuality in Europe. Berlin, London, Paris, 1919-1939, Bd. 1, New York 2004, S. 50-57, 61-62, 68-79; Martin Lücke: Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2008, insbes. S. 103, 188; Gilles Barbedette/Michel Carassou: Paris gay 1925, Paris 2008; Matt Cook: London and the Culture of Homosexuality, 18851914, Cambridge 2003, S. 28-29; Matt Houlbrook: Queer London. Perils and Pleasures in the Sexual Metropolis, 1918-1957, Chicago 2005, S. 23-25, 52, 59; George Chauncey: Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890-1940,

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Sammelplätze«, meinte der Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935), in »der Berliner Friedrichstraße […] im Hydepark in London, im Retiro in Madrid, im Asakusapark in Tokio, im Prater in Wien und in Paris in den Champs Elysées« zu finden.35 Wie der Park und der Boulevard war das Vergnügungsviertel ein von vielen Menschen frequentierter Schwellenraum, der ebenso Begegnungen ermöglichen wie Anonymität herstellen konnte. Als liminaler Raum bot es einen Ort, an dem die Grenzen gesellschaftlich sanktionierter Sexualität ausgelotet und überschritten werden konnten, eine Atmosphäre, zu der die hier teils versteckt, teils offen praktizierte Homosexualität ihrerseits wiederum beitrug. Dass sich im Vergnügungsviertel nur »heterosexuelle Praktiken und Phantasien« konsumieren ließen, wie Pascal Eitler meint, gilt daher zumindest für die Jahrhundertwende nicht.36

Heterosozialer Raum Manche zeitgenössischen Kommentatoren porträtierten das Vergnügungsviertel als einen homosozialen Raum, den Frauen allenfalls als Prostituierte betraten – so beschrieb jedenfalls der britische Theaterhistoriker Walter MacQueen-Pope (18881960) das West End: »The centre of all that was masculine pleasure – for the ladies ›who frequented Leicester Square‹ were ›intent‹ on one purpose only.«37 Darin spiegelt sich die bürgerliche Vorstellung wider, derzufolge die Frau der privaten Sphäre des Heimes angehörte, während die Öffentlichkeit männlich codiert war. Eine Frau, die sich unbegleitet im öffentlichen Raum bewegte, setzte sich schnell dem Verdacht aus, eine ›öffentliche Frau‹, also eine Prostituierte zu sein.38 Parallel zur Dynamisierung tradierter Geschlechterrollen entstanden um 1900 Orte, an denen Frauen sich frei bewegen konnten beziehungsweise beide Geschlechter in zuvor ungekannter Ungezwungenheit miteinander in Kontakt treten konnten. Zu diesen »new heterosocial spaces« rechnet Judith Walkowitz im Anschluss an Peter Bailey auch die kommerziellen Vergnügungsetablissements des West Ends, allen voran die Music Halls.39 Wie die Londoner, so waren die Pariser Music Halls New York 1994; Chad C. Heap: Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 1885-1940, Chicago 2007. 35 | Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin 1920, S. 528. 36 | Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«, S. 371. 37 | Walter MacQueen-Pope: Carriages at Eleven. The story of the Edwardian Theatre, London 1947, S. 73. 38 | Vgl. Walkowitz: City of Dreadful Delight, S. 3, 21, 23; Rappaport: Shopping for Pleasure, S. 45; Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 162-175; Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf, S. 111-115. 39 | Walkowitz: City of Dreadful Delight, S. 45; Peter Bailey: »Parasexuality and Glamour. The Victorian Barmaid as Cultural Prototype«, in: Gender & History 2 (1990), Nr. 2, S. 148172; siehe auch Mary P. Ryan: Women in Public. Between Banners and Ballots, 1825-1880,

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vom Schlage der Moulin Rouge und der Moulin de la Galette und die vielen Cafésconcerts Orte, an denen sich verheiratete Männer mit ihren Frauen, unverheiratete Männer und Frauen, Frauen allein und in der Gesellschaft anderer Frauen und Prostituierte auf der Suche nach männlichen Kunden aufhielten.40 Ähnliche heterosoziale Orte gab es in jeder Metropole. Was Theater und Varieté für die europäischen Metropolen waren, waren die Nachtclubs für New York und die Cafés für Tokio.41 Die Bündelung heterosozialer Orte im Vergnügungsviertel blieb nicht ohne Folgen für diesen Raum insgesamt. MacQueen-Popes Beschreibung des West Ends mag für die Mitte des 19. Jahrhunderts noch zutreffend gewesen sein, zur Jahrhundertwende war sie bereits überholt. Als sich der italienische Journalist Mario Borsa (1870-1952) 1908 in London aufhielt, konnte er sich nur wundern über die Unzahl von »shopgirls, milliners, dressmakers, typists, stenographers, cashiers of large and small houses of business, telegraph and telephone girls« und die tausend anderen jungen Frauen, die er im West End auf der Suche nach Vergnügen unbegleitet umherspazieren und vor den Theatern anstehen sah.42 Analog zu Borsa schrieb Susanne Suhr (1898-1989) in ihrer Untersuchung über Angestellte von einem »Heer von jungen Mädchen und Frauen«, die »der Großstadtstraße das beherrschende Bild« gäben.43 Wie der von Felix Salten (1869-1945) beschriebene Prater waren alle Vergnügungsviertel Treffpunkte der Geschlechter: »Kein Mädchen, dem sich hier nicht irgend ein Mann gesellen würde, kein Mann, dem es nicht geBaltimore 1990, S. 79-80; Rappaport: Shopping for Pleasure, S. 100-106; Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf, S. 104-105. 40 | Vgl. Stone: Sons of the Revolution, S. 8, 371; Munholand: »Republican Order«, S. 17, 31; Gabriel P. Weisberg: »Montmarte’s Lure. An Impact on Mass Culture«, in: ders. (Hg.): Montmartre and the Making of Mass Culture, S. 1-11, hier S. 6; Elizabeth K. Menon: »Images of Pleasure and Vice. Women of the Fringe«, in: ebd., S. 37-71. 41 | Vgl. Scott/Rutkoff: New York Modern, S. 19; Lewis Erenberg: »Impresarios of Broadway Nightlife«, in: William R. Taylor (Hg.): Inventing Times Square. Commerce and Culture at the Crossroads of the World, Baltimore/London 1996, S. 158-177, hier S. 163; ders.: Steppin’ Out, S. xiv, 60-91, 156; Peretti: Nightclub City, insbes. S. 21; Silverberg: »The modern girl as militant«, in: Gail L. Bernstein (Hg.): Recreating Japanese Women, 1600-1945, Berkeley 1991, S. 239-266; Sepp Linhart: »Das Entstehen eines modernen Lebensstils in Japan während der Taisho-Periode (1912-1926)«, in: Saeculum 1974, S. 115-127, insbes. S. 125; Elise Tipton: »The Café. Contested Space of Modernity in Interwar Japan«, in: dies./ John Clark (Hg.): Being Modern in Japan. Culture and Society from 1910s to the 1930s, Honolulu 2000, S. 99-136; Barbara Sato: The New Japanese Woman. Modernity, Media, and Women in Interwar Japan, Durham 2003, insbes. S. 45-77. 42 | Mario Borsa: The English Stage of To-Day. Translated from the original Italian and edited with a prefatory note by Selwyn Brinton, London 1908, S. 4-5. 43 | Susanne Suhr: Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse. Eine Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten, Berlin 1930, S. 3.

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länge, hier irgend ein Mädchen zu erobern.« Mit der zunehmenden Respektabilität dieser Orte kamen verheiratete Männer nicht länger allein, sondern »mit Weib und Kind und Kegel«.44 Und schließlich verweist die enge Verbindung von Räumen wie dem Times Square, dem Kurfürstendamm oder dem Montmartre mit dem ›Flapper‹ (der jungen Frau mit kurzen Röcken und Bubikopf) oder der Ginza mit der ›moga‹ (japanisch für ›modern girl‹) darauf, dass das Vergnügungsviertel ein Laboratorium war, in dem mit neuen Lebensstilen und Geschlechteridentitäten experimentiert wurde, bevor diese gesellschaftlich akzeptiert und zum Mainstream wurden.45

Egalitärer Raum Im Vergnügungsviertel relativierten sich nicht nur die Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern, sondern auch jene zwischen den Klassen. Es war ein Raum, in dem Angehörige aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten anzutreffen waren. Im Gegensatz zu den luxuriösen Etablissements in der Gegend um die Oper vergnügten sich im kleinbürgerlich-proletarischen Montmartre – neben der einheimischen Wohnbevölkerung und der Bohème – die Bourgeoisie und Vertreter des internationalen Jetset wie der Prince of Wales. Joachim Willms spricht deshalb von einem »Nivellement des Jouissances«, einer gesellschaftlichen Nivellierung im und durch das gemeinsame Sich-Vergnügen.46 Das West End hatte als feudales Wohnviertel angefangen, um dann als Einkaufs- und Vergnügungsviertel zum »meeting ground of rich and poor, east and west« zu werden.47 Natürlich stand nicht jedes Lokal jedem Geldbeutel offen, insgesamt aber gab es im Vergnügungsviertel etwas »für alle Klassen und Börsen«, wie es über den Prater hieß.48 Auch in Berlin hatten sich die sozialen Unterschiede zwischen den Vergnügungslustigen »mehr und mehr abgeschlissen, ja, sie sind im Treiben der Nacht heute nicht mehr zu erkennen«, wie der Führer durch Lebeweltnächte der Friedrichstadt 44 | Felix Salten: Wurstelprater, mit 75 Originalaufnahmen von Dr. Emil Mayer, Wien/Leipzig 1911. 45 | Curt Moreck: Führer durch das »lasterhafte« Berlin, Leipzig 1930, S. 40; Maggie B. Gale: West End Women. Women and the London Stage, 1918-1962, London 1996, S. 1315; Billie Melman: Women and the Popular Imagination in the Twenties. Flappers and Nymphs, New York 1988; McClain: Japan, S. 351-352.; Andrew A. Gordon: A Modern History of Japan. From Tokugawa time to the present, New York 2003, S. 155-157; Barbara Sato: The New Japanese Woman. Modernity, Media, and Women in Interwar Japan, Durham 2003, S. 45-77. 46 | Willms: Paris, S. 434; Weisberg: »Montmartre’s Lure«, S. 4; siehe auch Rudorff: Belle Epoque, S. 51; Rearick, Pleasures of the Belle Epoque, S. 93; Stone: Sons of the Revolution, S. 8, 370; Munholland: »Republican Order«, S. 15-16, 22, 31. 47 | Rappaport: Shopping for Pleasure, S. 151. 48 | Reinsberg-Düringsfeld: Das festliche Jahr, S. 159.

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meinte.49 Selbst in der vergleichsweise egalitären New Yorker Gesellschaft war die Teilnahme am Nachtleben bis in die 1870er und 80er Jahre hinein weitgehend einer bürgerlichen Elite vorbehalten gewesen. Nur eine Dekade später gehörte es dann der Bevölkerung der ganzen Stadt, egal ob »working class or genteel, female or male, young or old, immigrant or native, straight or gay«.50 Ganz ähnlich berichtet ein 1914 erschienener Reiseführer von Asakusa: »People of every rank in the city crowd in the park day and night – old and young, high and low, male and female, rich and poor.«51 Wer genau hinsah, konnte zwar stets auf soziale Unterschiede hinweisen, so lagen Welten zwischen der Hauptallee des Praters, traditionell Repräsentationsfeld von Adel und Großbürgertum, und den Praterauen, die vielen Obdachlosen als Notunterkunft dienten. Als Gesamtraum aber vereinigte der Prater »Noblesse« und einen »demokratischen Zug der Volkstümlichkeit«.52 Mit der Nivellierung überkommener Klassengegensätze ging der Aufstieg einer neuen sozialen Schicht einher, den Angestellten. Die schon zitierte Beschreibung des West Ends von Borsa ist nicht nur insofern aufschlussreich, als sie die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit bezeugt, sie besteht bezeichnenderweise aus einer Aufzählung von Angestelltenberufen. Und desgleichen sind es bei Susanne Suhr nicht einfach Frauen, die der Großstadtstraße ein neues Gesicht geben, sondern weibliche Angestellte. Angestellte bildeten auch die Stammkundschaft der Pariser Music Halls und der Tokioter Warenhäuser, Cafés und Kinos.53 Obwohl sie kaum mehr, mitunter sogar weniger als Arbeiter verdienten, versuchten sie, sich durch Kleidung, Wohnung und Konsum vom Proletariat abzuheben und so ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht zu signalisieren. Ihr »innovationsoffener Lebensstil« war ein grenzüberschreitendes Phänomen.54 So befleißigten sich die japanischen Angestellten als erste soziale Schicht eines westlichen Kleidungsstils und genos49 | Satyr: Lebeweltnächte, S. 9, siehe auch Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 190; Wagner: Die Dorotheenstadt, S. 679. 50 | Scott/Rutkoff: New York Modern, S. 16; David Nasaw: Going Out. The Rise and Fall of Public Amusements, Cambridge, Mass., London 1999, S. 2. 51 | Taizo Fujimoto: The Nightside of Japan [1914], London 31927, S. 1. 52 | Arthur Roessler: Von Wien und seinen Gärten, Wien 1909, S. 69; Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens, S. 133-143, siehe auch Siegfried Mattl/ Werner Michael Schwarz: »Utopia des ›zeitlos Popularen‹«, in: dies./Klaus Müller-Richter (Hg.): Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien 2004, S. 127-146, hier S. 127-130. 53 | Vgl. Rudorff: Belle Epoque, S. 46; Stone: Sons of the Revolution, S. 371-372; Tipton: »Cleansing the Nation. Moral Reform in Interwar Japan«, in: Modern Asian Studies 42 (2008), Nr. 4, S. 705-731, hier S. 706-707. 54 | Reinhard Spree: »Angestellte als Modernisierungsagenten. Indikatoren und Thesen zum reproduktiven Verhalten von Angestellten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Jürgen Kocka (Hg.): Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jahrhundert, Göttingen 1981, S. 279-308;

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sen das Vergnügen um seiner selbst willen.55 Ohne sie wäre weder der Aufstieg der Vergnügungsviertel noch der Aufstieg der Populärkultur vorstellbar gewesen.

Kosmopolitischer Raum Ein weiteres, allen hier betrachteten Vergnügungsvierteln gemeinsames Charakteristikum war ihr ausgesprochener Kosmopolitismus. Ausnahmslos lagen sie in der Nähe großer Bahnhöfe: der Montmartre zwischen dem Gare Saint Lazare und dem Gare du Nord, das West End in der Nähe von Charing Cross, die Friedrichstraße am Bahnhof Friedrichstraße, der Prater in der Nähe des Wiener Nordbahnhofs und der Times Square zwischen Pennsylvania Station und Grand Central Terminal. Asakusa lag zwar abseits der Fernbahnhöfe, hier endete jedoch die erste U-Bahnlinie von Tokio. Die Bahnhöfe waren »Einfallspforten der Fremdenkarawanen«, die aus allen Teilen des Landes und der Welt in die Metropolen strömten.56 New York war schon zur Jahrhundertwende die meistbesuchte Stadt der Vereinigten Staaten. Je nach Jahreszeit kamen 1910 täglich zwischen 100.000 bis 200.000 Touristen in die Stadt, von denen die meisten weniger an den Sehenswürdigkeiten, als am Vergnügen interessiert waren.57 Neben jene, die schon immer politischer oder geschäftlicher Angelegenheiten wegen in die Metropolen gereist waren, trat nun eine wachsende Zahl von Menschen, die allein des Vergnügens halber kamen, denn das »Vergnügungsviertel Montmartre ist für den Provinzler der Inbegriff der Zerstreuung«, wie Alain Corbin schreibt.58 Immer präsenter wurden die Touristen im Stadtbild, vor allem im Zentrum waren sie unübersehbar. »Berlin gehört den Fremden,« schrieb Alfred Kerr (18671948) 1895, um sich sogleich zu korrigieren, »nicht ganz Berlin, aber doch die Friedrichstadt. Dort kommen sie meistens an, dort wohnen sie, dort finden sie die Hauptrestaurants, die Hauptvergnügungstempel«.59 Die Friedrichstraße mit ihren Bahnhöfen, Hotels, Restaurants, Cafés und Theatern stieg schnell zur »Hauptfremdenstraße« auf, denn sie bot alles, was die Touristen begehrten.60 Willy Pröger zufolge richtete sich die hier ansässige Prostitution vornehmlich an »Fremde siehe auch Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland [1930], Frankfurt a.M. 41985, insbes. S. 67-69, 92. 55 | Linhardt: »Entstehen eines modernen Lebensstils«, S. 116, 124; McClain: Japan, S. 345-347; Tipton: »Cleansing the Nation«, S. 706-708. 56 | Moreck: Führer, S. 22. 57 | Harris: Urban Tourism, S. 66-82; Erenberg: Steppin’ Out, S. xii-xiv. 58 | Alain Corbin: »Paris – Provinz«, in: Pierre Nora/Michael Bayer (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 179-213, hier S. 206. 59 | Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt, hg. von Walter Rühle, Berlin 1997, S. 72-73. 60 | Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, Berlin 1912, S. 21.

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und Provinzler«.61 Mitunter vereinten sich in einem Gebäude die unterschiedlichen Funktionen des Vergnügungsviertels, zum Beispiel wenn sich der Bahnhof Charing Cross nach außen hin als Hotel präsentierte oder Theater unmittelbar mit Restaurants und Hotels verbunden waren. Die Touristen selbst trugen mit zur Veränderung der Stadtzentren bei, denn für die hier ansässige Vergnügungsindustrie wurde ihre Nachfrage immer mehr zur Existenzbedingung. »Überhaupt wird das Berliner Nachtleben in der Hauptsache durch den ständig wachsenden Fremdenstrom in diesem Umfange erhalten«, notierte der Führer durch die Lebeweltnächte der Friedrichstadt.62 Und Edmund Edel (1863-1934) meinte 1908: »Berlins Nachtleben gehört der Provinz, von der es sich auch nährt.«63 In London stellte der Theaterdirektor John Hollingshead (1827-1904) schon 1866 fest, die Theater der Stadt seien auf die Touristen angewiesen: »[…] provincial people come up to town, and fresh audiences are created every night.«64 Zunehmend kamen die Fremden nicht nur aus der Provinz, sondern auch aus dem Ausland. Dennoch gehörten die Stadtzentren, anders als Alfred Kerr nahelegte, nicht den Fremden allein. Vielmehr vermischten sich im Vergnügungsviertel Fremde und Einheimische, wie es der Journalist Jules Huret (1863-1915) in den Lokalen der Friedrichstraße beobachtete.65 Ebenso wenig verkehrten im West End nur Touristen. Durch die 1906 eröffneten U-Bahn-Stationen am Piccadilly Circus und dem Leicester Square strömten allabendlich 100.000 Menschen aus allen Teilen der Stadt hierher.66 Die Anwesenheit vieler Touristen generierte eine Anonymität, die auch dem Berliner, Pariser, Londoner gestattete, sich unbeobachtet und ungehemmt zu amüsieren. Das Vergnügungsviertel war ein Raum, in dem Menschen unterschiedlicher nationaler und ethnischer Herkunft miteinander weitgehend friedlich koexistierten. Der Prater war vielleicht einer der wenigen Orte überhaupt, wo es gänzlich egal war, »ob jemand Bosniake, oder Tzscheche, Kroate, Slovene oder Deutschnationaler« war.67 Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen begrüßten 61 | Weka (=Willy Pröger): Stätten der Berliner Prostitution. Von den Elends-Absteigequartieren am Schlesischen Bahnhof und Alexanderplatz zur Luxus-Prostitution der Friedrichstraße und des Kurfürstendamms. Eine Reportage, Berlin 1930, S. 74. 62 | Satyr: Lebeweltnächte, S. 9. 63 | Edmund Edel: Neu-Berlin, Leipzig 1908, S. 83. 64 | John Hollingshead zit.n. Report from the Select Committee on Theatrical Licenses and Regulations. Together with the Proceedings of the Committee, Minutes of Evidence and Appendix, London 1866, S. 191. 65 | Huret: Berlin um Neunzehnhundert, S. 63-64. 66 | Thomas Postlewaite: »The London Stage, 1895-1918«, in: Baz Kershaw/Peter Thomson (Hg.): The Cambridge History of British Theatre. Since 1895, Cambridge u.a. 2004, S. 34-59, hier S. 40. 67 | Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 543; ähnlich: Gustav Habermann: Aus meinem Leben, Erinnerungen aus den Jahren 1876-1877-1884-1896, Wien 1919, S. 55.

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diesen Kosmopolitismus. Das ans West End angrenzende Soho mit seinem hohen Anteil chinesischer Bewohner verkörperte in bürgerlichen Augen eine dunklere und gefährliche Spielart des Kosmopolitismus, die rassistische Ressentiments wachrief. Dasselbe gilt für die große ostjüdische Gemeinschaft, die in der Nähe des Praters wohnte. In New York blieben Afroamerikaner lange Zeit vom Vergnügen ausgeschlossen, und die in Asakusa lebenden Koreaner, Chinesen und Russen galten als »racially marked underclass«.68

Kommerzieller Raum Die Verlagerung beziehungsweise die Entstehung neuer Vergnügungsviertel im Rahmen der Citybildung hatte zur Folge, dass sie sich in unmittelbarer Nähe von Einkaufsstraßen und Geschäftsvierteln befanden oder sich die beiden funktionalen Räume überlappten. Das beste Beispiel hierfür ist das West End, wo die Theater meist in unmittelbarer Nähe zu den großen Warenhäusern lagen, aber ebenso verhielt es sich bei der Friedrichstraße und dem Times Square, wo Kultur nur in ihrer kommerzialisierten Form existierte und sich Kommerz zu einer alle Lebensbereiche umfassenden Kultur entwickelte.69 Komplizierter verhält es sich dagegen im Fall von Paris, Wien und Tokio. Hier lagen die großen Warenhäuser alle weitab des Vergnügungsviertels, und dennoch besaßen diese Räume von Anfang an einen kommerziellen Charakter, selbst wenn die Buden des Praters und die Ladenstraße Nakamise in Asakusa eher vormoderne Assoziationen weckten.70 Die Nähe von Kommerz und Kultur war bezeichnend für die Entstehung einer neuen Massenkultur, die Kaspar Maase zufolge wesentlich eine Marktkultur ist.71 Massenkonsum und Massenkultur gingen von Anfang an Hand in Hand. Nirgends wird dies so deutlich wie in der räumlichen und zeitlichen Überlappung beider Phänomene in den Vergnügungsvierteln um 1900. Vergnügungsetablissements und Warenhäuser teilten sich nicht nur denselben urbanen Raum und dasselbe Publikum, sie waren auf vielerlei Ebenen miteinander verknüpft. Wa68 | Walkowitz: »Vision of Salome«, S. 2, 4-5, 35-37; Wolfgang Maderthaner: »Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945«, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 175-544, hier S. 284; Erenberg: Steppin’ out, S. 152, 187; Scott/Rutkoff: New York Modern, S. 136-138; Heap: Slumming; Silverberg: Erotic Grotesque Nonsense, S. 205-206, hier S. 228. 69 | So deutet schon der Titel von William Taylors Times Square-Anthologie Commerce and Culture at the Crossroads of the World an; Rappaport: Shopping for Pleasure, S. 4, 183; Peter Stürzebecher: Das Berliner Warenhaus. Bautypus, Element der Stadtorganisation, Raumsphäre der Warenwelt, Berlin 1979, S. 13, 19. 70 | Fujimoto: Nightside, S. 28-42; Yoshimi: Urbanization and Cultural Change, S. 92-93; McClain: Japan, S. 351-352. 71 | Kaspar Maase: »Massenkultur«, in: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/Weimar 2003, S. 48-56, hier S. 49.

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renhäuser hielten Aktien an Theaterunternehmen, verkauften Theatertickets und griffen bei der Präsentation ihrer Produkte auf die Inszenierungsstrategien der Theater zurück. Die Theater warben umgekehrt auf Reklamevorhängen und Programmen für Kaufhäuser und Modelabels und thematisierten die neue Welt des Massenkonsums auf der Bühne, so beispielsweise in Stücken, die in Warenhäusern spielten und moderne Formen von Product-Placement vorwegnahmen.72 In den Vergnügungsvierteln der Jahrhundertwende begann die Kommerzialisierung der Unterhaltung, wie auch die Kommerzialisierung des urbanen Raumes durch Plakate, Schaufenster und Lichtreklamen, derer sich Theater wie auch Warenhäuser bedienten, um die Aufmerksamkeit potentieller Konsumenten auf sich zu lenken. Letztlich trug auch die Prostitution zum kommerziellen Charakter des Vergnügungsviertels bei, indem sie aus der Sexualität eine ökonomische Transaktion machte. Wie Walter Benjamin schrieb, war »die Dirne von jeher eine Vorläuferin der Warenwirtschaft«.73

Medialer Raum Vergnügungsviertel waren im doppelten Sinn mediale Räume. In allen hier betrachteten Fällen wies das Vergnügungsviertel die höchste Konzentration an Theatern, Varietés, Music Halls und Kinos auf. Meist lag nicht weit davon das jeweilige Zeitungsviertel der Stadt. Dem New Yorker Times Square – ehemals Longacre Square – gab die New York Times ihren Namen, die Fleet Street, das Zentrum der britischen Zeitungsproduktion, lag im West End und das Berliner Zeitungsviertel in der Kochstraße, einer Querstraße der Friedrichstraße.74 Wiederum handelte es sich um eine Nähe, die sich mit dem Prozess der Citybildung erklären lässt, die aber nicht nur rein räumlicher Natur war. Während die Zeitungen ausführlich über die Theater berichteten, suchten die Theaterautoren hier gern nach neuen Geschichten, Plots und Witzen oder übernahmen sogar ganze Charaktere aus populären Satireblättern. Selbst jenen Provinzlern, denen ein Besuch des Vergnügungsvier72 | Vgl. Peter Bailey: »Musical comedy and the rhetoric of the girl, 1892-1914«, in: ders.: Popular Culture and Performance in the Victorian City, Cambridge 1998, S. 175-193; Rappaport: Shopping for Pleasure, S. 4, 183; Len Platt: Musical Comedy on the West End Stage, 1890-1939, Basingstoke/New York 2004; S. 4, 22, 42; Tobias Becker: »Feste des Konsums? Unterhaltungstheater und Warenhäuser in Berlin und London um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen 2009, S. 216-237, sowie den Beitrag von Stefanie Watzka in diesem Band. 73 | Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 439; siehe auch Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«. 74 | Vgl. Elmer Davis: History of the New York Times 1851-1921, New York 1921; Dennis Griffiths: Fleet Street. Five Hundred Years of the Press, London 2006; Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Berlin 1960.

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tels versagt blieb, bezogen von hier einen Großteil ihrer Unterhaltung. Neben der Presse ist vor allem an die Theatertourneen zu denken, so war das West End 1896 Heimat von 158 ›touring companies‹, die von hier die ganzen britischen Inseln, die Kolonien und das Ausland mit Unterhaltung versorgten; in New York stieg deren Zahl im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von 50 auf 500.75 Vergleichbare Institutionen gab es weder in Frankreich noch in Japan oder Deutschland. Das heißt aber nicht, dass die Metropole in diesen Ländern eine geringere kulturelle Dominanz ausübte. Immer wieder gab es Klagen, die »große Mehrzahl aller […] Theater« habe »sich freiwillig in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Berlin begeben, das durchaus zu beklagen« sei.76 Am Leicester Square, dem Kurfürstendamm und in Asakusa lagen die Uraufführungskinos, deren Publikum darüber entschied, ob ein Film die Vororte und die Provinz überhaupt erreichte.77 Alain Corbin zufolge drangen die »Darbietungen selbst der unscheinbarsten Sängerinnen in den Pariser Tanzcafés […] bis nach Carcasonne und übertönen die traditionellen Arbeiterlieder, die im Aude-Tal gesungen werden«.78 Ein Verdrängungsprozess begann, bei dem die kommerzielle, professionelle und schichtübergreifende Unterhaltungskultur der Metropolen die bis dahin vorherrschenden regionalspezifischen und selbstproduzierten Vergnügen zunehmend ersetzte. Doch das Vergnügungsviertel war noch in anderer Hinsicht ein medialer Raum: Julia Csergo fragt, ob es sich bei dem Ruf des Montmartres letzten Endes nicht lediglich um einen bloßen Mythos gehandelt habe.79 Tatsächlich waren alle Vergnügungsviertel im höchsten Maß medial generierte Räume. Romane, Theaterstücke, Zeitungsberichte und Reiseführer mit Titeln wie Guides du viveur, Guides de plaisir, New London Guide to the Night Houses, Paris by Night, Führer durch das nächtliche Berlin, Die Geheimnisse der Berliner Passage oder The Nightside of Japan prägten als »Lehrbücher der Genußkunst« populäre Bilder und Klischees und wirkten auf diese Weise an der medialen Konstruktion des Vergnügungsviertels

75 | Vgl. Booth: Theatre in the Victorian Age, S. 18-21; James Forsher: The Community of Cinema. How Cinema and Spectacle Transformed the American Downtown, Westport, Conn./London 2003, S. 25; Hammack: Developing for Commercial Culture, S. 46; Scott/ Rutkoff: New York Modern, S. 19. 76 | »Das Theatermonopol Berlins«, in: Der Kunstwart 5 (1891/92), Nr. 10, S. 148. 77 | Vgl. Hubert Llewellyn Smith: The New Survey of London Life & Labour, Bd. 4, London 1935, S. 45; Siedler: »Berlin«, S. 219-247, 239; Metzger/Dunker: Kurfürstendamm, S. 102, 127; Silverberg: Erotic Grotesque Nonsense, S. 195; siehe auch Fujimoto: Nightside, S. 1-2; Seidensticker: Low City, High City, S. 267; Peter High: »The Dawn of Cinema in Japan«, in: Journal for Contemporary History 19 (1984), Nr. 1, S. 23-57; McClain: Japan, S. 353; William Gardner: Advertising Tower. Japanese Modernism and Modernity in the 1920s, Cambridge, Mass./London 2006, S. 141. 78 | Corbin: »Paris – Provinz«, S. 206. 79 | Julia Csergo: »Extension et mutation du loisir citadin«, S. 122-126.

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mit.80 Daran beteiligte sich auch die jeweilige Bohème, z.B. Maler wie Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901) oder Walter Sickert (1860-1942) mit ihren Darstellungen der Pariser und Londoner Music Halls. Nur der Montmartre diente der Bohème auch als Wohnort, aber die anderen Vergnügungsviertel übten eine kaum geringere Faszination auf Schriftsteller und Künstler aus. Felix Saltens Buch über den Wurstelprater und Kawabata Yasunaris Roman über Asakusa haben sowohl die zeitgenössischen Bilder als auch die Erinnerung der Nachwelt an diese Vergnügungsviertel ganz wesentlich geprägt. Ein wichtiges Element der medialen Konstruktion war der Vergleich zwischen den einzelnen Vergnügungsvierteln, wobei keines so oft als Referenz diente wie der Montmartre – nirgends war Paris so sehr »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« wie in der Sphäre des Vergnügens.81 Mitunter galten die lokalen Vergnügungsviertel anderer Städte nur als bescheidene Statthalter der Freuden von Paris. Dem Dichter Arthur Symons (1865-1845) zufolge war das West End »[n]ever really normal London«, sondern »an escape, a sort of shamefaced and sordid and yet irresistible reminder of Paris«.82 An anderer Stelle beklagt er, französischen Freunden auf die Frage »Where is your Montmartre, where is your Quartier Latin?« nur abschlägig antworten zu können.83 Die Frage verdeutlicht, wie sehr der Raum des Vergnügungsviertels sich zu einer Chiffre für Vergnügen schlechthin entwickelt hatte. In Berlin übernahmen unzählige Vergnügungslokale die Namen berühmter französischer Vorbilder wie etwa Moulin Rouge, Folies Bergères und Chat Noir.84 Zeitgenössischen Reiseführern zufolge zogen die Kabaretts in der Gegend des Oranienburger Tors ein »Quartier latin-Publikum« an, das hier in »MontmartreStimmung« schwelgte.85 (Nur der Alexanderplatz gilt zur Abwechslung als »Berliner Yoshiwara«.)86 Entsprechend hieß die erste New Yorker Revuebühne Folies Bergères, ebenso wie das erste Revuetheater von Asakusa Casino Folies (Kajino Fuorii) getauft wurde, eine Kombination aus Casino de Paris und Folies Bergères.87 80 | Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 41908, S. 325; siehe auch Csergo: »Extension et mutation«, S. 121-168. 81 | Walter Benjamin: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: ders.: Das Passagen-Werk, S. 45-59. 82 | Arthur Symons: Cities and Sea-Coasts and Islands [1918], Evanston 1998, S. 247. 83 | Ebd., S. 197. 84 | Huret: Berlin um Neunzehnhundert, S. 62. 85 | Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. Sitten. Winke, Karlsruhe 1905, S. 270; Berlin für Kenner, S. 11. 86 | Moreck: Führer durch das ›lasterhafte‹ Berlin, S. 189, 198. 87 | Erenberg: Steppin’ Out, S. 115-116, 214; ders.: Impresarios of Broadway Nightlife, S. 162; Jörg von Uthmann: »New York. Broadway. Der ›Große Weiße Weg‹«, in: Hartung (Hg.): Boulevards, S. 315-341, S. 326, 334; Silverberg: Erotic Grotesque Nonsense, S. 235-236; siehe auch Lippit: Topographies of Japanese Modernism, S. 141; Tipton: »Cleansing the Nation«, S. 719.

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Alle diese Etablissements wollten am Ruhm des Montmartres partizipieren und schrieben auf diese Weise gleichzeitig an seinem Mythos mit. Mit dem lautstarken Aufstieg Berlins zur Metropole seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts musste die Friedrichstraße immer wieder als Beweis für den weltstädtischen und weltläufigen Charakter der Stadt herhalten. Vielfach betonen die Reiseführer, sein Nachtleben sei mit dem »Nachtleben keiner anderen Stadt, selbst nicht mit dem von Paris zu vergleichen«, das hier Gebotene fände sich »weder in Paris, noch sonstwo auf der Welt.« »Galt früher Paris als die Stadt des Lichts und des Lasters […] so ist man sich heute auf dem ganzen Erdenrund darüber einig, daß die Berliner Nächte das Lockendste bieten«, wusste der Führer durch die Lebeweltnächte der Friedrichstadt.88 Selbst Jules Huret ließ sich von dieser Stimmung anstecken und musste sich fragen: »Sollte Paris in dieser Hinsicht überholt sein?«89 Diese Konkurrenz um das attraktivste Nachtleben zeigt, welche Bedeutung dem Vergnügungsviertel beigemessen wurde und wie sehr sich die Metropolen darüber definierten. Sie zeigt jedoch zugleich, wie sehr die Unterschiede zu verwischen begannen, wie sehr der internationale Austausch zu einer Standardisierung des Vergnügens beitrug: jedes Vergnügungsviertel erinnerte an jedes andere. »Gehen sie über den Times Square«, beklagt sich Klaus Mann (1906-1949) in New York, »sprechen sie unausgesetzt vom Montmartre.«90 Bei Asakusa dienten die Vergleiche nicht zuletzt dazu, europäischen Lesern den Charakter dieses Viertels zu verdeutlichen. Dass Asakusa am häufigsten aber mit dem Prater verglichen wurde, zeigt noch einmal, dass diese beiden Räume eine Spezialform des Vergnügungsviertels darstellen.91 Neben Metropolen-Konkurrenz und Erklärungshilfe verweist der Vergleich noch auf einen anderen, am deutlichsten von Magnus Hirschfeld artikulierten Aspekt: »Im Grunde genommen ist es freilich in England […] dasselbe Bild wie überall. Was in Wien der Prater, ist in London der Hydepark, der Union Square New Yorks, heißt hier Leicester Square, die Pariser Alhambra nennt sich an der Themse Colosseum, die Promenaden von Ostende befinden sich am Strande von Brighton […]«. 92 88 | Berlin für Kenner, S. 13; Satyr: Lebeweltnächte, S. 10, 7. 89 | Huret: Berlin um Neunzehnhundert, S. 61. 90 | Klaus Mann: Aufsätze, Reden, Kritiken, Bd. 4: Zweimal Deutschland, hg. von Uwe Naumann, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 188. 91 | Mit dem Times Square und Montmartre vergleichen Asakusa: Richmond Bollinger: »Nachwort«, in: Kawabata Yasunari: Die Rote Bande von Asakusa [Asakusa kurenaidan]. Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Richmond Bollinger, Frankfurt a.M. 1981, S. 195-216, hier S. 197; Donald Richie: Travels in the East, Berkeley 2008, S. 166; mit dem Prater: Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 528; Hans Meyer: Eine Weltreise. Plaudereien aus einer zweijährigen Erdumsegelung, Leipzig 1885, S. 387. 92 | Hirschfeld: Die Homosexualität, S. 547.

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Nach der Vernichtung des Raumes in der Verkehrsrevolution begann um 1900 ein Prozess der kultur- und grenzüberschreitenden Angleichung, in dem Orte ihre nationale und kulturelle Individualität einbüßten und zu bloßen Konkretisierungen abstrakter Funktionen wurden: »When anywhere is everywhere, only the familiar is familiar.«93

Theatraler Raum Von Southwark und Yoshiwara in der frühen Neuzeit bis zum heutigen Broadway und West End war das Vergnügungsviertel immer ein theatraler Raum und das wiederum auf zweifache Weise: aufgrund der hohen Konzentration von Theatern und weil es selbst als Bühne diente. Nicht selten wirkte der Stadtraum, in dem die Theater ansässig waren, zurück auf die Unterhaltung, die sie anboten. Am deutlichsten ist dies, wenn die Ortsangabe zu einem Teil des Genres wurde, wie im Fall der »West End musical comedy«, dem »East End melodrama«, dem »Broadway musical«, der »Boulevard-Komödie« oder der »Askusa Opera«.94 In den im West End, an den Boulevards oder an der Friedrichstraße gelegenen Theatern mit ihrem regional und sozial diversen Publikum liefen andere Stücke und wurde anders inszeniert als in den proletarischen Stadtteilen und Vororten, wobei diese sich langfristig dem Sog der Standardisierung nicht entziehen konnten.95 Umgekehrt begann eine Theatervorstellung nicht erst, wenn der Vorhang sich öffnete. Die Theater prägten den sie umgebenden Raum, ihr Publikum betrieb für einen Theaterbesuch, zumal wenn es sich um eine Premiere handelte, einen ähnlichen Aufwand wie die Schauspieler auf der Bühne. Die Damen trugen die neuesten Pariser und Wiener Moden, die Männer kamen im Frack: »Even the lighter entertainments were attuned to a stiff collar, white tie and tails occasion.«96 Wie die Kritiker nicht müde wurden zu bemerken, diente das Theater immer noch als Raum sozialer Kommunikation und Repräsentation der eigenen sozialen Stellung. Eine Premiere war ein theatrales Ereignis, das sowohl im wie auch vor dem Gebäude inszeniert wurde. Denn das Vorfahren der Wagen, das Aussteigen und die Versammlung vor dem Theater lockten ihrerseits ein eigenes Publikum an. 93 | Iain Sinclair: »Sickening«, in: Matthew Beaumont/Gregory Dart (Hg.): Restless Cities, London/New York 2010, S. 257-276, hier S. 258. 94 | Vgl. Marvin A. Carlson: The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor 2003, S. 140, siehe auch ders.: Places of Performance. The Semiotics of Theatre Architecture, Ithaca u.a. 1989, insbes. S. 14-37. Zur Asakusa-Oper vgl. Seidensticker: Low City, High City, S. 267-269, McClain: Japan, S. 353. 95 | Vgl. Michael R. Booth: »East-End and West-End. Class and audience in Victorian London«, in: Theatre Research International 2 (1977), Nr. 2, S. 98-103; Martin Baumeister: »Theater und Metropolenkultur. Berlin um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstatt (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen, Basel 2009, S. 193-215. 96 | Ernest Short: Theatrical Cavalcade, London 1942, S. 162.

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Zum theatralen Charakter des Vergnügungsviertels trugen nicht zuletzt die Prostituierten bei, deren Arbeitskleidung dezent genug sein musste, um nicht von der Polizei festgenommen zu werden, aber nicht so dezent, dass sie von potentiellen Kunden nicht erkannt wurden. »Es war die Zeit der großen Federhüte, der Federboas und des hochgeschnürten Busens. Die hin und her geschwenkte Tasche war das Abzeichen der Gilde«, beobachtete George Grosz (1893-1959) in der Friedrichstraße, deren hektischen, egalitären, kosmopolitischen und widersprüchlichen Charakter er auch graphisch ein Denkmal setzte.97 Das Vergnügungsviertel war ein Raum, in dem sich aus dem Alltag ausbrechen und mit neuen Identitäten experimentieren ließ, wie dies die Flappers und Mogas am Times Square – jener »stage for urban life« – im West End, auf dem Kurfürstendamm oder der Ginza taten, wenn sie spielerisch neue Geschlechterrollen erprobten.98 Ein gutes Beispiel hierfür ist erneut Kawabata Yasunaris Asakusa-Roman, dessen Protagonisten je nach Situation ihre Kleidung, Identität und gar ihr Geschlecht wechselten. Das Vergnügungsviertel nahm auf diese Weise theatrale Züge an und wurde deshalb, wie Elise Tipton für die Ginza bemerkt, von den Zeitgenossen oft mit einem Theater oder einer Bühne verglichen, auf der das moderne Leben aufgeführt wurde.99 * * * Mehrere der genannten Charakteristika legen nahe, das Vergnügungsviertel als eine Heterotopie im Sinne Michel Foucaults zu verstehen. Dafür spricht zunächst, dass sich hier eine Vielzahl unterschiedlicher, wenn nicht gar gegensätzlicher Räume überlagerten. Strukturell schichtübergreifend diente das Vergnügungsviertel mitunter ebenso als Ort der sozialen Repräsentation wie auch als Aufenthaltsort gesellschaftlich marginalisierter Gruppen. Es war ein Raum, den sich Fremde und Einheimische, Familien und Prostituierte, Hetero- und Homosexuelle, Polizisten und Unternehmer teilten und der für jede Gruppe und jedes Individuum eine andere Bedeutung, Funktion und Symbolik hatte – Vergnügen, Gelderwerb, Treffpunkt oder Bedrohung. Zweitens spricht für die Klassifizierung als Heterotopie sein räumlich wie sozial liminaler Charakter. Als ein Raum, in dem deviante Verhaltensweisen und Praktiken – bis zu einem bestimmten Grad jedenfalls – geduldet wurden, erscheint das Vergnügungsviertel als eine Abweichungsheterotopie. 97 | George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Hamburg 1955, S. 98; zur Prostituierten als urbanem Typus siehe auch Susan Buck-Morss: »The Flaneur, the Sandwichman and the Whore. The Politics of Loitering«, in: New German Critique 39 (1986), S. 99-140; Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 176. 98 | Sagalyn: Times Square Roulette, S. 49. 99 | Tipton: The Café, S. 123; siehe auch Brigitte Marschall: »Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung«, in: Ralf Bohn (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld 2009, S. 171-187 sowie den Beitrag von Tim Opitz in diesem Band.

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Drittens korrespondierte mit der Heterotopie Vergnügungsviertel eine spezifische Heterochronie, hielten sich die Besucher hier doch in ihrer Freizeit und in den Nachtstunden auf, also in oftmals als außeralltäglich wahrgenommenen Zeiträumen. Ein System der Öffnung und Abschließung ist, viertens, allerdings in den wenigsten Vergnügungsvierteln feststellbar, sind doch ihre Grenzen oft gar nicht klar benennbar. Öffentliche Zugänglichkeit war vielmehr eine Bedingung für die Existenz eines Vergnügungsviertels. Andererseits verfügten die dort geballt auftretenden Vergnügungsorte und -etablissements über je eigene Modi des Zugangs, meist in Form einer Eintrittskarte, wie bei Kinos und Theatern, die Foucault selbst unter die Heterotopien rechnete und die in allen Vergnügungsvierteln in großer Anzahl zu finden waren. Was, fünftens, die Funktion des Vergnügungsviertels angeht, so lässt es sich am ehesten als eine Kombination aus illusorischer und kompensatorischer Heterotopie betrachten. Als medialer und theatraler Raum schuf das Vergnügungsviertel zunächst einen Ort, an dem sich Realität und Illusion durchdrangen. Indem es einen Spielraum für Experimente mit Geschlechteridentitäten und sozialen Rollen anbot, die mitunter in einem dialektischen Verhältnis zu herrschenden gesellschaftlichen Normen standen, konnte es diese als konstruiert und illusorisch entlarven. Andererseits nahm es eine kompensatorische Funktion wahr, wobei es weniger eine vollkommene Ordnung entwarf, als dass es einen Raum der Kompensation bot, was wiederum darauf verweist, dass Vergnügungsviertel, sechstens, als »tatsächlich verwirklichte Utopien« zu verstehen sind. Utopisch ist ein Begriff, der in vielen Texten über Vergnügungsviertel benutzt wird. Joachim Willms versteht den Montmartre als »utopischen Ort nostalgischer Idyllik«, der zum einen ein »Gegengift für jenen traumatisch erlebten Einbruch der Moderne« und zum anderen einen »gesellschaftlich sanktionierten Freiraum« darstellte, »der von der sonst herrschenden strikten sozialen Kontrolle ausgenommen war«.100 Ähnlich meint Klaus Müller-Richter über den Prater, dieser sei »[u]topisch […] insofern er das Glücksversprechen eines […] für alle Klassen, Stände und Schichten frei zugänglichen Raums des Konsums, der Schaulust und Behebung von Bedürfnissen […]« abgebe.101 Bei beiden ist es also primär der egalitäre Charakter des jeweiligen Vergnügungsviertels, aufgrund dessen sich dieses in ihren Augen als utopischer Raum qualifiziert. Utopisch war es nicht nur, insofern es die Grenzen zwischen den Klassen verschwimmen ließ, sondern auch jene zwischen den Geschlechtern, In- und Ausländern, Weltstadtbürgern und Provinzlern. Auf diese Weise antizipierte es eine künftige Gesellschaft. Dennoch konnte das Vergnügungsviertel mitunter solche Barrieren auch erst errichten oder akzentuieren. Es war heterosozialer, egalitärer und kosmopolitischer als alle anderen Räume in 100 | Willms: Paris, S. 440-441; Rearick: Pleasures of the Belle Epoque, S. 62. 101 | Klaus Müller-Richter: »Phantasmagorien des Praters. Ein Versuch über urbane Raum-, Geh-, Schreib- und Sehweisen«, in: ders./Mattl/Schwarz (Hg.): Felix Salten: Wurstelprater, S. 147-161, hier S. 147; siehe auch Mattl/Schwarz: »Utopia des ›zeitlos Popularen‹«, S. 127-146.

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den sonst stark segregierten Metropolen der Jahrhundertwende, brachte aber die bestehende Ordnung nicht wirklich in Gefahr. Es trug daher eher Züge des Karnevals, wie ihn Michail Bachtin beschreibt, wobei seine karnevalistische Subversivität letzten Endes systemstabilisierend wirkte.102 Rein begrifflich müsste schließlich schon deshalb eher von einer Heterotopie als von einer Utopie die Rede sein, da das Vergnügungsviertel in seiner materiellen und sozialen Realität kein ou-topos, kein Nicht-Ort, sondern eben ein anderer Ort, ein hetero-topos war. Obwohl es Vergnügungsviertel schon in vormodernen Städten gegeben hatte, auf die manche der hier angeführten Beispiele zurückgingen, sind sie doch alle eng mit den Metropolen der Jahrhundertwende verknüpft. Vergnügungsviertel wie der Times Square, das West End und der Kurfürstendamm behaupteten sich selbstbewusst im Herz der Metropole und waren Symbole urbaner Modernität. Doch genauso war die betonte Antimodernität des Montmartre ein Kommentar zu den Umbrüchen der Jahrhundertwende. Das Vergnügungsviertel war der urbane Raum, in dem Neues ausprobiert werden konnte, von Mode und Lebensstil bis hin zu neuen Formen des Miteinanders. In diesem Sinne trug es zu dem von Gottfried Korff als »innere Urbanisierung« bezeichneten Prozess der Anpassung an das Leben in der Großstadt bei, der vielleicht richtiger noch als ›innere Modernisierung‹ zu bezeichnen wäre. Anstelle einer fremdgesteuerten »Kolonialisierung von Lebenswelten« (Jürgen Habermas), der die Subjekte hilflos ausgeliefert werden, bezeugt das Vergnügungsviertel vielfältig kreative Reaktion auf die fundamentalen soziokulturellen Umbrüche der Jahrhundertwende.103 Und schließlich ist das Vergnügungsviertel ein Paradebeispiel für Henri Lefebvres Feststellung, dass sozialer Raum ein soziales Produkt ist. Denn die Vergnügungsviertel waren nicht das Ergebnis einer hegemonialen Stadtplanung, sondern Produkt vieler verschiedener Aushandlungsprozesse, an denen staatliche und städtische Behörden ebenso beteiligt waren wie die Betreiber der Vergnügungsetablissements und ihre Konsumenten, die Autoren von Reiseführern, Stadtberichten und Theaterstücken bis hin zu den Passanten und Prostituierten. Um diese Prozesse zu analysieren, gilt es neben der Makroebene der Stadt und der Mikroebene einzelner 102 | Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1989; siehe auch Rüdiger Hause/Peter Jehle: »Karneval«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 7/1, Berlin 2008, Sp. 397-406. 103 | Vgl. Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361; zur Adaption dieses Konzepts siehe auch Peter Fritzsche: Reading Berlin 1900, Cambridge, Mass. 1996, S. 13, 219-220; Schlör: Nachts in der großen Stadt, S. 17; Habbo Knoch: »Schwellenräume und Übergangsmenschen«, insbes. S. 265-267; Moritz Föllmer: »Grenzen und urbane Modernität. Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte städtischer Interaktionsräume«, in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=788&type=diskussionen; Becker: »Feste des Konsums?«, S. 236-237.

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Orte, wie dem Theater oder dem Kino, die Mesoebene von Stadträumen wie dem Viertel oder Kiez zu betrachten.104 Die oft konstatierte Fragmentierung der Metropole wahrzunehmen und das Ganze über seine Fragmente und Einzelräume zu betrachten, wäre die Aufgabe einer Stadtgeschichte, die jenseits abstrakter Debatten über ›die Metropole‹ und ›die Stadt‹ oder die ›Eigenlogik der Städte‹ operiert.105 Auf diese Weise ließe sich dem Umstand Rechnung tragen, dass unterschiedliche Räume spezifische Aktivitäten, Praktiken, Verhaltensmuster und Mentalitäten aufweisen, beziehungsweise diese überhaupt erst generieren, kurz gesagt über eine je spezifische Psychogeographie verfügen. Dies belegt nicht zuletzt der heterotopische Raum des Vergnügungsviertels.

104 | Vgl. den Beitrag von Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth in diesem Band. 105 | Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege der Stadtforschung, Frankfurt a.M./New York 2008; Martina Löw: Soziologie der Städte, Frankfurt a.M. 2008.

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Ungleichzeitigkeiten — Blicke jenseits der Metropole

Die Flucht des Theaters vor der Metropole Das Kraiburger Volksschauspiel in der Zeit des späten Kaiserreiches Karl Borromäus Murr

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts artikulierte sich in München wie in vielen europäischen Metropolen1 eine vitale Suchbewegung des Theaters, das zeitgleich zum fundamentalen Wandel in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft seinen »Aufbruch zur Moderne« unternahm.2 Die Suche nach neuen theatralen Formen vollzog sich dabei keineswegs in linearen Bahnen, sondern war geprägt von einer veritablen »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«,3 worin sich überkommene und zukunftweisende Entwürfe, konservative, gemäßigte oder progressive Programme munter überlagerten. »Es ist eine Epoche verwirrender künstlerischer Stilvielfalt, eine Zeit äußerst unterschiedlicher Konzepte für ein Theater der Zukunft, für ein Theater neuer ästhetischer und gesellschaftlicher Spielräume.«4 1 | Auch wenn die Großstadtentwicklung Münchens gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht so weit vorangeschritten war wie die Berlins, lassen sich gleichwohl verdichtete und beschleunigte Urbanisierungsprozesse feststellen, die es erlauben, die bayerische Haupt- und Residenzstadt – gerade auch in ihrer dialektischen Beziehung als Zentralort zur bayerischen Provinz – als ›Metropole‹ zu bezeichnen. Vgl. dazu: Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1996, S. 114-140. 2 | Rainer Hartl: Aufbruch zur Moderne. Naturalistisches Theater in München, 2 Bde., München 1975. Vgl. auch Peter Jelavich: Munich and Theatrical Modernism. Politics, Playwriting and Performance 1890-1914, Cambridge, Mass. 1985. 3 | Vgl. Beat Dietschy: Gebrochene Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988; Paul Nolte: »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 134-137. 4 | Barbara Zuber: »Aufbruch und Antinomien der Moderne. Ein Beitrag zur Diskussion über Theater, Gesellschaft und Politik in München um 1900«, in: Hans-Michael Körner/Jür-

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Abb. 15: Theaterzettel der Aufführung des Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf von Martin Greif im Theater in Kraiburg am Inn. Zuweilen führte das Experimentieren mit neuen Ausdrucksformen der Bühne aus München weg in die Provinz und blieb gleichwohl wesentlich auf die bayerische Haupt- und Residenzstadt bezogen. Ein solcher Fall begegnet in einem Schauspielunternehmen, das von 1892 bis 1922 den oberbayerischen Marktort Kraiburg in Beschlag nahm. Schauspielbegeisterte Mitglieder dieser am Inn gelegenen Kommune gen Schläder (Hg.): Münchner Theatergeschichtliches Symposium 2000, München 2000, S. 129-161, hier S. 129.

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führten in jenem Zeitraum über 80 Mal das zum Festspiel erkorene Geschichtsdrama Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf in einem eigens dafür errichteten Theaterbau auf.5 Dieses vaterländische Festspiel aus der Feder des Dramatikers Martin Greif (1839-1911)6 lockte über sechs Spielzeiten hinweg weit mehr als 60.000 Zuschauer in das ländliche Kraiburg – einen Ort, der in jenen Jahren kaum mehr als 1000 Einwohner zählte; allein ein Zehntel davon wirkte als Darsteller auf der Bühne mit. Eigens eingesetzte Sonderzüge beförderten bürgerliches Publikum aus München an den Inn, so dass das Kraiburger Festspiel schon bald über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt wurde.7 Ein handschriftlich überlieferter Theater-Almanach von 1892 verzeichnet als Besucher der ersten Spielsaison neben den »Landleuten« bereits Zuschauer aus Kassel, Kufstein, Salzburg, Wien und Meran;8 in den späteren Spielzeiten kamen auch Gäste aus dem nicht deutschsprachigen Ausland dazu.9 Immer wieder besuchten Schulen und Vereine aus der Region die Vorstellungen. Prominente Festgäste in der ersten Saison wie Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869-1955) oder der bayerische Kultusminister Ludwig von Müller (1846-1895), dem Greif die gedruckte Schauspielfassung gewidmet hatte,10 erhöhten die Attraktivität des Kraiburger Unternehmens.11 Aber nicht nur die Besucherzahlen verweisen auf eine beachtliche Popularität des Festspiels, sondern auch die ungemein positive Resonanz vor allem der Münchner Presse, die – vom Kraiburger Festkomitee im Vorfeld gut informiert – seit der ersten öffentlichen Vorstellung am 4. Juni 1892 ebenso erstaunt wie enthusiastisch über den provinziellen Theatercoup berichtete.12 Den Festspielinitiatoren war es gelungen, mit ihrem allein von lokalen Laienschauspielern dargebotenen Stück nicht nur überregionale Aufmerksamkeit zu erringen, 5 | Josef Steinbichler: »Martin Greif: ›Ludwig der Bayer‹. Bericht über die Uraufführung am 5.6.1892 in Kraiburg«, in: Das Mühlrad. Beiträge zur Geschichte des Inn- und Isengaus 35 (1993), S. 55-110. 6 | Martin Greif: Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf. Vaterländisches Schauspiel in fünf Akten, Stuttgart u.a. 1891. Diese Druckfassung erlebte 1910 (Leipzig) bereits die fünfte Auflage. 7 | Vgl. zu den Besucherzahlen: Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach für das Volksschauspiel Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf von Martin Greif, angelegt von Josef Haberl, unpag. 8 | Ebd. 9 | Donau-Zeitung 2.10.1892. 10 | Greif: Ludwig der Baier, 1891, unpag. 11 | Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach, unpaginiert (Einträge zum 5.6.1892 und zum 21.8.1892). 12 | Vor allem Greif selbst war auf eine konsequente Pressearbeit bedacht, weshalb zur Generalprobe unter anderem der Münchner Journalisten- und Schriftsteller-Verein geladen war. Vgl. dazu die verschiedenen Briefe Greifs in: Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, Schindleriana, I, 2.

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sondern auch weit in akademische Kreise hinein Widerhall zu finden.13 Manche Zeitgenossen schrieben dem Bühnenwerk sogar das Verdienst zu, im deutschsprachigen Raum eine neue Volksschauspielbewegung angestoßen zu haben, die allenthalben in Deutschland und Österreich dem Kraiburger Beispiel nacheiferte. Greifs Stück habe hierbei »geradezu bahnbrechend« gewirkt, so der bekannte zeitgenössische Literaturhistoriker und Lexikograph Wilhelm Kosch (1879-1960).14 Im Folgenden gilt es, die verschiedenen Schichten politisch-gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen herauszuarbeiten, die dem Kraiburger Theaterunternehmen zugrunde lagen. Die Betrachtung der hierbei zutage tretenden Ideologie versucht, das fragliche Theaterprojekt als einen bewussten theatralischen Gegenentwurf zur urbanen Theaterkultur jener Zeit zu entlarven: als eine Flucht des Theaters vor der Metropole – eine Flucht, die für das Theater der Zukunft eine vitale Inspirationsquelle auf dem Lande zu finden hoffte. Im Fortgang der Untersuchung wird sich eine mehrfach dialektische Verschränkung von urbanem und ländlichem Theater zeigen, woraus das Kraiburger Festspiel seine ihm eigene kulturelle Qualität bezog. Der Bühnenerfolg des auf den ersten Blick provinziell erscheinenden Kraiburger Theaterunternehmens war mitnichten ein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis von geradezu minutiösen Planungen eines höchst professionellen Organisationsstabes. Diesem war es gelungen, eine Reihe von soziokulturellen Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich dergestalt zu bündeln, dass ein kleinbürgerlich-bäuerliches Laienensemble15 zu einer auf seine Zeitgenossen nachhaltig wirkenden Schauspielleistung befähigt wurde. Der Dramentext stammte von Martin Greif, der, wenngleich in der deutschen Literaturgeschichte eher als Lyriker bekannt, zu Lebzeiten mehr als Dramatiker gefeiert wurde.16 Mit seinen vaterländischen Bühnenwerken, die auf zahlreichen deutschsprachigen Bühnen zur Aufführung kamen, traf Greif ganz offensichtlich den patriotischen Geschmack seiner Epoche.17 Ob in seiner Hohenstaufen-Trilogie oder in seinen aus der bayerischen Geschichte geschöpften 13 | Adolf May: Volksschauspiele in Bayern, Erfurt/Leipzig 1892, S. 21-22; Wilhelm Kosch: Martin Greif in seinen Werken, Leipzig 1907, S. 134-138; Jocza Savits: Martin Greifs Dramen. Eine Studie, München 1911, S. 16-17; Alex Braun: Münchner Silhouetten: Nach dem Leben, München 1918, S. 114-115; Nikolaus Scheid: Martin Greif (H. Frey) und die deutsche Bühne. Eine Würdigung, Innsbruck u.a. 1920, S. 17. 14 | Kosch: Martin Greif in seinen Werken, S. 134. 15 | Folgende Berufe konnten unter den die Hauptrollen spielenden Kraiburger Darstellern ausfindig gemacht werden: Lebzelter, Konditor, Lederer, Bader, Schmiedemeister, Goldarbeitergehilfe und Bildhauer. Vgl. Steinbichler: »Martin Greif«, S. 98, 103. 16 | Vgl. zu Greif: Herbert Thiele: »Greif, Martin«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 29. 17 | Vgl. Wilhelm Kosch: »Martin Greif und die deutsche Bühne. Stimmen ihrer Vertreter. Offener Brief an Bernhard Baumeister«, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 23 (1909), S. 349-364.

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Dramen – nach 1870 durchdrang unverkennbar ein gründerzeitliches Pathos Greifs Bühnenwerke, das sich gleichermaßen auf das engere Vaterland Bayern und das weitere Vaterland Deutschland richtete.18 Seinen größten Erfolg feierte Greif allerdings weder am Wiener Burgtheater noch am Münchner Hof- und Nationaltheater, sondern mit seinem Ludwig-der-Bayer-Festspiel im abgelegenen Kraiburg.19 Es war der Kraiburger Landrat Karl Riedl (1845-1912), der Greif zu dem ungewöhnlichen Theaterunternehmen überredete. Für den in München etablierten Dramatiker bedeutete es durchaus ein Wagnis, die Uraufführung seines 1891 fertiggestellten Werkes nicht am Hof- und Nationaltheater, sondern auf einer ländlichen Laienbühne stattfinden zu lassen, lief Greif mit dem Kraiburger Unternehmen doch Gefahr, die Sympathien des Hof- und Nationaltheaterintendanten Karl von Perfall (1824-1907) zu verspielen.20 Durch die Vermittlung des Dichters stellten sich indes renommierte Kräfte der Münchner Theaterszene dem Kraiburger Vorhaben zur Verfügung. Regie führte der bekannte Münchner Hoftheaterregisseur und Bühnenreformer Jocza Savits (1847-1915), der mit den Kraiburger Laienschau-

Abb. 16: Grafik aus dem fünften Akt des Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf von Martin Greif im Theater in Kraiburg am Inn, nach 1892.

18 | Vgl. Joseph Weiß: »Martin Greif«, in: Das Bayerland 8 (1897), S. 307-308; Siegfried Sieber: »Martin Greif. Zu seinem 70. Geburtstag«, in: Das Bayerland 20 (1909), S. 462-464. 19 | Vgl. zu Greifs Aufführungen im Wiener Burgtheater: Karl Fuchs: »Martin Greif und seine Beziehungen zu Österreich«, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 23 (1909), S. 399414. Im Münchner Hof- und Nationaltheater wurden von 1888 bis 1901 fünf verschiedene Greif’sche Dramen insgesamt 30 Mal aufgeführt. Savits: Martin Greifs Dramen, S. 7. 20 | Vgl. Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, Schindleriana, I, 2 (Greif an ein namentlich nicht genanntes Mitglied des Kraiburger Comites, 12.1.1892).

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spielern die Rollen einübte.21 Die Bühnenbilder verantwortete der Theatermaler Adolf Mettenleitner (1851-1918), die Kostümentwürfe der Hoftheaterkostümier Josef Flüggen (1842-1906). Der international anerkannte Bühnentechniker Carl Lautenschläger (1843-1906) half, das lokale Festspielhaus zu errichten.22 Dessen Errichtung, wozu Landrat Riedel ein Grundstück zur Verfügung stellte, sowie die Anschaffung des Bühnenbilds und der Kostüme beliefen sich etwa auf 25.000 Mark – eine stattliche Summe, die im Wesentlichen von Riedel selbst und dem Kraiburger Kaufmann und Bürgermeister Alois Hardt aufgebracht wurde. Zusammen mit dem Arzt Josef Schlißleder und dem Apotheker Josef Haberl bildeten sie das Kraiburger Festkomitee. Der entstandene Theaterbau stellte indes keinen gewöhnlichen Theaterbau dar, sondern war komplett der neuen Shakespearebühne des Münchner Hof- und Nationaltheaters nachgebildet – einer Reformbühne, die dort erst 1889 die genannten Savits und Lautenschläger unter der Federführung des Intendanten Karl von Perfall eingeführt hatten.23 Der Kraiburger Festspielbau bildete somit eine höchst moderne Einrichtung und ist der Idee nach einer Bühnenreformbewegung zuzurechnen, die sich im Dienste eines schnellen Szenenwechsels gegen die zeitgenössische Ausstattungsbühne mit ihrem überbordenden illusionistisch-historistischen Dekor wandte.24 Die Shakespearebühne, die die so genannte Guckkastenbühne ablösen sollte, bestand aus einer Vorderbühne, die in den Zuschauerraum hineinragte und von drei Seiten her Einblick gewährte, und einer Hinterbühne, die von der Vorderbühne durch einen Vorhang abgetrennt werden konnte, so dass sie sich während des Stücks für eine neue Szene umbauen ließ. Dieser neue Bühnentyp war eine der Grundlagen des Kraiburger Erfolgs, denn sie erlaubte selbst einem laienhaften Ensemble einen dramaturgisch durchgehenden Spielfluss, der nicht mehr von störenden – Zwischenakte notwendig 21 | Eva Chrambach: »Savits, Jocza«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, Berlin 2005, S. 474-475. 22 | Michael D.G. Vogt: Eine Theatermaschinistenkarriere des 19. Jahrhunderts. Forschungsbeitrag zu Carl Lautenschläger unter Berücksichtigung der Quellen, Diss., Köln 2007. 23 | Vgl. Rudolf Genée: Die Entwickelung des scenischen Theaters und die Bühnenreform in München, Stuttgart 1889; Jocza Savits: Von der Absicht des Dramas. Dramaturgische Betrachtungen über die Reform der Szene, namentlich im Hinblick auf die Shakespearebühne in München, München 1908; ders.: Shakespeare und die Bühne des Dramas. Erfahrungen und Betrachtungen, Bonn 1917; dazu: Hans Durian: Jocza Savits und die Münchener Shakespearebühne, Emsdetten 1937; Heide Nüssel: Rekonstruktionen der ShakespeareBühne auf dem deutschen Theater, Diss. Köln 1967, S. 80-106; Russell Jackson: »Jocza Savits, Organic Shakespeare for the Folk«, in: Ladina Bezzola Lambert/Balz Engler (Hg.): Shifting the Scenes. Shakespeare in European Culture, Newark 2004, S. 140-151. 24 | Savits: Von der Absicht des Dramas. Vgl. Durian: Jocza Savits. Karl Lautenschläger führte übrigens 1890 auch den Bühnenneubau für das Oberammergauer Passionsspiel aus.

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machenden – Umbaupausen unterbrochen wurde. Mit dieser formalen Bühnenreform ging eine inhaltliche Neuerung einher, die in der durchaus auch politisch verstandenen Forderung nach einem neuen ›Volkstheater‹ gipfelte, wobei der Begriff des ›Volkstheaters‹ zu jener Zeit semantisch mitnichten eindeutig bestimmt war. Wie sah der Inhalt des Ludwig-der-Bayer-Festspiels aus?25 Vorweg ist festzustellen, dass Greif ein Sujet aus der spätmittelalterlichen Geschichte aufgriff, das vor ihm schon Friedrich Schiller, Ludwig Uhland und auch Paul Heyse literarisch bearbeitet hatten.26 Im Kern handelt das Drama von der Feindschaft und Versöhnung der beiden Vettern und Jugendfreunde Ludwig dem Bayern (1281-1347) aus dem Haus Wittelsbach und Friedrich dem Schönen (1289-1330) aus dem Haus Habsburg. Als Ludwig aus dem langen Kampf um die deutsche Krone (1314-1322) in der Schlacht bei Mühldorf – unter der tätigen Mithilfe des Nürnberger Burggrafen aus dem Haus Zollern – als Sieger hervorgeht, lässt der Wittelsbacher den unterlegenen Friedrich einkerkern, um ihn jedoch wieder in die Freiheit zu entlassen – unter der Bedingung, Habsburg zum Frieden zu bewegen. Da es Friedrich aber nicht gelingt, die gelobte Bedingung zu erfüllen, kehrt er freiwillig – seinem einmal gegebenen Wort getreu – in die Gefangenschaft Ludwigs zurück. Letzterer, gerührt von solcher ›deutschen Treue‹, schenkt seinem Gefangenen – ähnlich wie in Schillers Ballade Die Bürgschaft – nicht nur die Freiheit, sondern teilt sich mit ihm künftig auch die Geschäfte der Reichsregierung. So weit die kurze Zusammenfassung der Festspielhandlung. Um die Wirkabsicht des in Frage stehenden Schauspiels näher zu erschließen, empfiehlt sich zunächst eine Reflexion auf die literarische Gattung des Festspiels, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem in ihrer historischen oder patriotischen Variante einen neuen Aufschwung nahm.27 Dabei spielte vor allem das 1851 von dem Schauspieler und Theaterleiter Eduard Devrient (1801-1877) als 25 | Vgl. allgemein zur Ludwig-der-Bayer-Rezeption im 19. Jahrhundert: Karl Borromäus Murr: Das Mittelalter in der Moderne. Die öffentliche Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern im Königreich Bayern, München 2008. 26 | Friedrich Schillers 1795 erstmals publiziertes Gedicht trägt den Titel Deutsche Treue. Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799, hg. von Julius Petersen u.a., Weimar 1943, S. 258. Siehe die überarbeitete Fassung von 1800: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 2/I: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799-1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß hg. von Norbert Oellers, Weimer 1983, S. 117; Ludwig Uhland: Ludwig der Baier. Schauspiel in fünf Aufzügen, Berlin 1819; Paul Heyse: Ludwig der Baier. Schauspiel in fünf Akten, Berlin 1862. 27 | Vgl. Dietz-Rüdiger Moser: »Patriotische und historische Festspiele im deutschsprachigen Raum. Ein Versuch in zehn Thesen und einer Vorbemerkung«, in: Balz Engler/Georg Kreis (Hg.): Das Festspiel. Formen, Funktionen, Perspektiven (Schweizer Theaterjahrbuch 49), Willisau 1988, S. 50-72; Peter Sprengel: »Die inszenierte Nation. Festspiele der Kaiserzeit«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 40 (1990), S. 257-277.

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deutsches Volksschauspiel (wieder-)entdeckte Oberammergauer Passionsspiel in seiner Vorbildfunktion eine kaum zu überschätzende Rolle.28 In Deutschland fand der Festspielgedanke des Weiteren in Richard Wagner einen einflussreichen Initiator.29 Festspiele – zumeist von privater Seite initiiert – kamen in der Regel an Orten zur Aufführung, die abgeschieden von Städten und damit jenseits des alltäglichen urbanen Treibens lagen.30 Inhaltlich waren sie häufig einem einzigen

Abb. 17: Gruppenfoto mit den Schauspielern des Kraiburger Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf, nach 1900. 28 | Eduard Devrient: Das Passionsschauspiel in Oberammergau und seine Bedeutung für die neue Zeit, Leipzig 1851. Vgl. Oskar Panizza: »Der Teufel im Oberammergauer PassionsSpiel. Eine textgeschichtliche Studie mit Ausblicken auf andere Mysterien-Spiele«, in: Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 6 (1890), S. 997-1022; ders.: »Theater-Koups und Machinationes, ein geschichtlicher Überblick über Szene und Konstruktion der Mysterienbühne, bei Gelegenheit der Oberammergauer Passionsaufführungen 1890«, in: Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 7 (1891), S. 592-614, 806-829; Friedrich Lienhard: »Oberammergau«, in: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze, Leipzig/Berlin 1901, S. 139-153; Hans von Wolzogen: »Volksspiel und Oberammergau«, in: Deutsche Volksbühne. Blätter für deutsche Bühnenspiele, Zeitschrift für dramatische Kunst und Litteratur. 1900, Sp. 40-43. Vgl. zu Oberammergau als lieu de mémoire: Etienne François: »Oberammergau«, in: ders./Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 274-291. 29 | Christopher Balme: »Einleitung. Zur Ästhetik und Ideologie der Theatermoderne«, in: ders. (Hg.): Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform (1870-1920), Würzburg 1988, S. 11-29, hier S. 28. 30 | Vgl. Ernst Wachler: »Das deutsche Theater der Zukunft«, in: Deutsche Volksbühne. Blätter für deutsche Bühnenspiele, Zeitschrift für dramatische Kunst und Litteratur. 1900, Sp. 17-39.

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Stück, einem einzigen Autor oder – wie seit den ersten Bayreuther Festspielen 1876 – einem einzigen Komponisten gewidmet. Wie in Oberammergau agierten auch in Kraiburg keine professionellen Darsteller, sondern allein Laienschauspieler, die aus dem jeweiligen Ort kamen. Was Bayreuth, Oberammergau und Kraiburg zudem miteinander verband, war der religiös-weihehafte Charakter der jeweiligen Festspiele, die überdies das einfache Volk als neuen Urgrund der eigenen Kultur entdeckt zu haben glaubten. Nach Lion Feuchtwangers Unterscheidung ist deshalb die Gattung des Festspiels eindeutig der idealistischen Richtung zuzurechnen im Gegensatz zur kritizistisch-psychologischen Haltung des Naturalismus.31 Prinzipiell handelte es sich beim Festspiel um ein affirmatives Genre, das in – mehr oder weniger – konservativer Absicht das bestehende Werte-Gefüge zu bestätigen und festigen suchte – so auch in Kraiburg. Dem örtlichen Festkomitee ging es mit der Aufführung des Greif’schen Festspiels einerseits darum, einen bayerischen Patriotismus und andererseits einen deutschen Nationalismus zu befördern. Dieses doppelte Motiv sollte nicht nur belehrend oder appellativ vor Augen geführt, sondern mit den Zuschauern im Erlebnis einer sozial übergreifenden Festgemeinschaft gleichsam zum Austrag gebracht werden. Zunächst zum bayerischen Patriotismus: In einem eigens für das Kraiburger Festspiel gedichteten Prolog formulierte Greif, der selbst wiederholt von einem »patriotischen Unternehmen« sprach, die auf Bayern gerichtete pädagogische Absicht seines Schauspiels, das dazu angetan war: »zu erheben jedes bied’re Herz/ Am würd’gen Beispiel uns’rer starken Väter«.32 Das Possessivpronomen bei »uns’rer starken Väter« unterstreicht, dass es sich beim Streit von Mühldorf nicht um einen beliebigen historischen Stoff handelte, sondern um eine Episode, die die Kraiburger Bevölkerung als Nachfahren der Helden von 1322 und damit als integrativen Part in die Geschichte des bayerischen Vaterlands einband. Für die Rezensenten des Kraiburger Festspiels gab es deshalb keinen Zweifel am bayerischpatriotischen Charakter des Theaterunternehmens. Ein Journalist der Neuen freien Volks-Zeitung war sich sicher, dass das Kraiburger Festspiel »viele Bayernherzen in der alten Bayerntreue stärken wird«.33 Die Besprechung im Münchener Boten für Stadt und Land lobte entsprechend die »von Herzen zu begrüßende bayerisch-patriotische Unternehmung, welche alle Förderung und den Zuspruch der weitesten Kreise verdient, weil sie dem Volke eines der leuchtendsten Bilder der bayerischen Geschichte […] vorführt«.34 Das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt des Münchner Boten 31 | Vgl. Lion Feuchtwanger: »Zur Psychologie der Bühnenreform«, in: Der Spiegel. Blätter für Literatur, Musik und Bühne, 1 (1908), Nr. 5/6, S. 198-202. 32 | Vgl. die Briefe Martin Greifs in: Bayerische Staatsbibliothek, Schindleriana, I, 2. Vgl. auch die Rezensionen in: Münchener Bote für Stadt und Land 8.6.1892, Neues Münchener Tagblatt 11.6.1892; Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt des Münchner Boten 12.6.1892. 33 | Neue freie Volks-Zeitung 7./8.6.1892. 34 | Münchener Bote für Stadt und Land 8.6.1892.

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sah im Kraiburger Festspielunternehmen gar ein bayerisch-patriotisches Pendant zu den Bayreuther Festspielen, die als »Kunststätte von deutsch-nationaler Bedeutung« galten: »Eines aber ist gewiß, […] die Volkschauspiele zu Kraiburg […] sind würdige Festspiele zur Ehre unseres Vaterlands Bayern und unseres treu geliebten Hauses Wittelsbach!«35 Warum es sinnvoll erschien, den Patriotismus anzuregen, begründete die Donau-Zeitung damit, dass es […] ›erhebend auf das Gemüth‹ wirken würde, wenn die schönen Tugenden der Liebe und Treue, wie sie Volk und Herrscher gegenseitig beseelen sollen und besonders den Stamm Wittelsbach mit den Bayern seit mehr als 700 Jahren wirklich verbinden; wenn diese erhabenen Tugenden, die ein heilig Band auch sollen bilden zwischen Königen und Ländern, einen derartigen Ausdruck finden, wie das in der Greif’schen Dichtung ›Ludwig der Bayer‹ geschehen. 36

Als patriotische Identifikationsfiguren aus dem ›einfachen‹ Volk hatte Greif vor allem die Münchner Bäcker und Schuster in wärmsten Farben geschildert, die – einer verbreiteten historischen Überlieferung nach – Kaiser Ludwig in der Schlacht von 1322 aus höchster Not errettet haben sollen. Wie bei der Gattung des Festspiels allgemein wurde auch im Falle Kraiburgs nicht nur die Differenz zwischen den Darstellern und ihrer Rolle, sondern auch die Differenz zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben. Darin zeigte sich die tiefere Bedeutung des Festspiels als einer theatralischen Form kollektiver Identitätsstiftung. Der Patriotismus wurde nicht nur auf der Bühne vorgespielt, sondern im Publikum nachvollzogen. Dass dieser bayerisch-vaterländische Geist in Kraiburg nicht nur Programm war, sondern auch beim Publikum ankam, hielt das Festkomitee-Mitglied Haberl in seinem Theater-Almanach von 1892 immer wieder fest. So kommentierte er etwa die Publikumsreaktionen bei der letzten Vorstellung am 28. September 1892, dem Jahrestag der Mühldorfer Schlacht: »Stimmung wahrhaft patriotisch«.37 Vor Beginn der Aufführung hatte Landrat Riedl eine flammende patriotische Ansprache gehalten, dabei »auf die Bedeutung des Tages und seines engen Zusammenhanges mit dem Spiele« hingewiesen und schließlich ein Hoch auf den Prinzregenten ausgebracht: »Mit Begeisterung stimmte das versammelte Publikum in dasselbe ein und sang stehend das Königslied.«38 Wie in Kraiburg das Komitee, die Schauspieler und ihr Publikum zusammen mit den örtlichen Vereinen als eine patriotische Festgemeinschaft interagierten, trat besonders hervor, als der Bäcker-Gehilfen-Verein München die Vorstellung am 14. August 1892 besuchte. Der Verein hatte eigens seine mit dem Kaiseradler verzierte Vereinsfahne nach Kraiburg mitgebracht, um seine besondere Verbindung mit der 35 | Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt des Münchner Boten 12.6.1892. 36 | Donau-Zeitung 2.10.1892. 37 | Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach, unpag. (Eintrag zum 28.9.1892). 38 | Donau-Zeitung 2.10.1892.

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Geschichte Ludwigs des Bayern zu demonstrieren. Insgesamt, so Haberl, gestaltete sich der Besuch des Münchner Bäcker-Gehilfen-Vereins »zu einem schönen patriotischen Feste«.39 Der Darsteller Ludwigs des Bayern, Andreas Wagner, überreichte den Münchner Bäckern nach dem Ende der Vorstellung »ein schönes Erinnerungsband« und einen »Eichenkranz für die Fahne«. Die Bäcker revanchierten sich mit einer Spende für die Kraiburger Theaterkasse. Zum gemeinsamen Erlebnis eines gesteigerten bayerischen Patriotismus gab auch die Vorstellung am 21. August 1892 Anlass, die von Prinz Rupprecht von Bayern (1869-1955) besucht wurde. Die örtliche Schuljugend hatte den jungen Prinzen »mit weißblauen Fähnlein« empfangen, die weiß gekleideten Mädchen waren mit »weißblauen Schärpen« angetan. Wieder hielt Riedl eine patriotische Ansprache, woraufhin die Festversammlung die bayerische Nationalhymne, also das Königslied, anstimmte. Nach der Aufführung trug die Darstellerin der Kaiserin Margarethe, Marie Baumgartner, ein dem anwesenden Prinzen gewidmetes Festgedicht vor, dem sich ein Hoch des Kaiser-Ludwig-Darstellers auf Rupprecht anschloss. So gab der patriotische Impetus Anlass zu einem kulturell-dramaturgisch interessanten Rollentausch zwischen den Hauptdarstellern auf der Bühne und Prinz Rupprecht als Teil des Publikums. Im historischen Gewand von Kaiser Ludwig und seiner Gemahlin huldigten die kleinbürgerlich-bäuerlichen Schauspieler dem Nachfahren des wittelsbachischen Kaisers und erhoben damit diesen zum Hauptdarsteller der Aufführung, der zuvor lediglich als Zuschauer und damit als Mitglied des Volkes im Publikum gesessen hatte. In der Festgemeinschaft mit dem anwesenden Publikum feierte die Kraiburger Bühne nicht allein einen bayerischen Patriotismus, sondern zugleich auch einen deutschen Nationalismus, der in Greifs literarischer Vorlage sogar im Vordergrund stand. Letztlich schlossen sich bei dem Kraiburger Festspiel bayerischer Patriotismus und deutscher Nationalismus nicht aus, sondern ergänzten sich komplementär. Wie die bayerische Sympathie für das deutsche Kaiserreich den Kraiburger Zuschauerraum erfasste, beobachtete der preußische Geschäftsträger in München, Graf Pourtalès (1853-1928), der in der Festspielsaison 1904 eine Vorstellung in dem kleinen Marktort am Inn besuchte. Graf Pourtalès bemerkte gegenüber dem preußischen Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Graf Bülow (1849-1929): Das Publikum aber, das lediglich aus Einwohnern von Craiburg und Nachbarorten bestand, brach bei den Stellen des patriotischen Stückes, in denen das treue Zusammenhalten des Zollern und des Wittelsbacher zum Ausdruck gelangte, in spontane laute Beifallsbezeugungen aus. 40

39 | Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach, unpag. (Eintrag zum 14.8.1892). Die folgenden Zitate: ebd. 40 | Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 2856 (Pourtalès an Graf von Bülow, 24.11.1904, Abschrift). Das folgende Zitat: ebd.

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Als weiteren Beleg für den im Festspielort herrschenden deutschen Reichspatriotismus gab Graf Pourtalès seinen Eindruck wieder, dass selbst in solch »abseits gelegenen Ortschaften die Reichsfarben vielfach zu sehen sind«. »Zu meinem größten Erstaunen fand ich den Ort, sowie den Festsaal, in welchem die Aufführungen stattfanden, mit gleichmäßig verteilten weißblauen und schwarz-weiß-roten Fahnen ausgeschmückt.«41 Was Graf Pourtalès in seiner Außensicht bemerkte, entsprach durchaus dem Ansinnen der Kraiburger Festspielinitiatoren. Im Mai 1894 hoffte etwa das Festkomiteemitglied Haberl für die zweite Festspielzeit, »auf daß der patriotische Geist, der aus dem herrlichen Drama Greifs weht, die Liebe u. das Interesse für deutsche Vaterlands-Geschichte, deutschen Sinn u. deutsche Treue wach und rege erhalte«.42 Gerade die Geschichte Kaiser Ludwigs des Bayern bot aufgrund ihrer reichsgeschichtlichen Dimension aus bayerischer Perspektive die Möglichkeit, einer deutschen Nationalgesinnung Ausdruck zu verleihen, respektive eine solche anzuregen. Das Kraiburger Theaterunternehmen lässt sich deshalb als ein Zeugnis der Integration oder zumindest des Integrationswillens Bayerns in das Zweite Deutsche Kaiserreich interpretieren. In der Person des Nürnberger Burggrafen Friedrich von Zollern hob Greif – neben Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen – einen speziellen Protagonisten als deutsche Integrationsfigur hervor, dem in älteren Bearbeitungen des Ludwig-der-Bayer-Stoffes allenfalls eine Nebenrolle zugekommen war.43 Mit der Figur des Nürnberger Burggrafen war Greifs Anspielung auf das deutsche Kaisergeschlecht der Hohenzollern nur allzu offensichtlich. Erst aus dem mit der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs einhergehenden nationalen Pathos, das sich nicht zuletzt auf Preußen erstreckte, erklärt sich einer der zentralen Wortwechsel in Greifs Schauspiel, der zugleich zeigt, wie sehr sich die Treue durch »die Handlung […] als Grundmotiv, gleichsam als die Seele derselben« zieht.44 In diesem Wortwechsel dankt Ludwig der Bayer Friedrich von Zollern für dessen militärische Hilfe in der Schlacht bei Mühldorf mit den Worten: »Dein Leben ist ein Preislied auf die Treue.« Worauf Friedrich von Zollern antwortet: »Die Treue ist des Deutschen höchster Schatz!«45 In der Schlussszene stellt Burg41 | Ebd. Die Beobachtung reichsfreundlicher Tendenzen aus dem oberbayerischen Land diente dem Grafen Pourtalès auch als Ausweis für eine Gegenbewegung zu dem bayerischen ›Partikularismus‹, dem der preußische Geschäftsträger seiner Aussage nach in München allenthalben begegnete. 42 | Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach, unpag. (Eintrag zum Mai 1894). 43 | Neues Münchener Tagblatt 11.6.1892: »Da ist vor Allem der treue Burggraf Friedrich von Zollern (…) eine echt deutsche, kernige Rittergestalt; seine Darstellung bringt das Biderbe [sic!], Treuherzige in jeder Weise zum Ausdruck.« 44 | Corbinian Ettmayr: »Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf. Von Martin Greif«, in: Das Bayerland 3 (1892), S. 606-608, 616-618, hier S. 607. 45 | Greif: Ludwig der Baier, S. 133. Zur Treue als deutscher Tugend: Nikolaus Buschmann: »Die Erfindung der deutschen Treue. Von der semantischen Innovation zur Gefolgschafts-

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graf Friedrich neuerlich fest: »Daß nichts auf Erden höher steht als Treue.« Und wieder greift Ludwig der Bayer das Wort der Treue auf: »Sie möge sich in unserm Volk erhalten/Und kräftigen an diesem Beispiel stets,/Daß sich als wahr erweise Euer Wort:/Die Treue ist des Deutschen höchster Schatz.«46 Im letzten Satz des Schauspiels richtet Ludwig der Bayer die Rede dann unmittelbar an sein Volk und im übertragenen Sinne an das Kraiburger Publikum: »Die Treue hat gesiegt.«47 Klingt diese in Greifs Drama von Friedrich von Zollern und Ludwig dem Bayern mehrmals repetierte Treue-Formel einerseits wie eine triumphale Erinnerung daran, dass der deutsche Sieg gegen Frankreich 1870/71 nur durch die nationale Einigkeit, hier vor allem der Preußen und Bayern, zustande gekommen war, so kommt sie andererseits mit dem Unterton einer Beschwörung daher, die dazu mahnt, den nationalen Zusammenhalt in der Zukunft zu wahren. Versucht man, die mit dem Kraiburger Festspiel verbundene politisch-gesellschaftliche Ordnungsvorstellung inhaltlich noch näher zu bestimmen, stößt man auf eine im Kaiserreich neu auftretende Ideologie des deutschen Volkstums, die sich im vorliegenden Fall aufs engste mit theaterreformerischen Ideen verband.48 Diese Ideologie, die sich in fast allen Rezensionen des fraglichen Festspiels wiederfindet, prägte die zeitgenössischen Vorstellungen eines bayerischen Patriotismus und eines deutschen Nationalismus gleichermaßen. Die Besprechungen erkannten die Volkstümlichkeit zunächst in einem eher beiläufig wirkenden Bereich: in der schauspielerischen Leistung des örtlichen Ensembles. Die Journalisten zeigten sich geradezu ergriffen von dem »naiven Spiel«, von der als »natürlich« empfundenen Schauspielkunst der Laiendarsteller. Das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt des Münchner Boten begeisterte sich, wie »die tüchtigen Kraiburger ihre mit musterhaftem Fleiße gelernten Rollen mit ungekünstelter, der wahren innersten Empfindung entsprossenen Eigenartigkeit und Natürlichkeit«49 spielten. Die Allgemeine Zeitung dankte dem Regisseur Savits dafür, dass er »die Naivetät [sic!] der Empfindung und die rauhe Kraft des Dialekts« seiner Schauspielernovizen nicht angetastet habe.50 Auch die Münchner Neuesten Nachrichten sahen in der laienhaften Darstellung der Kraiburger einen Mangel: »Die eine oder andere eckige Bewegung, falsche Betonung oder unhochdeutsche Aussprache möchte man nicht einmal gebessert und abgeschliffen sehen. Das nähme mit dem Hauch des Urwüchsigen, Volksthümlichen das Beste weg.«51 ideologie«, in: ders./Karl Borromäus Murr (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 75-109. 46 | Ebd., S. 140. 47 | Ebd., S. 142. 48 | Vgl. Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a.M. 1971. 49 | Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt des Münchner Boten 12.6.1892. 50 | Allgemeine Zeitung 7.6.1892, Abendblatt. 51 | Münchner Neueste Nachrichten 6.6.1892, vgl. auch: Münchener Bote für Stadt und Land 8.6.1892; Das Bayerland 5 (1894), Nr. 35/Zweites Blatt, S. I-II.

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Viele Rezensenten sahen den volkstümlichen Charakter, wie sie ihn beim Kraiburger Laienensemble wahrnahmen, in unmittelbarer Korrelation zur Volkstümlichkeit des Festspielautors, die man in seiner Literatur zu vernehmen glaubte. In der Tat hatte Greif versucht, mit einem eintönig-steifen Jambenstil, durch eine sehr narrativ angelegte Erzählweise, durch das Einstreuen gefälliger Dialoge und nicht zuletzt durch eine schlichte Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere seinem Drama »ein volksthümliches naives Colorit« zu verleihen, wie der Rezensent der Preußischen Jahrbücher bemerkte.52 Auch Kosch stellte fest, dass in Greifs Drama »kein Wort zu finden ist, das nicht im Volke gebräuchlich wäre, kein Ausdruck, kein Gedanke, der dem Volksempfinden ferne läge«.53 Die volkstümliche Qualität, die dem Greif’schen Festspiel zuerkannt wurde, blieb jedoch politisch keinesfalls unbestimmt, sondern erhielt eine klare nationale Ausrichtung. So stellte Adolf May (1867-?) fest: Es ist ein Werk, ebenso reich und bedeutend an einer aus dem innersten Gemüt quellender Volkstümlichkeit, wie an vollendeter Bühnentechnik. Da ist keine Schablone, da sind keine Marionetten, das sind wirkliche lebensvolle Gestalten, in denen deutsches Blut fließt, in denen der ewig junge Geist des deutschen Volkes webt. 54

Wie sehr die Rede von der Volkstümlichkeit Greifs sich mit einer nationalistischen Geisteshaltung verbinden konnte, vermittelt der Regisseur des Kraiburger Theaterunternehmens, Jocza Savits, der das fragliche Schauspiel Ludwig der Bayer als ein geradezu herausragendes Zeugnis deutscher Gesinnung pries. »Man kann in jedem Betrachte sagen: ein deutsches Werk. Nicht nur der Stoff ist deutsch, auch die künstlerische Gestaltung, die der Dichter dem Stoffe gegeben hat, ist deutsch im edelsten Sinne.«55 Savits’ aus der Romantik seiner Zeit geschöpftes Lob des Schriftstellers Greif ging indes noch weiter: In der Darstellung der Charaktere, in der Begründung der Willensbetätigung der handelnden Personen, in der Sprache, in der Verknüpfung und Lösung der interessanten und fesselnden Handlung offenbart uns der Dichter […] eine Tiefe und Innigkeit deutschen Geistes- und Gemütslebens, wie sie nur einem Dichter aus der Seele fließen kann, der eben auch im Geiste und im Gemüte vollkommen deutsch ist. 56 52 | Preußische Jahrbücher 68 (1891), S. 584-585. Vgl. auch Ettmayr: Ludwig der Bayer, S. 617: »Eben weil unser Stück vor allem für das Volk bestimmt ist, rechnen wir es dem Verfasser als ein besonderes Verdienst an, daß er sich auf den Boden der naiven Volksanschauung gestellt, dem Empfinden des Volkes gemäß romantische Züge in das Schauspiel verwoben und auf Erweckung von Rührung […] das Absehen gerichtet hat«. 53 | Kosch: Martin Greif in seinen Werken, S. 137. 54 | May: Volksschauspiele in Bayern, S. 22. 55 | Savits: Martin Greifs Dramen, S. 16. 56 | Ebd.

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Und, so beschloss Savits seine Eulogie: »Wollte man einem Ausländer mit völliger Klarheit sagen, was deutsches Wesen ist, – man brauchte ihm nur dieses Werk Martin Greif’s in die Hand zu geben.«57 Von der bei Greif konstatierten Volkstümlichkeit erhoffte sich Savits entscheidende Impulse für das deutsche Theater. Zusammen mit anderen Zeitgenossen vertrat er die Meinung, dass es an der Zeit sei, in einer Reform des deutschen Theaters dieses auf sein volkstümliches Wesen zurückzuführen, wie es das Kraiburger Festspiel paradigmatisch vor Augen führte. Als rhetorische Frage formulierte deshalb der ganz für das fragliche Festspiel eingenommene Josef Baumann: Ist das Kraiburger Volksschauspiel der Anfang einer volksthümlichen Kunstübung, in welcher eine weit fortgeschrittene Theater-Technik die Macht ihrer äußeren Mittel ohne ihre Schwächen mit einem ursprünglichen und aus der schöpferischen Tiefe des Volkes aufsteigenden Gestaltungstrieb vereinen könnte?58

Baumann sah im Kraiburger Festspiel nicht nur einen Beleg für ein »in den verschiedensten Theilen Deutschlands« zu erkennendes »Wiedererwachen der Lust des Volkes an dramatischer Bethätigung«, wie es sich seit der Jahrhundertmitte vor allem in der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Oberammergauer, aber auch andere Passionsspiele ausdrückte.59 Das Kraiburger Stück würde doch »einen neuen Weg« eröffnen, »auf welchem mit der Gunst der Zeit und der Einsicht aufrichtiger und thatkräftiger Kunstfreunde wohl ein kräftiger Aufschwung volksthümlicher Kunst zu erwarten wäre«.60 So schöpfte Baumann in Kraiburg »Hoffnung auf eine Besserung der Lage der ganzen dramatischen Kunst in Deutschland«.61 Die Hoffnungen auf eine Erneuerung der dramatischen Kunst in Deutschland waren aufs engste verknüpft mit einer Kritik am bestehenden Theater. In seinem bühnentheoretischen Werk Von der Absicht des Dramas brachte Savits diese Kritik beispielhaft zum Ausdruck.62 Darin griff er das Theaterspiel seiner Zeit an, das »keine Angelegenheit des Volkstums« mehr sei, sondern »trotz der enormen Summen, die zu seiner Erhaltung und Entfaltung verwendet werden, zu einem äußerlichen Repräsentations- und Luxusinstitut, zu einer vielfach leichtfertigen, im kulturellen Sinne nicht belanglosen, sondern sehr bedenklichen Amüsieranstalt

57 | Ebd., S. 17. Vgl. auch: Braun: Münchner Silhouetten, S. 107: »Ein Volksdichter ist Greif, das heißt ein Dichter des deutschen Volkes. Deutsch im Kern seines Wesens. Man dürfte sagen: einen deutscheren find’st Du nit.« 58 | Marktarchiv Kraiburg, Josef Baumann: Das Volksschauspiel in Kraiburg (20.6.1892). 59 | Ebd.; vgl. François: Oberammergau, S. 274-291. 60 | Ebd. 61 | Ebd. 62 | Vgl. Savits: Von der Absicht des Dramas.

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herabgesunken ist«.63 Als hätte Savits das 1887 erschienene Werk Gemeinschaft und Gesellschaft seines Zeitgenossen Ferdinand Tönnies’ (1855-1936) studiert, konkretisierte er seine Kulturkritik, die sich gegen eine moderne Gesellschaft im Sinne einer bürgerlich-urbanen Zweckgemeinschaft individualistischer Prägung richtete.64 Anstelle von Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff setzte Savits jedoch den Begriff des ›Volkstums‹. Bedroht erschien dem Regisseur – im Banne der »deutsche[n] Ideologie sozialer Harmonie«65 – ein als organisch-natürlich verstandenes Volkstum, das für ihn im Begriff stand, in eine künstlich-mechanische ›Gesellschaft‹ verschiedener sozialer Klassen ohne tieferen Zusammenhalt zu zerfallen. Hinsichtlich der deutschen Bühne des Kaiserreichs lautete deshalb seine Kritik: »Unser gegenwärtiges Theater ist in seiner Gesamtheit nicht volkstümlich, sondern gesellschaftstümlich«.66 »Volkstümlich oder der Volkssitte entsprechend«, konnte für Savits ein Theater nicht sein, »das in der Mehrheit seines Repertoires Stücke aufweist, meist fremdländischen Gepräges und Ursprungs«.67 Wandte sich Savits in seiner national-chauvinistischen Kritik gegen die zahlreichen »Stücke französischen Ursprungs sehr niedriger Gattung«, mit denen er das deutsche Theater »überschwemmt« sah, besaß seine Anklage obendrein eine klare antibürgerliche und antikapitalistische Stoßrichtung.68 So griff der Regisseur die seiner Meinung nach »pomphaften und prunkvollen Inszenierungen und Darstellungen« an, die er »der heftig auftretenden, aber ebenso rasch wechselnden und verfließenden literarischen Modeanschauung einer zumeist großstädtisch-plutokratischen Neigung nach Sensation oder Repräsentation« zuordnete.69 Die Kritik Savits’ am bestehenden Theater entstammte ebenso wie sein auf Volkstümlichkeit setzender Gegenentwurf einem konservativen Antimodernismus, in dessen Zentrum eine großstadtfeindliche Agrarromantik stand.70 Savits selbst zitierte in seiner Naturtheater-Schrift nicht zufällig Jean-Jacques Rousseaus Emile:

63 | Ebd., S. 246. Vgl. auch Viktor Laverrenz: »Volksbühne wider Luxusbühne«, in: Deutsche Volksbühne. Blätter für deutsche Bühnenspiele, Zeitschrift für dramatische Kunst und Litteratur. 1900, S. 6-9. 64 | Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. 65 | Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968, S. 156. 66 | Savits: Von der Absicht des Dramas, S. 379. 67 | Ebd. 68 | Zitate: ebd. 69 | Zitate: ebd. 70 | Vgl. Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindlichkeit, Meisenheim am Glan 1970.

D IE F LUCHT DES T HEATERS VOR DER M ETROPOLE Die Städte sind eine Abgrund für das Menschengeschlecht. Nach Verlauf einiger Menschenalter gehen die Stämme unter oder entarten; man muss sie verjüngen, und diese Wiedergeburt erfolgt stets vom Lande aus. Lasset darum eure Kinder hinaus, auf dass sie, sozusagen, sich selbst erneuern und auf dem Lande die Kraft wieder gewinnen, die man in der ungesunden Luft volkreicher Orte verliert.71

In der in Deutschland von Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) prominent vertretenen Agrarromantik figurierte die bäuerliche Lebenswelt, die als schlicht, naiv, organisch-naturgegeben und gesund verklärt wurde, als Remedium gegen die als Bedrohung, Krisis oder gar Krankheit empfundenen Erscheinungen des modernen urbanen Industriezeitalters, das ohne Zweifel mit einem fundamentalen sozioökonomischen Strukturwandel einherging.72 Zum gesellschaftlichen Feindbild geriet den Vertretern dieser Art von Konservatismus insbesondere das großstädtische Bürger- und Literatentum, das die Kunst – wie Riehl sich einmal ausdrückte – zur »Magd der Luxusindustrie«73 herabgewürdigt und zugleich allein seinem ökonomischen Profitstreben unterworfen habe. Überdies stand diese Gesellschaftsschicht unter dem Generalverdacht, mit ihren sozialdemokratischen und internationalistischen Sympathien das deutsche Vaterland zu verraten.74 Reflektierte der agrarromantisch gefasste ›Volksbegriff‹ zwar eine deutliche Aufwertung ländlicher Unterschichten, die zuvor als Kulturträger oder auch als politische Subjekte über Jahrhunderte gar nicht wahrgenommen worden waren, ging er jedoch mit einer klaren semantischen Reduktion einher, die sich allein auf ländlichbäuerliche (Unter-)Schichten bezog, das städtische Proletariat indes ausschloss.75 Obgleich in der ersten Kraiburger Festspielsaison weder von Seiten der Verantwortlichen noch von Seiten der Rezensenten der Begriff ›Heimat‹ eigens bemüht wurde, enthält die diesem Theaterprojekt zu Grunde liegende Geisteshaltung nahezu alle ideologischen Elemente der in jenen Jahren entstehenden Heimatschutz-

71 | Jocza Savits: Das Naturtheater. Eine Studie. Mit besonderer Berücksichtigung der Naturtheater in Thale am Harz und in Hertenstein bei Luzern, München 1909, S. 39. 72 | Vgl. Andrea Zinnecker: Romantik, Rock und Kamisol. Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich – die Riehl-Rezeption, Münster u.a. 1996; Hans Schleier: »Kulturgeschichte als Volkskunde von Volksgeist und Brauchtum: Wilhelm Heinrich Riehl«, in: ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, Bd. I/2, Waltrop 2003, S. 813-841. 73 | Zit.n. Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindlichkeit, S. 44. 74 | Vgl. Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a.M. 1973; ders./Peter Brandt: ›Vaterlandslose Gesellen‹. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992. 75 | Vgl. Hermann Bausinger: »Volk und Volkstum«, in: Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 6, Tübingen ³1962, Sp. 1434-1435.

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bewegung und der damit einhergehenden Heimatkunstbewegung.76 Zu dieser zivilisationskritisch-konservativen Kulturbewegung, die sich in literarischer Hinsicht gegen den positivistisch veranlagten Naturalismus richtete, gehörte neben der antiurbanistischen Verklärung des unverdorbenen bäuerlichen Landlebens auch die romantische Entdeckung von Natur und Landschaft, die als ein Gegenmodell zu der modernen Welt der Metropolen beschworen wurde. Heinrich Leher (1848-1909), Begründer und Herausgeber der seit 1889 erscheinenden populären Heimatzeitschrift Das Bayerland, zeigte sich anlässlich seines Theaterbesuchs in Kraiburg überrascht über die Schönheit des Ortes, »dieses kleinen, trotz seiner landschaftlichen Reize fast unbekannten Städtchens«.77 Auch der Rezensent der Augsburger Abendzeitung pries das Umland Kraiburgs, »einer Gegend, die an Schönheit und Üppigkeit ihres Gleichen sucht«.78 Ein anderer Zeitschriftenbeitrag sprach von »einer an Sommerpracht unvergleichlichen Gegend, und wenige Schritte von dem stolzen Inn entfernt«.79 Die Entdeckung und Würdigung der landschaftlichen Reize Kraiburgs verknüpfen das dortige Theaterunternehmen nicht zuletzt mit der Geschichte des Fremdenverkehrs, der sich in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs – einhergehend mit der wachsenden Eisenbahnerschließung – zu einem neuen wirtschaftlichen Faktor für die oberbayerische Landbevölkerung entwickeln sollte. Obwohl die Rezensenten die Kraiburger Theateraktivitäten gerne als selbstlose, »nur auf ideale Zwecke« abzielende Bestrebungen deuten wollten,80 brachten die zahlreichen Festgäste mit dem Fremdenverkehr auch einen gewissen Profit in den Marktort am Inn, der erst 1876 eine eigene Bahnstation erhalten hatte. Und obwohl bei der ursprünglichen Festspielinitiative des Landrates Riedl gerne patriotische Beweggründe in den Vordergrund gestellt wurden, steht doch zu vermuten, dass in dessen Überlegungen der zu erwartende Fremdenverkehr durchaus eine Rolle gespielt hat. Denn Riedl selbst, der in Kraiburg eine Brauerei und eine Gastwirtschaft besaß, machte zweifellos ein – mehr oder weniger – einträgliches Geschäft mit den Festspielgästen. Aus der Perspektive der Heimatschutzbewegung jedoch bedeutete der städtische Ausflug in die bayerische Landschaft mehr als eine bloße Landpartie: nämlich 76 | Vgl. Andreas Knaut: »›Diese unselige Nachahmung städtischen Wesens‹. Aspekte des Heimatschutzes in Bayern bis 1918«, in: Katharina Weigand (Hg.): Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert, Vorstellungen und Wirklichkeiten, München 1997, S. 245-261; Edeltraud Klueting (Hg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991. 77 | Neues Münchener Tagblatt 11.6.1892. 78 | Augsburger Abendzeitung 7.6.1892. 79 | Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 7 (1892), S. 954-955. 80 | Marktarchiv Kraiburg, Alex Braun: Das Volksschauspiel in Kraiburg am Inn. Mit Original-Illustrationen von Arpad Schmidhammer, 1894.

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das Aufspüren der eigenen historisch-volkstümlichen Wurzeln – ein kultureller Suchvorgang, der die Region der Herkunft erst eigentlich in die eigene Heimat verwandelte. Die Attraktivität Kraiburgs als heimatlicher Boden wurde durch die geographische Nähe zum mittelalterlichen Schlachtfeld von Mühldorf/Ampfing deutlich gesteigert – ein historisch-landschaftlicher Konnex, den auch der anlässlich des Festspieles veröffentlichte Führer über das Schlachtfeld Ampfing-Mühldorf nebst Kraiburg und Umgebung81 ins Bewusstsein hob. Mit den Aufführungen von Greifs Ludwig dem Bayern in Kraiburg nächst dem Schlachtfeld von 1322 verband sich die Vorstellung einer authentischen historischen Theaterkulisse. Was mehr noch bei den im Kaiserreich neu entstehenden Natur- respektive Freilichtbühnen zum Tragen kam, nämlich die – von Savits an anderer Stelle ausdrücklich befürwortete – Inszenierung volkstümlich-vaterländischer Theateraufführungen inmitten vaterländischer Natur,82 war zunächst auch in Kraiburg intendiert, auch wenn man sich dort letztlich dazu entschied, einen von den Fährnissen der Witterung unbeeinträchtigten Theaterbau zu errichten.83 Savits stellte seine Kraiburger Ludwig-derBayer-Inszenierung in eine Reihe mit Ernst Wachlers 1903 erstmals veranstaltetem Bergfestspiel, das auf einer Freilichtbühne bei Thale im Harz stattfand.84 Aus der Sicht der lokalen Theatermacher bot die heimatliche Nähe zum Mühldorfer Schlachtfeld demnach nicht einen zufälligen lokalen Anlass für das Festspiel, sondern verwandelte das so nahe am Ort des historischen Geschehens liegende Kraiburg in einen gleichsam kultischen Raum, der es im Sinne des Festspielgedankens erlaubte, die ruhmreiche Geschichte im gemeinsamen Erlebnis von Schauspielern und Zuschauern zu vergegenwärtigen.85 In der Gattung des Festspiels ging es um nichts weniger als um den utopischen Versuch, über den Bruch der Zeit hinweg eine heroische Vergangenheit in der Gegenwart theatralisch zu wiederholen, »die Geschichte zum Drama, zur angeschauten Gegenwart« werden zu lassen, wie der Münchner Pfarrer und Schriftsteller Corbinian Ettmayr 81 | Friedrich Teicher: Führer über das Schlachtfeld Ampfing-Mühldorf nebst Kraiburg und Umgebung. Mit einer Abbildung, einer Skizze und einer Karte, Mühldorf 1892. 82 | Savits: Das Naturtheater. 83 | In Bayern bot sich insbesondere die Luisenburg mit seinem 1890 zum ersten Mal gegebenen Bergfestspiel Ludwig Hackers als Naturbühne als Vergleich mit dem Kraiburger Festspiel an. Vgl. Alois John: »Das Bergfestspiel auf der Luisenburg im Fichtelgebirge«, in: Literarisches Jahrbuch. Central-Organ für die wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Interessen Nordwest-Böhmens und der deutschen Grenzlande 3 (1893), S. 34-42, hier S. 35. Vgl. allgemein Brigitte Schöpel: ›Naturtheater‹. Studien zum Theater unter freiem Himmel in Südwestdeutschland, o.O. 1965; Uwe Puschner: »Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater«, in: ders./ Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur ›Völkischen Bewegung‹ 1871-1918, München 1996, S. 762-796. 84 | Savits: Von der Absicht des Dramas, S. 242-243; ders.: Das Naturtheater. 85 | Vgl. Moser: »Patriotische und historische Festspiele«, S. 50-72.

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(1840-1904) im Bayerland formulierte.86 Ähnlich konstatierte die Kultur- und Theaterjournalistin Alex Braun (1858-1935): »In herzbewegender Natürlichkeit vergegenwärtigt hier das Volk dem Volke die dem heimatlichen Boden entstammenden Ruhmesthaten der Vergangenheit zu ›Ehr und Vorbild‹.«87 Beim Kraiburger Festspiel ging es demnach nicht um die Darstellung irgendeines fiktionalen Stoffes, den auch das berufsmäßige Schauspielensemble eines Repertoiretheaters glaubhaft hätte darbieten können. Es ging vielmehr um das nachvollziehbare Erleben einer einmaligen vaterländischen Historie, was – so die Vorstellung – nur Darsteller zu leisten imstande waren, die selbst aus dem als urtümlich gedachten Volk stammten. Denn allein solchen, aus der Mitte des Volkes kommenden Schauspielern, die als zeitgenössische Bürgen einer als überzeitliche Größe gedachten Volksseele gesehen wurden, traute man zu, ein volkstümliches Sujet authentisch vermitteln zu können. In diesem Sinne formulierte Braun mit Blick auf die »urtümliche« schauspielerische Leistung der Kraiburger Laiendarsteller, dass sie die dramatische Handlung nicht »als Erdichtetes, sondern als Erlebtes«88 vor Augen führten. Deshalb stellten die Kraiburger Schauspieler, auch wenn sie in historische Rollen schlüpften, eigentlich nur sich selbst als Exponenten eines über Jahrhunderte kontinuierlichen Volkstums dar. In der Illusion des Festspiels fiel die Differenz zwischen Schauspiel und Wirklichkeit hinweg. Der Eindruck Brauns führt letztlich eine ideologische Konstellation vor Augen, die nur als Wahrnehmungsgeschichte des Kraiburger Festspiels hinlänglich erklärt werden kann. Denn bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die allermeisten Rezensionen des Kraiburger Festspiels weniger eine volkstümliche Wirklichkeit vor Ort wiedergaben als vielmehr die Wahrnehmungsdispositionen ihrer Beobachter. So erweisen sich die genannten Wahrnehmungen des Festspiels letztlich als eine komplexe kulturelle Projektion von bürgerlichen Schriftstellern und Journalisten, die zumeist aus München kamen – eine Projektion, die allerdings die lokalen Festspielverantwortlichen gerne bestätigten. Während Letztere die Rolle von kulturellen Mediatoren zwischen Stadt und Land, zwischen Metropole und Provinz, übernahmen, wirkten andere Projektbeteiligte wie der Regisseur Savits aktiv an der besagten städtisch-bürgerlichen Konstruktion mit. Es war der Schriftsteller Oskar Panizza (1853-1921), der als Rezensent der naturalistischen Zeitschrift Die Gesellschaft diese bürgerlich-urbane Projektion in 86 | Vgl. Ettmayr: »Ludwig der Bayer«, S. 607. Ettmayr war auch für das Oberammergauer Passionsspiel sehr eingenommen. Vgl. Corbinian Ettmayr: »Die geistlichen Schauspiele in Bayern und das Oberammergauer Passionsspiel«, in: Das Bayerland 1 (1890), S. 344-347, 336-359, 367-371; ders.: Das Oberammergauer Passionsspiel auf Grund des offiziellen Gesamttextes in seinen Vorbildern und Handlungen, Oberammergau 1900. 87 | Braun: Das Volksschauspiel in Kraiburg am Inn. Die Rede von »zu Ehr und Vorbild« spielt auf das Motto des von König Maximilian II. 1855 gegründeten Bayerischen Nationalmuseums an. Vgl. auch Braun: Münchner Silhouetten, S. 107-117. 88 | Braun: Das Volksschauspiel in Kraiburg am Inn.

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Kraiburg am hellsichtigsten erkannte.89 Panizza, Mitglied der Münchner Gesellschaft für modernes Leben und Vertreter einer literarischen Moderne, sympathisierte durchaus mit einer bäuerlichen Volkskultur wie etwa dem Oberammergauer Passionsspiel oder dem so genannten Haberfeldtreiben und erkannte deshalb den politischen Grundzug von Volkstheaterstücken an, für die sich vor allem das Bildungsbürgertum interessierte.90 Es ist kein Zweifel, der demokratische Zug, der durch unsere Zeit geht und besonders der demokratische Kunstcharakter unserer Zeit, die Vorliebe für das Unverfälschte, Rauhe, Kantige, Naturwahre, hat das Interesse der Gebildeten für diese stellenweise rohen, aber urwüchsigen dramatischen Kraftäußerungen des niederen Volkes außerordentlich gesteigert. 91

Aber, so mahnte Panizza: »Dieses Interesse der Gebildeten birgt für die ursprünglich nur für den Ort selbst oder die nächste Umgebung berechneten volksmäßigen Darstellungen eine große Gefahr: die des Hinneigens zu dem Geschmack der Städter und deren Theater-Einrichtungen.«92 Genau dies sei jedoch in Kraiburg geschehen. Panizza entlarvte das Greif’sche Festspiel letztlich als ein Kunstprodukt, das mitnichten aus dem Volk erwachsen sei. »Idee und Text ihres Schauspiels« sind »nicht aus ihrer Mitte hervorgegangen, sondern die Arbeit eines Kunstdichters: Martin Greif«93 – eines Autors, den doch alle anderen Rezensenten ob seiner eindringlichen Volkstümlichkeit gelobt hatten. Panizza stellte hingegen fest: »Echt ungekünstelt, volksmäßig waren in der ganzen Aufführung nur die ortsansässigen Darsteller, die mit höchst anerkennenswertem Fleiß und Hingabe ihre Parts wiedergaben.«94 Nur, so der Kritiker, […] daß die fortwährend höfisch-städtische Umgebung, die üppig-strahlende Beleuchtung, die nicht zu verwischende Empfindung, in irgend einem Stadttheater zu sitzen, auch 89 | Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 7 (1892), S. 954-955. 90 | Panizza: »Der Teufel im Oberammergauer Passions-Spiel«, S. 997-1022; ders.: »Theater-Coups und Machinationes«, S. 592-614; 806-829; ders.: Das Haberfeldtreiben im bairischen Gebirge. Eine sittengeschichtliche Studie, Berlin 1897. Zu Panizza: Michael Bauer: Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt, München 1984; Peter D. G. Brown: Oskar Panizza. His Life and Works, New York u.a. 1983; Jelavich: Munich and Theatrical Modernism, passim. 91 | Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 7 (1892), S. 954. 92 | Ebd. 93 | Ebd. Neben Panizza war es allein der Berichterstatter der Münchner Stadt-Zeitung, der die Volkstümlichkeit des Kraiburger Festspiels in Frage stellte. Vgl. Münchner StadtZeitung, 25.6.1892. 94 | Die Gesellschaft. Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 7 (1892), S. 955.

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K ARL B ORROMÄUS M URR deren stellenweise linkisches Gebaren und dialektisches Vergehen in einem weit vorwurfsvolleren Lichte erscheinen ließen, als dies auf einer freien, offenen Volksbühne mit rohgezimmerter Fassade der Fall zu sein pflegt, wo im Gegenteil solche Volkslaute und harte Bewegungen den Wahrheitscharakter weit eher bestärken. 95

So erkannte Panizza in dem Kraiburger Festspiel einen in die Irre gehenden Versuch, »das Volksschauspiel auf die Höhe eines Hoftheaters emporzuschrauben«.96 Aus der Perspektive des Naturalismus jedoch, dessen Autoren soziale Elendssituationen der Arbeiterschaft ungeschönt und mit einem gesteigerten Realismus darstellten, gehörte Greif eindeutig einer »vergangenen Kunst-Epoche«97 an. Panizza warf Greif vor, dass dieser in seinem Stück nur Charaktere lieferte, »die alle in Edelmut förmlich untergetaucht sind, historische, angezogene Paradepuppen […] ohne Tragik wie ohne Humor, ohne Haß noch Liebe«.98 Greifs Drama entbehrte der Volkstümlichkeit schließlich auch dadurch, dass es fast ausnahmslos Kaiser, Könige, Fürsten und Ritter, kaum jedoch das einfache Volk als historische Akteure auftreten ließ – welch ein Gegensatz zu den von den Naturalisten literarisch entdeckten Figuren von Arbeiterinnen, Alkoholikern, Zuhältern oder Prostituierten! Anstatt ein sozial wesensfremdes Theaterprojekt auszuführen, riet Panizza dem Kraiburger Landvolk: »Auf eigenen Füßen stehen!«99 Zusammen mit der städtisch-bürgerlichen Projektion entlarvte Panizza die mit dem Kraiburger Festspiel einhergehende Volkstumsideologie, die sich in der Reaktion auf den sozioökonomischen Strukturwandel im Kaiserreich letztlich als eine Flucht ins ländliche Idyll darstellte, als eine Sehnsucht nach Geborgenheit in einer scheinbar noch intakten sozialen Ordnung. Viele der Kraiburger Rezensionen lassen hinter dem überschwänglichen Lob der volkstümlichen Darstellung die Perspektive eines substantiellen Verlustes erahnen, aus der heraus ein sinnsuchendes konservatives Stadtbürgertum einer verloren geglaubten Ursprünglichkeit und Schöpferkraft nachtrauerte. Dieses gebrochene Selbstverständnis ließ das Bürgertum Halt in den kulturellen Äußerungen der ungebildeten Schichten suchen, in denen man den natürlichen Urgrund aller ›wahren‹ Kultur erblickte. Vor diesem Hintergrund erhellt auch die immer wieder ins Auge fallende Außenperspektive der nach Kraiburg gereisten Journalisten, die dort mit einem gleichsam ethnologischen Blick ein sich selbst vollziehendes Volkstum zu beobachten glaubten. Wenn Braun bewunderte, wie in Kraiburg in »herzbewegender Natürlichkeit« das »Volk dem Volke die dem heimatlichen Boden entstammenden Ruhmesthaten der Vergangenheit«100 vergegenwärtigte, so zeugt diese Wahrnehmung letztlich von einer 95 | Ebd. 96 | Ebd. 97 | Ebd., S. 954. 98 | Ebd. 99 | Ebd., S. 955. 100 | Braun

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Position, die sich selbst nicht mehr eins wusste mit dem so sehr bewunderten Volk. Wie leicht sich die journalistischen Besucher des Kraiburger Festspieles zur Verklärung der ländlichen Kultur als vermeintlichen Ausdrucks genuiner Schöpferkraft hinreißen ließen, tritt vor der Folie von Panizzas grundlegender Kritik am deutlichsten hervor. Diesen Journalisten genügten allein volkstümliche Versatzstücke, die sie – beinahe reflexhaft – zur Schlussfolgerung der Volkstümlichkeit des gesamten Unternehmens gelangen ließen. Der bewusst schlicht gehaltene Dramentext Greifs, die kaum zu vermeidende Mundart der Kraiburger Darsteller, deren ›linkische‹ schauspielerische Bewegungen, aber auch der sicherlich vorhandene Enthusiasmus der Mitwirkenden sowie nicht zuletzt die ›Schönheit und Üppigkeit‹ der heimatlichen Landschaft – all diese Elemente dienten als willfährige Authentizitätsbelege deutscher Urtümlichkeit und fügten sich bei den Beobachtern zu einem volkstümlichen Gesamtbild, das kaum in Frage gestellt wurde. Provinzieller Dilettantismus bildete eine wesentliche Voraussetzung des bewunderten Volkstheaters, Professionalismus dagegen stand im Verdacht einer urbanartifiziellen Kultur. Wenn hier in der Analyse des Kraiburger Festspiels von einer »Flucht des Theaters vor der Metropole« die Rede ist, dann wird dies nicht als programmatische Forderung verstanden, die sämtlichen städtischen Bühnen die physische Flucht aufs Land empfohlen hätte, sondern vielmehr als ein theaterreformerisches Experiment, dessen Macher vor der Realität einer als negativ empfundenen Urbanisierung in eine verklärt-heile Volkstumslandschaft flohen, die in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit als Quell der Erneuerung von Kultur und Gesellschaft dienen sollte. So verstanden, speiste sich das Kraiburger Unternehmen aus denselben ideellen Wurzeln wie die von der Heimatkunstbewegung propagierte Naturbühnenbewegung. Deren Vertreter »haben sich« – so Savits – vor der großstädtischen Bühne »in die freie Natur, unter den offenen Himmel geflüchtet und haben ihre Kunst dahin gerettet«.101 Die Wahl des Kraiburger Theaters für den ländlichen Aufführungsort lässt sich – geschichtstheoretisch betrachtet – zudem als eine Flucht vor der Gegenwart der Großstadt verstehen, die mit ihrer rasanten urbanen Entwicklung bei Kulturschaffenden allenthalben das Gefühl der Entfremdung auslöste. Im Gegensatz zur hektisch beschleunigten Großstadtwelt der Gegenwart versprach der Regress in die vaterländische Vergangenheit, die dem steten Wechsel entzogen schien, Halt und Sicherheit jenseits des Getriebes der Zeit. Versucht man jedoch näher zu bestimmen, welches Geschichtsverständnis sich hinter dem volkstümlichen Kraiburger Festspiel verbarg, so begegnet man trotz all seiner historisierenden Elemente einem sehr opaken Bild. Denn in der dort zutage tretenden Ideologie erschien ›Volk‹ letztlich als eine urtümliche Entität, die von mythischer Vorzeit an bis zum 19. Jahrhundert gleich blieb, weshalb auch die Differenz zwischen den Kraiburger Darstellern und ihren mittelalterli101 | Savits: Naturbühne, S. 15.

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chen Schauspielrollen einfach hinwegfallen konnte. So ergibt sich der paradoxe Befund, dass das Kraiburger Festspielunternehmen trotz seines durch und durch historischen Sujets und trotz seiner durchaus anerkennenswerten geschichtsgetreuen Theaterausstattung einen fortgeschrittenen Grad von Dehistorisierung zeigt, die jeglichen geschichtlichen Verlauf in einer auf vage Urtümlichkeit ausgelegten Volkstumsideologie auflöste und dabei jeden Vergangenheitsbezug zur Bestätigung der eigenen Volkstumsidee nutzte. Historische Entwicklung im Sinne etwa einer gesellschaftlichen Emanzipation sollte nicht Gegenstand einer solchen volkstümlichen Geschichtsauffassung sein, die im Kraiburger Fall im historischen Festspiel eine verloren geglaubte Welt zu bewahren und zu erneuern hoffte.102 Ihre wesentlichen Impulse bezogen dieses volkstümliche Geschichtsverständnis und die damit verbundenen theaterreformerischen Ideen aus einem Antimodernismus, der partiell gleichwohl einen gewissen Grad an Modernisierung zuließ. Es würde der Komplexität der Volkstumsideologie nicht gerecht, wenn man bei der Feststellung eines Antimodernismus stehen bliebe. Denn diese Geisteshaltung muss letztlich in ein dialektisches Verhältnis zur Moderne gesetzt werden: Sie ist wie auch das historische Festspiel des Kaiserreichs ein »antimodernes Produkt der Moderne«.103 Der von Harm Klueting herrührende Begriff der »rückwärtsgewandten Fortschrittlichkeit« ist noch besser dazu geeignet, die Ambivalenz der Volkstumsideologie jener Zeit auszudrücken.104 Angesichts der zahlreich erbrachten Belege für die Rückwärtsgewandtheit der fraglichen Ideologie geraten deren moderne Momente nur allzu leicht aus dem Gesichtskreis, passen sie doch nicht in das Bild einer allein in den dunklen Schatten der Rückständigkeit verbannten Volkstümlichkeit. So hatte etwa der genannte Panizza wiederholt auf die modernen Züge einer Theatralität der Volkskultur hingewiesen.105 Auch Savits, der als Regisseur des Kraiburger Festspiels als Exponent einer rückwärtsgewandten Ideologie erschien, erwies sich anderenorts als veritabler Vertreter einer Theater-

102 | Ideologiekritisch sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Volkstumsideologie, wie sie in dem Kraiburger Festspiel seit 1892 aufschien, nicht mehr allzu weit entfernt war von einer völkisch-nationalistischen Denkweise, bei der sich zu Chauvinismus und Militarismus ein Antisemitismus gesellte, der die deutsche Volksgemeinschaft allein auf ihrer »Blutbande« gegründet sah. Die von Savits so gelobte Harzer Freilichtbühne Ernst Wachlers sollte sich schon bald – ganz nach der Vorstellung ihres Gründungsvaters – als eine völkischgermanische Kultstätte etablieren. Vgl. Puschner: »Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte«, S. 762-796. 103 | Vgl. Georg Kreis: »Das Festspiel – ein antimodernes Produkt der Moderne«, in: Engler/ Kreis (Hg.): Das Festspiel, S. 186-208. 104 | Klueting: Antimodernismus und Reform, S. VII. 105 | Vgl. Christopher Balme: »Regionalität, Modernität und Theatralität. Zur Theaterkultur in München um 1900«, in: Zagreber Germanistische Beiträge 3 (1994), S. 13-23, hier S. 15-18.

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moderne, der in seiner Arbeit am Münchner Hof- und Nationaltheater dem Naturalismus wiederholt eine Bühne bot.106 Hinter der für die Moderne durchaus nicht untypischen Dialektik einer ›rückwärtsgewandten Fortschrittlichkeit‹ liegt jedoch noch eine weitere Dialektik verborgen – eine Dialektik von Stadt und Land, die sich vollends erst der jüngeren sozialhistorischen Forschung erschlossen hat. Denn eine plausible Wahrnehmung des Landlebens als einer heilen Welt gründete kausal nicht zuletzt auf dem Phänomen der Urbanisierung selbst, die davon profitierte, dass vor dem Hintergrund des rasant gestiegenen Bevölkerungswachstums zahllose Menschen aus ländlich-unterbürgerlichen Schichten in die Städte zogen. Damit entschärfte die Urbanisierung das soziale Unruhepotential auf dem Land, das doch für eine deutlich wachsende rurale Bevölkerung keine adäquaten wirtschaftlichen Chancen hatte bereitstellen können.107 Die von den Großstadtkritikern so verketzerte Urbanisierung bedeutete in letzter Konsequenz mithin eine Stabilisierung für den ländlichen Raum, den doch dieselben Kritiker als traditionalen Hort kultureller Erneuerung verklärten. Wie sehr die von bürgerlicher Seite in Kraiburg allenthalben beschworene Volkstumsideologie an der wirklichen Situation der dortigen Landbevölkerung vorbeiging, sei abschließend angedeutet. Denn die fundamentale Agrarkrise, die seit 1890 im Gefolge der Handelspolitik von Reichskanzler Leo von Caprivi (18311899) auftrat, führte weite Teile des bayerischen Bauernstandes und der mit ihm verbundenen Gewerbszweige an den existentiellen Abgrund.108 Die Auswirkungen der Krise mussten auch die Gemeinde Kraiburg erschüttern, die als wichtiger Umschlagplatz für agrarische Produkte wie Getreide und Vieh aus dem regionalen Umfeld fungierte. Die Krise jedoch, die in Altbayern tausende mittlerer und kleiner bäuerlicher Betriebe in den Bankrott trieb, weshalb allenthalben auf dem Land die Angst vor dem ökonomischen Ruin und gesellschaftlichen Niedergang umging, fand in dem so volkstümlichen Kraiburger Theaterunternehmen nicht den geringsten Niederschlag. Ob bei den »Landleuten«, die – mehr oder weniger zahlreich – zu den Kraiburger Aufführungen strömten, der Theaterbesuch die politische Unzufriedenheit für einen Augenblick vergessen machte, muss mangels historischer Quellen

106 | Jelavich: Munich and Theatrical Modernism, S. 44-45. 107 | Vgl. Wolfgang Köllmann: »Von der Bürgerstadt zur Regional-›Stadt‹. Über einige Formwandlungen der Stadt in der deutschen Geschichte«, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen Stadtgeschichte, Wuppertal 1978, S. 15-30, hier S. 26. 108 | Vgl. Karl Möckl: Die Prinzregentenzeit. Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern, München/Wien 1972, S. 431-453; Anton Hochberger: Der Bayerische Bauernbund 1893-1914, München 1991, S. 6-48.

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Gegenstand der Spekulation bleiben.109 Der hier festgestellte Widerspruch, wie er sich in den 1890er Jahren zwischen der sozialen Realität der bäuerlichen Bevölkerung und der idealen Gesellschaftsvision der Festspielbühne auftat, verweist letztlich nochmals auf die genuin städtisch-bürgerliche Konstruktion des in Kraiburg so intensiv gepflegten Volkstumsmythos. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Verwerfungen zwischen kultureller, sozialer, politischer und ökonomischer Realität ist das Kraibuger Festspielunternehmen ein sprechendes Zeugnis des erneuerungswilligen urbanen Theaters im Kaiserreich, das sich in München wie in vielen Metropolen Deutschlands respektive Europas auf Reformwege begab – Reformwege, die bei Weitem nicht in eine nur progressive Moderne führten.110

109 | Vgl. Marktarchiv Kraiburg, Theater-Almanach für das Volksschauspiel Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf von Martin Greif, angelegt von Josef Haberl, unpaginiert, worin mehrfach vom Besuch der Vorstellungen durch »Landleute« die Rede ist. 110 | Vgl. Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.

Die temporäre Verdorfung Berlins Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900 Franka Schneider

Am Sonnabend, den 1. Februar 1902, feierten 3582 Personen dichtgedrängt in den Kroll’schen Sälen das allwinterlich stattfindende Kostümfest der Sektion Berlin des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins. In Tracht gekleidet tanzten sie als Bäuerinnen und Bauern, als ›Dearndln‹ und ›Buabn‹ in aufwendig inszenierten Kulissen alpiner Landschaften, tranken und aßen in alpenländischen Wirtshäusern, vergnügten sich auf Rutschbahnen und an Würfelbuden, bestaunten lebende Bilder, Schuhplattler- und Bändertänze, flanierten zum Wasserfall, kauften Postkarten und ließen sich fotografieren. 21.000 Mark, so berichtete die Berliner Morgenpost, hatte die Sektion Berlin in die Dekorationen investiert, und trotzdem konnte sie einen »Festüberschuss« von 2800 Mark an die Sektionskasse abführen.1 Das Alpenfest war ein einträgliches Geschäft und eine Massenveranstaltung – und offensichtlich ein besonderes Ereignis.2 So wunderte sich der Autor oder die Autorin in der Morgenpost: »Bin ich wirklich im königlichen Theater Kroll?«; »Sind das wirklich Berliner, die sich hier verkleidet haben?« – um dann am Schluss bejahend zu kommentieren: Das ist das Alpenfest. Einmal nur im Jahre geht die Berliner Gesellschaft aus sich heraus und beweist, daß sie frisches, junges Blut in den Adern hat. Der Alpenball ist das einzige, richtige Karnevalsvergnügen in feinstem Rahmen, wer ihn einmal mitgemacht hat, liebt ihn und bleibt ihm treu. 3

1 | K.K.: »Vom Alpenfest«, in: Berliner Morgenpost 4.2.1902; Jahresbericht der Sektion Berlin des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1902, S. 120-121. 2 | Das Fest war in den meisten Jahren eine erhebliche Einnahmequelle für den Verein. Spitzenwert war 1903: 15.948,96 Mark, vgl. Jahresbericht der Sektion Berlin 1903, S. 98-99. 3 | K.K.: »Vom Alpenfest«, in: Berliner Morgenpost 4.2.1902.

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Ähnlich behauptete auch die Sektion Berlin selbst, das Winterfest sei »in seiner Eigenart von keinem ähnlichen Unternehmen der Hauptstadt erreicht«.4 1914 meinte die Sektion sogar, sie würde »das Fest von Berlin« ausrichten.5 Der Alpenball als das Fest von Berlin, bei dem die Berliner Gesellschaft aus sich herausging? Behauptet wird hier die Relevanz eines vereinsinternen, bürgerlichen Kostümfestes innerhalb einer großstädtischen Vergnügungslandschaft, das bisher in der kulturhistorischen Forschung urbanen Amüsements kaum Beachtung fand. Um die Herausbildung moderner Populärkultur um 1900 nachzuzeichnen, werden zumeist Vergnügungen wie Varieté, Kino oder Vergnügungsparks betrachtet.6 Das Phänomen Alpenball scheint hier wenig aufschlussreich, weil feiernde Städter und Städterinnen in Tracht auf den ersten Blick wenig modern und in der Großstadt, zumal in Berlin, seltsam deplatziert anmuten. Gleichwohl lohnt ein zweiter Blick auf das Phänomen, denn hier feierte mit dem Bürgertum eine soziale Gruppe, über deren Beziehungen zu populärer Unterhaltung und großstädtischem Vergnügen – abgesehen von kulturkritischen oder avantgardistischen Positionierungen – bisher wenig bekannt ist.7 Im Alpenball verbinden sich außerdem Perspektiven auf bürgerliche Vereinsgeselligkeiten, auf Kostümfeste der Oberschichten, auf den Alpinismus, auf die städtischen Imaginationen und Interpretationen von Trachten, etwa als folkloristischer Bestandteil der bürgerlichen Sommerfrische oder als Bezugspunkt in antimodernistischen, großstadtkritischen Entwürfen einer Volkskultur. Bisherige Forschungen in diesen Bereichen hatten meist eine andere Blickrichtung als auf das städtische Vergnügen. Vor diesem Hintergrund befragt der vorliegende Text8 den Alpenball als eine urbane Vergnügungspraxis. Er beschreibt dabei ein Vergnügen, das mit dem kul4 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1902, S. 120-121. 5 | Mitteilungen der Sektion Berlin des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1914, Nr. 128, S. 6. 6 | Vgl. z.B. Dagmar Kift (Hg.): Kirmes – Kneipe – Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1914), Paderborn 1992; Lisa Kosok/Mathilde Jamin (Hg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende, Essen 1992; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 18501970, Frankfurt a.M. 42007. 7 | Kaspar Maase: »Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900«, in: ders./Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 9-28, hier S. 23. 8 | Der Beitrag fußt auf Überlegungen und ersten empirischen Ergebnissen meiner Doktorarbeit, die sich mit Schauplätzen volkskundlichen Wissens in Berlin am Beispiel der Tracht befasst. Die Doktorarbeit ist eingebettet in das von 2010 bis 2013 geförderte DFG-Projekt »Volkskunde in der Metropole. Die Produktion kultureller Wissensformate und das volkskundliche Wissensmilieu in Berlin (1900-1945)« am Institut für Europäische Ethnologie (HU Berlin). Ich danke Wolfgang Kaschuba, Leonore Scholze-Irrlitz und Sabine Imeri aus dem Projekt, Esther Sabelus, Berlin, Carola Lipp, Torsten Näser und Karin Bürkert, Göt-

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turellen Code einer temporären »Verdorfung« arbeitet. Der Terminus Verdorfung bezieht sich auf die Konjunktur großstädtischer Folklore im Wien der Zwanziger Jahre, als die Stadt unter anderem von Trachtenvereinen mit Ländlichem, Volkstümlichem und Provinziellem überzogen wurde.9 Während sich Verdorfung auf die räumlich-ästhetische Umgestaltung und performative Nutzung urbaner Orte als Dorf bezieht, beschreiben Amália Kerekes und Katalin Teller in diesem Band mit der ›peripheren Urbanisierung‹ ein anders gelagertes, aber durchaus verwandtes Phänomen: Der Wiener Prater und das Budapester Stadtwäldchen bildeten topographisch Randgebiete und wurden als Inseln wahrgenommen, sie waren jedoch zugleich zentrale Orte in beiden Städten, etwa als Areale politischer Massenversammlungen. Beide Begrifflichkeiten, Verdorfung und periphere Urbanisierung zielen darauf ab, Vergnügen in der Metropole nicht vom Zentrum aus, sondern als Relation von Zentrum und Peripherie zu denken. Verdorfung meint dabei vor allem die Entwürfe kultureller Gegenwelten zur Großstadt der Moderne. Ich nutze den Begriff hier, um das kontrastive Prinzip zu beschreiben, das auf dem Alpenball zur Geltung kam. In diesem Sinne lässt er sich als ein Fest charakterisieren, dessen Haupterzählung und -inszenierung aus einer temporären Verdorfung bestand. Die Großstadt beziehungsweise das Großstädtische war dabei als Bezugspunkt, Vorstellungsraum und Erfahrungsdimension stets anwesend. Dies zeigte sich zum einen anhand der räumlichen-ästhetischen Gestaltung der urbanen Veranstaltungsorte als Dorf, die sich als Inszenierung einer ZentrumPeripherie-Topographie und als urbanes Spektakel charakterisieren lässt. Zum anderen nutzte das hier feiernde Bürgertum den Alpenball als Möglichkeit einer sozialen In- und Exklusion. Die restriktive Einlasspolitik schuf einen Raum bürgerlicher Distinktion und zugleich einen Raum sozialer Nähe, in dem nicht großstädtische Fremde, sondern einander ideell und habituell Vertraute aufeinandertreffen sollten. Und nicht zuletzt bestand das Vergnügen auf dem Alpenball aus der performativen Ausgestaltung des kontrastiven Prinzips. Hier setzten Berliner und Berlinerinnen, in Trachten tanzend, ihre Vorstellungen alpiner Geselligkeit um. Dabei offenbarte sich eine dem Alpenball prinzipiell inhärente Spannung von großstadtfeindlicher Programmatik und urbaner Vergnügungskultur, die in ihrer Wirkung einen Anteil an der Auseinandersetzung bürgerlicher Akteure mit urbanen Lebenswelten hatte.

tingen, sowie Tobias Becker, Anna Littmann und Johanna Niedbalski für die produktiven Diskussionen und hilfreichen Anmerkungen zu Text und Thema. 9 | Reinhard Johler/Herbert Nikitsch/Bernhard Tschofen: Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie, Wien 1995, S. 168. Der Terminus selbst stammt vom Literaten Hugo Bettauer, vgl. ebd., S. 36-37.

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I NSZENIERUNG ALPINER D ORFL ANDSCHAF TEN IN DER G ROSSSTADT Beim Alpenfest handelte es sich um ein für bürgerliche Vereine des 19. Jahrhunderts typisches Stiftungsfest, mit dem die Mitglieder feierlich die Gründung der Sektion Berlin begingen. Die Sektion war 1869 gegründet worden und gehörte als eigenständiger Verein dem Gesamtverband des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins (DÖAV) an, zu dem sich 1873 der Österreichische Alpenverein (gegründet 1862) und der Deutsche Alpenverein (gegründet 1869) zusammengeschlossen hatten.10 Die Sektion Berlin verschrieb sich, wie der Gesamtverband und andere lokale Sektionen auch, der Erschließung und Erhaltung der Alpen, der Verbreitung des Wissens über die Alpen und der Förderung ihres (touristischen) Besuchs sowie der Pflege der alpinen Geselligkeit und Kultur.11 Zu einer solchen Pflege gehörte auch das Alpenfest, das als ein Vereinsfest die Kommunikation und Geselligkeit der Mitglieder untereinander fördern sollte. Die jährlichen Stiftungsfeste feierte der Verein anfangs ohne Kostümierung, zum Programm gehörten Gesangsvorträge und die Aufführung selbst geschriebener ›Schwänke‹ mit Alpensujet.12 Das Alpenfest in der eingangs beschriebenen Weise fand regelmäßig erst seit 1885 statt, zuerst in den Räumen des Architektenhauses in der Wilhelmstraße 92/93, das häufig von Vereinen als Versammlungs- und Ausstellungsort genutzt wurde. Seit 1887 wurde das Fest überwiegend in den Kroll’schen Sälen veranstaltet, die seit 1844 im Tiergarten bestanden. Vor dem Brandenburger Tor lag Kroll im Grünen und war damit als ein sich zumindest optisch außerhalb der Stadt befindender Ort eine ideale Aufführungsstätte des Alpenballs. Außerdem waren die Säle auch ein weithin bekannter Vergnügungsort mit einem vielseitigen Angebot, das ein Publikum aus verschiedenen sozialen Schichten ansprach. Kroll war eine Spielstätte für Opern, Konzerte, Schwänke, Possen und Lustspiele, ein Veranstaltungsort für Ausstellungen, Kongresse und 10 | Vgl. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Section Berlin des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins am 9. Dezember 1894, Berlin 1894 [Selbstverlag der Sektion], S. 9-40 sowie zum Gesamtverein: vgl. Anneliese Gidl: Alpenverein. Die Städter entdecken die Alpen, Wien 2007, S. 67-79. 11 | Die Vereinsprogrammatik und -arbeit des Gesamtverbandes prägten die großstädtischen Sektionen München, Prag, Wien (Austria), Hamburg und Berlin. Überdies überwogen in Anzahl, Mitgliedsstärke und Kontinuität die »Flachlandsektionen«, wie Sektionen mit Sitz außerhalb oder fernab der Alpen vereinsintern genannt wurden: 1909 waren dies immerhin 72 % des Gesamtverbandes. Gidl, Alpenverein, S. 84. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt darauf, dass sich der Alpenverein nicht als ein Verein für Bergsteiger verstand, sondern alle Alpenbegeisterten ansprechen wollte. Großstädtische Sektionen wie die Sektion Berlin, die weit entfernt von den Alpen lagen, waren also kein ungewöhnliches Phänomen im Alpenverein. 12 | Festschrift zum 25jährigen Bestehen, S. 22-24. Lediglich das zehnjährige Stiftungsfest 1880 wurde als Kostümfest gefeiert.

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Tagungen sowie ein bekanntes Ballhaus, in dem nicht nur der Alpenverein seine Feste feierte. Zudem bot Kroll für den Alpenverein mehr Platz als das Architektenhaus, und seine Flächen ließen sich durch Anbauten längs der Fassade sogar noch erweitern.13 1912 gab der Verein die Kroll’schen Säle auf, weil es hieß, sie würden abgerissen. Der Ball zog nun um auf die andere Seite des Tiergartens, in das neue Restaurationsgebäude im Zoologischen Garten. Das Fest fand also weiterhin an einem Ort zwischen Stadt und Natur statt: Der Zoo verkörperte als grüne Oase und Raum geordneter Natur, so Christina Wessely, das Andere der Stadt und war doch ein zutiefst urbaner Ort. Denn ebenso wie Kroll gehörte der Zoo zu den beliebtesten Vergnügungsorten Berlins. Der Garten zeigte nicht nur Tiere und lud zum Spaziergang ein. Hier fanden auch ›Völkerschauen‹, Konzerte und Feuerwerke statt. Es gab einen optischen Salon, im Winter einen Eislaufplatz, eine Fahrradhalle, Musikpavillons, eine Kaffeehalle, eine Kinderspielhalle sowie ein Gartenlokal für »bescheidenere Ansprüche« und ein Restaurant für das »elegantere Publikum«, in dem 1897 die Firma Siemens ihr Jubiläum und nach 1900 die Berliner Techniker, Juristen und Ärzte ihre Vereinsfeste feierten. Vor allem wegen der Restaurationsbetriebe war der Zoo in zeitgenössischen Augen die »populärste Erholungsstätte der Berliner« und das »grösste Vergnügungsetablissement von Berlin«.14 1909/10 wurden die Restaurationsgebäude umgebaut und vor allem erweitert, weil, so ein Bericht über den Neubau in der Zeitschrift Berliner Architekturwelt, die Räumlichkeiten des Zoos für die »größeren und vornehmeren Feste der ›Saison‹ mehr und mehr in Mode kamen«, diese Räume aber nicht mehr der »rastlos anschwellenden Großstadt« entsprachen. »Es fehlte überhaupt«, so der Bericht weiter, […] an Lokalitäten für wirklich weltstädtische Riesenfeste, an Lokalitäten, die für solche Feste auch den gesteigerten kulinarischen Anforderungen genügen konnten. Denn zugleich hatte die Entwicklung eine so breite besitzende Schicht hervorgebracht, die nach einem ›fashionablen‹ Sammelpunkte verlangte, wo man sich hingehörig und das Bewußtsein seines Wertes in großen reellen Zahlen ausgedrückt fühlte, daß auch hier einem dringenden Bedürfnis abgeholfen werden mußte, wenn anders der Garten seine führende Stellung im Vergnügungs- und Verköstigungsleben der Großstadt weiterbehalten wollte.15

Der Bericht brachte die Urbanisierung und den Aufstieg sozialer Gruppen mit dem Umbau urbaner Vergnügungsorte in Zusammenhang. Ihm zufolge benö13 | Auf diese Weise wurde beispielsweise 1902 die Fläche um 1000m 2 erweitert. Mitteilungen der Sektion Berlin 1902, Nr. 22, S. 6. Zum vielseitigen Angebot bei Kroll vgl. Hans J. Reichardt: …bei Kroll 1844 bis 1957. Etablissement, Ausstellungen, Theater, Konzerte, Oper, Reichstag, Gartenlokal, Berlin 1988. 14 | Alle Zitate nach Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 98, vgl. hier auch zum Berliner Zoo als Vergnügungsort S. 96-99. 15 | Die Schriftleitung: »Restaurations- und Saalneubauten im Berliner Zoologischen Garten«, in: Berliner Architekturwelt 14 (1912), S. 253-291, hier S. 253.

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tigten Weltstädte große Veranstaltungsorte mit gehobenem Niveau. Ebenso verlangte das wachsende vermögende Bürgertum nach einem Ort der Identifikation und Zugehörigkeit, ein Ort, der groß genug war, um sich der eigenen Bedeutung als Menge zu vergewissern. Der Alpenball zog damit also an einen Ort, der sowohl weltstädtisch als auch bürgerlich markiert war. Zugleich folgte der Ball mit dem Umzug, obgleich aus der Not geboren, auch einer längst vertrauten Route des vermögenden und gebildeten Bürgertums, das seit 1860 seine Wohnsitze in den Berliner Westen verlegte und damit der sozialen Segregation der Stadt Vorschub leistete.16 Symbolisch mag sich mit dem Umzug also auch eine größere soziale Exklusivität verbunden haben. Für den Alpenverein boten die Räumlichkeiten im Zoo noch einmal mehr Platz als Kroll. Allerdings ging durch die Größe wohl ein wenig Gemütlichkeit verloren und es fanden sich auch immer mehr externe Gäste ein.17 Aus diesen Gründen wollte die Sektion Berlin 1914 das Fest eigentlich ausfallen lassen, sie musste es aber aufgrund finanzieller Verpflichtungen gegenüber der Zoologischen Garten-Betriebsgesellschaft trotzdem veranstalten.18 Dies zeigt nicht zuletzt sehr deutlich, dass Vergnügungsorte wie Kroll oder die Räume im Zoo dem Alpenball eine kommerzielle Grundstruktur gaben, welche auch die Ausgestaltung des Festes mitbedingte. All diese Orte verwandelte der Alpenball in alpine, dörfliche Landschaften. Bereits das erste Fest (1885) gestaltete unter dem Motto »A Hochzeit in die Berg« die Räume des Architektenhauses als Dorf. Es gab einen Tanzplatz »inmitten des Dorfes«, »eine prachtvoll imitierte Bauernstube mit dem Blick auf das Panorama des Schwarzensteingrundes und die Berliner Hütte, das Gasthaus zum ›Feurigen Tatzelwurm‹, Schießstände und Laubenanlagen«. In dieser Kulisse wurden die »eigentümlichen Gebräuche einer oberbayrischen Bauernhochzeit« aufgeführt, die »mit einem von den Hochzeitsgästen flott getanzten Schuhplattler« endeten.19 Auch in den folgenden Jahren wurde nach diesem Schema einer temporären räumlich-ästhetischen Verdorfung verfahren. Die Kulissen alpiner Landschaften wurden dabei immer mit Vergnügungselementen wie Rutschbahnen und Würfelbuden angereichert und immer öfter durch Technologien und Materialien mit demonstrativ moderner Ästhetik ergänzt. Die Sektion richtete ein Fotostudio und eine Postkartenverkaufsstelle ein, inszenierte elektrische Gewitter – die auch »Verdunklung« genannt wurden – und baute einen Wasserfall nach. Diese Elemente mischten sich mit Versatzstücken, die eher auf Belehrung und ›volkstümliche‹ Heimatpflege zielten, wie etwa Ausstellungen, lebende Bilder und Theaterstücke. Auf keinem Fest fehlte die Schuhplattlgruppe, die ihre eingeübten Volkstänze in Originaltrachten aufführte. 16 | Vgl. Heinz Reif (Hg.): Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900, Berlin 2008. 17 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1912, Nr. 112, S. 6. 18 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1913, S. 9. 19 | Festschrift zum 25jährigen Bestehen, S. 24.

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Diese räumlich-ästhetische Verdorfung lässt sich in ihren Bezügen zur Stadt erstens als eine Inszenierung von Zentrum-Peripherie-Topographien und zweitens als ein urbanes Spektakel näher beschreiben. Erstens hatte die Mischung aus Vergnügen und Belehrung in dörflicher Kulisse ihr Vorbild in den ethnographischen Dörfern, die sich seit den Weltausstellungen in Paris 1867 und Wien 1873 als ein Publikumsmagnet erwiesen hatten. Populär waren dabei nicht nur ethnographische Architekturensembles aus Afrika, Amerika und Asien, sondern auch solche Dörfer, die ländliche Bau- und Lebensweisen in Europa, etwa in den Alpen zeigten. Martin Wörner interpretiert die ethnographischen Ensembles als Medien nationaler Selbstdarstellung, als materialisierte Formen kulturpessimistischer Fortschrittskritik und als Ersatzwelten, die vergangene Zeiten, ländliche oder nichteuropäische Räume effektvoll inszenierten.20 Außerdem, darauf weisen Kristin Kopp und Klaus Müller-Richter hin, waren ethnographische Dörfer ein zentraler Modus der Repräsentation von Metropolen. Sie bildeten die reale oder »imaginierte koloniale Topographie von Zentrum-Peripherie« ab und legitimierten jene damit zugleich.21 Die Zurschaustellung des Anderen popularisierte dabei nicht nur die europäische Expansion und Kolonisierung, sie diente auch der großstädtischen Selbstvergewisserung und bekräftigte das Überlegenheitsgefühl des Publikums. Auf populäre Weise verräumlichten ethnographische Dörfer damit dichotome Vorstellungen, welche die europäischen Metropolen als Zentren von Zivilisation und Moderne in den Gegensatz zum Primitiven und Traditionalen der kolonialen oder ländlichen Peripherien setzten. Auch in den Inszenierungen der Dorflandschaften durch die Sektion Berlin haben sich die Bedeutungsgehalte der »topographischen Antagonismen, welche die Großstadt in einem geopolitischen und geo-ästhetischen Horizont verorten«, eingeschrieben.22 Deutlich wird dies insbesondere am Ausstellungsbeitrag »Zillerthal in Berlin«, mit dem sich die Sektion, ihre Erfahrung in der Ausgestaltung des Alpenfestes nutzend, an der Berliner Gewerbeausstellung im Jahr 1896 be20 | Martin Wörner: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851-1900, Münster 1999, S. 49-144, insbes. S. 114-123. 21 | Kristin Kopp/Klaus Müller-Richter: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart 2004, S. 5-28, hier S. 11. Zum ›Metropolitanism‹, mit dem sich Großstädte als Metropolen imaginierten und räumlich umgestalteten, vgl. Robert Rotenburg: »Metropolitanism and the Transformation of Urban Space in Nineteenth-Century Colonial Metropolis«, in: American Anthropolist 103 (2001), Heft 1, S. 7-15. Zur metropolitanen Diskursivierung und Repräsentation der kolonialen Peripherie innerhalb der Ethnologie vgl. Arjun Appadurai: »Theory in Anthropology. Center and Periphery«, in: Comparative Studies in Society and History 28 (1986), Heft 2, S. 356-361. Auch in der Gestaltung des Königsplatzes in Berlin, an dem Kroll lag, hat sich das Verhältnis von Metropole und kolonialer Peripherie eingeschrieben, vgl. den Beitrag von Tim Opitz in diesem Band. 22 | Kopp/Müller-Richter: »Einleitung«, S. 8.

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teiligte. Der Ausstellungsbeitrag bot ein aus über 2500 m2 Leinwand bestehendes Alpenpanorama mit einem schlossartigen Tiroler Haus, das Felskonstruktionen in Rabitzbauweise ergänzten und an dem die Besucher und Besucherinnen mit einer elektrisch angetriebenen Seilbahn entlangfahren konnten.23 Das »Zillerthal in Berlin« sollte den Erfolg von »Berlin im Zillerthal« zeigen und bekannt machen.24 Das Wortspiel verweist auf eine Form der Verräumlichung,25 mit der die Metropole ins Verhältnis zur Peripherie gesetzt wurde. »Berlin im Zillerthal« bezog sich auf die Aktivitäten der Sektion Berlin im Zillertal, die dort unter anderem die so genannte Berliner Hütte gebaut hatte.26 Diese Hütte war auch auf dem Alpenpanorama 23 | Die Sektion kooperierte dabei mit dem Berliner Stuckateurbetrieb Boswau & Knauer, der sich auf den Bau von Vergnügungsarchitekturen, insbes. auf begehbare Panoramen spezialisierte. Vgl. Silke Haps: »Vom Faux Terrain zum begehbaren Alpenpanorama. Vergnügungsarchitektur an der Wende zum 20. Jahrhundert«, in: archimaera 3 (Mai 2010: Themenheft Ephemere Architektur), S. 97-107. Zu den prominentesten Besuchern gehörte der Kaiser, vgl. Jahresbericht des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins 1896, S. 9, 149-150. 24 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1896, S. 2. 25 | Verräumlichung wird hier mit Alexander C.T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold als ein »Set kommunikativer Praktiken« verstanden, mit dem Individuen Räume als Gegenstand verhandeln, dabei Räumlichkeit erst produzieren und zugleich ihre Kommunikationsakte verorten, siehe dies.: »Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive«, in: dies. (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 15-49, hier S. 28. 26 | Der Bau und Ausbau von Hütten war im alpinistischen Diskurs ein umstrittener Gegenstand und kreiste darum, wer auf welche Weise die Alpen nutzen und repräsentieren durfte. Vgl. Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840-1940, Baden 2007, S. 13, 179-182. Die 1879 eröffnete Berliner Hütte wurde in diesem Kontext nicht selten als »Schloss« verspottet, denn sie hatte das Aussehen eines schlichten Wanderstützpunktes schnell abgelegt und in mehreren Ausbaustufen den Standard gehobener Hotels, beispielsweise mit Damensalon, Telefonanlage, Dunkelkammer für Fotografen, Kegelbahn, Postamt und Schumacherwerkstatt erhalten. Vgl. DAV Sektion Berlin: 125 Jahre Berliner Hütte (Schriften der DAV Sektion Berlin 1), Berlin 2004. Ihr städtischer, luxuriöser Komfort kam eher den Ansprüchen und Bedürfnissen der Sommerfrische-Touristen und Touristinnen nach und entsprach damit weniger dem asketischen Leistungs-, Eroberungs- und Gefahrenhabitus alpiner Bergsteiger, der Bergsteigen als Männersache definierte, sich dabei aus zeitgenössischen Entwürfen von Männlichkeit speiste und diese wiederum stützte. Vgl. Wirz: Gipfelstürmerinnen. Hier äußert sich allgemein ein Grundwiderspruch zwischen Alpenreisen im Eroberungs- und Gefahrenmodus und als Bildungsform, der im Alpenverein für Konflikte sorgte und auch zeitgenössischen Kommentatoren nicht verborgen blieb, so Georg Simmel: »Alpenreisen«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, Bd. 5, hg. von Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt a.M. 1992, S. 91-95. Zum Komplex der Alpenreisen vgl. Hanns Haas/Robert Hoff-

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abgebildet. Die Hüttenabbildung repräsentierte und vergegenwärtigte einem Berliner Publikum die Eroberung und touristische Erschließung der Alpen, die als ein unberührter und leerer Raum imaginiert wurden. Eine besondere Form, diese räumliche Eroberung der Alpen in der Stadt zu repräsentieren, waren die Nachbauten von Hütten, auf die sich die Alpenfeste in den Folgejahren spezialisieren sollten. 1908 etwa geriet die Ortler-Hochjoch-Hütte zum »Clou« des Festes, weil sie »aussen und innen eine genaue Kopie der Hütte da oben auf dem Hochjoch« darstellte.27 Solche Nachbauten stellten nicht nur eine spezifische Form der Ästhetisierung von Raum in künstlichen Erlebniswelten dar, die genaue Kopie der Hütten bezeugte und authentifizierte auch die raumerschließenden Praktiken des Alpenvereins. Die Begehbarkeit, die physische, sinnliche Präsenz der Hüttenbauten erlaubte einem städtischen Publikum, die alpinen Aktivitäten der Sektion zu besichtigen und performativ nachzuvollziehen. Daneben verweist »Berlin im Zillerthal« auf das konkrete macht- und geopolitische Wettrennen in den Alpen, zu deren räumlicher und ideologischer Inbesitznahme auch der Alpenverein beitrug. Zwar präsentierte sich die Sektion – wie der Dachverband – in Satzungen und Selbstdarstellungen als ein unpolitischer Verein, dessen Programmatik auf die Förderung von Wissenschaft und Tourismus ausgerichtet war. Der Alpenverein beanspruchte jedoch als Gesamtverband, »alle deutschen Stämme« zu vertreten.28 Bereits die Vereinigung des Österreichischen und des Deutschen Alpenvereins war in großdeutscher Rhetorik formuliert und nachfolgende Vereinspublikationen durchzog dieses Motiv. Auch verstand sich der Alpenverein als »mächtiger Förderer deutscher Kulturarbeit«.29 Daher war mit seinen wissenschaftlichen Expeditionen, mit den Vermessungs-, Kartierungs-, Wege- und Hüttenprojekten, dem Ausbau des Rettungs- und Bergführerwesens sowie den Natur- und Heimatschutzaktivitäten immer auch ein »kolonisierendes Element«30 verbunden. Insbesondere in den »deutschen Sprachinseln« im Süden der Alpen zielte die Arbeit des Vereins auf die Ausbreitung und Unterstützung der »deutschen Kultur«.31 Der großdeutsche, nationalistische Impetus war in den Inszenierungen des Alpenfestes vor allem durch deren geografische Lokalisierung präsent: 1914 wurde beispielsweise das Fest symbolisch nach Bozen/Südtirol verlegt und damit auch der Rassismus gegen das ›Welsche‹ und die Bekämpfung der italienischen Nationalbewegung in Südtirol, die der Alpenverein vertrat, in einen

mann/Kurt Luger (Hg.): Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994. 27 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1908, Nr. 75, S. 4. 28 | Mitteilungen des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins 1905, zit.n. Rainer Amstätter: Der Alpinismus. Kultur – Organisation – Politik, Wien 1996, S. 176. 29 | Ebd. 30 | Gidl: Alpenverein, S. 73. 31 | Amstätter: Alpinismus, S. 175-177; Gidl: Alpenverein, S. 320.

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vergnüglichen Rahmen integriert.32 Solche Inszenierungen verweisen darauf, dass die Macht, welche die Metropole in der Peripherie zu entfalten suchte, in der Stadt selbst repräsentiert wurde. Neben der Repräsentation von Zentrum-Peripherie-Topographien weist das Prinzip der räumlich-ästhetischen Verdorfung auf dem Alpenball als ein urbanes Spektakel – und damit zweitens – einen weiteren Bezug zur Stadt auf. Die Inszenierungen von Dorflandschaften, begehbaren Alpenpanoramen, von Bergfahrten und Hütten auf Alpenfest und Gewerbeausstellung waren Teil einer »Kultur des visuellen Vergnügens«.33 Sie stellten »mediale Reisesurrogate« dar, mit der sich die schauende und schaulustige Moderne die Alpen ästhetisch aneignete.34 Als Spektakel wurden sie in der Großstadt erfahren und verarbeitet. Im urbanen Raum entfalteten die inszenierten Dorflandschaften mit Trachten und Tänzen eine ›exotische‹ Wirkung. Ihre Anziehungskraft für ein städtisches Publikum, so lässt sich mit Werner Michael Schwarz feststellen, bestand gerade darin, dass sie Räume des Kontrastes darstellten und dass sie dabei auf kontrollierte Weise »Erfahrungen mit Urbanität und Moderne simulierten und Anschauungsmaterial für Erklärungen und Abgrenzungen lieferten«. Die alpinen Idyllen verhandelten die dynamisierten urbanen Erfahrungen von Unterschieden (Klasse, Geschlecht, Ethnizität), indem sie das Landleben als »Verlängerung, Gegenmodell oder Exilort des eigenen

32 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1914, Nr. 130, S. 6. Vgl. die Position des Alpenvereins zur Frage Südtirols bei Gidl: Alpenverein, S. 323 sowie den Appell an das nationale Empfinden der Mitglieder »Gedenke, dass du ein Deutscher bist!« in den Mitteilungen der Sektion Berlin 1904, Nr. 41, S. 5. Die gesellschaftspolitische Bedeutung solcher Inszenie rungen lässt sich auch an ihrer Anerkennung durch die politischen Eliten in der Metropole ablesen, wie der Besuch des Kaisers auf der Gewerbeausstellung nahelegt. Im Alpenverein fand sich zudem häufig eine Personalunion von Vereinsfunktionären und Regierungsbeamten, vgl. Amstätter: Alpinismus, S. 178. Reinhold von Sydow (1851-1943) beispielsweise war Vorsitzender der Sektion Berlin (1898-1912) sowie des Gesamtverbandes (1912-1928) und von 1908 bis 1918 preußischer Staatsminister (zunächst Reichsschatzamt, dann Handelsministerium). 33 | Werner Michael Schwarz: Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung ›exotischer‹ Menschen. Wien 1870-1910, Wien 2001, S. 17. Zur Repräsentation und Produktion der Stadt auf Weltausstellungen vgl. Alexander C.T. Geppert: »Sites, Cities, Sights: Fin-de Siècle Expositions and the Urban Fabric«, in: Jörn Rüsen (Hg.): Kulturwissenschaftliches Institut im Wissenschaftszentrum NRW: Jahrbuch 2001/2002, Bielefeld 2002, S. 255277. Zur Darstellung von Alt-Berlin vgl. Katja Zelljadt: »Presenting and Consuming the Past. Old Berlin at the Industrial Exhibition of 1896«, in: Journal of Urban History 31 (2005), S. 306-333. 34 | Bernhard Tschofen: Berg – Kultur – Moderne. Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999, S. 201. Vgl. ebd., S. 228-331 für die Herausbildung einer modernen Bergästhetik bzw. S. 192-213 für das Beispiel des neuartigen Schau-Erlebnisses bei Seilbahnfahrten.

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Lebens« thematisierten.35 Dorflandschaften, Trachten und Tänze zeigten Distanz und Differenz zum Urbanen an, waren darin aber zugleich Teil städtischer Kultur und Selbstverständigung. Denn erst in diesem Kontrast zum vermeintlich Ursprünglichen und Traditionalen begründete sich die Modernität der Metropole.36 Die »Binnenexotik«37 des Alpinen eignete sich offenbar auch als Attraktion für zahlreiche andere großstädtische Räume; sie machte das Alpine/Dörfliche zu einem Gegenstand von ökonomischen und von Aufmerksamkeitsstrukturen. Kostümgeschäfte und Warenhäuser, wie die Annonce des Kaufhauses des Westens zeigt (Abb. 18), boten Trachten an und veröffentlichten Trachten-Anzeigen in Tageszeitungen.

Abb. 18: Zeitungsanzeige vom Kaufhaus des Westens im Berliner LokalAnzeiger, 1909. In den Jahresberichten und Mitteilungen der Sektion Berlin annoncierten sie, wie in den abgebildeten Anzeigen (Abb. 19) zu sehen ist, sogar mit direktem Bezug auf das Alpenfest. Sie priesen ihre Trachtenkataloge an und organisierten so genannte Trachtenausstellungen zur unmittelbaren Anschauung des Verkäuflichen, mitunter auch direkt zu den Sitzungen der Sektion Berlin.38 Und manche offerierten Trachten 35 | Schwarz: Anthropologische Spektakel, S. 15. 36 | Vgl. Kristin Kopp/Klaus Müller-Richter (Hg.): Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart 2004. 37 | Der Begriff beschreibt das »Ineinander des Exotischen und Heimatlichen«. Ihn entwickelte Hermann Bausinger mit Bezug auf Internationale Trachtentreffen, siehe Hermann Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart 1961, S. 93. 38 | Siehe bspw. die Anzeigen der Firmen Gustav Steidel und Albert Ehrich sowie des Bazars »Nürnberg«, in: Mitteilungen der Sektion Berlin 1902, Nr. 20, S. 15-16.

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Abb. 19: Werbung von Berliner Trachtengeschäften in den Mitteilungen der Sektion Berlin, 1906.

Abb. 20: Annoncen von Konkurrenzveranstaltungen in der Vossischen Zeitung, 1909.

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als besonderes Geschenk zu Weihnachten. Dieses Anpassen von Werbetexten an aktuelle Ereignisse, so Peter Fritzsche, dieses »Aktuell-Sein« war Teil des urbanen Spektakels.39 Auf die binnenexotische Attraktion des Alpinen rekurrierte auch eine ganze Folge von anderen Festen, wie das »Große Alpenfest ›Holladrio! Ju Hu!‹« in den Terrassen am Halensee, das »Große Bockbier-Fest in den bayrischen Alpen« in der Neuen Welt in der Hasenheide, das »Kirchweihfest in Tirol« im Mozartsaal am Nollendorfplatz oder das »Alpen-Fest: Ein Tag in den Alpen« in den Kroll’schen Sälen (Abb. 20).40 Diese Feste kanzelte die Berliner Sektion als nicht authentisch ab: Deren Veranstalter und Besucher/-innen hätten mit den Alpen und dem Alpenverein so viel zu tun »wie die Dolomiten mit den Müggelbergen«.41 Der Sektion erschienen diese als Nachahmungen und als Konkurrenz. Diese setzten sie offenbar auch unter Druck, beständig neue Überraschungen und immer größere oder aufwendige Bauten zu ersinnen: Gletscherlandschaften mit Eingang zur Felsenhöhle, mit Höhenweg und Blick auf die Gletscher; ein Alpenrosenfeld mit künstlichen Blumen vor einer Schneelandschaft; eine Allee mit echten blühenden Obstbäumen und falschen Vögeln, die durch eine elektrische betriebene Mechanik sangen; Burganlagen mit einem unterirdischen Bergwerk oder eine Eisgrotte, wie sie auch die Berliner Hütte im Zillertal aufzuweisen hatte. Die Sensation des Jahres 1899 war ein elektrischer Aufzug zum Ortler Hochjoch. Das Alpenfest war hierin Teil einer Vergnügungsökonomie, die mit exotischen oder technischen Neuheiten aufwartete, um Aufmerksamkeit zu erhalten, und die mit der »spektakuläre[n] Überbietung sinnlicher Effekte«42 die Schaulust der großstädtischen Menge bediente.

S OZIALE I N - UND E XKLUSION Ein zentrales Element der Inszenierung auf den Alpenfesten bestand in der symbolischen Trennung des städtischen Außenraums vom dörflichen Innenraum. Den Grenzbereich dazwischen markierten beispielsweise Stege, Gatter, ein Matratzenlager, das den sumpfigen Weg zum oberen Zillertal darstellte, oder eine Allee blühender Obstbäume. All diese Elemente bildeten einen räumlichen Übergang vom Eingangsbereich zu den Festsälen. Sie dienten der Einstimmung wie auch der Sicht- und Kostümkontrolle der Gäste. So heißt es zum Alpenfest 1897 bei Kroll: Holdriaho! – Juhu! tönt es dem Eintretenden aus dem tausendstimmigen Gewirr und Geschwirr entgegen. Draußen über den Königsplatz brausen die ersten Frühlingsstürme und 39 | Peter Fritzsche: Als Berlin zur Weltstadt wurde. Presse, Leser und die Inszenierung des Lebens, Berlin 2008, S. 203. 40 | Siehe bspw. die Anzeigen im Berliner Lokalanzeiger vom 17.1.1909 und 2.2.1909. 41 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1908, S. 7. 42 | Kaspar Maase: »Einleitung: Schund und Schönheit«, S. 10.

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F RANKA S CHNEIDER schütteln die regenschweren Zweige der Bäume im Tiergarten, drinnen aber in den Krollschen Festsälen lacht der sonnigste Sommer, dort vergnügt sich eine jubelnde Menge beim Burgfest im schönen Land Tirol. […] Über den Gießbach, der die Alltagswelt der Droschken und Garderoben vom grünen Bergrevier scheidet, führt ein schmaler Steg, auf dem gewissenhafte Mautbeamte obacht geben, daß auch die Vorschrift genau beobachtet wird, welche nur solche Kostüme gestattet, wie sie in einem Hochgebirgsdorf thatsächlich bei einer Kirmeß oder einer andern festlichen Gelegenheit zu sehen sind. 43

Die Gestaltung des Eingangsbereiches als räumliche Grenzziehung zwischen Stadt und Dorf beziehungsweise Gebirge ermöglichte den Besuchern und Besucherinnen einen sinnlichen Übergang zwischen städtischem Alltag und Fest. Unterstützt wurde dies obendrein durch den sinnlichen Gegensatz zwischen winterlichem Draußen und sommerlichem Drinnen. Die Gestaltung des Eingangsbereiches symbolisierte aber auch eine soziale Grenzziehung, denn hier wurde zwischen denen getrennt, die teilnehmen durften, und jenen, denen dieser Übergang versagt blieb.44 Der vorab zu entrichtende Eintrittspreis von sechs Mark für Mitglieder und zwölf beziehungsweise 15 Mark für Gäste schloss nicht finanzkräftige Schichten von vornherein aus.45 Voraussetzung war ebenso die Anschaffung des richtigen Kostüms und die Bereitschaft, dies zu tragen. Wie das oben wiedergegebene Zitat belegt, wurde der Einlass nach einem äußeren, sichtbaren Merkmal, der vorgeschriebenen Tracht, entschieden. Die Kostümkontrollen zählten offenbar zu den Charakteristika des Festes. Sie fehlten daher selten in einer Festberichterstattung und wurden mitunter – siehe die abgebildete Zeichnung aus der Morgenpost von 1899 (Abb. 21) – der Leserschaft auch bildlich vermittelt. Aber auch nicht alle mit Geld und richtiger Tracht kamen auf den Ball. Unumgängliche Voraussetzung war die Mitgliedschaft, denn als Vereinsfest richtete sich der Alpenball primär an die Mitglieder des Vereins und diente deren Kommunikation und Geselligkeit. Die Teilnahme war daher prinzipiell nur Mitgliedern, deren Angehörigen oder den von ihnen eingeladenen Gästen vorbehalten. Die Mitglieder der Sektion Berlin stammten – ähnlich wie im Gesamtverband – vor allem aus dem Bürgertum. Die Durchsicht der Mitgliederlisten in den Jahresberichten von 1891 bis 1911 ergibt folgendes Bild: Es dominierte das Bildungsbürgertum, also Beamte und Akademiker, vor allem Juristen, Ärzte, Lehrer und Pro43 | »Das Alpenfest in Berlin«, in: Vom Fels zum Meer 16 (1897), Bd. 2, Beilage »Der Sammler«, S. 11. 44 | Zur sozialen Bedeutung der Grenze und trennenden Funktion von Übergangsriten vgl. Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990. Zur sozialen Zuordnung und exkludierenden »Rahmung« von Vergnügungen vgl. auch Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 58-59. 45 | Zum Vergleich: Laut einer Anzeige im Berliner Lokal-Anzeiger vom 2.2.1909 kostete der Eintritt des öffentlichen Alpenballes »Ein Tag in den Alpen« bei Kroll drei Mark.

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Abb. 21: Darstellung der Einlasskontrollen und Tanzeinlagen auf dem Alpenball in der Berliner Morgenpost, 1899. fessoren wie der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz (1821-1894), der Geograph und Forschungsreisende Ferdinand von Richthofen (1833-1905) und der Physiker Max Planck (1858-1947). Daneben fanden sich in den Mitgliedslisten einige Künstler, kirchliche Würdenträger und Militärangehörige. Zudem war die soziale Zusammensetzung des Vereins geprägt von einer großen Zahl an mittelständischen Akteuren (vor allem von Apothekern, Kaufleuten und Buchhändlern) sowie von zahlreichen Fabrikanten und Industriellen, darunter die Brauereibesitzer Christoph Groterjan (gest. 1909) und Carl Breithaupt (1865-1927), die Inhaber der auf Gasgeräte und Gasbeleuchtungsanlagen spezialisierten Julius Pintsch AG, Oskar Pintsch (1844-1912) und Julius Karl Pintsch (1847-1912), der Teppichfabrikant Eugen Protzen (1842-1920) und der im Kohlehandel reich gewordene Mäzen Eduard Arnhold (1849-1925). Relativ häufig vertreten waren auch Bankiers: Mitglied der Sektion Berlin waren beispielsweise Georg von Siemens (1839-1901), Ludwig Delbrück (1860-1913), Robert Warschauer (1860-1918), Wilhelm Kopetzky (18471924), Arthur Salomonsohn (1859-1930), Theodor Pincus (gest. 1934) oder Louis Rothschild (1882-1955). Diese Aufzählung verdeutlicht, dass der Sektion Berlin des Alpenvereins einflussreiche Akteure der Berliner Wirtschafts- und Finanzelite beigetreten waren.46 Die Aufzählung zeigt außerdem an, dass viele jüdische Mitglie-

46 | Vgl. Christof Biggeleben: Das ›Bollwerk des Bürgertums‹. Die Berliner Kauf mannschaft 1870-1920, München 2006.

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der in der Sektion aktiv waren und antisemitische Agitationen innerhalb dieser Sektion – zumindest im Kaiserreich – keinen Erfolg hatten.47 Es ist zu vermuten, dass der bürgerlichen Sozialstruktur des Alpenvereins auch die soziale Zusammensetzung des Festes entsprach. Deutlich ist zumindest, dass sich für das Fest ein bürgerliches Berlin engagierte und organisierte. Dem so genannten Festausschuss 1896 gehörten beispielsweise ein Amtsrichter, ein »Regierungsbaumeister« (Baubeamter), ein Architekt, ein Geheimer Hofrat, ein Fabrikant, ein Hoflieferant, ein Kaufmann und ein Oberlehrer an.48 Wichtiger Organisator der Anfangsjahre war der Buchhändler und Verleger Raimund Mitscher (1840-1899), der bei Aufführungen oft selbst auf der Bühne mitwirkte und sich hier »als ein so vorzüglicher Darsteller des alpinen Volkscharakters [zeigte], wie es 47 | Damit nicht einverstanden spaltete sich bereits 1899 eine antisemitische Gruppe ab und gründete die Sektion Mark Brandenburg. In einem wenig versteckten ›Arierparagraphen‹ verfügte sie, dass nur ein »christlich getaufter, deutscher Staatsbürger« Mitglied der Sektion werden durfte. Vgl. Festschrift der Sektion Mark Brandenburg des D. u. Ö. A. V. zum 25jährigen Bestehen, Berlin 1925 sowie Klaus Kundt: »›Juden und Mitglieder der Sektion Donauland unerwünscht‹. Der Deutsche Alpenverein (DAV) hat mit der Aufarbeitung seiner antisemitischen Vergangenheit begonnen«, in: Gedenkstätten Rundbrief 117 (2004), S. 19-28. In den 1920er Jahren gewannen die antisemitischen Sektionen im DÖAV zunehmend an Einfluss. 1921 führte die größte Sektion Österreichs, Austria, den Arierparagrafen ein. Die ausgeschlossenen Mitglieder gründeten daraufhin die Sektion Donauland, die Mitglied im DÖAV wurde, wogegen die antisemitischen Sektionen weiter hetzten. Auf ihren Druck beschloss im Dezember 1924 eine außerordentliche Hauptversammlung des DÖAV den Ausschluss der Sektion Donauland aus dem Gesamtverband. Aus Protest dagegen und gegen das Abstimmungsverhalten ihres eigenen Vertreters auf der Hauptversammlung verließen ca. 600 Mitglieder die Sektion Berlin. Sie gründeten den Deutschen Alpenverein Berlin, der u.a. 1926 im Sportpalast ein alpines Trachtenfest feierte. Vgl. Nachrichten des Alpenvereins Donauland und des Deutschen Alpenvereins Berlin 1926, Nr. 55, S. 13. Ausführlich zum Antisemitismus im Alpenverein und zur »Donaulandaffäre« vgl. Amstätter: Alpinismus, insbes. S. 147-174, 269-314; Nicholas Mailänder: »Die Donaulandaffäre des DuOeAV. Das dunkelste Kapitel unserer Vereinsgeschichte«, in: Panorama 2007, S. 60-62; ders.: »Die Sektion Bayerland, der Antisemitismus und das Naziregime«, in: Der Bayerländer 77 (2005), S. 35-49; Peter Grimm: »Gebeutelt, gebeugt und verboten. Der Weg des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins zwischen den Kriegen«, in: Deutscher Alpenverein. Mitteilungen 39 (1987), Heft 1, S. 4-7 sowie Heft 4, S. 314-317; Martin Achrainer: »›So, jetzt sind wir ganz unter uns!‹ Antisemitismus im Alpenverein«, in: Hanno Loewy/Gerhard Milchram (Hg.): ›Hast du meine Alpen gesehen?‹ Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien in Kooperation mit dem Österreichischen Alpenverein, Hohenems/ Wien 2009, S. 288-317. 48 | Nicht-bürgerliche Ausnahme war ein Rentner, früher Landwirt, Jahresbericht der Sektion Berlin 1896.

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nur durch ein vollkommenes Einleben in die Sitten und Gebräuche des Alpenvolkes zu erreichen möglich ist«. Darüber hinaus machte sich dessen Buchhandlung Mitscher & Röstell (Unter den Linden beziehungsweise Jägerstraße) logistisch um die Herausgabe der Eintrittskarten verdient.49 Eine besondere Rolle bei Festdekoration und Saalschmuck kam den Künstlern und Architekten im Verein zu. Beispiel eines involvierten Architekten ist Friedrich Schwager (1834-1904), der 1861 zum feierlichen Einzug des gekrönten Wilhelms I. die Gestaltung des Alexanderplatzes übernommen hatte und von 1872 bis 1890 das Amt des Ratszimmermeisters beim Berliner Magistrat innehatte. Ihm oblag innerhalb des Vereins die Aufgabe des Hüttenwarts, das heißt, er verantwortete den Bau und Ausbau der Hütten der Sektion in den Alpen, und er leitete die Herstellung der aufwendigen Festdekorationen.50 Beispiele für beteiligte Künstler sind der Landschaftsmaler Joseph Rummelspacher (1852-1921), der vor allem die großflächigen Panoramen gestaltete, sowie der Genremaler und Universitätsprofessor Adolf Schlabitz (1854-1943), der für die Alpenfeste Einlass- und Postkarten entwarf, sowie der Landschaftsmaler Julius Linckelmann (1858-?), der die »Schuhplattl- und Gesangesgruppe« führte.51 Als Geselligkeit diente der Alpenball zunächst der sozialen Integration der Mitglieder in den Verein. Im Vergleich zu Vorträgen, Exkursionen oder Sektionsversammlungen erlaubte er, dass gleichzeitig eine sehr große Mitgliederzahl am Vereinsleben teilnehmen und teilhaben konnte. Außerdem trafen hier jüdische und nichtjüdische Mitglieder, Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, Militärs, Künstler, Kirchen- und Staatsvertreter aufeinander, die zumeist in unterschiedlichen sozialen Räumen agierten. Der Ball besaß damit auch jene Bedeutung, die Georg Simmel der Geselligkeit als »Spielform der Vergesellschaftung« zugeschrieben hat.52 Hier kamen Personen zu einem vergnüglichen Austausch zusammen, bei dem politische und wirtschaftliche Interessen, Unterschiede in Stand, Vermögen und Persönlichkeit zuvorderst suspendiert sein sollten. Auf dem Ball blendete die ›bessere‹ Gesellschaft Berlins ihre Fraktionen und Zerklüftungen aus, erst hier bildete sie sich heraus und bestätigte sich performativ. Der Alpenball ähnelt damit dem

49 | »Nachruf Mitscher«, in: Jahresbericht der Sektion Berlin 1899, S. 3-6; Festschrift zum 25jährigen Bestehen, S. 26. 50 | »Nachruf Schwager«, in: Jahresbericht der Sektion Berlin 1903, S. 1-3. 51 | Vgl. bspw. die Jahresberichte der Sektion Berlin 1921, S. 17; 1923, S. 12; Mitteilungen der Sektion Berlin 1907, Nr. 65, S. 7; 1910, Nr. 94, S. 4. 52 | Georg Simmel: »Soziologie der Geselligkeit«, in ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt a.M. 2001, S. 177-193; vgl. zur Vereinsgeselligkeit zuletzt Klaus Nathaus: Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2009.

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Metropol-Theater, dessen soziale Bedeutung Marline Otte als eine Formation des »tout berlin« interpretiert hat.53 Die Ambivalenz, die der Geselligkeit als Zusammenkunft von »temporär Gleichgestellten«54 dabei innewohnte, lässt sich insbesondere an der Position der Sektion Berlin gegenüber Frauen aufzeigen. Die Sektion Berlin nahm bis 1929 nur Männer als Mitglieder auf.55 Nichtsdestotrotz betätigten sich einige Berlinerinnen aktiv als Mitglied einer Sektion. Sie trafen sich als Berliner Gruppe der österreichischen Sektion Zillertal, die, wie andere Gebirgssektionen im DÖAV auch, keine Zulassungsbeschränkungen gegenüber Frauen erhoben hatte.56 Die gleichberechtigte Mitgliedschaft, die Frauen in der Metropole verschlossen blieb, wurde also in der Peripherie gewährt. Das Alpenfest nun hob den Ausschluss aus dem Vereinsleben temporär auf und trug zur Inklusion der alpenbegeisterten Ehefrauen und Töchter der Sektionsmitglieder bei. Gleichzeitig zementierte das Festvergnügen den Ausschluss auch, weil Frauen nur auf Einladung eines männlichen Sektionsmitglieds auf dem Fest erscheinen konnten. Die auf dem Kriterium der Mitgliedschaft beruhende Vergabe der Eintrittskarten gestaltete das Alpenfest zu einer nichtöffentlichen, exklusiven Veranstaltung. Diese Exklusivität stand jedoch im Widerspruch zur stetig wachsenden Popularität des Alpenballes, der, so die Sektion selbst, zu »den beliebtesten geselligen Veranstaltungen der Hauptstadt« gehörte und der viele Besucher und Besucherinnen anzog.57 Der Alpenball wurde dabei zu einer Massenveranstaltung, und zwar in demselben Maße, wie die Mitgliedszahlen stiegen: Mit 26 Mitgliedern gehörte die Sektion 1869 zunächst zu den kleineren innerhalb des Gesamtverbandes. Zehn Jahre nach der Gründung zählte die Berliner Sektion 147 Mitglieder, nochmals zehn Jahre später (1889) hatte die Sektion bereits 575 Mitglieder. Seit 1891 (804 Mitglieder) gehörte sie zu den größten Sektionen innerhalb des DÖAV (neben den Sektionen München und Austria). Der Zulauf zum Alpenverein war nun enorm. 1893 wurde die 1000er-Marke überschritten, 1898 die 2000er-Marke, 1906 stieg die Zahl der Mitglieder auf über 3000 und pendelte sich bis 1917 auf diesem Niveau ein.58 53 | Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, Cambridge 2006, insbes. S. 205-213. 54 | Nathaus: Organisierte Geselligkeit, S. 15. 55 | Seit 1913 scheiterten mehrere Versuche, auch für Frauen die Sektion Berlin zu öffnen. Erst 1929 wurde Frauen die Mitgliedschaft gestattet, ermöglicht allerdings nur durch den Kompromiss, den Anteil von Frauen auf 25% der Sektion zu begrenzen, vgl. Mitteilungen der Sektion Berlin 1929, Nr. 266. Der Ausschluss von Frauen war in vielen Sektionen lange Zeit üblich, vgl. dazu Wirz: Gipfelstürmerinnen. 56 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1905, Nr. 55, S. 6. 57 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1898, S. 3. 58 | Vgl. die Jahresberichte der Sektion sowie die Festschrift zum 25jährigen Bestehen, Anl. 1.

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Für den Sektionsvorstand war dieser rasante Anstieg der Mitgliedszahlen seit Ende der 1880er Jahre nicht nur auf die wachsende Popularität des Alpinismus zurückzuführen. Er vermutete: Weniger die Affinität zu den Alpen, zum Wandern und Bergsteigen sei der Grund für manchen Berliner, in die Sektion einzutreten, als vielmehr die Teilnahme am Fest, die ja Mitgliedern und deren Gästen vorbehalten war. Diese Strategie beunruhigte den Verein mit Blick auf die Wahrung seiner alpinen Interessen. Um die »›Nur-Festgenossen‹«59 von den wahrhaftigen Alpinisten bei der Mitgliedsaufnahme unterscheiden zu können, führte der Verein 1898 strengere Regeln ein: Vorschlag durch zwei Sektionsmitglieder, Einforderung eines Tourenverzeichnisses, Einziehung von Erkundigung bei Vertrauensmännern des Vorstandes, Vorprüfung durch die Aufnahmekommission des Vorstandes, endlich Beschlussfassung des Vorstandes, danach erst Aufnahme in die der Sektionsversammlung zu unterbreitende Vorschlagsliste und einen Monat später die endgültige Beschlussfassung der Sektion über die Aufnahme.

Der Nachweis zu wandern wurde also zur Aufnahmebedingung. Die aufwendigen Regeln, so hieß es zur Begründung weiter, seien auch deshalb notwendig, weil der Vorstand, […] für die Erhaltung einer gewissen Gleichartigkeit der Mitglieder in Bezug auf Lebensgewohnheiten, Bildung und Taktgefühl Sorge tragen [müsse], damit die zwang- und harmlosen gesellschaftlichen Veranstaltungen, welche die Familien der Sektion vereinigen, nicht durch störende Elemente getrübt werden. 60

Homogenität in der Lebensführung, in Werten und Umgangsweisen (was sich auch auf eingeladene Gäste erstrecken sollte) wurden somit zur Voraussetzung, damit der Charakter des Alpenballs – obgleich Massenveranstaltung – als Familienfest, als »zwang- und harmlose« Zusammenkunft gewährleistet war. Hier sollten nicht Fremde aufeinandertreffen, was als zentrales Merkmal großstädtischer Interaktion gilt, sondern einander ideell und habituell Vertraute. Geschaffen wurde so ein Raum sozialer Nähe, der auf die Anwesenden, auf Umgangsweisen und Feierpraxis prägend wirkte und darin eine Gegenwelt zur anonymen Interaktion in der Großstadt wie zu bürgerlichen Verhaltensstandards darstellte. Durch die restriktive Einlasspolitik bildete das Fest jedoch zugleich einen Raum bürgerlicher Distinktion und war somit mitnichten nur alltagskulturelle Gegenwelt, sondern auch Dependance und Verlängerung sozialstruktureller Hierarchien in Berlin.61 59 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1911, Nr. 103, S. 4. 60 | Jahresbericht der Sektion Berlin 1898, S. 3. 61 | Kaspar Maase hat darauf hingewiesen, dass Feste keinesfalls nur als nichtalltägliche Gegenwelten, sondern auch als Verlängerung des Gewöhnlichen und als Dependancen gesellschaftlicher Strukturen zu kennzeichnen sind, vgl. ders.: »Die Menge als Attraktion

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›Störende Elemente‹ sollten vor der Tür der Festsäle bleiben. Vertraut wurde dabei auf die soziale Kontrolle untereinander sowie auf das Pflichtgefühl dem Verein gegenüber. So heißt es in einem Merkblatt für das Sektionsfest: »Das einführende Mitglied übernimmt für die Gesellschaftsfähigkeit seiner Gäste die volle Verantwortung.«62 Verstöße wurden mitunter schwer geahndet: Beispielsweise musste ein Mitglied, das seine Eintrittskarten an einen Billethändler verkauft hatte, aus dem Verein austreten.63 Das Mitglied hatte damit die Karten in die öffentliche Vergnügungsökonomie eingespeist und der Kontrolle des Vereins entzogen. Das Beispiel verweist auf die grundsätzliche Spannung, in der das Alpenfest zur Öffentlichkeit beziehungsweise zur kommerziellen Vergnügungskultur Berlins stand und die nun abschließend zu erörtern ist.

U RBANE V ERGNÜGEN AM S TADT-L AND -G EGENSAT Z Das Alpenfest der Sektion Berlin war ein urbanes Vergnügen, das auf einem StadtLand-Gegensatz beruhte. Stadtbürger und Stadtbürgerinnen inszenierten hier ihre Vorstellungen eines idealtypischen Dorfes. Ins Spiel kam dabei auch eine antimoderne, antiurbane Programmatik, in der das Dorf beziehungsweise die Dorfkultur als Fundament von Gemeinschaft und Volk, von Heimat und Nation, von Tradition und Konservativität, von Natürlichkeit und Naturhaftigkeit ideologisch aufgewertet und von der kommerziellen, urbanen Kultur abgrenzt waren.64 Das Alpenfest ihrer selbst. Notizen zu ambulatorischen Vergnügungen«, in: Sacha Szabo (Hg.): Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nichtalltäglicher Orte, Bielefeld 2009, S. 13-27. Dies verweist auf die konstitutive Dialektik von Festen, die unter anderem darin besteht, »Regeln zu etablieren, nach denen die Regelhaftigkeit des gesellschaftlichen Alltags befristet außer Kraft gesetzt werden kann, ohne daß die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung dadurch ernsthaft bedroht würde«, so Josef Kopperschmidt: »Zwischen Affirmation und Subversion. Einleitende Bemerkungen zur Theorie und Rhetorik des Festes«, in: ders./Helmut Schanze (Hg.): Fest und Festrhetorik. Zur Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, München 1999, S. 9-21, hier S. 11, [Hervorhebung im Original]. 62 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1909, Nr. 91, S. 7. 63 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1907, Nr. 45, S. 7. Die Eintrittskarten wurden nur über den Verein verteilt. 64 | Und dies, so Wolfgang Kaschuba, bei einem zeitgleichen Wandel der Agrargesellschaft im Zuge von Industrialisierung und gesellschaftlicher Modernisierung, womit Stadt-LandWanderungen, Änderungen der dörflichen Sozialstruktur, Technisierung, Ökonomisierung und symbolische Verbürgerlichung der Dorfkultur einhergingen, vgl. ders.: »Dörfliche Kultur. Ideologie und Wirklichkeit zwischen Reichsgründung und Faschismus«, in: Wolfgang Jacobeit u.a. (Hg.): Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich, Berlin 1990, S. 193-204. In seiner antimodernen, antiurbanen

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kann damit in jenen Typus von bürgerlichen Festen eingereiht werden, der ideologische Überzeugungen – darunter bisweilen dezidiert völkische Positionen65 – demonstrierte und in dem sich dadurch ein bürgerlicher »Gesinnungshabitus« manifestierte.66 Gleichzeitig jedoch verhandelte das Alpenfest als agrarromantischer Gegenentwurf von Stadt stets urbane Identitäten mit und erlangte nur als modernes, populärkulturelles Format Wirksamkeit. Diese dem Alpenfest inhärente Spannung von großstadtfeindlicher Programmatik und urbaner Vergnügungskultur lässt sich an drei Punkten konkretisieren: Sie zeigte sich erstens an der Vorstellung von alpiner Geselligkeit und ihrer Umsetzung auf dem Fest. Damit war offenbar eine spezifische Atmosphäre gemeint, ein spezifischer »Grundton all dieser Feste«.67 Darunter fiel in den Berichten über das Alpenfest die Chiffre des Familiären, die sich auch in Wendungen wie »heitere und gemütliche Vereinigung« oder »anheimelnde Stimmung« wiederfand. Häufig erschien auch die Paarung des Harmlosen und des Zwanglosen (»frohe, harmlose, alpine Stimmung«, »freier und liebenswürdiger Humor«, »zwanglose Fröhlichkeit«, »harmlose Ungebundenheit und alpine Fröhlichkeit«), die eine Steigerung in Nennungen wie »fidel«, »paradiesisch-reine Urwüchsigkeit«, »Trubel«, »Ausgelassenheit« und »schäumende Lebenslust« erhielt. Diese Beschreibungen des Harm- und Zwanglosen, von Ausgelassenheit und Lebenslust deuten darauf hin, dass der Alpenball durch die Exklusion des Nicht-Erwünschten, Fremden, Unmoralischen einen Raum darstellte, in dem sich ein bürgerliches Berlin ganz seiner Vorstellung eines von den Zwecken, Zwängen und Freuden der Moderne befreiten, bäuerlich-ausgelassenen, alpinen Feierns hingab. Doch diese Vorstellung ließ sich auf dem Alpenball offenbar nur bedingt umsetzen. Wie vollkommen waren also die »flüchtige[n] Stunden glücklicher Täuschung«?68 Augenscheinlichste Bedrohung der familiären, dörflichen Harmonie war die Größenordnung des Festes. Als im Jahre 1900 bei Kroll 3297 Personen Programmatik ähnelte der Alpenball dem von Karl Borromäus Murr in diesem Band beschriebenen Kraiburger Volksschauspiel. Vgl. auch Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970, insbes. S. 85-163; Clemens Zimmermann/Jürgen Reulecke: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel u.a. 1999, S. 7-20. 65 | Vgl. das Gedicht in den Mitteilungen der Sektion Berlin 1913, Nr. 127, S. 5-6. 66 | Wolfgang Kaschuba: »Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis«, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995, S. 92-127, hier S. 111; Manfred Hettling/Paul Nolte: »Bürgerliche Feste als symbolische Politik«, in: dies. (Hg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 7-36, hier S. 22. 67 | Festschrift zum 25jährigen Bestehen, S. 25. 68 | »Das Alpenfest in Berlin«, in: Vom Fels zum Meer 16 (1897), Bd. 2, Beilage »Der Sammler«, S. 11.

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feierten, war »das festliche Gedränge etwas sehr stark gewesen«.69 Zumal es nicht alle Gäste verstanden, »den harmlos-fröhlichen Ton richtig anzuschlagen«. Es wurde geklagt über eine »allzu grosse Luschtikeit, vulgo ohrenzerreissenden Lärm«. »Überall, wo man eine Abstellung dieses Missstandes versuchte, zeigte sich, dass die Fidelen allzufidele Gäste waren. Unsere Mitglieder werden daher dringend gebeten, in der Auswahl derjenigen Personen, denen sie Festkarten besorgen, noch vorsichtiger zu sein als bisher […].«70 Hier wurde eine feine Unterscheidung getroffen zwischen alpiner Geselligkeit, wie sie dem Vereinsvorstand vorschwebte, und den Exzessen oder Trivialitäten großstädtischen Vergnügens.71 Weil das Alpenfest aber eine Massenveranstaltung war, ließen sich die Vergnügungspraxis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen – trotz aller gegenteiligen Versuche – nicht gänzlich kontrollieren. Grenzüberschreitungen schrieb der Vorstand daher »fremden Eindringlingen« zu und externalisierte sie damit. So hieß es über das Sektionsfest von 1903, an dem 3982 Personen teilgenommen hatten: Bei dem von Jahr zu Jahr steigenden Zudrang zu dieser Veranstaltung hat die Zulassung der Einführung von Gästen allmählich diesem Feste eine solche Ausdehnung gegeben, das es nahe dran war, sich aus einer heiteren und gemütlichen Vereinigung der Sektionsmitglieder und ihrer Familien zu einem öffentlichen Ball umzugestalten.72

Das Alpenfest der Sektion Berlin sollte kein Ball sein. Die Berliner Bälle und die Ballsaison waren eine medial verhandelte Angelegenheit mit Nachrichtenwert, sie waren Gegenstand von publizistischen und humoristischen Texten, von Bildern und Karikaturen. Paul Lindenberg (1859-1943) beschrieb 1894 in seinem Artikel »Das tanzende Berlin« eine Vielzahl von öffentlichen Kostümfesten und Bällen, die von höfischen, bürgerlichen und proletarischen Kreisen ausgerichtet und die privat, im Verein oder kommerziell organisiert wurden.73 Selbst das »dunkle Berlin« hatte seine eigenen Bälle.74 Daneben entstanden nach 1900 Ballformate wie 69 | Jahresberichte der Sektion Berlin 1900, S. 4. Ähnlich hieß es 1912, es käme zu einem »trotz aller nachbarlichen Menschwärme bisweilen sehr unfreundlichen Drängen bei Kroll«, Mitteilungen der Sektion Berlin 1912, Nr. 112, S. 5. 70 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1900, Nr. 3, S. 4. 71 | Solche Unterscheidungen zwischen großstädtischem Vergnügen und bürgerlicher Geselligkeit waren auch in anderen sozialen Kontexten virulent. Vgl. Alexa Färber: »Vergnügen versus Freude? Die Suche nach einer gemeinsamen Festkultur«, in: Rolf Lindner (Hg.): ›Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land‹. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 129-147. 72 | Jahresberichte der Sektion Berlin 1903, S. 9. 73 | Paul Lindenberg: »Das tanzende Berlin«, in: Berliner Pflaster. Illustrierte Schilderungen aus dem Berliner Leben, 3. umgearbeitete und vermehrte Ausgabe, Berlin 1894, S. 76-89. 74 | A. Br.: »Aus dem Dunklen Berlin. Allerlei Bälle«, in: Berliner Morgenpost 8.2.1899.

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der Böse-Buben-Ball oder der Gesinde-Ball oder dann in den 1920ern der Hofball bei Zille, die eine städtische Tradition von Kostümbällen als modernen Tanzvergnügungen begründeten. Für die Ausgestaltung und Deutung dieser Feste waren die höfischen Balltraditionen der Residenz- beziehungsweise Hauptstadt75 ein wichtiger Bezugs- und Orientierungspunkt; die strengen höfischen Ballreglements wurden jedoch karikiert und zugleich eigene (klein)bürgerliche Verhaltensstandards verspottet.76 Über solche freizügigen Ballformate erlangte Berlin den Ruf als ›Ballhölle‹, was sich nicht nur auf den Verfall der Sitten, sondern auch auf die Menge an Bällen bezog – so wurden in den 1920er Jahren 300 Bälle pro Saison gezählt.77 Solchermaßen zu einem Markenzeichen verdichtet kann der Ball in Berlin, so meine ich, zu jenen performativen Formen wie Theaterstücke, Lokalpossen und Couplets gezählt werden, mit denen sich die Stadtgesellschaft selbst thematisierte – und in denen sie sich selbst feierte.78 Es ist zu vermuten, dass gerade aufgrund dieser Bezüge die Sektion Berlin einer Einordnung des Alpenfestes in den Kontext der Berliner Bälle skeptisch gegenüberstand: Weder sollte ihr Fest den »Zwängen des Ballsaales«79 und damit solchen Reglements unterliegen, die statt Vergnügen die Last der Repräsentation sozialer Ordnung bedeuteten.80 Noch sollte es in die freizügigen, ›allzufidelen‹ Formate umschlagen. Doch ob die Sektion wollte oder nicht, ihr Alpenfest wurde im Kontext der Berliner Bälle verortet. So karikierte Rideamus (Fritz Oliven, 1874-1956) das Alpenfest der Sektion Berlin in seiner mehrfach aufgelegten Satire Berliner Bälle.81 Auch die bereits erwähnten anderen Alpenfeste bei Kroll oder in der Neuen Welt trugen zur Einordnung des Sektionsfestes als Ball bei. In den Augen des Sektionsvorstandes waren diese nicht nur Konkurrenzveranstaltungen, als 75 | Vgl. Rudolf Braun/David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550-1914, München 1993; Monika Fink: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert, Innsbruck/Wien 1996. 76 | Ballreglements spielten hier keine Rolle mehr. Nach der Definition von Fink: Ball, S. 19, handelte es sich deswegen nicht mehr um Bälle im eigentlichen Sinne. Für sie sind solche Tanzveranstaltungen eher ein Zeichen für den »Verfall der Ballkultur« Ende des 19. Jahrhunderts, ebd., S. 215. 77 | Felix Henseleit (Hg.): Berliner Bälle. Ehedem – Gestern – Heute. Ein kleines Kapitel Stadtgeschichte, Berlin 1968. Vgl. auch Eugen Szatmari: Das Buch von Berlin (Was nicht im Baedeker steht 1), München 1927, S. 178-189. 78 | Vgl. Peter W. Marx: »›Berlin ist ja so groß!‹ Die Erfindung der Großstadt«, in: Matthias Bauer (Hg.): Berlin. Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert, Tübingen/Basel 2007, S. 89-105. 79 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1914, Nr. 130, S. 5. 80 | Monika Fink: »Tänze und Bälle zwischen Etikette und Amüsement«, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 42 (2007), S. 41-50, hier S. 45. 81 | Rideamus (= Fritz Oliven): Berliner Bälle, mit Bildern von Rolf Niczky, Berlin 651916, S. 29-54.

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Nachahmungen begründeten sie erst den Ruf des Sektionsfestes als einmalige, unvergleichliche Feier und machten es zu einer begehrten und herausgehobenen öffentlichen Angelegenheit: »Unser Winterfest am 4. Februar, so schön und vergnüglich es auch wieder war, ist’s wirklich noch ›unser‹ Winterfest, oder ist’s nicht vielmehr, wie es in Berlin allgemein heisst, ›Der Alpenball‹?«82 Der Alpenball hieß, dass es nur ein Original gab, und zwar das Alpenfest der Sektion Berlin. Als der Ball erlangte das Alpenfest eine populäre Außenwirkung. Und dieser Wirkung – und der daraus resultierenden Anziehungskraft für externe Gäste – konnte sich auch die Sektion Berlin nicht entziehen. Sie beklagte zwar nicht-alpines Verhalten und versuchte es zu kontrollieren, aber sie arrangierte sich auch mit der Popularität und Attraktivität des Festes. Die den Charakter des Festes verkennenden Gäste, so hieß es 1911, würden nun mal dazugehören, »wenn nicht zu unserem Winterfest, doch zum ›Alpenball‹ in Berlin, und ›vergnügt‹ sind sie auch. Im übrigen aber: jeder nach seinem Gusto! Und diesen und wohl auch seine Gusta fand auch diesmal wieder ein jeder«.83 Hier äußerte sich nicht nur eine liberale Gelassenheit mit Blick auf eigene ideologische Überzeugungen, sondern auch ein Wissen um die Logiken und Reichweiten der Berliner Vergnügungskultur. Und dazu gehörte es gerade auch zu wissen, dass das eigene Fest sich in die Geschichte Berliner Bälle einreihte. Zweitens und daran anschließend realisierte sich die Spannung zwischen großstadtfeindlicher Programmatik und urbaner Vergnügungskultur auf dem Alpenfest an der Frage von Tracht als Kleidung und Verkleidung. Trachten waren nie nur einfach Kleidungsstücke, die getragen wurden. Seitdem sie sich in der vorbeziehungsweise frühindustriellen Phase Ende des 18. Jahrhunderts als regional und lokal geprägte, sozial geregelte und nach Rollen und Situationen differenzierte, ländliche Kleidung herausbildeten, waren sie von vielfältigen Ästhetisierungs-, Kommerzialisierungs- und Ideologisierungsprozessen begleitet.84 Trachten be82 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1911, Nr. 103, S. 4. 83 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1911, Nr. 103, S. 4. Berliner Heimatvereinen schien die großstädtische Populärkultur offenbar unproblematisch, vgl. Sabine Imeri: »Heimatforschen in der Metropole oder wie regionales Wissen entsteht. Die Brandenburgia, Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin um 1900«, in: Volkskundliches Wissen. Akteure und Praxen (Berliner Blätter 50), Berlin 2009, S. 113-138. 84 | Nach Bernhard Tschofen implizieren Trachten zwei miteinander verknüpfte Historiografien: Die erste Geschichte bezieht sich auf die Bekleidungsgeschichte von Trachten als ländlicher Kleidungsform. Die Trachtenpräsenz der ersten Geschichte ist ohne die zweite Geschichte der Ästhetisierungs-, Kommerzialisierungs- und Ideologisierungsprozesse, also die Wahrnehmungs- und Wirkungsgeschichte der Tracht, nicht vorstellbar. Vgl. Bernhard Tschofen: »›Trotz aller Ungunst der Zeit‹. Anmerkungen zu einer zweiten Geschichte der Tracht im Vorarlberg«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV (1991), Heft 94, S. 1-46; vgl. ders.: »Sich kleiden – Tracht, Brauch und Bedürfnis. Ein Forschungsüberblick aus ›volkskundlicher‹ Sicht«, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte (1999), Nr. 62,

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saßen daher vielfältige Konnotationen. Als ›Gesinnungskleid‹ spielte Tracht eine zentrale Rolle für den antimodernen Entwurf einer Volkskultur, die auf der Imagination landschaftlich gebundener ›Volkstypen‹ und bodenständiger Gemeinschaften beruhte.85 Als scheinbares ›Traditionsgewand‹ galt Tracht als unveränderlich, als natürlich und unverdorben. Sie wurde als ›Kleid der Heimat‹ gehandelt, das dem modernen Menschen »einen besseren Weg weise, der irgendwo zwischen Volksgemeinschaft und Übersichtlichkeit ins stilisierte Gestern zielte«.86 Im fortschrittskritischen, agrarromantischen Diskurs war Tracht in Dichotomie zur Mode gesetzt und bildete eine zentrale Folie für die kollektive Vorstellung des Stadt-LandGegensatzes.87 Zugleich aber war Tracht in dieser Dichotomie zur Mode – und hierin bestand die inhärente Ambivalenz des Alpenfestes – verbunden mit einer urbanen, modernen Kultur. Denn nicht nur hatte Tracht eine moderne Karriere und entstand zeitgleich mit dem Aufkommen von Mode. Vor allem auch erlebten Trachten als Mode in den touristischen Kontexten der ›Sommerfrische‹ oder auf den alpinen Kostümfesten um 1900 eine enorme Konjunktur. Auch Trachtengeschäfte und Warenhäuser mit saisonalen Trachtenangeboten hatten daran einen nicht unerheblichen Anteil. Sie beförderten die »kulturindustrielle Vermarktung von Nationalismen und Nostalgien«88 und machten die Alpenfolklore zum Teil der Populärkultur. Wie sehr die ideologischen Bezüge von Tracht und ihre populären Nutzungen in Tourismus und auf Kostümfesten für die Sektion Berlin relevant waren, zeigen die Klagen in den Festberichten: Beim Fest 1900 hätten manche Gäste, vor allem Frauen, geglaubt, »sie müssten sich wie zu einem Maskenball herausputS. 22-29; Lioba Keller-Drescher: Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850, Tübingen 2003. 85 | Christine Burckhardt-Seebass: »Trachten als Embleme. Materialien zum Umgang mit Zeichen«, in: Zeitschrift für Volkskunde 77 (1981), S. 209-226, hier S. 217. 86 | Tschofen: »Trotz aller Ungunst«, S. 25. 87 | Vgl. Gitta Böth: »Kleidungsforschung«, in: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, 3. überarb. und erw. Aufl., Berlin 2001, S. 211-228; Wolfgang Brückner: Menschen und Moden. Bekleidungsstudien zu Kommunikationsweisen (Gesammelte Schriften VIII), Würzburg 2000. 88 | Wolfgang Brückner: »Trachtenfolklorismus«, in: Utz Jeggle u.a. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 363-382, hier S. 366. Angesprochen sind hier Volksfeste, Weltausstellungen und Theateraufführungen, Gastronomie und Märkte, in denen Trachten schon früh zur »verkaufsfördernde[n] Staffage« (Wörner: Vergnügen und Belehrung, S. 166) gerieten; vgl. auch Ulrike Kammerhofer-Aggermann u.a. (Hg.): Trachten nicht für jedermann? Heimatideologie und Festspieltourismus dargestellt am Kleidungsverhalten in Salzburg zwischen 1920 und 1938, Salzburg 1993; Wolf-Dieter Könenkamp: Wirtschaft, Gesellschaft und Kleidungsstil in den Vierlanden während des 18. und 19. Jahrhunderts. Zur Situation einer Tracht, Göttingen 1978.

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zen (Taillen, vorn und hinten ausgeschnitten; schwedische Handschuhe etc.!)«.89 Auch 1902 bemerkte der Festausschuss unpassende Kostüme, neben den tief ausgeschnittenen Kleidern waren es diesmal auch »scheussliche Zigeuner« und Mönchsverkleidungen.90 Und in einem »Merkblatt für Besucher« aus dem Jahre 1909 hieß es, dass das Alpenfest »keine Maskerade« sei. Die Alpentrachten sollten sich daher »nicht durch falschen Glanz und Pracht, sondern durch Echtheit auszeichnen«. Erwünscht seien »Bauern und Bäuerinnen, Schützen, Holzknechte und Flösser, Wirte, Kutscher, Postknechte, Senner und Sennerinnen, Gaisbuben, Jäger, Wilderer«. Nicht gewünscht seien Mönchstrachten, am Eingang aber unweigerlich abgewiesen würden »Leute im Touristenkostüm, ferner Salontiroler mit Einglas, Lackstiefeln und hohem Stehkragen« sowie »Damen mit Brillanten und tief ausgeschnittenem Mieder«.91 Doch auch diese Appelle und Verbote schienen nicht alle zu beeindrucken, denn auch in den folgenden Festberichten sind immer wieder Klagen über »Trachtlosigkeit«, über »bunte Flitter aus den Warenhäusern« und »Phantasie-Kostüme« zu lesen.92 Deutlich wird hier eine Deutungsarbeit, die die Grenze zwischen echter Tracht und falschem Kostüm, zwischen echter alpiner Geselligkeit und urbaner Maskerade zu ziehen suchte. Doch gerade die Idee der Echtheit avancierte im Kaiserreich wie die Idee der Natürlichkeit zu einem »hochgradig kommodifizierten Konsumgut der urbanen Lebenswelt«.93 Die ›echte Tracht‹ wurde dabei zum vielfältig einsetzbaren Objekt und Zitat im populärkulturellen, identitären »Spiel mit Nostalgie und Folklore«.94 Der letzte Punkt, an dem sich die dem Alpenball inhärente Spannung zwischen großstadtfeindlicher Programmatik und urbaner Vergnügungskultur aufzeigen lässt, führt die Vorstellung alpiner Geselligkeit und das Tragen von Trachten – als Zeichen und Bekenntnis zur alpinen Geselligkeit sowie als performative Ausdeutung dieser Vorstellung – zusammen und betrifft den Körper des Städters 89 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1900, Nr. 3, S. 3. 90 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1902, Nr. 22, S. 6. 91 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1909, Nr. 91, S. 7. 92 | Mitteilungen der Sektion Berlin 1910, Nr. 94, S. 4; 1911, Nr. 103, S. 4; 1914, Nr. 130, S. 7. 93 | Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen/Basel 2008, S. 236. 94 | Ulrike Kammerhofer-Aggermann: »Wem gehören Tracht und Alpen? Salzburger Trachten – ein Kampf zwischen städtischer Mode und völkischer Ideologie«, in: Hanno Loewy/ Gerhard Milchram (Hg.): ›Hast du meine Alpen gesehen?‹ Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien in Kooperation mit dem Österreichischen Alpenverein, Hohenems/Wien 2009, S. 182. Zentral in diesen Identitätsspielen waren die Agenturen der Authentifizierung wie z.B. volkskundliche Akteure, vgl. Regina Bendix: In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies, Madison 1997.

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beziehungsweise der Städterin in Tracht. Das Trachtentragen wirkte, so scheint es, auf die Feiernden, ihren Umgang miteinander und ihre Praxis des Feierns prägend. Es erlaubte eine soziale wie kulturelle Mimikry. Der bürgerliche Habitus verwandelte sich temporär in einen bäuerlichen. Dies legt zumindest ein Morgenpost-Artikel nahe, in dem es über die Anwesenden heißt: Sie sind alle Stadtleute, die meisten aus dem Westen Berlins, aber sie haben mit dem ›Stadtfrack‹ auch den Städter ausgezogen und sind ganz Aelpler geworden, frohe, derbe, brave, lustige Bauern, weit weg von Politik, von Geschäften, von Mode, von Sorgen: Bauern beim Tanz.

Die Männer beispielsweise, ohne Jacke gekleidet und in Lederhose mit bloßen Knien, könnten »sich nicht genug thun im ›potschigen‹ Gang und derben Zutappen. Breit und groß sehen sie aus und schmuck.« Die Frauen hätten dem »Hasten und Jagen nach dem Allermodernsten« entsagt und »gefallen« mit »lange(n) Zöpfen und aufgesteckte(m) Haar«, mit Mieder, Hut, Brusttüchern und altem Silber- und Granatschmuck. Im Saal »drängen sich die tanzenden Paare, wobei jeder Bub’ sein Mädel um die Hüften faßt. Alles lacht, jauchzt, grüßt und – zwickt«.95 Der Morgenpost-Artikel widmete seine Aufmerksamkeit nicht der namentlichen Aufzählung von anwesenden Personen und ihrer Kleidung, wie es sonst für die Berichterstattung von Festen der Oberschicht durchaus üblich war. Die eigentliche Sensation des Alpenballes, die einen Bericht lohnenswert machte, bestand offenbar darin, dass hier gut situierte Städter und Städterinnen in Tracht feierten. Im exklusiven dörflichen Innenraum des Alpenfestes verwandelte sich nicht nur die Kleidung der Einzelnen, offenbar passten sich auch ihre Sprache und Sprechweisen, ihr Aussehen, ihre Körperhaltung und ihr Körpereinsatz dem ländlichen Vorbild an. So wurde sich auf dem Fest grundsätzlich geduzt, entgegen sonst üblichen öffentlichen, bürgerlichen Umgangsweisen. In der drangvollen Enge von bis zu 4000 Feiernden war auch der körperliche Nahkontakt unumgänglich. Das Gedränge stiftete ein gemeinsames Erlebnis, ebenso aber wurde das Tanzen96 ein anderes, intimer, erotisierter. Hier fielen die bürgerlich etablierten Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Geist und Sinnlichkeit.97 Es verschoben sich die zulässigen körperlichen Distanzen zueinander wie die schicklichen Grenzen 95 | K.K.: »Vom Alpenfest«, in: Berliner Morgenpost 4.2.1902. 96 | Das Tanzen und die verwendete Musik wären noch einer genaueren Betrachtung wert. So finden sich Hinweise zum Einsatz von Dorfmusiken, nach 1900 aber ebenso über moderne Tänze (»Schieber«) und Couplets (»Das war Schöneberg im Mai«, »Die Männer sind alle Verbrecher«). 97 | So Alexa Geisthövel für das Tanzen von Tango, Charleston und Swing im Tanzlokal, was sich aber durchaus übertragen lässt, siehe dies.: »Das Tanzlokal«, in: dies./Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 141-150, hier S. 147.

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– und es war unverkennbar immer auch eine erotische Aufladung mit im Spiel.98 Es wandelte sich der Umgang der Geschlechter miteinander ebenso wie der Paare zueinander. Vor der Folie eines vermeintlichen Stadt-Land-Gegensatzes wurden nicht nur alpine Geselligkeit, sondern auch der urbane Körper und bürgerliche Geschlechterrollen verhandelt. Für den Alpenball war die körperliche Verwandlung des Großstädters und der Großstädterin durch das Tragen der Trachten konstitutiv. Sie entfaltete eine nicht zu unterschätzende Außenwirkung und wurde zu einem beliebten Sujet der (Selbst-)Darstellung von Berliner und Berlinerinnen. Davon zeugt das Stück Im Weißen Rössl, das 1897 als Lustspiel in Berlin uraufgeführt wurde und zu den meistgespielten und erfolgreichsten Stücken des Kaiserreichs gehörte.99 In diesem Stück reisen der Berliner Giesecke und seine Tochter vor allem deshalb nicht nach Ahlbeck, sondern nach Bad Ischl, weil sie die »schönen Kostüme vom Alpenball im vorigen Jahre« abtragen müssten.100 Giesecke schimpft anfangs über seinen Aufzug in kurzen Lederhosen, im Laufe seines Aufenthalts aber singt und tanzt er euphorisch in seinem Gebirgskostüm. Das Stück Im Weißen Rössl lebte vor allem durch den Kontrast des berlinernden und meckernden Giesecke zur alpenländischen Idylle. Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Traditionalem und Modernem wurden hier lustig und lustvoll dargeboten und am Ende auch harmonisiert. Das Stück, so Peter W. Marx, inszenierte das Modell einer kulturellen Begegnung, es verhandelte Urbanität und Ländlichkeit und nahm dergestalt »sekundären Anteil an den Selbstbildern der Großstadt wie auch an der Imagination des Alpenraumes als Residuum freier, natürlicher, ungezwungener Identität«.101 Der grantelnde Giesecke in Tracht im Salzkammergut wirkte – anders als für die Morgenpost die »Bauern beim Tanz« auf dem Alpenball – deplatziert. Auch der bereits erwähnte Fritz Oliven alias Rideamus spielte in seiner Satire Berliner Bälle mit diesem Motiv. Oliven selbst war 1894 der Sektion Berlin des Alpenvereins beigetreten und verarbeitete hier vermutlich eigene Erfahrungen. Der Protagonist seiner Satire beschafft sich Karten für den Alpenball sowie ein Kostüm: Wir hatten genau den Prospekt beachtet/Und gar nicht nach äußerer Schönheit getrachtet/Und allen Chik beiseite gelassen,/Um ja in den Rahmen des Festes zu passen./Wir 98 | Das setzte bereits mit dem Tragen von Trachten durch Städter und Städterinnen ein, die mit Lederhose und Dirndl auch Vorstellungen einer urwüchsigen, unverstellten Sexualität verbanden. Vgl. u.a. Tschofen: »Trotz aller Ungunst«; Burckhardt-Seebass: »Trachten als Embleme«. 99 | Marx: Theatralisches Zeitalter, S. 238. 100 | Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg: Im weißen Rössl, 16. Aufl., Berlin o.J., S. 17. 101 | Marx: Theatralisches Zeitalter, S. 243; vgl. Kevin Clarke/Helmut Peter: Im Weißen Rössl. Auf den Spuren eines Welterfolgs, St. Wolfgang 2007; Ulrich Tadday (Hg.): Im weißen Rössl. Zwischen Kunst und Kommerz (Musik Konzepte Neue Folge 133/134), München 2006.

D IE TEMPORÄRE V ERDORFUNG B ERLINS hatten ein G’wandl, das war so echt,/Noch in der Erinn’rung d’ran wird uns schlecht/Wir hatten ein Hemd, an das wir mit Grauen/In unserm Geiste zurückeschauen. –// Auch hatten wir eine Lederhose,/Die war uns um die Hüften zu lose/Und hatten einen gar g’spaß’gen Verschluß,/Von dem man des näheren schweigen muß.// Wir hatten ferner ein scharfes Pince-nez [eine Brille, F.S.]/Das störte uns das ganze Milieu./Auch haben wir nicht den mindesten Kragen/Oder sonstigen Schmuck getragen/Und waren dekolletiert an den Knie’n, –/Kurzum wir dünkten uns hochalpin! –

Auf dem Alpenball angekommen, ist er enttäuscht, denn er wird kaum beachtet, auch sahen die anderen Männer viel besser aus: Denn sie waren bedeutend blonder und dicker/und trugen nicht den leisesten Zwicker,/ Sondern im Gegenteil meist einen Bauch/Und rote Backen hatten sie auch,/Kurz alles, was sonst auf Bällen verpönt,/Aber beim Alpenfeste verschönt.102

Rideamus verhandelte hier den städtischen männlichen Körper in Tracht zweifach (siehe Abb. 22 und Abb. 23): Die ›Dicken‹ mit Bäuchen und roten Wangen verkörpern nicht die durch Ertüchtigung und Bildung verfeinerten Stadtbürger, sondern eher die wohlgenährten ›Emporkömmlinge‹ aus der Provinz. Während ihre Körper, dick und rosig, auf den metropolitanen Bällen sonst deplatziert erscheinen, finden sie im Alpenball, im identitären Spiel mit der Folklore einen Ort, der ihrem habituellen Erscheinungsbild entspricht. Sie gefallen in Tracht. Der Protagonist der Satire dagegen fühlt sich nicht nur selbst in Lederhosen unwohl, sie passt dem hageren Mann im Vergleich zu den anderen Festteilnehmern auch nicht. Er ist mit seiner Brille im Gesicht deutlich als ein gebildeter Mann der Oberschicht gekennzeichnet, der noch dazu aus Langeweile und Traurigkeit darüber, nicht dazuzugehören, zu philosophieren anfängt. Er ist ein »Fremdkörper im Revier«, nicht nur als Gebildeter; denn er ist in der Entgegensetzung zu den ›Dicken‹ und ›Blonden‹ – auch stehend für den deutschen, gesunden Körper – als urbaner und jüdischer Intellektueller markiert.103 Ihm gelingt die Verwandlung seines habituellen Auf102 | Rideamus: Berliner Bälle, S. 29-31, 34. 103 | Marx: Theatralisches Zeitalter, S. 236, mit Bezug auf ein ähnliches Motiv im ErnstLubitsch-Film Meyer aus Berlin (UA 1919), in dem der als jüdisch markierte Titelheld in Tracht sowohl in Berlin als auch in den Alpen deplatziert erscheint. Valerie Weinstein diskutiert den Film als Beispiel für die (selbst-)iro nische Strategie des ›jewish camp‹, die antisemitische Stereotype aufnimmt, diese dabei überspitzt theatralisiert und auf diese Weise sowohl humorisiert als auch kritisiert. Vgl. Valerie Weinstein: »Anti-Semitism or Jewish ›Camp‹? Ernst Lubitsch’s Schuhpalast Pinkus (1916) and Meyer aus Berlin (1918)«, in: German Life and Letters 59 (2006), S. 101-121. Fritz Oliven entstammte selbst einer jüdischen Familie und musste 1939 nach Brasilien emigrieren, insofern könnte auch seine Satire in Bezug auf die Strategie des ›jewish camp‹ diskutiert werden. Vgl. Ute-Christiane Hauenschild: Rideamus. Die Lebensgeschichte des Fritz Oliven, Berlin 2009.

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Abb. 22: Illustration von Ernst Heilemann für die erste Ausgabe der Berliner Bälle von Rideamus.

Abb. 23: Zeichnung des Protagonisten von Rolf Niczky für die 65. Auflage der Berliner Bälle von Rideamus.

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tretens mit dem Anziehen der Tracht nicht. Sein Körper lässt sich nicht anpassen und nicht maskieren. Er versperrt sich performativ der »volkstümelnde[n] Regression«104 und damit der Inklusion in die Festgemeinschaft. Der Morgenpost-Artikel behandelte das Gelingen der kulturellen Mimikry auf dem Fest als Sensation. Das Tragen der Tracht brachte bürgerliche Großstädter und Großstädterinnen zu einer bäuerlichen Gemeinschaft zusammen, in der die bürgerlichen Verhaltensstandards nicht galten. Bei Rideamus hingegen entspringt aus dem Misslingen der Maskerade der satirische Gehalt seines Textes. Der MorgenpostArtikel beschreibt, wie die Modernität der Metropole in einer inszenierten Differenz vergnüglich und lustvoll erfahrbar gemacht wurde. Während aber hier das Lachen oder Juchzen auf dem Ball zu einer »Praxis der Beheimatung«105 gehörte, die mit den ›dörflichen‹ Horizonten der Großstadt spielte, gerieten in der Rideamus’schen Satire die verkleideten Körper in Tracht zum Lachobjekt: Sie verspottet den Alpenball als Vergnügungspraxis von sozialen Aufsteigern und Aufsteigerinnen, denen die gehobenen Kreise Berlins habituell verschlossen bleiben, und kontrastiert dies mit einem als urban und jüdisch markierten Körper, der wiederum in der Festgemeinschaft fremd und marginalisiert bleibt.106 Im Sujet des städtischen Körpers in Tracht scheint damit ein zeitgenössischer Diskurs auf, der die soziale Integration des Einzelnen im Zuge des gesellschaftlichen Transformationsprozesses durch Industrialisierung und Urbanisierung thematisierte sowie urbane Identitäten vor der Folie von Natürlichkeit, Heimat, Tradition und Gemeinschaft verhandelte. * * * Der Alpenball besaß als urbanes Vergnügen, auf dem das kontrastive Prinzip der ›Verdorfung‹ wirkte, vielgestaltige und auch widersprüchliche Gehalte. Der Alpenball war eine populäre Form der Aneignung und Ästhetisierung von Räumen. Das bürgerliche Fest fand an etablierten urbanen Vergnügungsorten Berlins statt und verwandelte all diese Orte in Dorflandschaften. Es popularisierte dabei das Prinzip einer räumlich-ästhetischen Verdorfung, das auch in anderen städtischen 104 | Maase: »Einleitung«, S. 10. 105 | Beate Binder: »Beheimatet-Sein in einer globalisierten Welt. Plädoyer für ein verändertes Verständnis von Heimat«, in: Karin Hanika/Wiebke Trunk (Hg.): … und grüßen Sie mir die Welt – Reflektierte Heimaten. Texte zu Heimat, Identität und visueller Kultur, Stuttgart 2007, S. 40-53. 106 | Albert Lichtblau hat jüngst daran erinnert, dass aus der Perspektive der Provinz ohnehin alle Stadtmenschen verkleidete ›Andere‹, aber Juden und Jüdinnen nochmals ›andere Andere‹ waren. Albert Lichtblau: »Ambivalenzen der Faszination: Sommerfrische & Berge«, in: Hanno Loewy/Gerhard Milchram (Hg.): ›Hast du meine Alpen gesehen?‹ Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien in Kooperation mit dem Österreichischen Alpenverein, Hohen ems/Wien 2009, S. 116-130, hier S. 123.

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Räumen Nachahmer fand. Zugleich stellte der Ball eine vergnügliche Form der Verräumlichung dar, mit der die Metropole in Relation zur Peripherie gesetzt wurde. Festdekorationen, Hüttennachbauten und Ortsnamen demonstrierten und vergegenwärtigten einem Berliner Publikum die räumliche Eroberung, touristische Erschließung und ideologische Inbesitznahme der Alpen. Während hier das Vergnügen am Kontrast zwischen Stadt und Dorf beziehungsweise Alpen der urbanen Selbstverständigung diente, war der Alpenball auch ein Ort bürgerlicher Selbstvergewisserung und Vergesellschaftung. Hier trafen jüdische und nichtjüdische Mitglieder, Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, Militärs, Künstler, Kirchen- und Staatsvertreter aufeinander, die im vergnüglichen Austausch auf dem Fest die ›bessere Gesellschaft‹ Berlins formierten. In der ›harm- und zwanglosen Fröhlichkeit‹ alpiner Geselligkeit sollten politische und wirtschaftliche Interessen, Unterschiede in Stand, Vermögen und Persönlichkeit temporär suspendiert sein. Geschaffen wurde dabei ein Raum sozialer Nähe, dessen Exklusivität auch der bürgerlichen Distinktion diente. Denn ausgeschlossen waren alle Akteure, die der antimodernen, antiurbanen Programmatik und ihrer Umsetzung auf dem Fest nicht folgen wollten. Die Inszenierung eines idealtypischen Dorfes, die Vorstellungen alpiner Geselligkeit und das Trachtentragen auf dem Fest knüpften an Ideologien von Gemeinschaft und Volk, von Heimat und Nation, von Tradition und Konservativität, von Natürlichkeit und Naturhaftigkeit an und grenzten sich gleichzeitig von der kommerziellen, urbanen Kultur ab. Doch gerade diese war unabdingbar für die Realisierung und Wirksamkeit des Alpenfestes. Nicht nur fand das Fest an kommerziell ausgerichteten Vergnügungsorten wie Kroll oder dem Zoo statt, auch reihte es sich als Tanzveranstaltung und Maskenfest in die Geschichte Berliner Bälle ein. Ebenso verband sich die Trachten- und Alpenfolklore des Festes mit jenem Teil der Populärkultur, in dem Nationalismen und Nostalgien kulturindustriell vermarktet wurden. Und nicht zuletzt wurde der urbane Körper in Alpentracht zu einem eigenen Sujet der populärkulturellen Aushandlung urbaner Identitäten.

Frühes Kino zwischen Stadt und Land Einige Überlegungen zum Verhältnis von Kinoprogrammgestaltung, Kinopublikum und moderner Stadterfahrung vor 1914 Andrea Haller

Bereits ein kursorischer Gang durch die etablierte Kultur- und Filmgeschichtsschreibung zeigt, dass es einen immer wiederkehrenden Topos einer inneren Verwandtschaft von Kino und Stadt gibt. Zwischen beiden wird unhinterfragt eine gewisse kulturelle Affinität angenommen, die zumeist unter kulturkritischen Aspekten verhandelt wird. So ist es beinahe ein Gemeinplatz geworden, dass das Aufkommen des Kinos mit der Urbanisierung Hand in Hand ging. Diese Verbindung von Kino und Großstadt wird auf mehreren Ebenen angesiedelt: auf der Ebene der industriellen Produktionsweisen, aber auch auf der Ebene von Wahrnehmungsmustern und Lebensweisen. Film und die moderne Stadt, so die gängige Annahme, sind sich ähnlich, da sie beide gekennzeichnet sind durch Bewegung, Schnelligkeit und die ›Montage‹ von diversen Wirklichkeitseindrücken. Ihre primäre Sinneserfahrung ist das Sehen. Das Kino wurde und wird weiterhin als »städtisches Erlebnismodell« begriffen.1 Auch die Vertreter unterschiedlicher literarischer Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts begriffen den Film als »genuine Kunst der Stadtdarstellung«.2 Sowohl in der Literatur des Expressionismus als auch der Neuen Sachlichkeit und des Futurismus finden sich ›filmische‹ Schreibweisen. Wer über Stadterfahrung schreiben wollte, tat dies in Anlehnung an filmische Stilmittel wie Bildhaftigkeit und Montage. Neben dem Einzug des 1 | Vgl. Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt: Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361. Als Beispiel für eine neuere Studie vgl. z.B. James Donald: Imagining the Modern City, London 1999. 2 | Hanno Möbius/Guntram Vogt: Drehort Stadt. Das Thema ›Großstadt‹ im deutschen Film, Marburg 1990, S. 9.

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Filmischen in das Schreiben über die Stadt befassten sich die theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Film und Stadt hauptsächlich mit der Analyse der filmischen Stadtdarstellung. All diese Studien beziehen sich jedoch frühestens auf die Zeit der Weimarer Republik.3 Dieser Beitrag möchte den Blick jedoch auf die Frühzeit des Films im Deutschen Kaiserreich und seine Beziehungen zur Stadt lenken und diese kritisch hinterfragen. Zum einen soll nach den Ursprüngen dieses Topos gefragt werden. Zum anderen soll der Zusammenhang von Kino und Großstadt, wenn auch nicht negiert, so doch auf der Basis empirischer Untersuchungsergebnisse zur frühen Film- und Kinogeschichte in Deutschland kritisch hinterfragt werden. In den 1920er und 1930er Jahren thematisierten Siegfried Kracauer (1889-1966) und Walter Benjamin (1892-1940) in ihren feuilletonistischen und theoretischen Schriften den Zusammenhang zwischen moderner Großstadterfahrung und dem Kino- und Filmerleben. Filme wie Fritz Langs (1890-1976) Metropolis oder Walter Ruttmanns (1887-1941) Berlin. Die Sinfonie der Grosstadt (1927) und die Straßenfilme der 1920er Jahre, wie Die Straße (1923) und Asphalt (1928/29), zementierten die Ansicht, dass Kino und Großstadt untrennbar verbunden waren. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass Theoretiker wie Benjamin oder Kracauer ihre Thesen in der Rückschau entwickelten, das heißt zu einer Zeit, in der das Kino schon rund 30 Jahre alt war und auch der Prozess der Modernisierung und Verstädterung auf eine jahrzehntelange Geschichte zurückblicken konnte. Der Grundstein für diesen Mythos von Film und Großstadt wurde, so soll gezeigt werden, schon früher gelegt: in der Anfangszeit des Films und des Kinos, das heißt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Auch beschäftigten sich bereits vor Kracauer und Benjamin Theoretiker mit dem Film, beispielsweise Georg Simmel (1858-1918), den man, ohne dass er explizit über das Kino geschrieben hat, als Kinotheoretiker begreifen kann.4 Dieser Idee der inneren Verwandtschaft von Kino und Großstadt beziehungsweise weiter gefasst einer inneren Verwandtschaft von Kino und Moderne wurde auch in der Filmwissenschaft Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre, vor allen Dingen in den USA, wieder in die Diskussion eingebracht. Die Vertreter der so

3 | Vgl. z.B. Hanno Möbius/Guntram Vogt: Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 19002000, Marburg 2001. Die Sekundärliteratur zum Einzug des Filmischen in die Literatur ist schier unüberschaubar. Einzelstudien finden sich beispielsweise zu Alfred Döblin, Arthur Schnitzler, Heinrich Mann usw. Dazu gibt es eine Vielzahl von Überblicksstudien zum Verhältnis von Film und Literatur. Sie sollen hier aus Platzgründen nicht einzeln aufgeführt werden. 4 | Vgl. Andrea Haller: »Seen through the Eyes of Simmel. The Cinema Program as a ›Modern‹ Experience«, in: Klaus Kreimeier/Annemone Ligensa (Hg.): Film 1900. Technology, Perception, Culture, Eastleigh 2009, S. 113-123 und Daniel Fritsch: Georg Simmel im Kino. Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne, Bielefeld 2009.

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genannten »Modernity Thesis«,5 deren Ansatz es war, die Entstehung und Entwicklung des Kinos in Zusammenhang mit der urbanen Moderne und der damit einhergehenden sensorischen und technologischen Veränderungen des Raumes und der Zeit zu betrachten, gingen von drei Annahmen aus: zum einen ähnele das Kino der subjektiven Erfahrung der städtischen Moderne (Ähnlichkeit); zum zweiten sei das Kino ein Teil der Moderne, das mit anderen Entwicklungen auf technologischer, sozialer, architektonischer und visueller Art interagiert (Kontiguität); zum dritten sei das Kino eine Konsequenz der Moderne (Kausalität). Der Idee also, die mit Simmel und seinen Zeitgenossen ihren Anfang nahm und von Benjamin und Kracauer weiterentwickelt wurde und später in der Filmwissenschaft wieder aufgegriffen wurde, sollen hier jedoch einige Facetten hinzugefügt werden, die Bruchstellen in der großen Erzählung der Modernisierung aufzeigen. Es soll gezeigt werden, dass das Kino in seiner Anfangszeit als Kulturinstitution nicht genuin städtisch geprägt war, sondern durch ein Oszillieren zwischen großstädtischen und eher kleinstädtisch-ländlichen Praktiken und Kulturformen geformt wurde. Als Beispiel für eine Kinogeschichte der Provinz wurde in diesem Beitrag die Stadt Trier gewählt, eine Provinzstadt mit rund 50.000 Einwohnern und Oberzentrum einer ländlich geprägten Region. Zu Kinogeschichte der Stadt Trier liegen bereits zahlreiche lokalhistorische Studien vor.6 Dieser genaue Blick auf lokale Gegebenheiten, der Blick auf das Kleine, scheinbar Marginale und auf die Provinz, das heißt auf all das, was jenseits der großen Erzählung liegt, ist genuine Aufgabe der neuen Filmgeschichtsschreibung, der ›New Film History‹.7 Der Beitrag plädiert somit für eine genauere Betrachtung der tatsächlichen Aufführungspraxen des frühen Kinos und eine Integration der empirischen Forschungsergebnisse in die Theoriebildung. Er will jenseits der eigentlichen Forschung zum frühen Kino auch für die breiter gefächerte Kulturgeschichtsschreibung Denkanstöße liefern und Forschungsperspektiven aufzeigen, die nach weiteren Untersuchungen, vor allem mikrohistorischer Art, verlangen. Ein genauer Blick auf die historische Praxis des Filmesehens soll zeigen, dass der Topos von der wesensmäßigen Verwandtschaft von Kino und Großstadt zwar durchaus auf historischen Fakten beruht, diese aber letztendlich zu einem Mythos stilisiert wurden, der von der Kulturkritik konstruiert und im Sinne ihres Moder5 | Zur ›Modernity Thesis‹ und ihrer Kritik in der filmhistorischen Forschung vgl. Ben Singer: Melodrama and Modernity. Early Sensational Cinema and Its Context, New York/Chichester 2001, Chapter 4: »Making Sense of the Modernity Thesis« S. 101-103. Vertreter sind u.a. Tom Gunning, Miriam Hansen, Anne Friedberg und Vanessa Schwartz, zu den Kritikern zählen u.a. David Bordwell und Charlie Keil. 6 | Diese wurden in den letzten Jahren am Lehrstuhl für Medienwissenschaft/Fachteil »Audiovisuelle Medien« in Trier durchgeführt. Die betreffenden Publikationen werden im weiteren Verlauf des Beitrags an gegebener Stelle angeführt. 7 | Zur ›New Film History‹ vgl. Thomas Elsaesser: »The New Film History«, in: Sight and Sound 4 (1986), S. 246-251.

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nitäts- und Weltverständnisses weitergetragen wurde. Ganz im Sinne von Mythenbildung wurden dabei die tatsächlichen Beziehungen simplifizierend dargestellt. Der Film und das Kino waren, so soll im Folgenden gezeigt werden, von Anfang an tatsächlich großstädtisch geprägt – aber eben nicht nur. Beide waren gerade in der Frühzeit in der Lage, sich verschiedenen kulturellen Kontexten anzupassen und eine spezifische Funktion innerhalb dieser Kontexte wahrzunehmen. Relativiert werden soll demnach nicht nur der Zusammenhang von Kino und Stadt, sondern auch der Blick auf die urbane Vergnügungskultur: Denn die Metropole kann nicht ohne das Land, das sie umgibt, gedacht werden. Gerade die Entwicklung des Kinos ermöglicht einen neuen Blick auf das Verhältnis von Stadt und Provinz. Ein genauer Blick in die Kinogeschichte relativiert dabei die landläufige Annahme, dass die Kleinstadt- und Landbewohner per definitionem von der modernen, als großstädtisch apostrophierten Unterhaltungskultur ausgeschlossen waren, und er wirft zudem die Frage auf, ob eine Trennung zwischen Metropolen- und Provinzkultur im Hinblick auf die Kinogeschichte überhaupt sinnvoll erscheint.

K INO IN DER S TADT (UND AUF DEM L AND) Die großen Filmgeschichten und auch viele Einzelstudien, die sich mit dem Zusammenhang beziehungsweise der Verbindung von Kino und Großstadt beschäftigen, stellen lapidar fest, dass das Kino von Beginn an ein Medium der Metropolen gewesen sei.8 Hier nahm es seinen Anfang, hier fand es zunächst seine Verbreitung, und die Stadt sei von Anfang an Thema der Filme gewesen. Dies ist nicht grundsätzlich falsch, bedarf aber einer differenzierteren Betrachtungsweise. Natürlich fanden die ersten Vorführungen lebender Bilder in den Metropolen statt: In Paris zeigten die Gebrüder Lumière im Dezember 1895 die ersten Filme, in Berlin waren es Max Skladanowsky (1863-1939) und sein Bruder Emil (1866-1945), die im November 1895 ihre Laufbilder vorführten. Seine Verbreitung fand der Film jedoch schnell auch außerhalb der Metropolen. Fest steht, dass erst um 1906 das entstand, was man heute Kino nennt: feste Abspielstätten, die ein Filmprogramm zeigten. Diese Einrichtungen entstanden tatsächlich zunächst in den Städten, doch zwischen der Entstehung ortsfester Kinos und der Erfindung des Films lagen rund zehn Jahre. In diesen ersten zehn Jahren war der Film ebenfalls fest in das lokale Vergnügungsleben eingebunden, er hatte jedoch ephemeren Charakter: Filme wurden mal hier, mal dort aufgeführt, in Hotels und angemieteten Sälen oder in Gaststätten. Die Aufführungen waren somit zeitlich begrenzt und örtlich variabel. In den größeren Städten wurden Filme vor8 | Vgl. z.B. Karl Prümm: »Ergebnisse, Tendenzen, Perspektiven. Zum Stand der regionalen Filmforschung«, in: Joachim Steffen/Jens Thiele/Bernd Poch (Hg.): Spurensuche. Film und Kino in der Region, Oldenburg 1993, S. 19-31.

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nehmlich in Varietés und Spezialitätentheatern gezeigt. Diese schienen mit ihrer offenen und abwechslungsreichen Programmstruktur der geeignete Ort gewesen zu sein, denn sie konnten die zunächst noch kurzen Filme mühelos in den Ablauf integrieren. Von einigen amerikanischen Autoren wird das Varieté als der eigentliche Vorläufer des ortsfesten Kinos bezeichnet. Es habe den Film popularisiert, und seine Aufführungsform habe als Vorbild gedient.9 Corinna Müller vertritt in ihrer Studie zu den Anfängen des Kinos in Deutschland von 1994 eine ähnliche These.10 In Berlin konnte diese neue Schaustellung der lebenden Bilder kurze Zeit nach den zeitlich begrenzten Aufführungen von Max und Emil Skladanowsky im Varieté Wintergarten im November 1895 auch im Varieté Apollo bewundert werden, wo Oskar Messter (1866-1943) seine Erfindungen präsentierte. In den Reichshallen, im Herrnfeld-Theater und im Zirkus Busch kam es ebenso zu Vorführungen wie auch in der Neuen Welt in der Hasenheide und in anderen Sommergärten. Zudem bekam der Großstädter auch die Gelegenheit, Filme auf Wohltätigkeitsveranstaltungen zu sehen oder beispielsweise in Veranstaltungen des Deutschen Flottenvereins. Die Filmvorführer nutzten demnach die bestehende kulturelle Infrastruktur und integrierten das neue Medium in bereits bestehende Kontexte. Die Filme waren dort immer in einen größeren Programmzusammenhang eingebunden, der so divers war wie das Publikum, das von großbürgerlich adelig (in den großen Varietés) bis zu kleinbürgerlich und proletarisch (in Biergärten etc.) reichte.11 Doch auch auf dem Land wurde die bestehende Infrastruktur genutzt. Durch das Wanderkino, die zweite große Art der Verbreitung des Films, drang der Film von Anfang an auch in das kleinstädtische und dörfliche Leben ein. Wie schon Zglinicki in seiner frühen und übergreifenden großen Filmgeschichte berichtete, gab es bereits 1896 die ersten fahrenden Kinounternehmer. Sie seien die eigentlichen Pioniere der Kinematographie gewesen, die […] in vielen Orten Deutschlands nicht nur das elektrische Licht ein[führten], sie zeigten mit ihren damals sensationellen Filmen dem Landbewohner und dem Kleinstädter eine

9 | Zum Verhältnis von Kino und Varieté und der umstrittenen Rolle des Varietés bei der Popularisierung des Films vgl. Robert C. Allen: Vaudeville and Film 1895-1915. A Study in Media Interaction, New York 1980; Charles Musser: The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907, Berkeley/Los Angeles/London 1990. 10 | Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, Stuttgart/Weimar 1994. 11 | Vgl. Iris Kronauer: Vergnügen, Politik und Propaganda. Kinematographie im Berlin der Jahrhundertwende (1896-1905), unveröffentlichte Dissertation, Berlin o.J., www.iriscope.de [Zugriff: 27.7.2010].

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A NDREA H ALLER fremde, unbekannten Welt und zauberten außerdem noch Personen und Ereignisse von lokaler Bedeutung auf die weiße Wand.12

Folgt man einigen neueren Forschungen zum frühen Kino, so erreichten die Wanderkinos sogar deutlich mehr Besucher als die großen Varietés.13 Der Film war nicht nur auf dem Land angekommen, sondern fand dort auch seine größte Verbreitung.14 Diese mobilen Kinounternehmen, die teilweise sehr große, prachtvolle Zelte oder aufwendig dekorierte Holzbuden mit sich führten, zeigten ihre Filme auf kirchlichen Festen, auf Messen und Jahrmärkten. Sie entstanden auf der Basis des bereits etablierten fahrenden Schaustellergewerbes. Auch hier in der Provinz wurde das Kino in bereits bestehende kulturelle Kontexte integriert. Mit der zunehmenden Ausbreitung des Schienennetzes brachte die Eisenbahn das Kino auch in die kleinsten Städte und Dörfer. Die so genannten ›Saalspieler‹, fahrende Kinounternehmer, die ohne großes Equipment reisten und ihre Vorführmaschinen in Wirtshäusern und Veranstaltungssälen aufbauten, erreichten zudem das Publikum auch jenseits der bereits etablierten Veranstaltungsstrukturen wie Messen und Märkte. Anders jedoch als die großen städtischen Varietés zeigten die Wanderkinos und die Saalspieler von Anfang an reine Filmprogramme. Diese dauerten zumindest bei den Saalspielern oft schon über eine Stunde. Diese Wanderkinound Saalspielerprogramme – und nicht die Programme der Varietés – dienten als Modell für die ersten ortsfesten Kinos.15 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Film in den Anfangsjahren nicht nur den Stadtbewohnern vorbehalten war, auch die Landbewohner bekamen einen Eindruck von der in der Rückschau gemeinhin als städtisch apostrophierten Kultur des Films. Die ersten ortsfesten Kinos wurden zunächst sogar maßgeblich von den Aufführungspraxen der Provinz geprägt. Weitere Untersuchungen könnten sich mit der Frage beschäftigen, ob die Besucher der provinziellen Veranstaltungen die dort gezeigten Filme als etwas dezidiert Modernes und Großstädtisches wahrnahmen oder ob sich die Filme nahtlos in die ländlichen Vergnügungsangebote integrierten. Zu klären wäre auch, ob die Bewohner der Provinz die ›leben12 | Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films (Textband; zuerst 1956), Hildesheim 1979, S. 297. 13 | Joseph Garncarz: »Über die Entstehung der Kinos in Deutschland 1896-1914«, in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.): Kinematographenprogramme (KINtop 11). Frankfurt a.M./Basel 2002, S. 145-158. 14 | Vgl. Joseph Garncarz: »Optische Berichterstattung im Varieté und die Rolle nicht-fiktionaler Filme im Wanderkino«, in: Uli Jung/Martin Loiperdinger: Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945, Bd. 1: Kaiserreich (1895-1918), Stuttgart 2005, S. 71-120, hier S. 101. 15 | Zu den verschiedenen Arten der Wanderkinematographen vgl. die gesammelten Beiträge in: Martin Loiperdinger (Hg.): Travelling Cinema in Europe, Sources and Perspectives (KINtop-Schriften 10), Frankfurt a.M./Basel 2008.

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den Bilder‹ als neuartiger oder sensationeller empfanden als die Kinobesucher der Großstadt, die mit der urbanen Vergnügungslandschaft vertraut waren. Verlässliche Aussagen hierzu sind schwierig zu finden, eine gezielte Recherche nach aussagekräftigen zeitgenössischen Quellen, zum Beispiel in der Filmfachpresse, steht noch aus. In frühen selbstreflexiven Filmen aus den Jahren 1900 bis 1918, die sich diegetisch mit dem neuen Medium Film und der Institution Kino auseinandersetzen, findet sich besonders in den so genannten ›rube films‹ (›Trottelfilmen‹) oft der Topos des ›Landeis‹, das sich im Kino nicht nur vor den Geschehnissen auf der Leinwand fürchtet, sondern auch versucht, aktiv in die Handlung einzugreifen.16 Für das zeitgenössische Publikum bestand die Unterhaltung dieser Filme auch darin, sich in Abgrenzung zum unwissenden Protagonisten ihrer eigenen Medienkompetenz zu versichern. Letztlich ging es in diesen Filmen jedoch weniger um den Unterschied zwischen wissenden Stadtbewohnern und unwissenden Landbewohnern, sondern um eine generelle Einübung neuer Wahrnehmungsweisen, mit denen sowohl Land- als auch Stadtbewohner durch die Etablierung der laufenden Bilder konfrontiert wurden. Von den Vertretern der Kinoreformbewegung, die sich am ausführlichsten mit dem Einfluss des Kinos auf das zeitgenössische Publikum beschäftigt haben, gibt es ebenfalls keine Aussagen zu einem Rezeptionsunterschied zwischen Stadt- und Provinzbewohnern. Die Reformer interessierte weniger der Gegensatz von Stadt und Land als die Differenz hinsichtlich Alter (Kinder), Geschlecht (Frauen) und sozialem Status (Arbeiter). Allein Emilie Altenloh (1888-1985) äußerte sich in ihrer Dissertation zum Kinopublikum des frühen Kinos en passant zum Kinobesuch von Städtern und Provinzlern. Sie schrieb, dass diejenigen, die nur in der Stadt arbeiteten, aber in den umliegenden Dörfern wohnten, mangels Gelegenheit weniger oft ins Kino gingen als die Stadtbewohner. Hätten sie aber ihren Wohnsitz erst in der Stadt genommen, so gingen sie genauso gerne und häufig ins Kino. Sie hält es daher für verfehlt, vom seltenen Kinobesuch der Landbewohner auf einen Einfluss des Landlebens auf die Geschmacksbildung der Landbewohner hinsichtlich ihrer bevorzugten Freizeitvergnügungen zu schließen.17 Sie führt aus: »Aus diesen Zahlen geht deutlich hervor, dass lediglich die Gelegenheit genügt und irgendein längerer Einfluss der Großstadtatmosphäre gar nicht notwendig ist, um den Geschmack an kinematographischen Darbietungen zu wecken.«18 Großstadtbewohner wie auch Provinzler hatten demnach ein gleichermaßen großes Interesse am 16 | Beispiele hierfür sind u.a. The Countryman and the Cinematograph (R.W. Paul, 1901) und das Remake der Edison Company von 1902 Uncle Josh at the Picture Show (E.S. Porter). Zu den frühen selbst- und medienreflexiven Filmen vgl. Thomas Elsaesser: »Discipline through Diegesis. The Rube Film between ›Attractions‹ and ›Narrative Integratio‹«, in: Wanda Strauven (Hg.): Cinema of Attraction Reloaded, Amsterdam 2006, S. 205-226. 17 | Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914, S. 77. 18 | Ebd., S. 78.

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Kino, und es bedurfte keiner spezifisch großstädtischen Sozialisation, um diese neue Art der Vergnügungen verstehen und genießen zu können. Wie bereits erwähnt entstanden um 1905/06 die ersten ortsfesten Kinos und waren zunächst tatsächlich ein städtisches Phänomen. Die neuen ortsfesten Kinos lagen zumeist in den Haupteinkaufsstraßen, in der Nähe von Bahnhöfen oder Ausfallstraßen, wie beispielsweise Studien zu Frankfurt am Main, Köln und Mannheim zeigen.19 In Berlin entstanden die ersten festen Kinos in der Nähe der Friedrichstraße, das heißt im Vergnügungs- und Handelszentrum der Stadt. 1905 gab es in Berlin 21 Kinos (einige davon schon in den Vorstädten), 1907 schon 132.20 Doch auch in kleineren Städten etablierten sich sehr schnell die ersten Kinos, und die Provinz stand der großen Stadt in nichts nach: Eine Stadt wie Trier mit rund 50.000 Einwohnern hatte schon 1906 zwei Kinos, die in nächster Nähe zueinander in der Haupteinkaufsstraße lagen.21 Auch in den Vorstädten der großen Städte gab es bald sehr viele Kinos. Dies trug nicht unbeträchtlich zu einem weiteren Mythos der Filmgeschichtsschreibung bei. Jenem nämlich, der besagt, dass das frühe Kino vornehmlich ein proletarisches Vergnügen gewesen sei. Außer Acht gelassen wurde bei dieser Betrachtungsweise somit die Tatsache, dass die ersten und zudem meist großen Kinos in den Innenstädten zu finden waren, wo sie eine heterogene Laufkundschaft anzogen. Das Publikum der Wanderkinos zeichnete sich ohnehin durch eine große soziale Heterogenität aus. Die lokalen Jahrmärkte und Kirchweihfeste wurden sowohl von den Honoratioren der Stadt als auch den einfachen Arbeitern und Bauern der Umgebung besucht. Anders als die großen und eher gehobenen Innenstadtkinos waren die Nachbarschaftskinos in den Vorstädten eher kleinstädtisch organisiert und rekrutierten ihr Publikum aus der allernächsten Umgebung. Hier herrschte eine private und intime Atmosphäre. Die Ausbreitung der ortsfesten Kinos, so lässt sich zusammenfassen, geschah also tatsächlich vom Zentrum in die Peripherie, von den größeren Städten in die kleineren.22 Wer dies jedoch als Bestätigung der gängigen These begreift, dass das neue Medium Film von Anfang an ein städtisches war, ignoriert die ersten zehn Jahre des Filmezeigens. Es änderte sich mit der Einführung von festen Abspielstät19 | Vgl. dazu die Lokalstudien: Rudolf Worschech/Michael Schurig/Thomas Worschech (Hg.): Lebende Bilder einer Stadt. Kino und Film in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1995. Zu Köln vgl. Bruno Fischli: Vom Sehen im Dunkeln. Kinogeschichten einer Stadt, Köln 1990. Sowie zu Mannheim Andrea Haller: »Die Kinematographentheater sind das Schönste, was man in Mannheim hat. Das Kino in Mannheim in der Kaiserzeit«, in: Mannheimer Geschichtsblätter. Neue Folge 12 (2005), S. 147-206. 20 | Joseph Garncarz: »Über die Entstehung des Kinos in Deutschland«, S. 154. 21 | Michaela Herzig/Martin Loiperdinger: »›Vom Guten das Beste‹ – Kinematographenkonkurrenz in Trier«, in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.): Lokale Kinogeschichten (KINtop 9), Frankfurt a.M./Basel 2000, S. 39-51. 22 | Ebd. Vgl. auch Fischli: Vom Sehen im Dunkeln, der dies anhand der Kölner Kinogeschichte belegt sowie zu Mannheim Haller: »›Die Kinematographentheater‹«.

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ten lediglich die Örtlichkeit. Auch existierten eine Zeit lang Wanderkinos und ortsfeste Kinos nebeneinander: Der Provinzbewohner konnte sich daher nicht über eine Lücke in der Filmversorgung beklagen. Die ortsfesten Kinos, die um 1907 massenhaft entstanden, besetzten oft ehemalige Läden und wurden von ehemaligen Ladenbesitzern geführt. Diese hatten der Konkurrenz der Warenhäuser nicht mehr standhalten können und mussten sich nach anderen Erwerbsmöglichkeiten umsehen. Ein Kino in ihrem Ladenlokal zu eröffnen erschien vielen Einzelhändlern als probate Möglichkeit, ihre Zukunft zu sichern. Daher nannte man diese neuen Kinos auch Ladenkinos. Auch Gastwirte, die wie die Händler um 1906 in einer wirtschaftlichen Krise steckten, wurden oftmals Kinobesitzer.23 Von nachgeborenen Theoretikern wie Walter Benjamin wurde das Kino zwar oft in Zusammenhang mit Warenhäusern, ›window shopping‹ und ähnlichen Praktiken des städtischen Lebens gesehen.24 Aber die anfängliche Verbindung zwischen Warenhäusern und Kino war jedoch – wie beschrieben – weitaus pragmatischer. Dennoch, das Kino war schon in diesen ersten Jahren fest in den groß- und kleinstädtischen Lebensrhythmus eingebunden: Die Besucher der ersten ortsfesten Kinos waren meist Passanten, die auf dem Weg zur Arbeit, nach Hause oder im Zuge der täglichen Besorgungen eine Stippvisite im Kino einlegten und einen Kinobesuch so in ihren Alltag integrierten. Dies galt sowohl für die Großstadtbewohner als auch für jene Arbeitsmigranten, die erst kürzlich in die Stadt gezogen waren, oder für jene, die nur in der Stadt arbeiteten, aber im Umland wohnten. Für sie alle wurde der Kinobesuch in kürzester Zeit zu einer Gewohnheit.25

V ERSCHR ÄNKUNG VON F ILM - UND S TADT WAHRNEHMUNG : Z UM U RSPRUNG EINES TOPOS In seinem Essay »Prolog vor dem Film« von 1913 vergleicht Egon Friedell (18781938) die aufblühende Metropole Berlin mit dem Kino, das zu dieser Zeit ebenfalls prosperierte. Berlin sei einem Kinematographentheater ähnlich und dessen Entwicklung spiegele die Entwicklung der Stadt: Berlin ist eine wundervolle moderne Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor, der mit unglaublicher Präzision, Energie und Geschwindigkeit eine Fülle von mechanischen Arbeitsleistungen vollbringt. Es ist wahr, diese Maschine hat vorläufig keine Seele. Berlin

23 | Zum Zusammenhang von Warenhauskonkurrenz und Kinoboom siehe wiederum Garncarz: »Über die Entstehung des Kinos«. 24 | Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern, Berkeley 1993. 25 | Vgl. wiederum Altenloh: Zur Soziologie des Kino, S. 77-78, S. 81, 92.

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A NDREA H ALLER hat nur das Leben eines Kinematographentheaters, eines virtuos konstruierten ›homme machine‹. 26

Dennoch spricht Friedell sowohl der Maschine Berlin als auch dem Kino gewisse Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen einer »kommenden Kultur« nicht ab: Solche Entwicklungsmöglichkeiten stecken, glaube ich, auch in dem verrufenen Kino: Es ist, wenn man etwas näher zusieht, ein sehr prägnanter und charakteristischer Ausdruck unserer Zeit. Zunächst: es ist kurz, rapid, gleichsam chiffriert, es hält sich bei nichts auf. Es hat etwas Knappes, Präzises, Militärisches. Das passt gut zu unserem Zeitalter, das ein Zeitalter der Extrakte ist. 27

Bereits 1913 ist also der Topos einer ›inneren Verwandtschaft‹ von Großstadt und Kino voll entwickelt, obwohl, wie gezeigt werden konnte, das Kino von Beginn an nicht nur ein Vergnügen für Großstädter war, sondern auch in provinziellen und ländlichen Kontexten Verbreitung fand. Worauf fußt demnach diese schon in der zeitgenössischen Kulturkritik beliebte Gleichsetzung von Großstadt und Kino? Was macht das Kino zu einem so perfekten Sinnbild für die moderne Stadterfahrung, dass die realen Gegebenheiten ausgeblendet wurden? Warum ließen und lassen sich gerade anhand des Films und des Kinos die generellen Fragestellungen der Moderne diskutieren? Betrachtet man die zahlreichen Texte pädagogischer, feuilletonistischer, aber auch belletristischer Art eingehender, allen voran die Arbeiten von Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, so werden dem Kino und der Großstadt immer einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten zugeschrieben: Beide sind gekennzeichnet durch Schnelligkeit und Knappheit sowie eine gewisse Oberflächenfixiertheit. Beide werden als Vorboten einer Kultur der Moderne betrachtet.28 Die Beobachtung, dass die kinematographische und die städtische Wahrnehmung verwandt sind, wurde schon recht früh thematisiert. Dieser Zusammenhang erschließt sich aber nur in seiner vollen Tragweite, wenn man bedenkt, wie ein Kinoprogramm vor dem Ersten Weltkrieg zusammengesetzt war. Erst dann wird der Zusammenhang weniger ›kulturphilosophisch‹ begründet, sondern erschließt 26 | Egon Friedell: »Prolog vor dem Film«, in: Blätter des Deutschen Theaters 2 (1913), Nr. 32, S. 508-512, zit.n. Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 203. 27 | Ebd., S. 203-204. 28 | Sammlungen mit Schriften zum Kino, die dies deutlich machen, sind Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film; Fritz Güttinger (Hg.): Der Stummfilm im Zitat der Zeit, Frankfurt a.M. 1984; ders.: Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, Frankfurt a.M. 1984. Zur Belletristik des Kaiserreichs, die sich mit dem Kino auseinandersetzt, vgl. Andrea Haller: »Shadows in the Glasshouse. Film Novels in Imperial Germany (1913-1917)«, in: Film History 20 (2008), Nr. 2, S. 164-180.

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sich direkter. Ein normales Programm bestand zu jener Zeit aus zehn bis zwölf Nummern, aus kürzeren Filmen verschiedener Genres wie zum Beispiel Reisebilder, kurze Possen, so genannten Aktualitäten (die Vorläufer der Wochenschauen), Trickfilme, einem kleinen Drama, einem farbigen Film und vielleicht einem Tonbild. Eine Bahnfahrt durch die Alpen konnte von einem herzzerreißenden Drama abgelöst werden, auf das eine kurze Slapstickeinlage folgte. 1910 veröffentlichte die Filmfachzeitschrift Lichtbild-Bühne folgenden Programmentwurf, an dem sich ein Kinobesitzer orientieren sollte: 1. Musikpièce, 2. Aktuellität [sic!], 3. Humoristisch, 4. Drama, 5. Komisch, - Pause –, 6. Naturaufnahme, 7. Komisch, 8. Die große Attraktion, 9. Wissenschaftlich, 10. Derbkomisch. 29

Das Programm war divers, uneinheitlich und abwechslungsreich. Ohne inhaltlichen oder thematischen Bezug standen die einzelnen Filme im Programm nebeneinander. In der Zusammenschau bildeten sie jedoch ein homogenes Ganzes, das die Diversität und Heterogenität zum Prinzip erhob. Durch Kontrastbildung, Steigerung, Retardierung und eine wellenartige, rhythmische Dramaturgie wurden verschiedene sinnliche Anreize geboten und auf eine Vielfalt hinsichtlich Genres und Filmtypen geachtet. Dabei ging es jedoch nicht vorrangig um eine Mischung der Gattungen, das heißt Fiktion oder Dokumentation, Trickfilm und Tonbild oder farbige Filme, Aktualitäten oder Spielhandlungen, sondern um eine möglichst diverse Mischung hinsichtlich wirkungsästhetischer Gesichtspunkte. Nicht die Versunkenheit in eine Diegese war also das Ziel des Nummernprogramms, sondern Unterhaltung und Zerstreuung durch verschiedene visuelle Stimuli, Attraktionen und Sensationen.30 Nicht der einzelne Film war das bestimmende Element, sondern seine Funktion innerhalb des Programmzusammenhangs. Die Wesensverwandtschaft von Film und Großstadt, die von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde, beruhte, so lässt sich zusammenfassen, auf der Art der Filme (Kurzfilme) und ihrer Präsentationsform als Nummernprogramm. 29 | »Grundregeln für die Programmzusammenstellung«, in: Lichtbild-Bühne, 14.10.1910. 30 | Zur Genese und zu den Spezifika des frühen Kinoprogramms vgl. Andrea Haller: »Das Kinoprogramm. Zur Genese und frühen Praxis einer Aufführungsform«, in: Heike Klippel (Hg.): The Art of Programming. Film, Programm und Kontext, Münster 2008, S. 18-51.

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Doch auch diese Präsentationsform war nichts grundsätzlich Neues. Der Soziologe Georg Simmel schrieb 1896, ein Jahr nach den ersten öffentlichen Filmvorführungen, über das Bedürfnis des modernen Menschen nach Zerstreuung: Keine Erscheinung des modernen Lebens kommt diesem Bedürfnis so entgegen, […] nirgends sonst ist eine große Fülle heterogenster Eindrücke in einer äußeren Einheit so zusammengebracht, dass sie der durchschnittlichen Oberflächlichkeit doch als zusammengehörig erscheinen und gerade dadurch jene lebhafte Wechselwirkung unter ihnen erzeugt wird, jene gegenseitige Contrastierung und Steigerung, die dem ganz beziehungslos Nebeneinanderliegenden versagt ist. 31

Liest man diese kurze Passage aus Simmels Werk ohne Wissen um seinen genauen Sinnzusammenhang, scheint es, als beschreibe Simmel ein Kinoprogramm um die vorletzte Jahrhundertwende: das Nebeneinander von verschiedenen Eindrücken, die Fülle an Reizen, die Freude am Heterogenen. Doch Simmel spielt hier nicht auf das Kino an. Dieser kurze Absatz stammt aus einem kleinen Essay, der sich mit der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 kritisch auseinandersetzt. Der fehlende Bezug zum Kino verdeutlicht aber dennoch und gerade, dass die Prinzipien und die Wahrnehmungsmuster, die dem Kinoprogramm zugrunde liegen und mit ihnen das Programmformat als solches, nichts Kino-Immanentes waren, sondern einer Vielzahl von modernen Phänomenen, seien es Gewerbeschauen und Weltausstellungen oder Varietévorführungen, zugrunde lagen.32 Das Kino jedoch als neuestes Unterhaltungsmedium schien für die zeitgenössischen Kulturkritiker diese Prinzipien in ihrer Reinform zu verkörpern. Die Gegner des Kinos und die Vertreter der Kinoreformbewegung führten daher ebendiese Schnelligkeit und Diversität des Kinoprogramms gegen das Kino ins Feld. Es überfordere den Zuschauer, überreize seine Nerven, führe zu einer Überlastung des Gehirns und einer Steigerung der Phantasie: Die längere Darbietung kinematographischer Bilder erzeugt Müdigkeit und Abspannung, weil der rasche Ablauf sich stets ändernder Bilder und die ausschließliche Einwirkung auf das Auge die Aufmerksamkeit enorm anstrengt. […] Die rasche Folge der aufregenden Bil-

31 | Georg Simmel: »Die Berliner Gewerbeausstellung«, in: ders.: Miszellen, Glossen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918, hg. von Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a.M. 2005, S. 33-38, hier S. 34. 32 | Betrachtet man also die Programmdimension des Kinos, so zeigt sich eine Inkonsistenz der ›Modernity Thesis‹, die davon ausgeht, dass der Film als etwas schockartig Neues empfunden wurde. Die Technik der Bewegtbildabbildung war es sicherlich, die Art der Aufführung lehnte sich jedoch an ältere Formen von visuellen Darbietungen an.

F RÜHES K INO ZWISCHEN S TADT UND L AND der steigert die gemütliche Spannung ins Unerträgliche, es bleibt keine Zeit zum Nachdenken und damit zum psychologischen Ausgleich. 33

Letztlich führe es gar zu körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zu Wahnvorstellungen und hysterischen Anfällen, wie der umtriebige Reformer Albert Hellwig (1880-1950) zu berichten wusste.34 Auch verlören gerade leicht zu beeinflussende Menschen, wie Kinder und Frauen, dadurch ihre Urteilskraft und Empathie gegenüber dem Gesehenen und die Fähigkeit, echte von simulierten Gefühlen zu unterscheiden: »Was also dem Kinematographentheater vorzuwerfen ist, das ist die Gefahr, welche das schnelle Durchlaufen der ganzen Gefühlsskala für die Wahrheit und Tiefe der Empfindungen der Kinder mit sich bringt«, hieß es 1909 in der Fachzeitschrift Der Kinematograph.35 Bei Curt Moreck heißt es dazu noch 1926: »Man gewöhnt sich rasch und unvermittelt von Vorstellung zu Vorstellung zu hinüberzuzucken, man verliert die langsame Stetigkeit der Vorstellungsfolge, das Festhaltenkönnen, welches die Vorbedingung alles gründlichen Urteilens ist.«36 Mit fast identischem Wortlaut hatte Simmel auch über den Alltag in der Stadt geschrieben: Auch er führe zu einer Überreizung der Nerven, die ihrerseits wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, eine »Blasiertheit« zur Folge habe. Simmel und die Kinoreformer benutzten die gleiche Diktion und die gleichen Argumentationsmuster. Sie rekurrierten auf die direkten, unmittelbaren Reize und die schockartige Neuheit des Erlebten. Sowohl das Kinoprogramm als auch das moderne Leben basierten, so die zeitgenössischen Kulturkritiker, auf einer gewissen Fragmentierung und Willkürlichkeit, auf der räumlichen Verbundenheit des Unverbundenen, dem schnellen Wechsel von unterschiedlichen Stimuli. Simmel spricht in seinem Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« von einem »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke«, der eine »Steigerung des

33 | Vgl. Robert Gaupp: »Die Gefahren des Kinos«, in: Süddeutsche Monatshefte 9 (1911/12), Bd. 2, S. 363-366. Zur Kinoreformbewegung im Allgemeinen vgl. u.a. Thomas Schorr: Die Film- und Kinoreformbewegung und die deutsche Filmwirtschaft. Eine Analyse des Fachblattes ›Der Kinematograph‹ (1907-1935) unter pädagogischen und publizistischen Aspekten, Diss., München 1990 sowie Armin Degenhardt: ›Bedenken, die zu überwinden sind …‹. Das neue Medium Film im Spannungsfeld reformpädagogischer Erziehungsziele. Von der Kinoreformbewegung bis zur handlungsorientierten Filmarbeit Adolf Reichweins, München 2001. 34 | Albert Hellwig: »Über die schädliche Suggestionskraft kinematographischer Vorführungen«, in: Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 15.3.1914, S. 119-124. 35 | Georg Kleibömer: »Kinematograph und Schuljugend«, in: Der Kinematograph 12.5. 1909. 36 | Curt Moreck: Sittengeschichte des Kinos, Dresden 1926, S. 69-70.

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Nervenlebens« zur Folge habe.37 Der Besuch eines zeitgenössischen Kinoprogramms ähnelte, so könnte man formulieren, einem Spaziergang durch die moderne Stadt und umgekehrt. Der Journalist und Theaterkritiker Hermann Kienzl (1865-1928) faßt daher pointiert zusammen: Die Psychologie des kinematographischen Triumphes ist die Großstadt-Psychologie. Nicht nur, weil die große Stadt den natürlichen Brennpunkt für alle Ausstrahlungen des gesellschaftlichen Lebens bildet; im besonderen auch noch, weil die Großstadtseele, diese ewig gehetzte, von flüchtigem Eindruck taumelnde, neugierige und unergründliche Seele so recht die Kinematographenseele ist!38

So erweist sich schon für Simmel und seine Zeitgenossen der Film, genauer gesagt sein Programmformat, als direkter Ausdruck des neuen Zeit- und Lebensgefühls. Der Siegeszug des neuen Mediums Film und der massenhafte Kinobesuch wurden von zeitgenössischen Kulturkritikern als Resultat des modernen Lebens in der Großstadt angesehen. Auch wenn dies empirisch nicht haltbar ist: Das ›Prinzip Stadt‹ findet sich in ihrer Wahrnehmung auch und vor allem im Kino. Der beruflich überbeanspruchte Grosstädter fühlt nach des Tages Arbeit sich der intensiven Gedankenkonzentration nicht mehr fähig und jagt einer oberflächlichen Zerstreuung nach, die sein Gewissen verdammte, so lange es der Nerven Spannkraft noch zu ließ. Nun aber bringt er dem überhasteten Durcheinander, dem steten Stimmungsumschlag, dem poetischen Telegrammstil des lebenden Lichtbildes just die rechte Aufmerksamkeit entgegen. 39

Schon die Autoren der 1910er Jahre benutzen also das Kino, um über die generelle Verfasstheit des modernen Menschen nachzudenken. In einer Art Stellvertreterdiskussion wurden allgemeinere Ängste und Befürchtungen im Hinblick auf Modernisierung und Verstädterung am Beispiel des Kinos verhandelt, das als pars pro toto für die Veränderungen der Zeit stand. Doch wurde dieser Topos in einer Zeit geprägt, in der er bei genauerer Betrachtung eigentlich noch nicht zum Tragen gekommen war. Genauer gesagt, er baute nicht auf dem Kino als Ort der Filmdarbietung und seinen Inhalten auf, sondern auf der Kongruenz zwischen Stadtwahrnehmung und dem Programmformat des frühen Kinos – mit einem Aufführungsformat, das in hohem Maße gekennzeichnet war durch ein Neben37 | Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt a.M. 1995, S. 116-131, hier S. 116). 38 | Hermann Kienzl: »Theater und Kinematograph«, in: Der Strom (1911), Nr. 7, S. 219221, zit.n. Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film, S. 231. 39 | Paul Lenz-Levy: »Wie das gebildete Publikum dem Kinematographen wieder entfremdet wird«, in: Der Kinematograph, 18.5.1910.

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einander von verschiedenen Sinnesreizen visueller und akustischer Art und das als Nummernprogramm eine Vielzahl von Filmen verschiedener Genres in einem größeren Programmzusammenhang zeigte. Bemerkenswert dabei ist, dass das Kino sein Programmformat von älteren Formen visueller Schaustellung, wie dem Varieté und dem Spezialitätentheater, ›geerbt‹ hatte und in dieser Hinsicht keine Neuheit darstellte. Vielleicht wurde das Kino aber gerade durch seinen Status als synthetisches Reproduktionsmedium zum perfekten Symbol für die Veränderungen der Zeit. Spätestens bei Walter Benjamin setzt sich diese Sicht auf das Kino und die Großstadt durch. So spitzt er in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« pointiert zu: Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt. 40

Benjamin stellt damit anders als Simmel, aber anknüpfend an dessen Beobachtungen, eine direkte Beziehung zwischen Großstadtwahrnehmung und Kino her, indem er das Kino gleichsam als eine Art Training für die Reizüberflutung der Großstadt versteht.

S TADT IM K INO Doch das Kino drang nicht nur in die Stadt ein, die Stadt drang umgekehrt auch ins Kino ein. Dies soll nun anhand von zwei Beispielen typischer Filmgenres innerhalb eines Nummernprogramms deutlich gemacht werden: zum einen an den Städtebildern, zum anderen an den so genannten Lokalaufnahmen. Beide Arten von Filmen enthielten Stadtansichten: Während Erstere jedoch die große Welt zeigten, boten Letztere Ansichten der eigenen kleinen Welt. Städtebilder waren kurze dokumentarische Filme mit Ansichten einer Stadt. Sie bildeten jedoch weniger das tatsächliche Leben in der Stadt ab als vielmehr touristisch interessante Sehenswürdigkeiten. Viele dieser Städtebilder zeigten nicht das Neue und Moderne, sondern eher das Alte, Pittoreske und Stereotype. Neben den großen Weltstädten, wie Berlin und Paris, zeigten sie daher auch gerne typische touristische Kleinstädte. Die soziale Realität der modernen Großstadt wurde 40 | Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung)«, in ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1999, S. 6-44, hier S. 39.

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in diesen Städtebildern weitgehend ausgeklammert; in ihnen zeigte sich eher die Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹. Andere Städtebilder wiederum, besonders jene aus Berlin, vermittelten mit Stolz die Modernität und Urbanität der Stadt.41 Ein Beispiel hierfür ist der Film Potsdamer Platz (1896) der Gebrüder Auguste (1862-1954) und Louis Lumière (1864-1948). Er zeigte den Platz voller Menschen, Fuhrwerken und Automobilen und vermittelte so ein urbanes Lebensgefühl voller Betriebsamkeit.42 Ein weiteres Beispiel ist der Film Eine Hochbahnfahrt durch Berlin von 1910 (Deutsche Mutoskop und Biograph GmbH). Auch er fängt den Puls seiner Zeit in bewegten Bildern ein. Oft ging es in diesen Großstadtansichten jedoch weniger um die Stadt an sich – diese ist oft kaum zu erkennen – als um besondere technologische Innovationen, wie zum Beispiel eben jene Hochbahn, oder um besondere Anlässe, wie der Besuch eines Monarchen. Die Grenze zwischen Städtebildern und Aktualitäten war fließend. Städtebilder zeigten also sowohl das Neue und Moderne als auch das Traditionelle und Alte. Die Bewohner der Großstadt entdeckten in den Städtebildern ihre Stadt neu und sahen vertraute Orte und Gebäude. Den Besucher der kleinstädtischen Kinos hingegen boten sie die Chance, Einblicke in das Leben der großen Metropolen zu bekommen, auch wenn diese Filme nicht unbedingt immer als getreue Reflektionen des modernen städtischen Lebens zu betrachten sind. Ein Sub-Genre, das die städtische Hast und den Puls der Stadt fühlbar machte und den Zuschauern das Gefühl gab, ›mittendrin‹ zu sein, waren so genannte ›phantom rides‹ wie der eben erwähnte Film Eine Hochbahnfahrt durch Berlin. ›Phantom rides‹ waren Filme, bei denen die Kamera vorne auf einen fahrbaren Untersatz montiert war, meist entweder auf ein Auto oder noch häufiger auf einen Zug. Der Zuschauer im Kino hatte so das Gefühl, selbst zu fahren und sich mitten im Geschehen zu befinden. Gerade bei den Stadtaufnahmen wurde so der Aspekt von Hektik und Betriebsamkeit somatisch spürbar. Die filmische Technik des ›phantom ride‹ war der ideale filmische Ausdruck für das Leben in der Stadt. Hinzuzufügen ist jedoch, dass dieses filmische Mittel nicht nur bei Stadtfahrten angewandt wurde, sondern auch Aufnahmen von Bahnfahrten durch Naturlandschaften und Gebirgsfahrten sehr populär waren. Diese Filme verbanden dann das Naturerleben mit dem ›thrill‹ der neuen modernen Verkehrsmittel. Mindestens ebenso reizvoll war es für die Bewohner der Provinz, die eigene kleine Stadt im Kino zu sehen: In den so genannten Lokalaufnahmen kam die eigene Stadt buchstäblich ins Kino hinein. Lokalaufnahmen ähnelten Städtebildern.43 Auch sie zeigten Ansichten von Städten. Sie hatten demnach keine prin41 | Uli Jung: »Städtebilder und Lokalaufnahmen«, in: ders./Martin Loiperdinger (Hg.): Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945, Bd. 1: Kaiserreich (1895-1918), Stuttgart 2005, S. 279. 42 | Ebd., S. 282. 43 | Zu Lokalaufnahmen als Gattung vgl. auch Uli Jung: »Local Views. A Blind Spot in the Historiographie of Early German Cinema«, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 22 (2002), Nr. 3, S. 253-273.

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zipiell andere Ästhetik, jedoch einen anderen Auswertungszusammenhang. Sie wurden für die Bewohner der eigenen Stadt hergestellt, denen sie eigentlich Bekanntes zeigten. Zumeist wurden sie von lokalen Kinobesitzern gedreht und kamen nicht in den Verleih, sondern wurden an Ort und Stelle ausgewertet und oft noch am selben Tag oder einige Tage später in einem lokalen Kino gezeigt. Der Reiz dieser Aufnahmen lag darin, sich selbst und seine Bekannten im Kino zu sehen. Daher ist in Lokalaufnahmen oft eine große Zahl von Menschen zu sehen, die an der Kamera vorbeiflanieren. Dies garantierte dem Kinobesitzer einen regen Zulauf, da jeder sich selbst einmal auf der Leinwand bewundern wollte. Die städtische Architektur und die Sehenswürdigkeiten spielten in diesen Filmen daher nur eine untergeordnete Rolle. Typische Anlässe für solche Lokalaufnahmen waren der sonntägliche Kirchgang, Wallfahrten, Paraden oder andere städtische Feste. Ein Artikel in der Triererischen Zeitung von 1909 beschreibt sehr treffend den Reiz dieser Aufnahmen und die Bedeutung des Kinos für die Stadt und seine Bewohner. Darin heißt es: Auch wir Trierer lieben den ›Kintop‹ [Berliner Ausdruck für Kinematographen, A.H.] über alles. Wir zeigen aber ein selten großes Interesse an all den großen, kleinen und kleinsten Ereignissen, die sich in unserem Städtle zugetragen haben und die uns durch das elektrische Theater wieder vorgeführt werden. […] Am interessantesten ist es aber im Kintop, wenn trierische Aufnahmen dem jubelnden Publikum gezeigt werden. Wir sehen dann bei dem Domausgang, bei der Feuerwehrübung, bei dem Einzug der Sänger, auf dem Viehmarkte allbekannte Trierer Gesichter. Die Kinder jubeln laut: elao dän es dän Häns, et Kätt –, die ›größeren‹ nennen leiser die Namen ihrer Bekannten. Ein jeder freut sich, irgendein bekanntes Gesicht auf der Leinwand zu erblicken und freut sich besonders, wenn sein eigenes Konterfei ihm entgegenlacht, wie er sich wiederum ärgert, wenn sein eigenes Gesicht ihm mürrisch, unfreundlich, unvorteilhaft entgegenschaut. Der Kino verliert alsdann den Charakter eines eigentlichen Theaters. Die Zuschauer fühlen sich mehr wie zu Hause und können ungeniert ihre Kritik an Bekannten, Freunden und Feinden abgeben. Der Kino ist der Spiegel von Trier geworden, nicht nur der ›Allgemeine Anzeiger‹ für behördliche trierische Ereignisse, sondern viel mehr noch das billige, offene Modeblatt für unsere Damenwelt. 44

Hier wird deutlich, dass die Lokalaufnahmen eine sehr direkte Ansprache des Publikums boten und dass ein damaliger Kinobesuch – anders als heute – ein kollektives und aktives Erlebnis war. Das Publikum beteiligte sich aktiv am Geschehen im Kinoraum. Es lachte, kommentierte die Filme, trank dabei ein Bier, aß etwas oder tauschte sich mit seinen Nachbarn über die Filme und das Tagesgeschehen aus. Gefiel den Besuchern ein Film, wurde dieser beklatscht, gefiel ihnen ein Film nicht, taten sie ihren Unmut mit lauten Buh-Rufen kund. Der Filmwissenschaftler 44 | »In einem ›trierischen‹ Kinematographen. Plauderei von K. Sch«, in: Trierische Zeitung, 14.6.1909, zit.n. Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.): Lokale Kinogeschichten (KINtop 9), Frankfurt a.M./Basel 2000, S. 11-13, hier S. 12-13.

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Martin Loiperdinger fasst seine Beobachtung und Überlegungen zur Rezeption von kinematographischen Darbietungen der vorletzten Jahrhundertwende zusammen: Im Hinblick auf die Zuschauertätigkeit beim Filmsehen liegt jedenfalls ein gravierender Unterschied klar auf der Hand: Nummernprogramme und abendfüllende Spielfilme fordern vom Publikum eine unterschiedliche Rezeptionshaltung gegenüber dem, was auf der Leinwand geboten wird. Der lange Spielfilm verlangt den konzentrierten Zuschauer, der einer fortlaufenden Handlung über ein bis zwei Stunden folgen kann. Der rasche Wechsel der Sujets und Stimmungen im Nummernprogramm der Kurzfilme stellt dagegen auf einen Zuschauer ab, der Zerstreuung sucht und sich im Panoptikum der Programmvielfalt wie ein Flaneur zu bewegen weiß. 45

Im frühen Kino, dem so genannten ›Cinema of Attractions‹, wurde durch die Art der Filme und ihre Präsentationsweisen der Zuschauer direkt angesprochen.46 Durch die Zurschaustellung von Ansichten und Sensationen wurde die visuelle Neugier angesprochen und befriedigt. Für Tom Gunning ist der Akt des Zeigens und Ausstellens das distinktive Merkmal des Kinos vor 1906. Nicht das Geschichtenerzählen stand im Vordergrund, sondern die Präsentation von Ansichten.47 Es wurde keine selbstgenügsame, narrative Welt geschaffen. Der Kinobesitzer, durch seine Programmzusammenstellung und die Implementierung von Live-Elementen, sowie das Publikum mit seinem Vorwissen trugen ihren Teil zur Sinnproduktion der Filme bei. Zudem ist dem Publikum stets der maschinelle und mediale Aspekt des Kinos bewusst gewesen, ja mehr noch, dieser macht einen nicht geringen Teil des Spektakels aus. Da nicht die Illusionierung des Zuschauers das vornehmliche Ziel war, blieb der Kontakt zum Publikum somit ein viel direkterer.48 »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kino der Attraktionen die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sehr direkte Weise fordert, indem es die visuelle Neugier erweckt und vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen bereitet«,

45 | Martin Loiperdinger: »Plädoyer für eine Zukunft des frühen Kinos«, in: Ursula von Keitz (Hg.): Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie, Marburg 1998, S. 66-83, hier S. 75. 46 | Tom Gunning: »The Cinema of Attraction. Early Film, its Spectator and the Avantgarde«, in: Wide Angle 8 (1986), Nr. 3/4, S. 63-70. Deutsche Übers.: Tom Gunning: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor. Texte zum Laufbild (1996), Nr. 4, S. 25-34. 47 | So genannte ›Ansichten‹, auch ›views‹ genannt, waren ein spezifisches Genre der Frühzeit der Kinematographie. Diese kurzen dokumentarischen Aufnahmen war ein starker Gestus des Zeigens inhärent. Sie wollten nicht erzählen, sondern etwas in seinem ›so-sein‹ abbilden. 48 | Gunning: »Kino der Attraktionen«, S. 27.

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erklärt Gunning.49 So wurde der Zuschauer im frühen Kino nicht nur direkt angesprochen, sondern er reagierte auch direkt und prägte das Kinoerlebnis maßgeblich mit. Die frühen Filme wandten sich somit direkt an das physisch anwesende Publikum, sie imaginierten das Publikum als im Saal anwesendes Kollektiv,50 als »ablenkbares Publikum im Zustand der kollektiven Rezeption«,51 das interaktiv am Filmgeschehen teilnahm und sich selbst als getrennt vom Geschehen auf der Leinwand wahrnahm. Anders als im klassischen Hollywood-Kino, das den Zuschauer immer als idealtypischen ›spectator‹, als textuelles Konstrukt, mitdenkt, wurde auf den Zuschauer in der Konzeption des frühen Kinos als Teil einer realen sozialen Gruppe Bezug genommen. Am Beispiel der Lokalaufnahmen zeigt sich besonders deutlich, dass der Besuch eines Kinos, und ganz besonders in einer kleineren Stadt, ein soziales Ereignis war, das »private Verbundenheit im öffentlichen Raum« erzeugen konnte.52 Diese spezielle Art der privaten Verbundenheit war jedoch in kleinen Städten mit relativ wenigen Kinos am stärksten, hier funktionierten Lokalaufnahmen auf ihre spezifische Art und Weise am besten. Es ist jedoch denkbar, dass Lokalaufnahmen auch in größeren Städten, insbesondere in eng umgrenzten Großstadtnachbarschaften, als soziale Ereignisse funktionieren konnten. So wurden zum Beispiel in Mannheim,53 einer Industriestadt mit um 1910 immerhin fast 220.000 Einwohnern – die man, wenn auch nicht als Metropole, so doch als Großstadt einordnen kann –, in den Jahren 1911-1918 in den großen Innenstadtkinos immer wieder Filme mit lokalhistorischem Bezug gezeigt. Bei vielen der Filme mit Mannheim als Sujet lässt sich retrospektiv nicht beurteilen, ob es sich hierbei um tatsächliche Lokalaufnahmen handelt, die eigens für diesen Zweck hergestellt wurden und nicht in den Verleih kamen, oder um herkömmliche Stadtansichten. Das Mannheimer UnionTheater begann jedoch das Jahr 1911 mit einer echten Lokalaufnahme, dem »anlässlich des Bühnenballs […] aufgenommenen und glänzend gelungenen Film«

49 | Ebd., S. 29. 50 | Vgl. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 80. 51 | Ebd., S. 78. 52 | Martin Loiperdinger: »Akzente des Lokalen im frühen Kino am Beispiel Trier«, in: Corinna Müller/Harro Segeberg (Hg.): Kinoöffentlichkeit. Entstehung, Etablierung, Differenzierung 1895-1920, München 2008, S. 236-245, hier S. 242. 53 | Alle in diesem Beitrag angeführten Daten zur Kinotopographie und zum Kinoprogramm Mannheims sind einer größeren Studie zur Programmentwicklung in Mannheim entnommen, die ich in meiner Dissertation Weibliches Publikum, Programmgestaltung und Rezeptionshaltung im frühen deutschen Kino (1906-1918) (Universität Trier 2009, erscheint voraussichtlich 2011 im Stroemfeld-Verlag, Frankfurt a.M.) verwertet habe. Alle Filme wurden in der lokalen Tageszeitung Mannheimer Generalanzeiger inseriert. Zu den Lokalaufnahmen in Mannheim vgl. Haller: »›Die Kinematographentheater‹«.

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Vor dem Hoftheater,54 der ein großer Erfolg wurde und daher »auf allgemeinen Wunsch prolongiert«, das heißt in der Laufzeit verlängert werden musste.55 Im September 1911 wurde ebenfalls eine echte Lokalaufnahme im Union-Theater vorgeführt: die »glänzend gelungene eigene Aufnahme« vom Feuerio-Volksfest, einer Veranstaltung des lokalen Karnevalsvereins.56 Solche Volksfeste boten ebenso wie der Bühnenball eine gute Chance, viele Menschen auf Celluloid zu bannen und somit auch ins Kino zu locken. Die verlängerten Laufzeiten der Lokalfilme zeigen, dass diese auch in einer größeren Stadt wie Mannheim ein Publikumsmagnet waren. Über die genauen Reaktionen des Publikums und ob es auch hier wie in der Mittelstadt Trier zu einem Wiedererkennen der eigenen Person oder von Freunden und Bekannten kam, gibt es leider keine Zeugnisse. Ob es in der Metropole Berlin zur Anfertigung und Aufführung von Lokalaufnahmen kam, ist bis dato ungeklärt. Indem das Kino (klein-)städtische Ereignisse zeigte, wurde es nicht nur zum Spiegel der Stadt und seiner Bewohner, sondern konnte auch zu einer informellen Kontrollinstanz werden. Das Kino als Metapher des Anonym-Städtischen zu begreifen, greift also in diesem Fall zu kurz. Genauso wie das Kino die Anonymisierung und Verstädterung repräsentieren konnte, konnte es eine ›Verdörflichung‹ der Stadt forcieren, das heißt die vermeintliche Anonymität in der Stadt aufheben, und auf eher kleinstädtisch geprägte kulturelle Praktiken zurückgreifen. So heißt es weiter im bereits angeführten Artikel der Trierischen Zeitung: Der kinematographische Apparat lügt nicht. Er zeigt alle und alles, wie es ist, zu sein scheint und sein müßte. Er sagt uns, wer des Sonntags im Dom gewesen ist, wer während der Promenadenkonzerte gebummelt und ›kontrolliert‹ endlich auch, wer an den Prozessionen teilgenommen hat. Über den Ereignissen Triers ›schwebt‹ der kinematographische Apparat, gleichsam wie eine Meisterhand, unsichtbar meistens den ›Leidtragenden‹, zur größten Freude jedoch der Schar Trierer Biwacken [junge Burschen, A.H.], die als Stammgäste den jedesmaligen Abschluß eines Bildes bilden. ›Mamm, geff mer zwei Groschen, eich sein och droff.‹ 57

Hinzu kommt, dass das Kinoprogramm vor dem Ersten Weltkrieg, und in gewissem Maße bis zur Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre, ein höchst individuelles Format war, das sich den lokalen Gegebenheiten, wie dem Standort des Kinos oder der sozioökonomischen Zusammensetzung seines Publikums, anpassen konnte. Die Kinobesitzer konnten ihr Programm im Hinblick auf die Vorlieben ihres Publikums noch weitgehend selbständig zusammenstellen. Sie wählten nicht nur die Filme aus, sondern bestimmten auch maßgeblich die Art der Präsentation. Das Programm wurde durch Live-Elemente, wie zum Beispiel 54 | Anzeige des Union-Theaters im Mannheimer Generalanzeiger 10.1.1911. 55 | Anzeige des Union-Theaters im Mannheimer Generalanzeiger 14.1.1911. 56 | Anzeige des Union-Theaters im Mannheimer Generalanzeiger 6.9.1911. 57 | »In einem ›trierischen‹ Kinematographen«, S. 13.

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die Musikbegleitung, den lokalen Gegebenheiten angepasst. Zuweilen gab es auch einen Kinoerklärer, der das Programm mit seinen auf das Publikum maßgeschneiderten Kommentaren begleitete. Besonders lokal wurden diese Aufnahmen zum Beispiel in Trier, indem sie in der lokalen Mundart kommentiert wurden von ebenjenem Operateur und Kinobesitzer, der auch die Lokalaufnahmen gemacht hatte.58 So gewannen aber auch internationale Produktionen, die auf lokaler Ebene kommentiert wurden, »auf der auditiven Aufführungsebene einen kontrapunktischen lokalen Akzent«.59 Das Kino der Kleinstadt war demnach nicht alleinig geprägt durch ein Überstülpen der so genannten Metropolenkultur, sondern zeichnete sich durch eine Besinnung auf das Lokale aus. Kino war ein Lokalereignis, das an die eigene Stadt oder den Stadtteil beziehungsweise den sozialen Hintergrund der Nachbarschaft gebunden war. Dies gilt nicht nur für die Kleinstadt: Zwar lässt sich, wie bereits erwähnt, nach dem derzeitigen Forschungsstand noch nicht genau sagen, ob es die so genannten Lokalaufnahmen auch in der Großstadt gegeben hat – es scheint eher wahrscheinlich, dass es sich hierbei um eine typische Filmform der Provinz handelt –, doch auch in der Großstadt richtete sich das Programm der Kinos oftmals an den lokalen Gegebenheiten des Kiezes aus. Dies verdeutlicht die Beschreibung einer Kinovorstellung aus einem proletarischen Kino am Berliner Alexanderplatz von 1912. Auch hier passte der Kommentar des Erzählers die Filmhandlung an den sozialen Hintergrund seines Publikums (»Arbeiter, Straßendirnen, Zuhälter«) an und löste so eine Solidarisierung und schichtenspezifische Identitätsbildung und Selbstvergewisserung unter den Zuschauern aus: [...] über allem klang die schmalzige, gefühlvolle, in jedem Wort verlogene Begleitrede des Erzählers. Der Film war eigentlich fürchterlich langweilig, die banale Geschichte eines ›Mädchens aus dem Volke‹, genannt die Frau ohne Herz, die mit einem vornehmen jungen Mann verlobt ist, in ihrer Verderbtheit entlarvt wird, zu dem Geliebten ihrer Jugend, einem Arbeiter, zurückflieht, und von diesem verachtet und verstoßen wird. Langweilig, nicht? Aber was wurde daraus! Der Erzähler dampfte vor sittlichem Empfinden, er brachte die Worte von Abschaum der Großstadt wie eine große Delikatesse über die Lippen, er erläuterte das Seelenleben dieser Personen […] und plötzlich sah man: das Weib ohne Herz ein Opfer der Hochgestellten, […] die soziale Tragödie jedes Zuschauers […]. Der Erklärer schluchzte, das Publikum ballte die Fäuste, eine ganz, ganz andere Tragödie, als der Filmfabrikant gesehen hatte, raste vorüber […]. ›Er will es nicht, der Mann der Arbeit, was in

58 | Brigitte Braun/Karen Eifler: »›Kommt all heirönn zum Marzens Pitt‹« – Kinoerlebnisse mit dem Filmerklärer Peter Marzen«, in: Neues Trierisches Jahrbuch, Nr. 42, Trier 2002, S. 173-186. 59 | Loiperdinger: »Akzente des Lokalen im frühen Kino«, S. 239.

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A NDREA H ALLER den Palästen hinausgeworfen wurde, das Weib ohne Herz, er stößt es aus seiner einfachen Kammer…‹, beschwor der Erklärer. Die Hörer kochten. 60

Auch das Kinoerlebnis in der Stadt war bisweilen ein kollektives, und die großstädtischen Kinobesucher schätzten das Gemeinschaftserlebnis im Kino ebenso wie ihre kleinstädtischen Zeitgenossen. Ihre Emotionen und Reaktionen verbanden sie mit den anderen Besuchern im Kinoraum. Noch tauchten sie nicht vollständig im dunklen Kinoraum in der Masse unter. Denn die Art der Rezeption im frühen Kino, die, wie bereits erläutert, geprägt war durch eine direkte Ansprache der Zuschauer als real anwesendes Kollektiv im Zuschauerraum, das reagierte und interagierte, unterschied sich fundamental vom Rezeptionsmodus des späteren klassischen Hollywood-Kinos, das auf eine entkörperlichte diegetische Versenkung abzielte und nicht den realen Zuschauer, sondern den idealen und individualisierten Rezipienten in den Blick nahm.61 Überspitzt ließe sich sogar formulieren, dass der Rezeptionsmodus des frühen Kinos zunächst generell eher kleinstädtisch geprägt war (sofern man denn das Gemeinschaftliche und Interaktive als kleinstädtisch apostrophieren will) und nicht Ausdruck einer anonymisierten großstädtischen Massenkultur war, als deren Prototyp es in der etablierten Kulturkritik immer herhalten musste. Wie die vorangegangene Analyse der Texte von Simmel und Benjamin gezeigt hat, wurde es dennoch – und das erstaunt umso mehr – von Anfang an als direkter Ausdruck eines neuen städtischen Lebensgefühls gesehen. Diese Kulturanalysten machten die Modernität des Kinos zunächst ja an dessen Programmformat fest, das heißt dem Nebeneinander von diversen und schnellen Sinneseindrücken. War also das Programm modern und großstädtisch und der Zuschauer (noch) nicht? Oder war die aktive, sinnliche Rezeptionshaltung nicht die eigentlich ›moderne‹ und das stille, reprivatisierte und unsinnliche Verharren im Kinoraum des klassischen Kinos somit ein Rückschritt? Hier zeigt sich, dass im Falle des Kinos die Assoziation von Großstadt mit Moderne und Provinz mit Rückständigkeit nicht aufgeht. Um 1912 änderte sich das Programm. Es kam zu einem Programmumbruch, der in der neueren filmhistorischen Forschung als regelrechter Medienumbruch gewertet wird.62 Um 1911 begannen die Filme länger zu werden, und ›Länge‹, das 60 | Ulrich Rauscher: »Die Welt im Film«, in: Frankfurter Zeitung 31.12.1912, zit.n. Schweinitz: Prolog vor dem Film, S. 198. 61 | Zum speziellen Publikumsverständnis des frühen Kinos vgl. neben Gunnings Theorie zum ›Cinema of Attraction‹ (1986) auch die Ansätze von Miriam Hansen und Thomas Elsaesser, siehe Miriam Hansen: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge/London 1991 und Thomas Elsaesser: »Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer«, in: Irmbert Schenk (Hg.): Erlebnisort Kino, Marburg 2000, S. 34-54. 62 | Bei Loiperdinger heißt es dazu »Der eigentliche mediengeschichtliche Umbruch vollzieht sich nicht im Bereich der Technikgeschichte, auch wenn die Jahreswende 1895/96 in

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heißt die Spieldauer eines Filmes, wurde zum Qualitätskriterium. Das diverse Nummernprogramm wurde zurückgedrängt, und der lange Spielfilm, der zu dieser Zeit rund eine Stunde dauerte, begann das Programmangebot zu dominieren. Zwar bestand das Programm weiterhin aus fünf bis sieben kürzeren Filmen aller Genres, doch der lange Spielfilm wurde das eigentliche Zugpferd des Programms.63 Er prägte die Gestaltung des Programms und wurde als Hauptattraktion in den Programminseraten herausgestellt. Es begann sich eine Entwicklung abzuzeichnen, die das frühe Kino fundamental verändern und aus ihm die Medieninstitution Kino machen sollte, die wir heute kennen. Im Hinblick auf die ›Modernität‹ des Kinos erwies sich der Langfilm als Paradoxon. Den zeitgenössischen Kinobesitzern und dem Publikum erschien er als unmodern, da er mit der abwechslungsreichen und diversifizierten Ästhetik des Nummernprogramms brach. Ein Kritiker wunderte sich über das scheinbar ›Unzeitgemäße‹ der langen Filme: »Sonderbarer Weise macht sich gerade in letzter Zeit immer mehr eine Geschmacksrichtung geltend, die eigentlich im Widerspruch mit dieser modernamerikanischen Minutenhast steht.«64 Genau hier liegt auch ein von den Kritikern immer wieder angeführter inhärenter Widerspruch der oben beschriebenen ›modernity thesis‹, die davon ausgeht, dass der Film von Anfang an die Veränderungen im Zuge der Modernisierung widerspiegelt. Würde er dies tun, so wäre diese Entwicklung geradezu paradox. Doch zurück zur Stadt im Kino. Zwar gab es auch nach Einführung des längeren Spielfilms innerhalb des Programmzusammenhangs Städtebilder und vereinzelt auch Lokalaufnahmen, doch die Stadt wanderte nun auch in den Spielfilm hinein: Die ersten längeren Spielfilme waren so genannte soziale Dramen, Sittenoder auch Sensationsdramen. Ein großer Teil dieser Filme war zudem Großstadtdramen, die auch als solche beworben wurden. Sie spielten in der Großstadt, oft in Berlin oder Paris. Viele dieser Großstadtdramen integrierten auch semi-dokuder öffentlichen Wahrnehmung bis heute als Epochenschwelle gehandelt wird. Er vollzieht sich im Bereich der Programmgeschichte, und zwar geraume Zeit später, nämlich während des Ersten Weltkrieges. Erst die Durchsetzung des Programmstandards ›langer Spielfilm‹ brachte jene Umwälzung, welche die Medienlandschaft für die nachfolgenden Jahrzehnte geprägt hat.« (Loiperdinger: »Plädoyer für die Zukunft des frühen Kinos«, S. 72). Vgl. zur Theorie der Medienumbrüche Ralf Schnell (Hg.): MedienRevolutionen. Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung, Bielefeld 2006. Darin zum Medienumbruch des frühen Kinos insbes. auch: Joseph Garncarz: »›Medienevolution‹ oder ›Medienrevolution‹? Zur Struktur des Medienwandels um 1900«, S. 63-84. 63 | Vgl. zum Wechsel vom Nummernprogramm zum Langfilm Corinna Müller: »Variationen des Kinoprogramms. Filmform und Filmgeschichte«, in: dies./Harro Segeberg (Hg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918 (Mediengeschichte des Films), München 1998, S. 43-75. Sowie ihre großangelegte und wegweisende Studie Frühe deutsche Kinematographie. 64 | »Die Zeit der Riesenfilme«, in: Lichtbild-Bühne 25.3.1911.

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mentarische Aufnahmen der Stadt in ihre Spielhandlung. Diese hatten ihren eigenen ästhetischen Reiz und dienten dem Publikum als Beleg für die Authentizität des Gezeigten. Im Rahmen der Erzählhandlung funktionierten diese Stadtbilder als dramaturgisch unabhängige Attraktionen, als ein »dokumentarischer Überschuss«,65 auf den man zuweilen mehr achtete, als auf die eigentliche Handlung. Aus dem Nebenreiz wurde nicht selten der Hauptreiz des Films, der vor allen Dingen jenen, die nicht in der Stadt wohnten, Bilder der Großstadt als Extra-Zugabe lieferte, und jenen, die aus der Stadt kamen, Bilder ihre eigenen Stadt zeigte. Ein Beispiel hierfür ist der Film Die arme Jenny (1911/1912) von Asta Nielsen (1881-1972). Darin geht es um ein junges Arbeitermädchen, das sich mit einem Studenten aus dem Vorderhaus einlässt, fallen gelassen wird und in der Großstadt die soziale Leiter hinabsteigt. Die arme Jenny wurde teilweise ›on location‹ in der Friedrichstraße gedreht und enthält semidokumentarische Berlin-Motive, wie den Stadtverkehr, eine Fahrt mit der Straßenbahn und dem Bus sowie Szenen vor einem Modewarenladen, den Besuch eines Cafés und eines Nachtclubs. Anders als die dokumentarischen Städtebilder blenden die neuen langen Großstadtdramen die Kehrseite der großen Stadt nicht aus und spielen, wie in diesem Fall, mit dem Kontrast von Vorder- und Hinterhaus und von Arm und Reich. Schaut man sich die Programme der einzelnen Kinos anhand von Anzeigen in der Tagespresse an, wird deutlich, dass in den Jahren 1911/1912 unzählige Filme aufgeführt wurden, deren Titel oder Untertitel schon eine Referenz an die Großstadt enthielten. In Mannheim wurden im Laufe der Jahre 1911 und 1912 unter anderem folgende Großstadtfilme gezeigt: Mitte des Jahres 1911 sah beispielsweise das Mannheimer Kinopublikum die Dramen Das Modell (D 1911, Tonhallentheater, Bochum) ein »erschütterndes, aber wahres Bild vieler Großstadtexistenzen«, so die Beschreibung in der Werbeanzeige, und Die Ballhaus-Anna (D 1911, Vitascope), ein »Berliner Halbwelt-Drama«, das die Gefahren des Lebens in der Großstadt mit seinen Warenhäusern, Cafés und Nachtclubs beschreibt. Im Oktober lief das »realistische Halbwelt-Drama« Verirrte Seelen (D 1911, Deutsche MB), das mit »düstersten Großstadtbildern« aufwartete, gefolgt von dem Drama Halbwelt (D 1911, Deutsche Mutoscope). Die Anzeige führt den Ort der Handlung an: »Anfangs Kleinstadt, im II. und III. Akt Großstadt und Nachtcafe.« Weiter ging es 1912 mit Versuchungen der Großstadt (DK 1911, Nordisk) und Nellys Abenteuer in der Stadt (US 1912, Edison), ein Film, der laut Anzeige »die Schicksale eines jungen Mädchens in der Großstadt« erzählt. Es folgen Mütter verzaget nicht (D 1911, Messter), »ein ergreifendes Drama, ein trauriges Großstadtschicksal« mit Henny Porten, und Unter den Rädern der Großstadt (1912, k.A.) sowie Die Versuchung oder Die Gefahren der Großstadt (k.A.) und Vernichtet (k.A.), ebenfalls eine »Geschichte aus der Großstadt«. Ein »realistisches Bild aus den vornehmen, aber wurmstichigen Kreisen v. Berlin W« zeichnet,

65 | Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 67.

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so die Anzeige, das Drama Funken unter der Asche, das im Mai 1912 in Mannheim gezeigt wurde. Bei einigen dieser Filme ist die Stadt jedoch nur im Titel präsent, wie bei Großstadthyänen (1914), Großstadtschönheit (1917), Im Sumpfe der Großstadt (1912), Im Labyrinth der Großstadt oder In der Großstadt verloren (beide 1911). Reale Bilder der Stadt sind in diesen Filmen oft nicht zu sehen. Das Innere von Salons, Nachtclubs und Bordellen ist das Einzige, was vom Leben in der Stadt gezeigt wird. Die Stadt im Titel steht somit als Metapher für die Vergnügungen und die damit einhergehende Unmoral und die Versuchungen der neuen städtischen Gesellschaft. In diesen Filmen wird die Großstadt zum einen assoziiert mit der gehobenen Gesellschaft, zum anderen aber auch mit den niederen Ständen, der Halbwelt und dem Nachtleben. Interessanterweise fungierten diese Filme jedoch nicht als Abschreckung vor den Gefahren der Großstadt, sondern übten eine große Faszination auf das zeitgenössische Publikum aus. Sie öffneten vor allem den Kinogängern aus der Provinz, aber auch den Angehörigen anderer sozialer Schichten topographische und auch soziale Räume, die ihnen bis dato versperrt waren, und erlaubten ihnen Einblicke in alternative und fremde Lebensweisen.66 Das städtische Leben oder das, was man damit gemeinhin assoziierte, war zu einem festen Motivspektrum des Kinos nach 1911 geworden. So trug nicht zuletzt die Filmwirtschaft selbst mit ihren Produktionen zum Aufbau des Mythos vom Zusammenhang von Großstadt, urbaner Vergnügungskultur und Kino bei. Auch wenn die Großstadtdramen nicht immer reale Stadtbilder zeigten, sondern nur die Anmutungen von Stadt oder eine Idee des Städtischen, so ermöglichten sie dennoch – ebenso wie die immer noch weiter existierenden dokumentarischen Genres der Städtebilder – weiten Teilen des Publikums die Teilhabe an der Metropolenkultur und an der Moderne an sich. Oder wie Emilie Altenloh schon 1914 in ihrer Studie zum Publikum des frühen Kinos betont: »In die kleinen Städte bringt das Kino den Abglanz der großen Welt und zeigt den Frauen, wie man sich in Paris anzieht, was für Hüte man trägt.«67 Während diese Filme einerseits Bilder der Stadt in die Provinz trugen und so auf der Ebene der Bilder zu einer Verwischung der Trennung von Stadt und Provinz beitrugen, forcierten sie andererseits durch eine neue Art des Vertriebssystems, das heißt des Filmverleihs, eine Marginalisierung der provinziellen bezie66 | Bestes und am detailliertesten untersuchtes Beispiel für diese Aneignungsweise ist das Genre der ›Weiße Sklavin‹-Filme, die eigentlich vor den Gefahren des Mädchenhandels warnen sollten. Doch erfreuten sie sich vor allen Dingen bei jungen Mädchen und Frauen allergrößter Beliebtheit. Denn diese rezipierten die Filme nicht als Opfergeschichten, sondern als Abenteuergeschichten, in denen junge Mädchen jenseits der gesellschaftlichen Normvorstellungen von Ehe und Hausfrauendasein eigene Erfahrungen mit der Welt und dem anderen Geschlecht sammeln konnten. Vgl. Shelley Stamp: »Is Any Girl Safe? Female Spectators at the White Slave Films«, in: Screen 37 (1996), Nr. 1, S. 1-15. 67 | Altenloh: Zur Soziologie des Kino, S. 91.

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hungsweise individuellen Kinopraktiken und führten zu einer Privilegierung der Metropolen und der größeren Städte. Denn die längeren Filme, die zugleich fast ausschließlich dem fiktionalen, narrativen Bereich entstammten, wurden außerhalb des Programmzusammenhangs als so genannte Monopol- oder auch Terminfilme verliehen. Dies bedeutete, dass sie nicht, wie vorher, als Teil eines ganzen Programms verkauft oder verliehen wurden, sondern separat als besondere Attraktion bezahlt werden mussten. Corinna Müller führt folgenden Grund für die Veränderungen der Produktion und der Verleihkonditionen, das heißt des Monopolfilmverleihs, an: Die Kurzfilmkultur war um 1909 niedergewirtschaftet, der Kurzfilm zur ›Schleuderware‹ verkommen. Es kam zu einem Preisverfall. Das Ventil, um diesem Missstand abzuhelfen und die Preise zu konsolidieren, war der längere Spielfilm mit seiner neuen Vertriebpraxis des Monopolfilms. Das System der Programmzusammenstellung wandelte sich nun vom Verkauf und Verleih ganzer Programme hin zum Verleih einzelner Titel.68 Viele der eben erwähnten Großstadtdramen wurden als Monopolfilme angeboten. Dies bedeutete, dass ihnen aufgrund der Verleihkonditionen eine gewisse Exklusivität verliehen wurde. Die Leihgebühr für diese Filme war zum einen vergleichsweise hoch, zum anderen kam immer nur eine bestimmte Anzahl von Kopien in den Verleih. Das heißt, die Ware Langfilm wurde künstlich knapp gehalten. Die Kinos teilten sich von nun an in Erstaufführungskinos und Nachspielkinos. Dies hatte zur Folge, dass die Besucher der großen und finanzstarken Kinos der Großstädte die gerade aktuellen Monopolfilme zuerst zu sehen bekamen, während die Besucher der Vorstadtkinos oder der inhabergeführten Kleinstadtkinos eine bis mehrere Wochen warten mussten, bis sie den neuesten ›Schlager‹ zu sehen bekamen. Während der Zeit der Nummernprogramme gab es bedingt durch die relativ offene Verleihpraxis keine grundsätzlichen Unterschiede von Filmprogrammen in Großstadtkinos und Provinzkinos. Natürlich unterschieden sich die Programme der einzelnen Kinos, aber die Unterschiede waren eher durch die Lage der Kinos innerhalb der Stadt bedingt und durch die Tatsache, welches Publikum sie anzogen. So war das Programm in einem großen Kino der Friedrichstraße einem Programm eines Innenstadtkinos in Mannheim oder Trier ähnlicher als das Programm eines Kinos im Wedding, das vielleicht einem kleineren Kino in einem Mannheimer Vorort oder einem kleinen Trierer Kino ähnelte. Erst mit der Einführung des Langfilms und der mit ihm verbundenen Praxis des Monopolfilmverleihs kam es im Hinblick auf das Kinoerlebnis zu einer Trennung von Großstadt und Provinz. Die Großstadtdramen trugen also nicht unerheblich dazu bei, dass die Großstadtbewohner ein privilegiertes Kinovergnügen genießen konnten.

68 | Vgl. zur Einführung des Monopolfilmverleihs Müller: Frühe deutsche Kinematographie, S. 158-159.

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Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Filme und das Kino bereits in ihren Anfangstagen mit der Topographie der Städte und dem Leben ihrer Bewohner auf vielfältige Weise verquickt waren. Die Verbindung von Kino und Metropole ist zwar in vielerlei Hinsicht bedeutend, jedoch mussten auch die Bewohner der Provinz- und Kleinstädte nicht auf diese neue Art der Vergnügung verzichten. Schnell wurde der Film auch zu einem Medium der Provinz, wo sich spezifische Aufführungs- und Rezeptionsformen ausbildeten. Dies zeigen die diskutierten Beispiele von Wanderkino, Lokalaufnahmen und Kinorezeption vor 1918. In weiten Teilen war jedoch das Filmerleben in den Metropolen und in der Provinz bis zur Einführung des langen Spielfilms als Monopolfilm recht ähnlich. Daher kann man auch nach heutigem Stand der Forschung Karl Prümm zustimmen, der trotz seiner Fokussierung auf das Großstädtische des Kinos zugeben musste: Die große Stadt ist der beherrschende Ort des Films. Hier wird die Produktion geplant und durchgeführt, von hier aus wird die Verteilung der Kopien organisiert, und selbst für die Rezeption stellt die Metropole die maßgebenden und stilbildenden Räume zur Verfügung. […] Ihn deshalb nun selber monopolistisch allein einer Metropolenforschung zuzuschlagen, wäre reichlich übertrieben. 69

Ja mehr noch, das frühe Kino war auch immer ein Kino des Lokalen und für die Bewohner sowohl von Kleinstädten und Dörfern als auch von Großstädten und Metropolen ein Mittel, sowohl an der großstädtischen Moderne als auch an intimeren kleinstädtisch assoziierten Praktiken teilzuhaben. Auch wenn auf der inhaltlichen Seite die Stadt ein wichtiges Thema des neuen Mediums Film war, so war doch die Art der Präsentation und mit ihr das Kinoerleben in Großstadt und Provinz recht ähnlich. Die Theoreme von Stadtanalysten, wie beispielsweise Walter Benjamin, erweisen sich nicht als uneingeschränkt brauchbar für das frühe Kino, obwohl sie, wie gezeigt werden konnte, ihre Wurzeln gerade in dieser Zeit haben. Machte für Simmel und seine Zeitgenossen noch das Programmformat des Kinos, das Nummernprogramm, die Modernität des Kinos aus, so hatte sich zu Zeiten Benjamins und Kracauers bereits seit längerem das Programm aus Wochenschau, Kurzfilm und Hauptfilm durchgesetzt. Sie sahen die Modernität des Kinos eher in seinen medialen Eigenschaften und seinen Inhalten begründet. Das Kino, über das sie schrieben, war ein ganz anderes als noch zehn Jahre zuvor. Nach der Diskussion der verschiedenen Verflechtungen von Metropole, Provinz und Kino hat dieser Beitrag vielleicht mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet hat. Doch gemäß seiner Intention ist es ihm hoffentlich gelungen, zu weiteren Forschungen anzuregen und die Diskussion um die oftmals unkritisch formulierte Verbindung von Stadt und Kino zu bereichern. Abschließend sei daher noch einmal zur Diskussion gestellt, ob eine Trennung zwischen Provinz- und 69 | Prümm: »Ergebnisse, Tendenzen, Perspektiven«, S. 19-31.

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Metropolenkultur im Hinblick auf das Kino vor 1912 sinnvoll ist oder ob nicht eher davon ausgegangen werden sollte, dass sich das Kino in den ersten Jahren dieser scharfen Trennung von Großstadt und Provinz widersetzte und nichts spezifisch Großstädtisches war, sondern ein wahrhaft demokratisches Medium, das sich den sozialen und lokalen Gegebenheiten anpassen konnte. Das Kino allgemein historisch unkritisch als ›städtisches Erlebnismodell‹ und Agent einer ›inneren Urbanisierung‹ (Korff) zu begreifen, ist für die Anfänge des Kinos daher heikel. Sicherlich konnte sowohl der Metropolenbewohner als auch der Kleinstädter im Kinoprogramm großstädtische Wahrnehmungsweisen einüben, aber das Kino fügte sich genauso gut in ländliche Kontexte sowie in die Vergnügungskultur von Provinzstädten ein. Das Kino wird somit zwar retrospektiv immer in die Reihe der Lehrmeister der Modernisierung eingeordnet. Ein Blick auf die historische Wirklichkeit lässt jedoch Ungleichzeitigkeiten und Brüche in dieser Wahrnehmung des Kinos evident werden.

Verflechtungen — Intermedialität des Vergnügens

Comme il faut Theater und Mode um die Jahrhundertwende Stefanie Watzka

M E TROPOLE – M ODE – THE ATER Diese drei Begriffe bilden den Ausgangs- und zugleich den Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags. Alle Elemente dieser Trias können in besonderer Weise als typische Phänomene für die Jahrhundertwende gesehen werden: Die Metropolen gewinnen im Zuge der Moderne als soziale, ökonomische und kulturelle Knotenpunkte immer mehr an nationaler und transnationaler Bedeutung. Beeinflusst durch die vielschichtigen gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts, namentlich der Urbanisierung, der allmählichen Entstehung eines für das späte 19. Jahrhundert so typischen Stadtbürgertums, der diese Entwicklung maßgeblich beeinflussenden Industrialisierung etc., entwickelt sich die Mode zum sozial, ökonomisch wie wissenschaftlich relevanten Massenphänomen. Und das deutsche Theater erlebte – spätestens seit der Gewerbefreiheit im Jahr 1869 für die Mitgliedsstaaten des Norddeutschen Bundes beziehungsweise der Reichsgründung im Jahr 1871 für das gesamte Deutsche Reich – eine Blütezeit und wird zum primären Unterhaltungsmedium des Bürgertums. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie eng die drei Phänomene um 1900 miteinander verknüpft waren. Zu diesem Zweck soll der transnationale Austausch zwischen der französischen Metropole Paris und der deutschen Metropole Berlin am Beispiel der Mode sowie deren Interdependenzen mit dem Theater näher beleuchtet werden.

D ER B EGRIFF DER M ODE IM DEUTSCHEN M ODEDISKURS UM 1900 Unter dem Begriff der Mode wird im zeitgenössischen Modediskurs der Jahrhundertwende in erster Linie »die Kleidermode und in dieser sogar überwiegend die

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Damenbekleidung«1 verstanden. Allerdings kommt es immer wieder zu Erweiterungen und Übertragungen auf andere Bereiche des Lebens. So heißt es beispielsweise in Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1908: Das Gebiet, auf dem die M[ode] am unbestrittensten herrscht, ist die Kleidung; doch gibt es kein Gebiet des menschlichen Gemeinlebens, das sich dem Einfluß der M[ode] ganz zu entziehen vermöchte. 2

Eine dementsprechende Erweiterung der Verwendung lehnt Alexander Elster (1877-1942) in seinem 1913 in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik erschienenen Artikel »Wirtschaft und Mode« aus Angst vor einem inflationären Gebrauch des Begriffs ab: Er schlägt daher vor, Mode auf die Kleidung zu beschränken, auf die »Zutaten der äußeren Erscheinung des Menschen. […] Alles andere, was ›Mode‹ ist, oder ›modern‹ ist, ist es im übertragenen Sinne«.3 Auch wenn Elsters Aussage äußerst strittig ist und seine Argumentation nicht wirklich zu überzeugen vermag, soll hier seiner Idee einer Einschränkung aus rein praktikablen, nicht prinzipiellen Gründen weitgehend gefolgt werden.4 Die Mode im Sinne der Kleidermode vollzieht als gesellschaftliches wie historisches Phänomen in Europa seit dem 17. Jahrhundert eine interessante Entwicklung, die Julia Bertschik wie folgt beschreibt: [I]m Unterschied zur Mode als negativem Kampfbegriff, wie ihn in pädagogisch-moralischer Absicht auch die moralischen Wochenschriften der Aufklärung noch weitgehend verwenden, etabliert sich die Kleidermode [seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, S.W.] zunehmend als gesellschaftlich akzeptiertes Thema innerhalb einer bürgerlich-urbanen Öffentlichkeit, vermittelt über das eigenständige Medium der Modezeitschrift. Hier wird der immer schnellere Wechsel neuer Moden dokumentiert, als deren Ideenlieferanten nicht mehr allein der Adel, sondern bürgerliche Exzentriker und Vertreter der ›Demimonde‹, Dandies, Kokotten, Schauspielstars, professionelle Modeschöpfer oder jugendliche Subkulturen agieren: Standeskleidung wird damit zur Gesinnungsmode. 5

1 | Alexander Elster: »Wirtschaft und Mode«, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 46 (1913), S. 172-203, hier S. 178. 2 | »Mode«, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 14, Leipzig 1908, S. 11-12. 3 | Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 178. 4 | Elsters Meinung, bei allen Übertragungen des Begriffs auf andere Gebiete handele es sich »nämlich entweder um Kulturfortschritte oder um Wertungen, die durch Massensuggestion oder Reklame hervorgerufen werden, oder eben relativ dauernde Errungenschaften in der Entwicklung des Geschmackes sind«, Elster: »Wirtschaft und Mode«, hier S. 178, ist sicherlich diskutabel. 5 | Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutsch sprachigen Literatur (1770-1945), Köln 2004, S. 8-9.

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Kann man das 18. Jahrhundert als Geburtsstunde der Modezeitschriften bezeichnen, welche die Mode vor allem der bürgerlichen Lebenswelt erschloss und sie in diese integrierte, so lässt sich für das 19. Jahrhundert neben der populärkulturellen Aufarbeitung des Phänomens durch ebensolche Journale und ihre vielen Nachfolgermodelle verstärkt auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Mode konstatieren.6 Diese Strömung ist im Fahrwasser der im 19. Jahrhundert generell intensiver werdenden Verwissenschaftlichung und Theoretisierung ganz unterschiedlicher Phänomene angesiedelt. Im Zuge einer solchen theoretischen Auseinandersetzung mit den das 19. Jahrhundert prägenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen – seien es die kontinuierliche Urbanisierung, die Verschiebung von ständischen Strukturen oder der in Deutschland im 19. Jahrhundert im Vergleich zu anderen europäischen Staaten erst spät aufblühende Kapitalismus – kam es zu einem gesteigerten Interesse daran, das Phänomen der Mode näher erkunden und erklären zu wollen.7 So lässt sich seit den 1870er Jahren verstärkt eine diskursive Auseinandersetzung mit dem Thema Mode unter Rückgriff auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, namentlich unter ökonomischen, philosophischen, historischen, (sozial-)psychologischen und vor allem soziologischen Prämissen, feststellen.8 6 | Besonders bekannte Beispiele für frühe Modejournale sind das Journal des Luxus und der Moden (1786-1823) und die Allgemeine Modenzeitung (1798-1903). Weiterhin gab es später neben den französischen und englischen Modejournalen, wie Ladies’ Gazette of Fashion, Le Journal des Dames et des Demoiselles oder Le Figaro-Modes, auch deutsche Journale, wie Die große Modenwelt, Der Bazar oder schließlich im frühen 20. Jahrhundert die besonders erfolgreiche Frauenzeitschrift Die Dame. Vgl. zu Modezeitschriften etwa Lore Krempel: Die deutsche Modezeitschrift ihre Geschichte und Entwicklung nebst einer Bibliographie der deutschen, englischen und französischen Modezeitschriften, Coburg 1935; Anika Völkel: Die Modezeitschrift. Vom Journal des Luxus und der Moden zu Brigitte und Elle (Schriften zur Kulturgeschichte 1), Hamburg 2006. Interessant ist ebenfalls, dass selbst in den Tageszeitungen, wie beispielsweise der Berliner Börsen-Zeitung, eine Kategorie zur Mode eingerichtet wurde, unter welcher die neuesten Trends beschrieben und bewertet wurden. 7 | Vgl. zu den Entwicklungen im 19. Jahrhundert etwa Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 13), Stuttgart 10 2001; Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871-1914: Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 16), Stuttgart 2003. 8 | Als Beispiele solcher heutigen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit oft nicht mehr genügenden Veröffentlichungen wären zu nennen: Friedrich Theodor Vischer: Wieder einmal über Mode, Berlin 1878; ders.: Mode und Cynismus, Stuttgart 1879; Friedrich Kleinwächter: Die Philosophie der Mode, Berlin 1880; Julius Lessing: Der Modeteufel, Berlin 1884; Werner Sombart: Wirthschaft und Mode, Wiesbaden 1902; Georg Simmel: Philosophie der Mode, Berlin 1905; Elster: »Wirtschaft und Mode«.

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Eine der bekanntesten Veröffentlichungen ist der Text Wirthschaft und Mode des Soziologen und Ökonomen Werner Sombart (1863-1941) aus dem Jahr 1902, in dem dieser die Geschichte der Mode als Massenbedarfsgeschichte schreibt. Sombart, der das früheste Einsetzen einer modischen Entwicklung im 15. Jahrhundert verortet, misst dem 19. Jahrhundert eine besondere Rolle hinsichtlich der Entwicklung des Phänomens bei: Und trotzdem ist man versucht zu behaupten, dass das innerste Wesen der Mode sich erst in dem verflossenen Jahrhundert, ja, erst seit einem Menschenalter voll entfaltet habe, dass jedenfalls erst in der letzten Zeit die Eigenarten der Mode sich bis zu einem Grade ausgeprägt haben, der sie befähigte, jenen bestimmenden Einfluss auf die Gestaltung des Wirthschaftslebens auszuüben, der allein uns an dieser Stelle das Interesse für die Mode einzuflössen vermag. 9

Die oben beschriebene »moderne Mode«,10 wie er sie auch nennt, kennzeichnet Sombart anhand dreier Gesichtspunkte, die sowohl die zeitgenössischen Produktionsbedingungen als auch die soziale und politische Situation im 19. Jahrhundert widerspiegeln. Diese sind: 1. die unübersehbare Fülle von Gebrauchsgegenständen, auf die sie sich erstreckt. […] 2. […] es [ist] die absolute Allgemeinheit der Mode, die erst in unserer Zeit sich eingestellt hat. […] Die Egalisierungstendenz ist heute durchaus eine allgemeine und wird durch keine räumliche und keine ständige Schranke mehr aufgehalten. […] 3. [ist] das rasende Tempo des Modewechsels ein ebenfalls der Mode unserer Zeit charakteristisches Merkmal.11

Wie in vielen zeitgenössischen theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, so gibt es auch in Sombarts Text keine begriffliche Trennschärfe zwischen der Mode als (soziologischem) Phänomen und der Kleidermode als eine ihrer Unterkategorien; einmal mehr dient die Kleidung als Paradigma der Mode an sich. Diese hier offensichtlich werdende, stets exponierte Stellung der Kleidermode ist darauf zurückzuführen, dass keine andere Ware sowohl ob ihrer Produktionsbedingungen als auch in Bezug auf die Konsumpraktiken die Entwicklung der Mode und ihre intrinsischen Prozesse besser widerspiegelt. Dies lässt sich unter anderem auf die Entwicklung zurückführen, welche die Kleidung im 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Produktion vollzog. Handelte es sich zu Beginn des Jahrhunderts noch um entweder durch den Verbraucher beziehungsweise die Verbraucherin selbst genähte oder meist bei einem Schneider in Auftrag gegebene und von diesem speziell für den jeweiligen Kunden angefertigte Einzelstücke, entwickelte sich die 9 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 12. 10 | Ebd., S. 12. 11 | Ebd., S. 13.

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Kleidung allmählich zum seriell hergestellten Produkt. Aus den einst meist als Familienbetriebe organisierten Webereien und Schneidereien wurden im Laufe des Jahrhunderts große Textil- und Bekleidungsunternehmen.12 Aus den individuell gefertigten Schneiderwaren wurden konfektionell, das heißt nach standardisierten Maßen gefertigte Massenprodukte, die zumindest für den finanziell besser gestellten Teil der Gesellschaft, vor allem das Bürgertum, erschwinglich waren.13 Die maschinellen Herstellungsbedingungen unterstützten die Entwicklung der Mode auf unterschiedlichen Ebenen: Einerseits ermöglichten sie eine schnelle Nachahmung bestimmter modischer Prototypen, andererseits erlaubten sie Variationen auf allen Ebenen; die Quantität der für die Kleider zur Verfügung stehenden Stoffe, Farben, Formen und Muster stieg kontinuierlich an.14 Die von Sombart angesprochenen sozialen wie lokalen Egalisierungstendenzen deutet auch der Essayist Franz Blei (1871-1942) an, wenn er darauf hinweist, »die Frauenmode ist wesentlich stationär und allgemeine Tracht geworden für jede Dame, und für jedes Dienstmädchen am Sonntag gleich erreich- und tragbar«.15 Besonders die neuen (groß-)städtischen Distributionsstrukturen, wie etwa die neu entstandenen Warenhäuser oder größeren Konfektionsgeschäfte, begünstigten diese Entwicklung.16 Sie erleichterten den Zugang für die Verbraucher: Der fehlende Kaufzwang in den Warenhäusern ermöglichte prinzipiell für jede(n), unabhängig von der sozialen Schicht, wenn schon nicht unbedingt einen Kauf, so doch einen Bummel und damit zumindest die Orientierung an den neuesten modischen Strömungen. Was man im Geschäft gesehen hatte, konnte man schließlich mit Hilfe 12 | Ein geradezu paradigmatisches Exempel für die Entwicklung eines solchen Textilunternehmens gibt Kegel in seiner Untersuchung des baden-württembergischen Unternehmens Bleyle. Vgl. Thomas Kegel: »›Qualität, Sauberkeit, Fleiß, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit‹. Wilhelm Bleyle – ein moderner Unternehmer erbaut seine Fabrik«, in: Christel Köhle-Hezinger/ Gabriele Mentges (Hg.): Der neuen Welt ein neuer Rock. Studien zu Kleidung, Körper und Mode an Beispielen aus Württemberg, Stuttgart 1993, S. 14-24. 13 | Wie Elster angibt, handelt es sich bei den meisten Kleidermode herstellenden Unternehmen jedoch noch nicht um Fabriken. Im Gegenteil stellten diese eher eine Ausnahme dar. Vielmehr war »das Verlagssystem, also Heimarbeit und Zwischenmeistersystem, typisch für die Modeindustrie, namentlich für die Konfektionsindustrie, die ja Mode im engsten Sinne bedeutet«. Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 193. 14 | Vgl. zur Entwicklung und Konfektionierung der Mode im 19. Jahrhundert Uwe Westphal: Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung einer Tradition 1836-1939, Berlin ²1992. 15 | Franz Blei: »Zur Phänomenologie der Mode«, in: ders.: Die Puderquaste des Prinzen Hippolyt [1908], München 1920, S. 268-295, hier S. 287. 16 | Vgl. zu den Warenhäusern Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter: Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen 2008, S. 273-285; Tobias Becker: »Feste des Konsums? Unterhaltungstheater und Warenhäuser in Berlin und London um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen/Basel 2009, S. 216-237.

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von Schnittmustern und eigenen Fähigkeiten zu Hause nach bestem Wissen nachschneidern. Die für die Mode typische Nachahmung eines bestimmten Modells und deren Verbreitung nahmen damit ihren Lauf: Das modische Kleidungsstück wandelte sich vom Luxusgut für einige wenige zum Massenprodukt.17 Den Weg für diese sich in der Mode niederschlagende egalisierende Entwicklung ebnete vor allem eine Veränderung innerhalb der sozialen Strukturen: Das 18. Jahrhundert war noch klar durch ständische Vorgaben hinsichtlich der Kleiderordnung geprägt; man trug »Kleider, die den eigenen Platz in der Gesellschaft deutlich sichtbar machten«.18 Dahingegen zeichnete sich das 19. Jahrhundert durch eine Demokratisierung der Mode aus: »Keine Kleiderordnung gab mehr vor, wer sich wie zu kleiden oder was zu meiden hätte, und so war dem Einfallsreichtum keine Grenze mehr gesetzt.«19 Anstelle von sozial oder politisch auferlegten Hierarchien fand eine Distinktion nunmehr auf der Ebene der ökonomischen Situation des Einzelnen, auf der Ebene des Kapitals, statt. So entstand im 19. Jahrhundert […] ein über die ursprüngliche Kleidungsfunktion, den Körper nach außen zu schützen, hinausgehendes Verständnis von Kleidung: als ein bewußt eingesetztes, zeichenhaftes Signal wie als Ausdruck des gesellschaftlich Unbewußten – im Sinne eines kulturellen Habitus also. 20

Im Zuge dessen lässt sich das beobachten, was der US-amerikanische Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen (1857-1929) in seinem Werk The Theory of the Leisure Class als »conspicuous consumption«21 bezeichnet: ein nach außen getragener, bewusst sichtbar gemachter Konsum. Dieser schlug sich vor allen Dingen im Verhalten des finanziell besser gestellten Bürgertums nieder und diente diesem zur Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Schichten, insbesondere von der Arbeiterschaft; gleichzeitig begünstigte diese ›conspicuous consumption‹ die Stärkung eines explizit bürgerlichen Selbstbewusstseins, einer bürgerlichen Identität:22 »Zur bürgerlichen Lebensführung gehörten Sauberkeit und spezifische 17 | Dass die Nachahmung zu einem Verlust des Modecharakters des Produkts führe, soll an dieser Stelle nur erwähnt, nicht diskutiert werden. Vgl. dazu Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 190-195 sowie Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 22. 18 | Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1986, S. 95. 19 | Gertrud Lehnert: Frauen machen Mode. Berühmte Modeschöpferinnen von Coco Chanel bis Vivienne Westwood, München/Zürich 2000, S. 55. 20 | Bertschik: Mode und Moderne, Köln 2004, S. 4-5. 21 | Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class [1899], New York 1961, S. 52-76. 22 | »Die Mode drückt Identität nicht einfach aus, sondern trägt ganz erheblich dazu bei, sie überhaupt erst zu schaffen.« Gertrud Lehnert: »Geschlechtermoden«, in: Christine Burckhardt-Seebass/Sabine Allweiler (Hg.): Geschlechter-Inszenierungen. Erzählen – Vorführen – Ausstellen, Münster u.a. 2003, S. 3-19, hier S. 5.

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Kleidung, wohl definierte Tischsitten und andere Konventionen, auch der Sinn für symbolische Formen und für die ästhetische Aneignung von Kunst.«23 Mode wurde zum »Kampfmittel sozialer Differenzierung« und brachte dementsprechend »eine gewisse Spannung und zugleich Zugkraft in das soziale Leben«.24 Der ostentative Konsum fand also »nicht zuletzt im Bereich der Mode statt. Das [hatte] zur Folge, daß die Damenmode wieder sehr prächtig wurde und daß sie einem immer rascheren Wechsel unterworfen war«.25 Eben jenen schnellen Modenwechsel nennt Sombart als drittes Charakteristikum der modernen Mode und führt ihn wiederum auf zwei Faktoren zurück: einerseits auf die sich im Laufe der Zeit verändernden Produktionsbedingungen und andererseits auf die Lebensumstände der Menschen.26 Ganz im Trend seiner Zeit argumentierend meint der Soziologe im Zuge der vielen Veränderungen sogar die Entstehung einer Art ›neuer Menschen‹ erkennen zu können, zu denen er sich auch selbst zählt. Deren Begehrensstrukturen macht Sombart mitunter für die Schnelligkeit des Modenwandels verantwortlich: Der ›neue Mensch‹ der Moderne treibt die Mode durch sein stets durch den Drang nach Veränderung geprägtes Bedürfnis permanent selbst an, was zu einer »Durchtränkung des gesammten socialen Lebens der Gegenwart mit Mode« führt.27 So heißt es in Wirthschaft und Mode: Aber viel wichtiger ist doch der Umstand, dass mit der Veränderung der Technik und der äusseren Lebensbedingungen […] auch ein neues Geschlecht von Menschen herangewachsen ist. Menschen, die die Rastlosigkeit und Unstetigkeit ihres inneren Wesens auch in der äusseren Gestaltung ihres Daseins zum Ausdruck zu bringen trachten. Wir wollen den Wechsel unserer Gebrauchsgegenstände. Es macht uns nervös, wenn wir ewig ein und dasselbe Kleidungsstück an uns oder unserer Umgebung sehen sollen. Ein Abwechslungsbedürfnis beherrscht die Menschen […]. 28

23 | Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, S. 119 [Hervorhebungen, S.W.]. 24 | Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 195. 25 | Lehnert: Frauen machen Mode, S. 55. 26 | Elster ergänzt noch, dass sich das Tempo des Modenwechsels auch durch Verbesserungen in den Distributionsbedingungen verschärfte: »Dieses Tempo ist in der Gegenwart mit ihrer großen Entwicklung des Verkehrswesens und der Nachrichtenübermittlung ganz naturgemäß ins Ungeheure gewachsen, und das entspricht sowohl der Raschheit der Verbreitung einer neuen Mode wie dem raschen Ableben derselben Mode.« Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 181. 27 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 14. 28 | Ebd., S. 9.

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Die Nervosität dieser modernen Menschen wird nach Sombart zum Motor für Veränderungen, angeheizt durch eine willkürliche Sucht nach Abwechslung, die eine innere Unruhe widerspiegelt.29 Die Schnelllebigkeit als Symptom des Fin de Siècle nimmt auch der Soziologe Georg Simmel (1858-1918) in seiner Schrift »Philosophie der Mode« aus dem Jahr 1905 auf und stellt eine Verbindung zwischen der Mode und der Großstadt als ein typisches Phänomen der Moderne her. Bereits zwei Jahre zuvor hatte der Soziologe in seinem berühmt gewordenen Text »Die Großstädte und das Geistesleben« auf die vorherrschende Nervosität der Menschen verwiesen. Diese erklärte er durch die mannigfaltigen Eindrücke, welche insbesondere auf die Großstädter jeden Tag einprasseln, und brachte diese Entwicklung auf die berühmt gewordene Formel von der »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«.30 Simmel zufolge schlägt sich diese Entwicklung der Moderne auch in der Mode nieder. Anders als Sombart, der in erster Linie einen produktions- und konsumorientierten Standpunkt vertritt, nimmt Simmel verstärkt eine sozialpsychologische Perspektive ein. Unter Verweis auf ein weiteres Phänomen der Moderne führt er den schnellen Modenwandel seiner Zeit auf die überreizten Nerven der Menschen respektive der modernen Großstädter zurück: Der Wechsel der Mode zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an, je nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln, weil das Bedürfnis nach Unterschiedreizen, einer der wesentlichen Träger aller Mode, mit der Erschlaffung der Nervenenergien Hand in Hand geht. 31

Somit stellt Simmel eine Verbindung zwischen dem Tempo des Modenwechsels, dem Bedürfnis nach Distinktion und dem Fin de Siècle als durch beide Faktoren enorm geprägte Zeit her. Auch Sombart macht die Großstadt als prädisponiert für die Mode aus. Wie für Simmel hat auch für ihn die moderne Bedarfsgestaltung hier ihren Sitz. Beide kennzeichnen den städtischen Bedarf vor allen Dingen durch ein grundsätzliches Bedürfnis des Großstädters nach Wechsel und schneller Veränderung:

29 | Vgl. zum Nervositätsdiskurs der Jahrhundertwende Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1983. 30 | Simmel: Philosophie der Mode, S. 16; Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der GeheStiftung Dresden 9), Dresden 1903, S. 185-206, hier S. 185. 31 | Simmel: Philosophie der Mode, S. 16.

C OMME IL FAUT Aber was mir den grossstädtischen Bedarf vor allem zu charakterisiren scheint im Gegen satz zu dem ländlich-kleinstädtischen, ist seine viel grössere Unstetigkeit und Wand lungsfähigkeit. 32

Durch das stets wachsende Bedürfnis ihrer Bewohner nach Wandel erobert sich die Großstadt eine Dominanzstellung gegenüber der Provinz und oktroyiert dieser die eigene Bedarfsgestaltung auf – ein Phänomen, das Sombart als »die Urbanisierung des Bedarfs« bezeichnet.33 Demzufolge wird die Großstadt der Orientierungspunkt, so dass seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts »von den grossen Centren des socialen Lebens, den Städten, aus […] Kleidung und Wohnungseinrichtung, wie jeder andere Güterbedarf in ihrer Eigenart für das ganze Land geregelt« wurden.34 Basierend auf den Beobachtungen von Simmel und Sombart schreibt auch Elster der Großstadt die Rolle als treibende Kraft im Spiel der Mode zu. Allerdings nimmt er noch einige Ergänzungen hinsichtlich der für die Großstädte typischen Charakteristika vor: Namentlich die großstädtische Entwicklung mit ihrer Wechselhaftigkeit des Lebens, mit ihren freieren Ansichten, der Unstetigkeit und der Abstellung auf unseren Eindruck gegenüber den sonst unbekannten Mitmenschen mußte der Ausbreitung der Modeherrschaft günstig sein. Dazu kommt die in den Großstädten gewaltig gesteigerte Betonung des öffentlichen erotischen Lebens, die Kultivierung der Demimonde, die der hauptsächliche Träger des Modenwechsels und der Extravaganzen geworden ist. 35

Elster schreibt der Großstadt neben der typischen Freude an der »Wechselhaftigkeit« und »Unstetigkeit« einen größeren Liberalismus (»freiere Ansichten«) und vor allem – hier klingt ein Faktor an, den Elster neben »dem Nachahmungstrieb und dem Wunsch sozialer Differenzierung durch die Mode«36 als eine dritte Erklärung für die Entstehung wandelbarer Modetendenzen allgemein sieht – eine erotische Komponente zu. Wie Simmel, wenn dieser die überreizten Nerven des modernen Menschen hervorhebt, spricht auch Elster ein für seine Zeit sehr charakteristisches Thema an, welches in den meisten anderen Abhandlungen zur Mode allerdings keine oder nur eine geringe Erwähnung findet: den sich um 1900 etablierenden Sexualdiskurs.37 Geprägt durch diesen sowie durch zeitgenössische Entwicklungen in der 32 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 7. 33 | Ebd., S. 6. 34 | Ebd. 35 | Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 196. 36 | Vgl. ebd., S. 180. 37 | Elster selbst verweist beispielsweise auf Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), Henry Havelock Ellis (1859-1939), C.G. Jung (1875-1961) oder Sigmund Freud (18561939). Vgl. Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 180.

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Psychologie, insbesondere durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856-1939), sieht Elster in der Erotik – und damit in dem stets einem Wandel unterworfenen Körperideal – eine weitere Triebkraft der Mode. Elsters gedankliche Grundlage ist dabei beeinflusst durch das zeitgenössische, patriarchalisch geprägte Geschlechterbild, welches dem Mann gegenüber der Frau eine überlegene Stellung zuschreibt. Dies schlägt sich nach Elster auch in der Entwicklung der Mode nieder: Es ist das Verhältnis des Mannes zur Frau, das […] die Moderichtung bestimmt. […] Der Mann zeigt sich immer als die treibende Kraft dabei, sowohl in den Zeiten, da er in Nichtachtung der Frau sich selbst schmückte, wie in den späteren Zeiten, da er in Hochschätzung der Frau diese zu schmücken sich angelegen sein läßt. Die Mode ist also heute noch das Kampfgebiet der Geschlechter und ihre Ergebnisse sind Dokumente für den Stärkeren. 38

Diese – euphemistisch dargestellte – Dominanzstellung des Mannes, welcher die Frau allein als Schmuck seiner selbst betrachtet, dient Elster auch als gedankliche Basis zur Erklärung des zeittypischen schnellen Modenwechsels: Dazu gesellt sich dauernd das Variationsbedürfnis, das immer wirksam bleibt, und das, weil der Mann die polygam veranlagte Natur ist, sich eben um so mehr in der weiblichen Kleidung ausdrückt, diese also dem Modewechsel um so stärker unterwirft. 39

Elster unterminiert somit einerseits die Position der Frau als aktive, die Modelandschaft beeinflussende Konsumentin, andererseits reduziert er die Mode auf ein Organ zur Befriedigung einer polygamen männlichen Libido: Das Phänomen Mode wird somit zum Spiegel der Vorstellung von männlicher Sexualität um 1900. In Anbetracht all dieser Gesichtspunkte fasst Elster zusammen: Mode nennen wir vorübergehend herrschende Formen menschlicher Kleidungsstücke, deren Entstehen auf erotischem Variationsbedürfnis und deren Ausbreitung auf den massenpsychologischen Tendenzen der Nachahmung und sozialen Differenzierung beruht. 40

In dieser Definition vereinigt Elster nicht nur seine, sondern auch theoretische Ansätze verschiedener Zeitgenossen, wie Simmel oder Sombart, und schafft damit einen – vor allem in der Retrospektive interessanten – Überblick über die unterschiedlichen zeittypischen Diskurse, welche sich auch in der Modetheorie des Fin de Siècle sammeln. 38 | Ebd., S. 185. 39 | Ebd., S. 189. Elsters Äußerung ist nahezu deckungsgleich mit der Krafft-Ebings in dessen berühmtem Buch Psychopathia sexualis (1886): »Jedenfalls ist die seelische Richtung des Weibes eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt.« Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, München 1984, S. 12. 40 | Vgl. Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 178.

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PARIS – DER I NBEGRIFF DER M ODEME TROPOLE Für die Damenbekleidungsmode war der Orientierungspunkt und Impulsgeber die französische Hauptstadt Paris.41 Hier tobte seit dem 18. Jahrhundert der, wie es im zeitgenössischen Diskurs heißt, »Modeteufel«,42 und die Maxime war

›Sehen und Gesehenwerden‹, auf den Boulevards und Corsos, bei feierlichen Anlässen aller Art, in Theater, Oper und Varieté, bei Pferderennen, Regatten, anderen sportlichen Ereignissen. Kurz, die Mode lebt hier in allergrößter Öffentlichkeit, die sich dementsprechend ganz unmittelbar und sehr früh aller Massenkommunikationsmittel bedient […], um sich vor den Augen der Großstadt, von dort aus vor den Augen des ganzen Landes und schließlich vor den Augen der ganzen Welt zu exhibitionieren. 43

Die im 18. Jahrhundert errungene Vorreiterrolle44 verteidigte Paris bis ins 20. Jahrhundert hinein. Hier waren um 1900 die bedeutendsten Schneider und Modeschöpfer ansässig: Selbst führende Häuser giebt es fast ein Dutzend, unter denen wiederum Rouff und Laffrière, Pingat und Worth, neuerdings vor allem Doeuillet und Doucet an Macht und An-

41 | Auch die Hauptstadt Österreich-Ungarns, Wien, zeichnete sich im 19. Jahrhundert durch eine fruchtbare Modelandschaft aus, welche ähnliche Strukturen wie Paris – und damit auch ähnliche Strukturen hinsichtlich eines transnationalen Modeaustauschs – aufweist. An die Vorherrschaftsstellung der französischen Metropole reichte Wien jedoch nicht heran. Vgl. zur Situation in Wien Gerda Buxbaum: Mode aus Wien 1815-1938, Salzburg u.a. 1986. Die führende Position hinsichtlich der Männermode und damit gleichzeitig auch Orientierungspunkt aller anderen europäischen Metropolen weisen sowohl Sombart als auch Elster nicht Paris, sondern der britischen Hauptstadt London zu. So spricht Elster von der »Vorherrschaft von Paris in der Damenmode und von London in der Herrenmode«, vgl. Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 187 und Sombart schreibt: »So ist das Centrum für die Entstehung der Herrenmoden noch immer die Umgebung des Prinzen von Wales […].«, Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 19. Sabina Brändli spricht von der »Männermode-Metropole London«, Sabina Brändli: ›Der herrlich biedere Mann‹. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert, Zürich 1998, S. 247. Vgl. auch Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon, 5., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2005, S. 62-67. 42 | Vgl. Lessing: Der Modeteufel. 43 | René König: Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozess, Opladen 1999, S. 53. 44 | Lehnert gibt an: »Im 18. Jahrhundert war in der Tat die Mode längst zu einer französischen Angelegenheit geworden, und Paris galt in ganz Europa als Hauptstadt der Mode.«, hier Lehnert: Frauen machen Mode, S. 18.

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S TEFANIE W ATZKA sehen hervorragen. Diese ganz Grossen sind in der ›Kreierung‹ der Mode fast autonom; ganz selten, dass sie sich einer ›Anregung‹ bedienen […]. 45

Durch die Betonung der Macht und der ästhetischen Autonomie der Modeschöpfer in der französischen Hauptstadt, verknüpft mit einem überaus elaborierten kapitalistischen Produktions- und Distributionssystem, kommt der Metropole Paris ein fast als Monopolstellung zu bezeichnender Status zu.46 Elster sieht die Umstände ähnlich wie Sombart; er stellt jedoch nicht die ökonomische Macht in den Vordergrund, sondern führt die gewonnene Rolle Paris’ als modische Hauptstadt auf die ihr inhärenten Strukturen zurück: »Und es bedarf eben […] der ganzen mondainen Organisation, wie sie Paris aufweist, um brauchbare neue Ideen sich wirklich rasch ihre weltbeherrschende Verbreitung gewinnen zu lassen.«47 Doch nicht nur die weltbürgerlichen Strukturen der Metropole, sondern auch ihre Einwohnerinnen begünstigen nach Meinung Elsters die Vormachtstellung der Modehauptstadt. Er greift auf das nationale Stereotyp von der ›eleganten Französin‹ zurück. Diese beschreibt Elster wie folgt: »Die Französin ist für eine bestimmte, erotisch betonte Weiblichkeit eine Idealgestalt geworden, die vor allen Dingen jene Leichtigkeit und Fähigkeit besitzt, neue Moden schick zu tragen und zu lancieren.«48 In dieser Äußerung deutet Elster eine um 1900 hart umkämpfte Streitfrage innerhalb der Modetheorie an: Gestritten wurde darum, ob Produzenten oder Konsumenten einflussreicher bei der Gestaltung und Distribution der Mode seien. Da, wo Elster den Verbrauchern sui generis eine Rolle im modischen Mitbestimmungsprozess zuspricht, in ihnen also einen (unterschätzten) Einflussfaktor auf die entstehenden Kreationen wie auf ihre Verbreitung sieht, reduziert Sombart die Konsumenten auf einen eher passiv rezipierenden Part.49 Zur Bekräftigung seines Arguments zieht Sombart einmal mehr das Beispiel Paris heran: Er sieht in der französischen Metropole einen unabhängigen Modemittelpunkt nicht nur Europas, sondern der Welt; Paris wird zum Superlativ seiner Vorstellung von der modernen Mode. Auf Grundlage der dort vorherrschenden, nahezu perfekt funktionierenden Produktions- wie Distributionsstrukturen folgert der Soziologe, »dass die Mitwirkung des Consumenten dabei auf ein Minimum beschränkt bleibt, dass vielmehr durchaus die treibende Kraft bei der Schaffung der modernen Mode der capitalistische Unternehmer ist«.50 Dieser bediene auf eine nahezu ideale Weise das »neue Geschlecht von Menschen«, das seinen sich ständig im Begehrenszustand nach ebenjener Novität befindlichen Bedarf gedeckt wissen will. Beide Thesen können 45 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 17. 46 | Vgl. ebd., S. 16-19. 47 | Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 197. 48 | Ebd., S. 187. 49 | Vgl. ebd., S. 196. Elster grenzt sich hier ganz entschieden von der Einstellung Sombarts zu diesem Thema ab. 50 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 19.

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aus heutiger Perspektive allerdings nicht vollständig überzeugen. So kann weder der Konsument aufgrund seiner Einbindung in ebenjenes von Sombart beschriebene System wirklich in einem von Elster konstatierten Umfang Einfluss auf die Entwicklung der Mode nehmen,51 noch genügt es, die vorhandenen kapitalistischen Strukturen als ausreichend für die Lenkung der Nachfrage zu benennen.52 Vielmehr müssen die Mode, ihre Macher wie auch ihre Konsumenten in einem komplexen System von ökonomischen, sozialen und politischen Interessen verortet werden.

D IE B ÜHNE ALS O RT UND DIE S CHAUSPIELERIN ALS A GENTIN DER M ODE Auch die Pariser Theater – insbesondere die Boulevard- und Revuetheater – verfielen dem Diktat der schnelllebigen, wechselhaften Mode beziehungsweise jenem ›nervösen‹ Bedarf des großstädtischen Publikums. Die Theater der Metropole Paris, typische Orte des metropolitanen Vergnügens, dienten bald auch als Spielstätten für die großstädtische Mode. Diese bahnte sich immer mehr ihren Weg in die großstädtische Vergnügungskultur, wurde ein bald nicht mehr wegzudenkender Teil von ihr – und ihre Macher begannen, die im Theater herrschenden Verhältnisse für ihre eigenen ökonomischen Strategien zu nutzen. So verwendeten beispielsweise die Pariser Modedesigner das moderne Bühnenkostüm der Schauspielerinnen für ihre Zwecke, nämlich als Werbemittel für ihre eigenen Kreationen. Doch nicht nur das: Weicht man einmal ab von der starren Gleichsetzung von Mode und Kleidermode, so lässt sich feststellen, dass auch die Schauspielerinnen selbst dem schnellen Modenwechsel der Großstadt unterworfen waren. In einem im Modemagazin Der Bazar, einer der auflagenstärksten deutschen Frauenzeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erschienenen Artikel mit dem Titel »Pariser Schauspielerinnen« schildert ein unter dem Pseudonym Harold schreibender Autor die Situation der Schauspielerinnen in der französischen Hauptstadt.53 Neben einem sehr groben Überblick über die Pariser Theaterlandschaft 51 | »The establishments that [controlled] fashion and good taste [were] no less effective in […] placing consumers in a game whose ever-shifting rules [were] determined by ›taste makers‹ and their affiliated experts who [dwelt] at the top of society.« Arjun Appadurai: »Introduction. Commodities and the Politics of Value«, in: ders. (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge/New York/Melbourne 1988, S. 3-63, hier S. 32. 52 | »Demand is […] neither a mechanical response to the structure and level of production nor a bottomless natural appetite. It is a complex social mechanism.«, Appadurai: »Introduction«, S. 40-41. 53 | Dieser Text ist Teil einer Reihe von Artikeln, die im Jahr 1899 erschienen. Hier wurden nicht nur die Schauspielerinnen der französischen Hauptstadt, sondern auch die Berlins, Wiens und Londons verhandelt.

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wählt der Autor einzelne Bühnenkünstlerinnen aus, die er hinsichtlich ihrer Rollen, ihrer Popularität, ihres Talents und vor allem ihres Aussehens und Stilbewusstseins beschreibt – und bewertet. Dabei fallen zwei wiederkehrende Motive auf: einerseits Harolds Hinweise auf die Schönheit und herausstechende Eleganz des Bühnenkostüms und andererseits die nur kurze Halbwertszeit des Erfolgs, welche die meisten Schauspielerinnen gehabt zu haben scheinen. Dies ist ein Indikator dafür, dass – ganz im Sinne der Gedanken Sombarts und Elsters – wohl auch die Bühnenkünstlerinnen selbst regelmäßig der großstädtischen und erotisierten Nachfrage nach einem Modenwechsel zum Opfer fielen. Dies kann man der folgenden Äußerung ablesen: »Unter den schönen Schauspielerinnen gilt Fräulein Sorel vielen für die Schönste. Sie war früher am ›Vaudeville‹, jetzt ist sie am ›Odéon‹, sie ist mit Talent nicht übermäßig belastet, aber sie ist die Modeschönheit des Jahres.«54 Abgesehen von der Kritik am fehlenden Talent der jungen Bühnenkünstlerin wählt der Autor mit der Phrase »Modeschönheit des Jahres« einen fast schon entmenschlichend wirkenden Begriff, der die inhärente Vergänglichkeit des Erfolgs mehr als deutlich macht: Schön mag sie zwar sein, aber sie ist eben nur für eine Saison in Mode und damit auch nur für dieses Jahr interessant. Nach einer kurzen Phase des schnellen Ruhmes wird es ihr gehen wie den vielen anderen Namenlosen, die Harold in seinem Artikel nicht unerwähnt lässt: »Diese Pariser Bühnen haben wirklich einen beneidenswerten Reichtum an weiblichen Talenten und weiblicher Schönheit. In jeder Saison tauchen neue Namen auf – sie tauchen auf und verschwinden, um anderen Platz zu machen.«55 Es wird deutlich, in welchem Maße die Schauspielerinnen zum Produkt der Mode wurden: Sie wurden austauschbar wie ein Kleid; die Hauptsache ist, dass sie eine Saison oder vielleicht auch nur eine Produktion lang den Bedarf des Publikums nach Novität, nach einem neuen Gesicht, einer neuen Stimme, einem neuen Körper in einem neuen – und besonders eleganten – Kostüm deckten. Dass dieses Prinzip nicht nur typisch für Paris war, ist selbstredend; dass es hier aber eine ganz besondere Form annahm, wird dann deutlich, wenn man einer Argumentationslinie folgt, die Simmel hinsichtlich der Charakteristika der Pariser Kleidermode entwirft: In Paris selbst zeigt die Mode die weiteste Spannung und Versöhnung ihrer dualistischen Elemente. Der Individualismus, die Anpassung an das persönlich Kleidsame, ist viel tiefer als in Deutschland; aber dabei wird ein gewisser ganz weiter Rahmen des allgemeinen Sti-

54 | Harold: »Pariser Schauspielerinnen«, in: Der Bazar 28 (1899), S. 332. Gemeint ist hier übrigens die französische Schauspielerin Cécile Sorel (1873-1966), die – anders als Harold es prophezeit – nicht nur eine schauspielerische Eintagsfliege war, sondern sich als Mitglied der Comédie Française sehr wohl einen Platz als eine der führenden Pariser Schauspielerinnen um 1900 eroberte. 55 | Ebd., S. 332.

C OMME IL FAUT les, der aktuellen Mode, streng festgehalten, so daß die einzelne Erscheinung nie aus dem Allgemeinen herausfällt, aber sich immer heraushebt. 56

Simmel argumentiert, dass sich Paris als Modemetropole deshalb von anderen Orten so abhebe, weil hier ein austariertes Mischverhältnis der beiden für die Mode relevanten Elemente gefunden würde, eine perfekte Synthese aus »Egalisierungsund […] Individualisierungstrieb, [welche] den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zugleich«57 vereinbart. Neben der großen Masse an ›Saisonschauspielerinnen‹, welche sich durch künstlerische Nachahmung und ästhetische Uniformität auszeichneten, existierte eine geringe Anzahl an durch ihre Individualität charakterisierten Bühnenkünstlerinnen: solche nämlich, die sich – ob ihrer besonderen Schönheit und/oder ihres hervorstechenden schauspielerischen Talents – beim Publikum wie der Theaterkritik durchsetzten und nicht nach einer Saison schon wieder von der Bildfläche verschwunden waren. Diese Ausnahmeerscheinungen waren die großen französischen Virtuosinnen und Stars der Bühnen, wie Sarah Bernhardt (1844-1923) oder Gabrielle Réju58 (1858-1920) sowie heute nur noch weniger bekannte Künstlerinnen, wie Jane Hading (1859-1940) oder die oben bereits erwähnte Cécile Sorel. Sie alle waren nicht nur ein aktiver Teil der Theater-, sondern auch der Modelandschaft der französischen Metropole. Wie sehr man sich der Relevanz der Bühnenkünstlerinnen hinsichtlich der modernen Mode auch schon im zeitgenössischen Diskurs bewusst war, ist schon bei Sombart angedeutet. Er lässt nicht unerwähnt, dass es gerade die Schauspielerinnen, jene »Heldinnen der Bühne«,59 waren, welche neben den Kokotten ganz besonders für das Trendsetting in der Pariser Modewelt zuständig waren.60 Dies gelang unter anderem dadurch, dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer öfter Kooperationen zwischen Modedesignern und einzelnen besonders populären Schauspielerinnen bildeten. So gehörte beispielsweise eine der beim Publikum beliebtesten Pariser Bühnenkünstlerinnen, die oben erwähnte 56 | Simmel: Philosophie der Mode, S. 15. 57 | Ebd., S. 22. 58 | Gabrielle Réju findet in der zeitgenössischen Literatur nahezu durchgängig Erwähnung unter ihrem Künstlernamen Réjane, welcher auch im Folgenden verwendet wird. 59 | Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 17. 60 | Vgl. ebd. Lehnert verweist auf die die Mode prägende Rolle der Kokotten: »[N]icht zufällig waren es ja die ausgehaltenen und käuflichen Frauen, die im 19. Jahrhundert einen großen Einfluß auf die modische Entwicklung hatten, was den bürgerlichen Frauen oft keineswegs bewußt war.« Lehnert: »Geschlechtermoden«, hier S. 11. Zu der Bedeutung der Kokotten für die zeitgenössische Mode vgl. auch Ulrike Heising-Piltzing: »Auf die Bretter fertig los! Zur Funktion des zeitgemäßen Bühnenkostüms und seine Auswirkung auf die Kleidung der Frau um die Jahrhundertwende«, in: Zeitschrift für Volks- und Kulturforschung 25 (1989), S. 99-116.

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Gabrielle Réju, genannt Réjane, zu den berühmten ›Stammkundinnen‹ des ebenso bekannten Designers Jacques Doucet (1853-1929).61 Dieser entwarf regelmäßig das moderne Kostüm für die Auftritte der Réjane im Vaudeville-Theater – wie er es auch für Sarah Bernhardt oder Cécile Sorel tat. Als Gegenleistung für ihre Werbeleistung gewährte er »den Bühnenstars, denen der Courturier sein Ansehen zum Teil verdankte, […] erhebliche Preisnachlässe« auf seine teuren, in der besseren Pariser Gesellschaft aber sehr gefragten Kreationen.62 Durch diese fruchtbare Zusammenarbeit wurde dem Theater sowohl durch die Schauspielerinnen als auch durch die Designer die Funktion eines Präsentationsortes der Mode zugewiesen. Die Zuschauer wiederum sollten durch prachtvolle, ›neumodische‹ Kostüme als potenzielle Konsumenten geködert werden. Die für das Theater typische und von ihm vermittelte Lust an der Zerstreuung diente als Maske einer von einem ökonomischen Gedanken getragenen, äußerst geschickten Verkaufsstrategie: Wenn die Schauspielerin auf der Bühne stand, vermittelte sie nicht nur den Text eines Autors, sondern sie leistete auch einen Dienst als Bindeglied zwischen dem Modemacher und dem Publikum im Saal. Denn jener konnte seine Neuentwicklungen auf der Bühne vorführen – in dem Rahmen waren sogar wagemutige Kreationen erlaubt –, und nach einiger Bedenkzeit würden sich viele Zuschauerinnen für seine Modelle entscheiden. 63

Unterstützt wurde diese Kaufanregung des Zuschauers noch durch weitere reklametechnisch äußerst wirkungsvolle Strategien: So wurden beispielsweise »zur Steuerung modischer Neuheiten auch vor der Premiere einzelne Kleidungsstücke […] dekorativ im Schaufenster eines Kaufhauses ausgestellt«,64 was potenziellen Kundinnen – oder auch nur modisch Interessierten allgemein – die Möglichkeit gab, einen Einblick in die neuesten Kostüm- und damit Modetrends zu bekommen, noch bevor es überhaupt zum theatralen Ereignis gekommen war. Weiterhin wurden die Theaterzettel, welche einst dazu gedient hatten, Informationen über die Aufführung, die Besetzung etc. zu bieten, immer mehr zu Werbeflächen – eine Tatsache, über die sich der Modehistoriker Max von Boehn (1860-1932) echauffiert, der auch die vermittelnde Rolle der Schauspielerinnen hervorhebt: Wie weit wir heute darin gelangt sind, braucht niemand gesagt zu werden, wo die Schauspielerinnen zu Mannequins der großen Modefirmen geworden sind und die Angaben der Theaterzettel, die bei den große Rollen nicht mehr hinzuzusetzen verfehlen: Kleider von dem und dem; Hüte von der und der, ohnehin keinen Zweifel darüber lassen, daß drei Vier-

61 | Vgl. François Baudot: Réjane. La reine du boulevard, Paris 2001, o.S. 62 | Vgl. ebd. 63 | Vgl. ebd. 64 | Heising-Piltzing: »Auf die Bretter fertig los!«, S. 99.

C OMME IL FAUT tel der Wirkung der Toilette zugerechnet wird, wenn nicht das ganze Stück überhaupt nur dem Schneider zuliebe gespielt wird. 65

War der Sombart’sche »capitalistische Unternehmer«, oben am Beispiel des Designers Doucets gezeigt, der eigentliche Impulsgeber der großstädtischen Mode, so kam seinen Modellen, in diesem Fall den Schauspielerinnen, eine Vermittlerrolle in einem größeren System von Austauschprozessen zu.66 Wie sehr die Bühnenkünstlerinnen diese Funktion im Theaterbetrieb ausfüllten und wie sehr das französische Hauptstadtpublikum sich daran gewöhnt hatte, diese Erweiterung des Aufgabenbereichs der Schauspielerinnen sogar verlangte, verdeutlicht der folgende Kommentar einer Paris-Korrespondentin der Illustrirten Frauen-Zeitung: Unsere Schauspielerinnen lösen spielend das Problem, zwei Göttinnen zugleich mit gleichem Eifer zu dienen: der Kunst und der Mode. Und auch das weibliche Pariser Publicum ist längst gewöhnt, im Theater seine Aufmerksamkeit mehr oder weniger gewissenhaft zwischen die künstlerische Leistung und die Toilette der Heldinnen des Stückes zu vertheilen. 67

Die Pariser Bühnen wurden somit noch vor der Etablierung von Modenschauen zu Laufstegen für die Haute Couture,68 die Schauspielerinnen zu Models69 und das Theater zu einem nicht unerheblichen Wirtschaftsfaktor der Mode. Wie weit diese Entwicklung reichte, malt der Kunsthistoriker Julius Lessing (1843-1908) in seiner Schrift Der Modeteufel aus:

65 | Max von Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, Berlin 1921, S. 434. 66 | Dass die modischen Kreationen allerdings einzig von den Designern bestimmt wurden und die Schauspielerinnen keinerlei Mitspracherecht hinsichtlich ihres Kostüms hatten, trifft zumindest für die berühmten Bühnenkünstlerinnen nicht zu. So waren beispielsweise Sarah Bernhardt und die Réjane dafür bekannt, selbst einen Blick auf die für sie geschneiderten Kostüme zu werfen. Baudot schreibt diesbezüglich: »Kleider und Hüte haben für sie [Gabrielle Réju] als Person in der Öffentlichkeit und auf der Bühne eine viel zu hohe Bedeutung, als daß sie deren Anfertigung nicht selbst überwachte.« Baudot: Réjane. 67 | B. d. G.: »Ohne Titel«, in: Illustrirte Frauen-Zeitung (Beiblatt) 22 (1892), o.S. 68 | Haute Couture definiert Gertrud Lehnert wie folgt: »Haute Couture bedeutet die Kreation exklusiver Moden durch einen Modeschöpfer. Die Entwürfe werden in Handarbeit realisiert, den Kundinnen angepaßt, und sie werden in der Öffentlichkeit zweimal jährlich in Modenschauen vorgestellt. Ein Komitee bestimmt darüber, wer sich zur Haute Couture rechnen darf. Bedingung dafür ist unter anderem die Beschäftigung von mindestens zwanzig Angestellten.« Lehnert: Frauen machen Mode, S. 59-60. 69 | Auch Sombart beschreibt eine solche Mode-Theater-Symbiose am paradigmatischen Beispiel der Réjane und bezeichnet die Schauspielerin sogar als »Mannequin Doucet’s«, vgl. Sombart: Wirthschaft und Mode, S. 17.

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S TEFANIE W ATZKA Unsere ernsthaften Zeitungsleser lächeln oder zürnen, wenn die Pariser Blätter umständlich melden, in welcher Robe Sarah Bernhardt in der Première von Fedora oder Odette aufgetreten ist. Aber von dem Erfolg dieser Toiletten hängt das Vermögen von Tausenden, ja von Industriezweigen ganzer Städte und Provinzen ab […].70

Auch wenn es sich hinsichtlich der ökonomischen Relevanz des modischen Sendungsbewusstseins Sarah Bernhardts um eine leichte Übertreibung handeln mag, spricht der Autor einen interessanten Zwiespalt innerhalb der Rezeption an: Zwar mochten die »ernsthaften Zeitungsleser lachen oder zürnen« ob der ständigen Modeberichte aus Paris. Dennoch fanden diese eine treue und interessierte Leser- und insbesondere Leserinnenschaft auf Seiten des deutschen Publikums, welches die Entwicklung des Verhältnisses von Mode und Theater nicht nur akzeptiert hatte, sondern auch in vollen Zügen genoss. Die Mode hatte nicht nur ihren Weg in die französische Theater- und Vergnügungskultur gefunden – beide waren zu einer nahezu untrennbaren Größe geworden.

D IE M ODE ALS O BJEK T DES K ULTURTR ANSFERS : D AS B EISPIEL P ARIS – B ERLIN Die rege Berichterstattung in den deutschen Printmedien, in Zeitungen und vor allem in Zeitschriften, ist nur ein Beispiel dafür, dass die Mode in ihrem intrinsischen Expansionsdrang an den Landesgrenzen nicht Halt machte, sondern es zu transnationalen Austauschprozessen kam. Die Pariser Schauspielerinnen mit ihren eleganten Kostümen standen unter permanenter Beobachtung der internationalen Presse. So wurde es im ausgehenden 19. Jahrhundert Usus, dass in deutschen Frauenjournalen, Korrespondenten aus Paris über das Theatergeschehen in der französischen Hauptstadt berichteten. Dabei stand nur selten das künstlerische Geschehen auf den Brettern im Vordergrund; das wahre Interesse lag in der Ausstattung der Schauspielerinnen. So heißt es beispielsweise in der deutschen Zeitschrift Illustrirte Frauen-Zeitung: »Man war nun zu Beginn der Theater-Saison ganz besonders begierig, wie die tonangebenden Künstlerinnen sich zu der großen Frage der kurzen oder langen Taille verhalten würden.«71 Was auf diese, das Interesse der Leserinnen weckende Einleitung folgt, ist eine präzise Beschreibung eines Bühnenkostüms, in der keine Details ausgespart werden: Farben, Formen, Muster, Stoffe – alle Einzelheiten sind bis ins Kleinste geschildert, so dass sich die Leserin ein solches Kleid nicht nur genau vorstellen konnte, sondern dieses auch hätte nachschneidern oder bei einem Schneider in Auftrag geben können. Unterstützt wurden solche Schilderungen häufig noch durch Modezeichnungen, die, als Ergänzung zum Text, der 70 | Julius Lessing: Der Modeteufel, zit.n. Elster: »Wirtschaft und Mode«, S. 188. 71 | B. d. G.: »Ohne Titel«, o.S.

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Visualisierung dienten. In manchen Zeitschriften finden sich auch Schnittmuster, welche eine direkte Nachahmung eines solchen Bühnenkostüms gestatteten. Auf diesem Wege nahm die Schauspielerin einmal mehr die Funktion einer ›Trendvermittlerin‹ ein, und die Pariser Mode wurde, zwar nicht unmittelbar, so doch zuerst über das Theater und dann über das Medium des Drucks, auch den deutschen Leserinnen zugänglich. Eine weitere Möglichkeit des Modetransfers von Paris nach Berlin bot das Theater – direkt und ohne Zwischenschaltung eines weiteren Mediums – in Form der meist sehr beliebten Gastspiele von französischen Bühnenkünstlerinnen in Deutschland, vor allem in der deutschen Hauptstadt. Durch diese wurden die neuesten Modelle auf ganz unmittelbare Art und Weise präsentiert. Wie in Paris, so fungierten auch in Berlin – natürlich nicht allein während eines Gastspiels – die Bühnen als Laufsteg.72 Damit schlug man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Nicht nur wurde das Interesse an den schauspielkünstlerischen Geschicken der großen Stars befriedigt, auch die Neugierde hinsichtlich der neuesten Kleidungstrends konnte dadurch gestillt werden. Die Zielgruppe der Gastspiele war größtenteils das finanziell besser gestellte Berliner Publikum, welches sich die für solche Vorstellungen erhöhten Eintrittspreise leisten konnte. Diese deckte sich überwiegend mit dem Teil des Bürgertums, auf welche man die von Veblen konstatierte ›conspicuous consumption‹ übertragen kann. So kann vor allem der weibliche Teil dieser Bevölkerungsschicht als Hauptzielgruppe des deutschen Modemarkts im ausgehenden 19. Jahrhundert gelten.73 Allerdings macht sich auch hier die oben bereits erläuterte Egalisierungstendenz der modernden Mode bemerkbar. Zwar waren es die Damen der besseren Gesellschaft, welche die Kostüme während des Auftritts einer internationalen Starschauspielerin als Erste bewundern durften und sich sofort an den modischen Novitäten orientieren sowie die eigene Ausstattung danach richten konnten. Es dauerte allerdings nicht lange, bis auch andere Frauen die Möglichkeit bekamen, den neuesten Chic in ihr Leben zu integrieren. Einmal mehr geschah dies mithil72 | Natürlich gab es auch in Deutschland so genannte »Toilettenkünstlerinnen«, welche besonders hinsichtlich ihrer eleganten Ausstattung und meist weniger aufgrund ihres schauspielerischen Talents beliebt waren. Ein Beispiel ist die am Berliner Lessing-Theater engagierte Schauspielerin Jenny Groß (1863-1904), über die es heißt: »[E]ine Première, in der Jenny Groß moderne Kleidung trägt, ist für unsere Modedamen tonangebend […]«, Emma Vely: »Berliner Bühnenkünstler XI. Jenny Groß«, in: Bühne und Welt 2 (1899/1900), S. 375-378, hier S. 377. 73 | Ingrid Loschek schreibt dazu: »Die Großbürgerin bestimmte und vermittelte die Mode.« Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon, S. 62. Von einer solchen Macht der Großbürgerin ist allerdings nicht auszugehen, schließlich waren es auch in Deutschland die Demimondänen und Schauspielerinnen, die einen großen Beitrag zur Verbreitung und vor allen Dingen zur Etablierung der neuesten Moden beitrugen. Loschkes Aussage bleibt damit zu allgemein gehalten und inhaltlich fragwürdig.

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fe der Frauen- und Modezeitschriften: Diese boten nämlich recht zeitnah zu den Gastspielen der großen Stars eine genaue Beschreibung der Kostüme für diejenigen, die, ob aus finanziellen oder anderen Gründen, nicht das Privileg genossen hatten, an einem solchen Theaterereignis teilgenommen zu haben. So heißt es in einem Artikel der Modezeitschrift Der Bazar zum Berliner Gastspiel der Réjane im Jahr 1899: Bei ihrem ersten diesmaligen Auftreten in Berlin als Riquette in Meilhacs ›Ma cousine‹ waren es besonders zwei Toiletten, die das lebhafteste Interesse der berufenen Richterinnen im Parkett und ersten Rang hervorgerufen haben – wir führen sie daher unsern Leserinnen heute in beistehenden Abbildungen vor.74

Auch hier erfolgt eine detaillierte Beschreibung des Bühnenkostüms, versehen mit Tipps und Tricks für eine gelungene Nachahmung sowie Zeichnungen, welche die Imagination der Leserinnen unterstützen sollten. Auf das schauspielerische Können der Bühnenkünstlerin oder ihre Rollengestaltung wird in diesem Artikel übrigens nur am Rand eingegangen. In welchem Maße diese Doppelfunktion der Bühne als Ort der Schauspielsowie Modekunst im zeitgenössischen Bewusstsein vorhanden war und wie sehr sich dies auch im theaterspezifischen Diskurs spiegelte, soll hier an einem Beispiel verdeutlicht werden. In der Artikelreihe »Von den Berliner Theatern« der Theaterzeitschrift Bühne und Welt aus dem Jahr 1899 äußert sich der Feuilletonist Richard Zoozmann (1863-1934) zum Gastspiel der französischen Schauspielerin Jane Hading wie folgt: [Im Berliner Lessing-Theater, S.W.] begann Jane Hading von der Comédie française ihr auf mehrere Abende berechnetes Gastspiel; sie wählte – wie fast alle fremdländischen Gäste – als Antrittsrolle jene Dumassche Komödie, die wohl für noch lange Zeit die beliebteste Paraderolle aller großen und kleinen Künstlerinnen bleiben wird, nämlich ›Die Kameliendame‹. […] Die graziöse Französin zeigte uns ihre ganze Kunst, die der schauspielerischen Gewandtheit und die ihrer Schneiderateliers.75

In Zoozmanns Äußerung wird eines besonders deutlich: Einen wichtigen Teil des Bühnenspektakels machte das moderne Bühnenkostüm der Schauspielerinnen aus – selbst wenn man sich in Fachkreisen dazu nur mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus äußern konnte. Doch – Spott hin oder her – auch der Feuilletonist verweist neben dem schauspielerischen Talent Jane Hadings explizit auf ihr Kostüm. Bei ihr, ebenso wie bei ihren französischen Schauspielkolleginnen Sarah Bernhardt oder Réjane, wurde sogar von den selbsternannten Kunstwächtern, wenn auch nur 74 | »Gabrielle Réjane«, in: Der Bazar 43 (1899), S. 525. 75 | Richard Zoozmann: »Von den Berliner Theatern«, in: Bühne und Welt 1 (1898/99), S. 328-330, hier S. 328.

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widerwillig, akzeptiert, dass die Bühnenkunst sich aus zwei Faktoren zusammensetzte: der »schauspielerischen Gewandtheit« und den »Schneiderateliers«.

M ODE TR ANSFER UND M E TROPOLEN Der Export beziehungsweise Import von Mode unter anderem durch internationale Gastspiele hatte für die europäischen und nordamerikanischen Metropolen im 19. Jahrhundert jedoch noch auf einer weiteren Ebene Bedeutung. Heinz Reif stellt fest: »Große Städte gelten auch deshalb als Metropolen, weil sie in auffälliger Weise zu transmetropolitanen Diskursen neigen […], die nicht zuletzt der gegenseitigen Anerkennung, der Bestätigung von Zugehörigkeit zum Kreis der Metropolen dienen.«76 Transnationalen Austauschprozessen ist folglich ein affirmatives Moment inhärent: Durch den Prozess des Transfers wird von beiden Seiten verdeutlicht, dass die jeweils andere als ebenbürtige Partnerin, als gleichgestellte Metropole, akzeptiert wird, was überhaupt erst die Grundlage eines solchen Austauschs bildet. Die Mode als ein typisches Phänomen der Großstadt trug ihren Teil zu der Bildung eines solchen ›Metropolengefühls‹ bei. Wie das Theater, mit dem sie nahezu untrennbar verbunden schien, unterstützte auch die Mode den Prozess der »inneren Urbanisierung«, der Entwicklung einer spezifisch großstädtischen Mentalität; Theater und Mode waren ein fester Bestandteil metropolitaner (Vergnügungs-)Kultur.77 Der Modeimport über den Weg der Bühne, aber auch über andere Kanäle, wie die Printmedien, bestätigte demzufolge den Status Berlins als neue Metropole, unterstützt durch seine Bewohner, die sich offen für die (modischen) Einflüsse aus Paris zeigten, indem sie sie in ihre Lebenswelt integrierten. Dieses Phänomen der Affirmation auf Basis des Modetransfers stellt auch Simmel fest: Tatsächlich scheint der exotische Ursprung der Mode den Zusammenschluß der Kreise, auf den sie angelegt ist, mit besonderer Stärke zu begünstigen; grade dadurch, daß sie von außen kommt, schafft sie jene besondere und bedeutsame Form der Sozialisierung, die durch die gemeinsame Beziehung zu einem außerhalb gelegenen Punkt eintritt.78

Was Simmel hier anspricht, kann man erneut auf den ostentativen bürgerlichen Konsum zurückführen: Indem es gemeinschaftlich den Import der Pariser Mode

76 | Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriff, Methoden«, CMS Working Paper Series 001/2006, www.metropolitanstudies.de/fileadmin/filestorage/reif_001.pdf, hier S. 4. 77 | Zum Begriff der ›inneren Urbanisierung‹ vgl. Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361. 78 | Simmel: Philosophie der Mode, S. 14.

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akzeptierte, machte sich das Berliner Bürgertum den Blick auf die französische Metropole zum Zweck der Selbstbestätigung der eigenen Gemeinschaft zu Nutze. Allerdings wurde die Einwirkung von außen nicht von jedem als affirmativ wirkend empfunden – im Gegenteil: Die exponierte Stellung der französischen Hauptstadt war dem einen oder anderen ein Dorn im Auge – nicht zuletzt aufgrund der politischen Spannungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, die sich wie ein roter Faden durch das 19. Jahrhundert zogen. So gab es gegen die Vorreiterrolle, die Paris in Hinblick auf die Kleidermode einnahm, sehr offene nationalistische Ressentiments. Der Nationalökonom Friedrich Kleinwächter (1838-1927) etwa kritisiert in seiner Schrift Die Philosophie der Mode, einem leider ganz unphilosophischen Werk aus dem Jahr 1880, den Drang zur Nachahmung der Mode – insbesondere der französischen Vorbilder: Die Mode ist bekanntlich ein Ausfluß des Nachahmungstriebes. Gegen den Nachahmungstrieb an sich ist nichts einzuwenden, da er dem Menschen eingeboren ist, und – richtig geleitet – nur Gutes schafft […]. Auf dem Gebiete der Mode macht sich jedoch dieser Nachahmungstrieb nach mehr als einer Richtung hin unangenehm bemerkbar. Zunächst ist die sklavische Nachahmung an sich affenartig und demgemäß verwerflich – ist es nicht geradezu lächerlich, wenn wir irgend Etwas nur aus dem Grunde schön finden und dem gemäß nachahmen, weil man es in Paris so trägt oder thut? 79

Kleinwächters anthropologisch begründete Äußerung macht die häufig gezogene, auf nationalistischen Gedanken basierende Grenze der Akzeptanz der Nachahmung deutlich. Dadurch wird gleichzeitig die Abneigung gegenüber der der Mode inhärenten Transnationalität offensichtlich. Dabei verstrickt er sich in unauflösliche Widersprüche: Nachahmung sei »natürlich«, Nachahmung der französischen Mode jedoch »affenartig« – und damit »verwerflich«. Kleinwächters Aussagen sind genauso unvereinbar mit der Realität wie die auf der Ebene des zeitgenössischen Diskurses immer wieder deutlich werdende, nationalistisch geprägte Absage an die transnationalen Tendenzen sowohl der Mode als auch des Theaters.

F A ZIT Es bleibt festzuhalten, dass Theater und Mode, sowohl einzeln als auch in ihrem sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer enger verschränkenden Zusammenspiel, Phänomene der großstädtischen Vergnügungskultur waren, welche, wie gezeigt wurde, nicht Halt machten vor nationalen Grenzen. Über den Weg des Theaters und der Mode sowie der Rezeption beider entstanden transmetropolitane und transnationale Diskurse. Diese dienten unter anderem dazu, Identitäten zu schaffen und zu festigen. 79 | Kleinwächter: Die Philosophie der Mode, S. 38.

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Für diese Prozesse stellten die Metropolen um 1900 einen nahezu perfekten Nährboden dar, handelt es sich doch sowohl beim Theater als auch bei der Mode um typisch urbane Phänomene. Durch die Mode wurde das Bild der jeweiligen Metropole geprägt und einerseits ein erstarkendes metropolitanes Selbstbewusstsein, andererseits transmetropolitane und transnationale Austauschprozesse auf kultureller sowie ökonomischer Basis unterstützt. Das metropolitane Theater hatte – aufgrund von Kooperationen zwischen Modemachern und Schauspielerinnen – eine starke Seismographenwirkung für nationale wie internationale Modetrends. Vor allem sein Einfluss auf die großstädtisch-bürgerliche Lebenswelt, auf die (nicht allein Seh-)Gewohnheiten der Stadtbevölkerung und ihren Habitus war enorm. Die Wirkmächtigkeit des Theaters wurde den Zeitgenossen sowohl hinsichtlich der Produktion als auch der Distribution von Kleidermode ein habhaftes Instrument, und so stellten die Bühnen recht bald den »überzeugendste[n] Multiplikator zeittypischer Aktualitäten der Textilindustrie«80 dar.

80 | Heising-Piltzing: »Auf die Bretter fertig los!«, S. 99.

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»Welt von Wundern« 1 Die Berliner Urania um 1900 Kristin Becker

N E W YORK – B AYREUTH – B ERLIN Am 11. Februar 1892 berichtete die New York Times über die Premiere einer Aufführung, die in Andrew Carnegies (1835-1919) Music Hall als »celestial drama« und »a sort of Wagnerian drama of the heavens« präsentiert wurde.2 Der Rezensent der New York Times, offensichtlich ein Theaterkritiker, würdigte die Produktion als »remarkable drama« und hob besonders die eindrucksvollen, elektrisch beleuchteten Bildkulissen hervor.3 Ganz in diesem Sinne lobte auch der Brooklyn Daily Eagle die Präsentation als »unique entertainment« und befand, »the realistic effects […] are awe inspiring«.4 Die Evening Post schließlich jubilierte: »No operatic performances in America or Europe not even at Bayreuth, have ever had the benefit of such brilliant and thoroughly artistic scenic effects as these.«5 Was für ein Spektakel hatten diese Kritiker gesehen? Wie sich aufgrund der Wagneranspielungen schon vermuten lässt, feierte man in New York ein Theaterereignis deutscher Provenienz oder, wie es die amerikanischen Zeitungen formulierten, »[i]t was a happy thought of German scientists to make astronomy and geology dramatic«.6 Noch genauer lokalisierte man die Her1 | Max Wilhelm Meyer: »Die Veranstaltungen der Urania«, in: Himmel und Erde. Illustrirte naturwissenschaftliche Monatsschrift 1 (1889), S. 30-39, hier S. 31. 2 | »The Moon at Music Hall«, in: The New York Times 11.2.1892, S. 4. 3 | Ebd. 4 | »To the Moon«, in: The Brooklyn Daily Eagle 22.3.1892, S. 4; »Mr. Serviss’ Lectures«, in: ebd. 13.11.1892, S. 4. 5 | Zit.n.: Music Hall (Hg.): »Urania. 3 Spectacular Marvels of Nature«, Handzettel, New York 1893. 6 | »Mr. Serviss’ Lectures«, in: The Brooklyn Daily Eagle 13.11.1892, S. 4.

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kunft des Spektakels in der deutschen Reichshauptstadt: »The idea is from Berlin and the scenery is also from there.«7 Was also 1892 und 1893 so erfolgreich in New York und anderen amerikanischen Ostküstenstädten gezeigt wurde, war ein aufwendiger Theaterimport, der sich, will man den Zeitungsbeschreibungen glauben, vor allem durch folgende Merkmale auszeichnete: • die Verbindung von Naturwissenschaft und theatraler Präsentation, • den gesteigerten Einsatz von Effekten, Bühnentechnologie und Elektrizität, • das Bekenntnis zu Visualität, Illusion, Unterhaltung und Spektakel. Kurzum handelte es sich offenbar um ein szenisches Ereignis, das nach Meinung der Zeitgenossen den Vergleich zu Wagners Gesamtkunstwerk nicht zu scheuen brauchte und dessen Popularität sich von Berlin bis nach New York erstreckte. Entwickelt, institutionalisiert und schließlich in die Welt getragen hatte das Erfolgsprodukt Max Wilhelm Meyer (1853-1910), seinerzeit bekannt als Wissenschaftspopularisierer und Gründungsdirektor der Urania in Berlin, unter deren Namen auch die Aufführungen in New York präsentiert wurden.8 Die Urania kann als ein Vorläufer der heutigen Science Center gelten, deren Ziel es ist, in Erlebnisräumen Naturwissenschaft durch Anschauen und Anfassen zu vermitteln.9 Noch vor der Gründung des Deutschen Museums in München (1903) vereinigte die 1889 eröffnete Urania eine Sternwarte, eine Experimentier- und Technikausstellung und ein »Wissenschaftliches Theater« zu einer »öffentlichen Schaustätte«, die der »Verbreitung der Freude an der Naturerkenntnis« dienen sollte.10 Die neue – und neuartige – Einrichtung fand nicht nur in Berlin Anklang, sondern wurde auch von ausländischen Wissenschaftlern und Medien mit Aufmerksam7 | »From Chaos to Man«, in: The New York Times 24.4.1892, S. 12. 8 | Meyer war gelernter Astronom, hatte aber ab den 1880er Jahren vorwiegend als Autor feuilletonistischer Wissenschaftsartikel in Wien und Berlin gearbeitet. Zu seiner Biographie vgl. Max Wilhelm Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde. Eine Geschichte für alle, die etwas werden wollen, Hamburg 1908. Zur Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert vgl. Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, Naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München 1998; Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (1870-1914), Stuttgart 1999; Gudrun Wolfschmidt (Hg.): Popularisierung der Naturwissenschaften, Berlin/Diepholz 2002. 9 | Vgl. Hilde Hein: Naturwissenschaft, Kunst und Wahrnehmung. Der neue Museumstyp aus San Francisco, Stuttgart 1993. Zur Vorreiterrolle der Urania vgl. hier besonders das Vorwort von Hans-Erhard Lessing, S. 7-8. 10 | Statut der Gesellschaft Urania, zit.n. Wilhelm Foerster u.a.: Ueber die Entwickelung und die Ziele der Gesellschaft Urania zu Berlin, Berlin 1888, S. 5.

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keit bedacht und für ihre Vorbildfunktion und den Volksbildungscharakter gelobt.11 Die Urania bestand aus fünf Hauptabteilungen, denen die Bereiche Astronomie, Physik, Mikroskopie, Präzisionsmechanik und das Wissenschaftliche Theater zugeordnet waren. Ihr erstes Gebäude beherbergte neben der Sternwarte und dem Theater einen großen Ausstellungssaal mit interaktiven Exponaten, einen Projektions- beziehungsweise Hörsaal sowie Büroräume und Laboratorien. Im Vortragsprogramm traten neben einheimischen auch bedeutende internationale Wissenschaftler wie der französische Mathematiker Henry Poincaré (1854-1912) und der schottische Chemiker William Ramsay (1851-1916) sowie der englische Fototechnikpionier Eadweard Muybridge (1830-1904) und die norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen (1861-1930) und Roald Amundsen (1872-1928) auf. Außerdem gab die Urania zwischen 1889 und 1915 eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift, Himmel und Erde, heraus. Der Erfolg in Berlin – bereits im ersten Betriebsjahr zählte man fast 100.000 Besucher – führte zu einer Reihe von unabhängigen Nachgründungen in verschiedenen europäischen Städten.12 Der Name Urania wurde dabei zu einem Überbegriff für (natur)wissenschaftsorientierte Volksbildung: 1894 wurde in Magdeburg ein Urania-Verein gegründet, ab 1897 gab es in Wien ein Urania-Syndikat, 1899 wurde die ungarische Urania in Budapest eröffnet, 1907 und 1909 wurden UraniaVolkssternwarten in Zürich und Jena eingerichtet, 1913 und 1914 folgten UraniaGründungen in Breslau und Stettin, dazu kamen Prag (1917), Graz (1919), Meran (1923) und weitere Vereine im deutschsprachigen Raum.13 Neben Wien blieb aber das Berliner Original bis in die 1920er Jahre die wichtigste Urania-Institution.14 Im Folgenden soll sie als Schnittstelle metropolitaner Wissens- und Unterhaltungskultur skizziert werden. Ausgehend davon untersucht der Aufsatz die spezifische Medialität des Wissenschaftlichen Theaters und die transnationale Wirkung der Urania-Inszenierungen.

11 | Ausländische Kommentare zur Urania finden sich insbesondere in zeitgenössischen amerikanischen und britischen Zeitungen und Fachzeitschriften. Zudem publizierte Meyer auch Ausführungen zur Urania im Ausland. 12 | Zu den Besucherzahlen vgl. Paul Schwahn: »Zum 25-jährigen Bestehen der Gesellschaft Urania in Berlin«, in: Himmel und Erde. Illustrirte naturwissenschaftliche Monatsschrift 25 (1913), S. 337-398, hier S. 344. 13 | Vgl. Wilhelm Filla: »Die Anfänge der Urania Tradition in Österreich«, in: Spurensuche 1/2 (1997), S. 66-74, hier S. 72. Während für Wien und Budapest eine direkte Verbindung zum Berliner Original etwa durch Aufführungen von Meyers Ausstattungsvorträgen nachzuweisen ist, bestand der Bezug zu und zwischen den anderen Uranias nur mittelbar und vor allem in ähnlichen Bemühungen um Wissenschaftsvermittlung bzw. im Konzept der Volkssternwarte. 14 | Finanzprobleme und interne Konflikte führten ab Ende der 1920er Jahre zum Niedergang der Berliner Urania.

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I N GUTER G ESELLSCHAF T Die Berliner Urania wurde 1888 als Aktiengesellschaft gegründet und im Juli 1889 für den Publikumsbetrieb geöffnet.15 Ihr Schaugebäude war zunächst im Landesausstellungspark situiert, wo sich verschiedene Freizeiteinrichtungen konzentrierten, wie etwa der große Ausstellungspalast, in dem wechselnde Kunst- und Gewerbeschauen stattfanden, oder das »Künstlerheim« – »eine Osteria nach Art der Wirtshäuser auf Capri«.16 Im »klassischen Dreieck« an der Nordwestspitze des Parks gab es zudem nachgebildete Tempelbauten, die als kurz- beziehungsweise längerfristige Ausstellungsgebäude für Panoramen und Dioramen dienten, und temporär ein Theater, das gegenüber der Urania lag.17 Die Urania befand sich also in den Anfangsjahren in einem Gebiet der Berliner Vergnügungs- und Erholungskultur, das von der Stadtbahn mittels des Lehrter Stadtbahnhofs bedient wurde. Sie konnte damit trotz der damals noch leichten Auswärtslage relativ problemlos von einem großen Publikum erreicht werden, dem im Ausstellungspark multiple Möglichkeiten der Unterhaltung zur Verfügung standen.

Abb. 24: Das erste Urania-Gebäude im Berliner Landesausstellungspark. 15 | Die Organisationsform der Aktiengesellschaft für eine populärwissenschaftliche, vom Bürgertum getragene Einrichtung war keineswegs ungewöhnlich. So wurden zum Beispiel viele städtische Zoos auf diese Weise grundfinanziert. Vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 179. 16 | Architekten-Verein zu Berlin und Vereinigung Berliner Architekten (Hg.): Berlin und seine Bauten, Bd. 2: Der Hochbau, Berlin 1896, S. 244. Der Landesausstellungspark (eigentlich: Universum-Landesausstellungspark, ULAP) befand sich zwischen Invalidenstraße und der Straße Alt-Moabit im Bezirk Tiergarten. Er wurde anlässlich der Gewerbeausstellung von 1879 angelegt und war bis in die 1930er Jahre hinein eines der wichtigsten Ausstellungsgelände in Berlin. 17 | Ebd.

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Dieser Kontext ging auch mit dem Umzug in die innenstädtische Taubenstraße 1896 nicht verloren, aber die Bezugspunkte veränderten sich.18 Statt in der Nähe zu populären Ausstellungs- und Panoramabauten befand sich die Urania nun in der Nachbarschaft von Repräsentationsbauten (Unter den Linden), dem Königlichen Schauspielhaus (Gendarmenmarkt), dem Metropol-Theater (Behrenstraße), dem Wachsfigurenkabinett der Gebrüder Castan, den Konsumtempeln der Leipziger Straße und den Hotels, Restaurants und Geschäftshäusern der Friedrichstraße. Geographisch und konzeptionell war die Urania um die Jahrhundertwende fest in der Mitte Berlins verankert. Diese Verankerung spiegelte sich auch im personellen Umfeld der Institution. Neben Meyer lenkte Wilhelm Foerster (1832-1921), der renommierte Leiter der Königlichen Sternwarte, Professor an der Berliner Universität und Schüler Alexander von Humboldts (1769-1859), die Geschicke der Urania.19 Zudem gehörten verschiedene angesehene Gelehrte, Kaufleute, Bankiers

Abb. 25: Das zweite Urania-Gebäude in der Taubenstraße.

18 | Gründungsdirektor Meyer hatte auf den Umzug gedrängt, weil er das Gebäude im Landesausstellungspark als zu klein ansah. In der Taubenstraße wurden das Wissenschaftliche Theater und die Ausstellungsräume vergrößert. Dafür wurde auf eine Sternwarte verzichtet. 19 | Zu Foerster vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 447-449.

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und Industrielle zu den Geldgebern der Institution.20 Einer der Hauptaktionäre war Werner von Siemens (1816-1892), der die Urania auch mit Technologie unterstützte und dessen Sohn Wilhelm (1855-1919) im Aufsichtsrat saß.21

D IE P OE TIK DER E NT -T ÄUSCHUNG Mit der Gründung der Urania sollte die Königliche Sternwarte in Berlin vom Andrang der Laienbesucher entlastet und gleichzeitig im Sinne Humboldts einem größeren Personenkreis das Erleben und Verstehen naturwissenschaftlicher Phänomene ermöglicht werden.22 Die Sternenbeobachtung gehörte im 19. Jahrhundert zu den populärsten naturforschenden Disziplinen und Aktivitäten. Es lockte das geheimnisvolle Nachtgeschäft der Astronomen, an dem eine stetig wachsende Zahl von Laien teilhaben wollte. Foerster und Meyer kommentierten dementsprechend den Publikumsansturm auf die Königliche Sternwarte: Das Interesse des grossen Publikums für jene Dinge ausserhalb des für unsere wachsende Fassungskraft immer kleiner werdenden Erdballs, für jene Dinge, welche die sternkundigen Männer dort auf ihre stille Warte, fern von dem Gewühl der Stadt, lange Nächte hindurch fesseln, dieses Interesse musste hier in Berlin um so schneller wachsen, als die sich in staunenswerther Kraft ausdehnende Stadt ihrerseits um jene stille Warte herumwuchs und der Vorübergehende immer öfter in die Versuchung gerathen musste, seine Schritte in dieses Heiligthum einer strengen Wissenschaft zu lenken. 23

Die Orte der Astronomie übten nicht nur auf den urbanen Flaneur, sondern auch auf den über zunehmend mehr Freizeit verfügenden, werktätigen Großstadtbewohner eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, versprachen sie doch Blicke in eine andere, die eigene (Um-)Welt transzendierende Sphäre. Deshalb richtete sich auch im Fall der Urania das Hauptaugenmerk zunächst auf die Sternwarte, die mit dem größten Linsenfernrohr Preußens als zentraler Attraktion aufwartete.24 Allerdings mussten die Urania-Gründer schon bald eine gewisse Erfolglosigkeit ihrer Volkssternwarte eingestehen. Es ist eine allgemein beobachtete Erscheinung, die wir vollauf neu bestätigen können, daß die größere noch gar nicht vorgebildete Menge des Publikums von dem Besuch der Stern20 | Eine Aufstellung der Namen findet sich in Foerster u.a.: Ueber die Entwickelung, S. 4, S. 6-10. 21 | Vgl. ebd., S. 10. 22 | Vgl. ebd., S. 1-2. 23 | Ebd. 24 | Vgl. Architekten-Verein zu Berlin und Vereinigung Berliner Architekten (Hg.): Berlin und seine Bauten, S. 245.

»W ELT VON W UNDERN « warte nicht allzu sehr erbaut ist. […] [M]an glaubt ungeahnte Wunderdinge an den Welten über unsern Häuptern im Fernrohr mühelos sehen zu können. Die Enttäuschung ist dann immer eine sehr große, wenn beispielsweise das glänzende Licht des Vollmondes Besucher in Scharen herbeigelockt hat und man ihnen dann bedeuten muss, daß man auch im besten Fernrohr am Vollmond fast garnichts sehen kann […]. 25

Vor dem Hintergrund dieser Enttäuschung, die gleichsam als Ent-Täuschung im Sinne einer Entzauberung erschien, wurde nun das Wissenschaftliche Theater der Urania zum Angelpunkt des Unternehmens.26 Während die Sternwarte mit ihren drei Kuppeln die charakteristische Silhouette des ersten Urania-Gebäudes bildete, war das Theater architektonisch als Herzstück im Inneren verankert, um das herum alle anderen Bereiche angeordnet waren. Das Theater hatte dabei zunächst eine Service-Leistung zu erbringen, die die Sternwarte nicht unumwunden leisten konnte: Wenn also unser Publikum auch wegen des an klaren Abenden gewöhnlich herrschenden Andrangs, welcher der Befriedigung der Schaulust am Fernrohr dem einzelnen nur kurze Zeit gestattet, zumeist nicht eben sehr befriedigt von der Sternwarte zurückkommt, so kann es dagegen in unserem Theaterraume […] sein Auge und seinen Verstand um so besser erfreuen. 27

Vier Dinge hatte das Theater der Sternwarte voraus: Es war nicht auf die äußeren Umstände (Wetter, Lichtverhältnisse, Mondphasen) angewiesen, es bot einer viel größeren Zahl von Besuchern Raum, ohne dass das Wahrnehmungserlebnis des Einzelnen darunter litt, und es konnte gezielt die Schaulust des Publikums stimulieren und befriedigen. Zudem besaß das Theater inhärent eine Vergrößerungsfunktion, die kein Fernrohr leisten konnte. Damit übernahm es schnell die zunächst dem Observatorium zugedachte Funktion als Besuchermagnet. Meyer verfolgte die Absicht, sein »Theater der Naturschauspiele«28 (und damit die gesamte Urania) im Unterhaltungsangebot der Hauptstadt zu positionieren und damit eine breite Öffentlichkeit anzusprechen. Das Wissenschaftliche Theater brachte allerdings keine herkömmlichen Stücke auf seine Bühne, sondern inszenierte mit 25 | Max Wilhelm Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, in: Himmel und Erde. Illustrirte naturwissenschaftliche Monatsschrift 2 (1890), S. 227-38, S. 269-286, hier S. 277. 26 | Zum Begriff der Entzauberung vgl. Max Weber: »Wissenschaft als Beruf« [1919], in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgewählt und herausgegeben von Dirk Kaesler, Stuttgart 2002, S. 474-511, hier S. 488, S. 510. Weber spricht von der »Entzauberung der Welt« und ihrer Phänomene bzw. der menschlichen Lebensumstände durch Prozesse von Rationalisierung, Intellektualisierung und Technisierung. Er sieht die moderne Wissenschaft als Teil und Katalysator dieser Entwicklung. 27 | Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 233. 28 | Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde, S. 103.

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beweglichen Kulissen, Aufbauten und audiovisuellen Darstellungen populärwissenschaftliche Vorträge. In der Tradition spektakulärer Vorführungen, wie sie etwa im 17. Jahrhundert die britische Royal Society für ein privilegiertes Publikum geboten hatte oder die Londoner Royal Institution mit ihren experimentellen Weihnachtsvorträgen seit 1825 praktizierte, erweiterte und institutionalisierte Meyer das Konzept (populär)wissenschaftlicher Darbietungen.29 Gerahmt durch die Bühnensituation und illustriert durch die dort zum Einsatz kommenden ästhetischen und medialen Mittel von Theater und Malerei sollten die Urania-Präsentationen einem Laienpublikum Naturphänomene erklären. Dabei wurde der Besucher mit neuster Technik vertraut gemacht. Für verschiedene Vortragstypen standen spezifische technische Möglichkeiten zur Verfügung. Bei Physikvorführungen wurde vor dem »Bild einer Art Säulenhalle«30 ein längerer Experimentiertisch aufgebaut, der über Wasser-, Gas- und Stromanschlüsse verfügte. Während der Projektionsvorträge war eine Leinwand über die Bühnenöffnung gespannt, auf die mittels einer elektrischen Bogenlampe von 6000 Kerzenstärken »elektrisch erleuchtete Projektionsbilder« projiziert wurden.31 Die Elektrifizierung und die damit verbundenen Effektmöglichkeiten waren zweifellos eine der Hauptattraktionen der Urania. Beeindruckt berichtete ein Journalist: Durch 900 Glühbirnen von blauer, roter und weißer Färbung, die durch ein höchst geistvoll erdachtes Schaltungssystem in alle möglichen Zusammenstellungen gebracht werden und auch in beliebigen Helligkeitsgraden wirken können, ist es möglich geworden, jede natürliche Farbenabstufung wiederzugeben. 32

Ausgehend von dieser Schilderung ist anzunehmen, dass die künstliche Erzeugung einer ›natürlichen‹ Lichtstimmung einen besonderen Schauwert darstellte in einer Zeit, in der die meisten Haushalte noch nicht über eine elektrische Beleuchtung verfügten, sondern bestenfalls auf Gaslicht, zumeist aber auf Petroleum- be29 | Vgl. J. V. Golinski: »A Noble Spectacle. Phosphorus and the Public Cultures of Science in the Early Royal Society«, in: Isis 80 (1989), Nr. 1, S. 11-39; Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin 2006. Ideengeschichtlich lässt sich die Urania auch in der Tradition der britischen ›galleries of practical science‹ der 1830er Jahre beschreiben. Diese bedienten mit ihren günstigen Eintrittspreisen und ständig wechselnden Novitäten ein breites Publikum, das auch die unteren Schichten einbezog. Allerdings entstand die Urania zeitlich und räumlich unabhängig von den englischen Unternehmungen, die zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr existierten oder sich in andere Richtungen entwickelt hatten. Vgl. Richard Daniel Altick: The Shows of London, Cambridge 1978, S. 377-389. 30 | Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 277. 31 | Ebd. 32 | Franz Bendt: »Die neue Berliner ›Urania‹«, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 38 (1896), S. 632-637, hier S. 634.

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ziehungsweise Öllampen zurückgreifen mussten.33 Christine Haug hat darauf verwiesen, dass »selbst nach der Etablierung von Elektrizität in den Privathaushalten […] Ende der 1920er Jahre nur knapp 50 Prozent aller Berliner Haushalte einen Stromanschluss [besaßen]. Elektrisches Licht galt als Symbol von Glanz, Luxus und Prestige«.34 Den größten Aufwand betrieb das Wissenschaftliche Theater für das Inszenesetzen der »Ausstattungsvorträge« beziehungsweise »szenischen Vorträge« – die ob ihrer Opulenz bekanntesten Urania-Präsentationen.35 Diese sehr of wiederholten, dekorativ ausgestatteten Vorträge unterscheiden sich wesentlich von dem, was man bisher unter einem populär-wissenschaftlichen Vortrage verstand. Das sonst denselben gelegentlich in fast zaghafter Schüchternheit hinzugefügte Anschauungsmaterial ist hier mit besonderer künstlerischer Sorgfalt und Liebe als das Hauptsächlichste an der Darstellung ausgearbeitet. Durch die farbenprächtigen malerischen Schilderungen schöner und großartiger Naturscenerien soll mit dem leiblichen Auge auch zugleich und gewissermaßen unbewußt der Geist gefesselt werden. 36

Für diese Vorträge entwarf Urania-Direktor Meyer vor allem astronomische, geologische und paläontologische Szenarien, die in den Grenzen der Guckkastenbühne bildmächtig von der Entwicklung der Erde und des Universums, den Zuständen im Weltall oder der Naturgewalt des Wassers erzählten. Mithilfe von Lichteffekten sowie aufwendiger Bühnentechnik, Dioramenmechanismen, Hydraulik, beweglichen Leinwänden und Staffageobjekten inszenierte Meyer eine »künstliche Naturwelt«.37 Die Ausstattungsvorträge waren gänzlich ohne Personal, einziger sichtbarer Akteur war ein Sprecher, der neben der Bühne auf einer Kanzel stehend das Geschehen erklärte und kommentierte. Im Mittelpunkt standen Kulissen und Lichteffekte, die vom schmückenden Beiwerk zu ›Hauptdarstellern‹ avancierten. Statt menschlicher Figuren waren die Protagonisten der Urania-Produktionen »Sonnen- und Mondfinsternisse, Sternschnuppenschauer, glänzende Kometen« ebenso wie »Vulkanausbrüche, Erdbeben und der schreckliche Kampf 33 | Vgl. Christine Haug: »›Die Nacht zum Tage zu machen‹. Zur Entwicklung der künstlichen Beleuchtung und ihre Auswirkungen auf das Leseverhalten im 19. Jahrhundert« (7. 3. 2008), in: Goethezeitportal, www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/ haug_nacht-tage.pdf [letzter Zugriff: 12.12.2009], S. 5-8. 34 | Ebd., S. 7-8. 35 | Den theaterpraktischen Bezugspunkt für Meyers Konzept der Ausstattungsvorträge bildeten vermutlich die mit üppigen Kulissen und Requisiten versehenen Ausstattungsstücke, die im 19. Jahrhunderts als eigenes Genre in Erscheinung traten. Vgl. Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899), Bielefeld 2007, S. 158-165. 36 | Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 279. 37 | Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 180.

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des Feuers mit dem Wasser«.38 Die Theaterabteilung der Urania wurde dementsprechend nicht von einem Dramaturgen oder Schauspieler geleitet, sondern von Wilhelm Kranz (1853-1930), einem Maler, dessen Bilder und Zeichnungen auch in den Publikationen der Urania und anderen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen erschienen. Die wissenschaftliche Inszenierung, wie sie auf der Bühne des Urania-Theaters dargeboten wurde, war nicht nur eine effiziente Form der Wahrnehmungsverstärkung; in ihr wurde das Unbegreifliche im Bild verstehbar, der Kosmos in den Grenzen der theatralen Visualisierung beherrschbar und das Spektakuläre durch eine wissenschaftliche Rahmung legitimiert. Dabei setzten die Aufführungen kein Exklusivwissen voraus – die Techniken des Darstellens und Betrachtens, die im Wissenschaftlichen Theater praktiziert wurden, basierten auf vertrauten ästhetischen Medien wie Malerei, Szenographie und Diorama. Der Illusionserzeugung wurde ein Erklärungsapparat zur Seite gestellt, der die Naturphänomene und die Tricks der Darstellung offenlegte. Dass dadurch aber keineswegs der Effekt der Präsentation geschmälert wurde oder Irritationen entstanden, lässt sich aus dem Zusammenspiel von vertrauten Theatermitteln und innovativer Bühnentechnik erklären, die auf Neugier, Schaulust und Wiederverzauberung des Publikums abgestellt waren.

E IN THE ATER FÜR ALLE ? Die Urania war ein Teil urbaner Unterhaltungskultur. Ihre Veranstaltungen wurden in den Tageszeitungen inseriert – ein Blick beispielsweise in den Anzeigenteil der Berliner Neusten Nachrichten vom 8. März 1896 zeigt eine Annonce der Urania als »Anstalt für volksthümliche Naturkunde« neben Konzerten, Zirkusaufführungen, Vorträgen, Ausstellungen und Verkaufsangeboten für Gemälde und Steppdecken.39 Zudem strebte Meyer für das Wissenschaftliche Theater ein Organisationsmodell an, das sich an dem der etablierten Theater orientierte – gespielt wurde (mit Ausnahme von Sonderveranstaltungen oder Matineen) abends, und zwar im Repertoirebetrieb, der auf einem Korpus an regelmäßig aufgeführten Stücken basierte.40 Meyers Theaterverständnis war von einer Vorstellung geprägt, die das Theater neben der bürgerlichen Bildungsanstalt auch als Ort der Realisierung eines legiti38 | Foerster u.a.: Ueber die Entwickelung, S. 14; Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 279. 39 | Vgl. Arne Hessenbruch: »Science as Public Sphere: X-Rays between Spiritualism and Physics«, in: Constantin Goschler (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 18701930, Stuttgart 2000, S. 89-126, hier S. 91. 40 | Zum Repertoire gehörten in den 1890er Jahren vor allem Meyers Ausstattungsvorträge wie Von der Erde bis zum Monde, Die Geschichte der Urwelt, Die Kinder der Sonne, Eine Amerikafahrt 1492 und 1892, Die Werke des Wassers und Durch den Gotthard.

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men Vergnügungsanspruchs imaginierte. Die Bedeutung einer »eindrucksvollen« Darstellung war daher bereits in den Statuten der Gesellschaft festgeschrieben worden.41 Jenseits der naturwissenschaftlichen Grundbildung, die sich die Urania auf die Fahnen geschrieben hatte und mit der sie vor allem auf Schüler und Studenten als Besuchergruppe abzielte, wollte Meyer mit seinem Wissenschaftlichen Theater die gleiche Schicht ansprechen, die auch sonst in Berlin die Theater füllte: eine liberal-bürgerliche Mittelschicht, die motiviert von Bildungs- und Statusgedanken, aber mehr noch von einem klaren Unterhaltungsinteresse regelmäßig ins Theater ging. Programmatisch formulierte Meyer 1889: »Man soll in unser Theater gehen mit derselben Absicht, mit welcher man irgend ein anderes Theater besucht.«42 Dieser Ansatz war durchaus auch mit Blick auf die Geldgeber pragmatisch, denn so wie die meisten Theaterbetriebe der Zeit von privater und damit zumeist bürgerlicher Hand getragen wurden, war auch die Urania eine bürgerliche Gründung, die auf Privatkapital basierte und auf eine gewinnbringende Klientel angewiesen war. Zugleich aber wurde angestrebt, »möglichst verschiedenen Kreisen der Bevölkerung die Freude an der Natur […] zu erschliessen«.43 Dieser Idee versuchte die Urania unter anderem mit Preisvergünstigungen etwa für Schüler, Studenten und Lehrer oder rabattierten Sonderveranstaltungen für Vereine und Korporationen nachzukommen. Die Preisnachlässe bezogen sich allerdings nur auf Kombitickets, die den Besuch des Wissenschaftlichen Theaters voraussetzten.44 Der gewöhnliche Eintritt wurde nicht ermäßigt. Der Rabatt schuf so einen zusätzlichen Anreiz, das Theater zu besuchen. Neben der zielgruppenspezifischen Geschäftspolitik waren diese Sonderkonditionen auch auf Subventionen des Berliner Magistrats zurückzuführen, die offensichtlich mit besonderer Betonung eines Bildungs- beziehungsweise Weiterbildungsauftrags gewährt wurden.45 Laut Meyer wurde die Urania zudem »regelmäßig Sonntags zwischen 8 und 10 Uhr früh [ für] Arbeitervereine zu dem minimalen Eintrittspreise von 20 Pfennigen für die Per-

41 | Vgl. Foerster u.a.: Ueber die Entwickelung, S. 5; Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde, S. 77. 42 | Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 279. 43 | Meyer: »Die Veranstaltungen der Urania«, S. 31. 44 | Vgl. Meyer (Hg.): Illustrirter Leitfaden der Astronomie, Physik und Mikroskopie in Form eines Führers durch die Urania zu Berlin, Berlin 1892, S. 162-163. Generell lagen die Preise für den Besuch des Wissenschaftlichen Theaters (und auch der gesamten Urania) unter denen der großen hauptstädtischen Theater. Während der günstigste Platz im Urania-Theater Anfang der 1890er Jahre 50 Pfennig kostete, musste man für den billigsten Platz im Deutschen Theater das Doppelte bezahlen. Vgl. Manfred Brauneck: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Studien zur Rezeption des naturalistischen Theaters in Deutschland, Stuttgart 1974, S. 58. 45 | Vgl. Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 286.

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son« geöffnet, denen in diesem Rahmen auch »ein längerer Projektionsvortrag« präsentiert wurde.46 Die Urania zielte auf ein breites Publikum, da damit die »Frage der Lebensfähigkeit des Unternehmens« verbunden war, wie es Meyer und Foerster bereits 1888 formulierten.47 Harro Hess’ ausführliche Studie zur Geschichte und Entwicklung der Urania zeigt aber, dass die dominante Besucherschaft der Urania primär eine bürgerliche war und das Arbeiterpublikum eine eher marginale Größe darstellte.48 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass gerade das Bürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert von großer Volatilität und sozialer Mobilität geprägt war.49 Die Urania gehörte wie andere Theater und Museen – oder etwa die Zoos – zu den öffentlichen Unterhaltungs- und Konsumeinrichtungen der Metropole, in denen Bürgerlichkeit ›geübt‹ wurde. Zeitgenössische Darstellungen zeigen bürgerlich gekleidete Männer, Frauen und Kinder als beispielhafte Besucher der Experimentiersäle und des Wissenschaftlichen Theaters. Man zahlte Eintritt, um mit Gleichgesinnten Bildung und Unterhaltung zu genießen. Ein Illustrierter Leitfaden gab wissenschaftlich-technische Hintergrundinformationen und empfahl anhand einer »Besuchsordnung« den zeitlichen und räumlichen Ablauf eines Urania-Besuchs.50 Neben der »Sicherstellung der ›richtigen‹ Geh- und Sehpraktiken der Besucher«,51 wie es Christina Wessely mit Blick auf die Zoos formuliert hat, sollte ein solcher Leitfaden den Gästen helfen, das Gesehene einzuordnen, zu verstehen und sich ausgehend von den gesammelten Eindrücken bei der heimischen Lektüre weiterzubilden.

V ON DER H AVEL ZUM M OND UND ZURÜCK Der erste und bekannteste Ausstattungsvortrag, der ab 1889 in Berlin aufgeführt wurde und auch in New York die Erfolgsserie der Urania begründete, war Von der Erde bis zum Monde. Schon im Untertitel Ein astronomischer Gedankenausflug betonte Meyer den fiktionalen Charakter des Vortragsstücks, das in drei Akte und

46 | Ebd. 47 | Foerster u.a.: Ueber die Entwickelung, S. 3. 48 | Vgl. Harro Hess: Die Geschichte der Gesellschaft Urania zu Berlin und die Widerspiegelung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zur Organisation der Popularisierung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse, Diss., Greifswald 1969, S. 150. 49 | Vgl. Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen/Basel 2008, S. 16-17. 50 | Meyer (Hg.): Illustrirter Leitfaden, S. 6. 51 | Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 68.

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zehn Szenen gegliedert war.52 Ausgehend davon entwarf er eine »Rundreise von der Erde bis zum Monde«, deren Realisierung er allerdings gleich zu Beginn mit einem Verweis auf die Schwerkraft einschränkte: Daß dieselbe nur eine eingebildete sein wird, ist selbstverständlich, denn leider giebt es kein Mittel und wird es niemals eins geben, unseren schwerfälligen Leib von dieser uns stets nach unten ziehenden Erdscholle loszulösen jenen flimmernden Sternen entgegen, welche unseren sehnsuchtsvollen Augen wie ebenso viele große Welträthsel aus der Unendlichkeit her leuchten. 53

Dieses Beispiel zeigt bereits deutlich die charakteristische Verschränkung von wissenschaftstheoretischem Gestus und romantisierender Überhöhung, die Meyers Werke kennzeichnete. Ausgangs- und Angelpunkt der ›Reise‹ bildete eine Sonnenfinsternis, die der Vortrag aus verschiedenen Perspektiven präsentierte und zum Anlass für weitergehende Überlegungen und Erklärungen astronomischer Phänomene nahm. Damit stellte Meyer sehr bewusst eine Himmelserscheinung an den Anfang, die seit der Antike als Naturspektakel wahrgenommen wurde, weil sie im Gegensatz zu den meisten astronomischen Ereignissen ohne spezielle Hilfsmittel zu beobachten war und sich – zumindest bei optimalen Wetterbedingungen – durch einen großflächigen, sehr beeindruckenden Lichteffekt auszeichnete. Die Verdunklung der Sonne besaß dabei zwar traditionell auch Elemente mystischer Verklärung, entscheidend aber für das aufgeklärte 19. Jahrhundert war nicht mehr die Weltuntergangssuggestion, sondern der ausgeprägte visuelle Reiz, mit dem beispielsweise die totale Sonnenfinsternis von 1887 einem urbanen Massen-

Abb. 26: Eine Aufführung (Von der Erde bis zum Monde) im Urania-Theater. 52 | Max Wilhelm Meyer: Von der Erde bis zum Monde. Ein astronomischer Gedankenausflug, Berlin 31891. 53 | Ebd., S. 3

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publikum als astronomisches ›Event‹ vermittelt werden konnte. Meyer selbst hatte aus diesem Anlass für die Wochenzeitschrift Die Gartenlaube einen ausführlichen Artikel verfasst, in welchem er neben wissenschaftlichen Erklärungen und Bildbeispielen auch metaphernreich den eindrücklichen Atmosphärenwandel hervorhob: »Sobald die Totalität eintritt […], verwandeln sich ganz plötzlich Himmel und Erde wie von dem Zauberspruche eines bösen Dämons verdammt.«54 Die Sonnenfinsternis von 1887, die die Grundlage für Meyers Ausstattungsvortrag bildete, war durch die umfangreiche Presseberichterstattung vermutlich auch zwei Jahre später noch sehr präsent in der Vorstellung der Hauptstadtbewohner. Ein spezifischer lokaler Bezug ergab sich aus dem Umstand, dass die absolute Verdunklung nur in Teilen Deutschlands, das heißt vor allem in Nordostdeutschland und Berlin erlebbar war, aber auch dort die Wetterbedingungen die Beobachtung erschwert hatten. Dementsprechend entwarf Meyer sein Stück als kompensatorische Inszenierung: Versetzen wir uns nun zurück in diese Zeit und sehen wir, ob wir auf dem von uns gewählten Standpunkte mehr Glück haben als jene Millionen, welche sich längs des Totalitätsgebietes damals aufgestellt hatten und durch die Tücken des launischen Wetters um ihre hochgespannten Hoffnungen betrogen worden sind. 55

Im Gegensatz dazu bot die Urania eine ›Erlebnisgarantie‹, die die Unberechenbarkeit der natürlichen Umstände eliminierte und das Recht auf eine ›Reklamation‹ beinhaltete: Wenn hier in dem Gebiete der Urania etwa die Wolken einen unerwünschten Weg ziehen sollten, so wissen wir wenigstens, wem die Schuld beizumessen ist und dürfen uns bei der Direktion beklagen, was bei dem himmlischen Schauspiel, welches damals so großes Fiasko gemacht hat, leider nicht möglich gewesen wäre. 56

Im Mittelpunkt standen also nicht nur die Aufbereitung und Konservierung des Ereignisses, sondern auch eine Erlebnissteigerung. Dem evidenten, aber unbefriedigenden Sehen in der Natur wurde eine inszenierte Wahrnehmung derselben im Theater entgegensetzt, die auf ein sinnliches und zugleich potenziert erkenntnisstiftendes Erleben ausgerichtet war. Um die Relevanz und Besonderheit von Naturphänomenen zu vermitteln, schien es im ereignisgesättigten, ablenkungsreichen Raum der Metropole nötig, eine Natur, die sich in der Realität reizarm darstellte,

54 | Max Wilhelm Meyer: »Von der totalen Sonnenfinsternis«, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 31 (1887), S. 509-511, hier S. 509. 55 | Meyer: Von der Erde bis zum Monde, S. 4. 56 | Ebd.

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als hochkonzentriertes Schauspiel darzubieten.57 Dabei bildete die relative Einzigartigkeit der Sonnenfinsternis den Stimulus des Stücks, der entscheidende Faktor für den Erfolg des Stücks war allerdings die Wiederholbarkeit der Effekte. Im ersten halben Jahr wurde Von der Erde bis zum Monde 120mal aufgeführt und war damit nicht nur fester Bestandteil, sondern quasi Markenzeichen des Urania-Angebots.58 Im Stück selbst besaß die Sonnenfinsternis eine weitere Funktion: Sie war das narrative und visuelle Leitmotiv, auf dem die Dramaturgie des Stücks basierte: Drei der zehn Szenen begannen damit; dazu kamen zwei weitere Szenen, die eine Mondfinsternis zum Ausgangspunkt nahmen. Die dramaturgische Klammer bildeten außerdem der Sonnenaufgang in der ersten und der Sonnenuntergang in der letzten Szene, die den Verlauf eines Tages in der Aufführungszeit suggerierten. Diese ›Zeitreise‹ vollzog sich in Etappen, jede Szene präsentierte einen anderen Beobachterstandpunkt. So entfaltete sich eine Bewegung, die von der für das lokale Publikum vertrauten Gegend des Havellandes mit Windmühle (1. Szene) in den Weltraum zum Mond und den Mondkratern führte, schließlich zurück zur Erde ins Hochgebirge ging und auf der Vulkaninsel St. Pauls im Indischen Ozean (10. Szene) endete. Dabei entstand ein erzählerischer und visueller Bogen, der zwischen Vertrautem und Exotik beziehungsweise Fremdheit (sowohl außerirdisch als auch terrestrisch) oszillierte. Die Perspektivsprünge von Szene zu Szene suggerierten mehr noch als die Nähe zu den Darstellungsformen von Pano- oder Diorama ein protofilmisches Verfahren, das sich auch in der permanenten Bewegung zwischen Vergrößerung und Verkleinerung niederschlug, also einer Veränderung der ›Einstellungsgrößen‹: Sah man den Mond zu Anfang der 3. Szene noch aus der Ferne (›Totale‹), begann am Ende eine ›Fahrt‹ auf ihn zu, die in der 6. Szene in einer ›Nahaufnahme‹ gipfelte, die gleichzeitig nun die Erde weit entfernt und miniaturisiert erscheinen ließ.59 Von zentraler Bedeutung für diesen Wechsel der ›Einstellungsgrößen‹ waren die Vorhangsschließungen beziehungsweise -öffnungen, die Text und Inszenierung strukturierten. Meyer unterschied in den Regieanweisungen zwischen »Hauptvorhang«, »Zwischenvorhang« und »Verwandlungsvorhang«, was darauf hinweist, dass die Momente der Kulissenveränderung nicht nur als illustrative Begleiterscheinung verstanden wurden, sondern aktiv die Dynamik des Vortrags gestalteten. Damit war auch der Text weder reines Sprechermanuskript noch Abhandlung, Stücktext oder Regiebuch, sondern ein hybrides Gefüge, in dem sich 57 | Der Diskurs um die Überreizung von Mensch und Wahrnehmung in der Stadt findet sich prominent in zeitgenössischen soziologischen Diskussionen von Stadtkultur. Beispielhaft ist hier Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« [1903], in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, hg. Rüdiger Kramme u.a., Frankfurt a.M. 1992, S. 116-131. 58 | Vgl. Meyer: »Die Urania nach ihrer Fertigstellung«, S. 278. 59 | Vgl. Meyer: Von der Erde bis zum Monde, S. 9.

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bereits performative Strukturen manifestierten. Der Sprecher als solcher, der in der Aufführungspraxis nicht dem Autor entsprach, erschien im Text als namenlose Erzählerfigur, die einerseits das Bühnenerlebnis als gemeinschaftliches entwarf (»Wir wollen heute miteinander eine Reise nach dem Monde unternehmen«), andererseits das visuelle Geschehen auf der Bühne aus auktorialer Perspektive kommentierte.60 In seinem Auftreten war der Vortragssprecher dem späteren Kinoerzähler zu vergleichen, der gleichfalls in Monologform eine beeindruckende Bilderwelt erklärend beziehungsweise interpretierend begleitete. Allerdings improvisierte der Sprecher im Wissenschaftlichen Theater nicht, sondern hatte detaillierte Textvorgaben.

D IE D EMOKR ATIE DES S PEK TAKELS So wie die Beliebtheit des Panoramas nach der Ansicht Heinz Buddemeiers auch darin begründet lag, »daß beim Panorama der Unterschied zwischen Kunstverständigen und solchen, die es nicht waren, hinfällig wurde«,61 basierte auch der Erfolg von Meyers Ausstattungsvorträgen auf einer Entwertung exklusiver Kennerschaft. Die Präsentationen propagierten die Enthierarchisierung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, die in dieser Form einer breiten Masse mit sehr heterogenem Bildungsgrad zugänglich wurden. Mit Blick auf die Zielgruppe der Urania war Meyer insbesondere an einem nicht naturwissenschaftlich vorgebildeten Publikum – nicht zuletzt weil es die Mehrheit der Bevölkerung darstellte – interessiert, dessen Recht auf Unterhaltung er in den ersten Berichten über die Urania nachhaltig bekräftigte und zum Ausgangspunkt für seine wissenschaftsmissionarische Tätigkeit nahm. Dafür war es nach Meyers Ansicht nötig, Formate wie den populärwissenschaftlichen Vortrag […] durch möglichst glänzenden Bilderschmuck und wechselnde scenische Vorgänge fesselnd zu gestalten, damit er selbst diejenigen, welche nur ihrem Unterhaltungsbedürfnisse in der Urania zu genügen suchen, befriedige und sie dabei unvermerkt über die auffälligsten Wunderwerke der Natur belehre. 62

Die ästhetische Dimension besaß in Meyers Vorstellung entscheidende didaktische Möglichkeiten. Zeittypisch bewegte ihn der utopische Gedanke, dass naturwissenschaftlicher Fortschritt zur Besserung der Gesellschaft beitragen und entsprechendes Wissen und Verstehen positiven Einfluss auf die sozialen Umstände 60 | Meyer: Von der Erde bis zum Monde, S. 3. Meyer beschäftigte einen Schauspieler als Sprecher für seine Ausstattungsvorträge. 61 | Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970, S. 22. 62 | Meyer (Hg.): Illustrirter Leitfaden, S. 154.

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haben würden. Die Lebenswelt spielte zwar vordergründig auf der Bühne der Urania – anders etwa als in den sozialkritischen Aufführungen von Naturalismus und Realismus – keine Rolle, aber im Wissenschaftlichen Theater wurde die Natur durch die Inszenierung beherrschbar und damit implizit auch der Mensch in seiner Sonderstellung bestätigt. Der wissenschaftliche Regisseur war Weltenschöpfer und Weltenerklärer zugleich. In den aufregenden Wandelbildern der Urania erlebte der Zuschauer in Zeitraffer, Vereinfachung und Vergrößerung das Werden und Wirken einer inszenierten Natur, die in der transatlantischen Perspektive für ihre genuin spektakuläre Form gefeiert wurde. In die USA importiert wurden die Urania-Inszenierungen vom Industriemogul und Philanthropen Andrew Carnegie, der 1892 zwei von Meyers Ausstattungsvorträgen in seiner neu erbauten Music Hall in New York aufführen ließ: Von der Erde zum Monde wurde dort als A Trip to the Moon gegeben, Die Geschichte der Urwelt erschien als The Seven Ages of Our World, or, From Chaos to Man. Zudem wurde 1893 ein dritter, wahrscheinlich eigenständiger Vortrag mit dem Titel The Wonders of America unter dem Label »Urania« präsentiert.63 Allerdings waren die Reaktionen auf die Urania-Aufführungen in den USA zunächst gemischt. Während die Bühneneffekte von der lokalen Presse gefeiert wurden, wurde die Vortragsweise von verschiedener Seite als unzulänglich beschrieben. Kranz und Meyer waren für die Einrichtung der Vorträge vor Ort. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Letzterer seine Texte selbst vortrug, vermutlich verlas zunächst ein dafür engagierter Sprecher die übersetzten Manuskripte.64 A Trip to the Moon beschrieb die New York Times als »remarkable drama« und lobte die Bühnenbilder als »pictures of remarkable beauty […] fascinating in the extreme to the lowliest student of astronomy«.65 Unter der Überschrift »The Moon at Music Hall« hob der Rezensent besonders die Monddarstellungen hervor: »The views of the surfaces in the moon, with their brilliant illumination, are vivid enough to quicken the interest of anybody who ever looked up into the sky at night and wondered what he saw there.«66 Diese Verzückung wurde allerdings im Gesamteindruck ausgebremst – »the general result is strangely unsatisfying«67 –, wie der Autor im Folgenden erklärte: The delight of a German showman in gorgeous scene painting lighted by electricity is combined with the bottomless enthusiasm of a German scientist, and the project of a lecture 63 | In den Chroniken und Meyers Autobiographie werden nur die beiden ersten Vorträge mit Blick auf die Gastspiele in New York erwähnt. Es ist anzunehmen, dass dieses Stück von Garrett P. Serviss, der die Uraniavorträge in der Music Hall präsentierte, allein verfasst wurde. 64 | Vgl. »A Brooklyn Astronomer«, in: The Brooklyn Daily Eagle 17.6.1894, S. 28. 65 | »The Moon at Music Hall«, in: The New York Times 11.2.1892, S. 4. 66 | Ebd. 67 | Ebd.

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K RISTIN B ECKER upon astronomy popularized by brilliant dissolving views is weighted with more big words than it can carry comfortably. The lecture is heralded as gravely as if it were a new religion just discovered, and, as given at present, the entertainment drags and the audience is edified so gradually that there is more awe than comfort in it. […] [T]he language of the lecture […] is stilted and sounds as if written for German-philosophical children who asked for a fairy story.68

Offenbar funktionierte Meyers Text in der englischen Übersetzung nicht, stattdessen überwog ein Gefühl von Fremdheit, aus dem heraus der Rezensent mit ironischer Feder eine kulturelle Differenz ableitete. Dementsprechend empfahl er stilistische Änderungen: »With all respect to the gravity of the subject, the lecture should be made more colloquial in style, and the reader should not act as if he believed himself to be inspired.«69 Ausgehend von dieser Problematik, die die Urania-Vorträge zunächst als Misserfolg erscheinen lassen, wie auch der Astronom und Carnegie-Vertraute John A. Brashear (1840-1920) berichtete, vollzog sich eine kulturelle Anpassung des Konzepts an die lokalen (Unterhaltungs-)Bedürfnisse.70 Mit der Überarbeitung der Vorträge wurde der Journalist und Wissenschaftspopularisier Garrett P. Serviss (1851-1921) beauftragt, der in der Folge auch die Funktion des Vortragenden in der Music Hall übernahm. Anerkennend bemerkte eine New Yorker Zeitung: »He put the translated lecture into the waste basket, then went on and gave to the populace facts. He is a ready talker and requires no manuscript.«71 Durch das Engagement Serviss’ gelang es, Meyers Ausstattungsvorträge in der Tonart dem Geschmack des lokalen Publikums anzupassen und die Urania-Vorträge entsprechend zu ›amerikanisieren‹. Deutlich wird so, dass das Wissenschaftliche Theater das Produkt einer liberalen Metropolen- und Wissen(schaft)skultur war, die trotz ihrer Internationalisierung an nationale beziehungsweise lokale Kontexte gebunden war, wie Andreas Daum aufzeigt: »Although science itself did not acknowledge nationalities, popular accounts needed to be embedded in the specific national taste and thinking of distinct nations.«72 In Berlin waren die opulenten Ausstattungsvorträge Teil der Gesamtunternehmung und nicht nur örtlich, sondern auch konzeptionell im bedeutungsproduzierenden Apparat der Urania verankert, durch den sie legitimiert und gerahmt wurden. In New York funktionierten sie außerhalb der 68 | Ebd. 69 | Ebd. 70 | Vgl. John A. Brashear: The Autobiography of a Man who Loved the Stars, New York 1924, S. 116. 71 | »A Brooklyn Astronomer«, in: The Brooklyn Daily Eagle 17.6.1894, S. 28. 72 | Andreas Daum: »›The Next Great Task of Civilization‹. International Exchange in Popular Science. The German-American Case, 1850-1900«, in: Martin H. Geyer/Johannes Paulmann (Hg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford/New York 2001, S. 285-319, hier S. 290.

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institutionellen und wissenschaftlichen Einfassung. Im diskursiven Mittelpunkt der amerikanischen Zeitungsberichte standen Theatralität, Spektakel und Unterhaltungswert. Anders als im quasi intimen Rahmen der Berliner Urania galt es in New York den fast zehnmal so großen Vortragsraum der Music Hall zu füllen, die sich ab Anfang der 1890er Jahre als Veranstaltungsort für große Konzerte etablierte. Zwar schwang auch in den amerikanischen Berichten der populärwissenschaftliche Anspruch der Urania-Vorträge mit, im Vordergrund stand jedoch eindeutig das sinnliche Erlebnis, das die Präsentationen, wie an den Zitaten zu Anfang gezeigt, in die Nähe eines anderen deutschen Kulturimports rückte – die Opern Richard Wagners. Im Programmheft wurde zudem eine Rhetorik von Märchenhaftigkeit, exotischer Geschichtenerzählung und Spektakel entworfen, die die Grenzverwischung von Wissenschaft, Fiktion und Imagination betonte: Through the skill of modern stage craft, the magic of electricity and the strange knowledge accumulated by astronomers with the aid of mighty telescopes and other wonderful instruments of science, the audience, in ›Trip to the Moon,‹ makes such a journey as only the imagination of Jules Verne, or the old Arabian story tellers could have matched. 73

Anders als in Berlin wurde in New York sehr viel direkter die Spektakularität der Ausstattungsvorträge als eine herausragende Qualität wahrgenommen und entsprechend vermarktet. Der Widerspruch von anschaulicher Vereinfachung und seriöser Wissenschaftlichkeit, mit der Meyer in seinen Schriften immer wieder rang, war in der transatlantischen Lesart ersetzt durch die Frage nach der gelungenen Aufführung. Bemängelte die New York Times noch im Februar 1892, »the pictures are too good to be framed in so laborious a setting of wood«,74 befand sie im November desselben Jahres anlässlich einer Wiederaufnahme von A Trip to the Moon: »The journey lasted an hour and a half and was one unbroken series of delightful experiences.«75 Der Volksbildungsgedanke war zwar in den amerikanischen Berichten durchaus präsent, im Vordergrund aber stand die perfekt inszenierte Eindrücklichkeit des Erlebnisses: No such combination of the marvellous powers of electricity and the art of stagecraft had ever been effected before with such an object in view. It was the ambition of ›Urania‹ to become one of the foremost influences working for popular education in this country, as well as one of the most delightful sources of intellectual amusement for all people.76

Die Wissenschaftsinszenierungen der Urania, die kurzzeitig auch in Paris, Budapest und Wien gezeigt wurden, erreichten in New York den Zenit ihrer Theatrali73 | Music Hall (Hg.): Urania. 3 Spectacular Marvels of Nature, Handzettel, New York 1893. 74 | »The Moon at Music Hall«, in: The New York Times 11.2.1892, S. 4. 75 | »From Daly’s to the Moon«, in: The New York Times 29.11.1892, S. 8. 76 | »School Children at Urania«, in: The New York Times 2.4.1893, S. 9.

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tät und ihres grenzüberschreitenden Erfolgs. Sie bestanden vor den Augen eines Publikums, dem ein schier unendliches Angebot an Freizeitmöglichkeiten und Bühnenunterhaltungen zur Verfügung stand. Zwar war der Erfolg nicht einfach übertragbar – die Bedingungen und Bedürfnisse in Berlin und New York unterschieden sich –, aber die Grundlage war die gleiche: der kulturelle Nährboden der Metropole.

Ein Kabinett im Panoptikum Musikautomaten und die Ökonomisierung der Kunst Rebecca Wolf

Eine Sammlung selbstspielender Musikinstrumente wurde im Jahr 1901 von Dresden nach Berlin verkauft und dort in der Taubenstraße 34 ausgestellt.1 Heute befinden sich an diesem Ort in einem neuen Gebäude die Friedrichstadt-Passagen, eine Einkaufspassage mit Boutiquen, Galerien, Cafés, glasüberdacht und mit LivePiano-Musik im Atrium. 1901 waren hier Fahrradwerke und ein Waffengeschäft in nächster Nachbarschaft zur Automaten- und Instrumentensammlung.2 Von diesem so genannten Akustischen Kabinett zeugt heute eine Fotografie, die zudem auch als Postkarte produziert worden war.

Abb. 27: Akustisches Kabinett der Firma F. Kaufmann & Sohn Nachf., G.m.b.H., Berlin 1901. 1 | So die Zeitschrift für Instrumentenbau 21 (1901), Nr. 36, S. 953. 2 | Vgl. Gebäude-Register Berlin 1901, Microfiche, Zentrum für Berlin-Studien, Zentralund Landesbibliothek Berlin.

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Hierauf sind verschiedene Instrumente der Dresdner Akustiker- und Automatenbauerfamilie Kaufmann abgebildet. Die Automaten kombinierten zum Teil eine Vielzahl an Musikinstrumenten wie Flöten, Harfen, Pianoforte, Trompeten sowie Schlagwerk und boten ein Repertoire aus Opernhighlights, Potpourris, verschiedenen Nationalmelodien und Ausschnitten aus Symphonien. Von links nach rechts zeigt die Fotografie ein Belloneon, ein großes Salon-Orchestrion, ein weiteres Belloneon, den Trompeterautomaten, ein kleines Salon-Orchestrion, ein großes Militär-Orchestrion und ein Quartett-Orchestrion.3 Hierbei handelt es sich, wie die Abbildung zeigt, um zumeist schrankförmige Automaten, die auch Qualitäten als repräsentative Möbelstücke erfüllten. Einzig der Trompeterautomat hat die Form eines Androiden. Das in der Mitte abgebildete Belloneon und der Trompeterautomat sind heute im Deutschen Museum in München ausgestellt. Gemeinsam ist allen Instrumenten ein zentraler Teil der Mechanik: Eine bestiftete Holzwalze bildet stets den so genannten Programmträger. Durch Federspannung oder Gewichtantrieb wird die Walze in Bewegung gesetzt, damit ihre Stifte und Brücken von so genannten Claves abgetastet werden können. Diese Bewegung wird weitergeleitet und sorgt, je nach Modell, für den entsprechenden Impuls zur Tonerzeugung: Saiten werden gezupft, Zungen und Pfeifen mittels Luftzufuhr durch Bälge in Schwingung versetzt oder Pauken geschlagen. Drei Generationen waren maßgeblich für den Bau dieser Musikautomaten verantwortlich: Johann Gottfried Kaufmann (1752-1818), sein Sohn Friedrich (17851866) und sein Enkel Friedrich Theodor (1823-1872) begannen als Uhrmacher und mit der Herstellung und Weiterentwicklung von Standuhren mit Musikspielwerk, bis schließlich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Uhren in den Hintergrund traten, um zumeist selbstspielenden Musikinstrumenten den Vorrang zu geben. Das 19. Jahrhundert hindurch präsentierte die Familie die Instrumente zunächst in ihrem Haus in Dresden, dann auf europaweiten Reisen in Konzertsälen oder in Privatvorstellungen verschiedener Königshäuser, bis im Jahr 1855 das Dresdner Akustische Kabinett als ständiger Ausstellungsort eingerichtet wurde und jahrzehntelang zu besuchen war. Schon nach wenigen Jahren am neuen Standort Berlin wurde ein kleiner Teil der Instrumente zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Deutsche Museum nach München gebracht, wo noch heute drei der Instrumente erhalten sind: ein Belloneon von 1805/06 mit 24 Trompeten und zwei Pauken,4 der Trompeterautomat5 und ein Harmonichord,6 ein klavierähnliches Instrument, das Friedrich Kaufmann selbst während der Automatenkonzerte spielte. Durch den Umzug des Kabinetts von Dresden nach Berlin verschiebt sich das Präsentations3 | Vgl. Brief von Emil Faust aus Stettin an das Deutsche Museum, München vom 23.2.1907. Deutsches Museum, Archiv, VA 1753, sub F. 4 | Inv. Nr. 09/9654. 5 | Inv. Nr. 4423. 6 | Inv. Nr. 1000.

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konzept des Kabinetts von einer einzelnen Sehenswürdigkeit einer mittelgroßen Stadt hin zur Ausstellung in einer großstädtischen Kaufhauspassage in zentraler Lage nahe der belebten Berliner Friedrichstraße und wird damit zu einem Teil des metropolitanen Warenangebots um 1900. Hier wurde das Gesamtarrangement der Passage besucht und nicht mehr die einzelne Sammlung. Im Deutschen Museum sind die Instrumente als Artefakte des vergangenen Jahrhunderts und zur technisch-akustischen Bildung ausgestellt. Den unterschiedlichen Ausstellungskonzepten des Kabinetts folgend, soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Umgebung für die Rezeption der Instrumente und für die Reaktion der Besucher und der Kritiker spielt. Der entscheidende Wandel in der Rezeption dieses Kabinetts bestand vermutlich darin, dass die Begeisterung für Vielfalt und Vervielfältigung, wie sie die Zeit um 1900 prägte, den spezialisierten Blick auf eine aufeinander abgestimmte Auswahl an Instrumenten ablöste. Es scheint hier sinnvoll, Wege, Bewegungen, Mobilität und Reisen in den Fokus zu nehmen, um verschiedene Transfersysteme rund um diese Automaten genauer fassen zu können. Die Sammlung wurde besucht, ging auf Reisen, wurde öffentlich oder vor ausgewähltem Publikum präsentiert und bekam schließlich sogar eigene Ausstellungsräume. Als Quellen dienen hier zumeist Berichte in Zeitungen und Zeitschriften, die entweder Automatenkonzerte ankündigen oder rezensieren. Hierbei wird immer wieder auf zuvor veröffentlichte Artikel zurückgegriffen und doch auch stets aufs Neue versucht, die technischen Details der Instrumente zu erläutern, so als ob sie gerade neu entdeckt worden wären. Das innere Rädersystem der Automaten, einmal ausgelöst selbstständig laufend, mag sich auch als Metapher eignen für die unstete Reise der besagten Instrumente.7

E RSTE B ESUCHER Das wohl wichtigste Medium für musikalische Neuheiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung. Und so fand einer der ersten Berichte über den Kaufmann’schen Trompeterautomaten von 1810/12 ein breites Publikum und bleibt bis heute viel zitiert. Sicherlich auch wegen seines Autors: Carl Maria von Weber (1786-1826) berichtet im Jahr 1812 ausführlich über seinen Besuch in der Dresdner Automatenwerkstatt und weist mit diesem Artikel eigentlich schon den Weg der späteren Rezensionen.8 Er beschreibt den Trompe7 | Zu den einzelnen Instrumenten und zur weiterführenden Einordnung siehe Rebecca Wolf: Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat – Musikinstrument, Maschinenmensch und akustisches Experiment, 2 Bde., Diss., Wien 2008. 8 | Carl Maria von Weber: »Der Trompeter, eine Maschine von der Erfindung des Mechanicus, Hrn. Friedrich Kaufmann, in Dresden«, in: Allgemeine musikalische Zeitung (im Folgenden AmZ) 14 (1812), Nr. 41, Sp. 663-666.

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terautomaten, den er »noch unvollendet auf dem Schraubstocke zu sehen und zu hören«9 Gelegenheit hatte, als Musikinstrument, nennt seinen besonderen Tonvorrat, erläutert die Mechanik ebenso wie das äußere Erscheinungsbild und geht darüber hinaus auf den weiteren Kontext, zwei andere Automaten Kaufmanns, ein. Webers Beschreibung, nicht zuletzt der Mechanik und akustischen Vorgänge, wird in den darauffolgenden Jahrzehnten vielfach rezipiert und scheint somit eine Art Referenzfunktion einzunehmen. Das Lob des bekannten Komponisten wird übernommen und werbewirksam genutzt. Über den deutschsprachigen Raum hinaus nennt es beispielsweise eine Londoner Zeitung, um die Kaufmann’schen Vorführungen in London 1851 zu kommentieren.10 Bald nach Weber besucht ein anderer die Dresdner Automatenwerkstatt und trägt seine Eindrücke dazu in die Öffentlichkeit. Spätestens nachdem E.T.A. Hoffmann (1776-1822) 1813 in Dresden Kapellmeister der Saconda’schen Operngesellschaft wurde, hatte er dort auch die Automaten Kaufmanns gesehen.11 Dieser Eindruck mag ihn zu zwei Erzählungen angeregt haben, die weite Verbreitung finden sollten. Zum einen sind dies die Automate, die einen Teil der Serapionsbrüder bilden,12 und der Sandmann, der den ersten Teil der zwischen 1816 und 1817 entstandenen Nachtstücke einleitet.13 Das Changieren zwischen unbelebt oder beseelt wirkenden Automaten und Menschen ist eines der Themen im Sandmann. Nicht nur, dass sich der Protagonist Nathanael in die Klavier spielende, singende und »Ach«-hauchende Androidin Olimpia verliebt und diese für lebendig hält, seine Braut Clara nennt er im Gegenzug und in aller Entfremdung »lebloses, verdammtes Automat«, sie zählt für ihn zu den »kalten unempfänglichen Gemütern«.14 Die Automate wird bereits im Januar 1814 geschrieben und im selben Monat der Allgemeinen musikalischen Zeitung zum Abdruck angeboten.15 In einem Schreiben 9 | Ebd., Sp. 663. 10 | Vgl. The Illustrated London News (1851), S. 7: »The Trumpet Automaton […] was invented many years ago by Herr Kaufmann, and won the admiration of Carl Maria von Weber. What is most remarkable and inconceivable in this extraordinary piece of mechanism, is, that it produce double sounds of equal strength and purity, and flourishes in octaves, tierces, quints, &c., are heard.« 11 | Vgl. Schreiben Hoffmanns an Friedrich Rochlitz vom 16.1.1814, zit.n. E.T.A. Hoffmann: »Die Automate«, in: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen, Bd. 1, München 1993, Anmerkungsapparat, S. 1062; Max Engelmann: »Aus der Geschichte einer Uhrmacherfamilie. Die ›Akustiker‹ Kaufmann und ihr Werk«, in: Deutsche Uhrmacherzeitung 49 (1925), Nr. 40, S. 797-800 und Nr. 42, S. 841-844, hier S. 799. 12 | Hoffmann: »Die Automate«, S. 328-355. 13 | E.T.A. Hoffmann: »Der Sandmann«, in: Fantasie- und Nachtstücke, München 1993, S. 331-363. 14 | Ebd., S. 346, S. 348. 15 | Vgl. Hoffmann: »Die Automate«, Anmerkungsapparat, S. 1062-1065.

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betont Hoffmann, dass er in dieser Erzählung unter anderem mit einer Erfindung Kaufmanns die aktuellen Musikinstrumente seiner Zeit besprechen konnte, und macht damit Werbung für eine Veröffentlichung.16 In beiden Texten geht es um belebt wirkende Maschinenmenschen, die zu dieser Zeit immer noch als Faszinosum galten. Zwischen Hoffmanns literarischer Verarbeitung des Mensch-Maschine-Themas und den zeitgenössischen Rezensionen zu Kaufmanns Präsentationen scheint eine Wechselwirkung vorzuliegen, denn die Kritiken lassen oftmals eine starke Beeinflussung durch Hoffmanns Rhetorik vermuten: Die mechanischen Instrumente sind gerichtet, keine Hand berührt sie mehr, K. setzt sich an das Harmonichord, die Musik beginnt, da setzt der Trompeter auf ein Haar ein und schmettert mit einfachen und Doppeltönen darein, er verstummt, das Symphonion beginnt ganz eben so, genau wie sein Vorgänger, das Salpingion schmettert und paukt und das sanftere Chordaulodion löst seinen Vorgänger ab, und keiner irrt auch nur ein 32stel. Welche sichere Berechnung in den treibenden Werken! Man muß zuletzt an Hoffmann’s Phantasieen glauben.17

Dieses Zitat der Berliner musikalischen Zeitung von 1844 vermittelt nicht nur den Eindruck eines Automatenkonzerts, sondern stellt darüber hinaus eine Verbindung zu E.T.A. Hoffmann her und will vermutlich an seine fantastischen und ins Übernatürliche weisenden Erzählungen anknüpfen. Und solche Berichte gibt es nicht nur aus Berlin, sondern beispielsweise auch aus Wien und anderen Metropolen der Zeit.18 Mit Etienne-Gaspard Robertson (1763-1837) sei ein dritter Besucher, diesmal der Stadt Dresden und nicht der Kaufmann’schen Werkstatt, aufgeführt. Er spielt für die Präsentation der Automaten Kaufmanns eine wichtige Rolle, wird er doch zum Auslöser für die erste öffentliche Vorführung des Trompeterautomaten. Aus der Metropole Paris kommend, war Robertson einer der vielen reisenden Wissenschaftler, die neueste Geräte und Objekte verbunden mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zumeist auf spektakuläre Weise einer interessierten Öffentlichkeit darboten. Angekündigt als Professor Robertson führte er im Sommer 1812 im Dresdner Hôtel de Pologne einen Trompeterautomaten vor.19 Friedrich Kaufmann 16 | Schreiben Hoffmanns an Rochlitz vom 16.1.1814, zit.n. ebd., S. 1062. Die AmZ veröffentlicht nur etwa das erste Drittel, aber bereits im April 1814 druckt die Elegante Zeitung Hoffmanns Erzählung vollständig ab. 17 | Berliner musikalische Zeitung 1 (1844), Nr. 16, Sp. 2. 18 | So wird bspw. Václav Jan Tomášek 1841 in der Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung zitiert: »Man glaubt in einem Feensaale zu seyn, wo durch die Macht des Magikers (nämlich des Hrn. Kaufmann) leblose Materien belebt werden, ja es wird einem sogar unheimlich, wenn ein Tonwerk nach dem andern, gleichsam aus dem Schlafe erwacht, und an dem durch den Meister bereits begonnenen Tonleben Theil nimmt.« (AWMZ 1 (1841), Nr. 146, S. 612). 19 | Vgl. Dresdner Anzeiger für Jedermann 5.9.1812, Sp. 1607-1608.; Journal des Luxus und der Moden, 13.10.1812, S. 733, 736-740.

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veröffentlicht daraufhin im Dresdner Anzeiger für Jedermann eine Anzeige und Einladung, die folgendermaßen beginnt: Einladung zu öffentlichen Lustbarkeiten. Bei Gelegenheit der Kunstausstellung des Herrn Prof. Robertson, welche ich 2 mal zu sehn das Vergnügen hatte, und von seinem Automat dem mech. Trompeter, zwei verschiedene Principalstücke mit möglichster Reinheit und Fülle des Tones hörte; wurde ich öffentlich aufgefordert auch mein Automat, ebenfalls einen mech. Trompeter, hören zu lassen. Ich gebe mir daher die Ehre, hiermit anzuzeigen, daß ich mich entschlossen habe, von jetzt bis den 25. Septbr. a. c. in meiner Wohnung, Zwingerallee Nro. 30. alle Dienstage und Sonnabende, Abends um 6 Uhr, eine musikalische Unterhaltung zu geben, und Dienstag den 8. Septbr. 1812 den Anfang damit zu machen. 20

Robertson, der Weitgereiste und Vielseitige, gab also Anlass für Kaufmann zu öffentlichen Vorstellungen. Der gebürtige Belgier Robertson war bekannt als Physiker, Vorführer von Geistererscheinungen mit der Laterna magica, so genannten Fantasmagorien, und als Ballonfahrer. Bereits vor 1800 hatte er in Paris sein erstes physikalisches Kabinett eingerichtet, 1803/04 folgte dann ein weiteres in St. Petersburg.21 Ähnlich wie später die Kaufmanns unternahm er viele Reisen.22 Und so lassen nach den ersten Vorführungen Kaufmanns natürlich Vergleiche der beiden Trompeterautomaten nicht lange auf sich warten. Das Journal des Luxus und der Moden berichtet bereits im Oktober 1812 über Robertsons Vorstellung und ist dabei deutlich vom nationalen Konkurrenzdenken beeinflusst: Die Erwartung von diesen Seltenheiten war durch die pomphaft angekündigte Beschreibung zu sehr gereizt und außerordentlich getäuscht. Der mechanische Trompeter, welcher die Trompete mit einer Vollkommenheit blasen sollte, die kein Mensch erreicht, hält nach dem Urtheile Aller in keiner Hinsicht die geringste Vergleichung mit dem Kaufmannschen

20 | Dresdner Anzeiger für Jedermann 5.9.1812, Nr. 202, Sp. 1607-1608. 21 | Vgl. Art. »Robertson«, in: Antoine G. de Becdelièvre-Hamal: Biographie liégeoise, Bd. 2, Lüttich 1837, S. 20; Julien Fraipont: Art. »Robertson«, in: Académie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique (Hg.): Biographie nationale, Bd. 19, Brüssel 1907, S. 38; Art. »Robertson«, in: Johann Christian Ferdinand Hoefer (Hg.): Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus redulés jusqu’à nos jours, Bd. 42, Paris 1852, Sp. 393-395. 22 | So hielt er sich in mehreren deutschen und österreichischen Städten auf, lebte einige Zeit in Russland, reiste nach Schweden und Dänemark, England, Italien, nach Spanien und Portugal, sogar Afrika soll er erreicht haben. Vgl. Art. »Robertson«, in: Becdelièvre-Hamal: Biographie liégeoise, S. 20; Fraipont: Art. »Robertson«, S. 38; Art. »Robertson«, in: Jean Pauwels de Vis: Dictionnaire biographique des Belges, Brüssel 1843, S. 63.

E IN K ABINETT IM P ANOPTIKUM aus. Viel, noch sehr viel könnte der französische Künstler von dem teutschen zur Verbesserung seines Automaten lernen. 23

Schon die ersten Präsentationen im Haus der Familie Kaufmann zogen schnell ein großes Publikum an, so dass man sich entschied, diese Reihe fortzusetzen und dies über Anzeigen zu bewerben.

A UF R EISEN Bald nachdem Friedrich Kaufmann seinen Gesellenbrief im Uhrmacherhandwerk erhalten hatte, begab er sich auf eine Reise durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz, wobei er sich 1804 auch in der Musikmetropole Wien aufhielt. Hier traf er auf Johann Nepomuk Mälzel (1772-1838), einen wichtigen Automatenbauer der Zeit. Mälzel führte in Wien und bald darauf auch in Paris sein Panharmonikon vor, ein großes schrankförmiges Instrument, das bestehend aus verschiedenen Instrumenten ein ganzes Orchester darstellen sollte.24 Diese Anregungen aus Wien führten bei Kaufmanns Rückkehr nach Dresden zum Bau weiterer Automaten und zur Weiterentwicklung der studierten Mechanik. Diese neuen Erfindungen sollten dann ebenfalls über die Grenzen Dresdens getragen werden, und so erhoffte sich auch Carl Maria von Weber 1812, dass Kaufmann »mit diesem interessanten Kunstwerke, das auf jeden Fall Stoff zu vielen neuen Ansichten und Versuchen darbietet, – eine Reise unternehmen [wird]«.25 Dies geschah dann auch von 1816 bis 1818 mit einer Reise nach Amsterdam, Paris, Straßburg, Karlsruhe, Stuttgart, Augsburg, München und Frankfurt am Main. Und nochmals ab 1836 sind zahlreiche Stationen Friedrich Kaufmanns mit einigen Automaten nachzuweisen. Um einen knappen Einblick in die rege Reisetätigkeit zu geben, seien hier exemplarisch die Städte Leipzig, Hannover, Hamburg, Kopenhagen, Stockholm, Helsinki, Sankt Petersburg, Warschau, Breslau, Prag, Wien, Budapest, Salzburg, München, Stuttgart und 1842 Frankfurt am Main genannt. Neben dem Trompeterautomaten führt er das Harmonichord und drei schrankförmige Automaten mit sich. Über Köln und Hamburg geht es 1843 weiter nach Kopenhagen und Berlin; die Reise endete schließlich im April 1844 in Dresden. Kaufmanns letzte Reise startet Ende April 1851 in Leipzig und führt ihn gemeinsam mit seinem Sohn Friedrich Theodor 23 | Journal des Luxus und der Moden 13.10.1812, S. 736-740. 24 | Der Abschluss der Uhrmacherlehre F. Kaufmanns ist belegt durch den sog. ›Meisterbrief‹ Friedrich Kaufmanns, Dresden 25.3.1800, Deutsches Museum, Archiv, Bestand Handschriften HF 2002-003. Vgl. zur Reise nach Wien Art. »Kaufmann«, in: Gustav Schilling (Hg.): Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder UniversalLexicon der Tonkunst, Bd. 4, Stuttgart 1837, S. 57-60; »Friedrich Kaufmann (Nekrolog)«, in: Niederrheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler 26.1.1867, S. 30-31. 25 | Von Weber: »Der Trompeter«, Sp. 665.

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sowie mindestens fünf Instrumenten nach England, Irland und Schottland. Über Holland führte die Rückreise zunächst noch zum letzten bekannten auswärtigen Konzert im Mai 1854 nach München.26 Die Rezensionen und Berichte belegen die Reisen und deren Hintergründe: Teilweise ist davon zu lesen, dass Einladungen ausgesprochen wurden, teils ermöglichten Empfehlungsschreiben Adliger die Weiterreise von einem Ort zum nächsten und das Anmieten der dortigen Konzerthäuser. Die Reisen steigerten den Bekanntheitsgrad immens, machten die Kaufmanns zu Hause berühmt und vergrößerten den Radius der Berichte über sie auf weite Teile Europas. Die Vorführungen wurden in den entsprechenden Zeitschriften und Zeitungen vor Ort bereits vorab angekündigt und im Nachhinein rezensiert, und auch zu Hause in Dresden war von den reisenden Akustikern zu lesen. Zweierlei Gründe mögen für die rege Reisetätigkeit angeführt werden. Zum einen dienten sie sicherlich Werbezwecken, um den Käuferkreis der Instrumente zu vergrößern.27 Bis auf den Trompeterautomaten konnten alle Instrumente bestellt werden, wofür eigens Werbebroschüren bei den Veranstaltungen erhältlich waren. Vor allem das Harmonichord scheint von Anfang an zum Verkauf gestanden zu haben und wurde in häufigen Verbesserungen angeboten. Die Instrumente konnten während der Reisen bestellt werden und wurden nach der Rückkehr in Dresden angefertigt. Zudem mögen die Eintrittsgelder eine weitere Einnahmequelle gewesen sein, ob sie allerdings zu einem finanziellen Gewinn wurden nach Abzug aller Reisekosten, sei dahingestellt. Der andere Grund lag sicher in der Möglichkeit, wichtige Bekanntschaften zu knüpfen: Andere Musiker, Wissenschaftler, Literaten und Komponisten bereisten ebenfalls die europäischen Zentren, und so konnten sich Gespräche über die Erfindungen ergeben, Anregungen aufgenommen und Vergleiche der Instrumente veröffentlicht werden. Bereits 1818 sind Präsentationen auf einer Frankfurter Messe nachweisbar. Die Automaten wurden hier ebenso gespielt, wie der berühmte Akustiker Ernst F.F. Chladni (1756-1827) wissenschaftliche Vorträge hielt und andere Konzerte zu hören waren.28 Es mag 26 | Die Stationen der Reisen lassen sich verfolgen bei Wolf: Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat. 27 | Die Instrumente fanden zum Teil ihre Käufer im Adel und wurden in Schlössern aufgestellt. So soll ein Belloneon 1806 in Schloss Charlottenburg gestanden haben. Vgl. Engelmann: »Aus der Geschichte einer Uhrmacherfamilie«. Schon eine Harfen- und Flötenuhr Kaufmanns wurde 1787 von Kurfürst Friedrich August III. (1750-1827) als Geschenk für seine Frau gekauft und befand sich bis 1945 in Schloss Pillnitz. Vgl. hierzu Art. »Kaufmann«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für gebildete Stände (ConversationsLexikon), Bd. 6, Leipzig 81835, S. 153-154. 28 | AmZ 29.4.1818, Sp. 314: »Frankfurt am Mayn. […] Jetzt ist Messe, und bey dieser Gelegenheit verirrt sich denn so manches, erkannt und verkannte (von Kunst und Natur nämlich) Talent hieher. Die Hrn. Kaufmann, Vater und Sohn, bekanntlich höchst ausgezeichnete Akustiker und Mechaniker, geben Abendunterhaltungen, in denen jeder Kunstfreund dem

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Zufall oder Berechnung gewesen sein, die Kaufmanns präsentierten sich und ihre Instrumente hier im wissenschaftlich-akustischen Kontext ebenso wie in dem der Musik. Die praktisch-anschauliche Weise ihrer Unterhaltungen scheinen die folgenden Jahrzehnte hindurch genau aus diesem Grund vielfach Begeisterung ausgelöst zu haben. Neben den zahlreichen Zeitschriften- und Lexikonartikeln liegt uns ein Brief vor, der Auskunft gibt über Details der ersten Europareise. Am Neujahrstag 1818 schreibt Johann Gottfried Kaufmann an seine in Dresden gebliebene Tochter. Der Reisebericht legt einen Schwerpunkt auf die finanzielle Seite, Einnahmen der Konzerte werden besprochen, Zollgebühren für die Automaten beklagt und über Erfolg oder Misserfolg der Konzerte berichtet. Die Räumlichkeiten werden gelobt, in München beispielsweise der königliche Redoutensaal, den sie aufgrund eines Empfehlungsschreibens nutzen konnten. Auch wenn dieses Konzert ein öffentliches war, so gelang es doch, die königliche Familie einzuladen, die mit ihrer Anwesenheit die Veranstaltung auszuzeichnen vermochte – oder schlichter, die über 100 Eintrittskarten abnahm.29 Das Konzert war ein großer Erfolg; dass dies nicht jedes Mal so war, macht folgender Briefausschnitt deutlich: Der Anfang des Con. war Abens um 6 Uhr, und um 3 Uhr mussten wir schon die Galleri öfnen lassen, um 4 Uhr konnde kein Mensch einen platz mehr auf der Galleri bekomen. Der Saal wurde eben so voll, und es erschienen in Höchsteigner Person Ihro May: die Königin mit 2 Prinzesin Prinz Carl, Prinz Eugen mit Gemahlin und die alte Kurfürstin. Ich muß gestehen, das wir noch nie so ein splentites Con(zert) gehabt, und wohl auch nicht wieder haben werden, obgleich Operisten, Schauspieler u. Musiker davon über 300 freien eintrith hatten, so hatten wir doch noch über 300 gulden r e i n e einnahme, folglich sind mehr als 1300 Menschen da gewesen und ist von allen, selbst von den Höchsten Herschaften mit grossen Beifall aufgenommen worden. 30

Vieles erinnert hierbei an die Reisen musizierender Virtuosen und Wunderkinder seit dem 18. Jahrhundert. Der Quellenkorpus, der von solchen Reisen zeugt, besteht in der Regel aus Briefen, Zeitschriftenankündigungen und Konzertkritiken. Diese Quellen geben Aufschluss über die Umstände und die Biografie der Reisenden; unabhängig davon, ob es sich dabei um reisende Musiker, Wissenschaftler oder Rechenkünstler handelt. Oft dienten die Reisen Studienzwecken, der Vermehrung von Erfahrungen sowie der Steigerung der Bekanntheit. Die Quellenlage sinnreichen Trompeter-Automat, dem lieblichen Harmonichord, dem volltönigen Belloneon und zart construirten Chordaulodeon seine Bewunderung zollt. Hr. Professor Chladni liest über Akustik und Meterologie. Ein Hr. Payer […] soll gar gewaltig auf dem Pianoforte herumgewühlt haben.« 29 | Brief Johann Gottfried Kaufmanns an seine Tochter vom 1.1.1818 aus München, zit.n. Engelmann: »Aus der Geschichte einer Uhrmacherfamilie«, S. 842-843. 30 | Ebd.

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aber eines der wohl berühmtesten reisenden Wunderkinder, Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791), zeigt gerade die Notwendigkeit des finanziellen Auskommens. Die »Demonstration des göttlichen Wunders und deren ökonomischen Ertrag«31 verfolgt Vater Leopold Mozart (1719-1787) mit den Reisen. Die Ankunft in den noch zu bereisenden Orten wird bereits im Vorfeld bekannt gemacht. Bei Mozart erfolgte dies durch mündliche Übermittlung an die Förderer sowie durch Bekanntschaften, also durch begeisterte Zuhörer seiner Konzerte. Wie bei Reisenden mit Automaten und Musikinstrumenten spielte auch hier die persönliche Empfehlung eine große Rolle ebenso wie die Präsentationen in den jeweiligen Herrscherhäusern, worüber Leopold Mozart seinem heimischen Verleger berichtet und woraus die Wichtigkeit des finanziellen Gewinns hervorgeht. Die Reisen waren im Vorfeld nicht exakt planbar, sie ergaben sich vielmehr aus den Gelegenheiten und Empfehlungsschreiben sowie daraus, wie interessiert ein Publikum jeweils vor Ort war. Auch Kaufmanns blieben je nach Gelegenheit länger an einem Ort, was von den Möglichkeiten der Raumnutzung abhing, aber auch von der Publikumsgröße. Von besonderer Bedeutung für die Instrumente der Familie Kaufmann war die Reise 1851 nach London. Sie wurde zuvor eingehend in Dresden angekündigt, nicht zuletzt, da das neu erfundene Orchestrion, das größte und teuerste Instrument aus der Kaufmann’schen Produktion, dort gezeigt werden sollte. Die Fertigstellung des neuen Instruments und die Aussicht auf Konzerte in London wurden genutzt, um zuerst in der Heimatstadt Konzerte zu geben und diese im Dresdner Anzeige- und Tageblatt zu bewerben. Der Ruf der Metropole scheint zunächst ins Heimische geholt zu werden. Aus der Nachbarstadt Leipzig wird im Anschluss berichtet: Leipzig. Die Herren Acustiker Kaufmann Vater und Sohn aus Dresden sind mit ihren berühmten Instrumenten: Orchestrion, Symphonion, Chordaulodion, dem Trompet-Automat und dem Harmonichord hier anwesend und lassen dieselben im Saale der europäischen Börsenhalle hören; von hier werden dieselben sich nach London begeben, um dort ihre Instrumente gleichfalls auszustellen, aber nicht im Krystallpalast. 32

Es mag ein geschickter Zug gewesen sein, gerade zur Zeit der ersten Weltausstellung in eben derselben Stadt aufzutreten, da sich alle Aufmerksamkeit dorthin richtete. Bei den Ausstellungen der Great Exhibition im Jahr 1851 wurden Technologien und Instrumente präsentiert, die der Arbeit der Kaufmanns sehr ähnlich waren, so dass sie dasselbe Publikum ansprachen und von dem immensen Besucheransturm profitieren konnten. Knapp 17.000 Aussteller zeigten schließlich im Kristallpalast

31 | Konrad Küster: »›Ich … kann alle 2 jahre eine Reise machen – was will ich mehr?‹ Mozarts Reisen im musikhistorischen Kontext«, in: Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 211-226, hier S. 217. 32 | Signale für die musikalische Welt 9 (1851), Nr. 19, S. 188.

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ihre Werke.33 Und auch Musikinstrumente wurden gezeigt. Neben der großen Anzahl von beinahe 200 ausgestellten Tasteninstrumenten verdeutlichen die rund 1600 anderen Instrumente, dass ein großes Interesse an mechanisch-technischen Neuheiten bestand. Zur zweiten großen Gruppe gehörten Informationsträger, die den Aufführungsprozess aufzeichneten, Stimminstrumente und Metronome, selbstspielende Instrumente und Spieluhren. Bezeichnend für ihre Zuordnung zu einem physikalisch-akustischen Bereich, als Hilfsmittel zur Normierung von Tonhöhe und durchgängigem Takthalten oder zum Aufzeichnen und Wiederholen einer bestimmten performativen Aufführung, ist auch ihre Zuordnung zur Klasse der »Philosophical Instruments and Process, depending on their use. Musical, Horological, Surgical Instruments«.34 Auch die Tendenz zu immer größeren Formen, die klanglich und visuell raumfüllend ganze Orchester nachbilden sollten, findet sich bei Kaufmann. Die Kaufmann’schen Veranstaltungen fanden zum Teil

Abb. 28: Konzert im Buckingham Palace vor der königlichen Familie.

33 | Vgl. bspw. Heinrich Kreisel/Georg Himmelheber: Die Kunst des deutschen Möbels. Möbel und Vertäfelungen des deutschen Sprachraums von den Anfängen bis zum Jugendstil, Bd. 3, München 1983, S. 163-164; Tobin Andrews Sparling: The Great Exhibition. A Question of Taste, New Haven 1982. 34 | Michael Musgrave: »The Musical Legacy of the Great Exhibition«, in: Franz Bosbach/ John R. Davis (Hg.): Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen. The Great Exhibition and its Legacy (Prinz-Albert-Studien 20), München 2002, S. 45-65, hier S. 46.

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öffentlich, zum Teil privat in der St. Martin’s Hall und vor Königin Victoria (18191901), Prinz Albert (1819-1861), Mitgliedern der königlichen Familie sowie dem belgischen König im Buckingham Palace statt und gaben Anlass zu ausführlichen Beschreibungen in den Londoner Zeitungen.35 Die Illustrated London News druckten gar einen Stich des Konzerts vor der königlichen Familie ab: Deutlich werden aus den zahlreichen Berichten die Schnittstellen zwischen kleinem Kabinett oder Salon im Hause Kaufmann mit schrankförmigen Automaten, Harfen- und Flötenuhren, die Bürgerlichkeit ausstrahlen und doch als technische Weiterentwicklung im Instrumentenbau wahrgenommen wurden, zwischen technischer Beschreibung wie bei Weber und romantischer Literatur Hoffmanns sowie zwischen der Ausstellung vor Königin Victoria im Buckingham Palace, aber vor der Kulisse und dem Medienrummel der Weltausstellung. Den Klang der Instrumente, die äußere Erscheinung sowie die technische Exaktheit lobt auch ein Kritiker aus London: »There can be no mistake – all the instruments depicted in our Illustration actually emit sound, and are by no means decorative. How the maker has so ingeniously contrived that the cylinders move with such mathematical exactitude […].«36

K ABINE T T Schon lange bevor das Akustische Kabinett offiziell und unter diesem Namen in Dresden eröffnet wurde, waren die Vorführungen in Kaufmanns Haus zu einer Sehenswürdigkeit der Stadt geworden, die zum Bestandteil des Besuchsprogramms für Bildungsreisende wurden. So schreibt 1822 der Kammerherr Carl v. Voß in seinem Reisebericht: Wir eilten bald weiter zum Mechanikus Kaufmann, der mit einem selbst erfundenen Instrumente, ›Harmonichord‹ genannt, und einem Automaten, der die Trompete äußerst richtig bläst, durch ganz Europa gereist ist. Wir bewunderten seine Kunst und erfreuten uns an dem eigenthümlichen Ton des ›Harmonichord‹, der wie aus weiter Ferne sanft heran zu schweben scheint und zugleich große Kraft besitzt. 37

35 | Vgl. The musical world 28.6.1851, S. 411-416; The Illustrated London News 5.7.1851, S. 7-8. 36 | Ebd. 37 | Rüdiger v. Voß (Hg.): Eine Reise nach Dresden 1822. Aufzeichnungen des Kammerherrn Carl v. Voß, Pfullingen 1986, S. 37. Voß machte »als Gouverneur des damals siebzehnjährigen Erbprinzen und späteren Herzogs Alexander Carl von Anhalt-Brandenburg« 1822 eine Reise nach Dresden. Vgl. ebd., S. 7.

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Wie gut sich Kaufmanns »Atelier und akustisches Cabinet«,38 wie es Friedrich Theodor einmal selbst nennt und damit vermutlich auf seinen Wert als Kunstausstellung Bezug nimmt, als Berühmtheit in Dresden etabliert hatte, verdeutlicht ein Artikel von 1857: Ein Besuch bei Kaufmann & Sohn in Dresden. Die in dem Atelier bei Kaufmann ausgestellten künstlichen selbstspielenden Musikwerke sind weit und breit, und zwar mit vollem recht so accreditiert, daß zu ihrem weiteren Ruhme wohl nichts hinzuzufügen übrig bleibt […] 39

Die Bezeichnung ›Kabinett‹ ist nun keineswegs eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Etymologisch ist das Kabinett entlehnt vom altfranzösischen ›cabane‹, was auf das Diminutivum zum französischen ›cabine‹ zurückzuführen ist, auf denselben Ursprung wie auch die Kabine des 17. Jahrhunderts. Es bezeichnet das Arbeitszimmer eines Herrschers und betont dessen privaten Charakter, die kleinen Ausmaße im Vergleich zum repräsentativen Saal.40 Mitte des 18. Jahrhunderts setzte ein Streben nach Spezialisierung, Klassifizierung und Systematisierung von Sammlungsgegenständen ein, die zuvor noch in der Vielfalt von fürstlichen Wunderkammern ein assoziatives Nebeneinander darstellten. So werden sogar beispielsweise die Ordnungskategorien für Naturalienkabinette verschriftlicht, um weite Verbreitung zu finden.41 Im Folgenden entstehen Raritätenkabinette unterschiedlicher Ausrichtung, in deren Tradition sich schließlich auch Kaufmanns Kabinett einzureihen wusste. Das Akustische Kabinett gilt in der Stadt Dresden jahrzehntelang als eine der zentralen Sehenswürdigkeiten. Jeweils ein kleiner Kreis von Besuchern wurde mit persönlicher Führung bedacht. Erläuterung und Vorführung der Instrumente gehen ineinander über. Doch gegen Ende des Jahrhunderts zwangen das zurückgehende Besucherinteresse und die damit einhergehenden finanziellen Einbußen zu einer Reaktion. Die Zeitschrift für Instrumentenbau berichtet 1899: 38 | Friedrich Theodor Kaufmann: »Erklärung«, in: Neue Zeitschrift für Musik 46 (1857), Nr. 13, S. 138-139, hier S. 138. 39 | Heinrich Gottwald: »Ein Besuch bei Kaufmann & Sohn in Dresden«, in: Neue Zeitschrift für Musik 46 (1857), Nr. 5, S. 47-48, hier S. 47. 40 | Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, 24. durchges. u. erw. Aufl., Berlin/New York 2002, S. 457-458. 41 | Vgl. Carl von Linné: Systema Naturae sive Regna tria Naturae systematice proposita per Classes, Ordines, Genera et Species./Natur-Systema, oder Die in ordentlichem Zusammenhange vorgetragene Drey Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten, übers. v. J.J. Langen, Halle 1740, Vorrede, S. a3. Siehe zum Thema Wunderkammer u.a. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 41), Berlin 1993.

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R EBECCA W OLF Das akustische Kabinet von Kaufmann & Sohn in Dresden, das einstmals, wo die Herstellung mechanischer Musikwerke noch nicht den Umfang und die Bedeutung erlangt hatte wie heute, als eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges galt und berechtigtes Aufsehen erregte, war nahe daran, in alle vier Winde zerstreut zu werden. 42

Die Annahme aber, die die Zeitschrift für Instrumentenbau an anderer Stelle formuliert, Dresden sei einfach zu klein und hätte im Gegensatz zur Weltstadt Berlin zu wenig Anreiz für den Tourismus geboten, scheint etwas zu einseitig. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Dresden auch international zu einer wichtigen Ausstellungsstadt. Bereits 1896, als noch Teile des Akustischen Kabinetts vor Ort waren, wurde hier »in städtebaulich herausragender Lage« ein Ausstellungsgebäude errichtet.43 So wurde nach und nach über verschiedene Hygieneausstellungen 1927 mit dem Bau des Deutschen Hygiene-Museums begonnen, das 1930 mit der populärwissenschaftlichen Ausstellung »Der gläserne Mensch« eröffnet und zu einem Publikumsmagneten wurde. Es wird also nicht am Ort allein gelegen haben, dass das Interesse am Automaten-Kabinett nachließ. Die Vermutung mag eher dahin gehen, dass eine intime Aufstellung von Instrumenten, deren technischer Stand in den 1890er Jahren zumeist Dekaden zurücklag, nur noch einen kleinen Publikumskreis ansprach. Ganze Ausstellungshallen dagegen wie auf großen Messen boten doch mehr Anreiz durch Vielfalt. Die Hoffnung für das Akustische Kabinett lag also im Tourismus der Metropole Berlin. 1889 waren erste Teile des Kabinetts nach Berlin gebracht worden und fanden ihren Ausstellungsort im berühmten Passage-Panoptikum an der Ecke Friedrichstraße / Behrenstraße. Hierüber berichtete dieselbe Zeitschrift: Die bekannte Firma F. Kaufmann & Sohn in Dresden wird demnächst mitsammt dem ›Akustischen Cabinet‹ nach Berlin übersiedeln. Dresden verliert dadurch nicht nur eine seiner ersten und ältesten Firmen, sondern in dem ›Akustischen Cabinet‹ auch eine Kunstsammlung, wie sie in dieser Eigenartigkeit bis jetzt keine andere Stadt aufzuweisen hatte. – Nach den Erfahrungen, die in Leipzig mit dem Museum alterthümlicher Musikinstrumente gemacht worden sind, wird der jetzige Inhaber der Firma Kaufmann & Sohn auch zu der Einsicht gekommen sein, dass Dresden auf die Dauer doch zu klein ist und keinen genügenden Fremdenverkehr besitzt, um ein derartiges Unternehmen einigermaassen rentabel, geschweige gewinnbringend zu gestalten. Es ist doch immerhin ein geringer Procentsatz von Leuten, die sich für dergl. interessiren, und zwar sind es fast durchgängig Fremde, unter denen Engländer und Amerikaner das bei weitem grösste Contingent stellen. Die Millionenstadt Berlin mit ihrem ungeheuren Fremdenverkehr ist der einzige Boden für derartige

42 | Zeitschrift für Instrumentenbau 11.5.1899, S. 687. 43 | Siehe hierzu Alexander C.T. Geppert: »Welttheater. Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht«, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 10-61, hier S. 30-31.

E IN K ABINETT IM P ANOPTIKUM Sehenswürdigkeiten, hier kann der Veranstalter solcher Sammlungen mit Bestimmtheit darauf rechnen, seinen vielen Mühen und Kosten entsprechende Einnahmen zu erzielen.44

Das Kaufmann’sche Kabinett befand sich im Passage-Panoptikum neben Geschäften, Gastronomie und Büros in einer großen, glasüberdachten Promenade, die auch unter dem Namen Kaisergalerie bekannt war. Das Umfeld war im Vergleich zu Dresden demnach ein gänzlich anderes: zentral, großstädtisch und vor allem stark auf Kommerz und Unterhaltung ausgelegt. Ob und wie sich dies allerdings auf den finanziellen Ertrag des Kabinetts auswirkte, ist bislang unbekannt. Die nobel ausgestattete Passage beeindruckte mit vielseitigem Warenangebot als Touristenattraktion ein flanierendes Publikum. Dass solche Veranstaltungszentren zumeist dem Vergnügen dienten, belegt die Beschreibung eines benachbarten Panoptikums durch einen Zeitgenossen, Paul Lindenberg: An keinem anderen Orte in Berlin treffen wir eine so interessante Mischung von provinziellen und großstädtischen Figuren wie hier. Der Berliner selbst besucht gern für ein Viertelstündchen die glänzenden Säle; er weiß, daß es fast immer etwas Neues hier zu sehen gibt, er kann hier flanieren, bald einen Blick auf die ausgestellten Gegenstände werfend, bald durch die mächtigen Fenster auf das tief unter denselben wogende Gewühl der Passage blickend oder die Besucher musternd. Den überwiegenden Theil der letzteren bilden die Fremden, namentlich die Landbevölkerung. Diese Besucher gehören jedenfalls zu den aufmerksamsten des Panopticums und ihre Verwunderung über die hier angehäuften Kunstwerke zeigt sich theils in lauten Ausrufen, theils in stillem, fast andächtigem Staunen. 45

Ausgehend von der Ausstellung des Akustischen Kabinetts im Berliner Panoptikum soll im Folgenden danach gefragt werden, inwieweit sich die Wahrnehmung der Instrumente im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor verändert hat. Welche Funktion haben dabei das Umfeld der Großstadt und die technische Weiterentwicklung von Produktionsmaschinen? Zudem ist zu fragen, wie sich der Wettbewerb mit moderneren und praktikableren Musikspeichermedien auf das Interesse an den Automaten auswirkte. Schon dem Namen nach kündet das Panoptikum von einer Gesamtschau, und so versammelt diese Einrichtung eine Vielfalt an Attraktionen der Zeit: Zu sehen sind Wachsfiguren- und Kuriositätenkabinette, Automaten, Maschinen zwischen Wissenschaft und Sensation wie Röntgenapparate, zudem wurden Konzerte veranstaltet sowie Filmvorführungen oder Zaubershows. Die Ausstellungen von Dioramen, Themen- und Museumszimmern befanden sich neben Restaurants sowie Zurschaustellungen so genannter exotischer Völker.

44 | Zeitschrift für Instrumentenbau 21.8.1887, S. 422. 45 | Paul Lindenberg: »Ein Stündchen Panoptikum«, zit.n. Johann Friedrich Geist: Die Kaisergalerie. Biographie der Berliner Passage, München/New York 1997, S. 121-122.

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In diesem Kontext scheint die Unterhaltung vornehmlich für das Auge gemacht zu sein; der Schaufensterbummel – und nicht zuletzt auch das ›gesehen werden‹ – wurden zur Freizeitbeschäftigung. Auch auf der Abbildung des Kaufmann’schen Kabinetts in Berlin 1901 scheinen die Automaten mehr betrachtet als gehört zu werden (Abb. 27). Im Gegensatz dazu stand in den Jahrzehnten zuvor nicht nur im Namen des Akustischen Kabinetts die Musik im Vordergrund. Die Besucher scheinen die Automaten in Berlin im Vorbeigehen zu betrachten. In Dresden dagegen wurden sie ihnen von den Erbauern selbst vorgespielt und erklärt. Die ursprünglich sicherlich reizvolle Verbindung zu den Konstrukteuren, die als Akustiker oder Philosophen der Mechanik einen hervorragenden Ruf hatten, fehlt hier. Friedrich Kaufmann spielte zu den Automatenkonzerten das Harmonichord und verband so die einzelnen Instrumente. Der Mechaniker, der seine eigene Konstruktion in Gang setzte, faszinierte die Zuschauer; in manchen Fällen so weit, dass er als Konzertmeister betitelt wurde. Anschließend gab es Gelegenheit, die Instrumente näher zu sehen und sich ihre Mechanik erklären zu lassen, so dass Unterhaltung und Bildung hier aufs Engste verknüpft waren. Die Ausstellung in einer Passage dagegen deutet bereits in der Grundbedeutung des Wortes auf einen Durchgang und Weg hin. Die Besucher sind es, die sich als Passanten, Vorbeigehende oder Durchreisende bewegen. Der Zeitvertreib (›passer le temps‹) oder die Übertragung in die Innerlichkeit der Passanten, wie sie sich auch im ›Revue passieren lassen‹ ausdrückt, gehen wiederum auf die vielfältige Wortbedeutung zurück. Zwei Aspekte lassen sich von hier aus weiterdenken und mit Walter Benjamins (1892-1940) Passagen-Werk verbinden: die Drehung von innen und außen sowie die Fokussierung auf den Passanten, den Flaneur. Der träumende Müßiggänger flaniert um des Flanierens willen: »Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehen gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden […].«46 Die Umgebung wird zur »Staffage« und die Passage schließlich zum Traum.47 Der Gang durch die Passage bewirkt einen Wandel des Individuums. Interessant ist der Geschichtsbezug, der sich durch Benjamins Flaneur ergibt: »Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab […] in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist.«48 Dem 19. Jahrhundert spricht er eine Rückwärtsgewandtheit zu, die sich im von der Vergangenheit durchdrängten Museum zeige. Ein historisierendes Äußeres tritt nun bei den Automaten deutlich hervor, die schrankförmigen unter ihnen mögen an großbürgerliches Mobiliar der Mitte des 19. Jahrhunderts erinnern, die Kleidung des Trompeterautomaten ist eine stark historisierende. 46 | Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 525. 47 | »Passagen sind Häuser oder Gänge, welche keine Außenseite haben – wie der Traum.« Ebd., S. 513. 48 | Ebd., S. 524.

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Die Auswertung der historischen Quellen zu Kaufmanns Trompeter ergibt, dass er durch das 19. Jahrhundert hindurch sein Publikum auf zwei Arten anspricht. Neben seiner äußeren, menschenähnlichen Form, der Aufmachung als uniformierte Puppe, stehen mindestens genauso die technisch-akustischen Möglichkeiten im Zentrum des Interesses der Öffentlichkeit. Ebenso wie der Trompeter verbergen auch die anderen Automaten Kaufmanns die Mechanik hinter einer Art ›historisierender Maske‹, nämlich hinter einer Holzmöbelfassade. Sie eignen sich zum repräsentativen Schauobjekt ebenso wie zur akustisch-musikalischen Unterhaltung. Während also bereits der Besuch des Akustischen Kabinetts in Dresden zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Besucher in eine eigene Welt, teils angelehnt an Hoffmanns Erzählungen, zu versetzen vermochte, verstärkte dies das Kabinett in der Berliner Passage noch. Der Kauf eines schrankförmigen Instruments suggeriert die Mitnahme eines Stücks privater, bürgerlicher, deutlich gehobener Wohnkultur. Doch das Innere war jahrzehntelang technisch wegweisend gewesen. Insgesamt aber sind die Automaten in der Berliner Ausstellung Instrumente aus einer fast schon vergangenen Zeit, das Kabinett wird vielmehr zum Museum. Noch einmal mit Benjamin gesprochen: »Der Wandel, den wir durch Passagen machen, auch der ist im Grunde so ein Gespensterweg, auf dem die Türen nachgeben und die Wände weichen.«49 Dabei wird dem Flaneur die ganze Stadt zur Landschaft, innen wird außen, denn »ihm tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube«.50 Die Zimmer der Stadt sind die Stadt selber und so wäre zu fragen, welche anderen Vorstellungen von Unterhaltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert, aber auch wie die Geräuschhaftigkeit der Umgebung zu dieser Zeit wahrgenommen wurden. Claude Debussy (1862-1918) beschreibt 1901 und 1903 in zwei Essays zur »Musik im Freien« eine Utopie neuer Feste, die die Natur aufs Engste miteinbeziehen. Er strebt eine Befreiung der Musik an und geht zunächst vom »musikalische[n] Schmuck der Plätze und Anlagen«51 aus. Neben der Forderung nach einer Naturszenerie beschwört er die Einheit durch Musik; ein ganzheitlicher Anspruch dringt hier durch, der sich vom Massengeschmack abhebt. Und obwohl sich Debussy gegen eine »musikalische Importware […], in der sich Jahrmarkt und Spektakel vermischen«,52 wendet, erinnert der Wortlaut seiner alle Sinne ansprechenden Forderung nach neuen Kompositionen erstaunlich stark an die Beschreibung der Soundkulisse eines Vergnügungsparks, wie sie Arnold Bennett (1867-1931) in Die tausend Freuden der Stadt formuliert. Zuerst Debussy: »Das Wehen der Lüfte, das Säuseln der Blätter, der Blumen Duft würden geheimnisvoll mit der Musik zusammenwirken; und sie, die Musik, 49 | Ebd., S. 516. 50 | Ebd., S. 525. 51 | Claude Debussy: Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hg. von François Lesure, Stuttgart 1991, S. 48. 52 | Ebd., S. 79.

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könnte all diese Elemente so natürlich zur Einheit binden, daß es schiene, als hätte sie an jedem von ihnen teil […]«.53 Die freie Natur wird nun der neue Konzertsaal. In Bennetts Roman ist es dagegen im Kapitel zum Orchester die Klangwelt des Vergnügungsparks, die beschrieben wird: »Das Murmeln der Unterhaltung, das Rauschen der Gewänder, das Klingen von Gläsern, das Geräusch von unzähligen Schritten stieg in die Luft.«54 Für die musikalische Unterhaltung sind verschiedene Sektionen im Vergnügungspark zuständig, so gibt es hier »Orchester unter freiem Himmel« oder auch »Pianolas, Grammophone und Musikautomaten bis zur Abteilung für Umzüge und Feste«.55 Auch wenn Debussy klar eine niveauvolle Kunstmusik fordert, so macht er doch ganz ähnlich wie Bennett auf ein akustisches Umfeld aufmerksam. Diese Sensibilität für die den Menschen umfassende Klanglichkeit ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung. Im Vergnügungspark Bennetts spielt das große Orchester zur Eröffnung God save the King und einen Marsch – Musik, die auch zum Repertoire des Akustischen Kabinetts gehörte. Eine weitere Ähnlichkeit liegt in der Uniformierung der Musiker, die im Roman zudem noch mit Soldaten verglichen werden.56 So gesehen wären die Automaten Kaufmanns, allen voran der uniformierte Trompeterandroid, nicht nur Relikte aus vergangenen Zeiten. Vielmehr scheint hier eine andere Kluft sichtbar zu werden: die zwischen Unterhaltungsmusik und Kunstmusik. Ein Verfechter Letzterer ist Debussy, der Musikreproduktionsgeräte wie das Grammophon eher als einen Notbehelf versteht und die Musik der Militärkapellen für sein Ziel der »Musik im Freien« ablehnt. Diese Kluft war nicht immer so tief gewesen. Die Automaten Kaufmanns spielten jahrzehntelang neben Potpourris aus Nationalmelodien oder Märschen vor allem Ausschnitte aus Symphonien, Opern oder aus Klassikern wie Händels Messias. Der Kontext war der Konzertsaal, in dem sie als musikalischmechanische Kunstwerke vorgeführt wurden. Falls sie überhaupt spielten in Berlin, ging ihre Musik vermutlich ins Brausen der Passagengeräusche ein. Ein Umbruch um 1900 zeigt sich in der Wahrnehmung der Kaufmann’schen Instrumente und ihrer Ausstellungsform. Es scheint den Instrumenten ein Hauch Historie anzuhaften, und sie werden zu Artefakten aus einer vergangenen Zeit. Andere Instrumente eroberten nun die Wohnzimmer: Selbstspielklaviere. Abgelöst werden die Musikautomaten mit Stiftwalzen, wie es die Automaten Kaufmanns sind, gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Instrumenten mit neu verwendeten Programmträgern, den Lochstreifenrollen. Neben anderen Vorteilen sind diese günstiger, praktikabler, weil deutlich platzsparender aufzubewahren, zudem eigneten sie sich für die Produktion in großen Stückzahlen. Ursprünglich entstammen sie nicht dem musikalischen Kontext, sondern sie fanden zunächst in Webstühlen Verwendung. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es Versuche, die 53 | Ebd., S. 49. 54 | Arnold Bennett: Die tausend Freuden der Stadt, Berlin 1925, S. 31. 55 | Ebd., S. 132. 56 | Ebd., S. 35.

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Steuerungssysteme von Webstühlen über Perforierungen und Nadeln laufen zu lassen, bis Joseph-Marie Jacquard (1752-1834) um 1805 diese Entwicklung perfektionierte und komplexe Muster im Endlosprinzip der Lochkarten möglich machte. Bis dieser Informationsträger gegen Ende des 19. Jahrhunderts für selbstspielende Musikinstrumente zum Einsatz kam, verwendete ihn auch der Vordenker der Rechenmaschinen Charles Babbage (1791-1871). 1834 arbeitete er an der Konstruktion einer analytischen Maschine mit Lochstreifen, die die vier Grundrechenarten beherrschen sollte, und weist den Weg solcher Steuerungssysteme in eine neue Richtung. Auf dem Papier entstand Babbages Vorstellung einer neuen Sprache oder Notationsweise, mit deren Hilfe der Aufbau von Maschinen sowie interne Abläufe dargestellt werden sollten. Doch dies führt nicht weg von Musikautomaten, sondern neu auf sie zu. Babbages Interesse mag zwar vornehmlich industriellen, ›nützlichen‹ Maschinen gegolten haben, seine nie fertiggestellten Exemplare sollten Verwaltungstätigkeiten übernehmen, Bürokratie effizienter ablaufen lassen und Modellcharakter erlangen. Seine Herangehensweise lässt sich aber für vielfältige Maschinen anwenden. So ist ihr eine starke Tendenz zur Aufteilung in kleinste Einzelschritte eigen. Babbage untersucht Operationsschritte eines Verwaltungsvorganges ebenso wie den eines Maschinenablaufs in Manufakturen. Verschiedene Antriebsarten, Kontrolle der Geschwindigkeit, Kopiervorgänge, Zeitersparnis und Material werden vor dem Hintergrund der Nützlichkeit und ökonomischen Effizienz in verschiedene Paragrafen unterteilt, und zeigen den Weg zur Arbeitsteilung, die wiederum über die Aufspaltung der verschiedenen Abteilungen einer Fabrik oder Handgriffe des Arbeitenden führt. Bei den Antriebsmöglichkeiten nimmt Babbage deutlich Bezug auf Uhren, Automaten oder bewegtes Spielzeug.57 Die Vielfalt der sich herausbildenden Notationsformen verdeutlicht das Streben nach Ordnungssystemen, Unterteilungen und Kategorisierungen nach bestimmten Aspekten. Seien es industrielle Produktionsvorgänge oder Erzeugung sowie Wiederholung von Musik. Menschliche Fehlerhaftigkeit soll vermieden werden. Mit Babbage und der Firma Kaufmann laufen zwei Linien teils nebeneinander her, die sich mit dem Thema der Reproduktion beschäftigten, die aber letztlich einen langsamen Übergang verdeutlichen: Kaufmanns Instrumente werden schließlich von solchen abgelöst, die das Prinzip aus Arbeitsmaschinen übernehmen. Hohe Stückzahlen und Effizienz, aber auch neue ästhetische Möglichkeiten sind gefragt. Die andere Erfindung, die die Kaufmann’schen Automaten schließlich an Aktualität in den Schatten stellte, war das Grammophon. Grammophone brachten Musik in die Haushalte, und die wundersame räumliche Übertragung von Klang, wie sie das Telefon für Konzerte anbot, wurde zu einem wichtigen Ereignis, das die Begeisterung für selbstspielende Musikinstrumente mehr und mehr ablöste.

57 | Charles Babbage: Die Ökonomie der Maschine, erw. u. redig. Fassung auf Grundlage der Übers. von G. Friedenberg aus dem Jahr 1833, Berlin 1999; ders.: Passagen aus einem Philosophenleben, übers. von Holger Sweers, Berlin 1997.

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Der Beethovenforscher Theodor von Frimmel (1853-1928) verdeutlicht zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf ein anderes Kabinett mit Trompeterautomaten nochmals den Wandel: Was die Automaten und mechanischen Musikinstrumente betrifft, so hat […] die Empfänglichkeit dafür sicher an Verbreitung eingebüßt, wenigstens in den eigentlichen Kunstkreisen. Wir haben heute brauchbare, vielbegehrte automatische Büfette, Automaten für Kartenverkauf und anderes. Unser Entzücken ist die automatische Herstellung der Schraube, verwickelter Gewebe, auch solcher aus Draht, die Musik der Grammophonplatten, die Herstellung großer illustrierter Zeitungen in einer einzigen Maschine und ähnliche Wunder der Technik, aber eine angezogene Trompeterpuppe, die das Instrument an den Mund führt und dann bläst und derlei Androiden verschiedener Art dünken uns läppisch. […] Die Nachahmung bewegter Natur durch mechanische Mittel ist heute im ›Kino‹ zu solcher Höhe gebracht worden, daß wir über alte Automaten mit einer gewissen Kühlheit nachlesen. 58

An Einrichtungen wie dem Passage-Panoptikum wird deutlich, wie sehr sich um 1900 der Blick der Besucher wandelt. Eine Sehenswürdigkeit scheint nach und nach nicht mehr um ihrer selbst willen besucht zu werden, sondern geht in die Masse des Angebots ein, wird ein Teilchen im großen Ganzen der (Produkt-)Vielfalt. Die Besucher werden zu Konsumenten, ihr Betrachten huscht vorbei und der Konsumentenblick ist das sich bewegende Element: »Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt, ist der vom Strom der Kunden umbrausten Ware.«59 Wie sehr sich dies noch in den folgenden Jahren verstärkt, lässt sich an Filippo Marinettis (1876-1944) Manifest Das Varieté von 1913 zeigen. Bereits zu Beginn seines Textes nennt er das Schaufenster: »Das Varieté ist ein lohnendes Schaufenster für unzählige Erfindungen und bringt ganz natürlich das zustande, was ich die futuristischen Wunder nenne, die ein Produkt der modernen Technik sind.«60 Im Anschluss an Forderungen nach Rhythmus, Geschwindigkeit, Moderne, nach Ironie, Sarkasmus, Lachen oder starken Kontrasten kulminiert sein Text in einer Art Bewusstseinsstrom des Konsumenten: Feuer + Feuer + Licht gegen den Mondschein und die alten Firmamente, jeden Abend Krieg große Städte schwingen Leuchtreklamen Riesengesicht eines Negers […] Öffnen Schließen Öffnen Schließen Goldauge (Höhe 3 m) RAUCHT MANOLI RAUCHT MANOLI ZIGARETTEN […] Leuchtreklamen verhüllen sich, sterben unter einer schwarzen, festen Hand, erscheinen wieder […] Leuchtreklamen = Formation und Zerfall von Mineralen und Pflanzen Mittelpunkt 58 | Theodor von Frimmel: »Mälzels Kunstkabinett«, in: Wiener Zeitung 26.7.1914, S. 10-12, hier S. 12. 59 | Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1,2, Frankfurt a.M. 1980, S. 558. 60 | Filippo Tommaso Marinetti: Das Varieté [1913], zit.n. Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 86.

E IN K ABINETT IM P ANOPTIKUM der Erde […] Strahlendes Erwachen der Straßen, die während des Tages das dampfende Gewühl der Arbeit kanalisieren […] es kreuzen sich trrr trrrr hochgeliftet über dem Kopf trombeebeeebeettee pfeiiiiifen Sirenen von Krankenwagen + elektrischen Pumpen die Straßen verwandeln sich in herrliche Korridore, führen, schieben mit logischer Notwendigkeit die Menge zu Angst + Heiterkeit + Lärm des Varietés. 61

Der Schaufensterbummel wird zum ›stream of consciousness‹. Und die Musikautomaten, die noch wenige Jahre zuvor im Kontext der Warenwelt zum Verkauf standen, sind mittlerweile dem konsumierenden Blick der Museumsbesucher ausgesetzt, denn ab 1905 befindet sich ein Teil des Kabinetts im Deutschen Museum in München. Die Besucher schlendern durch Ausstellungshallen inmitten historischer Artefakte, die einstmals technische Höchstleistungen darstellten und nun unverkäufliche Einzelexponate geworden sind. Die »Beziehungen zwischen Warenhaus und Museum« nennt auch Benjamin: »Die Massierung der Kunstwerke im Museum nähert sie den Waren an, die, wo sie sich dem Passanten in Massen darbieten, die Vorstellung in ihm wecken, auch auf ihn müsse ein Anteil daran entfallen.«62 Masse, Freizeitvergnügen und Elemente aus dem Arbeitsleben scheinen hier auf besondere Art zusammenzufallen. Wo sonst Arbeit und Freizeitbeschäftigung streng getrennt sind, wird dem Besucher mit den Automaten eine Technik präsentiert, die auf die Anfänge der Erforschung von Speicher und Reproduzierbarkeit verweist. Der Sound des Technischen soll aber die Zukunft sein, das Ohr wird mehr und mehr auf das Geräusch des Alltags gelenkt. Den Automaten bleibt hier mehr eine Vorläuferfunktion, denn vor der Vision einer modernen Metropole wird der Umbruch zum beginnenden 20. Jahrhundert besonders deutlich, und so schreibt Luigi Russolo (1885-1947) in seinem futuristischen Manifest der Musik: Gehen wir durch eine moderne Metropole und merken wir mehr mit den Ohren als mit den Augen, so empfinden wir Genuss beim Hören von gurgelndem Wasser, Luft oder Gas in Metallrohren, bei dem Murmeln der Motoren, die mit unleugbarer Tierhaftigkeit atmen und pulsieren, dem Pochen der Ventile, dem Hin- und Herschießen der Kolben, dem Kreischen der mechanischen Sägen, den ratternden Sprüngen der Straßenbahn auf den Gleisen, dem Knallen der Peitschen, dem Knattern der Vorhänge und Fahnen. Wir werden Spaß daran haben, das Rattern der Rollgitter in den Geschäften, die heftig schlagenden Türen, das Murmeln und Schlurfen der Menge, das Getöse der Bahnhöfe, der Eisenhütten, der Spinnereien, der Druckereien, der Kraftwerke und der Untergrundbahnen zu einer imaginären Orchesterpartitur zusammenzufügen.63 61 | Ebd., S. 91-92. 62 | Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 522. 63 | Zit. n. Franco Tagliapietra: »Musik«, in: Gabrielle Belli/Beatrice Avanzi (Hg.): Sprachen des Futurismus. Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater, Fotografie. Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 2010, S. 192-195, hier 193.

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Bildnachweis

R EPR ÄSENTATIONEN – P OLITIK UND V ERGNÜGEN IN DER M E TROPOLE Tim Opitz: »Die drei Bühnen der Stadt« Abb. 1: Karte Königsplatz, in: Griebens Reiseführer Berlin und Umgebung, Berlin 1902. Abb. 2: Siegessäule, in: Friedrich Gindler/O. Stephan: Die Weltstadt Berlin. Sehenswürdigkeiten und Denkmäler, Einrichtungen und Umgebung der Stadt Berlin, Berlin 1893, S. 79. Abb. 3: Bismarckdenkmal, in: Album von Berlin, seinen westlichen Vororten und Potsdam, Berlin 1903. Abb. 4: Bronzerelief Siegessäule, in: Richard Wagner: Die Siegessäule zu Berlin. Eine Beschreibung unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin o.J. [ca.1926].

Amália Kerekes/Katalin Teller: »Periphere Urbanisierung« Abb. 5: Denkmal Heldenplatz, in: Tibor Hajdu: A magyarországi Tanácskőztársaság [Die ungarländische Räterepublik], Budapest 1969. Abb. 6: Massenkundgebung im Zirkus Busch, Fotografie von Richard Hauffe, in: Wiener Bilder 23.3.1919. Abb. 7: Der Chor der Vierzigtausend, Fotografie von Willinger/L. Rübelt, in: Wiener Bilder 29.7.1928.

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D IE TAUSEND F REUDEN DER M ETROPOLE

U NGLEICHHEITEN – G ESELLSCHAF T UND V ERGNÜGEN IN DER M E TROPOLE Peter Jelavich: »Wie ›jüdisch‹ war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende?« Abb. 8: Rudolf Schildkraut als Shylock, in: Arnold Zweig: Juden auf der deutschen Bühne, Berlin 1928, gegenüber S. 128. Abb. 9: Jacques Manasse, in: Rudolf Nelson/Willy Hagen: Jacques Manasse, Berlin 1912 [Titelbild]. Abb. 10: Fritzi Massary und Guido Thielscher, in: Bühne und Welt 10 (1907/08), S. 51. Abb. 11: Zweimal Lubitsch, in: Carl Wilhelm (Regie): Der Stolz der Firma, PAGU 1914 [Schlussbild].

Hanno Hochmuth/Johanna Niedbalski: »Kiezvergnügen in der Metropole« Abb. 12: Die Kneipen der Fruchtstraße, 1925 © Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA) 626/II 29,7. Abb. 13: Die Kinos der Großen Frankfurter Straße und der Frankfurter Allee, 1912 © Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA) 626/II 29,9. Abb. 14: Zwei Ansichten des Volksvarietés Plaza © Archiv des Bezirksmuseums Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin.

U NGLEICHZEITIGKEITEN – B LICKE JENSEITS DER M E TROPOLE Karl Borromäus Murr: »Die Flucht des Theaters vor der Metropole« Abb. 15: Theaterzettel des Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf, in: Josef Steinbichler: »Martin Greif. ›Ludwig der Bayer‹. Bericht über die Uraufführung am 5.6.1892 in Kraiburg«, in: Das Mühlrad. Beiträge zur Geschichte des Inn- und Isengaus 35 (1993), S. 55-110, hier S. 96. Abb. 16: Grafik aus dem fünften Akt des Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf © Marktarchiv Kraiburg. Abb. 17: Gruppenfoto mit den Schauspielern des Kraiburger Volksschauspiels Ludwig der Bayer oder der Streit von Mühldorf © Marktarchiv Kraiburg.

Franka Schneider: »Die temporäre Verdorfung Berlins« Abb. 18: Zeitungsanzeige vom Kaufhaus des Westens, Zeichnung von August Hajduk (1880-1918), in: Berliner Lokal-Anzeiger 14.1.1909.

B ILDNACHWEIS

Abb. 19a/b: Werbung von Berliner Trachtengeschäften, in: Mitteilungen der Sektion Berlin des DÖAV 1906, Nr. 64, S. 13 und Nr. 91, S. 11. Abb. 20: Annoncen von Konkurrenzveranstaltungen, in: Vossische Zeitung 23.2. 1909. Abb. 21: Darstellung der Einlasskontrollen und Tanzeinlagen auf dem Alpenball, in: Berliner Morgenpost 8.2.1899. Abb. 22: Illustration von Ernst Heilemann für die erste Ausgabe von Rideamus: Berliner Bälle, Berlin o.J. Abb. 23: Zeichnung von Rolf Niczky für die 65. Auflage von Rideamus: Berliner Bälle, Berlin 1916, S. 30.

V ERFLECHTUNGEN – I NTERMEDIALITÄT DES V ERGNÜGENS Kristin Becker: »Welt von Wundern« Abb. 24: Das erste Urania-Gebäude im Berliner Landesausstellungspark, in: Max Wilhelm Meyer: »Die Veranstaltungen der Urania«, in: Himmel und Erde. Illustrirte naturwissenschaftliche Monatsschrift 1 (1889), S. 30-39, hier S. 33. Abb. 25: Das zweite Urania-Gebäude in der Taubenstraße, in: Paul Schwahn: »Zum 25-jährigen Bestehen der Gesellschaft Urania in Berlin«, in: Himmel und Erde. Illustrierte naturwissenschaftliche Monatsschrift 25 (1913), S. 337-398, hier S. 339. Abb. 26: Aufführung im Urania-Theater, in: Franz Bendt: »Populäre Astronomie«, in: Ueber Land und Meer. Deutsche Illustrierte Zeitung 63 (1890), Nr. 4, S. 84.

Rebecca Wolf: »Musikautomaten und die Ökonomisierung der Kunst« Abb. 27: Akustisches Kabinett der Firma F. Kaufmann & Sohn Nachf., G.m.b.H. © Deutsches Museum, München. Abb. 28: Konzert im Buckingham Palace vor der königlichen Familie, in: The Illustrated London News 5.7.1851, S. 8.

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Personen- und Sachregister

Adorno, Theodor W. 15 Agrarromantik 186ff., 217, 221 Albert Edward 314 Allegorien — Borussia 53 — Germania 53, 60 — Viktoria 52 Alpenball 16, 20, 187, 197ff. Altenloh, Emilie 235, 253 Antisemitismus 20, 79, 91, 93ff., 212 Arbeiter 26, 35f., 37, 51, 68f., 71ff., 79, 83, 106f., 110, 115ff., 123f., 126, 128f., 132, 160, 187, 192, 218, 233, 235f., 249, 252, 264, 293f. — Proletariat 76, 155, 187 — Arbeiterkultur 68 — Arbeiterbewegung 68, 72, 83, 120, 132 Arisierung 134 Arnhold, Eduard 211 Asakusa 138, 145ff., 152, 155f., 158, 160ff. Asch, Schalom 96f. Ästhetik 13f., 44, 68, 74, 90f., 101, 126, 171, 199, 202f., 206, 227, 239, 245, 251f., 265, 270, 273, 290, 292, 298, 321 Aufführungspraxis 298 Aufklärung 91f., 266

Ausstellung 7, 68, 71f., 80f., 144, 200, 202ff., 206f., 240, 284ff., 292, 304f., 308, 312, 314, 316ff., 323 — Gewerbeausstellung 203, 206, 240 — Great Exhibition 312ff. — Hygieneausstellung 80, 316 — Internationale Ausstellung für Menschenschutz 80 — Landesausstellung 68, 286 — Trachtenausstellung 207 — Völkerschau 201 — Weltausstellung 81, 144, 203, 240, 313f. Babbage, Charles 321 Bailey, Peter 11, 152 Baumann, Josef 185 Baumeister, Martin 12 Bedürfnisfrage 25, 27ff., 31, 33, 37, 42 Benjamin, Walter 51f., 56, 159, 230f., 238., 243, 250, 255, 318f., 323 Bennett, Arnold 7, 16, 67, 319f. Bernhardt, Sarah 273f., 276, 278 Bertschick, Julia 260 Bismarck, Otto von 57, 58ff., 64 Blei, Franz 263 Bloch, Ernst 82 Boehn, Max von 274f. Bohème 141, 154, 161 Borsa, Mario 153, 155

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D IE TAUSEND F REUDEN DER M ETROPOLE

Borussismus 53 Brashear, John A. 300 Brahm, Otto 87ff., 90, 92, 95, 97, 99 Braun, Alex 190, 192 Breithaupt, Carl 211 Brust, Waldemar 125 Buddemeier, Heinz 298 Bühnenreformbewegung 175f. Bülow, Bernhard von 181 Bürgertum 48, 63, 70, 83, 87, 89ff., 101ff., 155, 191, 192, 198f., 202, 210, 213, 228, 259, 263f., 277, 280, 294 — Bildungsbürgertum 87, 89ff., 101ff., 105, 116, 191, 210, 213, 228 — Großbürgertum 155, 318 — Kleinbürger 71, 76, 78, 87, 106, 110f., 115ff., 124, 131, 135, 141, 154, 174, 181, 233 Busch, Paul 72

— Reglementierung 15, 19, 23, 25, 41, 88, 148, 219 — Überwachung 25f., 35 Dorés, Gustav 9 Doucet, Jaques 269, 274f. Dyer, Richard 12f.

Carnegie, Andrew 283, 299f. Chladni, Ernst F. F. 310 Corbin, Alain 156, 160 Csergo, Julia 160

Fest 11, 33, 46, 56, 71, 73, 77f., 107f., 120, 125, 131, 136, 140, 197ff., 200ff., 207, 209f., 212ff., 225, 227f., 234, 236, 245, 248, 319f. Festspiel 173ff., 187ff., 196, 197ff. — Alpenfest siehe Alpenball — Bayreuther Festspiele 179f., 283 — Bergfestspiel 189 — Bürgerliches Fest 107f., 200ff., 212ff., 217ff., 227f. — Feierpraxis 215 — Kostümfest 197f., 218, 221 — Kraiburger Festspiele 173f., 176ff., 187ff., 192ff. — Maifeier/Maiaufzug 68ff., 72f., 76, 79 — Nationalfeiertag 56 — Parade 46, 55, 57, 75, 245 — Oberammergauer Passionsspiel 178f., 185, 191 — Sängerbundesfest 77f. — Volksfest 248 — Winterfest 198, 220

Daum, Andreas 300 Davidson, Paul 102 Debussy, Claude 319f. De Certeau, Michel 10, 138 Delbrück, Ludwig 211 Demokratisierung 264 Deutsch-Französischer Krieg 47, 54f., 60f. Deutsches Kaiserreich 56f., 61, 63, 65, 89, 101, 174, 181ff., 186, 188f., 192, 194, 196, 212, 222, 224, 230 Devrient, Eduard 177 Disziplinierung/Kontrolle 23, 26, 28, 33f., 37, 38, 40ff., 83, 119, 126, 147f., 151, 165, 216, 248 — Regulierung 25f., 40f., 68, 76

Edel, Edmund 42, 157 Elektrifizierung 290 Elster, Alexander 260, 267f., 270ff. Emanzipation 89f., 194 Empire 44, 60, 62, 65 Erotik 223f., 267f., 270, 272 Erster Weltkrieg 31, 40 57, 64, 71f., 75, 78ff., 143, 230, 238, 248 Ettmayr, Corbinian 189 Eulenburg, Friedrich von und zu 28 Exotik 126, 207 Expressionismus 229

P ERSONEN - UND S ACHREGISTER

Feuchtwanger, Lion 179 Film 12, 16f., 70, 74, 87, 97, 101ff., 121, 126f., 160, 229ff., 317 — Hollywood 247, 250 — Kurzfilm 239, 246, 254f. — Lokalfilm 248 — Montage 229 — Monopol-/Terminfilm 254f. — rube films (Trottelfilm) 235 — Tonfilm 248 — Trickfilm 239 — Wochenschau 70, 239, 255 Fin de Siècle 266, 268 Flaneur 51, 66, 246, 288, 318f. Flüggen, Josef 176 Föderalismus 53 Foerster, Wilhelm 287f., 294 Folklore 83, 199, 221f., 225, 228 Foucault, Michel 139f., 149, 164f. Freizeit 8, 48, 68, 80f., 83, 107, 109, 116, 127, 135, 165, 235, 286, 288, 302, 318, 323 Fremdenverkehr siehe Tourismus Freud, Sigmund 268 Freund, Julius 99 Friedell, Egon 237f. Friedrich I. 142 Friedrichshain 106, 110, 115, 132 Friedrichstadt-Passage 303 Friedrichstraße 42, 110, 138, 142f., 146ff., 151f., 156ff., 162ff., 236, 252, 254, 287, 305, 316 Frimmel, Theodor von 322 Fritzsche, Peter 11, 16, 209 Fruchtstraße 20, 111ff., 118ff., 123, 125, 127, 131, 135f. Futurismus 229, 323 Gemeinschaft 17, 54, 78, 107, 111, 149, 158, 179ff., 186, 216, 221, 227f., 250, 280 Geschlechterdiskurs 14, 20, 27, 124, 136, 152ff., 164f., 206, 224, 235, 268

Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) 24, 39 Gesamtkunstwerk 284 Gewerbeordnung 24, 26, 29, 37, 38ff., 259 Globalisierung 43, 45, 59 Goethe, Johann Wolfgang von 89, 129 Greif, Martin 172ff., 177, 179ff., 189, 191ff. Grosz, George 164 Groterjan, Christoph 211 Gunning, Tom 246f. Haberl, Josef 176, 180ff. Hading, Jane 273, 278 Händel, Georg Friedrich 320 Hardt, Alois 176 Hart, Heinrich 95 Harvey, David 10 Haug, Christine 291 Hauptmann, Gerhart 88f., 93 Heimatkunstbewegung 188, 193 Hellwig, Albert 241 Helmholtz, Hermann von 211 Herrnfeld, Anton 99ff., 103 Herrnfeld, Donat 99ff., 103 Heterotopie 137, 139f., 148f., 164ff. Heyse, Paul 177 Hinckeldey, Carl L. F. von 23 Historismus 176 Hochkultur 17f., 76 Hoffmann, E.T.A. 306f., 314, 319 Hofmannsthal, Hugo von 93 Hollaender, Victor 99 Hollingshead, John 157 Horkheimer, Max 15 Humperdinck, Engelbert 95 Huret, Jules 157, 162 Ibsen, Henrik 87ff., 93 Idealismus 179

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Identität 20, 65, 97, 154, 164f., 180, 217, 224, 227f., 249, 264, 281 Imperialismus 62 Internationalisierung 300 Jacobsohn, Siegfried 95 Joseph II. 143 Jahrmarkt/Kirchweih 70, 82, 149, 209, 234, 236, 319 Juden/Jiddisch 79, 87ff., 100ff. Jugendstil 95 Kaiserreich, siehe Deutsches Kaiserreich Kalisch, David 16, 128 Kapitalismus 14f., 261 Karneval 166, 197, 248 Kastan, Isidor 89f. Kaufhaus siehe Warenhaus Kaufmann, Friedrich 304ff., 309ff. Kaufmann, Friedrich Theodor 304ff., 309, 312ff. Kaufmann, Johann Gottfried 304f., 311ff. Kawabata Yasunari 150, 161, 164 Kerr, Alfred 156f. Kienzl, Hermann 242 Kiezvergnügen 105ff., 134ff. Kino 7f., 14, 20, 70, 102, 108f., 120ff., 135f., 139, 143ff., 148, 155, 159f., 165, 167, 198, 229ff., 298, 322 — Film-Sternpalast 123ff. — Großkino 125f., 135 — Kinoreformbewegung 235, 240 — Kinematographie/Kinematograph 40, 123, 233, 235, 237f., 240ff., 245f., 248 — Kintop 245 — Kleinbürgerkino 124 — Kleinstadtkinos 254 — Ladenkino 127, 237 — Lebende Bilder (Kino) 232f., 242 — Lichtspieltheater 121, 125ff., 136

— Saalspieler (fahrende Kinounternehmen) 234 — Thalia-Theater 122ff. — Union-Theater 102, 247f. — Wanderkino 233f., 236f., 255 Kirchweih siehe Jahrmarkt Kleinwächter, Friedrich 280 Kneipe/Lokal 7, 23, 26f., 33, 107, 109ff., 113ff., 118ff., 127f., 135, 140, 148f., 151 — Animierkneipe 33, 108, 117, 135 Kollektives Gedächtnis 12 Kolonialisierung 44, 166, 60f., 203 Kommerzialisierung 13, 17, 42, 78, 159, 220 Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs (KPDÖ) 72 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 129 Kontrolle siehe Disziplinierung Königsplatz 20, 43ff., 51ff., 62ff., 209 Konsum 11, 26, 28, 42, 115, 117, 121, 126, 155, 158f., 165, 222, 262, 264f., 280, 287, 294 Kopetzky, Wilhelm 211 Kopp, Kristin 203 Korff, Gottfried 11, 17, 74, 166, 256 Kosch, Wilhelm 174, 184 Kracauer, Siegfried 230f., 238, 255 Kraft durch Freude (KdF) 134 Kucharski, Stanislaus 123 Kulturkritik 186, 231, 238, 240ff., 250 Kurfürstendamm 12, 138, 142f., 147, 154, 160, 164, 166 Lang, Fritz 74, 230 Lange Jahrhundertwende 8f., 14, 18, 109, 138, 240 Lautenschläger, Carl 176 Lefebvre, Henri 10, 138, 166 Lessing, Ephraim 89, 96 Lessing, Julius 275, 278 Linckelmann, Julius 213

P ERSONEN - UND S ACHREGISTER

Lindenberg, Paul 218, 317 Loiperdinger, Martin 246 Lokal siehe Kneipe Lubitsch, Ernst 102ff. Lumière, Auguste 232, 244 Lumière, Louis 232, 244 Maase, Kaspar 158 MacQueen-Pope, Walter 152f. Madai, Guido von 28f. Maeterlinck, Maurice 93 Mälzel, Johann Nepumuk 309 Mann, Klaus 162 Marinetti, Filippo Tommaso 322 Marlow, Christopher 96 Marx, Peter W. 224 Massary, Fritzi 99f. Masse 82, 197, 214f., 218 — Massenkultur 71, 82f., 158, 250 — Massenmedien 9, 77, 83, 101, 138 — Massenpublikum 8, 17, 76 — Massenvergnügen 117, 135 May, Adolf 184 Messter, Oskar 233, 252 Metropole siehe Stadt Metropolenkultur siehe Stadt Mettenleitner, Adolf 176 Meyer, Max Wilhelm 284, 287ff. Migration/Wanderung 60, 106, 111, 141 — Emigration 74 Mitscher, Raimund 212f. Mittelschicht siehe Schicht Mode 99, 147, 166, 221, 259ff. — Kleidermode 259f., 262, 271f., 280f. — Kleiderordnung 264 — Kostüm 176, 197f., 210, 222, 224, 271f., 274, 276ff., 218 — Tracht 197f., 199 Moderne 71, 148, 165, 171, 191, 194ff., 199, 203, 206, 217, 230f., 234, 238, 243f., 250, 253, 255, 259, 265f., 322

— Modernität 18, 74, 166, 207, 227, 244, 250f., 255 — Modernisierung 41f., 80, 82, 166, 194, 230f., 242, 251, 256 — Modernity Thesis 231, 251 Molnár, Franz 74 Montmartre 138, 140f., 146ff., 154, 156, 160ff., 165f. Mosse, George 91 Mozart, Leopold 312 Mozart, Wolfgang Amadeus 312 Müller-Richter, Klaus 165, 203 Müller, Corinna 233, 254 Müller, Ludwig von 173 Musikautomat 19, 303ff., 314, 316ff. — Akustisches Kabinett 303ff., 314ff., 322 — Trompeterautomat 304f., 307ff., 312, 318ff., 322 Nachtleben 11, 36, 148, 155, 157, 162, 253 Napoleon III. 141 Nationalismus 65, 179, 181, 183 — Nationalbewegung 205 — Nationalisierung 44 — Nationalstaat 9, 44f., 52ff., 55ff., 59ff., 65f. Naturalismus 88ff., 92f., 179, 188, 192, 195, 299 Nelson, Rudolf 97 Nielsen, Asta 102, 252 Norddeutscher Bund 37, 259 Öffentlichkeit 8, 19, 28, 54f., 59, 61, 66, 70, 76, 143, 152, 155, 216, 260, 269, 289, 306f., 319 Orlik, Emil 95 Ostwald, Hans 117, 151 Panizza, Oskar 190ff. Perfall, Karl von 175f.

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Periphere Urbanisierung siehe Urbanisierung Philosemitismus 95 Pincus, Theodor 211 Pinskis, David 97 Pintsch, Julius Karl 211 Pintsch, Oskar 211 Planck, Max 211 Polizeistunde/Sperrstunde 25f., 33ff., 36f. Populärkultur 11, 24, 37, 40ff., 138, 156, 198, 221f., 228 Pourtalès, Friedrich von 181f. Pröger, Willy 156 Proletariat siehe Arbeiter Prostitution 10, 26, 28, 33, 36, 41, 71, 76, 81, 117, 142, 145, 148, 150f., 156, 159 Protzen, Eugen 211 Provinz 10, 19, 25, 62, 157, 160, 172ff., 190, 193, 199, 225, 231f., 234, 236, 238, 244, 249f., 253ff., 267, 276, 317 Puttkamer, Eugen von 27 Rassismus 10, 100, 158, 205 Realismus 88, 90, 192, 299 Reichsgewerbeordnung (RGO) siehe Gewerbeordnung Reif, Heinz 9f., 14, 279 Reille, André-Charles-Victor 61 Reinhardt, Max 76, 87, 92ff., 99, 102 Réjane (= Gabrielle Réju) 273f., 278f. Richter, Eugen 28 Richthofen, Ferdinand von 211 Rideamus (= Fritz Oliven) 219, 224ff. Riedl, Karl 175, 180f., 188 Riehl, Wilhelm Heinrich 187 Robertson, Etienne-Gaspard 307f. Rothschild, Louis 211 Rotter, Alfred 133 Rotter, Fritz 133 Rousseau, Jean-Jaques 186

Rummelspacher, Joseph 213 Rupprecht von Bayern 173 Ruttmann, Walter 230 Sabo, Oscar 132 Salomonsohn, Arthur 211 Sängerbund 77f. Savits, Jocza 175f., 183ff., 189f., 193f. Schicht — Mittelschicht 101, 128, 155, 293 — Oberschicht 198, 223, 225 — Unterschicht 25f., 28, 35, 37, 41, 105, 187 Schildkraut, Rudolf 95f., 102 Schiller, Friedrich 89, 177 Schlabitz, Adolf 213 Schlißleder, Josef 176 Schlör, Joachim 11 Schlüpmann, Heide 101 Schnitzler, Arthur 93 Schubert, Franz 78 Schwager, Friedrich 213 Schwartz, Vanessa 12 Schwarz, Werner Michael 71, 206 Sedan 15, 53, 56f. Segregation 10, 20, 105, 116f., 124, 126f., 135, 147, 202 Serviss, Garrett P. 300 Settlement 105f. Shakespeare, William 91, 93, 95f. Sickert, Walter 161 Siegesallee 48f. Siegessäule 44, 47ff. Siegmund-Schultze, Friedrich 106, 112 Siemens, Georg von 211 Siemens, Werner von 288 Siemens, Wilhelm von 288 Simmel, Georg 17f., 213, 230f., 240ff., 250, 255, 266ff., 272f., 279f. Sittlichkeit 24, 33ff., 38, 41f., 75, 97 Skladanowsky, Emil 232f. Skladanowsky, Max 232f. Slumming 10, 105

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Soja, Edward W. 10, 140 Sombart, Werner 118, 262f., 265ff., 270ff., 276 Sorel, Cécile 272ff. Southwark 142, 146, 148f., 163 Soziale Arbeitsgemeinschaft BerlinOst (SAG) 106ff., 109, 112, 114, 116, 118ff., 123, 125ff., 131, 135f. Sozialistengesetz 26, 35, 42, 120 Spatial Turn 10, 138 Sperrstunde siehe Polizeistunde Stadt — Global City 9, 45 — Großstadt 8, 11, 25, 30, 34, 36, 41, 74, 82, 99, 105, 110f., 151, 166, 193, 198f., 201ff., 206, 215, 224, 227, 229ff., 235, 238f., 241ff., 247, 249ff., 266f., 269, 271, 279, 317 — Hauptstadt 43, 55, 63, 65, 134, 161, 198, 214, 219, 269f., 276, 280, 289 — Imperial City 63 — Kleinstadt 243, 249, 252, 255 — Megacity 9 — Megastadt 9 — Metropole 7ff., 12, 14ff., 18f., 24f., 37, 41, 44f., 63f., 105, 136, 137f., 148f., 151, 153, 156, 160, 162, 166f., 171, 174, 188, 190, 193, 196, 199, 203f., 206f., 214, 227, 232, 237, 244, 247f., 254ff., 259, 270f., 273, 279ff., 294, 296, 302, 307, 312, 316, 323 — Metropolenkultur 136, 249, 253, 256, 300 — Provinzstadt 102 — Reichshauptstadt 23, 49f., 109, 115, 284 — Stadt-Land-Gegensatz 216, 221, 224 Stadtwäldchen siehe Vergnügungsparks Stralauer Viertel 106f., 109, 111, 120f., 123, 127f. Straus, Oscar 97

Strindberg, Johan August Strobl, Karl Hans 79 Stümcke, Heinrich 95 Symons, Arthur 161

93

Tanz 23, 25, 27f., 31f., 36, 28, 108, 140, 143, 160, 197, 202, 206f., 211, 219, 223f., 228 Theater — Cabaret/Kabarett 25, 40, 79, 87, 92f., 97, 99, 103, 108, 144, 161 — Hoftheater 91, 175f., 192, 195, 248 — Jargontheater 87, 97, 99f. — Laienensemble 174, 176, 179, 183f., 190 — Lebende Bilder (Tablau Vivant) 197, 202 — Musical Comedy 163 — Music Hall 8, 14, 141f., 151f., 155, 159, 161 — Naturtheater 186 — Oper 38, 48f., 57, 141, 154, 163, 200, 269, 301, 304, 306, 320 — Operette 79, 129, 133f., 154, 200, 269, 301, 320 — Panorama 7, 16, 145, 202, 204, 206, 213, 286f., 298 — Privattheater 24, 27, 38 — Revue 16, 76, 79, 87, 97, 99, 103, 108, 161, 271, 318 — Schauspielkunst 87, 104, 183, 277 — Shakespearebühne 176 — Singspielhalle 39f. — Spezialitätentheater 39, 233, 243 — Theaterfieber 38 — Theaterinstitutionen/Gebäude — Drury Lane Theater (London) 142 — Folies Bergères (New York) 161 — Folies Bergères (Paris) 141, 161 — Freie Bühne 88f., 91f., 99

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— Gebr. Herrnfeld-Theater 100f., 103, 233 — Haymarket Theater (London) 142 — Hof- und Nationaltheater (München) 175f., 195 — Kellers Festsäle 120, 125 — Königliche Bühnen zu Berlin 38 — Königliches Schauspielhaus 287 — Kroll (später Neues Königliches Opernhaus, Krolloper) 46ff., 57, 157, 197, 200ff., 209, 217, 219, 228 — Kraiburger Festspielhaus 176 — Lessing-Theater 278 — Metropol-Theater 16, 99, 133, 214, 287 — Moulin Rouge (Paris) 141, 153, 161 — Music Hall (New York) 283, 299ff. — Neue Welt 209, 219, 233  — Odéon (Paris) 272 — Opéra Garnier 141 — Plaza 127, 131ff. — Rose-Theater 108, 127, 129ff., 134 — Scala 132ff. — Schall und Rauch 92ff., 97, 99 — Urania 20, 283ff., 289, 291ff., 298ff. — Vaudeville (Paris) 272, 274 — Wallner-Theater 108, 127ff., 134 — Wintergarten Varieté 233 — Theaterreform 175f., 183, 185, 193f. — Theaterunternehmer 14, 24, 38, 40, 70 — Theaterverein 27, 38, 88f., 108

— Theatralität/theatral 149, 163ff., 194, 274, 292, 301 — Tingel-Tangel 25 — Varieté 7f., 14ff., 25, 40, 92, 108, 109, 127, 131ff. — Volkstheater 177, 193 — Volksschauspiel 171f., 174f., 178, 185, 192 — Wissenschaftliches Theater siehe Urania Thielscher, Guido 100 Times Square 138, 144ff., 151, 154, 156, 158f., 162, 164, 166 Tokugawa Hidetada 145 Toller, Ernst 79 Tönnies, Ferdinand 186 Toulouse-Lautrec, Henri 161 Tourismus 16, 26, 81, 188, 205, 221, 316 Transfer 18, 227, 238, 276, 279, 305 — Modetransfer 276f., 279 Treitschke, Heinrich von 91 Turner, Victor 149 Überwachung siehe Disziplinierung Uhland, Ludwig 177 Unterschicht siehe Schicht Unterhaltung siehe Vergnügen Urbanisierung 8, 11, 17f., 42, 45, 51, 65, 67, 74, 82, 110, 147, 166, 193, 195, 199, 201, 227, 229, 256, 259, 261, 267, 279 — Innere Urbanisierung 8, 11, 17f., 20, 166, 256, 279 — Periphere Urbanisierung 74, 82, 199 Urbanität 11, 51, 111, 149, 206, 224, 244 Utopie 139, 165f., 319 Veblen, Thorstein 264, 277 Verdorfung 197, 199, 202f., 206, 227 Vergnügen 7f., 12ff., 19f., 23, 25, 32, 40, 46, 57, 70f., 81f., 105, 107ff.,

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116ff., 120f., 126, 131, 134ff., 147ff., 153, 156, 158, 160ff., 164, 197ff., 203, 206, 214, 216, 218f., 227f., 236, 238, 245f., 271, 308, 317, 323 — Amüsement 13, 25, 40, 71, 198, 301 — Belustigung 13, 25, 74, 82f. — Entertainment 12, 137, 142, 163, 283, 300 — Kiezvergnügen 105, 134ff. — Plaisir 13, 137, 160 — Pleasure 7, 12, 67, 150, 152 — Spaß 13, 225, 323 — Unterhaltung 7f., 12f., 15, 19, 23ff., 33, 38, 40ff., 68, 83, 103ff., 127f., 134f., 151, 159f., 163, 141, 198, 235, 239f., 259, 284, 286, 293f., 298, 300ff., 308, 311, 317ff. — Unterhaltungsindustrie 7, 141 — Unterhaltungsangebote 14, 70, 76, 80, 116, 289 — Unterhaltungskultur 67, 101f., 160, 232, 285, 292 — Zeitvertreib 13, 82, 318 — Zerstreuung 13, 82, 156, 239f., 242, 246, 274 — Vergnügungsangebot 14, 19f., 70, 82, 105, 109, 121, 131, 134, 136, 234 — Vergnügungskultur 7ff., 37, 42, 82, 109, 136, 199, 216f., 220, 222, 232, 253, 256, 271, 276, 280 Vergnügungspark 15, 67, 71f., 74, 82, 144, 198, 319f. — Amusement Park 67 — Angol Park 70 — Budapester Stadtwald/Stadtwäldchen 68ff., 75f., 79ff., 199 — Lunapark 70 — Rummel 25, 40, 68, 70f., 76, 108, 136, 107 — Themenpark 80 — Wiener Prater 68, 71ff., 80ff., 138, 143f., 146, 148ff., 152, 154ff., 161f., 165, 199

Vergnügungsviertel 70, 110, 137ff., 145ff. Verne, Jules 301 Victoria I. 314 Volkskultur 191, 194, 198, 221 Volkstum/volkstümlich 70, 128, 155, 183f., 189ff., 199, 202, 227 Voß, Carl v. 314 Wagner, Richard 178, 183f., 301, 314 Waldoff, Claire 132 Walkowitz, Judith 150, 152 Warenhaus/Kaufhaus 142ff., 155, 158ff., 207, 221f., 237, 252, 263, 274, 305, 323 Warschauer, Robert 211 Weber, Carl Maria von 305f., 309, 314 Wedekind, Frank 93 Weimarer Republik 57, 120, 230 Weisbrod, Bernd 8 Werbung 208, 307 Werkmeister, Lotte 132 Wessely, Christina 201, 294 West End 111, 138, 142, 146, 148ff., 152ff., 163f., 166 Wilde, Oscar 93 Wilhelm I. 53, 61f., 213 Wilhelm II. 61f., 89, 97 Wilhelminismus 92 Wilms, Joachim 154, 165 Wolzogen, Ernst von 97 Wörner, Martin 203 Yoshiwara

145f., 148f., 161, 163

Zensur 26, 38, 40, 88, 101 Zirkus Busch 71ff., 233 Zoologischer Garten 108, 201ff., 228, 294 Zoozmann, Richard 278 Zweig, Arnold 90 Zweiter Weltkrieg 111, 143, 146

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1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Peter Becker (Hg.) Sprachvollzug im Amt Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts Mai 2011, 368 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1007-9

Manuel Borutta, Nina Verheyen (Hg.) Die Präsenz der Gefühle Männlichkeit und Emotion in der Moderne 2010, 336 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-972-5

Sabine Maasen, Jens Elberfeld, Pascal Eitler, Maik Tändler (Hg.) Das beratene Selbst Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern Oktober 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1541-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Christa Putz Verordnete Lust Sexualmedizin, Psychoanalyse und die »Krise der Ehe«, 1870-1930 August 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1269-1

Franziska Torma Turkestan-Expeditionen Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890-1930) Januar 2011, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1449-7

Andreas Zangger Koloniale Schweiz Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860-1930) Oktober 2011, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1796-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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