Die Ästhetik Karl Leonhard Reinholds: Transzendentalphilosophische Geschmackskritik vor Kant 9783111347691, 9783111347875, 9783111348186

This volume examines the largely overlooked aesthetic writings of Karl Leonhard Reinhold before 1790, with which he aime

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German Pages 201 [202] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Siglenverzeichnis zentraler Autoren
Inhalt
1 Einleitung und Problemstellung
2 Die Vergnügensschrift
3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie
4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Die Ästhetik Karl Leonhard Reinholds: Transzendentalphilosophische Geschmackskritik vor Kant
 9783111347691, 9783111347875, 9783111348186

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Michael Schmidt Die Ästhetik Karl Leonhard Reinholds

Reinholdiana

Edited by Ernst-Otto Onnasch Editorial Board: Karl Ameriks (Notre Dame, USA), Daniel Breazeale (Kentucky, USA), Martin Bondeli (Bern, Switzerland), Claude Piché (Montreal, Canada), George di Giovanni (Montreal, Canada), Faustino Fabbianelli (Parma, Italy), Marion Heinz (Siegen, Germany), Alexander von Schönborn (Missouri, USA)

Volume 6

Michael Schmidt

Die Ästhetik Karl Leonhard Reinholds Transzendentalphilosophische Geschmackskritik vor Kant

Wirtschaft, Tourismus, Wissenschaft und Forschung

ISBN 978-3-11-134769-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-134787-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-134818-6 ISSN 2194-9085 Library of Congress Control Number: 2023944427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für Andrea

Vorwort Die vorliegende Monographie ist eine verbesserte und wesentlich erweiterte Fassung meiner Hochschulschrift Karl Leonhard Reinholds Theorie des Vergnügens: Konstellationen zwischen Ernst Platner und Immanuel Kant, die ich im Wintersemester 2022/23 an der Karl-Franzens-Universität Graz verfasst habe. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war meine Teilnahme an dem Seminar Kant und Reinhold im Kontext der rationalistischen und empiristischen Ästhetik, welches im Sommersemester 2020 an der Universität Wien unter der exzellenten Leitung von Violetta Waibel und Giuseppe Motta abgehalten wurde. Hierbei gilt mein tiefempfundener Dank Herrn Motta, der meine Aufmerksamkeit erstmals auf Reinholds ästhetische Schriften lenkte und mich als Betreuer der ursprünglichen Hochschulschrift mit hilfreichen Hinweisen zur Forschungsliteratur und konstruktiver Kritik begleitete; es ist nicht zu viel behauptet, dass ich mir keinen besseren Mentor hätte wünschen können. Ein weiterer Dank geht an Martin Bondeli für die Wertschätzung meiner Arbeit und den fruchtbaren Austausch über Reinholds Ästhetik. Dieser Dialog eröffnete mir ein tieferes Verständnis der einschlägigen Problembereiche und ermutigte mich zur weiteren Beschäftigung mit der Philosophie Reinholds. Ebenso gebührt mein Dank dem Institut für Philosophie der Universität Graz und seinen engagierten Lehrbeauftragten für die Schaffung eines intellektuellen Klimas, das sich auf jedes Forschungsvorhaben nur förderlich auswirken kann. Ein besonderer Dank gebührt Udo Thiel, bei dem ich mehrere Semester herausragende Lehrveranstaltungen besuchen durfte, deren Bedeutung für meine philosophische Entwicklung betont sein soll. Thiels Ausführungen haben mich für die Geschichte der Philosophie und insbesondere für Kant und den Deutschen Idealismus begeistert; mit großer Freude blicke ich auch auf seine Vorlesungen Zur Geschichte der Ästhetik zurück. Meiner Familie sei gedankt, dass sie mir immer den nötigen Freiraum ließ, uneingeschränkt meinen Interessen nachzugehen. Allen voran möchte ich meiner Mutter, Andrea, für ihre liebevolle Unterstützung und die vielen ermutigenden Worte danken. Meiner innig geliebten Lebensgefährtin, Julia Kaidisch, danke ich für ihre unermüdliche Hilfe beim Lektorat und für die zahlreichen anregenden philosophischen Gespräche; ihre Expertise zu Baumgarten und zur Kunstphilosophie hat mir wichtige Anregungen für meine Arbeit gegeben. Gerhard Kaidisch fühle ich mich durch unsere stundenlangen Diskussionen über die Philosophie Kants verbunden, welche meinen geistigen Horizont in mehr als nur einer Hinsicht erweitert haben.

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VIII

Vorwort

Nicht zuletzt danke ich dem Land Steiermark und der Stadt Graz, deren finanzielle Unterstützungen die zeitnahe Veröffentlichung meiner Ergebnisse ermöglicht haben. Mein ausdrücklicher Dank gebührt Herrn Stadtrat Günter Riegler; dass ein Wirtschaftswissenschaftler nicht nur in kulturellen Bereichen über ein fundiertes Wissen verfügt, sondern auch in philosophischen Fragen versiert ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Obwohl eine – natürlich niemals völlig einlösbare – umfassende und detaillierte Darstellung mein Ziel war, ist die Ästhetik Reinholds – selbst vor 1790 – noch keineswegs vollständig erschlossen. Sie birgt noch viele unentdeckte Nuancen und Dimensionen, die weiterer Untersuchungen bedürfen. Ich hoffe, dass die vorliegende Studie als Katalysator für die zukünftige Erforschung von Reinholds Vergnügens- und Triebtheorie dienen wird und andere Forschende dazu anregt, sich tiefgehender und aus neuen Perspektiven mit Reinholds Philosophie auseinanderzusetzen.

Siglenverzeichnis zentraler Autoren Karl Leonhard Reinhold Auswahl I Beyträge I/II Briefe I/II Entdeckung Fundamentschrift Geschmacksschrift KA 1/2/3/4/5 Merkur-Briefe Oberon-Eröffnungsrede Rezension Aphorismen I Rezension KdU Vergnügensschrift 1788/ 1789 Vergnügensschrift überarbeitet Versuch

Auswahl vermischter Schriften, Bd. 1 Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Bd. 1/2 Briefe über die Kantische Philosophie, Bd. 1/2 Neue Entdeckungen (Allgemeine Literatur-Zeitung) Ueber das Fundament des philosophischen Wissens Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten Korrespondenz Reinhold Briefe über die Kantische Philosophie (Teutscher Merkur) Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studierende Rezension Philosophische Aphorismen, Bd. 1 Rezension Kritik der Urteilskraft Ueber die Natur des Vergnügens Ueber die bisherigen Begriffe vom Vergnügen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens

Immanuel Kant Anth Br GMS GSE KdU KpV KrV MS Prol

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Korrespondenz Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Kritik der Urteilskraft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Die Metaphysik der Sitten Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können

Ernst Platner Anthropologie Aphorismen I 1776/1784/ 1793 Aphorismen II

Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Bd. 1 Philosophische Aphorismen. Nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Bd. 1 Philosophische Aphorismen. Nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Bd. 2

https://doi.org/10.1515/9783111347875-002

X

Siglenverzeichnis zentraler Autoren

Versuch über die Einseitigkeit

Versuch über die Einseitigkeit des stoischen und epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens

Jean-Baptiste Dubos Réflexions I/II/III Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Bd. 1/2/3

Louis-Jean Lévesque de Pouilly Théorie des sentimens Théorie des sentimens agréables

Christian Wolff DE Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen Discursus praeliminaris Discursus Praeliminaris de Philosophia in Genere DM Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt PE Psychologia Empirica

Moses Mendelssohn Morgenstunden Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes Phil. Schriften I Ueber die Empfindungen (Philosophische Schriften, Bd. 1) Phil. Schriften II Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (Philosophische Schriften, Bd. 2)

Johann Georg Sulzer Vermischte Schriften Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (Vermischte Schriften)

Claude Adrien Helvétius De L’Esprit De L’Esprit, Bd. 1

Inhalt 1

Einleitung und Problemstellung

2 Die 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6

1

Vergnügensschrift 14 Überblick zu den unterschiedlichen Vergnügenskonzeptionen 17 22 Der subjektive Gesichtspunkt Reinholds Assimilation der emotionstheoretischen Ästhetik Dubos‘ und Pouillys 22 Über Je ne sais quoi, Vagheit der starken und leichten Beschäftigung und 26 Objektivierungstendenzen unter subjektiven Vorzeichen Der objektive Gesichtspunkt 31 Gedachte oder empfundene Vollkommenheit und die Taxonomie der 31 Vorstellungen Wolffs und Mendelssohns Kognitivismen und Reinholds Stellungnahmen 35 Versöhnungsversuch zwischen Wolff und Mendelssohn und über Reinholds 40 Aufwertung der Sinnlichkeit im Vergleich zu Baumgarten Der Standpunkt der Spontaneität 46 Sulzers Theorie der angenehmen und unangenehmen 46 Empfindungen Reinholds kritische Würdigung von Sulzers Intellektualismus und über die Relevanz einer apriorischen Sinnlichkeit 55 63 Der Standpunkt der Rezeptivität Helvétius über den menschlichen Geist 63 Reinholds kritische Würdigung von Helvétius‘ Sensualismus und über die Relevanz einer reinen Spontaneität 67 Synthese aller einseitigen Perspektiven 71

77 3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie 3.1 Platners und Reinholds philosophisches und persönliches Verhältnis 3.2 Anthropologische Synthese aller einseitigen vorkantischen Empfindungskonzeptionen 84 3.2.1 Platners philosophische Ansätze vor dem Hintergrund seiner Denkentwicklung 84 3.2.2 Über die Dynamik zwischen Empfindungen und evaluativen Urteilen 3.2.3 Der Trieb des Lebens und seine Triebkomponenten 95 3.2.4 Platners Kritik an älteren Vergnügenskonzeptionen im Vergleich zur Vergnügensschrift 98

78

88

XII

Inhalt

4

Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der 103 Triebe 4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft 105 4.1.1 ‚Lust‘ versus ‚Vergnügen‘ und triebabhängige Interesselosigkeit 105 116 4.1.2 Über die Arationalität des Schönen 4.1.3 Auf der Suche nach einem ersten Grundsatz der Geschmackskritik 124 4.1.4 Die starke und leichte Beschäftigung im Verhältnis zum freien 129 Spiel 4.1.5 Vollkommenheit ganz ohne Begriff und Zweck 142 145 4.2 Reinholds Triebtheorie 4.2.1 Triebe nach Stoff und Form der Vorstellung 145 4.2.2 Anwendung der Triebtheorie auf das ästhetische Vergnügen mit 151 Berücksichtigung Kants 4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich 157 4.3.1 Reinholds und Platners Vergnügenskonzeptionen im Vergleich 157 164 4.3.2 Reinholds und Platners Trieblehren im Vergleich 5

Fazit

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Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

175 185

187

1 Einleitung und Problemstellung Karl Leonhard Reinhold (* 26 Oktober 1757 in Wien; † 10. April 1823 in Kiel) ist vielen philosophiehistorisch Interessierten nur als Popularisator der kritischen Philosophie Immanuel Kants (1724 – 1804) und als Systemtheoretiker bekannt, der die Prämissen und Resultate jener Philosophie auf Basis von selbstevidenten Bewusstseinstatsachen neu fundieren wollte, wodurch er entscheidende Anregungen zur Entwicklung des Deutschen Idealismus lieferte. Mittlerweile ist in Fachkreisen aber auch bekannt, dass Reinholds philosophisches Schaffen bei weitem über die hier genannten Verdienste hinausreicht. Zu verdanken ist dies sicherlich dem vermehrten Forschungsinteresse, das seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu verzeichnen ist, welches ab den Neunzigerjahren an Fahrt aufgenommen hat und bis zum heutigen Tag beständig fortdauert. So gab es in den letzten fünfzig Jahren fast viermal so viele Publikationen, in denen Reinholds Entwürfe nennenswert thematisiert werden, als in den hundertachtzig Jahren davor.¹ Durch diese Bemühungen konnte entgegen der Behauptung, dass der Wert der Reflexionen Reinholds ausschließlich im Theoretischen liege – welche etwa von dem im 19. Jahrhundert wirkenden Philosophiehistoriker Johann Eduard Erdmann und dem ersten bedeutenden Reinholdexperten des 20. Jahrhunderts Alfred Klemmt vorgebracht wurde² –, gezeigt werden, dass seine Überlegungen zu Themen der praktischen Philosophie nicht zu unterschätzen sind. Dies wurde bisher hauptsächlich – wenn auch keineswegs erschöpfend – bezüglich der Moral- und Rechtsphilosophie erwiesen.³ Im Verhältnis dazu wurde Reinholds Denken zu ästhetischen Belangen oder naheverwandten Themen bislang noch seltener Aufmerksamkeit gewidmet.⁴ Dieses Ungleichgewichtigkeit scheint ungerechtfertigt zu sein, vor allem wenn man seine frühe Schaffensperiode in Betracht zieht, während

1 Vgl. Bondeli, Martin et al.: Karl Leonhard Reinhold. Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe. Forschung. URL: https://klreinhold.ch/index.php/bibliographie/forschung (zul. einges. am 26.12. 2022). 2 Vgl. Vgl. Erdmann 1848, 469 f. Vgl. Klemmt 1958, 465. 3 Will man sich über die ethischen und metaethischen Reflexionen Reinholds einen Überblick verschaffen, so ist sicherlich der zweite Band der Reihe Reinholdiana eine gute erste Anlaufstelle. (Siehe Bondeli/Heinz/Stolz (Hrsg.) 2012) Darüber hinaus gibt es aber auch eine Vielzahl von erwähnenswerten Artikeln die außerhalb dieses Bandes erschienen sind, wie etwa von Michael Gerten, Günter Zöller, Wolfgang Kersting und Martin Bondeli. (Siehe Gerten 2003; Zöller 2005; Kersting 2008; Bondeli 2019 a) 4 Eine Ausnahme hierzu stellen z. B. die Aufsätze dar, die Bondeli erst in den letzten Jahren veröffentlich hat. (Bondeli 2016, 2019 b, 2020) Auf andere wichtige Publikationen werden wir noch zu sprechen kommen. https://doi.org/10.1515/9783111347875-003

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1 Einleitung und Problemstellung

der er sich intensiv mit ästhetischen Problemen oder solchen, die mit diesen Problemen zumindest mittelbar zusammenhängen, immer wieder in Form von kleineren Aufsätzen, Rezensionen und sogar einzelnen Kapiteln größerer Werke auseinandergesetzt hat. Mit dem Jahr 1784 setzte für den aus Wien geflohenen Ex-Priester, Freimaurer und Illuminat Reinhold eine neue Phase seines Lebens ein. Der zum ‚Viergestirn‘ der Weimarer Klassik zählende Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) nahm ihn in seinem Haus auf; noch im selben Jahr wurde er für dessen Literaturzeitschrift, den Teutschen Merkur, als Redakteur und Autor tätig, ein Jahr später wurde er dessen Schwiegersohn. Ursprünglich angeregt durch eine Kontroverse zwischen Kant und Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), in der Reinhold auf Seiten des letzteren federführend involviert war, widmete er sich ab Herbst 1785 dem Studium der kritischen Philosophie – insbesondere der Kritik der reinen Vernunft (KrV).⁵ Schon bald darauf entwickelte er sich zu einem feurigen Verfechter dieser neuen Art zu philosophieren, welche für sein Denken über zehn Jahre hinweg maßgeblich sein sollte und die ihn zunächst dazu veranlasste das ‚Bedürfnis einer Kritik der reinen Vernunft‘ einem breiten Publikum näherzubringen. Dieses Vorhaben realisierte er in einer im Teutschen Merkur von August 1786 bis September 1787 erschienen Serie von Briefen über die Kantische Philosophie ⁶, in welcher er die Resultate der KrV mit den damals vorherrschenden geistigen und kulturellen Belangen ins Verhältnis brachte.⁷ Hauptsächlich aufgrund des enormen Erfolgs der Briefe erlangte Reinhold 1787 eine Professur an der Universität Jena und avancierte durch seine dortige Tätigkeit in den Augen seiner Zeitgenossen zu einem ausgezeichneten Kant-Kenner. Bis zu seinem Ruf an die Uni-

5 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Jens Timmermann (Hrsg.). Hamburg 1998. Im Folgenden nach der Paginierung der ersten Auflage 1781 (A) u. der zweiten Auflage 1787 (B) zitiert als „KrV“. Hier: KrV, A320/B376. Wie Reinhold in einem Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 bekundet, gab es aber auch noch andere Anstöße zu seiner eingehenden Beschäftigung mit der KrV. (Vgl. KA 1, 271 f.) 6 Reinhold, Karl Leonhard: Briefe über die Kantische Philosophie. In: Der Teutsche Merkur, August 1786, 99 – 141; Januar 1787, 3 – 39; Februar 1787, 117– 142; Mai 1787, 167– 185; Juli 1787, 67– 88; August 1787, 142 – 165; September 1787, 247– 278. Im Folgenden zitiert als „Merkur-Briefe“. 7 Demgemäß schreibt Reinhold in einem Anfang November 1786 verfassten Brief an Christian Gottlob von Voigt (1743 – 1819) – dem damaligen Weimarischen Staatsminister und Kurator der Universität Jena –, dass es ihm mit den Briefen darum ging, „die auffallendsten Resultate d. K. d. V. auszuheben, und dieselben mit […] den dringensten wissenschaftlichen, und moralischen Bedürfnissen unsrer Zeit hergenommenen Gründe vorzutragen“, sowie „die inneren Gründe […] des kantischen Systems […] für ungeübtere Denker durch Styl und Sprache anlockender zu machen.“ (KA 1, 153)

1 Einleitung und Problemstellung

3

versität Kiel 1794 erfreute er sich unter seiner Hörerschaft größter Beliebtheit.⁸ Die meisten, denen Reinhold heutzutage noch ein Begriff ist, kennen aus dieser Schaffensperiode seine eigenständigen Systementwürfe, die als ‚Philosophie ohne Beynamen‘ oder ‚Elementarphilosophie‘ bekannt wurden, welche er in seinem elementarphilosophischen Hauptwerk, dem 1789 erschienen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (Versuch)⁹, den zwei Bänden der Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen ¹⁰ von 1790/1794 sowie der 1791 veröffentlichten Abhandlung Ueber das Fundament des philosophischen Wissens ¹¹ entfaltete.¹² Zwischen den Briefen über die Kantische Philosophie und jenen Schriften, welche vor allem für den theoretischen und praktisch-ethischen Teil der Elementarphilosophie relevant sind, hat sich Reinhold aber auch ästhetischen Themen zugewandt. Bereits die von ihm am 22. Oktober 1787 gehaltenen Antrittsrede für seine Jenaer Professur, welche im Februar 1788 im Teutschen Merkur unter dem Titel Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der

8 Reinholds Sohn Ernst (1793 – 1855) beschreibt in der Biographie seines Vaters dessen Wirkung und Ansehen in Jena wie folgt: „Sein Name wurde in kurzer Zeit als einer der glänzendsten unter den damaligen Coryphäen der Universität genannt, deren litterarisches Verdienst ihr eine bedeutende Frequenz verschaffte. Es dauerte nicht lange, so strömten hierher von allen Seiten Deutschlands, selbst aus den entferntesten Gegenden, studirende Jünglinge und zum Theil auch Männer, die ihre academische Studien schon vollendet hatten, um durch seine Vorträge in das Verständniß der neuen Lehre [sc. kritische Philosophie] eingeweiht zu werden, die mit dem Zauber seiner Beredsamkeit dargestellt und durch seine persönliche Würde empfohlen unwiderstehlich ihrer Köpfe und Herzen sich bemächtigte. […] Tausende haben es ihm gedankt, daß der lautre Geist seines Unterrichtes veredelnd ihr Innres ergriffen, daß er in ihnen ein neues besseres Leben geweckt.“ (Reinhold, Ernst: Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn. Jena 1825. Im Folgenden zitiert als „Reinholds Leben“. Hier: 48) 9 Reinhold, Karl Leonhard: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789. Im Folgenden zitiert als „Versuch“. 10 Reinhold, Karl Leonhard: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Bd. 1, das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. Jena 1790. Im Folgenden zitiert als „Beyträge I“. Reinhold, Karl Leonhard: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Bd. 2, die Fundamente des philosophischen Wissens, der Metaphysik, Moral, moralischen Religion und Geschmackslehre betreffend. Jena 1794. Im Folgenden zitiert als „Beyträge II“. 11 Reinhold, Karl Leonhard: Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens. Jena 1791. Im Folgenden zitiert als „Fundamentschrift“. 12 Vgl. Bondeli 2007, XVI ff.; XL ff.Vgl. Bondeli 2015, 116 ff.Vgl. Naschert 2015, 129 ff.Vgl. Onnasch 2010, LXXXII f.

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1 Einleitung und Problemstellung

Sitten ¹³ abgedruckt wurde, deutet darauf hin. Das Leitthema ‚Geschmack‘ kommt nicht von ungefähr. Denn etwa ein Drittel der Lehrtätigkeit unseres Elementarphilosophen war ästhetischen Themen gewidmet. Von 1787 bis 1790 hielt er mit nur einer Ausnahme halbjährlich ein Privatissimum über Ästhetik ‚nach Eberhards Leitfaden und Zusätzen‘, bei denen es sich um eigens angestellte vergnügens- und triebtheoretische Überlegungen handelte;¹⁴ ab 1791 bis 1793 las er zunehmend auf Basis eigener Ansätze. Überdies trug er mit dem Anspruch, eine poetologisch-philosophische Textanalyse zu liefern, von 1788 bis 1789 insgesamt drei Semester öffentlich über Wielands Oberon ¹⁵ vor, was einer Pionierleistung in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft gleichkommt.¹⁶ Wie Reinhold seinem Schwiegervater berichtet, stieß die Vorlesungsreihe an der rund achthundert Studierende zählenden Universität auf ein derart großes Interesse, dass der geräumige Hörsaal die eintreffende Hörerschaft von über vierhundert Personen nicht zu fassen vermochte; die sich breitmachende Begeisterung sei außerordentlich gewesen.¹⁷ Die Eröffnungsrede dieser Vorlesungen erschien Mai 1788 im Teutschen Merkur unter dem Titel Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studierende. ¹⁸ Aber auch die vorhin erwähnten Zusätze zu Reinholds Privatissimum fanden – abermals durch den Teutschen Merkur –

13 Reinhold, Karl Leonhard: Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten. Aus einer akademischen Antrittsrede. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1788, 167– 183. Im Folgenden zitiert als „Geschmacksschrift“. 14 Vgl. KA 1, 313; 313, Anm. 16. Mit Johann August Eberhards (1739 – 1809) Leitfaden ist dessen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, zum Gebrauch seiner Vorlesungen gemeint. (Eberhard, Johann August: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. 2., verbesserte Aufl. Halle 1786) 15 Wieland, Christoph Martin: Oberon. Ein Gedicht in Vierzehn Gesängen. Weimar 1780. 16 Vgl. Nowitzki 2010, 7 f.; 19; 23 f.; 27 f. 17 Das „Auditorium war viel zu enge – Niemand konnte sitzen – man stand nicht nur dicht auf den Fußboden sondern auch auf den Tischen, den Sitz- und Schreibbänken, und hockte sogar auf dem Offen – Die Fester von aussen herein (: denn es ist Parterre :) waren angefüllt, und über ein halbes Hundert mußten zurückkehren, weil sie nicht kommen konnten – und doch waren wohlgezählt über 400 im Saale.“ (KA 1, 360) „Die Symptomen an der ganzen Versammlung waren ausserordentlich – wir alle waren gerührt, durchdrungen, erschüttert. Dieß Gefühl hatte ich mir noch nie auch nur im Traume vorkommen lassen. […] Die jungen Leute waren so voll des Gehörten, daß die ganze Woche her fast nichts als Oberon der Inhalt ihrer Gespräche war. Die ganze Gasse vor Döderleins Wohnu[n]g blieb eine gute Weile nach der Vorlesung ganz dicht angefüllt, und man machte Anstalt mir ein lautes Vivat zu bringen, welches mich in Verlegenheit gesetzt haben würde wenn ich ihm nicht durch die Flucht entgangen wäre.“ (KA 1, 363) 18 Reinhold, Karl Leonhard: Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studierende. In: Der Teutsche Merkur, Mai 1788, 385 – 404. Im Folgenden zitiert als „Oberon-Eröffnungsrede“.

1 Einleitung und Problemstellung

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zwischen Oktober 1788 und Januar 1789 als Ueber die Natur des Vergnügens (Vergnügensschrift)¹⁹ ihren Weg in die Öffentlichkeit.²⁰ Eine Auseinandersetzung mit dem Wesen des Vergnügens, des Angenehmen oder der Empfindung im Allgemeinen und deren Funktion im menschlichen Dasein, einschließlich des ästhetischen Erlebens, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit, wie etwa die Schriften Gedanken über die Natur des Vergnügens ²¹ von Pietro Verri (1728 – 1797), Philosophische Gespräche über das Vergnügen ²² von August Wilhelm Rehberg (1757– 1836) und Vom Vergnügen ²³ in zwei Bänden von Peter Villaume (1746 – 1825) hinlänglich bezeugen. Berücksichtigt man über den Titel hinausgehend auch den Inhalt verschiedener ästhetischer Werke, dann könnten hier viele weitere erwähnt werden. Selbst Kants vorkritische Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen ²⁴ von 1764 kann als ein Beispiel angeführt werden, da er dort unter Berücksichtigung anthropologischer Überlegungen detailreiche Beschreibungen ästhetischer Phänomene vorlegt und dabei die Bezeichnungen ‚Rührung‘ und ‚Reiz‘ nicht scheut, welche er viele Jahre später zum Vergnügen rechnen wird.²⁵ Zugegebenermaßen zählte die Ästhetik nicht zu Reinholds Hauptinteressen. Denn wie er etwa im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens über seinen eigenen philosophischen Werdegang vor 1785 berichtet, war für den zu diesem Zeitpunkt gerade einmal Achtundzwanzigjährigen „zehn Jahre hindurch […] speculative [bzw. theoretische] Philosophie sein Hauptstudium gewesen, dem er seine Verwendung auf […] schöne Wissenschaften mit einer Art von Gewissenhaftigkeit unterordnete.“ (Versuch, 51) Vergessen darf dabei aber nicht werden, dass nach Reinholds eigenem Bekunden „die philosophische Kritik des Geschmackes, welcher er sehr frühzeitig zum Vortheil seiner Lieblingsneigung für Dichtkunst oblag, […] ihn unvermerkt auf

19 Reinhold, Karl Leonhard: Ueber die Natur des Vergnügens. In: Der Teutsche Merkur, Oktober 1788, 61 – 79; November 1788, 144 – 167; Januar 1789, 37– 52. Im Folgenden zitiert als „Vergnügensschrift 1788/1789“. 20 Vgl. Kim 2004, 270 ff. 21 Verri, Pietro: Gedanken über die Natur des Vergnügens. Aus dem Italienischen übersetzt, und mit Anmerkungen begleitet. Christoph Meiners (Hrsg.). Leipzig 1777. Im Italienischen Original: Verri, Pietro: Idee sull’indole del piacere. Milano 1774. Im Folgenden zitiert als „Idee“. 22 Rehberg, August Wilhelm: Philosophische Gespräche über das Vergnügen. Nürnberg 1785. 23 Villaume, Peter: Vom Vergnügen. Bd. 1. Tübingen 1788; Bd. 2. Tübingen 1788. 24 GSE AA II, 205 – 256. In: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Bd. 1 – 22. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.), ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.). Berlin 1900 ff. Einzelwerke werden im Folgenden zitiert als „Siglum AA Bd.-Nr.“. 25 Vgl. GSE AA II, 209 ff.

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1 Einleitung und Problemstellung

das Gebieth der speculativen Philosophie“ (Versuch, 52 f.) verleitete.²⁶ In Weimar und Jena fanden diese Anlagen und frühen Tendenzen unseres Elementarphilosophen ihren gehörigen Nährboden. Dies nicht zuletzt, weil er sich durch Wieland in die entsprechenden Kreise versetzt sah, in denen keine geringeren als Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), der bereits erwähnte Herder und der etwas später hinzukommende Friedrich Schiller (1759 – 1805) verkehrten. Weniger bekannt, aber für Reinholds akademisches Wirken ungleich wichtiger, war Christian Gottfried Schütz (1747– 1832), der sich in Jena als Professor für Dichtkunst und Beredsamkeit sowie als Redakteur und Autor der Allgemeinen Literatur-Zeitung – die zur damaligen Zeit zu den einflussreichsten deutschsprachigen Rezensionsorganen zählte – einen Namen machte. Da er 1781 die drei ersten Einheiten seiner Vorlesungsreihe ‚Theorie der Dichtkunst‘ zur Würdigung Gotthold Ephraim Lessings (1729 – 1781) abhielt – wodurch sich die Jenaer Studenten- und Belegschaft mit größer angelegten Vorlesungsreihen, wie die über Oberon, familiarisierte –, bereits ab 1784 als Beförderer der Philosophie Kants zugange war und er sich durch seine Bemühungen maßgeblich daran beteiligte, dass dessen Lehre 1785 als eigenständiges Unterrichtsgebiet an der Universität Jena verankert wurde, ebnete er Philosophen wie Reinhold im universitären Bereich den Weg.²⁷ Vor diesem Hintergrund war es geradezu selbstverständlich, dass Reinhold der von Schütz ausgesprochenen Forderung, die Dozenten mögen auch germanistische Lehrveranstaltungen anbieten, nachgekommen ist.²⁸ Zweifelsohne haben vornehmlich Wieland und Schütz wesentlich dazu beigetragen, dass Reinholds philosophische Domäne in seinen Weimarer und Jenaer Jahren – über das Gewöhnliche hinaus – mit ästhetischen Inhalten bereichert wurde. Über all diesen Vorgängen schwebte der grandiose Geist Kants, der selbst ab Mitte 1787 in Königsberg das Ästhetische seiner Transzendentalphilosophie einzuverleiben suchte, wie aus seinem Brief vom 25. Juni 1787 an Schütz hervorgeht.²⁹ Spätestens zu diesem Zeitpunkt war in Jena bekannt, dass das Gebiet des Natur- und Kunstschönen auch auf dem Feld der kritischen Philosophie erschlossen werden muss.³⁰ Auch Reinhold und Kant standen ab Ende 1787 mit-

26 Wie Reinholds Sohn Ernst berichtet, hat sich sein Vater Zeit seines Lebens insbesondere für die englischsprachige Literatur begeistert. (Vgl. Reinholds Leben, 16 f.) 27 Vgl. Schröpfer 2003, 6; 87; 198; 285 ff. Vgl. Schröpfer 1995, 15; 21. 28 Vgl. Nowitzki 2010, 16. 29 Denn wie wir dort lesen können, geht Kant „alsbald zur Grundlage der Kritik des Geschmacks“ (Br AA X, 490) über. 30 Dies war nämlich keineswegs abzusehen, denn gemäß der Kritik der reinen Vernunft liegt der Bezeichnung ‚Ästhetik‘ für die Kritik des Geschmacks „eine verfehlte Hoffnung zum Grunde“, insofern man „die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die

1 Einleitung und Problemstellung

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einander in Korrespondenz, die sich in ihrer Frühphase durch eine ihresgleichen suchende Offenheit und Herzlichkeit auszeichnet. So teilte Kant Reinhold am 28./ 31. Dezember 1787 mit, dass er sich nun „mit der Critik des Geschmaks“ beschäftigt, „bey welcher Gelegenheit eine neue Art von Principien a priori entdeckt wird als die bisherigen“ (KA 1, 300), die sich von den ersten beiden Kritiken und also sowohl von denen der KrV als auch der Kritik der praktischen Vernunft (KpV)³¹ unterscheiden. Wie bekannt ist, ging aus diesen Überlegungen zur Geschmackskritik 1790 die Kritik der Urteilskraft (KdU)³² hervor. Nur kurze Zeit nach Kants Brief, am 19. Januar 1788, informierte Reinhold Kant darüber, dass er bereits dessen „Theorie der Sinnlichkeit und des Verstandes zur Ausfertigung einer wirklich neuen Theorie des Vergnügens benutzt“ und seinen „Vorlesungen über die sogenannte Aesthetik vorausgeschickt, und in Aphorismen diktiert“ (KA 1, 313) hat. Dass Reinhold mit dieser neuen Theorie des Vergnügens nicht nur auf die sogenannten Zusätze zu seinem Privatissimum rekurriert, sondern auch auf seine Vergnügensschrift vorverweist, zeigt sich daran, dass in seinem Brief an Kant – bis auf zwei Ausnahmen – bereits all diejenigen Philosophen erwähnt werden, auf denen in jener Schrift ein besonderes Augenmerk liegt.³³ Dieser Brief wird von uns aber nicht nur deshalb angeführt, sondern vor allem, weil er über Reinholds Motive hinter seinen vergnügenstheoretischen Reflexionen Aufschluss gibt. Unserem Elementarphilosophen schwebte nichts Geringeres vor als Kants Kritik des Geschmacks – zumindest teilweise – zu antizipieren, um somit selbst ein kleines Stückchen Transzendentalphilosophie im Sinne des Meisters zu schaffen. Unter Erwähnung zentraler Theoretiker und ihrer Grundthesen – mit denen wir uns später noch genauer auseinandersetzen werden – skizziert Reinhold zugleich das Grundgerüst seiner eigenen Überlegungen: Daß ich […] Ihre Meynung wenigstens zum Theil getroffen haben müsse, schliesse ich daraus, weil mein Versuch die verschiedenen Meynungen über die Natur des Vergnügens z. B. die von

Regeln derselben zu Wissenschaft zu erheben“ (KrV, A 21/ B 35 Anm.) sucht. In der im Spätfrühling 1787 veröffentlichten B-Auflage der KrV gibt Kant aber bereits Hinweise auf veränderte Ansichten. Z. B. schränkt er im Vergleich zur 1781 puplizierten A‐Auflage seine Aussage, dass ästhetische Regeln keine apriorischen Gesetze sein können, mit der Beifügung ein, dass es sich dabei nur um ‚bestimmte‘ Gesetze a priori handelt. (Vgl. KrV, A 21/ B 35 Anm.) 31 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Karl Vorländer (Hrsg.). Hamburg 1990. (= Philosophische Bibliothek. 38) Im Folgenden zitiert als „KpV“. 32 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Karl Vorländer (Hrsg.). Hamburg 1968. (= Philosophische Bibliothek. 39 a) Im Folgenden zitiert als „KdU“. 33 Vgl. KA 1, 313 f. Vgl. Vergnügensschrift 1788, 61 f.

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Dü Bos der das Verg. [sc. Vergnügen] aus der leichten und starken Beschäftigung der Grundkraft, die von Wolf der es aus der undeutlichen Vorstellung der Vollkommenheit, – die von Mendelsohn, der es aus der Vorstellung der Vollkommenheit an sich selbst mit Protestation gegen die wesentliche Undeutlichkeit, die von Sulzer der es aus der Denkkraft oder Spontaneität der Seele – die von Helvetius und den Epikuräern die es aus der sensibilité physique erklären – auf das Natürlichste vereinigt. (KA 1, 313 f.)

Durch diesen Anspruch wird deutlich, welche Bedeutung Reinhold seiner Ende 1788 und Anfang 1789 veröffentlichten Schrift Ueber die Natur des Vergnügens zuschreibt. Erstaunlich mutet es deshalb an, dass wir darin keine ausgearbeitete ästhetische Theorie vorfinden. Denn neben durchaus vorhandenen Ausführungen, die auf eigenständige und originelle Ansätze deuten, beinhaltet die Vergnügensschrift in erster Linie nicht viel mehr als eine kritische Auseinandersetzung mit einigen klassischen Positionen, welche in dem vergnügenstheoretischen Diskurses des 18. Jahrhunderts prominent vertreten wurden. Vor dem Hintergrund dieser Umstände lässt sich folgende übergeordnete Forschungsfrage formulieren: Worin besteht Reinholds eigenständige – von der Kritik der Urteilskraft noch unbeeinflusste – Vergnügenstheorie und wie lässt sie sich im Diskurs der damaligen Zeit verorten? Diese Problemstellung lässt sich in mehreren Hinsichten spezifizieren, wenn man verschiedene Faktoren miteinbezieht. In der Vergnügensschrift werden insgesamt fünf Theorien einander gegenübergestellt, von denen vier die Natur des Vergnügens von unterschiedlichen, aber grundsätzlich miteinander vereinbaren Standpunkten aus beleuchten. Zu den Ästhetikern der ersten Herangehensweise, welche bloß die subjektiven Aspekte des Vergnügens berücksichtigen, gehört laut Reinhold einerseits der Abbé Jean-Baptiste Dubos (* 1670 in Beauvais; † 1742 in Paris), der als der Begründer und wichtigste Vertreter der sogenannten Empfindsamkeit gilt, die sich insbesondere durch eine Ablehnung des Rationalismus und die positive Wertung von Gefühlen auszeichnet, und andererseits Louis-Jean Lévesque de Pouilly (* 1691 in Reims; † 1750 in Paris), der Philosophie und Literatur in Paris studierte und assoziiertes Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres war. Zu den Philosophen des zweiten Blickwinkels, welche den objektiven Aspekten des Vergnügens eine große Bedeutung zuschreiben, zähle erstens Christian Wolff (* 1679 in Breslau; † 1754 in Halle), der allgemein als der Systematisierer der Leibniz’schen Philosophie und als einer der zentralen Denker des Rationalismus bekannt ist, und zweitens Moses Mendelssohn (* 1729 in Dessau; † 1786 in Berlin), der nicht nur als eine zentrale Figur der jüdischen Aufklärung gilt, sondern auch darum bemüht war die rationalistische Lehre in ästhetischen Belangen weiterzuentwickeln und dabei vermittelst Lessings zu einem der einflussreichsten Kritiker der deutschen Literatur avancierte. Die dritte Grundgesinnung, die beim

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Vergnügen aktive Kräfte beteiligt sieht, nehme Johann Georg Sulzer (* 1720 in Winterthur; † 1779 in Berlin) ein, der wesentlich von Wolff beeinflusst war und in Berlin eine Professur für Philosophie sowie die Position des Direktors der dortigen philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften innehatte. Die vierte Geisteshaltung, welche das Vergnügen auf Passivität zurückführt, finde in Claude-Adrien Helvétius (* 1715 in Paris; † 1771 ebenda) einen Befürworter, der sich für religiöse Toleranz und die Gleichstellung aller Menschen einsetzte und einem Sensualismus und Materialismus zuzuordnen ist. Diese Positionen der verschiedenen Gewichtung subjektiver, objektiver, aktiver und passiver Aspekte des Vergnügens werden von Reinhold auch als die ‚vier einseitigen Systeme‘ bezeichnet.Von ihnen unterscheidet er eine fünfte, die alle anderen Perspektiven angemessen berücksichtigt und von Ernst Platner (* 1744 in Leipzig; † 1818 ebenda), einem Professor der Medizin, Physiologie und Philosophie an der Universität Leipzig (zu dem es ohnehin später noch einiges zu sagen geben wird), eingenommen werde.³⁴ Auch wenn die hier beschriebene Gegenüberstellung auf den ersten Blick bloß wie eine philosophiegeschichtliche Problematisierung von unterschiedlichen vergnügenstheoretischen Positionen wirkt, so zeigt sich bereits bei einer etwas intensiveren Beschäftigung mit der Vergnügensschrift, dass Reinhold diese philosophische Methode letztendlich zum Zweck einer Profilierung seiner eigenen Vergnügenskonzeption verwendet. Diese Zusammenhänge bedenkend stellt sich die Frage: I. Welche Kritik übt Reinhold an den in der Vergnügensschrift behandelten philosophischen Ansätzen, was hebt er an ihnen positiv hervor und was lässt sich daraus an Informationen über seine eigene Vergnügenskonzeption gewinnen? Eine inhärente Schwierigkeit von Reinholds Ausführungen besteht darin, dass er trotz der unverkennbar vorliegenden Anerkennung der Leistungen Platners auf dessen philosophische Überlegungen nirgendwo eingeht. An der Stelle der Vergnügensschrift, wo eine Erläuterung und kritische Würdigung der wichtigsten philosophischen Beiträge Platners zu erwarten wäre, herrscht schweigende Stille. Diesem Versäumnis, das von Reinhold niemals behoben wird, werden wir in mehr als nur einer Hinsicht nachzugehen haben. Denn Platner hebt sich von den Philosophen der ‚vier einseitigen Systeme‘ auch dadurch ab, dass Reinhold kurzweilig zu seinen Hörern zählte und die beiden für einige Jahre in einem freundschaftlichen 34 Vgl. Haakonssen (Hrsg.) 2006: 1165 f.; 1179; 1203; 1209; 1223 f.; 1233 f. Vgl. Vergnügensschrift 1788, 61 f.; 67 ff.; 144 ff. Vgl. Vergnügensschrift 1789, 37 ff.; 47 ff.; 51. Am Anfang der Vergnügensschrift führt Reinhold die Position Sulzers eigentlich erst an vierter Stelle an – und Helvétius somit auf Nummer drei –, aber da es dem gesamten Aufbau der Vergnügensschrift besser entspricht – Sulzer wird de facto vor Helvétius behandelt –, haben wir diese – an sich bedeutungslose – Anordnung vertauscht.

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Verhältnis zueinander standen, das sich jedoch im Laufe der Zeit zunehmend verschlechterte. Auf Basis einer Analyse der relevanten Textstellen bei Platner muss erwogen werden: II. Was für eine Bedeutung kommt Platner für Reinholds eigene Theorie zu? Haben seine philosophischen Reflexionen einen größeren positiven Einfluss auf Reinhold als Kant und die anderen in der Vergnügensschrift diskutierten Philosophen? Reinhold unterfüttert seine Theorie des Vergnügens mit triebtheoretischen Reflexionen, die wegen ihrer Elaboriertheit sogar als eine eigene Theorie der Triebe gelten können. Damit steht unser Elementarphilosoph keineswegs alleine da, weil auch Platners praktische Philosophie Überlegungen zu einer eigenen Trieblehre bereithält. Dementsprechend wird eine zufriedenstellende Antwort auf die Fragen nach dem Sachgehalt der Reinhold’schen Vergnügenstheorie und der Bedeutung, welche Platners Ausführungen für dieselbe haben, nicht nur die Triebtheorien der beiden Philosophen, sondern auch etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede angemessen in Erwägung ziehen. Es tut sich die Frage auf: III. Welche Funktion hat Reinholds Trieblehre in Bezug auf seine allgemeine Theorie des Vergnügens und welche Einflüsse sind hier von Seiten Platners zu verzeichnen? Wie die meisten anderen Philosophen des 18. Jahrhunderts interessierte sich Reinhold neben seiner Beschäftigung mit der philosophischen Kunstkritik auch für das ästhetische Erleben der Natur. Es greift hier aber nicht nur unser zeitgenössisches Verständnis der Ästhetik im Sinne einer Philosophie der Künste zu kurz. Denn wie schon der Titel ‚Über die Natur des Vergnügens‘ vermuten lässt, geht es Reinhold nicht primär um die Wesensbestimmung einer besonderen Art des Vergnügens und also weder ausschließlich um die Lust am Schönen und Erhabenen noch um das Vergnügen am sittlich guten Denken und Handeln allein, sondern um das ‚Vergnügen überhaupt‘ – d. h. um die Gattung, die allen Arten der positiven Empfindungen gleichermaßen zukommt.³⁵ Erst auf Basis des durchgängig bestimmten Gattungsbegriffs sollten dann die Artunterschiede ermittelt werden, wie etwa, was den Genuss bzw. das physische Vergnügen oder die ästhetischen Lust im Besonderen ausmacht. Aus diesem Grund gilt es der Frage nachzugehen: IV. Was lässt sich aus Reinholds sehr allgemein gehaltenen vergnügenstheoretischen Ausführungen neben deren Relevanz für die Ethik insbesondere für ästhetische Belange gewinnen?

35 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 164.

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Da Reinhold sich mit dem Erscheinen der Briefe über die Kantische Philosophie öffentlich zur kritischen Philosophie bekannte, ist natürlich auch der Einfluss, den dieselbe auf ihn ausübte, zu berücksichtigen. Es wird hinlänglich deutlich werden, dass seine vergnügens- und triebtheoretischen Überlegungen stark von den zwei ersten Kritiken beeinflusst wurden. Weil Reinhold aber nicht nur den Ansatz verfolgte, auf seine eigene Art und Weise kantisches Gedankengut in bis dato unerschlossenen Bereichen fruchtbar zu machen, sondern sogar eine Geschmackskritik im Sinne Kants und damit wesentliche Teile der Kritik der Urteilskraft vorwegzunehmen gedachte, gilt es ferner zu untersuchen, ob dieses Vorhaben geglückt ist. Auch wenn wir nicht beabsichtigen einen systematischen Vergleich zwischen den beiden Philosophen anzustellen, so muss nichtsdestotrotz ergründet werden: V. Gelingt es Reinhold seinen Anspruch einzulösen, die Geschmackskritik Kants zumindest teilweise zu antizipieren? Die hier aufgelisteten Fragestellungen sind derart miteinander verwoben, dass es hinderlich wäre, ihnen schrittweise und gesondert nachzugehen. Obwohl es in einzelnen Kapiteln und Abschnitten gewisse Fokussierungen geben wird, werden uns die aufgeworfenen Probleme über die gesamte Studie hinweg begleiten. Erst im Fazit sollen sie hinsichtlich der Ergebnisse unserer philosophischen Investigation überblicksartig beantwortet werden. Nun noch einige Worte zur wichtigsten Primär- und Sekundärliteratur sowie zum allgemeinen Aufbau der Studie. Weil es uns im Wesentlichen um eine Rekonstruktion von Reinholds Vergnügenstheorie und Trieblehre und deren Relevanz für die Ästhetik gehen wird, die von Kants Kritik der Urteilskraft unbeeinflusst ist, kommen unweigerlich nur diejenigen seiner Schriften in Frage, welche vor Ostern 1790 – dem Veröffentlichungsdatum der KdU ³⁶ – erschienen sind oder sich bereits davor im Druck befanden (nichtsdestotrotz werden wir den einen oder anderen Vergleich zwischen den frühen und späteren Schriften anstellen).³⁷ Dies ist keineswegs irre-

36 Vgl. Vorländer 1968, XII. 37 Die von Kant wegen ihres Umfangs verworfene sogenannte ‚erste Einleitung der KdU‘ muss in dem eben genannten Zusammenhang hingegen gar nicht berücksichtigt werden. Anders als Paul Guyer in seinem Standardwerk A History of Modern Aesthetics anmerkt (Siehe Guyer 2014, 427), stammt die erste Einleitung nämlich nicht aus dem Jahr 1789, sondern wurde Anfang 1790 verfasst. (Vgl. Lehmann 1970, IX) Veröffentlicht (und mit Veränderungen versehen) wurde sie aber erst 1794 durch Jacob Sigismund Beck (siehe Kant, Immanuel: Anmerkungen zur Einleitung in die Critik der Urtheilskraft. In: Beck, Jacob Sigismund: Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben. Bd. 2. Riga 1794, 541 – 590), der das Originalmanuskript von Kant 1793 erhielt. (Vgl. Br AA XI, 441) Zudem gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Reinhold vor seiner Lektüre der KdU irgendeine Version der ersten Einleitung kannte; anderenfalls würden seine Ausführungen weitaus stärker mit Kants eigenen Ansichten übereinstimmen.

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levant, da Reinhold drei der zentralen Primärquellen sechs Jahre nach dem Erscheinen der KdU neu publizierte. Die in empfindungstheoretischer Hinsicht wichtigste Abhandlung Ueber die Natur des Vergnügens, die zur Beantwortung der Frage nach der Anwendbarkeit derselben auf ästhetische Belange essentiellen Schriften Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten (Geschmacksschrift) sowie Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studierende (Oberon-Eröffnungsrede) wurden allesamt 1796 im ersten Teil der Auswahl vermischter Schriften ³⁸ inhaltlich verändert abgedruckt.³⁹ In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Text oder vielmehr ein Textabschnitt Beachtung finden: das erste Drittel des zweiten Briefes im ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie (Briefe I)⁴⁰, das sich dem Titel Bedürfniß einer obersten Regel des Geschmacks zuordnen lässt. Bei Briefe I handelt es sich um die zu Jubilate 1790 – dem dritten Sonntag nach Ostern – erschienene und beträchtlich erweiterte Neufassung der bereits erwähnten Merkur-Briefe. ⁴¹ Trotz dieses Veröffentlichungsdatums kommen Reinholds Ausführungen zu dem Bedürfnis einer Geschmacksregel für unsere Belange dennoch in Frage, weil dieselben bloß stilistisch revidiert bereits Anfang April 1790 im Neuen Teutschen Merkur als Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland ⁴² herausgegeben wurden. Zu guter Letzt ist auch noch der Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens zu berücksichtigen, da sich an dessen Schluss die sogenannten Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens befinden, in denen – obgleich ihrer Kürze – das Fundament des praktischen Teils der Elementarphilosophie in Form einer Triebtheorie entwickelt wird.⁴³ Die Primärliteratur unseres Unter38 Reinhold, Karl Leonhard: Auswahl vermischter Schriften. Bd. 1. Jena 1796. Im Folgenden zitiert als „Auswahl I“. 39 Vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Ueber die bisherigen Begriffe vom Vergnügen. In: Auswahl vermischter Schriften. Bd. 1. Jena 1796, 271 – 350. Im Folgenden zitiert als „Vergnügensschrift überarbeitet“. Vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten. In: Auswahl vermischter Schriften. Bd. 1. Jena 1796, 246 – 270. Vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Ueber den Zweck meiner öffentlichen Vorlesungen über Wielands Oberon. In: Auswahl vermischter Schriften. Bd. 1. Jena 1796, 181 – 207. 40 Reinhold, Karl Leonhard: Briefe über die Kantische Philosophie. Bd. 1. Leipzig 1790. Im Folgenden zitiert als „Briefe I“. 41 Vgl. Bondeli 2007, IX Anm. 4. 42 Reinhold, Karl Leonhard: Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland. Fortsetzung und Beschluß. In: Der neue teutsche Merkur, April 1790, 337– 378. 43 Vgl. Versuch, 560 ff. Nicht unerwähnt soll auch bleiben, dass es drei Mitschriften von Reinholds Ästhetikvorlesungen gibt, welche in die hier vorliegende Studie jedoch nicht eingeflossen sind, weil sie bisher noch nicht transkribiert wurden bzw. nicht zugänglich sind. Auch wenn die Authentizität solcher Mitschriften wesentlich von der Aufnahmefähigkeit und dem Talent der Hörer abhängt,

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fangens erstreckt sich selbstverständlich nicht bloß auf Reinhold, da es notwendig werden wird, zumindest auf die für die Vergnügensschrift relevanten Schriften von Dubos, Pouilly, Wolff, Mendelssohn, Sulzer, Helvétius und Platner einzugehen. Wo es günstig erschien, haben wir aber auch noch andere bedeutende Theoretiker des 18. Jahrhunderts miteinbezogen, deren Abhandlungen direkt eingeführt und unmittelbar diskutiert werden. Wie schon eingangs angedeutet wurde, hält sich das Forschungsinteresse zu Reinholds ästhetischen Ansätzen noch in Grenzen. Noch überschaubarer ist die darin mitenthaltene Sekundärliteratur zu Reinholds Vergnügenstheorie und Trieblehre, insofern die letztere zum Zweck der ersteren erforscht wird. Rund um das Thema Vergnügen, Geschmack und Triebe bei Reinhold wurden von Martin Bondeli, Silvan Imhof, Alessando Lazzari, Faustino Fabbianelli und Yun Ku Kim bereits bedeutende Zusammenfassungen, Analysen oder Kommentare vorgelegt.⁴⁴ In der folgenden Darstellung stützen wir uns natürlich auf alles, was von diesen Interpreten korrekterweise hervorgehoben wurde, werden jedoch aber auch auf einiges hinweisen, was bisher noch mehr oder minder unbeleuchtet blieb. Die einzelnen Beiträge werden von uns insbesondere dann diskutiert, wenn sich Differenzen in der Interpretation auftun. Was die Sekundärliteratur betrifft, die nicht unmittelbar mit Reinholds Philosophie zu tun hat, gilt dasselbe, was wir vorhin bereits über die dementsprechende Primärliteratur zum Ausdruck gebracht haben. Aufgrund der Signifikanz der Vergnügensschrift ist das erste thematische Hauptkapitel ganz einer Analyse derselben gewidmet, wobei unsere Ausführungen hauptsächlich auf eine Antwort zu Forschungsfrage I abzielen. Weil Platner in der Vergnügensschrift fast gänzlich unberücksichtigt bleibt, behandelt das zweite thematische Hauptkapitel dessen praktische Philosophie, mit einer ersten Annäherung an die Forschungsfragen II und III. In dem dritten thematischen Hauptkapitel versuchen wir eine Rekonstruktion von Reinholds Vergnügens- und Triebtheorie auf Basis der vorangegangenen Ausführungen und mit Fokussierung auf ästhetische Belange vorzunehmen. Zum Zweck einer Beantwortung der Forschungsfragen IV und V wird ein Vergleich von Reinholds Ausführungen mit der KdU vorzüglich dazu dienen, dieselben pointierter hervortreten lassen. Dabei wird sich aber auch herausstellen, in welchen Belangen Reinhold als ein Vorläufer Kants gelten kann. Eine Gegenüberstellung von Reinholds und Platners Theorien liefert die noch fehlenden Bausteine zu einer Beantwortung der Fragen II und III. wird ihre Veröffentlichung zweifellos ein neues Licht auf Reinholds Ästhetk werfen und zu einem noch tieferen Verständnis beitragen. 44 Siehe Bondeli 1994, 351 ff.; 359 ff.; 368 ff. Siehe Bondeli 2007, 259 ff. Siehe Bondeli/Imhof 2016, X f.; XII f.; XLVII ff.; LI ff.; LIV ff.; 227 ff.; 249 ff.; 259 ff. Siehe Lazzari 2005, 216 ff. Siehe Lazzari 2007, 310 ff.; 316 ff.; 323 ff. Siehe Fabbianelli 2003 a, LXXXIV ff. Siehe Kim 2004, 274 ff.; 279 ff; 289 ff.

2 Die Vergnügensschrift Unter Berücksichtigung, dass mit der Vergnügensschrift von 1788/89 der Anspruch verbunden ist, die sich noch in statu nascendi befindende Kritik der Urteilskraft auf Basis der damals bekannten Werke Kants prospektiv und mit eigenständigen Ideen zu erschließen, ist es wohl nicht zu viel behauptet, dass Reinholds Abhandlung als die wichtigste ästhetische Schrift seiner Jenaer Schaffenszeit gelten kann. Dies muss jedoch mit der Einschränkung versehen werden, dass die darin enthaltenen philosophischen Reflexionen das Wesen des Vergnügens im Allgemeinen betreffen und es also in erster Linie gar nicht darum geht, was etwa das Wohlgefallen am Schönen gegenüber anderen Formen der angenehmen Empfindungen auszeichnet. Obwohl der Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens erst nach der Vergnügensschrift erscheint, liegt den darin enthaltenen Grundbegriffen doch schon die im Versuch entfaltete Vorstellungstheorie zugrunde, da die beiden Schriften zeitlich und strukturell eng miteinander in Verbindung stehen.⁴⁵ Es lässt sich zeigen, dass die im Versuch präzise ausgearbeitete allgemeine Bewusstseins- und Vorstellungsstruktur bereits in der Vergnügensschrift als vermögenstheoretische Basis dient, die meistens zwar unter der Oberfläche verbleibt, aber an manchen Stellen auch explizit hervortritt.⁴⁶ Reinhold verwendet dort all diejenigen Termini, welche im Versuch eine zentrale Stellung einnehmen und mit einem ganz spezifischen Sinn verbunden sind – wie etwa ‚Vorstellung‘, ‚Stoff und Mannigfaltiges der Vorstellung‘, ‚Form und Einheit der Vorstellung‘, ‚Empfindung‘, ‚Rezeptivität‘, ‚Spontaneität‘, ‚innere und äußere Bedingung‘, ‚Vorstellungsvermögen‘ sowie ‚Erkenntnis- und Begehrungsvermögen‘.⁴⁷ Auch wenn es hier nicht die Aufgabe sein kann, die Bedeutung dieser Begriffe und deren Verhältnisse untereinander im Sinne der Elementarphilosophie zu erläutern, muss zumindest der zentralste unter diesen Begriffen im Verhältnis zum Vergnügen bestimmt werden, um grundsätzlichen Fehlinterpretationen vorzubeugen. Bei der Vorstellung handelt es sich nach Reinhold um das zwischen vorstellendem Subjekt und vorgestelltem Objekt vermittelnde repräsentationale Element jeglichen Bewusstseins, das sowohl für das sinnliche Erfassen als auch für das intellektuelle Verstehen von Sachverhalten sowie für das Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein unentbehrlich ist, aber keine dieser besonderen Arten, etwas vorzustellen, vollständig konstituiert.⁴⁸ Denn „jede Empfindung, jeder Gedanke,

45 46 47 48

Vgl. Bondeli/Imhof 2016, XLVII; LIV. Vgl. Lazzari 2005, 213; 216; 220 f. Vgl. Vergnügensschrift 1788, 63 ff.; 76 f.; 156 ff. Vgl. Vergnügensschrift 1789, 47; 50 Vgl. Versuch, 200 ff.; 321 ff.

https://doi.org/10.1515/9783111347875-004

2 Die Vergnügensschrift

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jede Anschauung, jeder Begriff, jede Idee ist eine Vorstellung; aber nicht jede Vorstellung ist Empfindung, nicht jede ist Gedanke, u. s. w.“ (Versuch, 210 f.) Was das Verhältnis der Gattung Vorstellung zu ihren Arten betrifft, orientiert sich Reinhold an der in der KrV enthaltenen Stufenleiter der Vorstellungsarten, in welcher der bei Kant mehr oder minder unbestimmte Gattungsbegriff der Vorstellung überhaupt (repraesentatio) näherhin als ‚Vorstellung mit Bewusstsein‘ (perceptio) bestimmt wird, die entweder aufgrund ihrer Subjekt- oder Objektgerichtetheit ‚Empfindung‘ (sensatio) oder ‚Erkenntnis‘ (cognitio) genannt wird.⁴⁹ Unser Elementarphilosoph folgt diesen Bestimmungen zum Teil dahingehend, als nach ihm die Empfindung auf das Subjekt und die Anschauung auf das Objekt bezogen ist. Darüber hinaus zählt er die Empfindung zusammen mit der Anschauung zu unentbehrlichen Bestandteilen der sinnlichen Vorstellung, welche als eine Art der Gattung Vorstellung überhaupt sich ihrem Wesen nach dadurch auszeichnet, auf einer Affektion der rezeptiven bzw. empfänglichen Anteile des Vorstellungsvermögens zu beruhen.⁵⁰ Demnach tritt die Empfindung niemals alleine im Bewusstsein auf, sondern ist immer schon in die dem sinnlichen Vorstellen zugrundeliegende Bewusstseinsstruktur eingebettet.⁵¹ Da nun das „Vergnügen […] derjenige Zustand des Gemüthes, der die Befriedigung eines Bedürfnisses begleitet“ (Vergnügensschrift 1788, 62) und die „Empfindung […] im Afficiertwerden der Sinnlichkeit“ (Vergnügensschrift 1788, 79) ist sowie als Bestimmung der Qualität der Empfindung – im Sinne der Kategorie der Realität – gilt, handelt es sich beim Vergnügen um eine angenehme bzw. positive Empfindung; das Missvergnügen ist hingegen – im Sinne der Kategorie der Negation – als eine unangenehme bzw. negative Empfindung zu klassifizieren.⁵² Folglich sind Vergnügen und Missvergnügen wahre Gegensätze und treten als positive oder negative Spezifikationen der Emp-

49 Vgl. KrV, A 320/B 376 f. Vgl. Bondeli 1995, 42 ff. 50 „Die sinnliche Vorstellung heißt Empfindung im engeren Sinne, in wie ferne sie auf das Subjekt; Anschauung, in wie ferne sie auf das Objekt bezogen wird.“ (Versuch, 359) „Das unmittelbare Entstehen durch die Art des Afficiertseyns ist der gemeinschaftliche Charakter der Empfindung, der Anschauung und der sinnlichen Vorstellung überhaupt; und das Vorstellungsvermögen hat in so ferne Sinnlichkeit, als es das bestimmte Vermögen hat, durch die Art wie die Receptivität afficiert wird zu Vorstellungen zu gelangen.“ (Versuch, 362) 51 „In wie ferne nun das Bezogenwerden einer bloßen Vorstellung aufs Subjekt, ohne Bezogenwerden derselben aufs Objekt unmöglich ist, und in wie ferne das Bezogenwerden der sinnlichen Vorstellung aufs Objekt, Anschauung heißt; in so ferne ist keine Empfindung ohne Anschauung, und keine Anschauung ohne Empfindung möglich.“ (Versuch, 360) 52 Vgl. Versuch, 564. Vgl. KrV, A 80/B 106.

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findung im Bewusstsein immer nur zusammen mit einer Anschauung und also eingebunden in eine sinnliche Vorstellung auf.⁵³ 53 Dass die Empfindungen in der fundamentalsten und allgemeinsten Bewusstseinsstruktur fundiert sind bzw. nicht ohne sie bestehen können, ist in der Reinhold-Forschung allerdings umstritten. Erst kürzlich hat Stefan Lang für die Ansicht argumentiert, dass nach Reinhold gar nicht jeder mentale Zustand jener Bewusstseinsstruktur entspricht. (Vgl. Lang 2021, 539 f.) Dieses Problem bedarf aufgrund seiner Komplexität eigentlich einer gesonderten Untersuchung. Nichtsdestotrotz können starke Indizien gegen Langs Interpretation auch auf eine überschaubare Art und Weise vorgebracht werden. So hält Reinhold in einem Brief an Salomon Maimon (1753 – 1800) vom 22. August 1791 unmissverständlich fest: „Mir ist alles Bewußtseyn ein Vorstellen, und alles Vorstellen ein Bewußtseyn. Zum Vorstellen und folglich auch zum Bewußtseyn finde ich überhaupt und in allen Fällen ein Objekt, ein Subjekt, und das dritte was sich auf beide bezieht ohne eines von beiden zu seyn und das ist mir die Vorstellung. […] Ich kann mir keine Wahrnehmung denken, die nicht Bewußtseyn wäre, und die nicht in etwas bestünde das sich auf das Subjekt als das Wahrnehmende, und Objekt als das Wahrgenommene bezieht, ohne eines von beiden zu seyn […]. Auch Gefühl ist mir Vorstellung, etwas das sich auf S. [sc. Subjekt] und O. [sc. Objekt] bezieht ohne eines von beiden zu seyn. Das Objekt des Gefühls ist freilich nur eine Veränderung in uns, aber darum nicht weniger Objekt, nicht weniger etwas als das Gefühlte von dem Gefühl, als vom Fühlenden unterschieden.“ (KA 3, 241 ff.) Jeder mentale Zustand ist ein Teil der hier angesprochen Struktur des Vorstellens, die Reinhold mit seinem ‚Satz des Bewusstseins‘ (S. d. B.) auf den Punkt bringt (siehe Versuch, 200; 231. Siehe Beyträge I, 167. Siehe Fundamentschrift, 78), sodass jeglichem Bewusstsein – da die Vorstellung das vermittelnde Element zwischen Subjekt und Objekt darstellt – Repräsentationalität (wenn auch nicht im Sinne einer klassischen Abbildfunktion), – wegen des Bezugs des Subjekts auf das Objekt – Intentionalität und – aufgrund des Bezugs des Subjekts auf sich selbst – Selbstreferentialität zukommt. Nebenbei bemerkt ist es von äußerster Wichtigkeit, dass damit nicht ausgesagt wird, dass uns die Grundstruktur des Bewusstseins selbst immer bewusst ist; schließlich muss sie „alle möglichen Erfahrungen und alle Gedanken, deren wir uns bewusst seyn können, [bloß] begleiten können.“ (Beyträge I, 144) In diesem Sinne kann man in dem erwähnten Brief an Maimon auch lesen: „Freilich ist man sich der Unterscheidung und Beziehung zwischen Vorstellung, Objekt und Subjekt nicht immer klar bewußt. – Aber sie selbst geht in jedem Bewußtseyn vor und macht das Wesen desselben aus.“ (KA 3, 243) Obwohl wir es im Rahmen der hier vorliegenden Studie nicht tun, muss im Sinne Reinholds strenggenommen zwischen ‚Gefühl‘ und ‚Empfindung‘ differenziert werden. Anders als das Gefühl ist die Empfindung eigentlich keine Vorstellung, kein vollständiger mentaler Zustand. Sie macht erst zusammen mit der Anschauung einen mentalen Zustand aus – nämlich den der sinnlichen Vorstellung. Nichtdestotrotz ist sie wegen ihrer Beziehung auf das Subjekt in der allgemeinen Bewusstseinsstruktur fundiert und tritt folglich niemals losgelöst von derselben auf. In der Elementarphilosophie wird das Vergnügtsein qua Anschauung – ohne die das Vergnügtsein schließlich nicht bestehen kann – nicht adverbial als ‚Ich fühle vergnügt‘, sondern nominal als ‚Ich fühle Vergnügliches‘ gedeutet. Für seine These, dass der S. d. B. nur dann gilt, wenn das Empfundene auch gedacht wird, führt Lang eine Textstelle aus Beyträge I an, die seine Ansichten prima facie zu unterstützen scheint: „Nicht alles, was im Vorstellenden vorgeht; nicht einmal alles was zum Bewußtseyn desselben gelangt, kann Vorstellung heißen, sondern nur dasjenige, was sich auf Objekt sowohl als Subjekt beziehen lässt und von beyden unterschieden wird. Also nicht jedes Leiden, jedes Wirken, jede Veränderung des Gemüthes“. (Beyträge I, 177) Genauer besehen wird hier jedoch gar nicht impliziert, dass es Empfindungen gibt, die nicht dem S. d. B. entsprechen; selbst-

2.1 Überblick zu den unterschiedlichen Vergnügenskonzeptionen

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Im Folgenden wird es uns vorerst darum gehen, den Argumentationsstrang aus der Vergnügensschrift nachzuzeichnen, wobei wir anhand von Reinholds kritischer Würdigung der von ihm diskutierten Philosophen einen ersten Überblick über seine eigene Vergnügenskonzeption und Trieblehre gewinnen werden. Was den Aufbau des Kapitels betrifft, richten wir uns ganz nach den sechs Paragraphen der Vergnügensschrift, weshalb es zu jedem dieser Abschnitte ein Unterkapitel geben wird.

2.1 Überblick zu den unterschiedlichen Vergnügenskonzeptionen Der erste Paragraph enthält eine Einteilung und kurze Beschreibung der „vornehmsten bisherigen Lehrmeynungen“ über die „Natur des Vergnügens“. (Vergnügensschrift 1788, 61) Laut Reinhold erwägen Dubos in Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1. Aufl. 1719)⁵⁴ und Pouilly in Théorie des sentimens agréables (1. Aufl. 1747)⁵⁵ diese Natur aus einem „blos […] subjektiven Gesichtspunkte“ und konzentrieren sich dabei auf die Frage, was „bey dem Zustande, den wir Vergnügen nennen, in dem vorstellenden Subjekte“ (Vergnügensschrift 1788, 61)

verständlich ist nach Reinhold nicht alles, was im Bewusstsein vorgeht, eine Vorstellung; denn beim Vorstellen liegen auch immer ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt sowie die ‚Gemütsveränderungen‘ (mentalen Prozesse) des Beziehens und Unterscheidens vor, die auch immer ein ‚Leiden‘ bzw. eine elementare Rezeptivität – die nicht mit der eigentlichen Sinnlichkeit zu verwechseln ist – (vgl. Versuch, 264 ff.; 362 ff.; 377) und ein ‚Wirken‘ bzw. eine elementare Spontaneität – welche nicht mit dem begrifflich operierenden Verstand identifiziert werden darf – (vgl. Versuch, 267 ff.; 425 ff.) involvieren. Auch die Textstelle – auf welche Lang indirekt verweist –, welche besagt, dass „die Unterscheidung der Form der Vorstellung von dem Vorgestellten […] schlechterdings überflüssig [ist], wenn von Gegenständen die Rede ist, die durch die fünf sinnlichen Werkzeuge empfunden werden, […] in soferne von ihnen die Rede ist als sie empfunden werden“ (Beyträge I, 188), spricht bei exakter Betrachtung nicht für Langs These. Denn hier wird nicht gesagt, dass beim nicht-gedanklichen Empfinden die Differenz zwischen Vorstellung und Vorgestelltem redundant ist, sondern dass dies auf die Unterscheidung zwischen der Form der Vorstellung und dem Vorgestellten zutrifft. Letzteres drückt schließlich nur aus, dass bezogen auf das bloße Empfinden durch die physischen Sinne – die ein Teil der empirischen Organisation sind – die Frage danach, was durch unser Vorstellungsvermögen a priori und was durch den empfundenen Gegenstand als solchem beigesteuert wird, praktisch sinnlos ist. Die Grundposition, dass alle tatsächlich existierenden Empfindungen eine Subjekt-Vorstellung-Objekt-Struktur aufweisen, wird dadurch nicht infrage gestellt. 54 Dubos, Jean-Baptiste: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Bd. 1/2/3. 7. Aufl. Paris 1770/1770/1770. Im Folgenden zitiert als „Réflexions I/II/III“. 55 De Pouilly, Louis-Jean Lévesque: Théorie des sentimens agréables. 5. Aufl. Paris 1774. Im Folgenden zitiert als „Théorie des sentimens“.

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2 Die Vergnügensschrift

vor sich geht. Im Gegensatz dazu betrachten Wolff in der Psychologia Empirica (1. Aufl. 1732)⁵⁶ und Mendelssohn in seinen Philosophischen Schriften (1. Aufl. 1761) unter dem Titel Ueber die Empfindungen ⁵⁷ jene Natur aus einem „blos […] objektiven Gesichtspunkte“ mit Fokussierung auf das Problem, „welche Beschaffenheit des vorgestellten Objektes […] jenen Zustand“ (Vergnügensschrift 1788, 61) hervorbringt. Von diesen zwei Lehrmeinungen unterscheidet Reinhold zwei weitere, welche jeweils auf ihre Art und Weise sowohl die subjektiven als auch die objektiven Elemente der angenehmen Empfindungen synthetisieren. Sulzer tut dies in seinen Vermischten Philosophischen Schriften (1. Aufl. 1773) unter dem Titel Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen ⁵⁸ „mit einseitiger Rücksicht auf den thätigen Theil des Vorstellungsvermögens“, wohingegen Helvétius seine Empfindungskonzeption in De L’Esprit (1. Aufl. 1758)⁵⁹ „mit einseitiger Rücksicht auf den sich leidendverhaltenen Theil des Vorstellungsvermögens“ (Vergnügensschrift 1788, 62) entwickelt.Von all diesen vier Lehrmeinungen bzw. vier einseitigen Systemen hebt sich schließlich noch eine fünfte ab, die einerseits Subjektivität und Objektivität sowie andererseits Rezeptivität und Spontaneität gleichermaßen würdigt. Denn gemäß Reinholds Ausführungen erforscht Platner im zweiten Band seiner Philosophischen Aphorismen (1. Aufl. 1782)⁶⁰ die Natur des Vergnügens „aus beyden Gesichtspunkten und mit beyden Rücksichten.“ (Vergnügensschrift 1788, 62) Auffällig an dieser Darstellung ist, dass Reinhold zu implizieren scheint, dass die philosophische Welt in vier Parteien gespalten ist, welche die Natur des Vergnügens bzw. – allgemeiner formuliert – das Wesen der Empfindung aus einseitigen und unvollständigen Perspektiven erforschen, wobei sie jeweils einen Teil der Wahrheit über dieses Wesen aufdecken. Durch eine fünfte Position – die allererst durch Platner eingenommen wird – werden all diese Mängel beseitigt, wodurch es prinzipiell möglich wird, die Natur des Vergnügens fehlerfrei zu ergründen. Wie

56 Wolff, Christian: Psychologia Empirica. Methodo Scientifica Pertractata, Qua Ea, Quae De Anima Humana Indubia Experientiae Fide Constant, Continentur Et Ad Solidam Universae Philosophiae Practicae Ac Theologiae Naturalis Tractationem Via Sternitur. Frankfurt/Leipzig 1738. Im Folgenden zitiert als „PE“. 57 Mendelssohn, Moses: Ueber die Empfindungen. In: Philosophische Schriften. Bd. 1. Berlin 1771, XVII–XXII; 1 – 196. Im Folgenden zitiert als „Phil. Schriften I“. 58 Sulzer, Johann Georg: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, 1 – 98. Im Folgenden zitiert als „Vermischte Schriften“. 59 Helvétius, Claude Adrien: De L’Esprit. Bd. 1. Paris 1758. Im Folgenden zitiert als „De L’Esprit“. 60 Platner, Ernst: Philosophische Aphorismen. Nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Bd. 2. Leipzig 1782. Im Folgenden zitiert als „Aphorismen II“.

2.1 Überblick zu den unterschiedlichen Vergnügenskonzeptionen

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sich im Verlauf der hier vorliegenden Studie noch mehrfach zeigen wird, ist Reinhold der Ansicht, dass die Fehlerhaftigkeit der vier einseitigen Systeme auf falsche Ansichten über das Vorstellungsvermögen – insbesondere über die Sinnlichkeit bzw. den rezeptiven Teil des Vorstellungsvermögens – zurückzuführen ist. Entgegen dem ersten Anschein vertritt er aber gar nicht die Position, dass Platner das Verdienst zukommt, den korrekten Begriff der Sinnlichkeit aufgestellt zu haben, sondern Kant. Zur Bestätigung des Gesagten mag hier aber schon eine Stelle aus dem bereits erwähnten Brief Reinholds an Kant vom 19. Januar 1788 dienen. In ihm können wir nämlich lesen: [Es zeigt sich,] daß jeder dieser Philosophen [sc. der vier einseitigen Systeme] das Vergnügen aus einem wahren Gesichtspunkte, aber [jeweils] nur aus einem einzigen betrachtet habe, und daß jeder dieser Gesichtspunkte, nach Abzug des heterogenen[,] das er durch Einseitigkeit erhält, als richtig befunden werde[,] seit dem die Kritik der Vernunft den höchsten Gesichtspunkt, von welchem aus allen [sic!] unteren sich übersehen lassen, angegeben habe. (KA 1, 314)

Das vermeintliche Problem, ob denn nun Platners oder Kants Philosophie der Ausgangspunkt für eine neue Theorie des Vergnügens sein soll, lässt sich sehr leicht auflösen, wenn man bedenkt, dass – wie oben zitiert – erst die ‚Kritik der reinen Vernunft den höchsten Standpunkt geliefert hat‘. Platners Theorie vermeidet zwar die Fehler der vier einseitigen Systeme, aber sie tut dies in einer Geistesperiode, in der die Epoche der kritischen Philosophie noch nicht angebrochen war. In diesem Sinne stellen die Aphorismen eine Vollendung und einen Abschluss der vorkritischen Periode innerhalb der Philosophiegeschichte dar, aber daraus folgt nicht, dass sie für Reinhold das Nonplusultra des – an sich zeitlos konzipierten – philosophischen Geistes waren. Wie bereits Lazzari darauf hingewiesen hat, ist das Schema, dem Reinhold zur Einteilung philosophischer Positionen in der Vergnügensschrift folgt, geradezu typisch für ihn.⁶¹ So erscheint z. B. am 25. September 1788 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung ein kurzer Artikel namens Neue Entdeckung, in dem Reinhold zwischen fünf Positionen zum ‚Erkenntnisgrund der Existenz Gottes‘ differenziert.⁶² Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass es einen solchen Erkenntnisgrund gibt, teilen sich demnach in „Dogmatische Theisten, und Supernaturalisten“ auf, „wovon die eine[n] den Erkenntnisgrund für das Daseyn Gottes innerhalb“ und „die andere[n] außerhalb des Gebietes der Vernunft gefunden zu haben“ (Entdeckung, 831) glauben. Bei denjenigen, welche jeden Erkenntnisgrund für die Existenz Gottes

61 Vgl. Lazzari 2005, 214 ff. 62 Vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Neue Entdeckungen. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1788, Bd. 3, Nr. 231a, 831 f. Im Folgenden zitiert als „Entdeckung“.

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verwerfen, lassen sich wiederum zwei Parteien ausmachen, die „Dogmatischen Skeptiker und Atheisten“, wovon die erste die Frage nach jenem Erkenntnisgrund „für schlechterdings unbeantwortlich erklärt, und die zweyte […] die[se] Frage verneinend beantworten zu müssen glaubt.“ (Entdeckung, 831) Dabei enthalten alle diese vier Positionen – bei all ihren Fehlern und all dem Widerstreit untereinander – aber zumindest einen Aspekt der Wahrheit, der immer von jeweils drei der Positionen übereinstimmend gegen eine vierte vorgebracht wird.⁶³ Aber erst die fünfte Position, der „kritische Skepticismus“, erhebe „einen denkenden Kopf der Nothwendigkeit […], sich zu einer dieser Parteyen zu schlagen“ (Entdeckung, 831), indem Kants „Untersuchung des Erkenntnisvermögens“ vermittelst des „von ihm entwickelten moralischen Erkentnisgrunde[s]“ (Entdeckung, 832) die entsprechende – alles Wahre in sich vereinigende und alles Falsche ausschließende – Alternative liefere. Obwohl es Unterschiede zwischen den Schemata der Vergnügensschrift und Neuen Entdeckung gibt, entsprechen doch beide Reinholds aufklärerischem Ideal einer Versöhnung aller miteinander streitenden philosophischen Strömungen, das er im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens mit dem Begriff der Allgemeingeltung fixiert. Wie Reinhold dort festhält, kommt es ihm nicht nur auf universell Gültiges (Allgemeingültiges), sondern auch auf universell Akzeptiertes (Allgemeingeltendes) an, wobei „das allgemeingeltende Princip in der Philosophie […] sich von dem allgemeingültigen dadurch [unterscheidet], dass es nicht nur, wie dieses, von jedem, der es versteht als wahr befunden, sondern auch von jedem gesunden und philosophirenden Kopfe wirklich verstanden wird.“ (Versuch, 71) Mit anderen Worten signalisiert die Allgemeingeltung nicht bloß einen Konsensus unter den Gelehrten, der auf einer revidierbaren Vereinbarung beruht, sondern kommt in der tatsächlichen – auf Wahrheit beruhenden – Allgemeingültigkeit einer Aussage, die als solche und in ihrer universellen Gültigkeit von jedem rational Denkenden akzeptiert wird, zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Schema der Vergnügensschrift verständlich machen. Denn mit dem Ziel vor Augen, „das Allgemeingültige Allgemeingeltend zu machen“ (Versuch, 154) bzw. durch „allgemeingültige […] Grundsätze […] wenigstens im Gebiehte der spekulativen Philosophie einen ewigen Frieden“ (Versuch, 153) hervorzurufen, respektiert der „echte philosophische Kopf […] seine Geistesverwandten unter was immer für einer Sekte“, weil er „weiß, dass kein denkender Kopf einen Irrthum behaupten könne, ohne nicht denselben auf eine zwar einseitige aber darum gleichwohl nicht 63 Z. B. wird „gegen die Skeptiker von den drey übrigen Parteyen [zu Recht] behauptet“, dass die „Frage über das Daseyn Gottes […] sich befriedigend beantworten“ lässt, oder „gegen die Supernaturalisten von den drey übrigen Parteyen [korrekterweise] behauptet“, dass die „Frage über das Daseyn Gottes […] sich nicht durch Offenbarung beantworten“ (Entdeckung, 832) lässt.

2.1 Überblick zu den unterschiedlichen Vergnügenskonzeptionen

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ganz unrichtig gesehene Wahrheit zu stützen.“ (Versuch, 126)⁶⁴ Da für Reinhold die vier einseitigen Systeme in ihrer bestmöglichen Fassung sowohl kohärente als auch relativ – d. h. auf Basis bestimmter Wissensstände – plausible Standpunkte sind, müssen sie dementsprechend zum Zweck der Allgemeingeltung in die letztendlich korrekte philosophische Theorie über das Vergnügen integriert werden. Für unsere Belange ergibt sich daraus, dass wir nicht nur darauf zu achten haben, was Reinhold an den philosophischen Positionen der Vergnügensschrift kritisiert, sondern auch, was er an ihnen positiv hervorhebt, da insbesondere Letzteres unmittelbar auf Reinholds eigene Vergnügenstheorie deutet. In der nun noch folgenden Beleuchtung der weiteren Paragraphen der Vergnügensschrift wird es dem Kenner und der Kennerin der ästhetischen Theorien des 18. Jahrhundert auffallen, dass es sich bei manchen von Reinholds Darstellungen dieser Theorien trotz oder – man könnte geneigt sein, zu sagen – gerade wegen ihrer Pointiertheit um Verzerrungen handelt. Dies wurde schon von Reinholds Zeitgenossen an seinen Einteilungen bemängelt.⁶⁵ Unser Elementarphilosoph hat darauf sinngemäß erwidert, dass er nur diejenigen Ideen eines Autors in einen Standpunkt, der die Bezeichnung ‚philosophische Partei‘ verdient, zusammenfasst, die sowohl konsistent als auch kohärent sind, und somit notgedrungenerweise all diejenigen Ideen beiseitelässt, die Unstimmigkeiten hervorrufen.⁶⁶ Die Tatsache, dass es Reinhold also nicht um eine systematisch korrekte Analyse der Vergnügenskonzeptionen seines Jahrhunderts ging, lässt sich wiederum vor dem Hintergrund der erstrebten Allgemeingeltung, die ja auf Allgemeingültigkeit und Wahrheit beruht, begreiflich machen. Ihm geht es darum Idealtypen von Theorien zu beschreiben, von denen die Autoren, die er zu diesen Typen rechnet, bloß die realen – möglicherweise unvollkommenen – Instantiierungen darstellen. Mit diesem Wissen können wir uns auf das Wesentliche der Reinhold’schen Ausführungen konzen-

64 „Sollten die neuen Principien wahrhaft allgemeingültig, und ihrer Natur nach dazu gemacht seyn allgemeingeltend zu werden, so müssten sie jeder bisherigen philosophischen Sekte volle Gerechtigkeit wiederfahren lassen, mit der größten Bestimmtheit das Wahre, das in den respektiven Grundsätzen jeglichen Systems enthalten ist, in sich fassen, das Falsche ausschließen, und dadurch ein System aufstellen, welches jedem Selbstdenker das, was er aus seinem Gesichtspunkte richtig gesehen hat, wieder finden ließe.“ (Versuch, 22 f.) 65 So z. B. in einer Rezension des Versuchs aus den Tübingischen gelehrten Anzeigen, in welcher Johann Friedrich Flatt (1759 – 1821) moniert, dass Reinhold den philosophischen Positionen, die im Schema der Neuen Entdeckung benannt werden und auf die er erneut und auch in anderen Zusammenhängen im Versuch eingeht (Vgl. Versuch, 76 ff.; 89 ff.; 99 ff.; 117 ff.), nicht gerecht wird. (Vgl. Flatt, Johann Friedrich: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von Carl Leonhard Reinhold. 1789. In: Tübingische gelehrte Anzeigen, 39 St., 17. Mai 1790, 306 – 312. Zitiert nach: Fabbianelli 2003 b, 50 – 54. Hier: 51) 66 Vgl. Beyträge I, 413 ff.

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2 Die Vergnügensschrift

trieren und Fragen danach, ob Reinhold z. B. Dubos‘ Untersuchung über Poesie und Malerei, bei der übrigens sehr wohl die Eigenschaften der vergnüglichen Gegenstände eine Rolle spielen⁶⁷, oder ob Mendelssohns Theorie über die Empfindungen, in denen nebenbei bemerkt auch subjektive Aspekte analysiert werden⁶⁸, bis ins letzte Detail richtig interpretiert, etwas beiseiteschieben.

2.2 Der subjektive Gesichtspunkt 2.2.1 Reinholds Assimilation der emotionstheoretischen Ästhetik Dubos‘ und Pouillys Der zweite Paragraph der Vergnügensschrift ist mit ‚Subjektiver Gesichtspunkt‘ betitelt, was vermuten lässt, dass es hier vornehmlich um eine Auseinandersetzung mit den philosophischen Ansichten Dubos‘ und Pouillys gehen wird. De facto enthält dieser Paragraph aber kaum etwas anderes als eine Aneinanderreihung von Expositionen zentraler Begriffe – wie etwa ‚Vergnügen‘, ‚Trieb nach Vorstellungen‘, ‚vorstellende Kraft‘, ‚Empfinden‘, ‚Denken‘, ‚Anstrengung‘ oder ‚Langeweile‘ – und den damit einhergehenden Erörterungen, die großteils Reinholds eigenen Ansichten über die subjektiven Aspekte der relevanten Sachverhalte entsprechen. Dies scheint gegen die bereits in unserer Einleitung beschriebenen Profilierungsbe-

67 Obwohl Dubos Kunsttheorie in der Tat eine stark subjektivistische Prägung aufweist, baut sie doch auch darauf auf, dass die Kunstprodukte der Malerei und Poesie künstliche Leidenschaften in uns zu erzeugen vermögen, die eine Stellvertreterfunktion gegenüber den echten bzw. wahrhaftigen Leidenschaften einnehmen und welche von den negativen Folgen befreit sind, mit denen die Gegenstände dieser Leidenschaften – z. B. Gladiatoren-, Stierkämpfe oder Glücksspiel – einhergehen. (Vgl. Réflexions I, 25 ff.) Damit wird das Vergnügen eben nicht ausschließlich auf der Ebene des Subjekts analysiert, weil auch die Art der Objekte eine Rolle dabei spielt, welche Formen des Vergnügens wertvoller sind als andere. Reinhold geht also etwas zu weit, wenn er zum Ausdruck bringt, dass Dubos „die Natur des Vergnügens […] mit einseitiger Rücksicht auf die Frage: was geht bey dem Zustande, den wir Vergnügen nennen, in dem vorstellenden Subjekte […] vor?“ (Vergnügensschrift 1788, 61), betrachtet hat. 68 Alleine schon die sich in Ueber die Empfindungen befindende Grundthese, dass „kein deutlicher, [und] auch kein völlig dunkler Begriff […] sich mit dem Gefühle der Schönheit“ (Phil. Schriften I, 11) verträgt, widerstreitet der übertriebenen Ansicht, dass Mendelssohn „die Natur des Vergnügens […] mit einseitiger Rücksicht auf die Frage: welche Beschaffenheit des vorgestellten Objektes […] jenen Zustand hervor[bringt]?“ (Vergnügensschrift 1788, 61), erwogen hat. So hält z. B. auch Anne Pollok – die Mendelssohns ästhetischen Schriften neu herausgegeben hat – fest, dass seine „Ästhetik […] die Vollkommenheit als höchstes Gut […] zwar nicht in Frage [stellt]“, dass „der Fokus […] jedoch nicht mehr auf den Gegenständen selbst [liegt], sondern auf ihrem Verhältnis zum Subjekt.“ (Pollok 2006, XLVII)

2.2 Der subjektive Gesichtspunkt

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strebungen Reinholds zu sprechen. Ein Vergleich zwischen seinen eigenen Darstellungen und den Lehren der beiden Emotionstheoretiker zeigt jedoch, dass deren ästhetische Ansätze von unserem Elementarphilosophen bereits durch seine eigene Vergnügenskonzeption und Trieblehre assimiliert wurden. Paradoxerweise spricht die Ausklammerung der genuinen Lehren von Dubos und Pouilly gerade nicht für deren Bedeutungslosigkeit, sondern ganz im Gegenteil für deren signifikant positive Rolle, die sie in Reinholds eigener Denkentwicklung spielten. Reinhold hält fest, dass es sich bei allem, womit sich unser Gemüt bzw. unser Vorstellungsvermögen beschäftigt, nicht um Dinge an sich, sondern um Vorstellungen bzw. – präziser ausgedrückt – Inhalte von Vorstellungen handelt, was er auf Basis von Kants Überlegungen zum transzendentalen Idealismus einsieht.⁶⁹ Zudem gehe all unser Begehren in letzter Instanz aus Trieben hervor und lasse sich auf ‚das Bedürfnis der Beschäftigung unseres Vorstellungsvermögens zurückführen‘, woraus sich – zusammen mit der Annahme der Priorität der Vorstellungen – ergibt, dass diesem Bedürfnis ein ‚Trieb nach Vorstellungen‘ (Vorstellungstrieb) zugrunde liegt.⁷⁰ In diesem Kontext fasst Reinhold die angenehmen Empfindungen bzw. das „Vergnügen“ als denjenigen „Zustand des Gemüthes, der die Befriedigung eines Bedürfnisses [und letztendlich des Triebes nach Vorstellungen] begleitet.“ (Vergnügensschrift 1788, 62) Die Rolle der ‚vorstellenden Kraft‘ bzw. ‚Vorstellungskraft‘ liege darin, im Gemüt – als einem Vermögen, vorzustellen – wirkliche Vorstellungen hervorzurufen, wobei diese Kraft in ihrer Erzeugung der Vorstellungen entweder befördert oder gehemmt werden könne, wodurch der Trieb nach Vorstellungen eher befriedigt werde, eher unbefriedigt bleibe oder sogar gehindert werde.⁷¹ Das Hervorrufen wirklicher Vorstellungen vollziehe sich entweder durch das ‚Empfinden‘, oder durch das ‚Denken‘ und also indem die „Thätigkeit der Vorstellungskraft den Stoff (den Inhalt) zu Vorstellungen entweder nur auffaßt [sc. Rezeptivität] […] oder sich denselben selbst erzeugt [sc. Spontaneität]“. (Vergnügensschrift 1788, 64) Reinhold unterscheidet hier zwischen einer positiven und einer negativen Einschränkung der vorstellenden Kraft beim Empfinden und Denken und somit zwischen insgesamt vier Einschränkungstypen (Anstrengung, Schmerz, Betäubung und Langeweile – beurteilt auf der äußerst allgemeinen und fundamentalen Ebene des

69 „Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealismus.“ (KrV, A 490 f./B 518 f.) 70 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 63. 71 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 63 ff.

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2 Die Vergnügensschrift

Triebes nach Vorstellungen)⁷², aber die einzelnen Explikationen zu diesen Typen können wir an dieser Stelle getrost übergehen. Mehr Aufmerksamkeit muss allerdings seinen Ausführungen zur ‚leichten und starken Beschäftigung der Vorstellungskraft‘ – Reinhold nennt sie auch eine ‚Beschäftigung des Vorstellungsvermögens‘ – geschenkt werden. Die leichte Beschäftigung finde beim Empfinden statt, da es hier nur um das Auffassen eines Vorstellungsinhaltes ins Gemüt gehe, wobei gelte, dass der Vorstellungstrieb umso befriedigter ist, je mehr Inhalt und je leichter der Inhalt aufgefasst wird; die starke Beschäftigung sei charakteristisch für das Denken, weil der Stoff der Vorstellung bei demselben geordnet werde, wobei das Ausmaß der Befriedigung des Vorstellungstriebes mit dem Anstieg der Tätigkeit der Vorstellungskraft bei einer verringerten Schwierigkeit, den Vorstellungsinhalt aufzufassen, steige.⁷³ Als Resultat des Gesagten gibt Reinhold an, dass „so wohl beym Empfinden als beym Denken […] sich […] das Gefühl der Befriedigung des ursprünglichen Triebes [sc. Triebes nach Vorstellungen], wie das Produkt aus der Stärke und Leichtigkeit der Beschäftigung des Vorstellungsvermögens“ (Vergnügensschrift 1788, 66 f.) verhält. Umgemünzt auf ästhetische Belange bedeutet dies, dass z. B. die Schönheit oder Erhabenheit eines Gegenstandes alleine davon abhängt, ob bei der Betrachtung oder Rezeption desselben in unserem Gemüt das – je eigene – korrekte Verhältnis zwischen einer starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft stattfindet, da – dem subjektiven Standpunkt gemäß – ästhetische Merkmale nicht am Gegenstand als solchem erwogen werden. Mit diesen Ausführungen verweist Reinhold natürlich trotzdem indirekt auf Dubos und Pouilly. Z. B. führt Dubos aus, dass allem Vergnügen, das laut ihm als ästhetisches zumeist dem Zustand der Betrübtheit ähnelt oder manchmal sogar mit lebhaftem Schmerz verbunden ist,⁷⁴ Bedürfnisse zugrunde liegen⁷⁵ und dass die Notwendigkeit, den Geist zu beschäftigen und die damit verbundene Vermeidung von Langeweile, eines der größten Bedürfnisse des Menschen ist,⁷⁶ was sich in

72 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 64 ff. 73 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 66. 74 „Ce plaisir [sc. des vers & des tableaux] […] ressemble souvent à l’affliction, & dont les simptômes sont quelquefois les mêmes que ceux de la plus vive douleur.“ (Réflexions I, 1) 75 „Les hommes n’ont aucun plaisir naturel qui ne soit le fruit du besoin“. (Réflexions I, 5) 76 „L’un des plus grands besoins de l’homme, est celui d’avoir l’esprit occupé. L’ennui qui suit bientôt l’inaction de l’ame, est un mal si douloureux pour l’homme, qu’il entreprend souvent les travaux les plus pénibles, afin de s’épargner la peine d’en être tourmenté.“ (Réflexions I, 6) „Les hommes craignent […] l’ennui qui suit l’inaction, & ils trouvent dans le mouvement des affaires & dans l’yvresse des passions une émotion qui les tient occupés.“ (Réflexions I, 10) „Nous courons par instinct après les objets qui peuvent exciter nos passions, quoique ces objets fassent sur nous des impressions qui nous coûtent souvent des nuits inquiétes & des journées douloureuses: mais les

2.2 Der subjektive Gesichtspunkt

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Reinholds Exposition des Vergnügensbegriffs und seiner These, dass die Beschäftigung der Vorstellungskraft das grundlegendste menschliche Bedürfnis ist, widerspiegelt. Zudem differenziert bereits Dubos zwischen dem eigentümlichen Zugang zum Vergnügen, den das Empfinden, und demjenigen, den das Denken bzw. Nachdenken bietet, wobei auch er die letztere Art der Beschäftigung für mühsamer hält, als die erstere.⁷⁷ Auch deutet er auf ein richtiges Maß der Beschäftigung im Moment der angenehmen Empfindungen, wenn er impliziert, dass eine übermäßige Anstrengung dem Vergnügen abträglich ist.⁷⁸ Dieser Aspekt tritt bei Pouilly – bei dem sich übrigens einige Ansichten Dubos wiederfinden⁷⁹ – noch deutlicher hervor, da laut ihm angenehme Empfindungen mit einer Beschäftigung des Körpers, die ihn nicht schwächt, und einer Übung des Geistes, welche ihn nicht ermüdet, einhergehen.⁸⁰ Obwohl in diesem Zusammenhang auch Dubos‘ Ausführungen sehr wichtig für Reinhold sind, ist diese These Pouillys die primäre Quelle von Reinholds Auffassung zur starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft. Pouillys Begriff des Vergnügens speist sich aber nicht nur aus jenen Komponenten, da er auch festhält, dass beim Angenehmen Hass und Furcht nicht überwiegen, dass es allerdings mit einer tiefen Rührung und Betrübtheit einhergehen und eine Traurigkeit enthalten kann, die angenehmer als jede Freude ist.⁸¹ Überdies unterscheidet er auch zwischen einer physischen, einer

hommes en général souffrent encore plus à vivre sans passions, que les passions ne les font souffrir.“ (Réflexions I, 11 f.) 77 „Ou l’ame se livre aux impressions que les objets extérieurs font sur elle; & c’est ce qu’on appelle sentir: ou bien elle s’entretient elle-même par des spéculations sur des matières, soit utiles, soir curieuses; & c’est ce qu’on appelle réfléchir & méditer.“ (Réflexions I, 6 f.) „L’ame trouve pénible, & même impraticable quelquefois, cette seconde manière de s’occuper [sc. réfléchir & méditer]“. (Réflexions I, 7) „La première manière de s’occuper […], qui est celle de se livrer aux impressions que les objets étrangers font sur nous, est beaucoup plus facile.“ (Réflexions I, 9) 78 „Le mouvement naturel de notre ame, est de se livrer à tout ce qui l’occupe, sans qu’elle ait la peine d’agir avec contention.“ (Réflexions I, 25) 79 So kommt z. B. bei Pouilly die These Dubos‘, dass die Vermeidung von Langeweile zu den primären menschlichen Bedürfnissen zählt, auf veränderte Art und Weise zum Ausdruck, indem er das Tätigsein innigst mit dem Vergnügen verknüpft. (Vgl. Théorie des sentimens, 93 ff.; 103 ff.) Auf weitere Gemeinsamkeiten und auch auf Unterschiede zwischen den beiden Emotionstheoretikern geht Ernst Stöckmann in seiner weitestgehend empfehlenswerten Untersuchung zur Anthropologischen Ästhetik in der Aufklärung ein. (Siehe Stöckmann 2009, 54 ff.; 67 ff.) 80 „Il y a un agrément attaché à ce qui exerce les organes du corps sans les affoiblir.“ (Théorie des sentimens, 93) „Il y a un agrément attaché à ce qui exerce l’esprit sans le fatiguer.“ (Théorie des sentimens, 103) 81 „Il y a un plaisir attaché à tous les mouvemens du cœur, où la haine & la crainte ne dominent point.“ (Théorie des sentimens, 122) „Son bonheur [sc. du héros de la tragédie] auroit fait notre joie, &, par le pouvoir enchanteur de la Tragédie, ses malheurs nous pénètrent d’une affliction plus

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2 Die Vergnügensschrift

geistigen und einer sittlichen Schönheit, die jeweils durch ihren eigentümlichen Ausdruck besondere Ausprägungen des Wohlgefallens bereiten.⁸² Zusammen mit dem, wie Dubos den Begriff des Vergnügens fasst, lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, dass Reinhold beim Gedanken an das Vergnügen vermutlich auch nicht nur eine Art Fröhlichkeit oder Heiterkeit im Sinne hatte, sondern sogar alle – schlussendlich überwiegend positiv wirkenden – Phänomene der physischen, moralischen und ästhetischen Empfindsamkeit.

2.2.2 Über Je ne sais quoi, Vagheit der starken und leichten Beschäftigung und Objektivierungstendenzen unter subjektiven Vorzeichen Der Reinhold-Schüler Georg Dreves (1774 – 1832) hat Pouillys Théorie des sentimens agréables 1793 ins Deutsche übersetzt, wofür ihm sein ‚verehrungswürdiger Lehrer die erste Veranlassung‘ gegeben habe.⁸³ Wie er berichtet, erwähnte Reinhold „in seinen Vorlesungen über die Aesthetik, bei der Untersuchung über die Natur des Vergnügen[,] [Pouillys Schrift] mit vielem Lobe“. (Übers. v. Théorie des sentimens, IX)⁸⁴ Pouilly scheint also eine große Bedeutung für Reinhold gehabt zu haben, was sich wohl auch über Dubos behaupten lässt, da nicht nur Reinhold selbst, sondern auch Dreves die beiden Namen häufig in einem Atemzug nennt.⁸⁵ Etwas verwunderlich mag es einem deshalb erscheinen, dass Reinhold doch relativ wenige Konzepte, die eindeutig Pouilly und Dubos zuordenbar sind, in seine Vergnügensschrift aufgenommen hat. Bedenkt man aber, dass er in dieser Schrift zumeist auf der sehr allgemeinen, nicht auf ästhetische Theorien eingeschränkten, Ebene der angenehmen und unangenehmen Empfindungen operiert, so lässt es sich leicht erklären,

délicieuse que cette joie même, parce qu’ils exercent plus vivement notre bienveillance, dont le charme secret est assez puissant pour changer la douleur même en plaisir, & rendre les larmes plus agréables que le rire.“ (Théorie des sentimens, 130) 82 Vgl. Théorie des sentimens, 136 ff. 83 Vgl. Dreves, Georg: Vorbericht des Übersetzers. In: De Pouilly, Louis-Jean Lévesque: Theorie der angenehmen Empfindungen. Aus dem Französischen übers. v. Georg Dreves. Jena 1793, V–XXX. Im Folgenden zitiert als „Übers. v. Théorie des sentimens“. Hier: IX. 84 Auch das Folgende habe Reinhold über Pouillys Theorie der angenehmen Empfindungen geäußert: „Mit großem Befremden […] muss man gewahr werden, dass diese Schrift […] bei Vielen zu einer völligen Vergessenheit verdammt zu seyn scheint, die ich durch eine Uebertragung in unsere jetzt so ausgebildete Muttersprache gerne aufgehoben wünschte.“ (Übers. v. Théorie des sentimens, IX f.) 85 Siehe Übers. v. Théorie des sentimens, XII ff. Siehe Dreves, Georg: Resultate der philosophirenden Vernunft über die Natur des Vergnügens, der Schönheit und des Erhabenen. Leipzig 1793. Im Folgenden zitiert als „Resultate“. Hier: X ff.; 11.

2.2 Der subjektive Gesichtspunkt

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weshalb er vieles Erwähnenswerte der beiden Autoren unberücksichtigt lassen musste. Wollen wir über jene allgemeinen Bestimmungen hinaus auch etwas über Reinholds Ansichten zu ästhetischen Belangen herausfinden, wird es nötig sein, auf dieses Erwähnenswerte – diese verborgene Seite der Reinhold’schen Ausführungen – einzugehen. Es lohnt sich deshalb bereits an dieser Stelle auf ein wesentliches Moment der Dubos’schen Reflexionen hinzuweisen, das Reinhold nicht explizit anspricht, das jedoch in seinen Ausführungen und auch für seine eigene Vergnügenstheorie eine Rolle gespielt haben dürfte. Unter anderem zeichnet sich Dubos Ästhetik dadurch aus, dass er die Arationalität und Irrationalität der ästhetischen Beurteilung und Kunstproduktion hervorhebt und sie nicht als ein Problem ansieht, das einer ausgeklügelten Lösung bedarf oder das es sogar aufzulösen gilt. Damit ist dasjenige angesprochen, dem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) in der Begegnung mit bewegenden Gedichten und Gemälden den Ausdruck ‚Je ne sais quoi‘ beilegte: ein gewisses Etwas am Kunstwerk oder im Kunsterleben, von dem sich nicht genau sagen lässt, worin es eigentlich besteht.⁸⁶ Dubos verweist auf es, indem er z. B. festhält, dass ‚die Empfindungen über die Güte eines Kunstwerkes weit bessere Auskünfte geben als alle Abhandlungen der Kunstrichter‘ und dass es ‚Werke gibt, die keinen Regelverstoß begehen und dennoch schlecht sind, und solche, die zahlreiche Fehler aufweisen und trotzdem vortrefflich sind‘.⁸⁷ Nicht die Regel birgt das Geheimnis der künstlerischen Meisterwerke in sich, sondern die Intuition des Genies.⁸⁸ In Reinholds Ausführungen zur starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft ist auffällig, dass das Vergnügen erzeugende Wechselspiel zwischen

86 „C’est ainis que nous connoissons quelques fois clairement, sans estre en doute en aucune façon, si un poeme, ou bien un tableau est bien ou mal fait, parce qu’il y a un je ne sçay quoy qui nous satisfait ou qui nous choque.“ (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Discours de métaphysique. Metaphysische Abhandlung. In: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Discours de métaphysique. La monadologie. Principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Übers., mit einer Einl., Anm. und Registern v. Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.). Französisch–deutsch. Hamburg: Meiner 2014. (= Philosophische Bibliothek. 537), 2 – 109. Im Folgenden zitiert als „Metaphysische Abhandlung“. Hier: 68 ff. [§ 24]) Je ne sais quoi war aber nicht nur für Leibniz ein Thema, sondern spielte z. B. auch bei Dominique Bouhours (1628 – 1702), Nicolas Boileau (1636 – 1711) und Jean-Pierre de Crousaz (1663 – 1750) eine essentielle Rolle. (Vgl. Beiser 2009, 25) 87 Vgl. Réflexions II, 340. 88 „Il est quelques Artisans beaucoup plus capables que le commun des hommes, de porter un bon jugement sur les ouvrages de leur art. Ce sont les Artisans nés avec le génie de leur art, toujours accompagné d’un sentiment bien plus exquis, que n’est celui du commun des hommes. Mais un petit nombre d’Artisans est né avec du génie, & par conséquent avec cette sensibilité ou cette délicatesse d’organes supérieures à celle que peuvent avoir les autres“. (Réflexions II, 384)

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der Sinnlichkeit und dem Verstand auch nicht exakt festgelegt bzw. nicht auf eine bestimmte Regel gebracht wird. Einerseits wird es nämlich nur negativ als ein Zusammenwirken bestimmt, das frei ist von den Einschränkungen der Vorstellungskraft und also weder in der Anstrengung oder dem Schmerz noch im Zustand der Betäubung oder der Langeweile mündet. So darf die Vorstellungskraft z. B. nicht „einseitig und stark beschäftiget“ werden, „in dem sie mit den Hindernissen ringt, welche der Erzeugung des Stoffes für Vorstellungen entgegenstehen“, wie dies bei der „Anstrengung“ (Vergnügensschrift 1788, 64) der Fall ist; oder sie darf nicht „in einem merklich geringeren Grade als gewöhnlich […] beschäftiget“ werden, wie dies im „Zustand der langen Weile“ (Vergnügensschrift 1788, 65) vorkommt. Andererseits beschränkt sich die positive Bestimmung derjenigen Gemütsvorgänge, die dem Vergnügen zuträglich sind, entweder auf das Empfinden oder auf das Denken und bezieht sich nicht direkt auf die Wechselwirkung zwischen beiden. Dementsprechend führt Reinhold bloß die folgenden zwei Grundsätze an: Je mehr Stoff beym Empfinden der Empfänglichkeit gegeben wird, und je leichter ihn das thätige Vermögen auffaßt, desto mehr wird im Gemüthe vorgestellt; desto größer die Befriedigung des ursprünglichen Triebes. […] Je mehr ein Gedanke die Thätigkeit der Vorstellungskraft beschäftiget, und je leichter sein viel umfassender Inhalt aufgefaßt werden kann, desto mehr wird in ihm vorgestellt; desto größer die Befriedigung des ursprünglichen Triebes. (Vergnügensschrift 1788, 66)

Wie sich aus verschiedenen Schriften Reinholds entnehmen lässt, sind bei der Erzeugung des ästhetischen Vergnügens und beim Zustandekommen des Geschmacks seiner Ansicht nach aber sowohl sinnliche als auch intellektuelle Faktoren, wie etwa ‚Empfindungsvermögen‘, ‚Gefühl‘, ‚Einbildungskraft‘, ‚Verstand‘, ‚Gedächtnis‘, ‚Scharfsinn‘ und ‚Vernunft‘, involviert.⁸⁹ Das Verhältnis zwischen der starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft zum ästhetischen Wohlgefallen und den damit einhergehenden Werturteilen bleibt in den vorhin angeführten Grundsätzen folglich unbestimmt. In Hinsicht auf Dubos‘ Ansichten zur Rationalität des Kunsterlebens scheint die hier an den Tag gelegte Vagheit Reinholds – der sonst so sehr darauf bedacht ist, alles Verallgemeinerbare auf letzte Prinzipien zurückzuführen⁹⁰ – gewollt zu sein. In dem Unterkapitel ‚Synthese aller einseitigen Per-

89 Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 387 ff.; 392 f.; 397 ff.; 400 ff. Vgl. Geschmacksschrift, 172 f.; 176 f.; 179 ff. Vgl. Briefe I, 39 f.; 48 f. 90 „Durch ein allgemeingeltendes Princip allein kann und muss die Schmach von der Philosophie hinweggenommen werden, in Rücksicht auf die übrigen Wissenschaften entweder eine Sklavin oder ganz unbrauchbar zu seyn. Sie wird durch dasselbe im strengsten Sinne zur Königin aller Wissenschaften, die ihr diesen Rang ohne Neid und willig eingestehen werden, sobald sie im Stand seyn wird, ihnen die Festigkeit und die Würde wahrer Wissenschaften zu geben, die sie ihnen bisher

2.2 Der subjektive Gesichtspunkt

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spektiven‘ sowie in dem Abschnitt ‚Über die Arationalität des Schönen‘ werden wir darauf noch einmal zurückkommen, wobei es auch noch einiges zu spezifizieren geben wird. Zum Abschluss dieses Unterkapitels muss noch erwähnt werden, dass – obzwar bei Pouilly und Dubos zumindest sinngemäß auch Triebe und Kräfte eine Rolle spielen⁹¹ – Reinholds Fokussierung auf eine Vorstellungskraft und auf Triebe unter anderem auf den Einfluss Platners zurückzuführen ist, dessen Begriffswahl selbst eine Reminiszenz der rationalistischen Philosophietradition des deutschsprachigen Raumes darstellt. Dementsprechend weisen Bondeli und Imhof völlig korrekt darauf hin, dass Reinhold die Theorien der beiden französischen Ästhetiker mithilfe einer Terminologie beschreibt, die z. B. derjenigen Wolffs, Mendelssohns oder Johann August Eberhards (1739 – 1809) entspricht.⁹² Die Probleme, welche damit einhergehen, betreffen allerdings nicht nur die Semantik, sondern kommen auch auf einer Sachebene zum Tragen. Dubos‘ Lehre zeichnet sich durch die hedonistisch und sentimentalistisch anmutenden Behauptungen aus, dass die primäre Aufgabe der Kunst ist, uns zu berühren, und dass die Emotionen weit bessere Auskünfte über den ästhetischen Wert eines Natur- oder Kunstgegenstandes geben als der Intellekt, der bestenfalls nur zu begründen vermag, was bereits durch das Gefühl entschieden wurde.⁹³ Sieht man von Detailanalysen ab, so ist die unausgesprochene, aber diesen Aussagen zugrundeliegende Überzeugung jene, dass die überwiegend positiv wirkenden Affekte und Emotionen Selbstzwecke sind und also – von der Warte der Sinnlichkeit aus, die hier doch das oberste Gericht darstellen soll – auf nichts anderes außer sich selbst verweisen. Durch Reinholds Akzentuierung des Vergnügens als ein ‚Gefühl der Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen‘ wird dieser bloß subjektive Charakter des

vergebens verheißen hat, und welche diese gleichwohl anderswoher nicht erhalten können.“ (Beyträge I, 370) 91 Siehe Réflexions I, 11 f.; 28; 133; 183; 470. Siehe Réflexions II, 12; 25; 31; 40 f.; 343 f. Siehe Théorie des sentimens, 93 ff.; 103 ff.; 122 ff.; 162 ff.; 175 ff.; 190 ff. 92 Vgl. Bondeli/Imhof 2016, 262 f. Unserer Ansicht nach sind auch Bondelis und Imhofs Verweise darauf, dass im Subjektiven Gesichtspunkt der Vergnügensschrift Eberhard’sche Ideen verarbeitet wurden, richtungsweisend. (Siehe Bondeli/Imhof 2016, 263 f.) 93 „Puisque le premier but de la Poësie & de la Peinture est de nous toucher, les poëmes & les tableaux ne sont de bons ouvrages qu’à proportion qu’ils nous émeuvent & qu’ils nous attachent.“ (Réflexions II, 339) „Le cœur s’agite de lui-même, & par un mouvement qui précede toute délibération, quand l’objet qu’on lui présente est réellement un objet touchant, soit que l’objet ait reçu son être de la nature, soit qu’il tienne son existence d’une imitation que l’art en a fait.“ (Réflexions II, 342 f.) „L’ouvrage plaît-il, ou ne plaît-il pas? L’ouvrage est-il bon ou mauvais en général? C’est la même chose. Le raisonnement ne doit donc intervenir dans le jugement que nous portons sur un poëme ou sur un tableau en général, que pour rendre raison de la décision du sentiment“. (Réflexions II, 340)

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Vergnügens in einem gewissen Sinne objektiviert. Dies ist der Fall, weil die von einer Kraft abhängende Befriedigung eines Triebes auf einen – im vorstellenden Subjekt befindlichen – Sachverhalt verweist, der die Sphäre der bloßen Empfindungsqualitäten sprengt. Die Objektivität einer Lehre muss sich nämlich nicht daran messen, in welchem Grad sie die vorstellbaren Gegenstände unvoreingenommen berücksichtigt, die mit den vorstellenden Subjekten nicht identisch sind, da es auch intersubjektiv zugängliche und sachlich eruierbare Eigenschaften gibt, welche die Subjekte als etwas Vorstellbares betreffen. Obwohl – anders als Dubos – Pouilly gerade nicht den Begriff des Bedürfnisses in den Vordergrund stellt, entspricht dessen Lehre viel eher den Objektivierungsbestrebungen Reinholds. Denn einerseits setzt sich Pouilly für eine Wissenschaft der Empfindungen ein, die er für genauso gut begründbar und sogar für wichtiger hält als alle anderen Naturwissenschaften.⁹⁴ Und andererseits lässt sich aus seinen Ausführungen der Lehrsatz gewinnen, dass jeder Gegenstand, der unsere eigene Vollkommenheit beweist, von innigem Vergnügen begleitet wird, wobei diese Vollkommenheit eine hinreichende Bedingung unserer Glückseligkeit darstelle.⁹⁵ Jene Vollkommenheit bestehe in der Beschaffenheit unseres Körpers, Geistes und moralischen Charakters, die eine dauerhafte Glückseligkeit bewirken.⁹⁶ Gleich der Reinhold’schen Akzentuierung wird hier die Nicht-Referentialität des Vergnügens aufgehoben, da die Empfindungen auf eine – zumindest in einigen Fällen intersubjektiv zugängliche – Eigenschaft des Subjekts verweist. Dass bereits Pouilly der Vollkommenheit – wenn auch unter subjektiven Vorzeichen – einen derart hohen Stellenwert einräumt, deutet – bei all den vorhandenen Unterschieden – auf Konvergenzen zwischen dem subjektiven und objektiven Standpunkt und auch auf die Bedeutung, die letzterer für Reinhold hatte.⁹⁷

94 „Il y a une science des sentimens aussi certaine & plus importante qu’aucune science naturelle.“ (Théorie des sentimens, 83) 95 „De l’agrément attaché aux biens honnêtes, c’est-à-dire, à ceux qui nous prouvent notre perfection. Jusqu’ici j’ai considéré les objets qui sont agréables par eux-mêmes: il y en a d’autres qui ne le sont que par leur rapport avec ces premiers objets. Telle est la perfection. De tous les biens qui nous flattent par les promesses qu’ils nous font, la perfection est le plus précieux. Elle est comme le gage du bonheur.“ (Théorie des sentimens, 149 f.) 96 „La perfection consiste dans la possession des qualités du corps, de l’esprit & de l’âme, lesquelles nous mettent à portée de nous procurer un solide bonheur, en conformité des intentions de notre Auteur, gravées dans la nature de notre être.“ (Théorie des sentimens, 152) 97 Die Divergenzen zwischen dem subjektiven Standpunkt eines Pouilly und dem objektiven Standpunkt eines Wolffs und Mendelssohns werden sich für unsere Zwecke deutlich genug im nächsten Unterkapitel herausstellen. Indes können wir hier bereits anmerken, dass wir Stöckmann ganz beipflichten, wenn dieser zum Ausdruck bringt, dass sich Pouillys Vergnügenskonzeption als ‚Gegenentwurf zur rationalistischen Theorie der Vollkommenheit – im Sinne des cartesisch-wolff-

2.3 Der objektive Gesichtspunkt

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Einschätzungen, wie etwa diejenige von Fabbianelli, dass nach Pouilly die angenehmen Empfindungen ‚keinen Zweck außer sich selbst haben‘ oder dass sie ein ‚absolut subjektives Ergebnis‘ darstellen, werden dessen Theorie nicht gerecht.⁹⁸ Sowohl Dubos als auch Pouilly sind für Reinhold wichtig, aber seine ästhetischen Ansätze sind stärker von Pouilly inspiriert als von Dubos.

2.3 Der objektive Gesichtspunkt 2.3.1 Gedachte oder empfundene Vollkommenheit und die Taxonomie der Vorstellungen Der Titel des dritten Paragraphen der Vergnügensschrift namens ‚Objektiver Gesichtspunkt‘ hält, was er verspricht. Hier finden wir nämlich eine Diskussion der Positionen von Wolff und Mendelssohn, die explizit auf konkrete Aussagen der beiden Philosophen eingeht. Reinhold bezieht sich dabei auf Wolffs Psychologia Empirica, welche in den Paragraphen 543 – 549 den Kern seiner ästhetischen Überlegungen enthält, die ihrerseits in eine allgemeine Theorie der Lust eingebettet sind; was Mendelssohn betrifft, so wird dessen Schrift Ueber die Empfindungen behandelt. Diese enthält einen Briefwechsel zwischen den fiktiven Personen Euphranor und Theokles – der eine ein Anhänger der ästhetischen Empfindsamkeit, welcher den sinnlichen Genuss über alles stellt, der andere ein ästhetischer Rationalist, der die Vorzüge eines intellektuellen Zugangs zum Schönen hervorhebt.⁹⁹ Unser Elementarphilosoph geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Ausführungen Theokles‘ mit Mendelssohns eigenen Überzeugungen übereinstimmen. In der Sekundärliteratur ist eine solche Interpretation allerdings strittig. Z. B. vertreten Fritz Bamberger und Christian G. Allesch die Ansicht, dass Mendelssohns Gedanken zur Ästhetik unabgeschlossen und nicht endgültig festgelegt sind, wes-

schen Modells – rekonstruieren lässt‘, welche – anders als Pouilly – ‚die Vollkommenheit vornehmlich als außersubjektive Kategorie des Gegenstandes‘ begreift. (Stöckmann 2009, 74) 98 Vgl. Fabbianelli 2003 a, LXXXVI; LXXXVIII. 99 Euphranor: „Die Vernunft allein kan kein Wesen beglücken, das nicht lauter Vernunft ist. Wir sollen fühlen, genießen, und glücklich seyn. […] Welcher Unterscheid zwischen diesen beyden Aussprüchen: dieser Gegenstand ist schön; dieser Gegenstand ist wahr!“ (Phil. Schriften I, 9 f.) Theokles: „Mein Wahlspruch ist: wähle, empfinde, überdenke und geniesse. Wähle: unter den Gegenständen, die dich umgeben, erlies dir solche, die deiner Wohlfart zuträglich sind. Empfinde sie: versorge dich mit anschauenden Begriffen und Urtheilen von ihrer Beschaffenheit. Ueberdenke: stelle dir alle einzelne Theile deutlich vor, und erwege ihre Verhältnisse und Beziehungen gegen einander und auf das Ganze. Alsdenn geniesse: richte deine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand selbst“ (Phil. Schriften I, 19)

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halb man seine Position nicht mit einer der beiden Dialogpartner vollständig identifizieren könne.¹⁰⁰ Es ist zwar unbestreitbar, dass man seiner Philosophie nur gerecht werden kann, wenn man alle seine Werke konsultiert. Nichtsdestotrotz wird schon alleine aus dem Aufbau des Briefwechsels ersichtlich, dass Theokles‘ Darlegungen eher der Position Mendelssohns entsprechen. So stammen etwa nur die Briefe 1 – 2, 8 – 9 und 14, die sich über neununddreißig Druckseiten erstrecken, von Euphranor, wohingegen die restlichen von insgesamt fünfzehn Briefen, die rund achtundachtzig Druckseiten füllen, aus der imaginären Feder des Theokles entspringen. Zudem fällt auf, dass Euphranor stets die besten Auflagen liefert, anhand derer Theokles sodann seine eigene Theorie mit Leichtigkeit profilieren kann und dass dieser obendrein immer das letzte Wort behält. Der dritte Paragraph der Vergnügensschrift beginnt mit einem Zitat aus Ueber die Empfindungen, das besagt, dass René Descartes (1596–1650) der erste gewesen sei, der „fand, daß wir einen Gegenstand als etwas in seiner Art vollkommenes ansehen müßten, wenn er uns Lust gewähren sollte“ (Phil. Schriften I, 145), was Mendelssohn – demselben beipflichtend – als „eine Sacherklärung von dem Vergnügen“ und „die allgemeinste Formel“ bezeichnet, „die alle besondere [sic!] Fälle in sich schließt.“ (Phil. Schriften I, 145 f.)¹⁰¹ Reinhold bringt dagegen vor, dass es sich bei dieser Exposition zwar um eine Formel (Nominaldefinition) handelt, weder aber um eine Sacherklärung (Realdefinition) noch um die allgemeinste Formel, da die im zweiten Paragraphen aufgestellte und hier sinngemäß wiedergegebene, dass ‚das Vergnügen ein Gefühl der Befriedigung des Vorstellungstriebes ist‘, doch als ebenso allgemein eingestuft werden könne. Jeder, der die allgemeinste Eigenschaft, welche vergnügliche Gegenstände so an sich haben, untersucht, müsse aber früher oder später auf die cartesianische Formel kommen und mit ihr im Wesentlichen konform gehen.¹⁰² Dass das Vergnügen oder die Lust sowohl mit der Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen als auch mit der Vollkommenheit der vorgestellten Gegenstände einhergeht, sind folglich zwei gleichberechtigte Lehrsätze. Was aber

100 Vgl. Bamberger 1971, XLV; vgl. Allesch 1987, 186. 101 „Das Gesunde, das Schmackhafte, das Schöne, das Nützliche, alle Ergötzungen laufen endlich auf den Begriff von einer Vollkommenheit hinaus, wenn das davon abgesondert wird, was sie in ihren Unterarten determinirt.“ (Phil. Schriften I, 146) Dem pflichtet Wolff grundsätzlich bei: „Wer von einer Vollkommenheit zu der andern unverhindert fortschreitet, und die Unvollkommenheit vermeidet, dabey aber auch darauf acht hat, der hat eine anschauende Erkäntniß der Vollkomenheit […]. Weil nun die anschauende Erkäntniß Lust oder Vergnügen gebietet […]; so hat er ein beständiges Vergnügen. Und demnach ist das höchste Gut oder die Seeligkeit des Menschen mit einem beständigen Vergnügen verknüpffet [sic!].“ (Wolff, Christian: Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen. Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle 1752. Im Folgenden zitiert als „DE“. Hier: 34 [§ 49]). 102 Vergnügensschrift 1788, 67.

2.3 Der objektive Gesichtspunkt

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diese Vollkommenheit eigentlich ist und in welchem exakten Verhältnis sie zum Vergnügen steht, müsste näher bestimmt werden, wenn es nicht bei einer bloßen Formel bleiben soll. Im restlichen Paragraphen geht es aber nicht um diese Herausforderung – wenigstens nicht primär und explizit –, sondern um das – eigentlich subjektive – Problem, „welche Vorstellung der Vollkommenheit […] dem Vergnügen wesentlich“ (Vergnügensschrift 1788, 68) ist. Darüber, ob „die Vollkommenheit des Gegenstandes immer nur empfunden werden [muss]; oder […] sich auch ein Vergnügen denken [lässt], bey welchem die Vollkommenheit nur gedacht würde“ (Vergnügensschrift 1788, 68), scheiden sich laut Reinhold die Geister. In der rationalistischen und ursprünglich von Leibniz abstammenden Schule lautet diese Frage: Muß die Vollkommenheit, in so ferne sie Vergnügen gewähren soll, in einer verworrenen Vorstellung empfunden werden? oder kann sie auch ohne daß ihre Wirkung, das Vergnügen, dadurch verlohren gehe, in einer deutlichen Vorstellung gedacht werden? (Vergnügensschrift 1788, 68 f.)

Nach Leibniz – dem Großvater der deutschen Ästhetik, wie Frederick C. Beiser in nennt¹⁰³ – ist eine Vorstellung dunkel, wenn der Gegenstand, der durch sie ursprünglich vorgestellt wurde, nicht wiedererkannt werden kann; klar ist sie hingegen, wenn sich der vorgestellte Gegenstand identifizieren und somit auch von anderen Objekten unterscheiden lässt. Eine solche Erkenntnis sei schließlich entweder verworren bzw. undeutlich oder deutlich. Ersteres sei der Fall, wenn man nicht angeben kann, worin eine klar vorgestellte Entität sich von anderen Entitäten unterscheidet – wie etwa zwischen Rot und Grün –, und letzteres, wenn sich diese Unterschiede aufzählen lassen – wie zwischen Gold und Bronze. Zudem müsse der Übergang zwischen verworrenen und deutlichen Vorstellungen – auf der Achse der Klarheit – gemäß der lex continui als ein Kontinuum gedacht werden, sodass z. B. die Deutlichkeit auch immer einen Grad aufweist, je nachdem wie viele klar vorgestellten Unterschiede in einer Vorstellung deutlich gemacht werden können.¹⁰⁴ Wolff – nach Beiser der Vater der deutschen Ästhetik¹⁰⁵ – stimmt hier mit Leibniz in der Hauptsache überein: Klare Gedanken bzw. Vorstellungen sind „so 103 Vgl. Beiser 2009, 31. 104 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen. In: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Ernst Cassirer (Hrsg.). Hamburg 1924. (= Philosophische Bibliothek. 107), 22 – 29. Im Folgenden zitiert als „Betrachtungen“. Hier: 22 ff. Vgl. Metaphysische Abhandlung, 68 ff. [§ 24]. 105 Vgl. Beiser 2009, 31; 48. Auch wenn wir Beiser grundsätzlich zustimmen und uns folglich gegen die Mehrheitsmeinung richten, die bekanntlich Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) den Titel ‚Vater der Ästhetik‘ bzw. ‚Begründer der Ästhetik in Deutschland‘ beimisst (vgl. z. B. Pöltner 2008, 14;

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beschaffen, daß wir gar wohl wissen, was wir denken, und sie von anderen unterscheiden können“¹⁰⁶ (DM, 110 [§ 198]); „hingegen wenn wir selbst nicht recht wissen, was wir daraus machen sollen, was wir gedenken; so sind unsere Gedanken dunkel.“ (DM, 111 [§ 199]) Klare Vorstellungen sind deutlich, wenn „wir den Unterscheid [sic!] dessen, was wir gedenken, bestimmen, und also auch auf Erfordern ihn andern sagen können“ (DM, 114 f. [§ 206]); undeutlich sind die klaren Vorstellungen schließlich, wenn wir den erwähnten Unterschied – wie etwa denjenigen zwischen den vorgestellten Merkmalen eines Gegenstandes – „nicht bestimmen, und daher auch auf Erfordern anderen nicht sagen können.“ (DM, 119 [§ 214]) Auch bei Wolff erfolgt der Übergang zwischen undeutlichen und deutlichen Vorstellungen graduell.¹⁰⁷ Aber stärker als Leibniz assoziiert er den Verstand mit den deutlichen und die Sinnlichkeit mit den dunklen und verworrenen Vorstellungen, da der Intellekt als Garant der Deutlichkeit fungiere, die den Sinnen und der Einbildungskraft für sich genommen fehle.¹⁰⁸ Auf dieser Taxonomie der Vorstellungen – welche wohlgemerkt die ideentheoretische Basis aller philosophischen Positionen ist, die dem Rationalismus nahestehen (z. B. Mendelssohn, Sulzer und Platner) – basiert Reinholds Rede von der empfundenen Vollkommenheit, die verworren vorgestellt wird, und der gedachten Perfektion, welche man deutlich erfasst. Die Paarungen Sinnlichkeit und Verworrenheit bzw. Undeutlichkeit sowie Verstand und Deutlichkeit sind deshalb äußerst wichtig und müssen für das Folgende memoriert werden.

81), muss hier erwähnt werden, dass Reinhold – anders als wir – der Mehrheitsmeinung das Wort redet. Baumgarten sei nämlich der ‚Stifter der Ästhetik‘. (Vgl. Briefe I, 43) Unserer Ansicht nach ist Baumgarten zwar nicht der Vater, aber doch der wesentliche Geburtshelfer der Ästhetik im deutschsprachigen Raum, insofern die philosophische Reflexion über den Geschmack und den damit zusammenhängenden Sachverhalten als die Mutter dieser Disziplin angesehen wird. 106 Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. 7., veränderte Aufl. Frankfurt/ Leipzig 1738. Im Folgenden zitiert als „DM“. 107 Vgl. DM, 116 ff. [§ 208 ff.]; 119 f. [§ 215]. 108 „Hierinnen ist der Verstand von den Sinnen und der Einbildungs-Kraft unterschieden, daß, wo diese allein sind, die Vorstellungen nur höchstens klar, aber nicht deutlich seyn; hingegen wo der Verstand dazu kommet, dieselben deutlich werden.“ (DM, 153 [§ 277]) Auch Leibniz assoziiert die Verworrenheit mit der Sinnlichkeit; darüber, dass der Verstand bloß zu der Sinnlichkeit hinzukommen muss, um deutliche Vorstellungen und Erkenntnisse zu erzeugen, ist allerdings nicht die Rede. (Vgl. Betrachtungen, 23. Vgl. Metaphysische Abhandlung, 96)

2.3 Der objektive Gesichtspunkt

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2.3.2 Wolffs und Mendelssohns Kognitivismen und Reinholds Stellungnahmen Unser Elementarphilosoph verfährt nun völlig korrekt, indem er Wolff die Auffassung zuschreibt, dass das Vergnügen oder Missvergnügen als solches bzw. die Empfindung in ihrem Erlebnismoment immer aus einer undeutlichen – und also sinnlichen – Vorstellung (Anschauung) der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit eines Gegenstandes hervorgeht und zusammen mit dieser Vorstellung steht und fällt. Denn wie Reinhold richtig übersetzt, hält Wolff in seiner Psychologia Empirica unmissverständlich fest: Das Vergnügen und das Misvergnügen entstehen aus einer undeutlichen Vorstellung der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit. Denn beyde entstehen sogleich als wir eine Vollkommenheit oder Unvollkommenheit an einem vorgestellten Dinge anschauen, wie jeder an sich selbst aus der Erfahrung weiß. Da nun diese anschauende Erkenntniß erst dann deutlich wird, wenn wir unsre Aufmerksamkeit nach und nach von der Vorstellung des Ganzen auf die Vorstellungen der einzelnen Merkmale desselben übertragen: so ist klar, daß die deutliche Vorstellung der Vollkommenheit keineswegs zum Vergnügen gehöre. (Vergnügensschrift 1788, 69)¹⁰⁹

Eine Folge daraus ist, dass man sich nicht zugleich – aber sehr wohl zeitlich versetzt – im undeutlichen bzw. verworrenen Zustand des Vergnügens und in demjenigen einer deutlichen Einsicht in die Vollkommenheit des vergnüglichen Gegenstandes befinden kann. Nichtsdestotrotz ist Wolffs ästhetischer Ansatz kognitivistisch, da er einerseits das Vergnügen als eine anschauliche Erkenntnis der Vollkommenheit bezeichnet, die mit derselben übereinstimmt oder uns bloß als übereinstimmend erscheint,¹¹⁰ und andererseits die Schönheit in der Vollkommenheit der Objekte bestehen lässt, insofern diese die Kraft besitzen, Lust in uns zu erzeugen.¹¹¹ Nach diesen Definitionen ist das Vergnügen bzw. die Lust kein für sich selbst stehendes Gefühl, dessen internale Qualitäten auf nichts Externales referieren, sondern ein aus Empfindungen und Affekten bestehendes erkennendes Anschauen der ästhetischen Merkmale eines Gegenstandes, das je nachdem, ob die Schönheit (Vollkom-

109 „Voluptas & taedium ortum trahunt ex perceptione confusa perfectionis & imperfectionis. Oriuntur enim voluptas ac taedium extemplo, dum perfectionem aliquam, vel imperfectionem in re percepta intuemur: id quod unusquisque in seipso experitur. Enimvero cum cognitio intuitiva, qualis cum ad voluptatem […], tum ad taedium requiritur […], demum dinstincta evadit, ubi attentionem nostram succssive promovemus ad ea, quae ideae rei insunt […]; taedium ac voluptas distinctam perfectionis ac imperfectionis perceptionem minime praesupponunt.“ (PE, 414 f. [§ 536]) 110 „Voluptas est intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cujuscunque, sive verae, sive apparentis.“ (PE, 389 [§ 511]) 111 „Pulchritudo consistit in perfectione rei, quatenus ea vi illius ad voluptatem in nobis producendam apta.“ (PE, 420 [§ 544])

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menheit) oder Hässlichkeit (Unvollkommenheit) korrekt repräsentiert wird, diffus eine ästhetische Richtigkeit oder Falschheit ausdrückt.¹¹² Dass das Ästhetische einen epistemischen Wert hat, war im 18. Jahrhundert eine weit verbreitete Auffassung, die nicht etwa von weltfremden Stubengelehrten – denen Wolff keineswegs angehört – vertreten wurde, sondern direkt aus praktischer Quelle schöpft; man denke etwa nur an Leonardo da Vinci (1452 – 1519), der seine Forschung als Mittel zur Beförderung der Kunst und seine Kunst als eine Art Erkenntnis der Natur verstand.¹¹³ Mit derselben Nachdrücklichkeit wie Wolff die sinnliche und verworrene Natur der Lust hervorhebt, setzt er sich auch für den positiven Einfluss auf die Güte und das Ausmaß des Vergnügens ein, den eine Verstandeseinsicht in die Regeln der Vollkommenheit und Schönheit gewährt.¹¹⁴ Dieses Korrektiv ist in einer solchen Vergnügenskonzeption nötig, weil eine undeutliche Vorstellung – sie mag von einer wahrhaften Vollkommenheit handeln oder nicht – gemäß der vorhin erläuterten Taxonomie der Vorstellungen ein gewisses Defizit gegenüber der deutlichen Erkenntnis aufweist. Die Vollkommenheit der Gegenstände wird aufgrund der Verworrenheit der undeutlichen Vorstellungen nämlich selbst unvollkommen repräsentiert. Dementsprechend führt Wolff aus, dass „die Undeutlichkeit ein[en] Mangel der ferneren Grade der Klarheit“ (DM, 119 [§ 215]) darstellt oder dass „aus der Un-

112 In der Deutsche Metaphysik führt Wolff aus, dass „die Lust nichts anders ist, als ein Anschauen der Vollkommenheit“ bzw. in einer „anschauenden Erkäntniß der Vollkommenheit“ (DM, 247 [§ 404]) besteht, wobei „es […] nicht nöthig [ist], daß die Lust eine wahre Vollkommenheit zum Grunde hat.“ Dies zeigt sich z. B. an jemandem, der „einen unrichtigen Begriff von den Regeln einer guten Rede“ hat. So jemand wird beim Vernehmen einer wahrhaft schlechten Rede „Lust und Wohlgefallen“ empfinden, doch „entstehet bey ihm die Lust aus einem falschen Wahne von der Vollkommenheit“. (DM, 248 [§ 405]) 113 Vgl. Gombrich 1996, 293 ff. 114 „So bald bey uns Lust entstehet; ist es gut, wenn wir untersuchen, was sie für einen Grund hat, damit wir deutlich erkennen, ob es eine wahre Vollkommenheit ist, die wir uns vorstellen, oder ob wir uns etwan [sic!] durch einen falschen Schein verblenden lassen. […] Wer demnach nicht die Gabe deutlicher Erkäntniß hat, der hat seine Lust nicht in seiner Gewalt.“ (DM, 255 [§ 416]) „Zu Vermehrung der Lust [dient], wenn man die Regeln der Vollkommenheit sich vor allen Dingen versichert. […] Wenn ein Gebäude nach den Regeln der Bau-Kunst dergestalt aufgeführet worden, daß man die allgemeine Regeln der Vollkommenheit […] dabey mit Fleiß in acht genommen; so findet ein verständiger Baumeister in Betrachtung des Gebäudes so viel Lust, daß er sich nicht daran satt sehen kann, da hingegen andere, welche die Kunst nicht verstehen, vorbey gehen und es ohne alle Empfindlichkeit ansehen.“ (DM, 250 f. [§ 410 f.]) Der positive Einfluss des Intellekts auf das Vergnügen ist allerdings nicht viel mehr als ein Einfluss, da weiterhin gilt, dass selbst „wenn wir […] zu deutlicher Erkäntniß aufgeleget sind, und dasjenige, was zur Beurtheilung der Vollkommenheit gehöret, deutlich erkennen; […] die Vorstellung der Vollkommenheit selbst nur klar und ohne Deutlichkeit“ (DM, 253 [§ 415]) ist.

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deutlichkeit […] die Grade der unvollkommenen Erkäntniß“ (DM, 154 [§ 281]) entstehen. Beispielsweise können wir uns „durch die undeutlichen Vorstellungen […] ohne Grund eine Lust machen“ (DM, 254 [§ 416]), aber„wenn wir deutlich erkennen, daß nur ein falscher Schein zugegen ist; so wird die[se] Lust verschwinden“. (DM, 255 [§ 416]) Unserer Ansicht nach kann man dennoch nicht so weit gehen und etwa mit Beiser behaupten, dass Wolff dem Je ne sais quoi überhaupt keinen Platz einräumen würde.¹¹⁵ Obgleich es richtig ist, dass laut Wolff jede Verworrenheit deutlich gemacht werden soll und gute Kunst immer eine strenge Befolgung von Regeln voraussetzt und niemals irrationale Elemente enthalten darf – womit er sich meilenweit von Dubos unterscheidet –, so ist die vergnügliche Einsicht in die Vollkommenheit eines Kunstwerkes doch immer nur klar-verworren. Dies entspricht zwar keiner Vernunftlosigkeit in der Kunstproduktion und Kunstrezeption, aber doch einer Arationalität der wahrgenommenen Schönheit im Empfindungsmoment. Immerhin gilt, dass „zu der Lust […] keine deutliche Erkäntniß erfordert wird, sondern nur eine klare“ (DM, 252 [§ 414]) und dass beim Vergnügen „die Vorstellung der Vollkommenheit selbst nur klar und ohne Deutlichkeit“ (DM, 253 [§ 415]) ist. Was die gerade eben angesprochenen Punkte betrifft, folgt Mendelssohn in Ueber die Empfindungen in großen Teilen dem Wolff’schen Gedankengut.¹¹⁶ Wie Reinhold hervorhebt, lässt sich jedoch sehr leicht der Eindruck gewinnen, dass Mendelssohn die Erklärung Wolffs, nach der das Vergnügen als solches aus einer undeutlichen Vorstellung der Vollkommenheit hervorgeht und mit einer zugleich auftretenden deutlichen Vorstellung der Perfektion unvereinbar ist, für zu eng hält.¹¹⁷ Die Verworrenheit, welche mit den Empfindungen einhergeht, ist laut Mendelssohn nämlich bloß auf die Verbindung unserer Seele mit dem Körper und seiner sinnlich-physiologischen Beschaffenheit zurückzuführen. „So lange wir uns noch mit dem Irrdischen schleppen, so lange [ist] unsere Seele noch zu eingeschränkt […], eine Mannigfaltigkeit auf einmal deutlich zu fassen“ (Phil. Schriften I, 115 Vgl. Beiser 2009, 48 f.; 64. 116 Siehe Phil. Schriften I, 11 ff.; 16; 18 f. 117 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 69 f. In einer Fußnote stellt Mendelssohn die Vergnügenskonzeption Wolffs sogar direkt infrage: „Der [Wolff’sche] Lehrsatz lautet: Lust und Unlust entstehen aus einem dunkeln [sc. verworrenen] Begriffe von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, und dies bestätigt meistens die Erfahrung. Man höre aber die Folge, die aus seinem Beweise fließt: Daher setzen Lust und Unlust keinen deutlichen Begriff von Vollkommenheit und Unvollkommenheit voraus. Müssen sie [sc. Lust und Unlust] daher nothwendig aus dunkeln [sc. verworrenen] Begriffen entspringen, weil sie keine deutlichen zum Grunde legen? Könnten sie nicht, diesem Beweise nach, wenigstens aus deutlichen Begriffen eben so wohl entstehen, als aus dunkeln [sc. verworrenen]?“ (Phil. Schriften I, 152 f. Anm.)

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20), hält Mendelssohn durch das Sprachrohr des fiktiven Theokles fest. Aber die „reine Seelenlust, als eine Bestimmung des Geistes […] und abgesondert von ihrer fleischlichen Begleiterin, von der sinnlichen Wollust, muß in den positiven Kräften unsrer Seele, und nicht in ihrem Unvermögen, nicht in der Einschränkung dieser ursprünglichen Kräfte gegründet seyn.“ (Phil. Schriften I, 23) Dementsprechend müsse wenigstens zwischen zwei Quellen des Vergnügens differenziert werden: Erstens, die auf Beschränkungen beruhende Schönheit, welche Mendelssohn für ein ‚Einerlei (Gleichheit oder Ähnlichkeit) des wahrgenommenen Mannigfaltigen‘ ausgibt, vermittelst dessen diese Vielheit und Verschiedenheit für unsere inkarnierte Seele zu einer ‚Ordnung‘ simplifiziert wird, die durch eine ‚leichte Beschäftigung in die Sinne fällt‘, und uns somit im diesseitigen Dasein Vergnügen zu bereiten vermag; zweitens, die uneingeschränkte Vollkommenheit, welche er für eine ‚Einhelligkeit (vernünftiger bzw. teleologisch erschließbarer Zusammenhang) des Mannigfaltigen‘ hält, durch die sich ‚begreifen lässt, warum dieses Vielgestaltige so und nicht anders nebeneinander ist‘, und es also allererst als ein in sich gegründetes Ganzes erkannt werden kann.¹¹⁸ Bezogen auf Ueber die Empfindungen sind Interpretationen wie z. B. jene Fabbianellis, die hervorheben, dass nach Mendelssohn ‚die Schönheit keinen Mangel gegenüber der intellektuellen Einsicht‘ darstelle, fehlerhaft, weil sie der textuellen Grundlage entbehren.¹¹⁹ Die Unterschiede zwischen den beiden Lustquellen macht Mendelssohn mehr als deutlich: Ich komme zu dir, der himmlischen vortrefflichsten,Vollkommenheit! Nicht, wie dich die Sinne fassen, wie dich die Vernunft begreift! Wahrer Entzweck der Schöpfung! Rathgeberinn Gottes! Ich würde deine Göttlichkeit entweihen, wenn ich dir nur Vorzüge für eingeschränkte Wesen einräumen wollte. […] Du gewährest Mannigfaltigkeit; aber kein Einerley in dem Mannigfaltigen, keine Leichtigkeit in der Beschäftigung. Diese geringern Vorzüge überläßt du deiner sinnlichen Nachahmerinn, der Schönheit, die sich bis zur Schwachheit der Irrdischen herunter lassen mag. […] Du gewährst nicht nur Vorstellungen, sondern auch verknüpfte und in einander gegründete Vorstellungen. Nichts muß überflüßig, nichts mißhellig, nichts mangelhaft in deinen Bestimmungen seyn. An diesen Merkmalen erkennet der Weltweise deine Gottheit, Mutter der himmlischen Liebe! Und er muß sich hüten, diese himmlische Venus nicht mit der irrdischen, mit der Schönheit, zu verwechseln. (Phil. Schriften I, 30 f.)

Obwohl Reinhold die – gegen Wolff gerichteten – Bestrebungen Mendelssohns, das Vergnügen in seinem Erlebnismoment nicht allein auf einer verworrenen Vorstel-

118 Vgl. Phil. Schriften I, 28 f.; 30 ff.; 84; 148 f. Mendelssohn nennt auch noch eine dritte Quelle des Vergnügens: der „sinnliche Lust“ gewährende, „verbesserte Zustand unserer Leibesbeschaffenheit“ (Phil. Schriften I, 84), den die Seele durch eine „undeutliche aber lebhafte Vorstellung von der Vollkommenheit ihres Körpers“ (Phil. Schriften I, 81) empfinden kann. Für unsere Zwecke hier genügt es allerdings, die anderen zwei Quellen näher bestimmt zu haben. 119 Vgl. Fabbianelli 2003 a, XCII.

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lung gründen zu wollen, gutheißt,¹²⁰ sieht er das Konzept einer reinen Seelenlust an der ‚verständlichen Vollkommenheit‘ – wie Mendelssohn sie auch bezeichnet¹²¹ – nicht als ein adäquates Mittel dafür an. Denn damit habe er „die Schönheit […] zu sehr herabgewürdiget, da er sie für ein bloßes Einerley im Mannigfaltigen, und das Vergnügen an ihr für eine bloße Folge unsres Unvermögens erklärt.“ (Vergnügensschrift 1788, 72) Ferner erfülle Mendelssohns – Transzendentes implizierende – Unterscheidung zwischen Schönheit und Vollkommenheit im Gebiet des Immanenten keine sinnvolle Funktion, da uns als Menschen – d. h. als physische Wesen – die intellektuelle Perfektion in ihrer Empfindungsqualität wiederum nur unter den vermeintlich einschränkenden Bedingungen unserer Leiblichkeit und also bloß vermittelst verworrener Vorstellungen zugänglich ist. So ‚lange wir uns mit dem Irdischen schleppen‘, ist folglich nicht nur das Vergnügen an der Schönheit, sondern auch dasjenige an der Vollkommenheit keine eigentliche Seelenlust, die essentiell auf deutlichen Vorstellungen beruht.¹²² Denn um Vergnügen – wie wir es kennen – hervorzurufen, sei eine Beteiligung des Verstandes bzw. ein Denken der Vollkommenheit – d. i. ein ‚Auflösen in deutliche Begriffe‘ – nicht genug, da das Empfinden – d. i. ein ‚Anschauen des Ganzen ohne sukzessive Vorstellung der Teile‘ – doch we-

120 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 79. 121 Siehe Phil. Schriften I, 55. 122 Bondeli und Imhof sind hingegen der Ansicht, dass Mendelssohn die Deutlichkeit und das Vergnügen im Augenblick des Genusses für miteinander unvereinbar hält. (Vgl. Bondeli/Imhof 2016, Anm. 297 f., 266) Sie verweisen auf folgende Stelle in Ueber die Empfindungen, welche wir im Haupttext bereits teilweise zitiert haben: „Deutlich muß kein besonderer Begriff in dem Augenblicke des Genusses bleiben wollen; so lange wir uns noch mit dem Irrdischen schleppen, so lange unsre Seele noch zu eingeschränkt ist, ein Mannigfaltiges auf einmal deutlich zu fassen.“ (Vgl. Phil. Schriften I, 20) Wie man unschwer erkennen kann, spricht sich Mendelssohns Theokles hier aber nicht gegen jegliche Vereinigung der deutlichen Vorstellungen mit dem Empfindungsmoment des Vergnügens aus, sondern nur gegen eine solche Vereinigung, die der sinnlich-physiologischen Lust bzw. dem Vergnügen am Schönen zugeschrieben wird. Mit der Formulierung ‚so lange wir uns noch mit dem Irrdischen schleppen, so lange unsre Seele noch zu eingeschränkt ist, ein Mannigfaltiges auf einmal deutlich zu fassen‘ wird zugleich auf die sogenannte ‚reine Seelenlust‘ verwiesen, die sodann mit den deutlichen Vorstellungen nicht nur vereinbar ist, sondern sogar ohne diese gar nicht bestehen kann. Letzteres lässt sich z. B. daraus erschließen, dass laut Theokles reine Seelenwesen ohne die Existenz einer Seelenlust folgendermaßen klagen würden: „Du [sc. Gott] hast uns mit deinem Fluche beladen, indem du uns aufgeklärte Geister verliehen hast. Wir begreifen alles deutlicher [Hervorhebung von M. S.], als die Wesen, die unter uns sind; elendes Vorrecht, das uns die Wege zur Lust verschleußt!“ (Phil. Schriften I, 22) Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass die Seelenlust ‚vernünftigen Zusammenhang‘ erfordert und die intellektuelle Vollkommenheit nicht durch die ‚Sinne erfasst‘, sondern durch die ‚Vernunft begriffen‘ wird. (Vgl. Phil. Schriften I, 30 f.)

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sentlich auf der Sinnlichkeit beruhe.¹²³ Unser Elementarphilosoph stellt die folgenden rhetorischen Fragen und deutet damit gleichsam auf seine eigene Position: Ist [denn] überall Schönheit, wo Einerley im Mannigfaltigen ist? [Nein, da Schönheit eine Art der Einheit des Mannigfaltigen ist.] Muß nicht alles Schöne [wie das Vollkommene auch] ein Ganzes seyn, und kann durch das bloße Einerley im Mannigfaltigen ein Ganzes entstehen? [Zur ersten Frage aufgrund der Bestimmung der Schönheit als Einheit des Mannigfaltigen: ‚Ja!‘. Und zur zweiten: ‚Natürlich nicht!‘, weil die abstrahierte Gleichheit oder Ähnlichkeit kein – alles Allgemeine und Individuelle in sich enthaltendes – auf Einheit beruhendes Ganzes gibt.] Muß nicht die Schönheit, zumal die Schönheit im strengsten Verstande des Wortes, das haben, was Herr M. [sc. Mendelssohn] für die Vollkommenheit gleichsam in Beschlag nimmt, vernünftiger Zusammenhang, Uebereinstimmung, Einhelligkeit? [Sicherlich, weil jede Einheit – wie sich noch zeigen wird – Spontaneität erfordert und für die Einheit, aus welcher die Schönheit besteht, eine höhere Form der Selbsttätigkeit benötigt wird.] Wie wäre dann also das Vergnügen an Schönheit eine bloße Folge unseres Unvermögens? [Gar nicht!] (Vergnügensschrift 1788, 72 f.)

Nach Reinhold ist die Schönheit in erster Linie sinnlich vermittelt und dennoch weder ein Wirrwarr noch eine zum Zweck der primitiven Lust simplifizierte Schlichtheit oder Einförmigkeit, sondern eine Ansammlung von Eindrücken, die ein Ganzes ausmachen, das durchaus unsere intellektuellen Kräfte anregen muss.

2.3.3 Versöhnungsversuch zwischen Wolff und Mendelssohn und über Reinholds Aufwertung der Sinnlichkeit im Vergleich zu Baumgarten Reinholds Gegenentwurf zu Wolffs und Mendelssohns Vergnügenskonzeptionen ist im Detail originell und erzielt eine – auf Kompromissen beruhende – Versöhnung zwischen den beiden, die sowohl Wolffs Ansicht, dass das Vergnügen als solches nicht in deutlichen Vorstellungen bestehen kann, als auch Mendelssohns Versuch, nicht jegliche Lust auf verworrenen Vorstellungen bzw. einer Einschränkung unserer Seelenkräfte zu gründen, gerecht wird. Das Mittel hierzu besteht in der Aufgabe der den beiden Vergnügenskonzeptionen zugrundeliegenden Auffassung der Sinnlichkeit, nach der dieselbe als ein Mangel gegenüber den deutlichen Vorstellungen des Verstandes angesehen wird: So lange die Sinnlichkeit für das Vermögen verworrener Vorstellung, und in Gegensatz mit dem Verstande für ein bloßes Unvermögen der Seele erklärt wird, so lange ist die unwiderlegbare Behauptung Wolfens „Das Vergnügen ist kein bloßes Denken sondern ein Empfinden“ mit der

123 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 73 ff.

2.3 Der objektive Gesichtspunkt

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eben so unwiderlegbaren Behauptung Mendelssohns „das Vergnügen an sich selbst, kann keine Folge der Einschränkung der Seele seyn“ unvereinbar. (Vergnügensschrift 1788, 76)

Um dieser Abwertung der Sinnlichkeit ein für alle Mal ein Ende zu setzen, müsse diese als ein für das Vorstellungsvermögen unentbehrliches Teilvermögen verstanden werden, das als ‚Rezeptivität des Gemüts‘ eine notwendige Bedingung der Möglichkeit darstellt, überhaupt einen Vorstellungsinhalt bzw. ‚Stoff der Vorstellung‘ zu haben, der sodann – vermittelst einer weiteren Funktion – tatsächlich vorgestellt bzw. als ein ‚Mannigfaltiges‘ auf die ‚Einheit‘ des Bewusstsein gebracht werden kann. Dergestalt konzipiert, kann die Sinnlichkeit nicht mehr nur mit den physischen Sinnen, mit unserer Leiblichkeit, identifiziert werden, sondern erhält auch den – davon verschiedenen – Status einer notwendigen und allgemeingültigen sowie apriorischen (erfahrungsunabhängigen) Konstante aller zu Bewusstsein fähiger Wesen. Neben der Rezeptivität, dem ‚Vermögen affiziert zu werden‘, werde für jedes Bewusstsein zudem die ‚Spontaneität des Gemüts‘ benötigt, welche es allererst vermag, das ‚vermittelst der Rezeptivität gegebene Mannigfaltige zu verbinden und auf Einheit zu bringen‘.¹²⁴ Hier wendet Reinhold bereits sein eigenes elementarphilosophisches Verständnis der Empfänglichkeit als ‚Sinnlichkeit in weiterer Bedeutung‘ bzw. ‚bloße Rezeptivität‘ und der Selbsttätigkeit als ‚Verstand in weiterer Bedeutung‘ bzw. ‚bloße Spontaneität‘ an, wie man es später im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens elaborierter ausgearbeitet vorfindet.¹²⁵ Derart aufgefasst werden Sinnlichkeit und Verstand nicht bloß als unentbehrliche Teilvermögen des Erkenntnisvermögens, sondern des Vorstellungsvermögens begriffen, welches eine notwendige Bedingung aller Äußerungen des Bewusstseins, mithin der Anschauungen, Begriffe und Ideen, etc. ist.¹²⁶ Wie wir in der Vergnügensschrift nun weiter lesen können, ist unter dieser Explikation der Sinnlichkeit und ihres Verhältnisses zum Verstand alles Undeutliche nur dann verworren, wenn es überhaupt real möglich und auch erforderlich ist, dass die beim ‚Empfinden‘ oder ‚unmittelbaren Vorstellen des gegebenen Stoffes‘ auftretende ‚Totalvorstellung‘ (Vorstellung des Ganzen) durch Zergliederung in ‚Partialvorstellungen‘ (Vorstellung einzelner Teile oder Merkmale) deutlich gemacht werden kann und soll. ¹²⁷ Durch diese – zum Teil kantisch anmutende¹²⁸ – Neubestimmung des Vorstellungsvermögens wird die Gleichsetzung der Undeutlichkeit 124 125 126 127 128

Vgl. Vergnügensschrift 1788, 76 f. Vgl. Versuch, 270; 296; 304; 362 f.; 385; 422; 425; 559 f. Vgl. Versuch, 264 ff.; 267 ff. Vgl. Vergnügensschrift 1788, 77 ff. Vgl. KrV, A 126.

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mit der Verworrenheit aufgehoben, da nun gilt, dass zwar „jede verworrene Vorstellung […] undeutlich, aber nicht jede undeutliche […] verworren“ (Vergnügensschrift 1788, 77) ist.¹²⁹ Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit gegenüber Wolff und Mendelssohn eine – mehr oder minder – diplomatische Neubestimmung des Vergnügens vorzunehmen, nach der keine Lust per se aus irgendeinem Defizit erwächst, aber dennoch jede Lust undeutlich ist: Sowohl Wolf [hat] recht, wenn er behauptet, daß alles Vergnügen undeutliche Vorstellung der Vollkommenheit seyn müsse; als Mendelssohn – daß das Vergnügen an sich selbst unmöglich aus dem Unvermögen der Vorstellungskraft entspringen könne. Das Vergnügen ist Empfindung, im Afficiertwerden der Sinnlichkeit, und eben darum wesentlich undeutlich; aber diese Undeutlichkeit ist keine Verworrenheit, kein Mangel, sondern eine Bedingung jeder Anschauung, eine Folge des afficirten Vermögens, nicht eines Unvermögens des Gemüthes. (Vergnügensschrift 1788, 79)

Wir haben diese Neubestimmung bzw. diesen Gegenentwurf als originell bezeichnet, obwohl dieser ohne, dass ihm Kants Kritik der reinen Vernunft vorhergegangen wäre, undenkbar ist und sogar teilweise auf den Ideen Platners fußen könnte – worauf wir noch gesondert aufmerksam machen werden. Denn Reinhold ist vermutlich – d. h. soweit wir dies ihm Rahmen der hier vorliegenden Studie eruieren konnten – der erste, dem Kritizismus nahestehende Philosoph, der die Ergebnisse der Transzendentalen Ästhetik – d. i. die Lehre von den reinen und formalen Bedingungen der Erscheinungen¹³⁰ – auf die oben dargestellte Art und Weise zweckentfremdet und – wenn auch in dem breiteren Kontext des Vergnügens – auf Probleme der eigentlichen Ästhetik bzw. der Theorie der Schönheit, des Erhabenen und der Kunst angewandt hat.¹³¹ Damit gelingt Reinhold dasjenige, was etwa ein

129 Die Beispiele, die Reinhold für Totalvorstellungen gibt, die gar nie als verworren gelten können, und solchen, die es können, da deren Zergliederung in Partialvorstellungen möglich und geboten ist, erleichtern das Verständnis: „Undeutlich ohne verworren zu seyn, ist z. B. die Vorstellung von der rothen Farbe; verworren hingegen sind die gewöhnlichen Vorstellungen von Recht und Unrecht, [oder] die in der bisherigen spekulativen Philosophie angenommene Vorstellungsarten von dem Erkenntnisvermögen, u. d. m.“ (Vergnügensschrift 1788, 77 f.) 130 Vgl. KrV, A 15 f./B 29; A 20/B 34; A 22/B 36. 131 Wir betonen ‚auf die oben dargestellte Art und Weise‘, weil es in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre auch andere Versuche gab, die kantische Lehre noch vor dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft auf die Themengebiete Vergnügen und Geschmack zu applizieren. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf Karl Heinrich Heydenreich (1764 – 1801) verwiesen, der teils unter kantischen Vorgaben ab 1786 in eine Reihe von Aufsätzen eine philosophische Ästhetik zu gründen beabsichtigte. (Siehe Erlinghagen 2014 a, 266 ff.) Zwar kritisiert Heydenreich eine Ästhetik Leibniz-Wolff’scher Provenienz, indem er zu zeigen versucht, dass die Lust am Schönen auch auf deutlichen Vorstellungen beruhen kann, doch fehlt bei ihm die Aufwertung der Sinnlichkeit, wie sie

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Baumgarten – noch zu sehr in der rationalistischen Tradition verhaftet – nicht zur Gänze erreicht hat: eine konsequente Aufwertung der Sinnlichkeit in ästhetischen Belangen. Freilich hat Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762) durch die – sich bei Leibniz und Wolff noch nicht getroffene – Unterscheidung zwischen der intensiven und extensiven Klarheit eine Neubewertung der Sinnlichkeit vorgenommen.¹³² Eine intensive Steigerung der Klarheit werde durch eine verbesserte Distinktion der vorgestellten Merkmale eines Gegenstandes und also durch eine größere Beteiligung des Intellekts erzielt; eine extensive Steigerung hingegen durch eine Vermehrung der als voneinander verschieden, zugleich wahrgenommener Merkmale, was sich in einer erhöhten Lebhaftigkeit der Empfindung äußere und folglich durch eine größere Beteiligung der Sinnlichkeit hervorgerufen werde.¹³³ Dabei gehe die Reinhold durch die Betonung einer vom Verstand unabhängigen Rezeptivität und einer differenzierten Analyse des Begriffspaares der Undeutlichkeit und Verworrenheit erzielt. (Vgl. Heydenreich, Karl Heinrich: Ideen über die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie der schönen Künste. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt. Bd. 3. Karl Adolph Cäsar (Hrsg.). Leipzig 1786, 231 – 306. Im Folgenden zitiert als „Theorie der Künste“. Hier: 279 ff. Vgl. Heydenreich, Karl Heinrich: Entstehung der Aesthetik, Kritik der Baumgartenschen, genauere Prüfung des Kantischen Einwurfs gegen die Möglichkeit einer philosophischen Geschmackstheorie, bestimmtere Richtung der ganzen Frage, worauf es hiebey ankommt. In: Neues philosophisches Magazin, 1789, Bd. 1, St. 2, 169 – 205. Hier: 177 f. Vgl. Heydenreich, Karl Heinrich: Bemerkungen über den Zusammenhang der Empfindung und Phantasie. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt. Bd. 5. Karl Adolph Cäsar (Hrsg.). Leipzig 1787, 136 – 203. Hier: 151 ff.) Auch Johann Heinrich Abichts (1762 – 1816) Versuch einer Metaphysik des Vergnügens nach Kantischen Grundsätzen verdient es hier erwähnt zu werden. (Abicht, Johann Heinrich: Versuch einer Metaphysik des Vergnügens nach Kantischen Grundsätzen zur Grundlegung einer systematischen Thelematologie und Moral. Leipzig 1789. Im Folgenden zitiert als „Versuch einer Metaphysik des Vergnügens“) Besonders in § 23 dieses Werks scheint Abicht – ohne es kenntlich zu machen – an Überlegungen aus Reinholds Vergnügensschrift anzuknüpfen. (Siehe Versuch einer Metaphysik des Vergnügens, 73 ff.) 132 Vgl. Beiser 2009, 128. Vgl. Franke 2018, 26. Vgl. Schweizer 1973, 35. 133 „Si in repraesentatione A plura repraesententur quam in B C D etc., sint tamen omnes confusae, A erit reliquis EXTENSIVE CLARIOR. Addenda fuit restrictio, ut distinguerentur hi claritatis gradus a satis cognitis illis, qui per notarum distinctionem descendunt ad cognitionis profunditatem et unam repraesentationem altera intensive reddunt clariorem.“ (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übers. u. mit einer Einl. v. Heinz Paetzold (Hrsg.). Lateinisch– Deutsch. Hamburg 1983. (= Philosophische Bibliothek. 352) Im Folgenden zitiert als „Meditationes philosophicae“. Hier: 16 [§ 16]) „CLARITAS claritate notarum maior INTENSIVE, multitudine notarum EXTENSIVE MAIOR dici potest. Extensive clarior PERCEPTIO est VIVIDA. Vividitas COGITATIONUM et ORATIONIS NITOR (splendor) est, cuius oppositum est SICCITAS (spinosum cogitandi dicendique genus). Utraque claritas est PERSPICUITAS. Hinc perspicuitas vel est vivida, vel intellectualis, vel utraque.“ (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica/Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe. Übers. u. eingel. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl (Hrsg.). Stuttgart/Bad

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ästhetische Vollkommenheit mit einer größeren extensiven Klarheit und Sensitivität der Vorstellungen einher, welche diese Vollkommenheit repräsentieren.¹³⁴ Daher ist die Sinnlichkeit in diesem Punkt dem Verstand überlegen. Allerdings hebt Baumgarten die Verworrenheit der extensiv-klaren Vorstellungen nicht auf, sondern bekräftigt diese sogar.¹³⁵ So bringt er zum Ausdruck, dass – obschon der Zweck der Ästhetik die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis ist – die sinnliche Erkenntnis unter der Deutlichkeit verbleibt, beim sogenannten ‚unteren Erkenntnisvermögen‘ zu verorten ist und im Wesentlichen mit der Verworrenheit – einem niedereren Grad der Erkenntnis – einhergeht.¹³⁶ Vergleicht man Baumgartens Konzeptionen der verschiedenen Erkenntnisvermögen miteinander hinsichtlich der Parameter extensive/intensive Klarheit und Verworrenheit/Deutlichkeit, so ist zu konstatieren, dass – wenn es um den epistemischen Wert unserer Vorstellungen geht – die Sinnlichkeit den Intellekt aufgrund ihrer höheren extensiven Klarheit übertrifft, dass aber der Verstand sowohl bezüglich der intensiven Klarheit als auch in punkto Deutlichkeit unser sinnliches Vorstellungsvermögen in den Schatten stellt. Baumgartens Unterteilung der Erkenntniskräfte in ein ‚unteres‘ und ein ‚oberes Erkenntnisvermögen‘ hat also eine wertende Konnotation, da das über der Sinnlichkeit thronende Vermögen der intensiven und deutlichen Vorstellungen schlichtweg in einem größeren Ausmaß – und das heißt hier quantitativ – zu einer verbesserten Einsicht in die Vollkommenheit beiträgt als das Vermögen der extensiven und verworrenen Vorstellungen.¹³⁷ Zudem ist hervorzuheben, dass die Sinnlichkeit im Sinne Baumgartens zum

Cannstatt 2011. (= Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. FMDA. Abteilung I: Texte, 2) Im Folgenden zitiert als „Metaphysica“. Hier: 280 ff. [§ 531]) 134 „In extensive clarissimis repraesentationibus plura repraesentantur sensitive quam in minus claris, […] ergo plura faciunt ad perfectionem poematis […]. Hinc repraesentationes extensive clariores sunt maxime poeticae“. (Meditationes philosophicae, 16 [§ 17]) 135 „Repraesentationes distinctae completae adaequatae profundae per omnes gradus non sunt sensitivae, ergo nec poeticae“. (Meditationes philosophicae, 14 [§ 14]) „Quum clarae repraesentationes sint poeticae, […] aut erunt dinstinctae aut confusae, iam distinctae non sunt, § 14, ergo confusae.“ (Meditationes philosophicae, 16 [§ 15]) 136 „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis“. (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Bd. 1 u. 2. Übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hrsg. v. Dagmar Mirbach. Lateinisch–deutsch. Hamburg: Meiner 2007. (= Philosophische Bibliothek. 572a/b) Im Folgenden zitiert als „Aesthetica“. Hier: 20 [§ 14]). „COGNITIO SENSITIVA est a potiori desumta denominatione complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium.“ (Aesthetica, 20 [§ 17]) „Obscuritas minor, claritas maior cognitionis gradus est […], et eandem ob rationem confusio minor s. inferior, distinctio maior s. superior. Unde FACULTAS obscure confuseque seu indistincte aliquid cognoscendi COGNOSCITIVA INFERIOR est.“ (Metapyhsica, 276 [§ 520]) 137 Vgl. Metapyhsica, 276 [§ 520]; 330 [§ 624]. Wir schreiben ‚quantitativ‘, denn obschon die extensive Klarheit einen ganz eigenen qualitativen Wert hat, der sich durch die Qualitäten, die mit

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Zweck einer Annäherung an die Vollkommenheit bekräftigt werden soll, da nur sie den eigentümlichen Zugang vermittelst der extensiven Klarheit liefert, aber diese Bekräftigung ist auch immer ein Zurückfallen in verworrene Vorstellungen, die einer Vervollkommnung unserer Erkenntnisse im Sinne der Deutlichkeit gerade im Weg steht.¹³⁸ Diese Inkonsistenz liegt bei Reinhold nicht vor. Indem er alle genuin sinnlichen Vorstellungen von dem Defizit der Verworrenheit befreit, bricht er endgültig mit der lex continui der Grade der Klarheit und mit der Auffassung, dass es sich bei der Sinnlichkeit in einem abwertenden Sinne um ein unteres Erkenntnisvermögen handelt. Damit hebt er das Eigenrecht des sinnlichen Zugangs zu ästhetischen Phänomenen hervor, ohne dabei in einen Sensualismus und Materialismus zu verfallen, weil die Sinnlichkeit von ihm – im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Perspektive – unter anderem als ein Vermögen konzipiert wird, das sich aus reinen und formalen Elementen zusammensetzt.

einer intellektuellen Einsicht einhergehen, gar nicht substituieren lässt und also die Sinnlichkeit bei Baumgarten ein irreduzibles Vermögen ist, leistet der Verstand doch mehr Wünschenswertes als sie. 138 Ähnliches vermutet auch Ernst Cassirer: „Wir sollen [laut Baumgarten] die niedere Stufe der sinnlichen Vorstellung und Anschauung als solche erkennen; aber wir sollen sie trotz dieser Einsicht nicht in die höhere aufgehen lassen, sondern sie in ihrer Unvollkommenheit festhalten und bewahren. Wenn das ein Widerspruch ist, so liegt doch in diesem Widerspruch alle Fruchtbarkeit von Baumgartens Gedanken beschlossen.“ (Cassirer 1961, 77) Wir sind der Ansicht, dass diese Inkonsistenz bei Baumgarten tatsächlich besteht und sogar derart virulent wird, dass das eigentliche Ziel der Ästhetik, die ‚Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‘ (Vgl. Aesthetica, 20 [§ 14]) – welche generell mit der rationalistischen Tradition darin übereinstimmt, dass der Mensch nach Vollkommenheit streben soll (Vgl. DE, 30 f. [§ 44]) – verfehlt wird. Denn wie Baumgarten ausführt, gehört zu dem sogenannten ‚anmutigen Geist‘, der eine notwendige Voraussetzung für die Perfektion der sinnlichen Erkenntnis bzw. Schönheit ist, nicht nur das untere Erkenntnisvermögen (extensive Klarheit und Verworrenheit), sondern auch das obere (intensive Klarheit und Deutlichkeit). (Vgl. Aesthetica, 28 ff. [§ 30 ff.]; 32 [§ 38 ff.]) Und für den eleganten Ausdruck allgemeiner und wahrer Ideen gilt sogar, dass die beiden Vermögen miteinander übereinstimmen bzw. in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen sollen. (Vgl. Aesthetica, 544 [§ 566]; 550 [§ 573]) Was für die Vervollkommnung der Erkenntnis im Sinne der Deutlichkeit gilt, gilt aber auch für die Vervollkommnung der extensiven Klarheit und Lebhaftigkeit; eine Verstärkung der einen ist eine Verminderung der anderen, weshalb sogar für das Bestehen der sinnlichen Erkenntnis (aber nicht im Erkenntnisgehalt selbst) oder wenigstens für eine besondere Ausformung derselben ein Zusammenwirken von sich gegenseitig in ihrer Vollkommenheit einschränkenden Elementen vollzogen wird, das dem eigentlichen Begriff einer Perfektion oder Harmonie widerstreitet. Auch ändert sich nichts an dem hier vorliegenden Widerstreit, wenn man die lex continui in die Betrachtung miteinfließen lässt, da eine sinnliche Vorstellung, deren Merkmale deutlich gemacht werden, auch immer einen Restbestand an extensiv klaren und verworrenen Merkmalen enthalten muss, um überhaupt noch als sinnlich zu gelten.

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Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass Reinhold selbst Baumgarten in hohem Maße schätzte. Denn wie wir im zweiten Brief des ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie lesen können, habe man ‚in den vielen Versuchen seit Baumgarten der Ästhetik nicht viel Neues hinzufügen können‘.¹³⁹ Baumgartens Verdienst liege aber bei weitem nicht nur in der Aufstellung der allgemeinen Grundsätze dieser Wissenschaft: Die Furchtbarkeit der Baumgartenschen Principien zeigt sich nicht nur an den ausdrücklichen auf sie gebauten allgemeinen Theorien, sondern weit mehr, und in einem hellern Lichte, an den vielen scharfsinnigen und praktischen Bemerkungen, durch welche unsere Lessinge, Engel [sc. Gotthold Ephraim Lessing und Johann Jacob Engel] u.a.m. die Materialien für die künftigen besonderen Theorien einzelner Dichtarten bereichert haben, und die freylich immer auf einzelne Fälle zurück [ge]führt sind, aber wohl größtentheils nur unter Voraussetzung, und auf den leitenden Wink jener Principien aus den Beyspielen abgeleitet werden konnten. (Briefe I, 43)

Daraus lässt sich entnehmen, dass Reinhold sich selbst nicht als ein Gegner Baumgartens wahrgenommen hat, sondern als jemand, der seine Anliegen mit besseren – weil kantischen – Mitteln fortführt, indem er die Aesthetica von ihrem Fundament her berichtigt und verbessert.

2.4 Der Standpunkt der Spontaneität 2.4.1 Sulzers Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen Der vierte Paragraph der Vergnügensschrift deutet Sulzers Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen als das Paradebeispiel einer Theorie, die das Vergnügen und Missvergnügen mit ‚einseitiger Rücksicht auf das tätige Vermögen des Gemüts‘ behandelt.¹⁴⁰ Laut Reinhold hat Sulzer „alles Wesentliche gesagt […], was sich aus diesem Gesichtspunkte [der Spontaneität] über das Vergnügen sagen läßt“ (Vergnügensschrift 1788, 144), weshalb sich in der Vergnügensschrift denn auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte von Sulzers Untersuchung befindet.¹⁴¹ Im Anschluss an jene Zusammenfassung unterzieht Reinhold dieser Untersuchung aber auch einer pointierten und verhältnismäßig umfangreichen Kritik.¹⁴² Weil prima facie die Vermutung naheliegt, dass

139 140 141 142

Vgl. Briefe I, 43. Vgl. Vergnügensschrift 1788, 144. Siehe Vergnügensschrift 1788, 145 ff. Siehe Vergnügensschrift 1788, 152 ff.

2.4 Der Standpunkt der Spontaneität

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Reinholds und Sulzers Positionen wenigstens in manchen Punkten konvergieren, werden wir Sulzers Ausführungen – natürlich bereits mit Blick auf Reinholds Zusammenfassung und Kritik – im Folgenden darstellen. Da diese Ausführungen sowohl weitläufig als auch detailreich sind, versteht es sich von selbst, dass wir nur dasjenige genauer hervorheben werden, was für ein angemessenes Verständnis von Reinholds theoretischer Positionierung gegenüber Sulzer relevant ist. Dennoch wird sich deutlich genug zeigen, dass auch Sulzer die Absicht hat, den vermeintlichen Mangel der Sinnlichkeit zu beseitigen; anders als Mendelssohn versucht er dies jedoch nicht, indem er das Vollkommene bzw. die Seelenlust von dem Schönen bzw. der sinnlichen Lust trennt, sondern indem er alles Vergnügen und Missvergnügen in letzter Instanz auf den Intellekt zurückführt. Zu Beginn seiner Untersuchung über die Empfindungen gesteht Sulzer, dass er bereits vor Verfassen dieser Schrift die Vermutung hatte, dass „alles […] noch so verschiedene Vergnügen aus einer und eben derselben wesentlichen Grundkraft der Seele entstünde“, doch dies sei nun, „nach geendigter Untersuchung, Gewißheit geworden.“ (Vermischte Schriften, 4) Da die Seele eine ‚tätige Substanz‘ sei und ihr somit eine Kraft innewohne, müsse die ‚erste Grundquelle allen Vergnügens‘ in ihrem Wesen verortet werden. Es bestehe kein Zweifel darüber, dass die dem Wesen der Seele bzw. des Geistes zukommende ‚natürliche Tätigkeit‘ ein ‚Denken‘ sei, das sich an der ‚Hervorbringung von Ideen‘ oder dem ‚Aufnehmen und miteinander Vergleichen von Ideen‘ äußert und dem eine ‚wesentliche Kraft‘ bzw. ein ‚tätiger Grundtrieb zu denken‘ zugrunde liegt.¹⁴³ Nach Sulzer empfinden wir letztendlich nicht die Gegenstände, sondern die Ideen, welche wir von diesen haben, derart, dass „das Wesentliche in den Vergnügungen und Neigungen der Menschen […] beständig auf etwas bloß Ideales hinausläuft.“ (Vermischte Schriften, 5 f.) Denn: Der Philosoph vertieft sich in Spekulation, der Staatsmann macht politische Entwürfe, der Stutzer flattert herum [sc. ein eitler Mann schwatzt über dieses und jenes], und der Nachbar plaudert mit seinem Nachbar; alle nur zu einerley Endzweck: nämlich ihren Geist mit einer Menge von Begriffen und Gedanken zu versorgen, wie sie für eines jeden Geschmack und Fähigkeit schicklich sind. […] Jede Unternehmung ist eine Art von Aufgabe, deren Auflösung uns interessirt, weil sie das ursprüngliche Bedürfniß unserer Seele befriediget; und alle verschiedenen Lebensarten sind eben so viel Wissenschaften, die sich endlich alle auf die Erkenntnißfähigkeit der Seele beziehen. (Vermischte Schriften, 6 f.)

Dem Einwand, dass doch viele Menschen das Sinnliche bevorzugen und also ein – wenn überhaupt – schwach ausgeprägtes Bedürfnis zur Befriedigung des Intellekts aufweisen, hält Sulzer entgegen, dass die Vergnügungen, welche vermeintlich als bloß sinnlich gelten, „die Bedürfnisse unserer Natur niemals allein befriedigen 143 Vgl. Vermischte Schriften, 4 f.; 8 f.

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können, sondern nothwendig mit unsrer Kraft zu denken in Verbindung stehen müssen, um nicht im Kurzen unschmackhaft und verächtlich zu werden.“ (Vermischte Schriften, 7)¹⁴⁴ Wir sagen ‚vermeintlich als bloß sinnlich gelten‘, da Sulzer sogar der Ansicht ist, dass „selbst die sinnlichsten Vergnügungen aus dieser allgemeinen Quelle [bzw. dieses Grundtriebes zu denken] ihren Ursprung nehmen“ (Vermischte Schriften, 8) bzw. dass „alle Vergnügungen […] sich am Ende […] auf die intellektuelle Fähigkeit der Seele“ (Vermischte Schriften, 25) beziehen. Demgemäß wird ein Mensch, der „auf eine sehr geringe Anzahl von Ideen eingeschränkt“ ist, „nicht oft angenehme Empfindungen haben“. (Vermischte Schriften, 79) Diese These, die den Intellekt als die – für eine Vergnügenskonzeption relevante – erste Ursache aller Empfindungen bestimmt – die man also keineswegs mit einem Reduktionismus verwechseln darf, welcher die Empfindungen als bloße Instantiierungen des Verstandes oder der Vernunft begreifen würde –, macht den intellektualistischen Kern von Sulzers Theorie aus, von dem er in der Untersuchung auch niemals abrückt. Alles, was unser Denken und unsere Erkenntniskräfte anregt oder wenigstens unterhält, bereitet demnach Vergnügen oder zumindest angenehme Empfindungen und wird von uns von Natur aus begehrt; alles, was diese ursprüngliche Tätigkeit verhindert, erzeugt Missvergnügen und geht gewöhnlicherweise mit Aversion einher. Der Gedankenstrom unseres Geistes kann nach Sulzer eine verschiedene Lebhaftigkeit aufweisen, sodass es bei der Stärke des Missvergnügens nicht nur auf die Größe des Hindernisses ankommt, sondern auf das Verhältnis zwischen beiden.¹⁴⁵ Dieser ungehinderte Gedankenstrom bereite aufgrund unseres Grundtriebes zu denken schon aus sich selbst heraus angenehme Empfindungen. Das Vergnügen, das Sulzer als einen außerordentlichen Zustand und als eine angenehme aber lebhafte Unruhe bezeichnet und von den bloß angenehmen Empfindungen unterschieden wissen will, trete hingegen erst auf, wenn unser Geist mit Dingen konfrontiert wird, die seine Lebhaftigkeit steigern, weil sie ihn aufgrund ihrer

144 Ähnlichen, auch naheliegenden Erwiderungen gegen seine Theorie widmet sich Sulzer – man muss sagen, teilweise mit einer recht geringen Überzeugungskraft – auch ab S. 14 der Untersuchung. 145 „Die natürliche Thätigkeit der Seele rühret von einer ihr inwohnenden Kraft oder einem beständigen Bestreben zu denken her. Findet diese Kraft eine [sic!] Hinderiß sich zu entwickeln, oder entspricht die Wirkung nicht der Größe ihres Bestrebens; so muß es ihr nothwendig zuwider seyn; sie muß diesen Zustand des Zwanges hassen, der ihrer Natur so gerade entgegen steht. […] Je lebhafter nun eine Seele, oder je größer das Hinderniß ist, das ihrer Wirkung im Wege steht, desto größer ist auch das daher entspringende Mißvergnügen […]. Die Seele gleicht einem Flusse, der so lange ruhig fortfließt, als sein Lauf durch nichts gestört wird; der aber anschwillt und tobt, sobald man seinem Strome einen Damm entgegen setzt.“ (Vermischte Schriften, 11 f.)

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Beschaffenheit z. B. zur Erzeugung einer großen Anzahl von leicht fassbaren und reichhaltigen Ideen anregen.¹⁴⁶ Aus diesen Erklärungen lässt sich bereits entnehmen, wieso Reinhold Sulzers Theorie geradezu zu einem Standpunkt rechnen musste, der sowohl den subjektiven als auch den objektiven Gesichtspunkt berücksichtigt. Denn anders als in den von Reinhold behandelten Schriften Dubos‘ und Mendelssohns liegen diese Bezüge nicht nur auf eine implizite Art und Weise vor, sondern werden von Sulzer explizit gemacht. Schließlich gilt, dass für die Erzeugung des Vergnügens und Missvergnügens „sowohl der gegenwärtige Zustand der Seele, als [auch] die Beschaffenheit des Gegenstandes das ihrige“ (Vermischte Schriften, 18) beitragen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Sulzer den Fragen nachgeht, „von welcher Fassung der Seele, und von welcher Beschaffenheit der Gegenstände, der größere oder geringere Grad der angenehmen und unangenehmen Empfindungen abhängt.“ (Vermischte Schriften, 17 f.) Von der subjektiven Seite her werde das Vergnügen und Missvergnügen durch die – in verschiedenen Individuen unterschiedlich ausgeprägten – ‚Fertigkeit zu Denken‘ und dem bereits angesprochenen Ausmaß der ‚Lebhaftigkeit des Geistes‘ – das Sulzer nun mit dem ‚Grad der ursprünglichen Kraft der Seele‘ identifiziert – beeinflusst; von der objektiven Seite her könne der Geist nur dann auf eine angenehme oder unangenehme Art bewegt werden, wenn der Gegenstand ein ‚Mannigfaltiges‘ bzw. eine Vielheit der Merkmale in sich enthält und also nicht einfach ist, wobei z. B. die angenehmen Empfindungen eine ‚Verbindung des Mannigfaltigen‘ erfordern, welche eine gewisse ‚Ordnung‘ aufweist, und die unangenehmen aus einer Verbindung hervorgehen, an der sich ‚keine Ordnung‘ ausmachen lässt.¹⁴⁷ Nach diesen Ausführungen zu einer allgemeinen Theorie des Vergnügens, behandelt Sulzer noch die Ursprünge derjenigen Empfindungen, die bei besonderen Arten von Vergnügungen auftreten: diejenigen der ‚intellektuellen Fähigkeit‘, welche vornehmlich mit dem Schönen zu tun haben; die ‚Vergnügungen der Sinn-

146 „Wenn das Mißvergnügen natürlicher Weise von der gehinderten oder gestörten Thätigkeit der Seele entspringt, so scheint die bloße Freyheit des Wirkens und der gute Erfolg der angewendeten Kräfte nur Zufriedenheit und Ruhe […] vorzubringen. […] Bey der bloßen Zufriedenheit ist die Seele gleichsam in Ruhe; bey dem Vergnügen scheint sie in einer angenehmen aber lebhaften Unruhe zu seyn. Diese größere Lebhaftigkeit, die das Vergnügen von der bloße Zufriedenheit unterscheidet, kann daher rühren, daß alsdann die Wirksamkeit der Seele geschwinder ist: sie hält nicht mehr ihren gewöhnlichen Lauf; sie wird eine Menge von Dingen gewahr, die sie mit mehr Leichtigkeit und Schnelligkeit bearbeiten kann, als sie im Stande der bloßen Behäglichkeit zu haben pfleget. […] Aus dieser Erklärung folgt, daß die Empfindung des Vergnügens gewisser Maßen ein außerordentlicher Zustand der Seele ist“. (Vermischte Schriften, 12 f.) 147 Vgl. Vermischte Schriften, 18 f.; 22.

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lichkeit‘, deren wesentliche Eigenschaft es ist, uns vermittelst sinnlicher Wahrnehmungen zugänglich zu sein, und die ‚Vergnügungen des Herzens‘, die für moralische Empfindungen, Glückseligkeit und die Tugendhaftigkeit eine Rolle spielen.¹⁴⁸ In Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten nimmt Reinhold eine ähnliche Dreiteilung vor. Demensprechend wird dort zwischen einem ‚physischen‘, ‚ästhetischen‘ und ‚moralischen Vergnügen‘ unterschieden.¹⁴⁹ Allerdings gilt es zu bedenken, dass der Begriff der Vergnügung eher auf dasjenige verweist, was vergnügt, wohingegen man sich mit dem Begriff des Vergnügens auf einen mentalen Zustand bezieht. Zudem konzipiert Sulzer die von den Vergnügungen bewirkten besonderen Empfindungen – anders als bei Reinhold – als Spezifikationen desjenigen Vergnügens, das „aus der Thätigkeit der Seele“ entspringt, „die überhaupt das Wesen jedes denkenden Geistes ausmacht“, weshalb „der Geschmack für das Sinnliche, der Geschmack für das Schöne, [und] die Empfindung für das Gute […] gleichsam Zwillingsneigungen [darstellen], die von einerley Ursache herrühren“. (Vermischte Schriften, 91) Das Wesen alles Schönen besteht nach Sulzer in der Einheit im Mannigfaltigen, die er als ein mehr oder minder vollkommenes Ganzes verstanden wissen will, welches durch eine sinnvolle – d. h. zweckerfüllende – Verbindung einer differenzierten Vielheit zustande kommt.¹⁵⁰ Umso besser alle Teile der Vielheit zu dem Zweck des Ganzen zusammenstimmen, den Sulzer als ‚Interesse‘ bezeichnet, desto vollkommener werde die Einheit und damit auch die Schönheit sein.¹⁵¹ Hiernach ist

148 Vgl. Vermischte Schriften, 24 f.; 52 f.; 77 f. 149 Vgl. Geschmacksschrift, 179. 150 „Man ist darinn einig, daß die Schönheit, die Einheit im Mannichfaltigen ist, oder das Mannigfaltige, auf Einheit zurückgebracht. Ein schlechterdings einfacher Gegenstand, worinn sich gar nichts unterscheiden läßt, kann […] niemals schön seyn […]. [Aber] die bloße Menge der Theile macht nicht die Schönheit aus; es muß auch […] Verbindung darinn seyn.“ (Vermischte Schriften, 27) „Gesetzt, ein Gemälde stellt eine Landschaft vor, aber man erblicket darinn nichts als ein weitläufiges Feld ohne alle Abwechslung, so wird gewiß niemand diese Landschaft schön nennen: und eben so wenig dann, wenn zwar Mannichfaltigkeit genug darinn ist, aber die übel verbundenen Theile kein Ganzes machen.“ (Vermischte Schriften, 28) „Es ist klar, daß viele Dinge alsdann ein Ganzes zusammen machen, wenn ein Subjekt da ist, das aus dem gemeinschaftlichen Beytrag aller Theile entsteht, deren jeder zur Bildung des Subjektes das Seinige thut.“ (Vermischte Schriften, 29) „Wie vollkommen […] die Einheit eines Gegenstandes, oder wie groß auch die Menge ihrer Theile seyn mag, so hat sie doch wenig oder gar keine Schönheit, wenn ihre Theile sich alle ähnlich sind.“ (Vermischte Schriften, 30) 151 „Kein Zimmer allein, noch mehrere zusammen, machen schon ein Gebäude aus; aber sie tragen sammt den übrigen Theilen zu dem Gebäude bey. Ich will das, wozu alle Theile gemeinschaftlich beytragen, das Interesse nennen, ob dieses gleich nicht der gewöhnliche Sinn des Wortes ist. Es ist klar, daß die Einheit des Ganzen vollkommen seyn wird, wenn jeder Theil so viel als möglich zum gemeinschaftlichen Interesse hilft“. (Vermischte Schriften, 29)

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„ein Kunstwerk […] desto schöner, je vollkommener es ist; das heißt, je mehr es Theile hat und je mehr alle diese Theile zum Zwecke [das es haben soll] beytragen.“ (Vermischte Schriften, 35) Ähnlich wie Wolff hebt Sulzer den positiven Einfluss der Regeln und der Deutlichkeit unserer Ideen auf das ästhetische Vergnügen hervor, da die Vollkommenheit des schönen Gegenstandes adäquater empfunden werden könne, wenn wir eine bessere Kenntnis von dem Zweck desselben haben. In impliziter Anlehnung an Pouilly gibt Sulzer dieser Lehre aber auch eine stärkere subjektive Wende, weil die Lebhaftigkeit des Geistes steige, wenn das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen des schönen Objekts aufgrund einer verbesserten intellektuellen Einsicht mit einer größeren ‚Leichtigkeit‘ erfasst werden kann.¹⁵² Weiters ist wichtig hervorzuheben, dass Sulzer all diejenigen „Gegenstände schön [nennt], die unmittelbar der Einbildungskraft oder dem Verstand gefallen.“ (Vermischte Schriften, 25) Entgegen dem ersten Anschein, der darauf fußt, dass das Schöne zu den Vergnügungen der intellektuellen Fähigkeit gezählt wird, unterscheidet Sulzer zwischen Schönem, das uns durch die Sinne, vermittelst der Einbildungskraft oder anhand des Verstandes zugänglich ist. Ersteres sei in der Natur, der Malerei, der Baukunst und der Musik verkörpert, das zweite finde sich in der Poesie und letzteres – d. i. die ‚intellektuelle Schönheit‘ – könne man vermittelst ‚deutlicher Begriffe‘ an wohlgeratenen Lehrsätzen, Systemen, Theorien oder auch Charakteren und Handlungen ausmachen.¹⁵³ Selbst wenn man der Meinung ist, dass nach Sulzer das Schöne wenigstens die Imagination erfordert, impliziert er dennoch eine sinnliche Schönheit, da er die Einbildungskraft als ein ‚Supplement der Sinne‘ bezeichnet.¹⁵⁴ Allerdings hebt er auch hervor, dass „das Schöne nicht anders Vergnügen erweckt, als vermittelst des wirksamen Principiums in der Seele“ und dass wir„nur dieser ursprünglichen Kraft […] alles Vergnügen“ verdanken, „das uns die Schönheit erweckt“ (Vermischte Schriften, 39), was nur eine besondere Applikation des Grundsatzes darstellt, dass sich alle angenehmen und unangenehmen Empfindungen letztendlich auf die Grundkraft zu denken zurückführen lassen. Man kann diesen Zusammenhang zwischen der natürlichen Tätigkeit des Geistes und dem Vergnügen, das durch besondere Arten des Schönen hervorgerufen wird, auch so ausdrücken, dass allem Empfindungsspezifischen – darunter das Ästhetisch-Sinnliche – immer ein intellektuelles Moment zugrunde liegt, das bei allen Vergnügungen wirksam ist. Der Intellektualismus der Sulzer’schen Lehre ist mit dem Zugeständnis einer sinnlichen Schönheit also keineswegs aufgehoben. So

152 Vgl. Vermischte Schriften, 37 ff.; 39 f.; 46 ff. 153 Vgl. Vermischte Schriften, 26 f.; 32 ff. 154 Vgl. Vermischte Schriften, 26.

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ist es auch kein Zufall, dass dem intellektuellen Schönen ein besonderer Wert beigemessen wird: Der Grundsatz des großen Neuton [sc. Isaac Newton] von der allgemeinen Schwerkraft ist zum Entzücken schön. Man darf ihn aber nur kennen, so sieht man, daß seine Schönheit bloß daher rührt, weil man das ganze Planetensystem daraus herleiten, und die Bewegung und Abweichungen aller Planeten, wie auch ihrer Trabanten, mit noch vielen andern Naturerscheinungen dadurch berechnen kann. Die Grundsätze des berühmten Leibniz von der besten Welt und dem allgemeinen Zusammenhange aller Begebenheiten sind eben so schön, weil sie über unzählig viele Fragen in der Philosophie und Sittenlehre ein Licht verbreiten. (Vermischte Schriften, 35)

Überhaupt drängt sich einem sehr leicht der Verdacht auf, dass Sulzers Theorie aus der Untersuchung dem Je ne sais quoi von allen bisher behandelten Vergnügenskonzeptionen am wenigsten Raum gibt. Wo etwa selbst ein Wolff betont, dass dem Vergnügen undeutliche Vorstellungen wesentlich sind und die Schönheit mit der den Gegenständen innewohnende Kraft zu tun hat, Lust in uns zu erzeugen, da räumt Sulzer den deutlichen Ideen ein etwas größeres Gewicht ein, wenn er z. B. festhält, dass unser Geist „nothwendig […] Vergnügen darüber“ empfindet, „so oft eine verwirrte Idee deutlich wird“ (Vermischte Schriften, 39), oder dass der „Geschmack eine nothwendige Folge der Erkenntniß und Einsicht ist.“ (Vermischte Schriften, 47) Zwar erkennt man auch nach Sulzer „die Schönheit der Empfindungen nur verworren“, zugleich schafft er z. B. aber auch Platz für „die Schönheit algebraischer Gleichungen“, die man laut ihm vermittelst Ideen „deutlich einsieht.“ (Vermischte Schriften, 67)¹⁵⁵ Bei den Vergnügungen, die Sulzer die sinnlichen nennt, gibt es für unsere Belange nicht so viel hervorzuheben. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu den intellektuellen und den – noch zu behandelnden – moralischen Vergnügungen besteht hier darin, dass die Vergnügungen der Sinnlichkeit niemals ohne sinnliche

155 Wie Werner Euler in seinem Artikel Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens korrekt hervorhebt und auch überzeugend zeigt, weicht Sulzer allerdings nicht allzu stark von Wolff ab. (Vgl. Euler 2011, 111 ff.) Unserer Ansicht nach sind die Differenzen zwischen den beiden Vergnügens- und Schönheitskonzeptionen größtenteils gradueller Natur und beruhen im Wesentlichen auf einer unterschiedlich starken Gewichtung des Intellekts, die bei Sulzer ein anderes – weil intellektualisiertes – Verständnis der Empfindungen stiftet, das in allen relevanten Aspekten eine Rolle spielt. Nicht ohne Grund bringt Sulzer zum Ausdruck: „Jedermann weiß, auf welche Art der Herr von Wolf alle intellektuellen Fähigkeiten der Seele daraus [sc. aus dem tätigen Grundtrieb der Seele] hergeleitet hat. Ich meines Theils werde hier diesen Grundtrieb, als den Ursprung aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen, betrachten […]. Denn ich gestehe, daß mir in der Theorie des Vergnügens weder Wolf noch Cartesius Genüge leisten.“ (Vermischte Schriften, 27)

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Empfindungen auftreten, welche ohne Ausnahme mit physiologischen Veränderungen einhergehen. Sulzer vermutet, dass diese ‚starken und lebhaften Vorstellungen‘ in unserem Geist ‚erweckt oder hervorgebracht‘ werden, indem verschiedene Entitäten – wie etwa Licht oder Schall – durch Bewegung mechanische bzw. physikalische Eindrücke auf unsere Sinnesorgane erzeugen, wobei z. B. gilt, dass der Grad der Beanspruchung der Nerven mit dem Grad der Lebhaftigkeit und Stärke der Empfindungen positiv korreliert.¹⁵⁶ Um den verschiedenen Empfindungskomplexionen eine physiologische Erklärung zuzuführen, werden darüber hinaus weitere Differenzierungen eingeführt – wie etwa zwischen ‚feinen‘ und ‚groben‘ Nerven oder zwischen ‚einfachen‘ und ‚zusammengesetzten‘ sowie ‚einförmigen‘ und ‚mannigfaltigen‘ Empfindungen.¹⁵⁷ Dies alles ändert aber nichts an dem Umstand, dass Sulzers Ausführungen zu den sinnlichen Empfindungen auf einen psycho-physiologischen Eklektizismus hinauslaufen, der die geistigen und körperlichen Aspekte des Menschseins nicht sinnvoll in ein kohärentes Gesamtbild zu bringen vermag, da er die Ursachen der intellektuellen Vergnügungen und der dabei auftretenden Empfindungen neben diejenigen der sinnlichen setzt, ohne angemessen zu erklären, wie sich die letzteren auf den – von der Theorie behaupteten – intellektuellen Ursprung aller Vergnügungen und Empfindungen zurückführen lassen. Denn das Höchste, das einer solchen Erklärung einigermaßen nahekommt, besteht in der – auf einem Beispiel aus der Musik gegründeten – Behauptung, dass „das, was der Seele in der undeutlichen Vorstellung durch die Sinne gefällt, ihr auch dann noch gefällt, wenn man es dem Geiste deutlich darstellen kann.“ (Vermischte Schriften, 70) Sulzer wägt auch die Vor- und Nachteile ab, welche den sinnlichen Vergnügungen gegenüber den intellektuellen zukommen – und vice versa. Z. B. bestehe ein Vorzug, welche die ersteren gegenüber den letzteren bieten, darin, dass sie „stärkere Empfindungen erwecken“, weshalb man – metaphorisch gesprochen – die „sinnlichen Vergnügungen“ als „Körper, und die intellektuellen nur [als] die Schatten von diesen Körpern“ (Vermischte Schriften, 74) bezeichnen könne. Dieser Nachteil der intellektuellen Vergnügungen sei aber auf das Missvergnügen bezogen, wiederum ein Vorteil, weil gilt: Egal „wie häßlich sie [sc. die Gegenstände, die man vornehmlich durch den Verstand erfasst] immer seyn mögen, eigentlichen Schmerz erregen sie niemals.“ (Vermischte Schriften, 74) Auch bei diesen Abwägungen wird eigens betont, dass sowohl die sinnlichen als auch die intellektuellen Vergnügungen aus „einerley Quelle entspringen“ und von dieser Warte aus „beyde gleich edel sind“. (Vermischte Schriften, 77) Vor allem weil man die Objekte der Begierde, welche Verstand er-

156 Vermischte Schriften, 53 ff. 157 Vermischte Schriften, 55; 58; 64.

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fordern, aber „nicht genießen [kann], ohne zugleich seine intellektuelle Fähigkeit vollkommener zu machen“ (Vermischte Schriften, 76), müsse den intellektuellen Vergnügungen nichtsdestotrotz der Vorzug gegenüber den sinnlichen gegeben werden.¹⁵⁸ Sulzers Nachforschungen über die Quelle des Vergnügens, das er als das moralische bezeichnet, weil es aus „moralischen Empfindungen und Handlungen seinen Ursprung nimmt, und die Folge und der Lohn guter Handlungen und tugendhafter Gesinnungen ist“ (Vermischte Schriften, 77), stützen sich auf eudämonistische Voraussetzungen. So seien folgende zwei Grundsätze festgeschrieben: Niemand würde tugendhaft seyn, wenn in der Tugend nicht Vergnügen läge. Also den Ursprung des moralischen Vergnügens angeben, heißt eben so viel, als den Grund der Tugend selbst bestimmen. (Vermischte Schriften, 77 f.) Die Gegenstände, die moralische Vergnügungen hervorbringen, haben das alle mit einander gemein, daß sie auf die Glückseligkeit irgend eines verständigen Wesens abzielen. Jede Tugend, jede gute Handlung, jedes gute Empfindniß hat diese Eigenschaft. (Vermischte Schriften, 78)

Die Glückseligkeit ist dabei keine kurzweilige Unterhaltung, auf die unter Umständen eine lange Reihe unangenehmer Empfindungen folgt, sondern ein „Zustand, der natürlicher Weise weit mehr Annehmlichkeit und Vergnügen als Mißvergnügen, erzeugt.“ (Vermischte Schriften, 78) Die Eudaimonie wird nach Sulzer aber nicht nur unmittelbar durch die moralischen Güter hervorgebracht, sondern auch indirekt – indem dieselben uns für das moralische Vergnügen empfänglicher machen. Dies geschehe entweder indem unser Geist mit den entsprechenden Ideen versorgt wird oder durch die Beseitigung von Faktoren, die unser natürlich angelegtes Bedürfnis, moralisch zu denken, einschränken. Dadurch werde schließlich auch die natürliche Tätigkeit unseres Geistes befördert, da unser Bedürfnis nach moralischen Ideen eine Spezifikation des tätigen Grundtriebes darstelle.¹⁵⁹ Dass das „moralische Vergnügen […] eben so, wie das intellektuelle, hervorgebracht, und […] mit allen andern […] aus einerley Quelle“ (Vermischte Schriften, 81) entspringt, versucht Sulzer unter anderem am Beispiel der Freundschaft zu erweisen, die auch schon bei Aristoteles zu den Tugenden zählt.¹⁶⁰ Alle Vorteile der Freundschaft würden nämlich letztendlich darauf hinauslaufen, dass

158 Vgl. Vermischte Schriften, 76 f. 159 Vgl. Vermischte Schriften, 78 ff. 160 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. v. Ursula Wolf (Hrsg.). Reinbek bei Hamburg 2015. Im Folgenden zitiert als „NE“. Hier: 251 ff. Zudem bezieht sich Sulzer noch auf die sogenannten ‚Glücksgüter‘ und die Tugend der Mäßigung (Siehe Vermischte Schriften, 83 f.), die Aristoteles unter den Bezeichnungen eutychia und sōphrosynē abhandelt. (Siehe NE, 63 ff.; 121 ff.; 334 f.)

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sie einem von dem Zwang befreit, seine Ideen nicht frei äußern und in Auseinandersetzung mit anderen nicht frei entwickeln zu können.¹⁶¹ Dass eine solche Intellektualisierung der philia – bereits im Sinne Aristoteteles‘ – viel zu kurz greift, da sich dieselbe essentiell auf das – abseits einer jeglichen Ideenbeschäftigung stehende – Bedürfnis nach guten zwischenmenschlichen Beziehungen sowie auf das miteinander geteilte Wohlwollen gründet, braucht eigentlich kaum erwähnt zu werden. Nichtsdestotrotz sieht Sulzer sich in seiner Ansicht bekräftigt, dass „alle moralischen Güter, die unmittelbar unsre eigene Glückseligkeit angehen, nichts weiter thun, als daß sie die natürliche Thätigkeit unserer Seele vollkommner machen oder erleichtern.“ (Vermischte Schriften, 85) Mit dem Ziel einen ethischen Egoismus zu vermeiden, hebt er überdies noch hervor, dass alle vernünftigen Wesen von Natur aus empathisch und mitfühlend sind, derart, dass sie „an allem Guten und Bösen, das andere betrifft, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung“ (Vermischte Schriften, 85), Anteil nehmen. Denn es sei hier in erster Linie wiederum Ideelles, das unseren Geist beschäftigt, weswegen wir, um eine moralisch schlechte Handlung zu verurteilen, nicht selbst das Opfer derselben sein müssen und weshalb es sich bei den Leidtragenden sogar um fiktive Charaktere handeln kann.¹⁶² Im Anschluss daran geht Sulzer dazu über, die Bedeutung des Intellekts bzw. der natürlichen Seelentätigkeit für die moralische Verbindlichkeit und die Güte unserer moralischen Urteilskraft hervorzuheben.¹⁶³ Die Untersuchung endigt mit der Überlegung, dass die moralischen Vergnügungen wertvoller sind als die intellektuellen, weil erstere z. B. unseren Geist stärker bewegen und mehrere miteinander zusammenhängende Ideen liefern als letztere.¹⁶⁴

2.4.2 Reinholds kritische Würdigung von Sulzers Intellektualismus und über die Relevanz einer apriorischen Sinnlichkeit Obwohl Reinhold – wie gesagt – der Meinung ist, dass Sulzer alles, was von dem Standpunkt der Spontaneität aus von Belang ist, vorgetragen hat, spricht er ihm einen eigentlichen Erfindergeist ab. Denn er habe nichts weiter zu tun gehabt, als die Objektivität Wolffs, welche die Lust aus einer ‚Vorstellung der Vollkommenheit (Einheit des Mannigfaltigen)‘ hervorgehen lässt, mit der Subjektivität Pouillys, die das Vergnügen als Folge einer ‚starken und leichten Beschäftigung‘ des Gemüts

161 162 163 164

Vgl. Vermischte Schriften 82 f. Vgl. Vermischte Schriften, 86 f.; 89 ff. Vgl. Vermischte Schriften, 92 ff. Vgl. Vermischte Schriften, 97 f.

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erklärt, in einer einzigen Theorie zu verbinden.¹⁶⁵ Zugleich wird Sulzer dafür gerügt, dass er sich nicht dieser Terminologie bedient, weil dies auf einer sachlichen Ebene zu Fehleinschätzungen führe. Nach Reinhold verfährt man nicht präzise genug, wenn man es mehr oder minder bei der Erklärung bewenden lässt, dass die Schönheit eine Einheit im Mannigfaltigen ist. Man müsse wenigstens darauf hinweisen, dass es sich bei diesem Verhältnis nicht um eine Identitätsrelation handelt.¹⁶⁶ Die Einheit des Mannigfaltigen, durch die „jeder Gegenstand des grobsinnlichen Vergnügens […] seine Wirkung“ tut, besteht nämlich in der „sinnliche[n] Vollkommenheit des körperlichen Zustandes“, aber kann dennoch „in keinem Sinne Schönheit heißen“. (Vergnügensschrift 1788, 154) Auch müsse von dem Primat des Ausdrucks ‚Tätigkeit‘ – den Sulzer z. B. verwendet, wenn er das Wesen der Seele charakterisiert – Abstand genommen werden, weil hiermit nur die Spontaneität angesprochen wird, obschon auch die Rezeptivität beim Vergnügen eine – sogar wesentliche – Rolle spielt.¹⁶⁷ Laut Reinhold fassen Dubos und Pouilly den entsprechenden Sachverhalt weit besser: Die französischen Philosophen, welche das Vergnügen gemeiniglich aus dem subject. Gesichtspunkte betrachteten, bedienten sich des Wortes Beschäftigung (Occupation z. B. Du Bos, und Exercice z. B. Pouylly) offenbar darum, weil dasselbe seiner zugleich aktiven und passiven Bedeutung wegen vorzüglich geschickt ist, das was beym Vergnügen im Gemüthe vorgeht, die rege Thätigkeit sowohl als die afficirte Empfänglichkeit in Einem Begriff und Ausdruck zusammenzufassen […], und den Zustand des sich, beym Vergnügen leidend verhaltenden Gemüthes auf eine Art anzudeuten, durch welche gleichwohl die dabey mit wirkende Thätigkeit nicht ausgeschlossen wird. (Vergnügensschrift 1788, 155)¹⁶⁸

Selbst wenn man Sulzers Theorie gegen diese Vorwürfe verteidigt, indem man etwa darauf hinweist, dass eine Identität zwischen Schönheit und Einheit des Mannigfaltigen von ihm doch gar nicht explizit behauptet wird,¹⁶⁹ und dass er das Wesen der Seele nicht bloß durch die Bestimmung ‚Ideen hervorzubringen‘, sondern auch

165 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 153. 166 „Jede Schönheit ist Einheit des Mannigfaltigen – aber nicht jede Einheit des Mannigfaltigen, auch selbst wie sie beym Vergnügen statt findet, ist Schönheit.“ (Vergnügensschrift 1789, 154 Anm.) 167 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 155. 168 „La première manière de s’occuper dont nous avons parlé, qui est celle de se livrer aux impressions que les objets étrangers font sur nous, est beaucoup plus facile. C’est l’unique ressource de la plûpart des hommes contre l’ennui; & même les personnes qui sçavent s’occuper autrement, sonst obligés, pour ne point tomber dans la langueur qui suit la durée de la même occupation, de se prêter aux emplois & aux plaisirs du commun des hommes.“ (Réflexions I, 9) „Il y a un agrément attaché à ce qui exerce les organes du corps sans les affoiblir.“ (Théorie des sentimens, 93) „Il y a un agrément attaché à ce qui exerce l’esprit sans le fatiguer.“ (Théorie des sentimens, 103) 169 Denn bekannterweise drückt nicht jedes ‚ist‘ Identität aus.

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durch diejenige ‚Ideen aufzunehmen‘ kennzeichnet,¹⁷⁰ geht Reinholds Kritik in die richtige Richtung, da Sulzer die Empfindungen im Allgemeinen, in ihren besonderen Ausformungen und die dabei involvierten mentalen Vorgänge in der Tat einseitig durch die tätigen Aspekte des Geistes ableiten und erklären möchte.¹⁷¹ Dementsprechend können wir in der Vergnügensschrift in Anlehnung an Kants Begriff der Sinnlichkeit, die er in Abgrenzung zu einer uns Menschen nicht gegebenen, nicht-sinnlichen (intellektuellen) Anschauungsart einführt,¹⁷² lesen: Seine [sc. Sulzer] Untersuchung geht gleich Anfangs von einem nur halbwahren Grundsatze aus, nämlich daß das Wesen der Seele in der natürlichen Thätigkeit derselben bestehe. Die Thätigkeit der Seele (das Vermögen Vorstellungen hervorzubringen) ist ohne Empfänglichkeit (Vermögen afficirt zu werden) bey jedem Wesen dem der Stoff seiner Vorstellungen gegeben werde muß, weil es denselben nicht erschaffen kann, ein Unding, und macht nur in unzertrennlicher Verbindung mit dieser Empfänglichkeit das Wesen unsres Vorstellungsvermögens aus. (Vergnügensschrift 1788, 158)

Eine solche Vernachlässigung der rezeptiven Aspekte des Vorstellungsvermögens rührt laut Reinhold von einer Verwechslung der ‚inneren‘ (konstitutiven) und ‚äußeren‘ (notwendigen, aber nicht konstitutiven) Bedingungen der angenehmen und unangenehmen Empfindungen her.¹⁷³ Diese Unterscheidung – welche für Reinholds

170 Vgl. Vermischte Schriften, 8; 27 f. 171 Wir pflichten dem Fazit Eulers, dass Sulzers „Theorie des Vergnügens in der höchsten Unfreiheit endet, durch die eine Ästhetik des Schönen nicht gedeihen kann“ (Euler 2011, 110), vollständig bei; indes kommt er auf einem nicht durchgängig richtigen Weg zu diesem Urteil, was sich schon an dem tiefgreifenden Fehler zeigt, dass er Reinhold die Auffassung zuschreibt, Sulzer habe das Vergnügen ‚mit einseitiger Rücksicht auf den leidenden Teil des Vorstellungsvermögens‘ erwogen. (Vgl. Euler 2011, 102) Wie wir bereits wissen, ist gerade das Gegenteil der Fall. Nicht weil Sulzer den rezeptiven Aspekten des Geistes zu viel Raum gibt, sondern weil dieselben bei ihm unter das Diktat des Intellekts geraten, liefert seine Theorie keinen fruchtbaren Boden für die Empfindung des Schönen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass dies aber nicht der einzige Grund ist. Denn dort wo Sulzer für die Sinnlichkeit Platz einräumt, wird diese doch immer nur im Sinne einer physiologischen und empirisch-psychologischen Organisation gedeutet, worauf sich keine Ästhetik gründen lässt, die wahrhaft allgemeingültige bzw. apriorische Prinzipien aufzustellen vermag. 172 Vgl. KrV, B 68; B 71 f. 173 Im Versuch erklärt Reinhold diese Differenz folgendermaßen, wobei er sie nicht auf das Vergnügen, sondern auf das repräsentationale Element jeglichen Bewusstseins – d. i. die Vorstellung – bezieht: „Es giebt äußere und innere Bedingungen der Vorstellung. Aeußere, die außer er Vorstellung selbst vorkommen, von ihr nothwendig unterschieden werden müssen, aber gleichwohl als nothwendige Bedingungen mit ihr verknüpft sind. Innere, die in der Vorstellung selbst vorkommmen müssen, wesentliche Bestandtheile derselben ausmachen, und nicht von ihr unterschieden werden können, ohne sie selbst aufzuheben. So sind z. B. die Aeltern, äußere, Gemüth und Körper aber innere Bedingungen eines Menschen.“ (Versuch, 199)

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Vorstellungstheorie und Elementarphilosophie von essentieller Bedeutung ist –, läuft in der Vergnügensschrift darauf hinaus, dass die Beschaffenheit des vorstellenden Subjekts und vorgestellten Objekts – und also auch alles Physiologische und Empirisch-Psychologische – bei der Beantwortung der Frage, welches die konstitutiven Bedingungen des Vergnügens und Missvergnügens sind, als äußere Bedingungen ausgeklammert werden müssen.¹⁷⁴ Im Fall der positiven und negativen Empfindungen ist laut Reinhold nur die Sinnlichkeit eine innere Bedingung; die Spontaneität ist eine äußere: Thätigkeit ist […] keineswegs das Vergnügen selbst. Sie schafft den Gegenstand des Vergnügens herbey [indem sie das vermittelst der Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige auf die Einheit des Bewusstseins bringt]; aber, wer wird behaupten, daß die Natur, der eigentliche Grund des Vergnügens selbst in derjenigen Kraft liege, die den Gegenstand dazu herbeyschaft? Dieser eigentliche und innere Grund kann nicht in dem Afficierenden, sondern nur in den Afficierten, nicht in der Thätigkeit, sondern nur in der modifizierten Empfänglichkeit, nicht in der intellektuellen Kraft, sondern nur im sinnlichen Vermögen, nicht im Denken, sondern nur im Empfinden liegen. (Vergnügensschrift 1788, 162 f.)

Indem Sulzer die Rezeptivität ganz verkennt, da dieselbe in seiner Theorie bloß im Sinne einer physiologischen – und also prinzipiell empirisch zugänglichen – Sinnlichkeit eine Rolle spielt, vermag er es laut Reinhold auch nicht die konstitutive Bedingung des Vergnügens zu identifizieren. Die daraus resultierende Leerstelle versuche er sodann durch sein unangemessenes – weil einseitiges – Verständnis der Sinnlichkeit zu flicken.¹⁷⁵ Unzureichend ist diese Auffassung insofern, als die Sinnlichkeit als eine physiologisch-empirische keine innere Bedingung der Empfindung sein kann, da – unter transzendentalphilosophischer Perspektive – unsere biologische Organisation als Erscheinung selbst erst vorliegt, wenn sie empfunden wird und folglich von dem Konstitutiven der Empfindung zu unterscheiden ist, welches sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass es a priori gegeben ist, wann

174 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 156 ff. Auch im Versuch wird Reinhold Subjekt und Objekt zum Zweck einer Investigation in das ‚bloße Vorstellungsvermögen überhaupt‘ ausschließen, doch tut er dies dort in Bezug auf die Vorstellung: „Da nun das vorstellende Subjekt und das vorgestellte Objekt von der Vorstellung, zu welcher sie gehören, nicht nur unterschieden werden können, sondern auch müssen: so machen sie keine Bestandtheile der Vorstellung selbst aus, und gehören blos zu den äußeren Bedingungen der Vorstellung, und müssen aus dem Begriffe der Innern zur bloßen Vorstellung allein gehörigen, und dieselbe ausmachenden Bedingungen sorgfältig weggelassen werden.“ (Versuch, 202) 175 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 157 ff.

2.4 Der Standpunkt der Spontaneität

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immer eine Empfindung vorliegt, und nicht erst dann, wenn es (a posteriori) empfunden wird.¹⁷⁶ Jene Vernachlässigung der eigentlichen, ursprünglichen Sinnlichkeit zeigt sich wohl am auffälligsten an Sulzers Ausführungen zu den sinnlichen Vergnügungen. Ähnlich wie wir hebt auch Reinhold hervor, dass die sinnlichen Empfindungen in der Untersuchung nicht aus dem der Seele wesentlich zukommenden Denken abgeleitet werden. Diese Erklärungsnot komme vor allem davon, dass eine Vorrangstellung der intellektuellen Grundkraft – sie mag als Grund, Ursache oder Bestandteil aller Empfindungen fungieren – bei manchen Arten des sinnlichen Vergnügens äußerst unplausibel wirkt.¹⁷⁷ Wie sich gezeigt hat, lehrt Sulzer, dass eine verminderte Ideenproduktion mit einer geringeren positiven Empfindungsfähigkeit einhergeht; es heißt sogar, dass ein „Dummkopf“, dessen physiologische Eingeschränktheit ihn darin hindert, dass Ideen die nötigen Eindrücke auf seinen Geist machen, „kein sehr empfindliches Herz [sc. moralisches Empfindungsvermögen] haben“ (Vermischte Schriften, 96) kann. In diesem Kontext macht Reinhold darauf aufmerksam, dass „man der Sulzerschen Theorie zufolge weit mehr seine Rechnung dabey finden [würde], wenn man seine Mahlzeit in eigentlichsten Verstande bloß dachte, als wenn man sie wirklich [sinnlich] genösse“, da etwa ein „Dichter, der sich einen Götterschmauß bis auf die kleinsten Umstände lebhaft zu

176 Ein mögliches, naheliegendes Gegenargument, welches besagt, dass unsere körperliche Sinnlichkeit gar nicht als Erscheinung aufgefasst werden muss und also zu ihrer Existenz gar keine Empfindung erfordert, lässt sich entkräften. Die Beschaffenheit der Sinnlichkeit, von der wir als physiologische und psychologische überhaupt nur etwas auf Basis der Erfahrung – die auch immer Empfindungen involviert – wissen, wird in diesem Gegenargument ungerechtfertigterweise zu einer metaphysischen Eigenschaft eines Dinges an sich transzendiert. Es ist zwar so, dass falls man die von Kant vorgenommenen metaphysischen Deduktionen des Raumes und der Zeit für unplausibel hält, sich z. B. nicht ausschließen lässt, dass alle physiologisch und psychologisch relevanten Mechanismen des Hörens – die ja räumlichen und zeitlichen Bedingungen unterliegen – auch unabhängig von unserer Erfahrung Bestand haben; ein sicheres Wissen darüber ist uns aber grundsätzlich verschlossen. Das Argument, welches den Schluss enthält, dass unsere biologische Organisation keine innere Bedingung der Empfindung sein kann, stützt sich zumindest auf diese transzendentalphilosophische Reflexion. Es muss also gar nicht die logisch mögliche Existenz einer physiologischen Sinnlichkeit als Ding an sich negiert werden, weil als Minimalbedingung gilt, dass unsere biologische Organisation soweit sie uns zugänglich ist und soweit wir wissen können aus dem genannten Grund nicht als konstitutive Bedingung der Empfindung geeignet ist. Dieser Grund sei hier spezifiziert: Wenn A nur dann sicher als existierend gelten kann, wenn A empfunden wird, dann kann A keine konstitutive Bedingung B der Empfindung sein, weil die Annahme der Existenz von B bereits dann sicher ist, wenn eine Empfindung vorliegt und nicht erst dann, wenn B empfunden bzw. der Inhalt einer Empfindung ist. Denn eine konstitutive Bedingung B von C zu sein, bedeutet, dass B existiert, sobald C existiert. 177 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 160 ff.

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denken weiß, […] seine intellektuelle Kraft […] weit mehr in Thätigkeit [setzt], als es die üppigste Mahlzeit beym größten Hunger [jemals] thun könnte.“ (Vergnügensschrift 1788, 161) Zugleich geht Sulzer aber auch davon aus, dass sinnliche Güter eindrücklichere Empfindungen in uns erwecken als intellektuelle, obwohl aufgrund der bei den intellektuellen Vergnügungen auftretenden stärkeren Beschäftigung der wesentlichen Kraft zu denken, doch eigentlich die letzteren uns heftiger erregen müssten als die ersteren: Die Thätigkeit des Gemüthes, seiner [sc. Sulzer] Meynung nach, die einzige Quelle des Vergnügens, ist bey den intellektuellen Vergnügungen offenbar am meisten beschäftiget, während bey den Sinnlichen eben der Umstand daß das Gemüth dabey stärker afficirt wird, die Thätigkeit desselben auf eine Zeitlang beynahe ganz aufhebt. Gleichwohl wird die größere Stärke des sinnlichen Vergnügens von ihm selbst ausdrücklich behauptet; ja er trägt so gar kein Bedenken S. 74 zu schreiben: „die sinnlichen Vergnügungen sind die Körper, und die intellektuellen die Schatten von diesen Körpern!“ (Vergnügensschrift 1788, 162)

Es ist kein geringes Verdienst Reinholds, auf diese Widersprüchlichkeit oder innere Spannung in Sulzers Theorie hingewiesen zu haben. Was nun Sulzers Ausführungen zum moralischen Vergnügen betrifft, so lehnt unser Elementarphilosoph dieselben völlig ab, inwieweit sie sich auf das Axiom stützen, dass der Ursprung des moralischen Vergnügens mit dem Grund der Tugenden identisch ist, weil niemand tugendhaft sein würde, wenn die Tugenden nicht Vergnügen bereiteten. Wenn damit bloß behauptet würde, dass eine moralische Gesinnung ganz ohne Vergnügen an derselben unerreichbar wäre, dann fände Reinhold keinen Anstoß daran. Jener Grundsatz ist nach ihm aber ‚grundfalsch‘, insofern damit behauptet wird, dass das Vergnügen bzw. die Glückseligkeit – im Sinne eines andauernden Zustandes überwiegend positiver Empfindungen – die eigentliche Triebfeder für den Bestand eines ausgebildeten Gewissens oder der Zweck einer moralischen Handlung sei.¹⁷⁸ Ganz der kantischen Ethik verpflichtet richtet sich Reinhold vehement gegen Sulzers Tugend- und Glückseligkeitskonzeption: „Vergnügen ist Triebfeder, Beweggrund, Zweck der moralischen Handlung,“ klingt in meinen Ohren ungefähr wie der Satz: eine aus drey Linien bestehende Figur macht den Zirkel aus. Die Rücksicht auf das aus der Tugend zu ziehende Vergnügen zerstört nicht nur etwa den höhern Werth, und das Verdienst der Tugend, sondern auch die ganze Würde, die das Wesen derselben ausmacht, und die ich mir nur durch die Reinheit, beabsichtigte Gesetzmäßigkeit, und völlige Uneigennützigkeit des Willens, denken kann. (Vergnügensschrift 1788, 164)

178 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 163 f.

2.4 Der Standpunkt der Spontaneität

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Mit der Gesetzmäßigkeit ist offensichtlich das unbedingt gebietende Sittengesetz gemeint und die völlige Uneigennützigkeit des Willens spielt auf den guten Willen, aus dem Motiv, seine moralische Pflicht zu erfüllen und aus dem Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz zu handeln, an.¹⁷⁹ Für Reinhold bedeutet dies, dass eine Handlung überhaupt nur dann moralisch gut sein kann, wenn der freie Wille mithilfe der Vernunft – unter Umständen gegen etwaige Störfaktoren wie sinnliche Eindrücke – den Trieb zur Befolgung des Sittengesetzes hin ausrichtet.¹⁸⁰ Hier zeige sich die Relevanz einer Antwort auf die Frage nach der Natur des Vergnügens am deutlichsten. Die Freiheit des Willens als eine nicht unter Naturbedingungen fallende Entität sei nämlich eine Grundvoraussetzung der Moralität, die in der ‚eigentlichen Spontaneität‘ bzw. wahren Selbsttätigkeit unseres Geistes bestehe. Wenn es nun aber klar wäre, dass das ‚Wesen des Vergnügens überhaupt‘ bzw. die Gattung aller Arten des Vergnügens – wie z. B. das sinnliche oder das intellektuelle Vergnügen – gar nichts mit der Spontaneität zu tun hat, weil alleine die Rezeptivität eine konstitutive Bedingung des Vergnügens ist, dann könne man nicht mehr „das Vergnügen [oder vielmehr das Verlangen nach Vergnügen] zur Triebfeder der Moralität, die afficirte Sinnlichkeit zum Beweggrund der von der Sinnlichkeit unabhängigen Selbstthätigkeit […] und die erhabene Gesinnung […] aus dem Triebe nach Vergnügen“ (Vergnügensschrift 1788, 165) erklären.¹⁸¹ Auf Basis dieser Überlegungen unternimmt Reinhold schlussendlich eine Neubestimmung des Begriffs der Glückseligkeit. Diese besteht nicht nur aus angenehmen Empfindungen, die ja nur eine kontingente Folge oder Begleiterscheinung der moralisch guten Handlungen sind, sondern enthält essentiell die Glückswürdigkeit, welche sich aus der selbsteigenen Sittlichkeit bzw. der selbstgewählten Achtung vor dem Sittengesetz speist.¹⁸² „Wer nichts als sein Vergnügen (wärs auch in dem Vergnügen eines andern, oder der ganzen Menschheit) beabsichtiget“, urteilt Reinhold, „der wird wohl zuweilen von Glück, aber nie von Glückseligkeit im strengen Sinne des Wortes sprechen können.“ (Vergnügensschrift 1788, 167)¹⁸³

179 Vgl. KpV, 31 ff.; 36; 38 f.; 62; 71 ff.; 75 ff.; 80 ff. Reinhold kannte den Inhalt der Kritik der praktischen Vernunft bereits seit Jänner 1788, was aus der Korrespondenz zwischen ihm und Kant ersichtlich wird. (Vgl. KA 1, 299; 312) Anstatt der zweiten Kritik lässt sich aber auch auf die schon 1785 veröffentlichte Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verweisen, die bereits die wesentlichen Grundthesen derselben enthält. (Vgl. GMS AA IV, 393 ff.) 180 Auch Kant hebt die Freiheit des Willens hervor: „Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz.“ (KpV, 80) 181 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 164 f. 182 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 166. 183 Reinhold spricht sich hier nicht gegen diejenigen aus, die alleine zum Wohl anderer Gutes tun, sondern gegen diejenigen, die dies bloß um ihres eigenen Vergnügens willen tun. Nichtsdestotrotz

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Gegen die gesamte hier vorliegende Darstellung könnte vorgebracht werden, dass Reinhold äußerst ungerecht mit Sulzer verfährt, indem er nur sein Frühwerk von 1751 kritisiert, obwohl doch bekannt ist, dass durch die 1763 veröffentlichte Abhandlung Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet einige wichtige Veränderungen in Sulzers ursprünglicher Vergnügenskonzeption vorgenommen werden. Wolfgang Riedel ist sogar der Ansicht, dass dort eine Wende von dem in der Untersuchung vorherrschenden Monismus der seelischen Grundkraft hin zu einem ‚dichotomisch-disjunktiven Denkmodell‘ vollzogen wird, welches das Vorstellen und Empfinden derart separiert, dass das Unterfangen, beide aus dieser Grundkraft deduzieren zu wollen, aufgegeben wird. Das Empfinden würde somit nicht mehr als eine besondere Ausformung der vorstellenden Kraft gedeutet und verselbstständige sich gegenüber Wolffs Vorstellungsbegriff.¹⁸⁴ Es ist richtig, dass in den Anmerkungen zwischen dem „Zustand des Nachdenkens“ und dem „demselben gerade entgegengesetzten […] Zustand der Empfindung“ differenziert wird, aber anders als Riedel dies darstellt, ist für Sulzer die „Empfindung“ nach wie vor eine „Vorstellung [Hervorhebung von M. S.], in so fern sie angenehm oder unangenehm ist“. (Vermischte Schriften, 229) Ferner ist ein Zustand des Nachdenkens wohl etwas anderes als die Grundkraft zu denken. Es spricht kein triftiger Grund dagegen, dass es sich sowohl beim Zustand des Nachdenkens als auch bei demjenigen des Empfindens um Wirkungen derselben Grundkraft handelt, wie dies die Untersuchung nahelegt, und diese Grundthese wird in den Anmerkungen auch nirgendwo aufgehoben. Weder findet sich bei Sulzer eine Selbstkorrektur noch geben seine Ausführungen das Material dafür ab, ernsthaft von einer Dichotomie oder einer Disjunktion sprechen zu können, in der nicht ein Monismus verborgen läge. Wenn Sulzer die Möglichkeit in Betracht zieht, „daß es zwo Seelen in dem Menschen gebe, eine vernünftige und eine empfindende“, dann kommt dies der Interpretation Riedels noch am nächsten; diese Überlegung wird jedoch mit der Bemerkung „scheint [Hervorhebung von M. S.] die Seele so verschieden von ihr selbst zu seyn“ (Vermischte Schriften, 229) eingeleitet, sodass Sulzers hier keineswegs seine eigene Meinung wiedergibt. Zwar sind die zwei Zustände „die beyden am weitesten von einander abgehenden“ (Vermischte Schriften,

können auch erstere – diejenigen, die gar nicht ihr eigenes Vergnügen anstreben – unter dem Reinhold’schen Begriff niemals glückselig sein, insofern es ihnen an der sittlichen Achtung fehlt. ‚Glücklich‘ können unter Umständen aber beide genannt werden, wobei aber nicht auszuschließen ist, dass Reinhold denjenigen, die tatsächlich immer nur das Glück anderer anstreben, – wohl zurecht – das eigene Glück absprechen würde. 184 Vgl. Riedel 1992, 415 f.

2.5 Der Standpunkt der Rezeptivität

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236), dennoch ist auch „die Empfindung […] eine Handlung [Hervorhebung von M. S.] der Seele“ (Vermischte Schriften, 229), eine Handlung, „deren unmittelbare Ursache in dem Innersten der Seele so tief verborgen liegt, daß man sie nur sehr selten erkennen kann.“ (Vermischte Schriften, 242) Und man mag im Sinne der Untersuchung hinzufügen: nicht erkennen kann, weil diese Ursache bzw. die im Kern verstandesmäßige seelische Grundkraft sich sehr stark von einer ihrer Wirkungen, dem Zustand der Empfindung, unterscheidet. Dabei handelt es sich im Grunde genommen um keine Neuerung, denn Sulzer hatte nie das Anliegen, die Empfindungen auf den Intellekt zu reduzieren, sondern dieselben aus der denkenden Grundkraft zu deduzieren – was etwas gänzlich anderes ist. Da also – neben in der Tat vorhandenen Abweichungen, auf die wir im Rahmen unserer Studie nicht eingehen können – kein einschneidender Bruch zwischen Untersuchung und Anmerkungen vorliegt, ist es verzeihlich, dass Reinhold nur die erstere berücksichtigt hat.¹⁸⁵ Entgegen dem ersten Anschein hat sich gezeigt, dass Sulzer sowohl aus der Perspektive Reinholds als auch aufgrund der zahlreichen sachlichen Differenzen die – nicht weniger wichtige – Rolle eines Antagonisten einnimmt. Lassen wir Kant und Platner vorerst außen vor, so ist zu konstatieren, dass Reinholds eigene Vergnügenskonzeption weit stärker von Pouilly und Dubos und zum Teil auch von Wolff positiv beeinflusst wurde als von Sulzer.

2.5 Der Standpunkt der Rezeptivität 2.5.1 Helvétius über den menschlichen Geist Im fünften Paragraphen wird Helvétius‘ De L’Esprit unter dem Titel „Einseitige Rücksicht auf den sich leidend verhaltenden Theil des Vorstellungsvermögens“ (Vergnügensschrift 1789, 37) in Reinholds Reflexionen miteinbezogen. Anders als Sulzer nimmt Helvétius aber verhältnismäßig wenig Raum ein. Wie Reinhold uns mitteilt ist er „weder der Erste, noch der Einzige, welcher […] das Vermögen angenehmer und unangenehmer Empfindungen […] von der Empfänglichkeit für

185 Euler argumentiert mit anderen Mitteln in dieselbe Richtung und seine Reflexionen laufen hier im Grunde auf dasselbe hinaus. (Vgl. Euler 2011, 102 f.; 123) Wenn er sich – zurecht – gegen die Interpretation, dass bei Sulzer eine ‚Autonomie des Empfindungsvermögens‘ vorliegt, ausspricht, kann er sich dabei aber nicht auf Reinholds angebliche „Beurteilung des Vergnügens bei Sulzer“, gemäß welcher „er das Vergnügen nämlich mehr nach der Seite des Leidens betachtet habe“ (Euler 2011, 123), berufen. Denn dies entspricht in keiner Weise den Ansichten unseres Elementarphilosophen.

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äußere Eindrücke […] allein hergeleitet wissen wollte.“ (Vergnügensschrift 1789, 37) Ebenso gut hätte in diesem Paragraphen z. B. Edmund Burkes (1729 – 1797) A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful ¹⁸⁶ diskutiert werden können, was mit Hinblick auf ästhetische Belange sogar naheliegender gewesen wäre. Die Enquiry berücksichtigt gleichermaßen subjektive und objektive Gesichtspunkte der Empfindungen, da in ihr sowohl die Merkmale der schönen und erhabenen Gegenstände als auch deren Zusammenhang mit unseren Gefühlsvermögen extensiv behandelt werden; wenngleich Burke etwas weniger radikale Ansichten vertritt als Helvétius, so ist er doch auch der Auffassung, dass selbst höhere Formen des Vergnügens im Wesentlichen nicht auf Rationalität, sondern auf physiologischen und psychologischen Prozessen beruhen, sodass es sich etwa bei der Schönheit um eine Eigenschaft der Gegenstände handelt, die mechanisch auf unseren Geist einwirkt und dabei Gefühle wie Liebe und Zuneigung erzeugt.¹⁸⁷ Mit dem Hinweis auf die Substituierbarkeit von Helvétius‘ Ausführungen deutet Reinhold überdies an, dass diese für seine eigene Position keine bis fast gar keine positive Bedeutung haben, was – wie sich zeigen wird – auch tatsächlich der Fall ist. Die vier Kapitel des ersten und das neunte bis fünfzehnte Kapitel des dritten Diskurses von De L’Esprit werden von Reinhold lediglich als ein Beispiel für einen sich auf Epikur berufenden Materialismus herangezogen, der den Menschen als eine in Naturmechanismen deterministisch eingebundene – mehr oder minder passive – Maschine begreift.¹⁸⁸ Das Ziel dahinter ist, diese Denkrichtung durch eine

186 Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. 4. Aufl. London 1764. Im Folgenden zitiert als „Enquiry“. 187 „Beauty […] is no creature of our reason“. (Enquiry, 209) „We must conclude that beauty is, for the greater part, some quality in bodies, acting mechanically upon the human mind by the intervention of the senses. We ought […] to consider attentively in what manner those sensible qualities are disposed, in such things as by experience we find beautiful, or which excite in us the passion of love, or some correspondent affection.“ (Enquiry, 210) Wie Burke präzisierend hervorhebt, zählt er zu den Kräften, die uns zu einer Auseinandersetzung mit externen Objekten befähigen, Sinne, Einbildungs- und Urteilskraft. Die Einbildungskraft ist laut ihm nur ein ‚Stellvertreter der Sinne‘; die Urteilskraft werde für Erfahrungen, die Leidenschaften und Phantasie involvieren, kaum mobilisiert, komme aber in Streitfragen des Geschmacks zur Anwendung. (Vgl. Enquiry, 7; 16 f.; 38) Auch Paul Guyer hebt hervor, welche zentrale Rolle Emotionen in Burkes ästhetischer Theorie einnehmen; er sieht ihn sogar als einen Wegbereiter des Romantizismus. (Vgl. Guyer 2014, 153; 155; 157) 188 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 37. Neben Bernard Mandeville (1670 – 1733), Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723 – 1789), Denis Diderot (1713 – 1784) und natürlich auch Helvétius ist hier insbesondere auf den – von seinen Zeitgenossen weitestgehend verkannten – Autor von L’Homme Machine und Discours sur le bonheur ou Anti-Sénèque, Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751), zu verweisen. Wie schon der Titel des erstgenannten Werks andeutet, sei der Mensch nur eine Maschine und das Universum weise bloß ein einziges – verschiedenartig vorliegendes – Wesen auf, das La Mettrie mit

2.5 Der Standpunkt der Rezeptivität

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kritische Prüfung zu läutern, damit sie als Korrektiv für die unzähligen – die Aktivität des Geistes übermäßig betonenden – Spielarten des Spiritualismus gebraucht werden kann. Dieses Vorgehen mag Helvétius nicht in allen Einzelheiten gerecht werden, da er – nach eigenem Bekunden – die Frage nach dem Wesen des Geistes in De L’Esprit unbeantwortet lassen möchte, zumal sich seine Ausführungen mit allen möglichen Stellungnahmen zu diesem Problem vertragen.¹⁸⁹ Weil von ihm aber auch impliziert wird, dass der Materie neben der Ausdehnung oder der Anziehungskraft wahrscheinlich auch die Fähigkeit zu fühlen inhäriert, ist es nicht abwegig, seine Position einem physikalistischen Epiphänomenalismus oder emergentistischen Materialismus zuzuordnen.¹⁹⁰ Helvétius‘ Lehre beruht nachweisbar auf einem Sensualismus. Denn laut ihm hat der Mensch von Natur aus zwei – man muss sagen sich in ihrer Bedeutsamkeit stark voneinander unterscheidenden – Fähigkeiten oder leidende bzw. passive Kräfte: die Gefühle erzeugende körperliche Sensibilität (sensibilité physique), durch welche wir verschiedene Eindrücke von äußeren Objekten empfangen, und das Gedächtnis, anhand dem wir diese Eindrücke bewahren, die aber nichts anderes als abgeschwächte Empfindungen sind.¹⁹¹ Letzteres will heißen, dass die physische Sensibilität alle unsere Ideen – d. s. im Sinne Reinholds Vorstellungen – hervorbringt, da sich erinnern im Grunde genommen nichts anderes als fühlen sei.¹⁹² In diesen Fähigkeiten würden sich der Mensch und das Tier gleichen; der Unterschied zwischen den beiden liege nur in der Beschaffenheit ihrer physischen Organisation, da wir es z. B. ohne die Feinmotorik unserer Hände in kultureller und wissen-

der Materie assoziiert. (Vgl. La Mettrie, Julien Offray de: L’Homme Machine. Leyde 1748, 146 f.); in dem letztgenannten Werk – das von seinem philosophisch-psychologischen Gehalt weit bedeutender ist – wird mit Epikur und gegen Seneca ein konsequenter Hedonismus vorgetragen, der sich gegen eine falsch verstandene – weil auf Vorurteilen beruhende – Vernunft, Erziehung und Kultur richtet, die den Menschen in allen – auch amoralischen – Belangen durch Gewissensbisse geißeln. (Vgl. La Mettrie, Julien Offray de: Anti-Sénèque ou le Souverain Bien. Potsdam 1750, 5 ff.; 17 f.; 36 ff.; 82 ff.; 113 ff.) 189 Vgl. De L’Esprit, 4 f. Übrigens weist auch Reinhold selbst auf Helvétius‘ bewusst gewähltes Schweigen zum Leib-Seele-Problem hin. (Vgl. Vergnügensschrift 1789, 38) 190 Vgl. De L’Esprit, 31 f. 191 „Nous avons en nous deux facultés, ou, si je l’ose dire, deux puissances passives […]. L’une est la faculté de recevoir les impressions différentes que font sur nous les objets extérieurs; on la nomme sensibilité physique. L’autre est la faculté de conserver l’impression que ces objets ont faite sur nous ; on l’appelle mémoire: & la mémoire n’est autre chose qu’une sensation continuée, mais affoiblie.“ (De L’Esprit, 1 f.) 192 „Je viens à mon sujet: & je dis que la sensibilité physique & la mémoire, ou, pour parler plus exactement, que la sensibilité seule produit toutes nos idées.“ (De L’Esprit, 6) „Se ressouvenir […] n’est proprement que sentir.“ (De L’Esprit, 6)

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schaftlicher Hinsicht nicht viel weiter als Pferde gebracht hätten.¹⁹³ Selbst die geistigen Operationen, welche es uns ermöglichen Verhältnisse zwischen den Gegenständen untereinander und uns selbst zu erkennen, beruhen laut Helvétius bloß auf der Sensibilität, sodass auch zwischen Urteilen und Fühlen kein wesentlicher Unterschied bestünde.¹⁹⁴ Dies will er unter anderem dadurch erweisen, indem er zu zeigen versucht, dass man die Irrtümer, denen unser Geist unter Umständen unterliegt, ganz ohne die Annahme einer separaten Urteilsfähigkeit erklären kann, da alle falschen Urteile bloß auf unsere Leidenschaften und unsere Unwissenheit zurückgeführt werden könnten, die ihrerseits nur auf der Fähigkeit zu fühlen beruhen würden.¹⁹⁵ In dem Kapitel De l’origine des passions werden zwei Arten von Leidenschaften eingeführt: die dem Menschen von Natur aus zukommende sinnliche Lust und Unlust, die wir um ihrer selbst willen lieben oder hassen, und die durch Enkulturation entstandenen künstlichen Leidenschaften, zu welchen Helvétius Habgier, Ehrgeiz, Stolz, Freundschaft, aber auch Neid, Patriotismus, Ruhmsucht und romantische Liebe rechnet.¹⁹⁶ In den darauf folgenden Kapiteln spricht er der zweiten Art von Leidenschaften – worunter auch moralische Empfindungen zählen, die auf intellektuellen Einsichten beruhen – ihre Eigenständigkeit ab, da er zeigen möchte, dass dieselbe aus der ersten Art hervorgeht und sich auf diese und die ursprüngliche Begierde nach körperlich angenehmen Empfindungen zurückführen lässt.¹⁹⁷ Dementsprechend heißt es z. B., dass die Begriffe Gut und Böse die von äußeren Gegenständen hervorgerufenen körperlichen Empfindungen von Lust und Schmerz denotieren, dass die Ausgeprägtheit der Tugend sich immer proportional zum Grad des Vergnügens verhält, welches man durch die Tugendhaftigkeit erlangt, oder dass die positiven und negativen Empfindungen die Gegenpole sind, welche die moralische Welt in Gang bringen.¹⁹⁸ Was ist nun Reinholds Urteil über diese Theorie?

193 „Ces facultés, que je regarde comme les causes productrices de nos pensées, & qui nous sont communes avec les animaux, ne nous occasionneroient cependant qu’un très-petit nombre d’idées, si elles n’étoient jointes en nous à une certaine organisation extérieure. Si la nature, au lieu de mains & de doigts flexibles, eût terminé nos poignets par un pied de cheval; qui doute que les hommes, sans art, sans habitations, sans défense contre les animaux, tout occupés du soin de pourvoir à leur nourriture & d’éviter les bêtes féroces, ne fussent encore errants dans les forêts comme des troupeaux fugitifs“? (De L’Esprit, 2) 194 Vgl. De L’Esprit, 7 ff. 195 Vgl. De L’Esprit, 12 ff.; 16 ff.; 31 ff.; 40 f. 196 Vgl. De L’Esprit, 321 ff. 197 Vgl. De L’Esprit, 326 ff.; 330 ff.; 337 ff.; 344 ff.; 350 ff.; 361 ff. 198 „Ces mots de bien & de mal […] [ont été] créés pour exprimer les sensations de plaisir ou de douleur physque que nous recevons des objets extérieurs“. (De L’Esprit, 324) „La force de la vertu est toujours proportionnée au degré de plaisir qu’on lui assigne pour récompense.“ (De L’Esprit, 364)

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2.5.2 Reinholds kritische Würdigung von Helvétius‘ Sensualismus und über die Relevanz einer reinen Spontaneität Wie kaum anders zu erwarten war, bemängelt unser Elementarphilosoph erneut die einseitige Auffassung der Sinnlichkeit als einer physischen Organisation, die – wie wir gesehen haben – schon bei Mendelssohn und Sulzer vorlag und entsprechend kritisiert wurde. Seine von Kant entlehnte apriorische Auffassung der Rezeptivität auf Helvétius und den Materialismus anwendend und zugleich über Positionen resümierend, die zum Spiritualismus tendieren, hält Reinhold fest: Dieses Lehrgebäude des Helvetius hat mit dem Materialismus und Spiritualismus eine und eben dieselbe Grundfeste, und diese ist nichts anderes als der von allen uns bekannten Philosophen bis auf Kant missverstandene Grundbegriff der Sinnlichkeit. Daß die Materialisten den Organischen Körper unter die wesentlichen Merkmale jenes Grundbegriffes aufnahmen, hängt sehr natürlich mit ihrem ganzen philosophischen Glaubensbekenntnisse zusammen. […] Aber auch die Spiritualisten? Wozu bedurften diese der Organisation? Freylich nicht um die Möglichkeit des menschlichen Erkennens [nach ihrer eigenen Fasson] zu erklären; den hiezu [sic!] brauchten sie nichts weiter als ihre einfache Substanz: aber desto mehr, um sich alle die leidigen [sinnlichen] Beschränkungen dieser einfachen Substanz […] begreiflich zu machen. (Vergnügensschrift 1789, 41 f.)

Neu an dieser Stelle ist, dass Reinhold nicht nur für die Sinnlichkeit im Sinne eines apriorischen Vermögens plädiert – und auf Vorteile hinweist –, sondern auch transzendentalphilosophisch dafür argumentiert. Er geht von den Vorannahmen aus, dass wir „durchs Bewusstseyn genöthiget [sind] die Vorstellung, die wir von unsrem organischen Körper [bzw. unserer physischen Sinnlichkeit] haben, sowohl von dem organischen Körper selbst, als auch von unserm Subjekte zu unterscheiden“ (Vergnügensschrift 1789, 42 f.)¹⁹⁹, dass eine Vorstellung von einem Objekt zu

„La douleur & le plaisir des sens font agir & penser les hommes, & sont les seuls contrepoids qui meuvent le monde moral.“ (De L’Esprit, 366) 199 In der Sekundärliteratur zur Philosophie Reinholds wurde bereits häufig darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Satz um eine Vorfassung des ‚Satzes des Bewusstseins‘ (S. d. B.) handelt, den Reinhold mit dem Anspruch versieht, der erste Grundsatz der Philosophie zu sein. (Siehe z. B. Lazzari 2005, 221) Der S. d. B. wird von Reinhold ab 1789 in verschiedenen Versionen – wenn auch zunächst noch nicht unter diesem Namen – vorgetragen: „Man ist, durch das Bewusstseyn genöthiget, darüber einig, dass zu jeder Vorstellung ein vorstellendes Subjekt, und ein vorgestelltes Objekt gehöre, welche Beyde von der Vorstellung, zu der sie gehören, unterschieden werden müssen“ (Versuch, 200); „Im Bewusstseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen“ (Beyträge I, 167), etc. Von seinem semantischen Gehalt her gesehen ist der eben erwähnte Satz aus der Vergnügensschrift aber gar nicht so sehr eine Vorform des S. d. B., sondern ein – auf den äußeren Sinn bezogener – besonderer Anwendungsfall desselben.

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haben eine Empfänglichkeit (Rezeptivität) unseres Vorstellungsvermögens, von demselben affiziert zu werden, logisch voraussetzt sowie dass es sich bei der physischen Sinnlichkeit bloß um ein vorstellbares Objekt handelt, das wir nur vermittelst dieser Empfänglichkeit kennen und welches weder seine Vorstellung noch das – ontologisch unbestimmte – vorstellende Subjekt ist, um daraus zu schließen, dass die Rezeptivität des Vorstellungsvermögens bzw. die ursprünglichen Sinnlichkeit die erkenntnistheoretische – oder vielmehr vorstellungstheoretische – Priorität gegenüber der physischen Sinnlichkeit haben muss.²⁰⁰ Denn immerhin gründet sich die Vorstellbarkeit der empirischen Organisation und ihrer Sinne sowie unsere Bekanntschaft mit den Eigenschaften derselben auf eine gewisse nicht-empirische Beschaffenheit unseres Vorstellungsvermögens, da alles Vorstellbare diese zur notwendigen Bedingung hat, aber keineswegs e contrario, weil sodann entweder der organische Körper aufhören würde vorstellbares Objekt und somit empirische Organisation zu sein oder man sonst in einen fatalen Zirkel gerät, in welchem die Rezeptivität des Vorstellungsvermögens durch etwas erklärt werden würde, das selbst nur durch diese Rezeptivität verständlich gemacht werden kann.²⁰¹ In Reinholds eigenen Worten: In wie ferne […] die Empfänglichkeit des Vorstellungsvermögens für einen gegebenen Stoff Sinnlichkeit ist und heißen muß, in so ferne gehört Sinnlichkeit zur Möglichkeit der Vorstellung des organischen Körpers, aber keinesweges der organische Körper zur Möglichkeit der Sinnlichkeit, und die Vorstellbarkeit der Organisation muß von der Sinnlichkeit, nicht diese von der Organisation abgeleitet werden. Jede Definition welche die Sinnlichkeit aus der Beschaffenheit der Gegenstände, welche durch sie vorgstellt werden müssen, erklärt, ist wesentlich fehlerhaft; denn da die Beschaffenheit dieser Gegenstände nur in so ferne vorstellbar ist als sie der Sinnlichkeit gegeben werden kann, so würde die Sinnlichkeit durch etwas erklärt werden, welches selbst nur durch Sinnlichkeit erklärbar ist. (Vergnügensschrift 1789, 43 f.)

Als transzendentalphilosophisch sind diese Überlegungen zu klassifizieren, da Reinhold mit diesen Kants sehr allgemein gehaltenen Anweisungen aus der KrV folgt, nach denen „nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sein [sic!], transzendental […] heißen müsse.“ (KrV, A 56/B 80) Denn erstens kann die Einsicht, dass die nichtempirische Rezeptivität erkenntnistheoretische Priorität gegenüber der physischen Sinnlichkeit hat, gar nie durch Induktion bzw. auf Basis der Empirie gerechtfertigt

200 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 43 f. 201 Reinhold bestreitet aber keineswegs, dass die physische Sinnlichkeit die genetische Priorität innehat: „Freylich müssen alle von unsrer Person verschiedenen Dinge auf unsre sinnlichen Werkzeuge wirken, wenn Vorstellung von ihnen entstehen soll“. (Vergnügensschrift 1789, 43)

2.5 Der Standpunkt der Rezeptivität

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werden, und ist deshalb eine Erkenntnis a priori; zweitens ist diese apriorische Erkenntnis transzendental, soweit sie sich auch auf das Argument stützt, dass sich die ursprüngliche Sinnlichkeit ohne einen fatalen Zirkel zu begehen nicht durch die empirische Organisation substituieren lässt, weil damit zumindest gezeigt wird, dass jene Sinnlichkeit nur a priori möglich ist.²⁰² Dass Reinhold trotz der Betonung eines apriorischen Standpunkts keineswegs die Rolle der physischen Sinnlichkeit negiert, zeigt zudem, dass er sich – gemäß Kants Forderung – „nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (KrV, B 25) Der Unterschied zu Kant liegt nur darin, dass sein Fokus nicht auf der Erkenntnisart, sondern auf der Vorstellungsart liegt, wodurch er einen grundlegenderen Ansatz verfolgt. Als eine bedeutsame Folge der Äquivokation, welche die physische Organisation zusammen mit der Rezeptivität des Vorstellungsvermögens, ohne Differenzierungen zwischen den beiden vorzunehmen, unter einen einzigen Begriff stellt, gibt Reinhold an, dass die Sinnlichkeit „auf den äussern Sinn, eingeschränkt, und dadurch der Hälfte ihres Vermögens, nemlich des ganzen innern Sinnes, beraubt wird“ (Vergnügensschrift 1789, 44), was insoweit richtig ist, als Helvétius alle Vorstellungen auf die von außen affizierte physische Sensibilität reduziert wissen will. Die Bedeutung des inneren Sinnes ist in Bezug auf den Standpunkt der Rezeptivität brisant, da die von uns in uns selbst wahrgenommenen mentalen Veränderungen und Zustände, welche von der Affektion durch äußere Gegenstände herrühren, laut Reinhold auch „Handlungen der Thätigkeit des Gemüthes voraussetzen, durch welche das im äußeren Eindrucke vorhandene Manigfatige aufgefaßt, und dem Gemüthe zu eigen [Hervorhebung von M. S.] gemacht werden muß, wenn es vorgestellt werden soll.“ (Vergnügensschrift 1789, 44 f.) Ohne es kenntlich zu machen, setzt unser Elementarphilosoph hier Kants Überlegungen zur ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption voraus und stützt sich somit auf den Grundsatz der Einheit der Apperzeption, welcher die analytische Einheit des Selbstbewusstseins bzw. die Selbstzuschreibbarkeit aller nur möglichen Vorstellungen durch eine ursprüngliche Verbindungsleistung des Verstandes erklärt.²⁰³ Die Worte „Wirklich lehrt mich mein deutliches Bewußt-

202 Wollte Reinhold darüber hinaus zeigen, wie die ursprüngliche Sinnlichkeit a priori möglich ist, müsste er eine Theorie der Sinnlichkeit liefern, die Kants vermögenstheoretischen Ausführungen zu Raum und Zeit aus der transzendentalen Ästhetik der KrV entspricht und dabei auch auf Aspekte der transzendentalen Logik eingeht. Dies ist allerdings nicht der Zweck der Vergnügensschrift. 203 „Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sich wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d. i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige

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2 Die Vergnügensschrift

seyn […], daß ich selbst das Vermögen besitze mein Gemüth zu afficieren“ (Vergnügensschrift 1789, 45) deuten zudem auf Kants Lehre der Selbstaffektion, in welcher dem Verstand zugeschrieben wird, dass er ‚durch eine transzendentale Handlung der Einbildungskraft den inneren Sinn bestimmt bzw. das passive Subjekt aller Vermögen affiziert‘, was nicht nur eine notwendige Bedingung der Möglichkeit darstellt, innere Anschauungen intellektuell zu erfassen, sondern auch äußere zu erkennen, da ‚alle Vorstellungen Bestimmungen des Gemüts sind und also zum inneren Zustand desselben gehören‘.²⁰⁴ Diese transzendentale Dimension der Selbstaffektion wird von Reinhold anerkannt, indem er nicht nur festhält, dass die Vorstellungen des inneren Sinnes „ohne eine dem Gemüthe eigenthümliche, und von den Dingen außer uns verschiedene innre Thätigkeit, unmöglich“ sind, sondern auch konstatiert, dass „sogar die äußern Eindrücke […] ohne diese Thätigkeit nie ins Gemüth aufgenommen, nie Vorstellungen werden können.“ (Vergnügensschrift 1789, 45) Die Spitze gegen ein alleiniges Primat der Rezeptivität bei einer gleichzeitigen Bekräftigung einer reinen (nicht-empirischen) Spontaneität ist unverkennbar. Was ist nun aber das Korrektiv, welches die in De L’Esprit angedeutete Vergnügenskonzeption gegenüber einem Spiritualismus und Intellektualismus bereithält? Oder, um es mit Reinhold zu sagen: Was ist die ‚einseitige aber gleichwohl nicht ganz unrichtig gesehene Wahrheit‘ von Helvétius‘ Lehre?²⁰⁵ Erstens, dass das unmittelbare Objekt des Vergnügens oder Missvergnügens ein Zustand des Gemüts ist, der dasselbe affiziert und der niemals nur durch den Intellekt erfasst, sondern immer auf sinnlichem Weg empfunden wird. Und zweitens, dass – soweit man auf Basis der Empirie urteilen kann – jede positive oder negative Empfindung – sie mag

derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin. […] Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmungen entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.“ (KrV, B 134 f.) 204 Vgl. KrV, A 34/B 50; B 153 f. Nicht nur für Reinhold ist die Selbstaffektion geradezu selbstverständlich – d. h. wird von jedem durchs Bewusstsein eingesehen –, sondern auch für Kant: „Ich sehe nicht, wie man so viel Schwierigkeit darin finden könne, daß der innere Sinn von uns selbst affiziert werde. Jeder Actus der Aufmerksamkeit kann uns ein Beispiel davon geben. Der Verstand bestimmt darin jederzeit den inneren Sinn der Verbindung, die er denkt, gemäß, zur inneren Anschauung, die dem Mannigfaltigen in der Synthesis des Verstandes korrespondiert. Wie sehr das Gemüt gemeiniglich hiedurch affiziert werde, wird ein jeder in sich wahrnehmen können.“ (KrV, 157 f. Anm.) 205 Siehe 2.1 der hier vorliegenden Studie.

2.6 Synthese aller einseitigen Perspektiven

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Körperliches oder Geistiges zur Ursache haben – mit einer Veränderung der physischen Organisation einhergeht, was aber nicht bedeutet, dass die Empfindung auf Entitäten reduzierbar ist, die durch den äußeren Sinn erfasst werden können.²⁰⁶

2.6 Synthese aller einseitigen Perspektiven In dem sechsten und letzten Paragraphen der Vergnügensschrift namens ‚Vereinigung der vier einseitigen Systeme‘ resümiert Reinhold die Ergebnisse der zurückliegenden Abschnitte, hebt dabei aber auch Aspekte seiner eigenen Position hervor, die bisher noch nicht völlig deutlich wurden.²⁰⁷ Es lohnt sich deshalb auch hier seinen Gedankengängen zu folgen. Wir rufen uns Reinholds Ausführungen aus dem zweiten Paragraphen zurück ins Gedächtnis, nach denen zum einen das Vergnügen im Allgemeinen diejenige Empfindung ist, welche ‚die Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen begleitet‘, und gemäß welchen zum anderen gilt, dass diese Befriedigung durch ein Zusammenspiel zwischen den sinnlichen und intellektuellen Komponenten des Vorstellungsvermögens bzw. zwischen einer ‚starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft‘ bewirkt wird.²⁰⁸ Nun hebt unser Elementarphilosoph den überaus wichtigen Sachverhalt hervor, dass das „Vergnügen keineswegs eine Modifikation des Erkennens“ ist, „sondern dem Begehrungsvermögen des Gemüthes“ angehört, da der „sinnliche Trieb ohne Rücksicht aufs Wahre oder Falsche nach Vergnügen strebt.“ (Vergnügensschrift 1789, 47) Wie aber ist dies mit Reinholds Ansicht vereinbar, dass es sich bei der allgemeinsten Eigenschaft vergnüglicher Gegenstände um die Vollkommenheit handelt? Verschreibt er sich damit nicht dem Wolff’schen Kognitivismus, nach dem das Vergnügen eine anschauliche Erkenntnis der Perfektion ist? Dass das nicht der Fall ist, zeigt sich daran, dass der Konnex zwischen Vergnügen und Vollkommenheit nach Reinhold nur auf einer Nominaldefinition beruht; gleichsam folgt aus dieser bloß, dass man ‚den vergnüglichen Gegenstand als etwas Vollkommenes ansehen muss‘, aber mitnichten, dass vermittelst der Lust diffus eine gewisse objektive Wahrheit ausgedrückt wird.²⁰⁹ Dies wird vollends durch eine Kontrastierung zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen deutlich. Die mentale Operation des Erkennens bezieht sich auf eigentliche Gegenstände, die keine Vorstellungen sind; mit dem für das Vergnügen wesentlichen

206 207 208 209

Vgl. Vergnügensschrift 1789, 46. Vgl. Vergnügensschrift 1789, 47. Siehe 2.2.1 und 2.2.2 der hier vorliegenden Studie. Siehe 2.3.1 der hier vorliegenden Studie.

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2 Die Vergnügensschrift

Begehren richtet man sich hingegen auf Vorstellungen, deren gegenständliche Ursache dabei nur eine untergeordnete Rolle spielt: Das Erkenntnißvermögen […] beschäftiget sich mit Gegenständen und ihren Beschaffenheiten, sie mögen ihrem Stoffe nach dem äußern oder dem innern Sinne gegeben seyn. Das Begehrungsvermögen hingegen, der Trieb nach Vorstellungen, geht unmittelbar auf Vorstellungen, und zwar nicht in Rücksicht auf die von denselben verschiedenen Objekte, sondern lediglich in wie ferne sie den Zustand des Gemüthes mit ausmachen. (Vergnügensschrift 1789, 47)

Wie bereits im Abschnitt ‚Über Je ne sais quoi …‘ dargestellt wurde, sind Vergnügen und Missvergnügen nach Reinhold nichtsdestotrotz referentiell oder – man könnte auch sagen – intentionale mentale Zustände. Ohne einen Erkenntnisanspruch zu erheben sind die angenehmen und unangenehmen Empfindungen qua unbewusster voluntativer (begehrender) Akte wesentlich auf unseren eigenen – zum Teil aus Vorstellungen zusammengesetzten – allgemeinen Zustand gerichtet, der in der durch die starke und leichte Beschäftigung hervorgerufenen Befriedigung oder ausbleibenden Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen besteht.²¹⁰ In sachlicher Übereinstimmung mit Pouilly legt er dar: Die eigentlichen Objekte des Begehrungsvermögens und des Vergnügens sind […] nicht die Gegenstände, welche das Erkenntnißvermögen beschäftigen, sondern die durch sie bewirkten Veränderungen in unsrem Zustande, nicht Dinge außer uns, sondern unser eigener Zustand. Welches schon daraus erhellen würde, daß die Befriedigung des Triebes [nach Vorstellungen], worin die Natur des Vergnügens besteht, nicht außer dem Triebe selbst vorgehen kann. (Vergnügensschrift 1789, 47 f.)

Anders als Pouilly wendet Reinhold den Begriff der Vollkommenheit und mit diesem auch denjenigen der Schönheit – da dieselbe eine Art der Gattung Perfektion ist²¹¹ – in erster Linie aber nicht auf den Zustand des Subjektes an, dennoch ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass er jene beiden Begriffe ebenfalls für diesen Zu-

210 Da Reinhold zwischen Begehren und Wollen differenziert, ist die Bezeichnung ‚voluntativ‘ in einem uneigentlichen – das Begehren betreffenden – Sinne zu verstehen: „Das Vermögen des vorstellenden Subjektes durch die Selbstthätigkeit des Triebes bestimmt zu werden, oder sich selbst zu einer Handlung des Triebes zu bestimmen, heißt der Willen; und die wirkliche, und mit Bewusstseyn, vorgenommene Selbstbestimmung zu einer Handlung des Triebes, heißt das Wollen. Das Wollen unterscheidet sich also von dem Begehren in engerer Bedeutung, oder von dem Bestimmtwerden durch den sinnlichen Trieb dadurch, dass dasselbe ein Bestimmtwerden durch Vernunft, eine Handlung der Selbstthätigkeit ist.“ (Versuch, 567) 211 Die „Ordnung in der Verbindung des Mannigfaltigen […] [wird] dem philosophischen Sprachgebrauche zufolge durch das Wort Vollkommenheit bezeichnet“. (Vergnügensschrift 1788, 154) „Jede Schönheit ist Einheit des Mannigfaltigen [und also Vollkommenheit] – aber nicht jede Einheit des Mannigfaltigen […] ist Schönheit.“ (Vergnügensschrift 1788, 154 Anm.)

2.6 Synthese aller einseitigen Perspektiven

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stand reservieren möchte, da ja z. B. ‚die Einheit des Mannigfaltigen des grobsinnlichen Vergnügens sinnliche Perfektion des körperlichen Zustandes‘ sei, auch wenn in diesem Fall natürlich nicht von Schönheit die Rede sein kann.²¹² Der im dritten Paragraphen behandelte objektive Gesichtspunkt kommt hier in einem gewissen Sinne zu seinem Anrecht. Denn der Gegenstand, der kein Zustand des Subjektes ist und dem folglich die eigentliche Vollkommenheit oder Unvollkommenheit zukommt, erfüllt in der Reinhold’schen Vergnügenskonzeption zusammen mit dem Erkenntnisvermögen durchaus eine Funktion. Das erkannte Objekt ist neben der starken und leichten Beschäftigung der vorstellenden Kraft eine Ursache der positiven und negativen Empfindungen: Da jede Vorstellung einen Gegenstand der vorgestellt wird, voraussetzt, so geht zwar der Trieb unmittelbar auf die Vorstellung, mittelbar aber auf Gegenstände. Diese Gegenstände zu liefern ist das Amt des Erkenntnißvermögens, und in so ferne ist auch das Erkenntnißvermögen beym Vergnügen geschäftig. (Vergnügensschrift 1789, 48)

Indes nehmen die erkennbaren aber noch unerkannten Gegenstände des Erkenntnisvermögens gegenüber der starken und leichten Beschäftigung hinsichtlich ihrer Faktizität eine untergeordnete Rolle ein, da es doch beim Vergnügen nicht so sehr darauf ankommt, ob ein Gegenstand als solcher tatsächlich perfekt oder schön ist, sondern darauf, ob er als ein solcher vorgestellt wird, wohingegen die starke und leichte Beschäftigung de facto vorliegen muss, wenn uns etwas angenehme Empfindungen bereiten soll. Die eigentliche Beschaffenheit des Kunstobjektes ist für die ästhetische Empfindung gar nicht so wichtig, sondern wie sich diese in der Erkenntnis niederschlägt und in der Folge das Gemüt bewegt, ist von ausschlaggebender Bedeutung. Nicht ohne Grund spezifiziert Reinhold, dass „das Vergnügen […] in der durch starke und leichte Beschäftigung bewirkten Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen besteht“ (Vergnügensschrift 1789, 47), wobei dieses Bestehen wohl mehr ausdrückt als das eingangs erwähnte Begleiten.²¹³ In puncto Genese des Vergnügens hängt das Begehrungsvermögen und die darauf beruhenden Gemütsbewegungen wesentlich von dem Erkenntnisvermögen und seinen zwei Teilvermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes ab. Dem Trieb nach Vorstellungen werde ein Mannigfaltiges vermittelst der Sinnlichkeit gegeben, die dieses durch eine Affektion des Gegenstandes empfängt, wobei die Stärke der Beschäftigung der Kraft jenes Triebes von diesem Mannigfaltigen abhängt; die Einheit jenes Mannigfaltigen, die ihm aktiv durch die formgebende Funktion des

212 Siehe 2.4.2 der hier vorliegenden Studie. 213 „Vergnügen ist derjenige Zustand des Gemüthes, der die Befriedigung eines Bedürfnisses begleitet.“ (Vergnügensschrift 1788, 62)

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2 Die Vergnügensschrift

Verstandes auferlegt wird und woraus der für das Vergnügens so wichtige Totaleindruck bzw. das harmonische Zusammenwirken der einzelnen Teile zu einem Ganzen entstehen kann, sei hingegen für die Leichtigkeit der Beschäftigung verantwortlich.²¹⁴ Hier liegt kein Widerspruch zu den im zweiten Paragraphen der Vergnügensschrift formulierten Thesen vor, dass das Wesen des Empfindens – welches auf der Rezeptivität beruht – in der leichten Beschäftigung und dasjenige des Denkens – das sich auf der Spontaneität gründet – in der starken Beschäftigung der vorstellenden Kraft besteht.²¹⁵ Denn obwohl gilt, dass das Sinnliche als solches die Vorstellungskraft leicht beschäftigt und das Verstandesmäßige als solches die Vorstellungskraft stark beschäftigt, kann es dennoch der Fall sein, dass das auf den Verstand gebrachte Sinnliche eine leichte Beschäftigung evoziert, auf Basis derer das vom Verstand unabhängig Sinnliche als etwas erscheint, das unser Gemüt stark beschäftigt. Nach Reinhold ist das Empfinden eine leichte Beschäftigung, aber der Eindruck bzw. der mannigfaltige Stoff, der aus dem Empfinden entsteht, beschäftigt die vorstellende Kraft stark; das Denken ist hingegen eine starke Beschäftigung, doch resultiert aus diesem eine leichte Beschäftigung der Vorstellungskraft, wenn der Verstand das ihm gegebene Mannigfaltige ordnet und auf Einheit bringt. Die Konvergenzen und Divergenzen zwischen der eigentümlichen Funktion des Erkenntnisvermögens und derjenigen des Begehrungsvermögens sind auch noch in einer anderen Hinsicht relevant. Mit Rückbezug auf seine Kritik an Wolff und Mendelssohn weist Reinhold erneut darauf hin, dass die – negativ konnotierte – Verworrenheit nicht mit der Undeutlichkeit gleichgesetzt werden dürfe, weil letztere ein unaufhebbares Wesensmerkmal sinnlicher Vorstellungen und Empfindungen sei.²¹⁶ Zusammen mit der Lehre, dass das Vergnügen bzw. die angenehme Empfindung auf Vorstellungen abzielt, ergibt sich daraus, dass „der nächste und unmittelbare Gegenstand des Vergnügens […] immer nothwendig eine undeutliche Vorstellung“ (Vergnügensschrift 1789, 49) ist. Wenn es aber um die Vollkommenheit des Gegenstandes geht, die nicht das Subjekt betrifft und deren Aufnahme ins

214 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 49 f. 215 „Die Thätigkeit der Vorstellungskraft beym Empfinden besteht im Auffassen (in der Apprehension) des der Empfänglichkeit gegebenen Stoffes; und in so ferne ist der Charakter des Empfindens leichte Beschäftigung der Vorstellungskraft. […] Die Thätigkeit der Vorstellungskraft beym Denken besteht nicht nur in Auffassen, sondern auch im Herbeyschaffen und Ordnen des Stoffes der Vorstellungen, und in so ferne ist der Charakter des Denkens starke Beschäftigung der Vorstellungskraft.“ (Vergnügensschrift 1788, 66) 216 „Wenn die richtige Definition der Sinnlichkeit vorausgesetzt wird, so ergiebt sichs, daß die Sinnlichkeit keine Einschränkung des Gemüthes durch den Körper, sondern das Vermögen des Gemüthes afficiert zu werden ist, und daß die Undeutlichkeit des Totaleindruckes beym Vergnügen keine Unvollkommenheit sondern eine natürliche Eigenschaft der afficierten Sinnlichkeit ist.“ (Vergnügensschrift 1789, 49)

2.6 Synthese aller einseitigen Perspektiven

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Vorstellungsvermögen somit nichts mit dem Begehrungsvermögen, sondern mit dem Erkenntnisvermögen zu tun hat, so kann der Gegenstand und seine für das Vergnügen indirekt relevante Eigenschaft der Perfektion auch deutlich eingesehen werden. Mit anderen Worten muss „der mittelbare und entferntere Gegenstand [des Vergnügens], das Object, welches das Vergnügen verursacht, nicht wie Wolf glaubt, immer undeutlich vorgestellt werden.“ (Vergnügensschrift 1789, 49) Die Möglichkeit der Entstehung des Vergnügens aus der Deutlichkeit scheint also gegen die – uns bereits bekannte – Ansicht Wolffs zu sprechen, nach der‚die Lust aus einer undeutlichen Vorstellung der Vollkommenheit hervorgeht‘.²¹⁷ Dass diese Kritik der Wolff’schen Lehre nicht völlig gerecht wird, muss uns hier nicht näher beschäftigen.²¹⁸ Die Ergebnisse der Paragraphen vier und fünf, welche die Standpunkte der Spontaneität und Rezeptivität behandeln, werden von Reinhold vergleichsweise knapp zusammengefasst. Wie man sich bereits denken kann, wird Sulzer einerseits dafür gerügt, dass er„die ganze Natur des Vergnügens aus jener einzigen Bedingung [der Tätigkeit] einseitig abzuleiten“ suchte, andererseits wird er dafür gelobt, dass er „auf den wesentlichen [externe Bedingungen betreffenden] Anteil, den die Spontaneität an jedem, selbst dem grobsinnlichen, Vergnügen haben muß, aufmerksam gemacht“ (Vergnügensschrift 1789, 50) hat. Vertauscht man die Erwähnungen der Spontaneität und Tätigkeit mit ‚Sinnlichkeit‘, dann weist die auf Helvétius bezogene kritische Würdigung in dieselbe Richtung. So kommt ihm „das Verdienst [zu], den von Sulzer übersehenen Beytrag der Sinnlichkeit zum Vergnügen nicht übersehen zu haben“, doch sei es völlig verfehlt, dass er„sogar den […] in die Augen fallenden Antheil, den die Thätigkeit des Gemüthes bey dem intellektuellen und moralischen Vergnügen“ (Vergnügensschrift 1789, 51) hat, leugnet. Wie sehr dies ‚der Vernunft widerspricht‘, will Reinhold anhand einer ‚durch Platner inspirierten Theorie über das eigennützige und uneigennützige Vergnügen‘ erweisen.²¹⁹ Wir wissen bereits, dass es dazu – wenigstens in einer veröffentlichten oder der Nachwelt überlieferten Version, welche Platners Überlegungen mitein217 Siehe 2.3.2 der hier vorliegenden Studie. 218 Nur so viel: Wolff sagt gar nicht, dass der Gegenstand, welcher das Vergnügen verursacht, in jeder Hinsicht undeutlich vorgestellt wird. Deshalb haben wir in unserer Darstellung immer wieder hervorgehoben, dass die Repräsentation der Vollkommenheit nach Wolff nur im Erlebnismoment des Vergnügens bzw. im Augenblick des Genusses undeutlich ist. Insofern die Lust nicht nur anhand ihrer essentiellen Eigenschaft, durch eine undeutliche Vorstellung der Perfektion verursacht zu werden, sondern auch als eine mittelbare Folge der Verstandeseinsicht erwogen wird, kann er ohne sich zu widersprechen behaupten, dass das Vergnügen größer ist, wenn man die Vollkommenheit klarer und also gemäß der lex continui deutlicher einsieht: „Major esse debeat voluptas, ubi perfectionem clarius intuemur, quam ubi eam minus clare intuemur“. (PE, 396 [§ 517]) 219 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 51.

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2 Die Vergnügensschrift

bezieht – niemals kommen wird, weil die Ausführungen unseres Elementarphilosophen zur Natur des Vergnügens bald darauf enden. Zu guter Letzt fasst Reinhold das Resultat der vorhergegangenen Betrachtungen und Synthese der vier einseitigen Systeme kompakt aber durchaus auf den Punkt gebracht zusammen: Durch das Erkenntniß-Vermögen wird der Gegenstand, das Objekt des Vergnügens dem Subjekt geliefert, und zwar durch Empfänglichkeit das Mannigfaltige, und durch die Thätigkeit, die Einheit des Mannigfaltigen; und so entsteht im Gemüthe, dem vorstellenden Subjekte, durch das Mannigfaltige – starke, und durch die Einheit leichte Beschäftigung, durch beyde zusammengenommen Befriedigung des Triebes – Vergnügen. (Vergnügensschrift 1789, 51 f.)

Es hat sich gezeigt, dass sich das Vergnügen vor dem Hintergrund transzendentalphilosophischer Überlegungen als ein reichhaltiges Reflexionsobjekt konzipieren lässt. Vergnügen stellt sich nur dann ein, wenn das gesamte menschliche Vorstellungsvermögen nicht nur in der Form des Begehrungsvermögens und seines Vorstellungstriebes, sondern auch in der Form des Erkenntnisvermögens sowie in rezeptiver und produktiver Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst beteiligt ist.²²⁰

220 Wie umfangreich das Vorstellungsvermögen hinsichtlich seiner allgemeineren Strukturen beim Vergnügen beansprucht wird, zeigt sich unter anderem im Versuch einer neuen Eintheilung der Philosophie, die Reinhold 1790 im ersten Band der Beyträge bisheriger Missverständnisse der Philosophen vornimmt. Denn die Philosophie im Allgemeinen ist für ihn die „Wissenschaft des im bloßen Vorstellungsvermögen bestimmten“, die er in die „reine [nicht-empirische] Philosophie“ und die „empirische Philosophie“ unterteilt, wobei er unter die erstere sowohl „die Theorie des Vorstellungsvermögens“ bzw. „Elementar-Philosophie“ als auch die „abgeleitete reine Philosophie“ zählt, die ihrerseits die „Theoretische Philosophie“ bzw. „die Wissenschaft desjenigen, was im Vorstellungsvermögen in Rücksicht der Beziehung der Vorstellungen auf vorgestellte Gegenstände (im Erkenntnisvermögen) bestimmt ist“, und die „Praktische Philosophie“ bzw. „die Wissenschaft desjenigen, was im Vorstellungsvermögen in Rücksicht der Beziehung der Vorstellungen auf das vorstellende Subjekt (im Begehrungsvermögen) bestimmt ist“ (Beyträge I, 85 ff.), unter sich begreift. Die abgeleitete reine Philosophie, welche sich in ihren Reflexionen auf der Ebene der Theorie des Vorstellungsvermögens bewegt, ist in ihren unmittelbar untergeordneten Arten, die das Erkenntnisund Begehrungsvermögen untersuchen, erschöpft. Dass man dem Phänomen des Vergnügens nur gerecht werden kann, wenn man sowohl das Erkenntnis- als auch das Begehrungsvermögen berücksichtigt, spricht also für den umfangreichen – die Doppelstruktur des Vorstellungsvermögens einnehmenden – Charakter desselben.

3 Platners psychophysiologische Empfindungsund Triebtheorie In dem vorherigen Hauptkapitel, in welchem wir die sogenannten ‚vier einseitigen Systeme‘ und Reinholds kritische Stellungnahme gegenüber denselben dargestellt sowie bereits auf die wesentlichen Aspekte seiner eigenen Vergnügenskonzeption gedeutet haben, wurde deutlich, dass Platner nur zu Beginn und am Ende der Vergnügensschrift Erwähnung findet. Im Gegensatz zu den bisher behandelten Philosophen entwerfe erst Platner eine holistische und also angemessenere Konzeption des Vergnügens, indem er nicht nur die subjektiven und objektiven Gesichtspunkte, sondern auch die Standpunkte der Spontaneität und Rezeptivität miteinander vereinigt.²²¹ In diesem Rahmen hebt Reinhold insbesondere die an Platners Ausführungen angelehnte Unterscheidung zwischen dem ‚eigennützigen und uneigennützigen Vergnügen‘ hervor.²²² Hiermit wird impliziert, dass er alle Hauptmängel derjenigen in sich konsistenten Theorien zur Natur des Vergnügens beseitigt, die vor dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wurden. Dementsprechend stellt Platners Lehre laut Reinhold auch eine Vollendung innerhalb eines noch völlig abseits des transzendentalphilosophischen Standpunktes stattgefundenen Diskurses über die Bedeutung der Empfindungen beim Begehren dar. Da Reinhold sich selbst aber keineswegs als ein aktiver Teilnehmer dieses Diskurses, sondern als ein ‚Selbstdenker‘ wahrgenommen hat, der von der Warte eines sechsten, kantischen Standpunktes aus die anderen fünf überblickt, und er auch allen Grund dazu hatte – was sich vor allem in seiner Kritik an Mendelssohn, Sulzer und Helvétius zeigte –, ist es durchaus nicht offensichtlich, inwiefern er mit seinen eigenen Überlegungen überhaupt an Platner anknüpft.²²³ Um das in der Einleitung aufgeworfene Problem lösen zu können, welche Bedeutung Platners Theorie der Empfindungen und Triebe für Reinholds Philosophie überhaupt zukommt, wird es also allererst nötig sein, die Lehre des Leipziger Philosophen möglichst akkurat darzustellen. Wie bereits bekannt ist, wird uns die Vergnügensschrift dabei kaum zu Hilfe kommen können, da sie nie vollendet wurde; selbst in der sieben Jahre später veröffentlichten und bereits erwähnten Neuauflage Ueber

221 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 61 f. 222 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 51. 223 Das Selbstdenken ist in Beyträge I von 1790 und der Fundamentschrift von 1791 ein immer wiederkehrender Topos. (Vgl. Beyträge I, 4; 18; 60 f.; 95; 106 f.; 109; 113 f.; 122 f.; 139 f.; 347; 364. Vgl. Fundamentschrift, 4; 9; 23 f.; 28; 34) https://doi.org/10.1515/9783111347875-005

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3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie

die bisherigen Begriffe vom Vergnügen finden keine weiteren Explikationen zu Platner statt. Reinhold hat aber sehr wohl darauf hingewiesen, dass er sich in seiner geplanten Darstellung auf die erste Auflage des zweiten Bandes der Philosophischen Aphorismen und darin auch nur auf den zweiten Abschnitt des ersten Hauptstückes beziehen wollte.²²⁴ Höchstwahrscheinlich hätte er Platner in diesem Rahmen auch kritisiert und sich dabei auf seine eigene Theorie gestützt. Vor dem Hintergrund des spätestens 1789 einsetzenden Zerwürfnisses zwischen Platner und Reinhold wird im nächsten Unterkapitel das persönliche Verhältnis der beiden Philosophen beleuchtet, inwieweit es für einen Vergleich zwischen den Theorien der beiden relevant ist. Platner wurde zu seiner Zeit – und vor allem vor dem Einfluss der kritischen Philosophie – im deutschen Sprachraum als einer der bedeutendsten Denker wahrgenommen. Heutzutage ist sein Name aber selbst vielen philosophiehistorisch Interessierten kaum noch ein Begriff. Um dem entgegenzuwirken, fasst das übernächste Unterkapitel zunächst seinen philosophischen Ansatz unter Berücksichtigung seiner Denkentwicklung zusammen. Darauffolgend wird seine sich in den Aphorismen befindende allgemeine Theorie der Empfindungen und Triebe dargestellt. Weil sowohl Platner als auch Reinhold in manchen ihrer Schriften einer philosophiegeschichtlichen Methode folgen, um ihre eigenen Ansichten im philosophischen Diskurs besser zur Geltung bringen zu können, gilt es zum Abschluss etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den methodischen Vorgehensweisen der beiden Theoretiker zu ergründen.

3.1 Platners und Reinholds philosophisches und persönliches Verhältnis Neben Reinhold äußert sich auch sein Schüler Dreves – der uns bereits als Übersetzer von Pouillys Théorie des sentimens bekannt ist – in seinem Werk Resultate der philosophirenden Vernunft über die Natur des Vergnügens, der Schönheit und des Erhabenen durchwegs positiv über Platner. Sich ausdrücklich auf die Jenaer Vorlesungen seines Lehrers und auf die „mündlichen Unterredungen mit diesem großen Selbstdenker“ (Resultate, XII) berufend, hält er fest, dass wo andere „einen Theil“ der„wesentlichen Natur [des Vergnügens] für das ganze Wesen ausgaben“, da „bewirkte Platner […] mit vielem Scharfsinn eine völlige Vereinigung ihrer sich

224 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 62 Anm. Beim zweiten Abschnitt des ersten Hauptstückes handelt es sich um: Aphorismen II, 10 – 35 [§§ 21 – 97].

3.1 Platners und Reinholds philosophisches und persönliches Verhältnis

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nicht widersprechenden Gesichtspunkte, und gab gewiss die lehrreichsten und befriedigendsten Aufschlüsse“. (Resultate, 10)²²⁵ Diese enorm positive Würdigung steht in einem auffällig starken Kontrast zu dem Umstand, dass Reinhold niemals etwas zur – alle Einseitigkeiten vermeidenden – ‚fünften Lehrmeinung‘ veröffentlicht hat. Ein weiterer Hiatus wird dadurch erzeugt, dass er in all seinen anderen Schriften eine sehr kritische Haltung gegenüber Platner einnimmt.²²⁶ Aber auch in zwischenmenschlicher Hinsicht war unser Elementarphilosoph Platner gegenüber nicht gerade wohlgesinnt. Dass es überhaupt ein persönliches Verhältnis zwischen den beiden gab, hebt Platner von all den anderen in der Vergnügensschrift diskutierten Autoren deutlich ab. Immerhin war er für eine kurze Zeitspanne Reinholds Lehrer. In persona kennengelernt hatten Reinhold und Platner sich das erste Mal wohl im Herbst 1783 oder spätestens zu Beginn des Jahres 1784 in Leipzig. Ursache dafür war Reinholds Flucht aus den Habsburgischen Erblanden, welche durch das Spannungsverhältnis zwischen seiner Mitgliedschaft in der illuminatisch geprägten Wiener Freimaurerloge ‚Zur wahren Eintracht‘ und seiner zugleich ausgeführten erzieherischen Tätigkeit als Priester bei den Barnabiten, sowie aufgrund bislang nicht bis ins letzte Detail geklärter Umstände, ausgelöst wurde.²²⁷ Nachdem er in Leipzig angekommen war und noch bevor ihn wiederum seine Loge Anfang Mai 1784 nach Weimar zu Wieland weitervermittelte, besuchte er unter anderem ein Semester lang Platners Vorlesungen, welche dieser nach den ersten Auflagen der beiden Bände seiner Aphorismen gestaltete.²²⁸ Es scheint, dass sich zwischen den

225 Siehe auch Resultate, 31 ff. 226 Eine Ausnahme hierzu ist das 1796 in Auswahl vermischter Schriften erschienene Kapitel Ueber die bisherigen Begriffe vom Vergnügen (Vergnügensschrift überarbeitet, 274; 349 f.), das aber bloß eine Neuauflage der Vergnügensschrift von 1788/1789 darstellt, in welcher nur eine Handvoll bedeutender Veränderungen gegenüber dem Originaltitel vorgenommen werden, sodass Platner auch noch in dieser Aufsatzsammlung von 1796 in einem günstigen Licht erscheint. Diesem Umstand darf aber kein allzu großes Gewicht beigelegt werden, da nach den eigenen Angaben Reinholds eine Neuveröffentlichung bloß möglichen Plagiaten bzw. der „drohenden Dienstfertigkeit eines Nachdruckers zuvorkommen“ (Auswahl I, Vorrede) soll. 227 Gemäß den biographischen Ausführungen von Reinholds Sohn Ernst wurden seinem Vater die Pflichten des christlichen Amtes einfach unerträglich und mit seinen neu angenommenen aufklärerischen Idealen unvereinbar. Da es für die Aufhebung von Reinholds Priestergelübde keine erfolgsversprechenden Aussichten gegeben habe, sei ihm nur die Flucht geblieben. (Vgl. Reinholds Leben, 19 f.) Nach der Korrespondenzausgabe zu Reinhold waren die hauptsächlichen Gründe für seine Flucht aus Wien eine durch „philosophische Studien und Maurereinfluß ausgelöste Glaubenskrise, das Verhältnis zu einem Mädchen“, was ihm als katholischen Priester ja untersagt war, und „die Furcht, daß seine Mitgliedschaft im Illuminatenorden entdeckt werden könnte“. (KA 1, X) 228 Vgl. Reinholds Leben, 21. Vgl. KA 1, 15 Anm. 2.

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3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie

beiden in dieser recht kurzen Zeitspanne ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt hatte, oder dass sie sich zumindest ihrer wechselseitigen Freundschaft versicherten. Diese Vermutung wird durch die Briefe, welche Platner an Reinhold in den darauffolgenden Jahren versandte, bekräftigt. So legte er Reinhold im August 1790 unter der Betitelung ‚liebster Freund‘ nahe, sich doch einmal acht Tage lang über die kantische Philosophie zu unterreden²²⁹; im Oktober 1793 fragte er ihn gar, ob sie noch Freunde seien, und schlug einen gemeinsamen Briefwechsel zum Zweck einer Veröffentlichung vor.²³⁰ Es ist unbekannt, ob es jemals Antwortschreiben auf diese Briefe gab; wahrscheinlich ist, dass sie von Reinhold erst gar nicht verfasst wurden. Denn Reinholds Haltung gegenüber Platner hatte sich im Zeitraum zwischen seinem Studienaufenthalt in Leipzig und den späten Achtzigerjahren verschlechtert. Auskunft über diese Veränderung gibt ein Brief an Kant vom Juni 1789, in welchem Reinold über seinen Leipziger Osterferienaufenthalt, der zwischen dem 12. und 19. April desselben Jahres stattfand, berichtet. Erneut in Leipzig angekommen habe er Platner „in einer sehr furchtsamen und verdrüßlichen Laune“ angetroffen und darüber klagen gehört, dass „die Kantianer einen gar zu argen Skepticism einführen wollen“, woraufhin er ihn „mit etwas herabgestimter Meynung von seiner theorethischen und praktischen Philosophie“ (KA 2, 136) verließ. Diese in philosophischer Hinsicht verschlechterte Meinung spiegelt sich auch in Reinholds Schriften ab Mitte und nach 1789 wider. So führe Platner fehlerhafte Beweise, operiere mit unrichtigen Begriffen, lege zu wenig Wert auf die exakte Bestimmung derselben und überhaupt fehle es seiner Philosophie an einer systematischen Form.²³¹ Das vernichtendste unter all diesen Urteilen kommt allerdings dadurch zum Ausdruck, dass Platner zu all denjenigen Philosophen gehöre, welche die kantische Philosophie schlechthin nicht verstanden haben.²³² Auch in persönlicher Hinsicht – und insofern Reinhold wirklich jemals gut über Platner dachte – kommt es zu einer Verschlechterung, welche sich in einer regelrechten Verabscheuung äußert und in Reinholds Briefwechsel mit seinen engsten Vertrauten Jens Immanuel Baggesen (1764 – 1826) und Johann Benjamin Erhard (1766 – 1827) zu finden ist. So schreibt er z. B. im Juni 1791

229 Vgl. KA 2, 301. 230 Vgl. KA 5, 296 f. 231 Vgl. Versuch, 188; 270 f.; 322 f. Vgl. Beiträge I, 43 f.; 193. Vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Über den Begrif der Geschichte der Philosophie. Eine akademische Vorlesung. In: Georg Gustav Fülleborn (Hrsg.): Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Erstes Stück. Züllichau/Freystadt 1791, 5 – 35. Hier: 6 f. 232 Vgl. Versuch, 155 f.

3.1 Platners und Reinholds philosophisches und persönliches Verhältnis

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an Baggesen, dass Platner seine charakterlichen Schwächen „nicht verbessert, sondern bis zum […] lächerlichen vergrössert zu haben scheint“ (KA 3, 134), oder berichtet im März 1796, dass ihn Platner erst kürzlich besucht habe und auf ein weiteres Treffen bestand, es ihm von seiner ‚philosophischen Denkart‘ aber derart ‚ekelte‘, dass er der kommenden Unterredungen ‚mit Resignation‘ entgegensieht.²³³ In einem Brief an Erhard aus dem August 1791 ist sogar von der ‚ekelhaften Gegenwart des Philosophen Platners‘ und seinem ‚dumm-vornehmen Betragen‘ die Rede.²³⁴ In seinem Beitrag Platner und Reinhold über das Vergnügen kommt Lazzari zu dem Schluss, dass es bedeutsame Ähnlichkeiten zwischen Reinholds und Platners Theorien des Vergnügens und der Triebe gibt, welche Reinholds negative Haltung gegenüber Platner als einen Versuch erscheinen lassen, die vielen von ihm erhaltenen Impulse zu verschleiern. Wie sich zeigen wird, kommt Lazzari allerdings auf fragwürdige Weise zu seinem Ergebnis, indem er hauptsächlich Entsprechungen anführt, welche entweder nur die von Reinhold und Platner vorgenommene kritische Erörterung anderer Positionen betreffen oder auf vermeintliche sachliche Gemeinsamkeiten hinweist, die er nicht immer explizit auf die jeweiligen Theorien zurückführt.²³⁵ Auf Basis des in der Folge ausgearbeiteten Versuchs, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Reinholds und Platners Vergnügenskonzeptionen und den diesen zugrundeliegenden Triebtheorien angemessen zu würdigen, ergibt sich unserer Ansicht nach ein etwas ausdifferenzierteres Bild, nach welchem Reinhold zwar eine große Inspirationsquelle in den Schriften Platners findet, diese jedoch hauptsächlich seinen eigenen elementarphilosophischen Ansprüchen und dem kritischen Programm Kants unterwirft. Im Grunde genommen lässt sich dieses Bild aber auch schon aus dem Urteil gewinnen, das unser Elementarphilosoph in einer von ihm stammenden Rezension des ersten Bandes der philosophischen Aphorismen von 1793 zum Besten gibt. Denn dort können wir lesen, dass man in den Aphorismen vergebens nach einer eigentlichen Philosophie oder Wissenschaft sucht, dass sich aus ihnen aber viele wertvolle Ideen gewinnen lassen: Dem Geiste der Zeit, den sie vorzüglich mit bestimmen halfen, stellen sie [sc. die philosophischen Aphorismen Platners] zwar ein sehr ungleichartiges Allerley aus Bruchstücken der verschiedenen Lehrgebäude, mit den eigentlichen philosophischen Einfällen des Vf. vermengt,

233 Vgl. Baggesen, August/Baggesen, Karl (Hrsg.): Aus Jens Baggesen’s Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. In zwei Theilen. Bd. 2. Januar 1795 bis November 1801. Nebst vierzehn Beilagen. Leipzig 1831. Hier: 88 f. 234 Vgl. KA 3, 214. 235 Vgl. Lazzari 2007, 311 ff.; 319 ff.

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in rhapsodischer Einkleidung auf; enthalten aber nichts destoweniger eine sehr schätzbare Sammlung theils treffender Bemerkungen über bisherige metaphysische Vorstellungsarten, theils scharfsinniger empirisch psychologischer Beobachtungen, theils lehrreicher Winke über ältere Geschichte der Philosophie. Man wird in Kurzem aufhören, sie für ein gründliches Lehrbuch der Wissenschaften, aber nie für einen reichhaltigen Beytrag brauchbarer Materialien für den Bearbeiter derselben zu halten; man wird in ihnen zwar keine eigentliche Philosophie, aber gesunde Nahrung des philosophischen Geistes suchen und finden. (Rezension Aphorismen I, 473)²³⁶

Anders als Lazzari sind wir auch nicht der Meinung, dass das ambivalente Verhältnis zwischen Reinhold und Platner etwas mit der durchaus vorhandenen Nähe ihrer Gedankenwelten zu tun hat. Wenn überhaupt hat diese Nähe die sich vorerst anbahnende Freundschaft begünstigt. Denn die Phase der größten Annäherung zwischen den beiden Philosophen fällt in eine Zeit, in welcher Reinholds Geist noch gar keinen bestimmten Begriff vom Kritizismus hatte und dem aposteriorisch-assoziativen – vermittelst Analogien verfahrenden – Denkstil Platners zugeneigt war; eine Zeit, in der Reinhold an Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ²³⁷ den „Beobachtungsgeist[,] der Alles in Einem und Eines in Allem sieht“, und die „ganze Ideenwelt, in der kein isolierter Begriff statt findet“ (TM 1784, LXXXVI)²³⁸, rühmte und dessen Werk sogar noch gegen die in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1785 erschienenen und aus der Feder Kants stammenden Rezension²³⁹ – in welcher er Herder nahelegt, sich in Zukunft nicht mehr von der „durch Metaphysik oder durch Gefühle beflügelten Einbildungskraft, sondern durch eine […] behutsame Vernunft […] leiten“ (Rezension Ideen zur Philosophie, 22) zu lassen – verteidigte.²⁴⁰

236 Reinhold, Karl Leonhard: Leipzig b. Schwickert: Ernst Plattners philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte (zur Geschichte der Philosophie). Ganz neue Ausarbeitung. Erster Band. 1793. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1794, Bd. 4, Nr. 379, 473 – 480; Nr. 380, 481 – 487. Im Folgenden zitiert als „Rezension Aphorismen I“. 237 Herder, Johann Friedrich: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1/2/3/4. Riga/Leipzig 1784/1786/1787/1791. 238 Reinhold, Karl Leonhard: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, von J. G. Herder, Erster Theil, Riga und Leipzig bey J. F. Hartknoch. In: Der Teutsche Merkur, Anzeiger des Teutschen Merkur, Juni 1784, LXXXI–LXXXIX. 239 Kant, Immanuel: Riga und Leipzig, bey Hartknoch: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder. Quem te Deus esse jussit et humana qua parte locatus es in re disce. Erster Theil. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1785, Bd. 1, Nr. 4, 17– 20; Bd. 1, Beylage zu Nr. 4, 21 – 22. Im Folgenden zitiert als „Rezension Ideen zur Philosophie“. 240 Siehe Reinhold, Karl Leonhard: Schreiben des Pfarrers zu *** an den H. des T. M. Ueber eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1785, 143 – 174. Die historischen und systematischen Aspekte der Konstellation

3.1 Platners und Reinholds philosophisches und persönliches Verhältnis

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Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Reinholds darauffolgendes Studium der Kritik der reinen Vernunft und die damit einhergehende Annäherung an die kritische Philosophie als eine völlig natürliche Ursache für die später einsetzende Abkehr von dem in Leipzig lehrenden und philosophierenden Arzt. Bedenkt man, welche unermessliche Bedeutung der ‚zweite Immanuel‘ für Reinhold gewann – denn so bezeichnet er Kant in Anspielung auf Jesaja 7, 14 und Matthäus 1, 21 – 23 mit größter Hochachtung und Verehrung²⁴¹ –, so ist es nicht verwunderlich, dass bei unserem Elementarphilosophen spätestens ab April 1789 eine ‚herabgestimmte Meinung über Platners Philosophie‘ zu beobachten ist. Wir schreiben ‚spätestens‘, denn Reinhold hält – wenn auch noch etwas zurückhaltender – bereits im November 1786 gegenüber Christian Gottlob von Voigt (1743 – 1819) mit bedrückendem Erstaunen fest, dass „selbst Plattner […] die kantischen Grundideen mit einigen kurzen hingeworfenen Anmerkungen ab[fertigt], ohne auch nur eine einzige von den vielen Berichtigungen […] aus der Kritik d: V. […] in sein Werk aufzunehmen.“ (KA 1, 150 f.) Derlei Beschwerden sind höchstwahrscheinlich einfach auf Reinholds enttäuschte Erwartung zurückzuführen, sein ehemaliger Leipziger Lehrer würde sich mit ihm der Transzendentalphilosophie bemächtigen. Auffällig ist jedenfalls, dass der letzte Beitrag zur Vergnügensschrift im Januar 1789 veröffentlicht wurde, obwohl sich aus dem Aufbau derselben ergibt, dass die Vorzüge von Platners Lehre gegenüber den ‚vier einseitigen Systemen‘ noch hätten dargestellt werden sollen, und dass die mögliche Ausführung dieses letztendlich verabsäumten Vorsatzes gerade mit Reinholds – im April 1789 stattgefundenen und für ihn enttäuschend ausgefallenen – Besuch bei Platner koinzidiert. Dass Reinhold Platner geradezu hasste mag hingegen vielerlei Gründe haben. So weist z. B. Ernst Bergmann in seiner Monographie Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts darauf hin, dass die beiden Philosophen um die Gunst Friedrich Christians von Augustenburg (1765 – 1814) – Herzog von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg, Patron der Universität Kopenhagen und Gönner Friedrich Schillers – und einer mit dieser verbundenen Kopenhagener Pro-

Herder, Reinhold und Kant stellt Alfred Klemmt sowohl übersichtlich als auch präzise in seiner empfehlenswerten Monographie zur Elementarphilosophie dar. (Siehe Klemmt 1958, 6 ff.) 241 Vgl. KA 1, 274. „Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben.“ (Jes 7, 14) „Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, / einen Sohn wird sie gebären, / und man wird ihm den Namen Immanuel geben, / das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.“ (Mt 1, 21 – 23)

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3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie

fessur wetteiferten.²⁴² Auch ist zu vermuten, dass es Reinhold aufgrund seiner aufklärerischen Inbrunst schwer gefallen sein muss, philosophische von persönlichen Belangen zu trennen. Schließlich ist Reinholds Passion für die Aufklärung, worunter er – ganz allgemein genommen – „die Zusammenfassung aller Anstalten und Mittel“ versteht, „aus vernunftfähigen vernünftige Menschen [zu] machen“ (Gedanken über Aufklärung, 123)²⁴³, und deren geglückte Umsetzung er in den Briefen über die Kantische Philosophie eng an die erfolgreiche Verbreitung der kantischen Lehre knüpft²⁴⁴, allen seinen Schriften zu entnehmen und wurde auch von seinen Zeitgenossen bemerkt.²⁴⁵

3.2 Anthropologische Synthese aller einseitigen vorkantischen Empfindungskonzeptionen 3.2.1 Platners philosophische Ansätze vor dem Hintergrund seiner Denkentwicklung Ernst Platners Philosophie bewegt sich zwischen Medizin, Psychologie und Physiologie und ist durch den Versuch gekennzeichnet, zwischen diesen unterschiedlichen Disziplinen zu vermitteln, um sie in einer Wissenschaft vom ‚ganzen Menschen‘, einer Anthropologie, zu synthetisieren, deren wesentliches Anliegen es ist, die vielfältigen psychophysischen Verflechtungen zwischen Körper und Geist darzustellen bzw. das empirisch plausible Commercium mentis et corporis auf Basis der Annahme eines influxus physicus überzeugend zu beleuchten.²⁴⁶ Diesen Plan fasst er bereits in der empiristisch ausgerichteten und psychologisierenden Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772:

242 Vgl. Bergmann 1913, 281 ff. 243 Reinhold, Karl Leonhard: Gedanken über Aufklärung. In: Der Teutsche Merkur, Juli 1784, 3 – 22, 122 – 133, 232 – 245. 244 Vgl. Merkur-Briefe 1786, 123 ff.; vgl. Briefe I, 177 ff.; 182 f. 245 Überspitzten Berichten, wie etwa demjenigen von Johann Christoph Berens (1729 – 1792), nach welchem ihm Johann Erich Biester (1749 – 1816) erzählt habe, dass Reinhold „weint, wenn er hört“, dass Kants „fromme Lehre noch nicht allgemein erkandt wird“ (Br AA X, 507), ist unserer Ansicht nach im Kern Glauben zu schenken. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf Karianne Jolanda Marx’ Dissertation The Usefulness of the Kantian Philosophy hinzuweisen, in welcher sie die Bedeutung von Reinholds aufklärerisches Engagement für seinen eigenen Zugang zu Kants Schriften hervorhebt. (Marx 2009) 246 Vgl. Košenina 1989, 26 ff.

3.2 Anthr. Synth. aller einseitigen vorkant. Empfindungskonzeptionen

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Man kann erstlich die Theile und Geschäffte der Maschine allein betrachten […]; das ist Anatomie und Physiologie. Zweytens kann man auf eben diese Art die Kräfte und Eigenschaften der Seele untersuchen […]; das wäre Psychologie, oder welches einerley ist, Logik, Aesthetik und ein großer Theil der Moralphilosophie. Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne. (Anthropologie, XV ff.)²⁴⁷

Dass durch diese Gleichsetzung von Psychologie und Logik auf eine unverblümte Art und Weise einem Psychologismus gehuldigt wird, braucht keiner weiteren Erläuterung; anders verhält es sich hingegen mit dem von uns behaupteten Empirismus. Die empiristische – von ihren Ursprüngen her auf John Locke (1632 – 1704) zurückzuführende – Prägung der Anthropologie äußert sich z. B. an dem Anspruch, die Existenz und Immaterialität der Seele aus dem Selbstgefühl zu erweisen oder zumindest plausibel zu machen, an der Auffassung, dass alle Ideen bzw. Vorstellungen zuerst aus den sinnlichen Empfindungen hervorgehen und an der Ablehnung eines propositionalen Innatismus.²⁴⁸ Platner verfährt dabei auch größtenteils konsequent, da er etwa den Satz des verbotenen Widerspruchs keineswegs mit der Vernunft gleichsetzt oder als eingeboren voraussetzt. Denn die Vernunft ist laut ihm „die Einsicht der Aehnlichkeit und Verschiedenheit“ oder auch „die Kraft der Seele, durch welche sie einsieht, […] daß ein Ding nicht zugleich seyn und auch nicht seyn kann.“ (Anthropologie, 186 f. [§ 557]) Weder eine angeborene Grundkraft der Seele im Sinne eines dispositionalen Innatismus noch eine Einsicht, welche durch diese Kraft zustande kommt, sei ein eingeborener Satz, denn erst „die Aussage dieser Einsicht heißt der Satz des Widerspruchs.“ (Anthropologie, 187 [§ 557]) Platners Geisteshaltung als die eines medicus philosophicus spiegelt sich auch in seiner wissenschaftlichen Laufbahn wider. Nachdem er in Leipzig sowohl Medizin als auch Philosophie studierte und 1767 die Doktorwürde in Medizin erlangte, wurde er um 1770 zuerst außerordentlicher und 1780 schließlich ordentlicher Professor der Medizin an der hiesigen Universität. Anstatt sich jedoch nur auf das Fach seiner Professur zu fokussieren, dozierte er ganz im Ideal eines philosophierenden Arztes an der philosophischen Fakultät über Logik, Metaphysik, Moralphilosophie und Ästhetik.²⁴⁹ Aus diesen Bemühungen ging unter dem Titel Philosophische Aphorismen das wohl bedeutendste und auch umfangreichste Werk Platners hervor, welches in seinem ersten Teil (1776) größtenteils Themengebiete

247 Platner, Ernst: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Bd. 1. Leipzig 1772. Im Folgenden zitiert als „Anthropologie“. 248 Vgl. Anthropologie, 13 ff. [§§ 45 ff.]; 49 ff. [§§ 179 ff.]. 249 Vgl. Košenina 2010. Vgl. Nowitzki 2007.

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der theoretischen und in dem zweiten Teil (1782) hauptsächlich jene der praktischen Philosophie zum Inhalt hat. Beide Bände sind in mehreren Auflagen erschienen, wobei der erste Teil sowohl 1784 als auch 1793 erhebliche Veränderungen und Erweiterungen erfährt, wohingegen der zweite erst 1800 völlig überarbeitet neu aufgelegt wird.²⁵⁰ Zu verzeichnen ist, dass sich Platner nach Abschluss der ersten Auflage der Anthropologie zunehmend rationalistischen Strömungen annähert. Infolgedessen zeichnet sich die erste Auflage des ersten Bandes der Aphorismen insbesondere durch einen Synkretismus empiristischer und rationalistischer Elemente mit Wolff‘scher Färbung aus, der sich in der zweiten Auflage zu einem Leibnizianismus verfestigt. Dementsprechend ist Platner in den Aphorismen von 1776 z. B. von der Existenz unbewusster Ideen in der Form eines Systems angeborener Grundsätze überzeugt,²⁵¹ versucht aber noch zwischen Gegnern und Befürwortern derselben zu vermitteln, indem er darüber spekuliert, ob denn nicht vielleicht „Leibnizens Ideen ohne Ideenbilder und ohne Bewußtseyn, nichts anders, als Lockens Grundbestimmungen“ (Aphorismen I 1776, 29 [§ 82]) der Seele seien. Zudem meint er ganz Wolffianisch, dass der Satz vom zureichenden Grund nicht nur dem Satz vom verbotenen Widerspruch untergeordnet ist, sondern auch, dass dieser unmittelbar aus dem Satz des verbotenen Widerspruchs erwiesen werden könne.²⁵² Schlussendlich richtet sich Platner in der Auflage von 1784 aber explizit gegen einen dispositionell verstandenen Innatismus, der die Aneignung aller unserer Vorstellungen alleine auf den Besitz angeborener Fähigkeiten zurückführen vermeint, und damit gegen die Behauptung, dass „Allgemeinbegriffe und Grundsätze der reinen Vernunft aus den Sinnen entstehen“, da es „nicht einmal begreiflich [sei], wie sie aus dieser Quelle entstehen könnten.“ (Aphorismen I 1784, 29 [§ 88]) Immerhin habe „Leibnizen […] dieses System [der bloß erworbenen Ideen] widerlegt“. (Aphorismen I 1784, 33 [§ 93]) Auch werden die streng deduktiven Aspekte seiner Philosophie abgeschwächt, da z. B. – eher im Sinne Leibniz‘ – das systematische Verhältnis zwischen dem Satz des verbotenen Widerspruchs und dem Satz vom zureichenden Grund als „ohne allen Belang“ klassifiziert wird, weil beide „sich einander gegenseitig unterordnen, und gegenseitig aus einander beweisen“ (Aphorismen I 1784, 273 [§ 843]) ließen. Die Ansicht, dass das Wesen der Seele sich aus dem Selbstgefühl erweisen lässt, gibt Platner nicht auf, doch wird sie dahin-

250 Platner, Ernst: Philosophische Aphorismen. Nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Bd. 1. Leipzig 1776. (1776; 1784; 1793) Im Folgenden zitiert als „Aphorismen I 1776/1784/ 1793“. 251 Vgl. Aphorismen I 1776, 5 ff. [§§ 11 ff.]; 139 [§ 457]; 146 f. [§§ 483 ff.]. 252 Vgl. Aphorismen I 1776, 149 [§ 495].

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gehend eingeschränkt, dass bei diesem Nachweis auch Gründe der spekulativen Philosophie eine Rolle spielen müssen.²⁵³ Diese zweite Auflage von 1784 setzt sich auch schon marginal mit der Kritik der reinen Vernunft auseinander, woraus mit der Auflage von 1793 eine intensive Beschäftigung mit der Transzendentalphilosophie erwächst und dazu führt, dass sowohl einige Elemente derselben inkorporiert als auch andere unter Leibnizianischen Voraussetzungen und auf Basis einer skeptischen Grundhaltung zurückgewiesen werden. Denn nun sind wiederum nur die Fähigkeiten zu bestimmten Erkenntnissen angeboren, doch den Grundbegriffen des Verstandes kommt abseits von genetischen Erklärungsansätzen eine meta-erkenntnistheoretische (vorstellungstheoretische) Priorität zu, was in diesem Punkt auch stark an Reinhold und seine Elementarphilosophie erinnert.²⁵⁴ Raum und Zeit sind für Platner zwar eine besondere Klasse von Grundbegriffen, aber sie sind anders als bei Kant keine Anschauungsformen, sondern die Prädikate aller anderen Grundbegriffe. Die Vernunftgesetze, zu welchen z. B. der Satz vom zureichenden Grund gehört, stellen eine Ausnahme davon dar, da diese ursprünglich einen bloß logischen Status besitzen würden, aber doch in der Form von Gesetzen angeboren seien.²⁵⁵ Solche und andere Einsichten werden nun von Platner selten ohne Verweis auf Kant getätigt, wobei durchaus auch Lob geäußert wird. So sei z. B. eine zukünftige Lösung des Innatismusproblems „vorzüglich Kants Verdienst“, aber auch Reinhold habe „über die[se] Materie manches Licht verbreitet“. (Aphorismen I 1793, 328 [§ 681]) Auch bei der Lehre über das Selbstgefühl ist jetzt der Einfluss Kants deutlich zu vernehmen. Das Selbstgefühl ‚Ich‘ drücke nur noch das Bewusstsein der Einheit und Identität aus und weise bloß auf ein logisches Subjekt des Denkens und dessen Existenz hin, wodurch die Begriffe ‚Substanz‘ und ‚Seele‘ eine nicht-metaphysische Bedeutung erlangen.²⁵⁶ Insgesamt und soweit für Platner die transzendentalphilosophische Vernunftkritik überhaupt fassbar wird, tut er sie aber als dogmatisch ab und versucht ihr seine eigene skeptische Kritik entgegenzusetzen. Er richtet sich dabei aber „weniger gegen die Sätze“, die das kantische Lehrgebäude enthält, „als gegen den Dogmatismus, mit welchem es dieselben vorträgt.“ (Aphorismen I 1793, IX) Dieser Dogmatismus wird von ihm auch ‚dogmatische Kritik‘ genannt und zeichne sich durch die unreflektierte Annahme aus, dass es eine Gewissheit der Erkenntnis von uns selbst, der Außenwelt und der Gesetzmäßigkeiten des Er-

253 254 255 256

Vgl. Aphorismen I 1784, 8 ff. [§§ 21 ff.]; 287 ff. [§§ 873 ff.]. Vgl. Aphorismen I 1793, 307 ff. [§§ 651 ff.]. Vgl. Aphorismen I 1793, 319 ff. [§§ 670 ff.]. Vgl. Aphorismen I 1793, 87 ff. [§§ 142 ff.].

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kenntnisvermögens gibt.²⁵⁷ Darauf müsse mit einer „völligen Zurückziehung von allem Dogmatismus“ (Aphorismen I 1793, XVI) reagiert werden. Was man unter dieser Zurückziehung zu verstehen hat, zeigt sich z. B. an dem, was Platner über seine Grundbegriffe im Verhältnis zu den kantischen Kategorien sagt: „Auf jeden Fall […] bin ich weit von der Eitelkeit entfernt eine bessere Klassenordnung liefern zu wollen, als die Kantische: alles was ich von der meinigen sagen kann, ist, daß sie für mich die natürlichste ist.“ (Aphorismen I 1793, 309 [§ 652]) Die skeptische Kritik Platners bringt also bloß Überzeugungen auf Basis von subjektiven Gründen zum Ausdruck. Sie übernimmt aber auch die Funktion, die Gründe für eine skeptische Zurückhaltung in objektiven Gewissheitsansprüchen aufzudecken²⁵⁸ und vermeint den wesentlichen Grund darin zu finden, dass das „menschliche Erkenntnißvermögen […] nicht das Ansehen [hat,] sich selbst erklären zu können.“ (Aphorismen I 1793, 364 [§ 709]) Als im vollständigen Sinne vorkritisch – d. h. dass noch kein Einfluss des Kritizismus zu verzeichnen ist – und deshalb allein für unsere Zwecke relevant können gemäß der soeben dargestellten werksgeschichtlichen Entwicklung nur die ersten Auflagen der beiden Bände der Aphorismen von 1776 und 1782 gelten. Nichtsdestotrotz war der hier gemachte Überblick zu Platners Denkentwicklung nötig, um dem – viel zu kurz greifenden – Eindruck vorzubeugen, wir würden seine Philosophie in den folgenden Darstellungen erschöpfend behandeln. Dies gilt nicht nur für die theoretische Philosophie Platners, sondern vor allem für die systematische Entwicklung seiner praktischen Lehre. Der für uns allein wichtige Inhalt des zweiten Bandes der Aphorismen von 1782 bringt keineswegs in allen Belangen seine abschließenden Gedanken zum Ausdruck. Für ein umfassendes Verständnis der Moralphilosophie und Ästhetik – um das es uns hier nicht gehen wird – müssten mindestens auch die Aphorismen von 1800 konsultiert werden.

3.2.2 Über die Dynamik zwischen Empfindungen und evaluativen Urteilen Nach Platners Selbstverständnis enthalten die für Reinhold relevanten Paragraphen des zweiten Bandes der Aphorismen „eine allgemeine Betrachtung über die Tugend, inwiefern sie […] ein Mittel […] zu dem großen Endzwecke der Glückseligkeit ist“. (Aphorismen II, Vorrede) Die größtmögliche Glückseligkeit sei nämlich der Endzweck Gottes und damit zugleich Bestimmung seiner lebendigen Schöpfung. Dies lasse sich physikotheologisch aus der Vollkommenheit des Universums, die

257 Vgl. Aphorismen I 1793, 335 f. [§§ 694 ff.]. 258 Vgl. Aphorismen I 1793, 361 [§ 707].

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überhaupt nur in der Empfindbarkeit glückseligkeitsfähiger Wesen bestehen könne, erweisen.²⁵⁹ Philosophische Systeme, welche die Glückseligkeit als Endzweck negieren und denselben alleine in der moralischen Vollkommenheit oder der Gehorsamkeit gegenüber Gott setzen, würden „auf falschen Begriffen von den Eigenschaften Gottes“ (Aphorismen II, 8 [§ 19]) beruhen, deren Gründe in der „Empfindungslosigkeit des Herzens, [der] Gleichgültigkeit gegen Glückseligkeit und [dem] Elend der Lebendigen, und [einem] Menschenverachtender Pietismus“ (Aphorismen II, 9 [§ 20]) zu suchen seien. Platners Glückseligkeitslehre ist aber kein Hedonismus, sondern erinnert wie viele andere Ethiken vor dem Erscheinen der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft an den Aristotelischen Eudämonismus und ähnliche antike Konzeptionen, da er unter der Glückseligkeit im psychologischen Sinn den ‚Zustand angenehmer Empfindungen‘ (Vergnügen) und unter dem moralphilosophischen Sinn ‚die Mehrheit angenehmer Zustände in der Totalität des Lebens‘ begreift, aus deren Wesen die tierische Lust auszuschließen sei. Zudem spielen bei der Glückseligkeit nicht nur das bloße Erlebnismoment beim Vergnügen, sondern auch die Ursachen desselben und damit die Tugenden eine zentrale Rolle, die aber eben als Mittel nicht bloß um ihrer selbst willen erstrebt werden.²⁶⁰ Seine Theorie der Empfindungen hat allerdings nicht nur eine moralphilosophische Dimension, sondern ist derart breit aufgestellt, dass sie – ähnlich wie bei Reinhold – als Grundlage zur Erklärung psychologischer und ästhetischer Phänomene dienen soll. Von einer eigenständigen, geschweige denn vollständig ausgearbeiteten ästhe-

259 Vgl. Aphorismen II, Vorrede, 3 [§ 1]. Vgl. Aphorismen I 1776, 323 ff. [§§ 932 ff.]; 365 ff. [§§ 988 ff.]. Übrigens sei das Leid und die mit ihm vermeintlich einhergehende Unvollkommenheit bloß „Folge oder Ursache größerer Glückseligkeiten“, was durch den „Lauf der Dinge“ (Aphorismen I 1776, 387 [§ 1036]) eingesehen werden könne. 260 Vgl. Aphorismen II, 4 [§ 3]; 11 [§§ 28 – 30]; 48 ff. [§§ 133 ff.]. Zu der Ähnlichkeit mit Aristoteles: Dieser bestimmt in der Nikomachischen Ethik als das beste Gut (ariston), welches wir um seiner selbst willen wünschen, die Glückseligkeit (eudaimonia). Diese besteht keineswegs in der Lust (hē donē ) als intrinsischer Wert, sondern in dem mit der Lust am Werthaften (kalon) verbundenen politischen (politikos) und betrachtenden (theōrē tikos) Leben und dem tätigen Vollzug desselben gemäß den Tugenden des Charakters (ē thikē ) und denen des Denkens (dianoē tikē ). (Vgl. NE, I, 2: 1095a 14 ff.; I, 5: 1097a 34 f.; I, 9: 1098b 30 f.; I, 13: 1103a 4 – 10; VII, 14: 1153b ff. X, 2: 1173b 27– 1174a 12; X, 4: 1174b 32 – 35; X, 5: 1175b 24 – 29; X, 6: 1177a ff.) Dass Platner seine Positionen auch in Auseinandersetzung mit antiken Philosophen entwickelt, zeigt sich an seiner weitläufigen Bezugnahme auf diese. Aristotelische Ansichten werden neben denen Platons am häufigsten diskutiert und finden vor allem in dem zweiten Band der Aphorismen seinen Beifall. (Vgl. Aphorismen I 1776, 233 [§ 739]; 292 [§ 864]; 357 f. [§ 977]; 361 f. [§ 978]; 413 f. [§ 1082].Vgl. Aphorismen II, 78 [§ 208]; 163 ff. [§ 384]; 235 ff. [§ 557]; 261 [§ 604]; 278 ff. [§ 616]; 411 ff. [§ 950])

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tischen Theorie kann in den Aphorismen und anderen durch Platner veröffentlichten Schriften aber nicht die Rede sein.²⁶¹ Seinem Verständnis nach sind die Empfindungen und damit sowohl Vergnügen als auch Missvergnügen von den Wahrnehmungen und Gedanken dadurch zu unterscheiden, dass sie anders als diese nicht in der Erkenntnis der Eigenschaften eines Gegenstandes (der Außenwelt) bestehen, sondern unseren eigenen gegenwärtigen Zustand zum Inhalt haben. Sie stammen sodann nicht vom Erkenntnisvermögen ab, sondern werden vom Empfindungsvermögen bewirkt und zeichnen sich ihrem Wesen nach durch eine bewusst erlebte ‚Undeutlichkeit‘ und ‚Lebhaftigkeit‘ aus. Zudem trennt Platner die sogenannten ‚Empfindnisse‘, welche sich auf die Phantasie bzw. Einbildungskraft beziehen, von den eigentlichen Empfindungen, die sich anders als jene auf die Sinne beziehen. Aber diese Differenzierung wird für unsere Belange nicht weiter wichtig sein, zumal dieselbe in den Aphorismen meistens vernachlässigt wird.²⁶² Aufgrund von Platners Lehre, dass die Empfindungen in ihrer Essenz undeutlich sind, können wir hier bereits festhalten, dass laut ihm Empfindungen als solche und für sich genommen keiner Zergliederung fähig sind und somit auch nicht durch einen deutlichen Begriff zerstört werden können.²⁶³ Darüber, was die Undeutlichkeit im Gegensatz zur Deutlichkeit ist und inwiefern dieselben mit der Klarheit zusammenhängen und mit der Dunkelheit nicht zusammenhängen, gibt Platner keine genauen Auskünfte. Dem ersten Band der Aphorismen von 1776 lässt sich bloß entnehmen, dass ‚klare und deutliche Vorstellungen‘ aus dem ‚Zustand des Bewusstseins‘ hervorgehen, in welchem verschiedene Ideen miteinander verglichen werden, um zur ‚Kenntnis von Merkmalen‘ und der ‚besonderen und allgemeinen Beschaffenheit dieser Ideen‘ zu gelangen, wohingegen dem ‚Zustand des Unbewusstseins‘ aufgrund des Fehlens jener geistigen Operationen dunkle Vorstellungen entspringen, denen die Eigenschaft der ‚Merkmalslosigkeit‘ zukommt.²⁶⁴ Allerdings lässt sich trotz seiner manchmal ungenauen Verwendungsweise dieser Begriffe der Taxonomie der Vorstellungen darauf schließen, dass er sich zumindest grob nach Leibniz‘ und Wolffs grundsätzlichen Definitionen richtet, wonach Dunkelheit und

261 Es gibt aber sehr wohl eine Kollegnachschrift von Platners Ästhetik-Vorlesungen, die um das Jahr 1790 zu datieren ist. (Siehe Engel, Moriz Erdmann: Ernst Platners Vorlesungen über Aesthetik. In treuer Auffassung nach Geist und Wort wiedergegeben von dessen dankbarem Schüler. Zittau/ Leipzig 1836) Von einer weiteren Vorlesungsmitschrift aus dem Wintersemester 1777/78 spricht Ernst Bergmann in seiner Monographie Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts, die er in einem Leipziger Antiquariat gefunden habe. (Bergmann 1913, 14) 262 Vgl. Aphorismen II, 12 f. [§§ 32 – 37]. 263 Vgl. Aphorismen II, 35 [§ 97]. 264 Vgl. Aphorismen I 1776, 9 f. [§§ 29 f.].

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Klarheit sich hinsichtlich des Merkmals der Differenzierbarkeit voneinander abgrenzen und durch klar-verworrene Gedanken sich Entitäten unterscheiden lassen sowie durch klar-deutliche darüber hinaus diese Unterschiede mitteilbar werden.²⁶⁵ Eo ipso ist alles Dunkle ununterscheidbar und alles Undeutliche bzw. Verworrene zwar unterscheidbar, aber nicht demonstrabel. Platner scheint die Undeutlichkeit aber auch im Sinne einer Nicht-Deutlichkeit aufzufassen, sodass unter den Begriff der undeutlichen Vorstellungen nicht nur das Verworrene, sondern auch das Dunkle zu subsumieren ist. Insofern man das Undeutliche derart mit dem Dunklen assoziiert, kann es folglich auch undeutliche Vorstellungen geben, die nicht klar sind. Dagegen spricht aber wiederum, dass „keine Empfindung […] ohne Bewußtseyn“ (Aphorismen II, 13 [§ 36]) ist, was mit der vorhin angebrachten These, dass das Unbewusste die Ursache der dunklen Vorstellung ist, nur schwer vereinbar sein sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Empfindungen völlig willkürlich auf unsere subjektiven Zustände gerichtet sind. Denn wie Platner weiter ausführt, zeigen die Empfindungen dem Subjekt undeutlich den Grad an Vollkommenheit seiner eigenen gegenwärtigen Natur an, indem sie sich alle auf einen angeborenen und in uns allen wirksamen Trieb beziehen – den sogenannten ‚Trieb des Lebens‘. Dieser richte sich nach dem in uns angelegten Endzweck, der dem Trieb die Direktive vorgibt, in uns Bedürfnisse zu erzeugen, die der Beförderung unserer eigenen Glückseligkeit dienen.²⁶⁶ Zusammengefasst zeichnet sich das Wesen der Empfindung also dadurch aus, „ein lebhaftes und undeutliches […] Bewußtseyn des Zustandes […] in Beziehung auf einen Trieb“ (Aphorismen II, 15 [§ 43]) zu sein. Dass in den Empfindungen als solchen nun keine Distinktionen am Empfundenen vorgenommen werden oder diese zumindest im Empfindungsmoment nicht mitteilbar sind, ist durchaus plausibel. Dass das „Bewußtseyn des Zustandes […] die Empfindung selbst“ und „der Zustand […] allezeit das nächste Objekt der Empfindung“ (Aphorismen II, 16 [§ 48]) sei, ist hingegen nicht prima facie einsichtig. Denn sind wir in vielen Fällen des Empfindens nicht auch auf Gegenstände gerichtet? Dem würde auch Platner zustimmen, da er deutlich macht, dass „z. B. beym Genuß einer Speise, oder beym Anblick eines Gemäldes“ neben „dem undeutlichen Bewußtseyn des Zustandes […] in dem Erkenntnißvermögen eine klare Vorstellung einer Sache“ (Aphorismen II, 16 [§ 48]) wirksam ist. Die Empfindung für sich genommen ist hier aber dennoch von der gegenstandsbezogenen Vorstellung zu unterscheiden und in manchen Fällen sogar völlig eigenständig, wie etwa „bey den

265 Siehe 2.3.1 der hier vorliegenden Studie. 266 Vgl. Aphorismen II, 3 [§ 1]; 13 ff. [§§ 38 – 42]; 23 ff. [§§ 71 – 74]. Vgl. Aphorismen I 1776, 323 ff. [§§ 932 ff.].

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allgemeinen Empfindungen des Wohlseyns“, bei denen eben „keine klare Vorstellung wirksam“ (Aphorismen II, 16 [§ 48]) ist. Dass es gleichwohl so wirke, dass das nächste Objekt der Empfindung ein vorgestellter Gegenstand ist, beruhe bloß auf einer Täuschung, die sich aus der innigen Verflechtung des Bewusstseins unseres Zustands mit der Vorstellung des Gegenstandes ergebe, wobei die Klarheit dieser Vorstellung mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde als die Undeutlichkeit jenes Bewusstseins. Diese natürliche Vermengung dürfe jedoch nicht in einer theoretischen Verwechslung der Empfindungen mit dem in einem Urteil ausgedrückten Wohlgefallen oder Missfallen und damit nicht in einer Gleichsetzung des Empfindungsvermögens mit dem Erkenntnisvermögen münden.²⁶⁷ Denn es gilt: Es ist in den Empfindungen, welche mit Vorstellungen verbunden sind […], zugleich wirksam ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Sache. Dieses Wohlgefallen, oder Mißfallen, obwohl innigst und genau vereinigt mit der Empfindung selbst, d. h. mit dem Bewußtseyn des Zustandes […], ist von ihr unterschieden – ist ein Urtheil des Verstandes, folglich Wirkung des Erkenntnisvermögens. (Aphorismen II, 17 f. [§ 52])

Soweit Platner zu den Empfindungen im Allgemeinen; was aber unterscheidet eine angenehme von einer unangenehmen Empfindung, das Vergnügen wesentlich vom Missvergnügen? Kurzum: Die erlebte Erfüllung oder Nicht-Erfüllung eines Triebes, der auf dem Zweck des Lebewesens beruht, seiner Gattung gemäß Glückseligkeit zu erlangen. Stimmt der Zustand des Geschöpfes mit diesem Endzweck überein, so ist seine gegenwärtige Natur vollkommen, anderenfalls ist sie unvollkommen. Erlebt es seinen eigenen Zustand in Kongruenz mit dem vom Trieb geforderten Idealzustand, befindet es sich folglich im Bewusstsein seiner eigenen Vollkommenheit und ist somit vergnüglich gestimmt; erlebt es seinen Zustand in derselben Relation hingegen in Inkongruenz, hat es ein Bewusstsein seiner Unvollkommenheit, was ihm Missvergnügen bereitet.²⁶⁸ Auch hier gibt es wieder eine Abgrenzung zum Wohlgefallen und Missfallen eines Urteils bzw. zu einem evaluativen Sachurteil, da man bei diesem ausschließlich auf die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit bzw. den Wert des Gegenstandes gerichtet sei.²⁶⁹ Wie schon angemerkt wurde, treten nach Platner einige unserer Empfindungen mit diesen evaluativen Urteilen gemeinsam auf und sind de facto aufs Innigste mit ihnen verwoben. Obwohl sich beide also in psychologischer Hinsicht ergänzen, gebe es zwischen ihnen aber auch einen gewissen Antagonismus. Denn je „klärer die […] Vollkommenheit oder Unvollkommenheit [eines Gegenstandes] vorgestellt wird […],

267 Vgl. Aphorismen II, 17 f. [§§ 50 – 53]; 23 [§ 67]. 268 Vgl. Aphorismen II, 14 [§§ 39 f.]; 15 [§§ 42, 44]. 269 Vgl. Aphorismen II, 18 f. [§ 55].

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desto wirksamer ist das urtheilende Wohlgefallen oder Mißfallen […], und desto minder lebhaft [wird] das Bewußtseyn der […] Vollkommenheit des Zustandes“ (Aphorismen II, 19 [§ 56]) sein. Und je „weniger klar […] die […] Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Sache vorgestellt wird, desto mehr ist sich die Seele bewusst der selbsteigenen Vollkommenheit […], und desto minder wirksam ist das urtheilende Wohlgefallen oder Mißfallen.“ (Aphorismen II, 19 [§ 56]) Mit anderen Worten ist der wechselseitige Einfluss zwischen Empfindungen und evaluativen Urteilen im Moment des Empfindens und Urteilens indirekt proportional, sodass die Lebhaftigkeit der Empfindung abnimmt, wann immer die Wirksamkeit des Urteils zunimmt, und vice versa. Man kann sich dieses Verhältnis also als ein Kontinuum auf einer Skala denken, an dessen einem Ende A sich die lebhaftesten Empfindungen ohne Beimischung eines Urteilscharakters befinden, die graduell in das andere Ende B übergehen, an dem die leblosesten, mit evaluativen Urteilen vermengten, Empfindungen angesiedelt sind. In A setzt Platner die ‚sinnlichen Empfindungen des Körpers‘, bei B befinden sich die ‚geistigen Empfindungen der Seele‘, worunter er auch die moralischen unter der Benennung ‚Empfindungen des Verstandes und Herzens‘ zählt. Auf halber Strecke zwischen beiden sei der Sitz der ästhetischen Empfindungen.²⁷⁰ Die Beispiele, welche Platner für die Empfindungen bei A gibt, mögen verdeutlichen, gegen was er die ästhetischen und geistigen Empfindungen – wohlgemerkt in einem graduellen Sinne – abgrenzen will: Die allersinnlichsten Empfindungen [sind] diejenigen, welche nicht begleitet werden von Vorstellungen außerhalb der Idee des Zustandes […], z. B. die allgemeinen Empfindungen des Wohlseyns, oder die auf kein besonderes Objekt der Sinnen und der Phantasie gerichteten Gefühle der Geschlechtslust. Nicht viel weniger Sinnlichkeit haben die Empfindungen der Gaumlust, so wie die größern Ergötzungen des Auges und des Ohres. Die wenigste Sinnlichkeit haben die geistigen Empfindungen des Verstandes und des Herzens. Zwischen den sinnlichen und geistigen Empfindungen stehen mitten innen die ästhetischen. (Aphorismen II, 19 f. [§ 57])

Es lässt sich gemäß den Aphorismen auch eine kontinuierlich verlaufende Skala konstruieren, auf deren Achse sich die Grade der Wirksamkeit des Urteils über den Wert der Gegenstände befinden. Diese Wirksamkeit wird nach Platner genau dann geringer, wenn ein vermehrter Einfluss der Empfindung den Gegenstandsbereich des Urteils weg von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Sache hin zur Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Relation zwischen dem Zustand des Urteilenden und dem beurteilten Gegenstand verschiebt. Diese wertenden Relationsurteile sind bei einer vorausgesetzten Deckungsgleichheit beider Skalen eher in

270 Vgl. Aphorismen II, 19 f. [§§ 56 f.]; 21 f. [§§ 63 – 65].

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der Nähe von A lokalisiert, wohingegen jene evaluativen Sachurteile B zuzuordnen sind.²⁷¹ Folglich gehen sinnliche Empfindungen, wenn überhaupt, mit stark subjektiv gewichteten Relationsurteilen einher, und werden in diesem Zusammenhang von Platner als ‚eigennützig‘ bezeichnet; geistige Empfindungen aber treten verflochten mit den Sachurteilen auf und sind in dieser Verbindung als ‚uneigennützig‘ zu klassifizieren. Die sich wiederum in der Mitte befindenden und in ihrer Eigennützigkeit und Uneigennützigkeit ausgeglichenen ästhetischen Empfindungen sind mit etwaigen ästhetischen Urteilen verknüpft, welche somit auch nicht nur über den Wert der Sache, sondern ausgewogen über den Wert der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gefällt werden.²⁷² Die Übergänge zwischen dem Bewusstsein selbsteigener und fremder Werthaftigkeit, zwischen dem urteilsbasierten eigennützigen oder uneigennützigen Wohlgefallen oder Missfallen und zwischen Relations- und Sachurteilen werden dabei durchwegs dynamisch gefasst: Die Vorstellungen, welche die Empfindung begleiten, verliehren sich oft für Augenblicke, und dann wird die Sinnlichkeit verstärkt. So entstehen Augenblicke der sinnlichen Entzückung in den ästhetischen Empfindungen, auch in den Empfindungen des Verstandes und Herzens […]. Umgekehrt wenn in dem Zustande der Sinnlichkeit klare Vorstellungen erwachen. (Aphorismen II, 20 [§ 58])

Im Sinne der Platner‘schen Vergnügenskonzeption ließen sich unzählige Beispiele für dieses dynamische Zusammenspiel subjektiver und objektiver Zustände angeben. Wie etwa: Wenn sich beim – ein bestimmtes Objekt fokussierendem – Studium der Farbgebung eines Gemäldes oder der Tonfolge eines Musikstückes die Auf-

271 Vgl. Aphorismen II, 20 [§ 59]. 272 Vgl. Aphorismen II, 21 [§§ 60 f.]. Bei der Analyse der einschlägigen Paragraphen muss sich die Frage aufdrängen, ob die zuerst stark gemachte Trennung zwischen dem auf das Objekt gehende Erkenntnisvermögen und dem sich auf den subjektiven Zustand beziehenden Empfindungsvermögen nicht dadurch gesprengt wird, dass Platner, erstens, zwischen uneigennützigen oder geistigen und eigennützigen oder sinnlichen Empfindungen unterscheidet und, zweitens, eine urteilende Wertung des Verhältnissens zwischen Sache und Zustand einführt. Wie die Paragraphen 62 und 66 bis 68 zeigen, hat Platner diese Schwierigkeiten bemerkt und versucht darauf einzugehen. Die Lösung des Problems liegt in der Unterscheidung zwischen Empfindungen per se und Empfindungen per aliud. Nur die erstgenannten sind im eigentlichen Sinne Empfindungen und damit ausschließlich sinnlich und eigennützig; die letztgenannten sind bereits mit wertenden Urteilen verbunden und können nur in einem uneigentlichen Sinne als Empfindungen und somit als geistig und uneigennützig zählen. Dementsprechend bringt Platner auch zum Ausdruck, dass „eigentlich jede Empfindung nur darum angenehm, oder unangenehm […] [ist], weil der [subjektive] Zustand angenehm oder unangenehm ist“ und also „in diesem Sinne jede Empfindung eigennützig“ (Aphorismen II, 21 [§ 62]) ist.

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merksamkeit zu lösen beginnt und sich eine – vom Gegenstand abkehrende – Faszination oder Begeisterung in den Vordergrund drängt, welche anschließend aufgrund eines – erneut den Gegenstand in den Fokus rückenden – Urteils über die Schönheit des zuvor Analysierten abgeschwächt wird, etc.

3.2.3 Der Trieb des Lebens und seine Triebkomponenten Wir haben bereits gesehen, dass nach Platner jeder Empfindung der Trieb des Lebens zugrunde liegt. Dass es sich bei diesem nur um einen einzigen Trieb handelt, schließt er aus der auf der Erfahrung basierenden Feststellung, dass alle Empfindungen etwas Gemeinsames haben und jede Empfindung im Verhältnis zu irgendeinem Trieb steht.²⁷³ Wie Lazzari völlig richtig hervorhebt, handelt es sich hierbei um einen Fehlschluss.²⁷⁴ Denn daraus, dass eine bestimmte Menge von Entitäten – sie mögen sich unter einander gleichen oder nicht – mit Etwas im Verhältnis steht, folgt natürlich nicht, dass es genau ein Ding gibt, das in Relation zu dieser bestimmten Menge steht.²⁷⁵ Würde Platner die Behauptung, dass „in der menschlichen Natur […] irgend ein allgemeiner Trieb“ wirksam ist, „aus welchem […] das[,] was allen Empfindungen gemeinsam ist“ (Aphorismen II, 23 [§ 70]), erklärlich wird, allerdings bloß als eine Hypothese annehmen, dann könnte man gegen ihn wohl kaum den Vorwurf der Unplausibilität erheben. Dass Empfindungen ihren allgemeinsten Aspekten nach auf ein angeborenes Potential zu dem Verlangen, das Leben zu erhalten, zurückzuführen sind, scheint gerade auf Basis der heutigen Evolutionsbiologie naheliegend zu sein. Laut Platner setzt sich der Trieb des Lebens aus zwei Triebkomponenten zusammen. Dieser ‚angeborene‘, ‚ursprüngliche‘ und ‚einzige‘ Trieb spaltet sich attributiv in den ‚Trieb des körperlichen Wohlstandes‘ und in den ‚Trieb der Ideenbeschäftigung‘ auf, wobei der erstgenannte den sinnlichen Empfindungen des Körpers und der zweitgenannte den geistigen Empfindungen der Seele zuzuordnen ist.²⁷⁶ Der Trieb des körperlichen Wohlstandes wird also wirksam, wann immer wir sinnlich und eigennützig empfinden und auch wenn wertende Relationsurteile dabei im Spiel sind, der Trieb der Ideenbeschäftigung hingegen, wann immer wir auf Basis

273 Vgl. Aphorismen II, 23 [§§ 69 f.]. 274 Vgl. Lazzari 2007, 320. 275 Für ein gültiges – wenn auch keineswegs schlüssiges – Argument müsste man die der Erfahrung widerstreitende Prämisse einführen, dass die Gleichheit verschiedener Entitäten eine einzige gemeinsame Ursache haben muss oder wenigstens, dass die Erklärung der Gleichheit immer auf einen einzigen Grund hinausläuft. 276 Vgl. Aphorismen II, 23 ff. [§§ 71 – 74].

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evaluativer Sachurteile geistig und uneigennützig empfinden. Dabei ist zu bedenken, dass gemäß der vorhin vorgestellten Kontinua bei allen Empfindungen und insbesondere bei den ästhetischen Empfindungen beide Triebkomponenten involviert sind und somit der Trieb des Lebens im vollen Umfang beteiligt wird – entweder mit einer stärkeren sinnlichen oder geistigen Gewichtung oder aber auf eine ausgewogene Art und Weise.²⁷⁷ Dementsprechend gilt, dass sich „alle Empfindungen auf den Trieb des Lebens“ beziehen und dass „in jeder Empfindung […] die Seele von diesem Triebe etwas erreicht, oder verfehlt“ (Aphorismen II, 26 [§ 80]) hat. Dieses Erreichen oder Verfehlen zeitigt sich jeweils in angenehmen oder unangenehmen Empfindungen und weil dieses von der Erfüllung und Nicht-Erfüllung des triebgebundenen Verlangens abhängt, „empfindet [die Seele] nie eine angenehme oder unangenehme Sache, sondern den Grad des Lebens, welcher […] durch die Vorstellung der Sache [und also vermittelst des Erkenntnisvermögens] bestimmt wird.“ (Aphorismen II, 27 [§ 81])²⁷⁸ Wie schon der Trieb des Lebens sind auch die beiden Triebkomponenten angeboren. Denn „kein Wesen ist […] ohne Bestreben nach Thätigkeit“ und weil „alle Thätigkeiten einer Seele Ideen“ sind, „hat jede Seele ein Bestreben nach Ideen“ (Aphorismen II, 25 [§ 75]); und da aufgrund des commercium mentis et corporis „die Ideenbeschäftigung der Seele […] abhängt […] von dem Wohlstande des Körpers“, so muss „jede Seele […] den Trieb nach dem Wohlstande des Körpers“ (Aphorismen II, 25 [§ 76]) aufweisen. Zudem unterscheidet Platner eine Vielzahl sich auf den Trieb des Lebens beziehender erworbener Triebe, wozu er auf der sinnlichen Seite z. B. das Verlangen nach Behaglichkeit, Geschlechtslust oder Macht und auf der geistigen Seite dasjenige nach intellektuellen Genüssen oder nach moralischem ‚Wohldenken‘ und ‚Wohlhandeln‘ zählt.²⁷⁹ Zu diesem intellektuellen Vergnügen gehöre auch die „Empfindung ästhetischer Vollkommenheiten der Werke der Natur und der Kunst belebt von Ideen des Schönen, Großen, Erhabenen“ (Aphorismen II, 36 [§ 100]), was aber wohl selbst bei einem sukzessiven Übergang zwischen sinnlichen und geistigen Empfindungen schwer mit der vorhergegangenen Behauptung, dass sich die ästhetischen Empfindungen zwischen den beiden befinden, zu vereinbaren ist.²⁸⁰

277 Vgl. Aphorismen II, 22 f. [§§ 65 f.]. 278 Vgl. Aphorismen II, 26 f. [§§ 78 – 81]. 279 Vgl. Aphorismen II, 24 ff. [§§ 73 – 76]; 27 ff. [§§ 84 – 89]; 36 f. [§ 100]. 280 Man könnte diese Inkonsistenz damit zu lösen versuchen, indem man die hier angeführten Empfindungen ästhetischer Vollkommenheit als eine durch Ideen angereicherte und damit intellektualisierte Sonderform der ästhetischen Empfindungen sui generis ausweist. Doch Platner ordnet das durch Ideen belebte ästhetische Vergnügen in dem relevanten Paragraphen bloß dem intellektuellen Vergnügen unter und bemerkt die daraus resultierenden Probleme gar nicht. Unserer

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Ein eigener Trieb für die ästhetischen Empfindungen, der mit den angeborenen Trieben auf einer Stufe steht und zwischen körperlichem Wohlstand und Ideenbeschäftigung vermittelt, wird damit allerdings nicht eingeführt, worin sich der Platner’sche Ansatz auch wesentlich von bedeutsamen vorangehenden Konzeptionen, wie etwa der von Francis Hutcheson (1694 – 1746), oder nachfolgenden (durch den kritischen Kant beeinflussten), wie der von Friedrich Schiller, unterscheidet.²⁸¹ Keineswegs lässt sich nämlich der Trieb des Lebens an diese Stellen setzen und damit als eine Kraft hinter dem Schönheitssinns Hutchesons oder als eine Art Spieltrieb im Sinne Schillers begreifen, da er sich – wie im ersten Fall – nicht auf die Funktion, ein Verlangen nach Schönheit zu produzieren, reduzieren lässt und ihm auch – wie im zweiten Fall – nicht die Rolle zukommt, zwischen den beiden anderen Trieben im Sinne eines transzendentalen Prinzips zu vermitteln. Vielmehr gibt es – wie Platner betont – bloß den einzigen und allgemeinen Trieb des Lebens, von dem die beiden anderen Triebe nur ‚abstrahiert‘ werden und auf den alle erworbenen Triebe rückgebunden sind. Dabei ist keine dieser Abstraktionen der anderen untergeordnet, sondern sie sind gleichberechtigte Teile derselben Grundkraft.²⁸² Insofern man von dem Antagonismus absieht, der nach Platner in den einzelnen Empfindungs- und Urteilsmomenten hinsichtlich der Subjekt- und Objektge-

Ansicht nach liegt hier tatsächlich eine Inkonsistenz vor. Denn selbst wenn man die Empfindungen der ästhetischen Vollkommenheit als eine eigene Klasse der ästhetischen Empfindungen bestimmte, dann würde dies alle Formen der ästhetischen Empfindungen auf der von Platner entworfenen Skala insgesamt intellektualisieren, sodass die ästhetischen Empfindungen nicht mehr in der Mitte zwischen Sinnlichem und Intellektuellem zu verorten wären, sondern einen stärkeren Hang zum letzteren aufweisen müssten. 281 Hutcheson war prominent der Auffassung, dass uns ein natürlicher und universeller ‚sense of beauty‘ eigen ist, der es uns ermöglicht eine ‚uniformity amidst variety‘ als schön zu empfinden. (Vgl. Hutcheson, Francis: An Inquiry Concerning Beauty, Order, Harmony, Design. Peter Kivy (Hrsg.). Den Haag 1973, 34 f. [sec. I, §§ X–XII]; 40 [sec. 2, § III]; 76 ff. [sec. 6, §§ IV ff.]) Dabei geht er auch von einem Verlangen nach Schönheit aus uns spricht sogar von einer in uns angelegten Vorliebe für die Einheit im Mannigfaltigen, was einen Trieb nach Schönheit impliziert, der als solcher aber nicht wesentlich für seine Konzeption ist. (Vgl. An Inquiry, 37 f. [sec. 1, § XIV]; 51 f. [sec. 3, § V]) Unter anderem an Reinholds Trieblehre angelehnt, entwickelte Schiller seine eigene Konzeption eines Spieltriebes, dessen Gegenstandsbereich die Schönheit ist und der die Aufgabe hat, zwischen der Sinnlichkeit und ihrem Stofftrieb sowie der Vernunft und ihrem Formtrieb eine Balance herzustellen. Im Vergleich zu Platner geradezu antipodisch sind Stoff- und Formtrieb die eigentlichen Grundtriebe, wohingegen der Spieltrieb nur auf Basis derselben Bestand hat und im eigentlichen Sinne bloß Postulat und Ideal aufgrund transzendentaler Gründe ist. (Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen. Klaus L. Berghahn (Hrsg.). Stuttgart 2012, 46 ff. [12. Brief ]; 50 [13. Brief ]; 56 f. [14. Brief ]; 58 ff. [15. Brief ]) 282 Vgl. Aphorismen II, 24 [§ 73]; 25 f. [§ 77].

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richtetheit unserer Bewusstseinszustände besteht, so ist zu konstatieren, dass sich die Triebe des körperlichen Wohlstandes und der Ideenbeschäftigen sogar wechselseitig ergänzen. Denn die „Thätigkeit der Seele befördert die Wirksamkeit des Körpers und die Wirksamkeit des Körpers die Thätigkeit der Seele.“ (Aphorismen II, 81 [§ 83]) Aufgrund dieser wechselseitigen Ergänzung – die bezogen auf Triebkomponenten und Empfindungsarten einer reziproken Komplettierung zwischen Sinnlichkeit und Verstand gleichkommt – sei jede „Einteilung in wahre und scheinbare Güter […] fanatisch, wenn unter jenen verstanden wird allein das geistige, unter diesen das sinnliche Vergnügen.“ (Aphorismen II, 83 [§ 105]) In umgekehrter Weise gilt dies natürlich genauso. Doch folgt daraus nicht, dass die Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit einfach in einem Äquilibrium zwischen sinnlichem und geistigem Vergnügen besteht, weil man auch die Fähigkeiten und Umstände der Individuen berücksichtigen müsse. Je nachdem, ob jemand entweder bessere Voraussetzungen zum geistigen oder bessere zum sinnlichen Vergnügen besitzt, liege seine – von Gott gewollte – Bestimmung entweder eher im Intellektuellen oder eher im Sensorischen.²⁸³ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Platner’sche Vergnügenskonzeption und Trieblehre – ganz so wie Reinhold dies impliziert – sowohl die subjektiven und objektiven Aspekte des Vergnügens als auch Sensorium und Intellekt in einer einzigen Theorie zu integrieren und etwaige Einseitigkeiten zu vermeiden sucht. Ersteres wird durch eine dynamische Wechselwirkung zwischen den sich auf die Vollkommenheit des Zustands beziehenden angenehmen Empfindungen und den auf die Vollkommenheit der Gegenstände gerichteten urteilenden Wohlgefallen zu erreichen beabsichtigt. Letzteres wird durch die Forderung bewerkstelligt, dass es für die Erfüllung des Lebenstriebes eine Homöostase zwischen dem sinnlichen und eigennützigen Vergnügen, das sich gegebenenfalls durch ein Urteil auf die Vollkommenheit der Relation zwischen Subjekt und Objekt richtet, und dem geistigem Vergnügen, welches durch ein Urteil uneigennützig auf die Vollkommenheit der Gegenstände abzielt, geben muss.

3.2.4 Platners Kritik an älteren Vergnügenskonzeptionen im Vergleich zur Vergnügensschrift An welchen Philosophen übt Platner Kritik, um seine eigene Theorie zu profilieren? Ist Lazzari beizupflichten, wenn dieser feststellt, dass zwischen Reinhold und

283 Vgl. Aphorismen II, 40 [§§ 113 f.]. Vgl. Aphorismen I 1776, 130 [§ 429].

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Platner Ähnlichkeiten hinsichtlich der kritischen Erörterung anderer Positionen bestehen?²⁸⁴ Wie in der Vergnügensschrift so finden auch in den Aphorismen die bereits angeführten Philosophen der ‚vier einseitigen Systeme‘ mit Ausnahme von Dubos Erwähnung und dies zum Teil in ähnlicher Weise. So betitelt Platner Wolffs Definition des Vergnügens als ‚nicht ganz richtig‘, weil sie dasselbe mit einer anschaulichen und undeutlichen Erkenntnis der Vollkommenheit von Gegenständen gleichsetzt, obwohl doch der subjektive Zustand und das Empfindungsvermögen bei den Empfindungen als solchen die essentielle Rolle spielen.²⁸⁵ In diesem Sinne verfehlt Wolff das eigentliche Wesen des Vergnügens, da er nur die über die bloßen Empfindungen hinausgehenden Bewusstseinszustände berücksichtigt, bei welchen „Empfindungen mit klaren Vorstellungen verbunden sind“ und also „Wirkungen des Erkenntnisvermögens zugleich mit Wirkungen des Empfindungsvermögens […] in der Seele“ (Aphorismen II, 18 [§ 53]) anzutreffen sind. Wiewohl Platner sich darüber nicht explizit äußert, muss aus unseren bisherigen Darstellungen ersichtlich werden, dass er auch Wolffs Definition, nach der die Schönheit in der Vollkommenheit der Dinge besteht, insofern sie die Kraft besitzen, Vergnügen in uns zu erzeugen, als zu eng kritisieren würde.²⁸⁶ Denn denkt man Platners Konzept einer ästhetischen Empfindung – nach welcher dieselbe ja sowohl aus der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des Objekts als auch aus derjenigen des Subjekts hervorgeht – etwas weiter, dann besteht laut ihm die Schönheit in einem Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Auf Mendelssohn nimmt Platner hingegen nur am Rande und in für uns irrelevanten Zusammenhängen Bezug, doch

284 Vgl. Lazzari 2007, 321 ff. 285 Vgl. Aphorismen II, 18 [§ 54]. Das wesentliche Stelle, welche Wolffs Definition wiedergibt, wurde bereits von uns in einer Fußnote zitiert, sei hier aber trotzdem wiederholt angeführt: „Voluptas est intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cujuscunque, sive verae, sive apparentis.“ (PE, 389 [§ 511]) Wie Platner korrekt hervorhebt, wird Wolffs Position jedoch erst unmissverständlich deutlich, wenn man sich die gesamten Paragraphen 511 und 512 der Psychologia Empirica zu Gemüt führt. Übrigens ist für Platner auch Baumgartens Erklärung des Vergnügens nicht völlig korrekt, doch diese komme seinem Begriff davon schon etwas näher, wie der Paragraph 486 der Metaphysik nach der Übersetzung von Georg Friedrich Meier (1718 – 1777) belege. (Vgl. Aphorismen II, 18 [§ 54]) Dort können wir nämlich lesen: „Was mir gut ist (mihi bonum), dadurch werden in mir Vollkommenheiten gesetzt, und was mir böse oder für mich ein Uebel ist (mihi malum) dadurch werden in mir Unvollkommenheiten gesetzt.“ (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysik. Übers. v. Friedrich Meier. Halle 1783, 236 [§ 486]) 286 Vgl. PE, 420 [§ 544].

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weist er darauf hin, dass dessen – von Reinhold behandelte – Schrift Ueber die Empfindungen gelesen zu werden verdient.²⁸⁷ Im Vergleich mit der Vergnügensschrift und als ein Vertreter einer vermeintlich subjektiven Perspektive kommt nur Pouilly in Betracht, da Platner bloß diesen einmal kurz erwähnt und auf Dubos – wie gesagt – gar nicht eingeht. In dieser Erwähnung wird allerdings nicht mehr zum Ausdruck gebracht, als dass Pouillys These, dass angenehme Empfindungen mit einer ungehinderten Beschäftigung des Körpers und nicht ermüdenden Übung des Geistes einhergehen, bloß auf einen ungestörten Wirkmechanismus der Nervenbahnen und auf ein körperliches Vergnügen hinauslaufe. Von einer zu starken Subjektivierung ist hingegen keine Rede.²⁸⁸ Im Sinne der Standpunkte der Spontaneität und Rezeptivität erhalten Sulzer und Helvétius dieselben Positionierungen wie bei Reinhold. Der Vorwurf Platners gegen Sulzer lautet, dass er‚den Ursprung des Vergnügens so einseitig aus dem Trieb der Ideenbeschäftigung erklärt hat, wie Epikur aus dem Trieb des körperlichen Wohlstands‘.²⁸⁹ An Helvétius wird kritisiert, dass er ‚den Unterschied des Erkenntnis- und Empfindungsvermögens schlichtweg geleugnet hat und das Wesen des Menschen fast vollständig im Empfinden bestehen lässt‘, womit ihm also indirekt eine Nähe zu Platners Interpretation Epikurs zugeschrieben wird.²⁹⁰ Der erste Band der Aphorismen ist in dieser Attribuierung noch deutlicher als der zweite Band. „Irrig, und wider den Sprachgebrauch“, schreibt Platner dort, „führen die alten Atomisten und neuerlich Helvetius, alle jene Aeußerungen“ des Denkens, Urteilens und Schließens „auf Empfindungen zurück.“ (Aphorismen I 1776, 18 [§ 65]) Durch diese Kritik wird zusammen mit Platners Ausführungen zu den uneigennützigen und eigennützigen Empfindungen verständlich, wieso Reinhold plante, dieselben gegen Helvétius‘ Tendenzen, ‚alles Vergnügen auf die Sinnenlust zurückzuführen‘, einzusetzen. Sein Sensualismus widerspricht ‚dem richtigen Begriff der Vernunfthandlung‘, da – in Anlehnung an Kant – die wesentliche Äußerung der praktische Vernunft bzw. das ‚moralische Gesetz in uns‘ Uneigennützigkeit fordert²⁹¹ und weil – nach Platner – die aus sich heraus immer nur eigennützigen Empfindungen nur dann uneigennützig werden, wenn sie verknüpft mit Sachurteilen auftreten, die nicht durch die Sinnlichkeit substituierbar sind.²⁹²

287 Vgl. Aphorismen II, 31 [§ 92]; 152 [§ 362]. Vgl. Aphorismen I 1776, 195 [§ 644]; 205 [§ 670]; 322 [§ 931]. 288 Vgl. Aphorismen II, 32 f. [§ 92]. 289 Vgl. Aphorismen II, 27 [§ 82]. 290 Vgl. Aphorismen II, 31 [§ 92]. 291 Vgl. KpV, 147. 292 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 51.

3.2 Anthr. Synth. aller einseitigen vorkant. Empfindungskonzeptionen

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In puncto einseitige Systeme ist auch noch eine sechs Jahre vor der Veröffentlichung des zweiten Bandes der Aphorismen anonym publizierte Abhandlung mit dem Titel Versuch über die Einseitigkeit des stoischen und epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens ²⁹³ relevant, auf die Platner selbst hinweist und als deren Autor er sich zu erkennen gibt.²⁹⁴ Wie bereits der Titel suggeriert, richtet er sich darin gegen die einseitigen Bestimmungen der Stoiker und Epikureer über den Ursprung der angenehmen Empfindungen, wobei – ähnlich der Assoziation Helvétius‘ mit Epikur – Sulzers Theorie als das Erbe einer stoischen Tradition dargestellt wird.²⁹⁵ Dementsprechend steht dort geschrieben: Der Fehler, welchen ich in beiden Systemen bemerke, ist die Einseitigkeit. […] In dem einen [epikureischen] ist der Mensch ein bloßes Thier, in dem andern [stoischen] ist er ein reiner Geist, und in keinem von beiden ist er eigentlich ein Mensch. In beiden Systemen wird die eine der beiden Hauptarten des Vergnügens auf eine höchst gezwungene Weise erklärt. (Versuch über die Einseitigkeit, 14)

Diese Schrift läuft letztendlich darauf hinaus, dass die Einseitigkeiten der Epikureer und der Stoiker unterschiedliche Teile der Wahrheit enthalten, die sich – unter Ausschluss alles Falschen – zur ganzen Wahrheit über das Vergnügen komplementieren lassen.²⁹⁶ Interessant an diesem Text ist auch, dass Platner dort in Abgrenzungen zum ‚stoischen und epikureischen System‘ – und damit auch gegen Sulzer und Helvétius – den Plan zu einer eigenen Theorie noch deutlicher als in den Aphorismen fasst: Sollte ich aus jenen beiden Theorien des Vergnügens eine dritte machen, so würde ich das Intellecktuelle der Stoiker durch das Sinnliche des Epikur mehr zu dem Ton der Menschheit herabstimmen. Ich würde das Vergnügen des Menschen, weder allein aus körperlichem Wohlstand, noch allein aus geistiger Vollkommenheit, sondern aus beiden Principien zusammen entstehen lassen. Ich würde das sinnliche Gefühl des körperlichen Wohlstandes eben so wenig von dem geistigen Vergnügen, als das intellektuelle Wohlgefallen von dem sinnlichen

293 Platner, Ernst: Versuch über die Einseitigkeit des stoischen und epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 19. Leipzig 1776, 5 – 30. Im Folgenden zitiert als „Versuch über die Einseitigkeit“. 294 Vgl. Aphorismen II, 33 [§ 92]. 295 „Und wirklich sind auch alle die verschiedenen Theorien, welche die Neuern auf die Bahn gebracht haben, nichts anders als verschiedene, und zum Theil willkührliche Abänderungen des Hauptsatzes, in welchem selbst die Peripatetiker mit den Stoikern übereinkommen: das Vergnügen ist ein Zustand der geistigen Vollkommenheit; nur daß ein jeder die geistige Vollkommenheit anders bestimmt, oder vielmehr mit anderen Worten aussagt. […] Gassendi und nach ihm Sulzer finden die Seele vollkommen, wenn sie sich mit Ideen beschäfftigt, und daher die Erklärung des Vergnügens aus der Ideenbeschäfftigung“. (Versuch über die Einseitigkeit, 11) 296 Vgl. Versuch über die Einseitigkeit, 7 f.; 10; 12; 15 ff.; 18 ff.; 26 f.; 28 ff.

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3 Platners psychophysiologische Empfindungs- und Triebtheorie

Vergnügen gänzlich ausschließen, sondern beides für wesentliche Bestandtheile des Vergnügens erkennen, welche, jedoch in ungleichen Verhältnissen, zusammen gemischt wären, je nach dem das Vergnügen geistiger oder sinnlicher ist. (Versuch über die Einseitigkeit, 16)

Vergleichen wir nun Reinholds Kritik an den ‚vier einseitigen Systemen‘ aus seiner Vergnügensschrift von 1788/1789 mit Platners Profilierungsbestrebungen aus den Aphorismen von 1776 und 1782 sowie seines Versuchs über die Einseitigkeit des stoischen und epikurischen Systems, so zeigt sich zwar, dass die sehr allgemein gehaltenen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Denkern, auf welche Lazzari hinweist, tatsächlich vorliegen: ‚Die bisherigen Theorien zur Natur des Vergnügens sind einseitige Auffassungen‘; ‚Alle diese Theorien können jeweils einen Teil der Wahrheit für sich verbuchen‘; ‚Jene Einseitigkeiten rühren von einseitigen Auffassungen der Seele‘ bzw. – bei Reinhold – des Vorstellungsvermögens her; ‚Die korrekte Theorie über die Natur des Vergnügens vereinigt alle einseitigen Positionen‘.²⁹⁷ Bohrt man etwas tiefer, so fällt allerdings auf, dass die hier hervorgehobenen Gemeinsamkeiten nur bezogen auf die Darstellung der Positionen von Wolff, Sulzer und Helvétius vorliegen – nur diese Positionen werden auf eine ähnliche Art und Weise kritisiert. Unterschiede bestehen also nicht in einer generellen Zurückweisung von Standpunkten, die zur Objektivität, Rezeptivität und Spontaneität neigen, außer wenn es um eine explizite Ablehnung einer bloß subjektiven Perspektive geht, da diese Ablehnung – wie gezeigt – nur von Reinhold gegen Pouilly und Dubos vorgenommen wird.²⁹⁸ Des Weiteren ist festzuhalten, dass nur Reinhold sich in seiner Kritik an Sulzer und Helvétius transzendentalphilosophischer Überlegungen bedient und dass die von ihm vorgenommenen Versöhnungsversuche zwischen Wolff und Mendelssohn seinem eigenen – durch Kant beeinflussten – Verstand entspringen. Denn bei Platner findet sich nichts dergleichen.

297 Vgl. Lazzari 2007, 323. 298 Siehe 2.1 der hier vorliegenden Studie.

4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe Aus unseren bisherigen Darstellungen wurde ersichtlich, dass Reinhold nicht nur den Inhalt der Aphorismen korrekt auf den Punkt bringt, sondern dass er sich sogar in seinen eigenen Ausführungen zur Problemlage der bisherigen Systeme bzw. in seiner philosophiegeschichtlichen Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen zu einem großen Teil am Fingerzeig Platners orientiert. Was aber ist nun mit Reinholds eigener Theorie? Wir haben uns dieser in der Erörterung seiner Vergnügensschrift bereits angenähert und konnten dabei aufzeigen, dass sie sich insbesondere durch transzendentalphilosophische Reflexionen zu den konstitutiven Bedingungen der Empfindungen und der Bekräftigung einer apriorischen Sinnlichkeit sowie reinen Spontaneität gegenüber den vorkantischen Vergnügenskonzeptionen auszeichnet.²⁹⁹ Zudem hat sich gezeigt, dass diese eindeutig auf die Kritik der reinen Vernunft zurückführbaren Ausführungen von Reinhold hinsichtlich moraltheoretischer Überlegungen zur Glückswürdigkeit und Glückseligkeit ergänzt werden, was unverkennbar auf den Einfluss der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft zurückführbar ist.³⁰⁰ In den folgenden zwei Unterkapiteln können wir nun in die tieferliegenden Dimensionen von Reinholds Vergnügenstheorie und Trieblehre vordringen. Damit soll eine solide Basis für den im Anschluss erfolgenden sachlichen Vergleich zwischen Reinholds und Platners Theorien geformt werden. Wie wir bereits in ‚Einleitung und Problemstellung‘ erwähnt haben, geht es uns in den nächsten beiden Unterkapiteln um eine Rekonstruktion von Reinholds Theorie der angenehmen Empfindungen und der Triebe mit Rücksicht auf etwaige Implikationen für seine eigenen Ansichten zur Ästhetik im Sinne einer Theorie des Schönen und des Geschmacks. Auch haben wir dort schon darauf hingewiesen, welche Primärquellen hierzu erforderlich sind. Was den Teil unserer Rekonstruktionsbemühungen betrifft, der mit Reinholds Vergnügenskonzeption zu tun hat, ist natürlich die von uns bereits untersuchte Schrift Ueber die Natur des Vergnügens die erste und wichtigste Anlaufstelle, wobei wir uns im Folgenden jederzeit auf unsere Analysen aus dem Hauptkapitel ‚Die Vergnügensschrift‘ beziehen werden und diese bereits als bekannt voraussetzen. Weitere relevante Quellen sind die Jenaer Antrittsrede Ueber den Einfuß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und der Sitten (Geschmacksschrift), in der Reinhold für die These argumentiert, dass

299 Siehe 2.4.2 und 2.5.2 der hier vorliegenden Studie. 300 Siehe 2.4.2 der hier vorliegenden Studie. https://doi.org/10.1515/9783111347875-006

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

„sich der menschliche Geist in den Zeiten und Gegenden, wo der Geschmack am schönsten blühte, […] am sichtbarsten veredelt“ (Geschmacksschrift, 167) hat, die Schrift Ueber die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichts als Erhohlung für Gelehrte und Studierende (Oberon-Eröffnungsrede), in welcher er aufzeigt, wie eine solche Veredelung des Geistes vermittelst literaturwissenschaftlicher Textanalyse begünstigt werden kann,³⁰¹ und der zweite Brief des ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie (Bedürfnis einer obersten Geschmacksregel), in dem unser Elementarphilosoph seiner Leserschaft unter anderem die Wichtigkeit eines ‚allgemeingeltenden ersten Grundsatzes der Ästhetik und Geschmackslehre‘ einschärft.³⁰² Diese Aufsätze eignen sich besonders gut zur Beantwortung der Frage nach der Relevanz der Vergnügensschrift für ästhetische Belange. Für eine Rekonstruktion der elementarphilosophischen Triebtheorie sind zweifelsohne die Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens unentbehrlich, die eine äußerst gedrängte Aneinanderreihung von Gedanken zu verschiedenen Themen der praktischen Elementarlehre – wie z. B. Triebe, Freiheit, Begehren, Moralität und nicht zuletzt auch zum Glauben an eine intelligible Welt und Gott – enthalten, vermittelst welcher Reinhold die zuvor im Versuch aufgestellten – vornehmlich zur theoretischen Philosophie zählenden – Lehrsätze zu ergänzen suchte. Da wir nicht nur Antworten auf die Frage suchen, wie stark unser Elementarphilosoph von den Theoretikern der ‚vier einseitigen Systeme‘ sowie von Platner und Kant beeinflusst wurde, sondern auch das Problem erörtern wollen, ob Reinhold sein Vorhaben gelingt, die von Kant geplante Geschmackskritik vorwegzunehmen, so werden wir in unsere Analysen auch die Kritik der Urteilskraft miteinbeziehen müssen. Jenem Problem in jeder Einzelheit systematisch nachzugehen würde den Rahmen der hier vorliegenden Studie sprengen. Nichtsdestotrotz werden wir vor allem zum Zweck, die ästhetischen Implikationen von Reinholds Vergnügens- und Triebtheorie stärker hervortreten zu lassen, auf die interessantesten Konvergenzen und Divergenzen im Denken der beiden Ästhetiker aufmerksam machen.

301 Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 397 ff.; 304. 302 Vgl. Briefe I, 39 ff.; 49 f.

4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft

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4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft 4.1.1 ‚Lust‘ versus ‚Vergnügen‘ und triebabhängige Interesselosigkeit In dem Unterkapitel Der subjektive Gesichtspunkt haben wir bereits darauf hingewiesen, dass der gleichnamige Paragraph der Vergnügensschrift gar nicht so sehr Dubos‘ und Pouillys Ansichten unverfälscht wiedergibt, sondern Reinholds eigene Gedanken zu den subjektiven Aspekten des Vergnügens enthält. Im Zentrum seiner Überlegungen zu den angenehmen Empfindungen steht die Befriedigung von Bedürfnissen, was sich in der Exposition „Vergnügen ist derjenige Zustand des Gemüthes, der die Befriedigung eines Bedürfnisses begleitet“ (Vergnügensschrift 1788, 62) widerspiegelt. Da Reinhold hiermit nicht ein wesentliches Merkmal irgendeiner besonderen Art des Vergnügens, sondern „des Vergnügens überhaupt (der Gattung, und folglich auch aller Arten)“ (Vergnügensschrift 1788, 164) zu bestimmen beansprucht, hat unter anderem auch das ‚ästhetische Vergnügen‘ – wie er es selbst nennt – etwas mit einer Bedürfnisbefriedigung zu tun.³⁰³ Und da dasjenige, was ein Objekt eines Bedürfnisses ist, allgemein begehrt wird, rechnet er alles Vergnügen – und somit auch das ästhetische – zum Begehrungsvermögen.³⁰⁴ Es ist äußerst wichtig hier hervorzuheben, dass damit nicht ausgesagt wird, dass das ästhetische Vergnügen von einer eigenen Art der Bedürfnisbefriedigung abhängt, weil sich Reinhold darüber nicht äußert; alles was sich sagen lässt, ist, dass das ästhetische Vergnügen nur insofern dem Begehrungsvermögen angehört, als es zur Gattung des Vergnügens zählt. Dem durch Kant geschulten Ästhetiker oder der von der Kritik der Urteilskraft überzeugten Ästhetikerin mag es befremdlich erscheinen, dass das eigentliche Ästhetische, welches durch ein ästhetisches Urteil am Schönen (Geschmacksurteil) ausgedrückt wird, zum Begehrungsvermögen zu zählen ist und dass die beiden Begriffe ‚ästhetisch‘ und ‚Vergnügen‘ überhaupt miteinander verknüpft werden. Denn gemäß der KdU gilt erstens, dass das Geschmacksurteil nicht auf dem Begehrungsvermögen, sondern essentiell auf dem nicht reduzierbaren Vermögen, ‚Lust und Unlust zu fühlen‘, beruht, und zweites, dass aufgrund der ‚Interesselosigkeit des reinen Geschmackurteils‘ die Lust nicht mit dem Vergnügen und Angenehmen sowie den damit verbundenen Empfindungen der ‚Anmut‘ oder ‚Lieblichkeit‘ und gewisser ‚Reize und Rührungen‘ zu verwechseln ist, da diese mentalen

303 Vgl. Briefe I, 48 f. 304 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 47.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Zustände gar nie unparteilich und damit interesselos sein können.³⁰⁵ Die durch ein Geschmacksurteil bewirkte Lust sei weder mit Neigungen noch mit Begierden und folglich auch mit keinem Begehren verbunden, aber das vom Urteilen entbundene Vergnügen um so mehr: Daß nun mein Urteil über einen Gegenstand, wodurch ich ihn für angenehm erkläre, ein Interesse an demselben ausdrücke, ist daraus schon klar, daß es durch Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenstande rege macht […]. Daher man von dem Angenehmen nicht bloß sagt: es gefällt, sondern: es vergnügt. Es ist nicht ein bloßer Beifall, den ich ihm widme, sondern Neigung wird dadurch erzeugt; und zu dem, was auf die lebhafteste Art angenehm ist, gehört so gar kein Urteil über die Beschaffenheit des Objekts, daß diejenigen, welche immer nur auf das Genießen ausgehen (denn das ist das Wort, womit man das Innige des Vergnügens bezeichnet), sich gern alles Urteiles überheben. (KdU, 9 f.)

Mit dieser Abwertung der Bezeichnung ‚Vergnügen‘, die je nach Autor und Theorie Verschiedenes bedeuten kann, richtet sich Kant offensichtlich gegen all diejenigen philosophischen Lustkonzeptionen, nach denen das ästhetische Erleben wesentlich auf heftigen Affekten beruht, die – aus kantischer Perspektive – für die zu erbringende Reflexionsleistung bei der ästhetischen Urteilsbildung nicht gerade zuträglich oder sogar hinderlich sind. Zu dieser – insgesamt relativ heterogenen – Denktradition können z. B. der bereits ausführlicher behandelte Dubos und die schon erwähnten Theoretiker Burke und Verri gezählt werden. Denn nach Dubos ist der menschlichen Natur ein Verlangen nach rührenden, erschütternden und anziehenden Vorstellungen eigen, das es mit ästhetischen Mitteln zu befriedigen gilt, die umso wertvoller sind, je besser sie dies zu leisten vermögen;³⁰⁶ zwar will Burke von der sogenannten ‚Liebe zum Schönen‘ die Begierde nach dem Besitz einer Sache und etwaige Nützlichkeitserwägungen ausgeschlossen wissen, nichtsdestotrotz begreift er diese Liebe als eine Leidenschaft, die in uns Gefühle der Zärtlichkeit und Zuneigung hervorruft, weswegen wir den schönen Gegenstand, wenn auch nicht besitzen, so doch um uns haben wollen;³⁰⁷ das ästhetische Vergnügen wie Verri es fasst, hat von Grund auf etwas mit einem affektbasierten Interesse zu tun, da laut ihm das Ästhetische essentiell zur Kompensation des menschlichen Unglücks dient.³⁰⁸ Selbst die These, dass der kritische Kant sich darüber hinaus auch gegen 305 Vgl. KdU, LVI f.; 5 ff.; 7 ff.; 37 f.; 222 ff. 306 Vgl. Réflexions I, 5 f.; 11 f.; 25 f. Vgl. Réflexions II, 339 ff. 307 Vgl. Enquiry, 67; 162; 191 ff. 308 Vgl. Idee, 61 ff.; 64 f.; 72 f. Kants Aussage in seiner Anthropologie, dass er die „Sätze des Grafen Veri […] mit voller Überzeugung“ (Anth AA VII, 232) unterschreibt, ändert nichts daran, dass Verris Vergnügenstheorie Kants Kritik am Vergnügensbegriff anheimfällt. Denn Kants Zustimmung bezieht sich nicht auf die ästhetische (intellektuelle) Lust, sondern auf die sinnliche Lust bzw. das Vergnügen – wie er es nennt – und dessen Abhängigkeit vom Schmerz. (Anth AA VII, 230 f.)

4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft

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die vorkritische Version seiner selbst richtet, wie sie in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zum Ausdruck kommt, ist nicht von der Hand zu weisen. „Das Erhabene rührt, das Schöne reizt“ (GSE AA II, 209), heißt es dort; in der sechsundzwanzig Jahre später veröffentlichten KdU lesen wir hingegen, dass „der Geschmack […] jederzeit noch barbarisch [ist], wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf“. (KdU, 38) Schließlich „hört auch alle Zensur des Geschmacks gänzlich auf“, wenn man „das Wohlgefallen am Gegenstande ganz und gar darin [setzt], daß dieser durch Reiz oder durch Rührung vergnügt“. (KdU, 130) Obzwar diese Empfindungen mit dem reinen Geschmacksurteil einflusslos verbunden sein dürfen, wird in der dritten Kritik die innige Verknüpfung zwischen denselben und dem Schönen (im Fall der Rührung nicht aber mit dem Erhabenen) aufgehoben.³⁰⁹ Wie in der Ästhetik, so lassen sich auch in der Kunst gewisse Tendenzen ausmachen. Laut der KdU ist „in allen bildenden Künsten […] die Zeichnung das Wesentliche“ bzw. „was durch seine Form gefällt“; „die Farben [hingegen], welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz“ (KdU, 42), der für das reine Geschmacksurteil keine Rolle spielen darf und nur die Schönheit des Dargestellten belebt. Mit diesem Primat der Zeichnung über die Farbe schlägt sich Kant auf die Seite bestimmter Kunstströmungen. Denn etwa schon ein Blick in das 16. und 17. Jahrhundert zeigt, dass bei weitem nicht alle Kunstkritiker und Künstler diese Ansicht teilten. Z. B. kommt der Farbe in der venezianischen Malerei, besonders auffällig bei Bellini (um 1430 – 1516) und Tizian (um 1485 – 1576), eine zentrale kompositorische Rolle zu, während in der florentinischen Malerei, prominent vertreten durch Michelangelo (1475 – 1564) und Raffael (1483 – 1520), die Zeichnung als Gestaltungsmittel bevorzugt wurde.³¹⁰ An der Pariser Académie royale de peinture et de sculpture spitzte sich die

309 „Ein Geschmacksurteil, auf welches Reiz und Rührung keinen Einfluß haben (ob sie sich gleich mit dem Wohlgefallen verbinden lassen), […] ist ein reines Geschmacksurteil.“ (KdU, 38) „Rührung, eine Empfindung, wo Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt wird, gehört gar nicht zur Schönheit. Erhabenheit (mit welcher das Gefühl der Rührung verbunden ist) aber erfordert einen anderen Maßstab der Beurteilung, als der Geschmack sich zum Grunde legt; und so hat ein reines Geschmacksurteil weder Reiz noch Rührung, mit einem Worte keine Empfindung, als Materie des ästhetischen Urteils, zum Bestimmungsgrunde.“ (KdU, 43) „Das Gefühl des Erhabenen […] [ist] eine Lust […], welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist“. (KdU, 75) 310 Vgl. Gombrich 1996, 303 ff.; 315 ff.; 325 ff.; 331 ff.; 390.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Querelle du coloris durch die koloristisch gesinnten Rubenisten und die auf den Vorzug der Linie pochenden Poussinisten zu.³¹¹ Obwohl tatsächlich vertretene Ansichten nichts oder wenigstens nicht unmittelbar etwas über die Allgemeingültigkeit ästhetischer Prinzipien aussagen, scheint vor dem Hintergrund des beklemmenden Gefühls, dass dem in der KdU propagierten Schönheitsideal auch anerkannte Kunstströmungen nicht gerecht werden, die Frage berechtigt zu sein, ob in Kants Ästhetik – selbst unter Beibehaltung ihrer Apriorität und ihres Formalismus – nicht unberechtigte Einseitigkeiten vorliegen: Warum sollte nicht auch dem Zusammenspiel der Farben eine formale Gesetzlichkeit zugrunde liegen, die sich weder auf Empfindung noch Zeichnung reduzieren lässt?³¹² Eine weitere mögliche Einseitigkeit findet sich in Kants Vergleich des ästhetischen Werts der unterschiedlichen Künste; zwar komme der Musik, wenn es „um Reiz und Bewegung des Gemüts zu tun ist“, der zweite Rang hinter der Dichtkunst zu, doch sei sie „mehr Genuß als Kultur“ und habe „durch Vernunft beurteilt, weniger Wert als jede andere der schönen Künste.“ (KdU, 218) An den Werken der Tonkunst wird nicht nur kritisiert, dass sie bei einer unwillkürlichen Wiederholung in der Einbildungskraft ‚eher störend als erfreulich‘ seien, sondern auch, dass sie sich beim Musizieren einem jeden umgebenden Gehör ungewollt aufdrängen und somit ‚der Freiheit anderer Abbruch tun‘.³¹³ Der auf ästhetische Belange angewandte Begriff des Vergnügens überhaupt enthält keine dieser Restriktionen. Denn mit ihm zeigt Reinhold einen breiten Mittelweg auf, durch den freilich extreme Positionen, die ästhetische Phänomene entweder ganz im Gefühl oder ganz im Intellekt veranschlagen, ausgeschlossen werden, der aber für alle einigermaßen gemäßigten Kunstrichtungen offensteht, sich weder diktatorial für noch uneingeschränkt gegen Reiz und Rührung beim Gefallen am Schönen ausspricht und durch den der ästhetische Wert bestimmter Künste nicht allzu sehr geschmälert wird. Z. B. geht Reinhold in der von ihm stammenden Rezension der KdU – welche 1793 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlicht wurde – zwar mit Kant in der Ansicht konform, dass die Poesie unter

311 Vgl. Krings 2004. 312 Ist etwa William Turners (1775 – 1851) Dampfer im Schneesturm (1842) ästhetisch minderwertig, weil in ihm die klare zeichnerische Struktur zugunsten einer auf Farben basierenden Formgebung aufgegeben wird? Siehe Gombrich 1996, 493. 313 Vgl. KdU, 221. Wie Kant in einer Fußnote des § 51 anmerkt, erhebt er mit seiner Einteilung der schönen Künste allerdings nicht den Anspruch auf eine Theorie; vielmehr müsse man sie als „einen von den mancherlei Versuchen, die man noch anstellen kann und soll“ (KdU, 204 Anm.), verstehen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Bemerkung bis zum § 53 ihre Gültigkeit hat, sodass auch die darin enthaltene Abwertung der Musik eher zur Peripherie von Kants transzendentalphilosophischer Ästhetik zu zählen ist.

4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft

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den schönen Künsten den höchsten Rang einnimmt, doch steht er dessen Einschätzungen zur Musik reserviert gegenüber.³¹⁴ Sieht man von Kants Verwendungsweise der Worte ‚Vergnügen‘ und ‚Lust‘ ab und achtet auf den tatsächlichen Gehalt seiner und Reinholds Ausführungen, so lässt sich zeigen, dass Reinholds allgemeine Vergnügenskonzeption nicht in Konflikt mit Kants Ablehnung des mit Interesse verbundenen Angenehmen tritt. Das für das Vergnügen überhaupt vorauszusetzende Bedürfnis ist nämlich kein mit Interesse verbundenes Verlangen nach einem besonderen Objekt, sondern ein Begehren, überhaupt Vorstellungen zu haben; es ist ein Bedürfnis nach der Beschäftigung des Vorstellungsvermögens, dem der Trieb nach Vorstellungen zugrunde liegt.³¹⁵ Ohne jenes Bedürfnis und ohne diesen Trieb würden wir kein Verlangen nach überhaupt nur irgendeiner Vorstellungen besitzen und es wäre uns also auch gleichgültig, ob wir z. B. am Schönen – insoweit es eine Vorstellung ist – Gefallen finden. Gegen dieses höchst allgemeine und fundamentale Begehren, das uns meistens gar nicht bewusst ist – und man mag hinzufügen, uns beim Vollzug des ästhetischen Urteils auch gar nicht bewusst sein darf –, spricht sich Kant keineswegs aus. Denn mit der Interesselosigkeit will er nicht darauf hinaus, dass ein reines Geschmacksurteil erst dann vorliegt, wenn uns sogar das Schöne als solches generell gleichgültig ist. Schließlich ist dieses „Urteil […] indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes [des Schönen]“ (KdU, 14), aber doch nicht grundsätzlich gleichgültig gegenüber dem Dasein der Schönheit – selbst wenn es der Fall ist, dass das Schöne nicht bewusst intendiert sein darf.³¹⁶ Das reine Geschmacksurteil zeichnet sich dadurch aus, dass es weder mit einem Begehren nach dem Vergnügen als solchem oder der Existenz der vergnüglichen Gegenstände noch mit einem Interesse am Nützlichen oder wahrhaft Guten verbunden ist,³¹⁷ aber ohne ein grundsätzliches Begehren nach Vorstellungen würde das Geschmacksurteil wohl kaum realisiert werden, insoweit in jedem Urteil über etwas – und also wenigstens über Vorstellungen – geurteilt wird. Mit Hinblick auf das ästhetische Vergnügen bezieht Rein-

314 „Die Liebhaber der Musik werden die unterste Stelle, die der Vf. [sc. Kant] dieser Kunst unter den Schönen anweiset, für nichts weniger als eine ungerechte Herabwürdigung halten können: wenn sie bedenken, dass die Musik, als schöne und als bloß angenehme Kunst, mit wesentlicher Unterscheidung betrachtet werden muss.“ (Reinhold, Karl Leonhard: Berlin, b. Lagarde: Critik der Urtheilskraft von Immanuel Kant. (Erste Auflage) 1790. Zweyte Auflage. 1793. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1793, Bd. 3, Nr. 191, 1 – 8; Nr. 192, 9 – 16; Nr. 193, 17– 24; Nr. 194, 25 – 32. Im Folgenden zitiert als „Rezension KdU“. Hier: 14) 315 „Alle unsere Bedürfnisse, sie mögen was immer für einen Namen haben, lassen sich auf das Bedürfniß der Beschäftigung unseres Vorstellungsvermögens zurückführen. […] Das Gefühl dieses Bedürfnisses heißt der Trieb nach Vorstellungen“. (Vergnügensschrift 1788, 63) 316 Vgl. Pöltner 2008, 93 ff. Vgl. Höffe 2007, 275 f. 317 Vgl. KdU, 13 ff.

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hold zu den Phänomenen des Reizes und der Rührung nicht nur keine Stellung, sondern sie sind in dem basalen Verlangen nach der Beschäftigung des Vorstellungsvermögens auch nicht impliziert. Bei Kant und Reinhold liegt eine unterschiedliche Auffassung über das Begehrungsvermögen vor. In der KdU wird das Begehrungsvermögen hinsichtlich des Angenehmen und Guten, aber nicht auf der fundamentalen Ebene des Triebes nach Vorstellungen erwogen. Auch gibt es Differenzen in der Gegenstandsgebundenheit des Begehrens. „Durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV, 16 Anm.), ist die Exposition des Begehrungsvermögens, wie man sie in der KpV vorfindet. Und gemäß der Metaphysik der Sitten ist dieses Vermögen dadurch charakterisiert, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ (MS AA VI, 211) Egal ob das Verlangen nun auf die Gegenstände oder auf die Existenz der Gegenstände abzielt, so sind diese Begriffsbestimmungen aus der Perspektive Reinholds zu eng, da er von einem Begehren nach Vorstellungen ausgeht. Diese durchaus plausible Auffassung des Begehrungsvermögens in weitester Bedeutung kann der kantischen Theorie zugrunde gelegt werden, ohne mit ihr in einen sachhaltigen Konflikt zu geraten.³¹⁸ Denn selbst wenn man Kant zustimmt, dass das Schöne nichts mit dem Begehren im Sinne des Angenehmen, Nützlichen und Guten zu tun hat, so kann – oder muss sogar – mit Reinhold die These vertreten werden, dass das Schöne nicht nur dem Gefühl der urteilsabhängigen Lust, sondern auch dem Begehrungsvermögen als einem Trieb nach Vorstellungen angehört.³¹⁹

318 Nach seiner Bekanntschaft mit der KdU wird Reinhold auch ein „Begehren in engerer Bedeutung“ einführen, worunter er „das Bestimmtwerden durch Vergnügen“ (Reinhold, Karl Leonhard: Briefe über die Kantische Philosophie. Bd. 2. Leipzig 1792. Im Folgenden zitiert als „Briefe II“. Hier: 246) versteht. Hierbei geht es ihm aber hauptsächlich darum, das Wollen vom Begehren abzugrenzen. 319 Folgt man einer bestimmten Interpretation, wie etwa derjenigen von Werner Sauer oder Paul Franks, mag man zur Ansicht gelangen, dass die hier dargestellte Vereinbarkeit zwischen Reinhold und Kant überhaupt nichts bezweckt, da der Kritizismus bekanntlich von einem Dualismus der Erkenntnisstämme ausgeht (vgl. KrV, A 15/B 29) und die Elementarphilosophie – damit grundsätzlich unvereinbar – gerade die gemeinsame Wurzel der beiden Stämme im Sinne eines Vorstellungsmonismus einfordere. (Vgl. Sauer 1992, 834. Vgl. Franks 2000, 104) Es ist unschwer zu erkennen, dass Reinhold nach einer solchen Auslegung seines Systems auch der Grundvoraussetzung der KdU widersprechen müsste, nach welcher „das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen“ sich „nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen“. (KdU, XXII f.) Das Problem einer solchen Lesart ist, dass Reinhold selbst nirgendwo von einem derartigen Reduktionismus spricht. Zwar hält er z. B. fest, dass „die Elementarphilosophie […] die wissenschaftliche Quelle der Prinzipien für alle Theile der abgeleiteten Philosophie“ (Fundamentschrift, 117) darstellt, doch können wir nur eine Seite zuvor lesen, dass er mit dieser Quelle nicht auf die Wurzel aller Vermögen abzielt, sondern auf die „systematische Form“ bzw. die „durchgängige

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Als Bestätigung des Gesagten mag die Information dienen, dass Kant in einem Brief vom 28./31. Dezember 1787 Reinhold bereits über seine allgemeinen Pläne zur dritten Kritik informiert hatte. Wie Kant dort mitteilt, hat er durch seine Beschäftigung mit der Geschmackskritik eine neue Art von apriorischen Prinzipien entdeckt, die weder das Erkenntnis- noch das Begehrungsvermögen, sondern das Gefühl der Lust und Unlust betreffen.³²⁰ Reinhold wusste also bereits Anfang 1788 darüber Bescheid, dass die Zuordnung des ästhetischen Vergnügens zum Begehrungsvermögen nicht im Sinne Kants sein kann, insofern man das Begehrungsvermögen auf dieselbe – nicht dem elementarphilosophischen Programm entsprechende – Art und Weise erwägt wie er. Berücksichtigt man überdies, dass unser Elementarphilosoph mit seiner ‚Theorie des Vergnügens‘ hoffte, ‚wenigstens zum Teil Kants Ansichten zu dessen Geschmackskritik getroffen zu haben‘ – wie es in einem Brief vom 19. Januar 1788 heißt –,³²¹ dann ist es wahrscheinlich, dass sich auch Reinhold selbst darüber im Klaren war, dass die Zuordnung des Vergnügens überhaupt zum Begehrungsvermögen im Sinne eines Vorstellungstriebes weder gegen Kant gerichtet ist noch gegen seine Dreiteilung der Gemütsvermögen und allgemeine Ästhetik spricht. Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass Reinhold auch noch in der 1796 erschienen Auswahl vermischter Schriften, die eine überarbeitete Fassung der Vergnügensschrift von 1788/1789 mit dem Titel Ueber die bisherigen Begriffe vom Vergnügen beinhaltet, weiterhin an dem Vergnügen überhaupt als einem mittelbaren bzw. übergeordneten Gattungsbegriff der Geschmackslehre fest-

Einheit mannigfaltiger Erkenntnisse unter einem Princip“. (Fundamentschrift, 116) Zudem macht er an anderer Stelle deutlich, dass die abgeleiteten Sätze des Systems nicht vollständig durch den ersten Grundsatz bestimmt werden; vielmehr sollen nur die ursprünglichen (weiter bestimmbaren) Merkmale der Vorstellbarkeit und die Form des ersten Grundsatzes (die ursprügliche Notwendigkeit der Verbindung von bestimmten Vorstellungen) auf die Folgesätze übergehen. (Vgl. Beyträge I, 115 ff. Vgl. Fundamentschrift, 93 ff.) Indem Reinhold von der – in der fundamentalsten und allgemeinsten Tatsache des Bewusstseins gegründeten – Vorstellung ausgeht und diese als Gattung der voneinander verschiedenen – durch besondere Tatsachen des Bewusstseins bestimmten – Vorstellungsarten konzipiert, kann bei ihm in einem strikten Sinne weder von einem Vorstellungsmonismus, noch von einem Vorstellungspluralismus die Rede sein. 320 „So beschäftige ich mich jetzt mit der Critik des Geschmaks[,] bey welcher Gelegenheit eine neue Art von Principien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn das Vermögen des Gemüths sind drey: Erkenntnisvermögen[,] Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Critik der reinen (theoretischen)[,] für das dritte in der Critik der practischen Vernunft Principien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweyte und ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische[,] was die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mir im menschlichen Gemüthe hatte entdecken lassen[,] […] doch auf diesen Weg[,] so daß ich jetzt drey Theile der Philosophie erkenne[,] deren jede ihre Principien a priori hat“. (KA 1, 300) 321 Vgl. KA 1, 313.

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halten wird.³²² Der Ansicht, dass Reinhold auch nach seiner Lektüre der KdU den Grundthesen seiner Vergnügensschrift treu bleibt, wie sie etwa von Bondeli und Imhof vertreten wird, ist beizupflichten. Wir begegnen den beiden Interpreten bezüglich ihrer Auffassung, dass Reinhold den Vergnügensbegriff betreffend Differenzen zwischen seiner und Kants Lehre festgestellt habe, allerdings mit gewissen Vorbehalten.³²³ Im 1792 veröffentlichten siebten Brief des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie führt Reinhold zwei Arten des Vergnügens überhaupt ein: ‚bloßes Vergnügen‘ und ‚Wohlgefallen‘.³²⁴ Durch das erstere, ‚eigennützige‘ Gefühl, richtet man sich auf seinen eigenen subjektiven Zustand, von dem man „ein mehr oder weniger klares, aber immer undeutliches Bewußtseyn“ hat, das uns „nur als Befriedigung des Bedürfnisses[,] leicht und stark afficiert zu werden[,] interessiert“. (Briefe II, 231) Das letztere hingegen ‚begleitet das bloße Vergnügen‘, wodurch man sich nicht nur fühlend auf sich selbst, sondern auch urteilend auf das vorgestellte Objekt – oder genauer die Vorstellung des Objekts – bezieht. Es wird je nach Art des Gegenstandes ein ‚eigennütziges‘ Wohlgefallen als ‚bloße Folge des Vergnügens‘ und ein ‚uneigennütziges‘ Wohlgefallen als ‚Grund des Vergnügens‘ unterschieden: Entweder„gefällt das Objekt nur um des angenehmen Zustandes willen“, wobei „der Grund des Wohlgefallens […] im Genusse“ (Briefe II, 231) liegt, oder es „gefällt […] um seiner selbst willen“, wobei der „angenehme Zustand des Subjektes […] aus dem Wohlgefallen am Objekte“ (Briefe II, 231 f.) erfolgt. Reinhold sieht beim physischen Wohlgefallen auch den Verstand involviert; man urteilt sodann eigennützig, dass etwas ‚angenehm‘ ist, da das Urteil sich auf das bloße Vergnügen beruft, welches in der Übereinstimmung des sinnlichen Triebes mit dem begehrten Objekt besteht. Das moralische Wohlgefallen und die damit verbundene Uneigennützigkeit heben sich davon ab, da bei diesem das Vergnügen erst auf Basis eines Urteils erfolgt, anhand dessen man seine eigene moralische Gesinnung in Kongruenz mit dem sittlich Guten setzt. In diesen beiden Fällen sowie beim Wohlgefallen am Schönen geht es nicht um Wahrheit, sondern je nach Art des Gefallens darum, ob das vorgestellte Objekt vermittelst eines nicht-logischen Urteils „entweder mit den physischen […], oder mit den ästhetischen, oder mit den moralischen Anlagen des vorstellenden Subjektes, und den durch dieselben bestimmten Forderungen übereinstimmt.“ (Briefe II, 233) Laut Bondeli enthält die hier zusammengefasste Textstelle aus Briefe II eine ‚kleine Kontroverse‘ zwischen Reinhold und Kant sowie eine Replik des ersteren auf

322 Vgl. Vergnügensschrift überarbeitet, 271 ff. 323 Vgl. Bondeli/Imhof 2016, XIII. 324 Vgl. Briefe II, 231 ff.

4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft

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die Ablehnung eines sensitivistischen Vergnügensbegriffs durch den letzteren.³²⁵ Gegen diese Interpretation spricht einerseits, dass der siebte Brief nicht explizit gegen Kant gerichtet ist, und andererseits, dass es darin um die Probleme, ob Lust die Triebfeder des Willens sein kann, ob es ein uneigennütziges bzw. moralisch relevantes Vergnügen gibt und wodurch das sittliche Wohlgefallen hervorgerufen wird, und nur ganz am Rande um das ästhetische Wohlgefallen geht. Außerdem darf hier die große Ähnlichkeit zwischen Reinholds Darstellungen und den empfindungstheoretischen Ausführungen Platners nicht unberücksichtigt bleiben. Wie wir gesehen haben, wird auch in den Aphorismen zwischen der an sich eigennützigen Empfindung, die sich auf den subjektiven Zustand bezieht, und einem die Empfindung begleitenden Wohlgefallen, durch das entweder eher eigennützig über das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt oder uneigennützig über den Gegenstand geurteilt wird, differenziert.³²⁶ Reinhold gibt zunächst Platners Ansichten über Lust und Wohlgefallen wieder (von 231 bis Anfang 232 in Briefe II), was sich nicht nur aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung, sondern auch an der Bemerkung, dass die beschriebene Theorie zwar ‚an fruchtbaren Winken reichhaltig‘ sei, dass es ihr jedoch an einer exakten Begriffsbestimmung ermangle, erweisen lässt.³²⁷ Denn diese Art von Einschätzung nimmt Reinhold typischerweise vor, wenn er etwas an Platners Philosophie zu bemängeln hat.³²⁸ Im Anschluss an jene Kritik finden sich von Kant inspirierte und den Aphorismen abweichende Verbesserungsvorschläge (ab Mitte 232 bis Mitte 234), die sich gegen die darin enthaltene Zuordnung des Wohlgefallens zum Erkenntnisvermögen und eine Ethik, welche den Grund der Sittlichkeit – wenn auch in elaborierter Art und Weise – in den angenehmen Empfindungen oder im Wohlgefallen veranschlagt, richtet. Reinhold nimmt hiermit eine theoretische Neupositionierung vor, weil er vor Veröffentlichung der KdU noch nicht explizit zwischen Vergnügen und Wohlgefallen unterscheidet. Dennoch dürfen die gleichfalls bestehenden Kontinuitäten nicht übersehen werden. In der Vergnügensschrift von 1788/1789 ist das Konzept eines bloßen Vergnügens schon durch die interne Bedingung der angenehmen Empfindungen und die Zugehörigkeit des Vergnügens zum Begehrungsvermögen vorweggenommen, weil diese sich zusammengenommen durch eine sinnlich vermittelte aber nicht zum Erkenntnisvermögen gehörende Referenz auf den aus Vorstellungen bestehenden Zustand des Subjekts auszeichnen. Durch die externe Bedingung des Vergnügens, die Spontaneität, wird überdies bereits auf eine Funktion des Vorstellungsvermögens verwiesen, die nicht zu den Empfindungen als solchen zählt, 325 326 327 328

Vgl. Bondeli 2016, 20 ff. Siehe 3.2.2 der hier vorliegenden Studie. Vgl. Briefe II, 232. Siehe 3.1 der hier vorliegenden Studie.

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diese aber begleitet und für jegliche Art des Vergnügens als einheitsstiftende Funktion erforderlich ist. Dabei handelt es sich aber nur um eines der Theorieelemente des später entwickelten Wohlgefallens. Ein weiteres wird von Reinhold eingeführt, wenn er dem Vergnügen auch einen mittelbaren, vom subjektiven Zustand verschiedenen Gegenstand beimisst, der dem Subjekt auf Grundlage der als Verstand (Urteilskraft) spezifizierten Spontaneität allererst zugänglich gemacht wird.³²⁹ Da Reinhold zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht Kants Ausführungen zum Geschmacksurteil kannte – welches zwar nicht-logisch ist, aber trotzdem Allgemeingültigkeit beansprucht bzw. ‚Gemeingültigkeit‘ impliziert³³⁰ –, rang er sich vermutlich noch nicht dazu durch, gegenüber der bloßen Empfindung sowie gegenüber den theoretischen und praktisch-moralischen Urteilen ein eigenständiges Wohlgefallen zu veranschlagen, weshalb er nur davon spricht, dass beim Verhältnis zwischen Vergnügen und mittelbarem Gegenstand des Vergnügens das Erkenntnisvermögen am Werk ist. Dies impliziert aber nicht, dass Reinhold vor 1790 nur ein bloßes Vergnügen kannte. Immerhin benennt er ja bereits in der Geschmacksschrift drei Arten des Vergnügens überhaupt: das ‚physische Vergnügen‘, bei dem ‚die Sinnlichkeit allein beschäftigt ist‘, das ‚ästhetische Vergnügen‘, das ‚Verstand und Sinnlichkeit gleichermaßen involviert‘, und das moralischen Vergnügen, wo sich der ‚Verstand mehr betätigt als die Sinnlichkeit‘.³³¹ Da sowohl beim moralischen als auch beim ästhetischen Vergnügen nicht nur die alle besonderen Vermögen übergreifende Spontaneität – welche auch schon bei einer alleinigen Beschäftigung der Sinnlichkeit unentbehrlich ist –, sondern auch der Verstand und also eigentliche Urteile eine Rolle spielen, war unserem Elementarphilosophen schon vor seiner Bekanntschaft mit der KdU bewusst, dass das ästhetische Erleben Urteilskraft erfordert.³³²

329 Siehe 2.4.2 und 2.6 der hier vorliegenden Studie. 330 „Das Geschmacksurteil ist […] kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ (KdU, 4) „Dem Geschmacksurteil [muss], mit dem Bewußtsein der Absonderung in demselben von allem Interesse, ein Anspruch auf Gültigkeit für jedermann […] anhängen, d. i. es muß damit ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden sein.“ (KdU, 18) „Eine Allgemeinheit, die nicht auf Begriffen vom Objekte […] beruht, [ist] gar nicht logisch, sondern ästhetisch […]; für welche ich auch den Ausdruck Gemeingültigkeit, welcher die Gültigkeit nicht von der Beziehung einer Vorstellung auf das Erkenntnisvermögen, sondern auf das Gefühl der Lust und Unlust für jedes Subjekt bezeichnet, gebrauche.“ (KdU, 23) 331 Vgl. Geschmacksschrift, 179. 332 Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass mit dem 1792 eingeführten Wohlgefallen nur das ästhetische und moralische Vergnügen eine Neubestimmung erhält, weil diese bereits in der Geschmacksschrift Verstand involvieren. Das dort konzipierte physische Vergnügen bleibt jedoch unverändert bestehen, da dieses laut Reinhold ja nur Sinnlichkeit erfordert. Aus der Perspektive von

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Berücksichtigt man die hier vorgebrachten Zusammenhänge, dann ist die Vermutung, dass Reinhold mit seinen Ausführungen zum Wohlgefallen das Ziel verfolgte, eine Replik zur KdU zu verfassen, als eher unwahrscheinlich einzustufen. Inhaltlich lag für Reinhold einfach kein Grund vor, sich durch Kants Kritik am Vergnügensbegriff angegriffen zu fühlen, da hier im Wesentlichen oberflächliche Diskrepanzen vorliegen, welche die Bezeichnung betreffen. Um gegenüber seinen Lesern Klarheit zu schaffen, war Reinhold nichtsdestotrotz dazu gezwungen, wenigstens indirekt Stellung zu beziehen. Die Kontroverse, auf die Bondeli hinweist, besteht in der Tat, aber nur insofern man unter der Bezeichnung ‚Kontroverse‘ keinen gegenseitigen Austausch von Argumenten und Gegenargumenten versteht, sondern unterschiedliche Einschätzungen zu einer bestimmten Behauptung. Es ist nicht abwegig, die von uns besprochene Passage aus Briefe II derart – und durchaus noch im Sinne Bondelis – zu deuten. Es wird sodann zum einen gegen Kants terminologische Bestimmungen ersichtlich, dass auch das Wohlgefallen unter den Gattungsbegriff des Vergnügens (Vergnügen überhaupt) zu subsumieren ist, wobei Reinhold mit der Unterscheidung zwischen bloßem Vergnügen und Wohlgefallen Kants Differenzierung zwischen dem mit Interesse verbundenen sowie urteilslosen Genuss und dem interesselosen aber urteilsabhängigen Beifall gerecht wird. Zum anderen kann es im Sinne Reinholds auch ein ästhetisches Urteil über das Angenehme geben, das kein bloßes Vergnügen ist, da man laut ihm beim Wohlgefallen nicht nur über das Schöne und sittlich Gute, sondern auch über das Angenehme zu urteilen vermag.³³³ Bondeli macht deutlich, dass sich auf Basis dieser begrifflichen Differenzierungen dafür argumentieren lässt, dass es etwa auch beim Riechen und Schmecken ein auf intersubjektive Standards ausgerichtetes Wohlgefallen gibt, das zurecht den Anspruch auf wahrhafte (nicht bloß komparative) Gemeingültigkeit erhebt, wie es z. B. im Kulinarischen von einem Connaisseur gefordert wird.³³⁴ Dieser Reinhold zuschreibbaren Ansicht steht Kant eher ablehnend gegenüber.³³⁵ Unter den Be-

Briefe II entspricht dieses physische Vergnügen entweder der bloßen Empfindung oder ist eine Spezifikation derselben; von ihm ist jedoch das physische Wohlgefallen zu unterscheiden, welches anders als jenes ästhetische Urteile involviert. 333 Vgl. Briefe II, 233. 334 Vgl. Bondeli 2016, 23. 335 Nach Kant beruht der Geschmack, den man gemeinhin einem guten Gastwirt zubilligt, bloß auf einer ‚komparativen‘ (empirischen, nur induktiv erschließbaren) Allgemeinheit und nicht auf ‚universalen‘ bzw. apriorischen Regeln, deren Anspruch im Geschmacksurteil erhoben wird. (Vgl. KdU, 20 f.) Damit in Übereinstimmung unterscheidet Kant zwischen ‚angenehmen Künsten‘, die diejenigen Reize herbeizuführen suchen, „welche die Gesellschaft an einer Tafel vergnügen können“ (KdU, 178), und den ‚schönen Künsten‘, zu denen er die Poesie, Rhetorik, Musik sowie die bildendenden und darstellenden Künste zählt. (Vgl. KdU, 205 ff.) Die erstgenannten Künste erfordern kein

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dingungen, dass man nicht nur der eigentlichen ästhetischen Lust, sondern auch dem Genuss einen Gemeinsinn zubilligt, sowie dem Genießenden die Fähigkeit, sich dabei in einen uninteressierten Gemütszustand zu begeben, kann es aber selbst dann eine interesselose Beurteilung – die alles Idiosynkratische zu vermeiden sucht – geben, wenn sich das Wohlgefallen auf den Genuss bezieht, wodurch Kants ablehnende Haltung eher unbegründet zu sein scheint.³³⁶ Es ist aber auch die Interpretation möglich, dass Reinhold das Wohlgefallen am Angenehmen in Anlehnung an Kants – in den Prolegomena getroffene – Unterscheidung zwischen den gänzlich aposteriorischen Wahrnehmungsurteilen und den Erfahrungsurteilen, die immer einen apriorischen Anteil aufweisen, als ästhetisches Pendant zu den logischen Wahrnehmungsurteilen konzipiert.³³⁷ Eine ähnliche Kategorisierung wird auch in der KdU vollzogen. Es gilt, dass „ästhetische Urteile […] ebenswohl als theoretische (logische), in empirische und reine eingeteilt werden“ können, wobei „die ersteren […] Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit“ und „die zweiten […] Schönheit von einem Gegenstande oder von der Vorstellungsart desselben aussagen“; nur die letztgenannten sind die „eigentlichen Geschmacksurteile.“ (KdU, 39) In dieser Lesart ist eine wissenschaftliche Geschmackskritik über das Angenehme ausgeschlossen, da es sich bei dem für Urteile vorauszusetzenden Intellekt nur um einen bloß empirischen – d. i. assoziierenden – Verstand handelt. Welche der beiden Interpretationen vorzuziehen ist, lässt sich unserer Ansicht nach aufgrund der Unbestimmtheit in Reinholds Ausführungen nicht abschließend eruieren. Kommen wir nach diesem kurzen Exkurs nun wieder zu unserem Rekonstruktionsversuch zurück.

4.1.2 Über die Arationalität des Schönen Die wohl wichtigste Lehre von Reinholds Vergnügenskonzeption handelt von der starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft bzw. des Vorstellungs-

eigentliches Geschmacksurteil, da „die Lust die Vorstellungen [der Kunstgegenstände] als bloße Empfindungen“ begleitet, wohingegen die letztgenannten Künste eben ein Geschmacksurteil involvieren, weil die Lust die Vorstellungen darüber hinaus „als Erkenntnisarten“ (KdU, 178) begleitet. 336 Zwar kann z. B. der Wein bei einer Verkostung niemals nur um seiner selbst willen gefallen, da diese Art Wohlgefallen sich ohne vorhergegangenen Genuss gar nicht einstellen würde. Auch erweist sich die gustatorische Wahrnehmung gegenüber der visuellen in intellektueller Hinsicht als weit eingeschränkter, da sie anders als diese viel stärker affektgeleitet ist. Auch wenn es schwierig sein mag, ist es aber nicht ausgeschlossen, dass der Weinkenner bei der nachfühlenden Beurteilung sehr wohl von seinem Eigeninteresse und persönlichen Vorlieben absehen kann. 337 Vgl. Prol AA IV, 298 f.

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vermögens, auf die wir im Abschnitt zu Dubos und Pouilly eingegangen sind und zu der es noch einige zentrale Anmerkungen im Unterkapitel ‚Synthese aller einseitigen Perspektiven‘ gab.³³⁸ Gemäß dieser Ausführungen wird der Trieb nach Vorstellungen genau dann befriedigt, wenn die vorstellende Kraft – welche die Vorstellungen tatsächlich hervorbringt – befördert wird oder sich wenigstens ungehindert äußern kann. Diese Befriedigung wird durch ein Zusammenspiel zwischen Rezeptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens bewirkt, das einer starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft gleichkommt, weil aus dem Empfangen eines mannigfaltigen Vorstellungstoffes eine starke Beschäftigung unseres Gemüts erfolgt – wiewohl dieses Empfangen bzw. Empfinden selbst einer leichten Beschäftigung gleichkommt – und aus dem formgebenden Ordnen und Vereinheitlichen jenes Stoffes eine leichte Beschäftigung resultiert – obzwar dieses Vereinheitlichen bzw. Denken selbst eine starke Beschäftigung ist. Es hat sich gezeigt, dass dieses ungehinderte Wechselspiel zwischen sinnlichen und intellektuellen Komponenten des Vorstellungsvermögens, durch das die Vorstellungskraft in ihrer Funktion, Vorstellungen hervorzubringen, begünstigt wird – was in uns Vergnügen verursacht –, von Reinhold nicht auf eine bestimmte Regel bzw. auf einen deutlichen Begriff gebracht wird. Immerhin wird nicht exakt festgelegt, auf welche Art und Weise das Mannigfaltige im Sinne der starken und leichten Beschäftigung auf Einheit gebracht werden muss, um uns vergnüglich zu stimmen. In Anlehnung an Dubos‘ Genieästhetik, in der das Je ne sais quoi der Kunstproduktion und Kunstrezeption im Zentrum steht, haben wir die Vermutung geäußert, dass das Schweigen über die exakte Bestimmung jenes Wechselspiels von Reinhold gewollt ist, um dem unbestimmbaren und unanalysierbaren Wesen nicht nur des ästhetischen Vergnügens, sondern des Vergnügens überhaupt gerecht zu werden.³³⁹ Diese Vermutung kann dahingehend abgesichert werden, dass nach Reinhold – wie gezeigt wurde – jede Empfindung und damit auch alles Vergnügen und Missvergnügen essentiell undeutlich ist bzw. einen Totaleindruck liefert, der sich niemals in Partialvorstellungen zergliedern lässt, durch welche sich der Empfindungsgehalt allererst bestimmen oder analysieren ließe.³⁴⁰ Würde Reinhold darauf bestehen, das Wechselspiel zwischen Rezeptivität und Spontaneität auf eine bestimmte Regel bringen zu können bzw. das Verhältnis zwischen der starken und leichten Beschäftigung exakt bestimmen zu können, dann widerspräche er dem – durch ihn selbst nicht nur zugestandenen, sondern auch stark gemachten – Tatbestand, dass das Wesen der Empfindungen in der Undeutlichkeit liegt. Denn da –

338 Siehe 2.2 und 2.6 der hier vorliegenden Studie. 339 Siehe 2.2.2 der hier vorliegenden Studie. 340 Siehe 2.3.3 der hier vorliegenden Studie.

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positiv gewandt – „das Vergnügen […] in der durch starke und leichte Beschäftigung bewirkten Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen besteht“ (Vergnügensschrift 1789, 47) und „die eigentlichen Objekte […] des Vergnügens […] nicht die Gegenstände, welche das Erkenntnißvermögen beschäftigen, sondern die durch sie bewirkten Veränderungen in unsrem Zustande“ (Vergnügensschrift 1789, 47 f.) sind, beruht die ursprüngliche Quelle, anhand welcher wir herausfinden können, ob sich unser Gemüt in einem günstigen Zusammenspiel der Erkenntniskräfte befindet, auf undeutlichen Vorstellungen, die nicht verworren sind und auf Basis derer deshalb kein deutlicher Begriff von diesem Zusammenspiel möglich ist.³⁴¹ Ohne es explizit anzusprechen, wendet Reinhold in der Oberon-Eröffnungsrede die Prinzipien seiner Theorie des Vergnügens auf ästhetische Belange an. So hält er etwa gemäß seiner These, dass „alle unsere Bedürfnisse […] sich auf das Bedürfniß der Beschäftigung unsres Vorstellungsvermögens zurückführen“ (Vergnügensschrift 1788, 63) lassen, fest, dass eine vorteilhafte Erholung von geistiger Arbeit nicht in der Ruhe, sondern in der intellektuellen Auseinandersetzung mit den schönen Künsten besteht: Der Gelehrte und Studierende bedarf einer Erholung, er bedarf ihrer zum Vortheile seiner Arbeiten selbst. Er bedarf einer Erholung, die sowohl dem Grade als der Beschaffenheit seiner Arbeit angemessen ist. Nur der Körper ersetzt seine erschöpften Kräfte durch Ruhe: der Geist erfrischt die seinigen durch Veränderung der Beschäftigung […]. Er bedarf desto mehr der Nahrung für die Einbildungskraft, je mehr die Vernunft mit Zergliederung allgemeiner Begriffe zu thun hat; bedarf um so mehr der feinen Spiele des Witzes, je ernsthafter, trockner und einförmiger die Arbeit seines Scharfsinns ist; er bedarf um so mehr der Erquickung durch die wohlthätige Wärme des Herzens, jemehr er durch seine Berufspflichten an die kalten Geschäfte des Kopfes gefesselt ist; er bedarf, damit ich alles zusammennehme, des Vergnügens, das ihm die Felder der schönen Wissenschaften in so reichen Maße anbieten. (Oberon-Eröffnungsrede, 389)

Die Poesie eigne sich zur Erholung ganz besonders, da sie nicht nur – wie alle anderen Künste auch – den Vorteil gegenüber der Natur habe, die Schönheit rein hervorheben zu können, ohne sie anderen Zwecken aufopfern zu müssen,³⁴² son-

341 Dies bedeutet allerdings nicht, dass man im Sinne Reinholds nicht versuchen soll, das an sich Begriffslose auf Begriffe zu bringen. Die Paragraphen zwei und sechs der Vergnügensschrift geben das beste Zeugnis dafür ab, dass Reinhold darum bemüht ist, der starken und leichten Beschäftigung des Vorstellungsvermögens, die uns vergnüglich stimmt, auf den Grund zu gehen, dass er sich dabei aber auch – wenigstens dunkel – bewusst darüber ist, dass dieses Unterfangen nie zu einem sicheren und bestimmten Abschluss kommen kann. 342 „Der Liebhaber der Natur findet in den Meisterwerken der Kunst alle die Reize wieder, die er in dem Gebiethe seiner Freundin kennen und lieben gelernt hat; aber findet sie, sie, die er sonst auf jenem weiten Gebiethe an unzähligen Gegenständen mit vieler, oft vergeblicher Mühe aufsuchen

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dern – wie keine andere Kunst – dazu fähig sei, die Einbildungskraft frei spielen zu lassen, indem sie z. B. Möglichkeiten auslotet und an sich Hässliches in Schönes zu verwandeln vermag.³⁴³ Die Dichtkunst habe aber keineswegs nur die Aufgabe zu erholen. Vor allem gelte dies, wenn man sich ihr vermittelst der kritischen Analyse epischer Werke nähert: Erstens befördere die starke und leichte Beschäftigung der geistigen Fähigkeiten, die bei dem vergnüglichen Nachsinnen über literarische Kunstwerke zum Zug kommt, den gelingenden Gebrauch dieser Fähigkeiten in anderen – weniger kunstaffinen – Gebieten; zweitens sei die positive Wirkung, die „der Gelehrte oder Studierende“ aus einem derartigen Vergnügen „ziehen muß, die Reinigung, Verfeinerung und Erhöhung seines Geschmackes.“ (Oberon-Eröffnungsrede, 400)³⁴⁴ Wie sich aus der Geschmacksschrift und der Oberon-Eröffnungsrede erschließen lässt, handelt es sich nach Reinhold bei dem guten Geschmack um eine – auf einer ‚bloßen Anlage‘ gegründeten und zugleich erworbenen – Disposition, durch welche man dazu befähigt wird, gegenüber dem Schönen und Hässlichen die jeweils angemessene Empfindung – d. h. entweder Vergnügen oder Missvergnügen – an den Tag zu legen.³⁴⁵ Im Sinne Reinholds fußt der Geschmack einerseits auf dem angeborenem „Vermögen angenehmer Empfindungen, welches wir mit den Thieren gemein haben“ (Oberon-Eröffnungsrede, 400), und andererseits ist er eine besondere Ausformung der erlernten „Fähigkeit[,] feinere und höhere Schönheiten zu entdecken und zu genießen“ (Oberon-Eröffnungsrede, 403), die zur Conditio humana zählt. Diese Fähigkeit heißt nur„in Rücksicht auf die Werke der Natur und der Kunst […] Geschmack“, denn sie wird „in Rücksicht auf die menschlichen Handlungen, sittliches Gefühl“ genannt und macht erst „in den beiden vereinigten

mußte, – er findet alle diese Reize beym Kunstwerke in einem einzigen Gegenstande vereiniget, von allem fremdartigen geläutert, und in ein Ganzes zusammengewebt, dessen erster überraschender Anblick mit entzückender Wonne, und dessen fortgesetzte Betrachtung mit der Ueberzeugung begleitet wird, daß die Natur dieses Werk gerade so gemacht haben würde, wenn das Vergnügen der Sterblichen ihr einziger Zweck gewesen wäre.“ (Oberon-Eröffnungsrede, 391) 343 „Die Dichtkunst [herrscht] mit unumschränkter Macht so weit das Gebieth der Schönheit reicht; ihr Stoff ist nicht nur alles Wirkliche, sondern auch sogar alles Denkbare; selbst dasjenige, was in der Natur häßlich und unangenehm ist, gewinnt unter ihren Händen Anmuth und Reiz […]. Eben dem Umstande, der ihr von so manchem Unverständigen zum Vorwurfe gemacht wird, daß sie nämlich nur Worte, d. h. nur solche sinnlichen Zeichen in ihrer Gewalt hat, die an sich selbst ohne Bedeutung sind. – eben diesem Umstande, sage ich, hat sie es zu verdanken, daß sie nicht etwa nur an dasjenige gebunden ist, was sich durch Linien Farben, und Töne darstellen läßt, sondern daß ihr die ganze Schöpfungskraft der Phantasie ohne Einschränkung zu Geboth steht.“ (Oberon-Eröffnungsrede, 392 f.) 344 Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 397 ff. 345 Vgl. Geschmacksschrift, 167; 170 f.; 176 ff.; 181 f. Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 400 ff.

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Rücksichten […] diejenige Veredlung der Menschheit“ aus, welche „den Namen der Humanität im strengsten Sinne verdient.“ (Oberon-Eröffnungsrede, 403) Erworben ist die Grundfähigkeit zur Lust am Moralischen und Ästhetischen und damit auch der gute Geschmack, weil das animalische Vermögen angenehmer Empfindungen „nur durch Vernunft zu demjenigen Sinn für Schönheit erhoben [wird,] der dem Menschen eigenthümlich ist“. (Oberon-Eröffnungsrede, 400) Der Kern dieser Überlegungen besteht darin, dass die Ausbildung und Verfeinerung des Geschmacks nicht entweder durch die Übung der Sinnlichkeit oder der Vernunft, sondern im Konnex der beiden und also auch durch den Gebrauch vermittelnder Vermögen – wie der Einbildungskraft oder des Verstandes – erzielt wird: Wenn dieser Sinn [für Schönheit], der als bloße Anlage allen Menschen ohne Unterschied beywohnt, zu derjenigen Fertigkeit und Feinheit hinaufgetrieben werden soll, die den höhern Ständen und zumal den Gelehrten unentbehrlich ist: so kann dieses nur durch eine solche Uebung geschehen, in welcher die beyden Bestandtheile dieses Sinnes, d. i. Gefühl und Vernunft zugleich, und in ihrem innigsten Zusammenhange, in Thätigkeit gesetzt werden. Die vereinzelte Uebung der Vernunft und des Gefühles für sich selbst kann in Ewigkeit keinen Geschmack, muß vielmehr nothwendig das Gegentheil hervorbringen. (Oberon-Eröffnungsrede, 401)

Ohne Dubos beim Namen zu nennen, richtet sich unser Elementarphilosoph sodann auf Basis der These, dass Geschmack auch immer Vernunft erfordert, gegen den französischen Philosophen der Empfindsamkeit und den Teil seiner Lehre, welcher der genieästhetischen Irrationalität huldigt.³⁴⁶ Denn Reinhold scheltet nicht nur die scholastischen ‚Doctores subtiles‘, die ihr ganzes Leben lang bloß mit Abstraktionen und Vernunftschlüssen zubringen, sondern auch die ‚unberufenen Kunstjünger‘, die denken, dass „die ganze Stärke des poetischen Genies […] in der mit gesuchter Regellosigkeit gepaarten Lebhaftigkeit der Empfindungen“ (Oberon-Eröffnungsrede, 402) bestünde.³⁴⁷ Dass hier auch Einflüsse der Regelpoetik und des Klassizismus auf Reinhold zu verzeichnen sind – wie etwa von Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) und Johann Joachim Winckelmann (1717– 1768) –, ist unverkennbar, wird uns im Rahmen der hier vorliegenden Studie jedoch nicht weiter beschäftigen.³⁴⁸ 346 Siehe 2.2.2 der hier vorliegenden Studie. 347 Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 401 f. 348 In seiner Dichtkunst verfolgt Gottsched als ‚Criticus‘ das Ziel, die zugrundeliegenden Regeln der Poetik sowie jene der kritischen Beurteilung poetischer Werke möglichst umfassend zu erörtern, deren Kenntnis er auch als notwendige Bedingung für ein hochstehendes künstlerisches Schaffens versteht – hierbei richtet er sich explizit gegen das Je ne sais quoi der Franzosen. (Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen. 2., verbesserte Aufl. Leipzig 1737, 3; 6; 67 ff.; 77) Für Winckelmann geht hervorragende Kunst mit der Zähmung der Lei-

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Für unsere Belange hingegen wichtig ist, dass Reinhold aufgrund der Unbestimmtheit der starken und leichten Beschäftigung und der essentiellen Undeutlichkeit der Empfindungen, die sich an einer Unterscheidbarkeit und an Differenzen zwischen ästhetischen Merkmalen äußert, welche sich nicht auf Begriffe und bestimmte Regeln bringen lassen, einerseits mit der von Dubos vertretenen Arationalität der ästhetischen Beurteilung und Kunstproduktion konform geht, die außerhalb der Vernunft liegt, aber nicht gegen die Vernunft spricht.³⁴⁹ Andererseits ist Reinhold aber nicht der Ansicht, dass die Irrationalität, welche mit der Vernunft bzw. dem Verstand streitet, den richtigen Zugang zur Kunst und zum Schönen im Allgemeinen bietet. Dubos‘ These, dass hervorragende Kunstwerke zahlreiche Regelverstöße aufweisen können – und also in einem gewissen Sinne widervernünftig sind –, ist dem Denken unseres Elementarphilosophen nicht nur fremd, sondern gänzlich entgegengestellt. Bei allen Unterschieden entspricht seine Geschmackslehre in diesem Punkt eher der Philosophie Wolffs, nach der die Güte eines Werks von dessen Übereinstimmung mit ästhetischen Regeln herrührt, da es in jeder Kunst rational einsehbare Gründe dafür gebe, was dort geschieht, und auch alle Kunstwerke nicht der Gründe ermangeln.³⁵⁰ Natürlich hebt Reinhold sich durch seine eigene Konzeption der Undeutlichkeit und Sinnlichkeit aber auch erheblich von Wolff ab, weshalb er mit diesem nicht die Ansicht teilt, dass die Vollkom-

denschaften und Gefühle einher, was sich in den Kunstwerken widerzuspiegeln habe. Auch wenn er davon überzeugt ist, dass das Schöne nicht definiert werden kann, so lasse es sich dennoch auf bestimmte Prinzipien zurückführen, die es bei der Schaffung künstlerischer Werke einzuhalten gelte. (Vgl. Winckelmann, Johann Joachim: Trattato preliminare dell’arte del disegno degli antichi popoli. In: Winckelmann, Johann Joachim: Monumenti antichi inediti. Bd. 1. Roma 1767, XXXVIf.; XLIV ff.) Erwähnenswert ist auch, dass Reinhold so wie Winckelmann (Vgl. Trattato preliminare, XXXVI ff.) den vortrefflichen Geschmack der antiken griechischen Kultur lobt und auf die Originalität ihrer Kunstwerke hinweist: „Die Griechen in jeder Rücksicht, die edelste Nation unter allen übrigen des Alterthums, zeichnen sich auch unter allen übrigen am auffallendsten durch ihren Geschmack aus; und ihr Vaterland, die alte Schule der gesitteten und gelehrten Welt, ist noch heut zu Tage, in den Ueberresten seiner Geistesfrüchte und in den Trümmern seiner Kunstwerke, die allgemeine Schule des Geschmackes.“ (Geschmacksschrift, 167) 349 Diese Arationalität findet sich bei Dubos z. B. in der These wieder, dass ‚die Empfindungen über die Güte eines Kunstwerkes weit bessere Auskünfte geben als alle Abhandlungen der Kunstrichter‘. (Vgl. Réflexions II, 340) Schließlich wird hier impliziert, dass die Empfindungen das bessere Richtmaß abgeben als die Vernunft, aber es wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass die Empfindungen auch dann Recht behalten, wenn vernünftige Einsichten etwas Empfindungswidriges behaupten. 350 Vgl. Wolff, Christian: Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. (Discursus Praeliminaris de Philosophia in Genere). Übers. u. eingel. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl (Hrsg.). Stuttgart/Bad Cannstatt 2006, 25 f. [§§ 39 f.]. Im Folgenden zitiert als „Discursus praeliminaris“.

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menheit des Gegenstandes ausschließlich eine rationale Qualität ist, die eine Einheit bzw. Ordnung des Mannigfaltigen unter universellen Regeln darstellt und durchgängig auf dem Satz des zureichenden Grundes beruht.³⁵¹ Gute Kunst darf zwar nicht regelwidrig sein, aber weil das Vergnügen an derselben notwendigerweise undeutlich – mithin nicht verworren – ist und die Güte des Kunstwerks zu einem wesentlichen Teil sinnlich erfasst wird, kann die Vollkommenheit des Werkes grundsätzlich nicht alleine durch Regeln und Gründe eruiert werden. Dasselbe trifft aber auch auf die Schönheit im Allgemeinen zu; eine verstandeswidrige Schönheit kommt einer Contradictio in Adjecto gleich, aber eine in rationaler Hinsicht durchgängig bestimmbare Schönheit ist ebenso ein Widerspruch in sich. Damit übereinstimmend ist der Geschmacksschrift zu entnehmen, dass Verstand und Sinnlichkeit gleichberechtigte Teile des ästhetischen Vergnügens sind. Demgegenüber sei das intellektuelle bzw. geistige Vergnügen, zu dem auch die Lust 351 Nach Wolff ist ein „Grund […] dasjenige, wodurch man verstehen kann, warum etwas ist“ (DM, 15 [§ 29]); der Satz vom zureichenden Grund besagt, dass „alles, was ist, seinen […] Grund haben [muss], warum es ist“ bzw. dass „allezeit etwas seyn [muss], daraus man verstehen kan, warum es würklich werden kan.“ (DM, 16 f. [§ 30]) Die Vollkommenheit wird folgendermaßen bestimmt und durch ein Beispiel erläutert: „Die Zusammenstimmung des mannigfaltigen macht die Vollkommenheit der Dinge aus. […] Die Vollkommenheit einer Uhr beurtheilet man daraus, daß die Stunden und ihre Theile richtig zeiget. Sie ist aber aus vielerley Theilen zusammengesezet, und sowohl diese insgesammt als ihre Zusammensetzung gehen da hinaus, daß der Zeiger die Stunden und ihre Theile richtig zeiget. Solchergestalt findet man in einer Uhr mannigfaltige Dinge, die alle mit einander zusammen stimmen.“ (DM, 78 f. [§ 152]) Der Zusammenhang zwischen dem Satz des zureichenden Grundes und der Vollkommenheit besteht darin, dass „in der Vollkommenheit lauter Ordnung“ ist, die einer Erklärung bedarf, weil sie auch immer einen Grund hat; denn „wo eine Vollkommenheit ist, da bezieht sich alles auf einen gemeinen Grund, daraus man erklären kann, warum eines neben dem anderen zugleich da ist, oder eines auf das andere folget“. (DM, 81 f. [§ 156]) Und „da eine jede Vollkommenheit ihren besonderen Grund hat, daraus sie erkannt und beurtheilet wird […]; so hat auch jede Vollkommenheit ihre Regeln“. (DM, 87 [§ 164]) Angewandt auf die Künste besagt das Prinzip des zureichenden Grundes folglich, dass der Künstler einen sorgsam abgefassten Plan davon haben muss, welche unentbehrliche Rolle jeder Teil des Kunstwerkes im Sinne der Ordnung des Mannigfaltigen zu spielen hat. Kennt der Künstler die entsprechende Rolle bzw. den zureichenden Grund für jeden Part, so kann er sicherstellen, dass sein Werk das größte Maß an Vollkommenheit verkörpert. Denn „da die Regeln aus dem Grunde der Vollkommenheit entstehen […]; so ist vollkommener, was den Regeln gemäßer ist“ (DM, 90 [§ 168]), und weil „die Regeln die Vollkommenheit hervor bringen […]; so müssen die Ausnahmen von den Regeln Unvollkommenheit machen“. (DM, 90 [§ 169]) Beispielsweise ist ein „allzugroßer Thorweg eine Unvollkommenheit im Gebäude […], weil er der Symmetrie zuwider ist, welche […] in allen übrigen cörperlichen Dingen, die aus verschiedener Art Theilen zusammengesezet sind, in acht genommen werden muß.“ (DM, 90 f. [§ 169]) Und wenn ein Baumeister vermittelst seiner Einbildungskraft ‚Kunst erfindet‘, dann kann man dies nur „geschehen lassen, wenn der Satz des zureichenden Grundes nicht vergessen wird, und man demselben zu Folge die Zusammensetzung nach den Regeln der Bau-Kunst einrichtet, damit das Gebäude seinen gehörigen Grund der Vollkommenheit erreichet“. (DM, 137 [§ 246])

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am moralisch Guten zählt – die nicht Geschmack, sondern sittliches Gefühl voraussetzt –, abzugrenzen, da es mehr den Verstand als die Sinnlichkeit involviert.³⁵² Obgleich ihrer größeren Beteiligung des Verstandes bieten das intellektuelle Vergnügen und die Lust am Sittlichen keinen erkenntismäßigen und durch deutliche Begriffe vermittelten Zugang zur starken und leichten Beschäftigung, weil beide zur Gattung des Vergnügens gehören, welche einen solchen Zugang prinzipiell ausschließt. Da Reinhold keine Gefühlsethik vertritt und also dem moralischen Vergnügen keine Funktion in der moralischen Urteilsbildung zugesteht, ist dieser Umstand bezogen auf das Erfassen sittlicher Wahrheiten zwar unproblematisch. Vor dem Hintergrund, dass ästhetische und moralische Empfindungen nicht aus exakt denselben Vorstellungen hervorgehen – d. h. der vorgestellte Gegenstand mag derselbe sein, aber die Betrachtungsweise ist jeweils eine andere –, wirkt die Gleichartigkeit dieser Empfindungsarten dem ersten Anschein nach problematisch. Sind nach Reinhold das Vergnügen am Schönen und die Lust am moralisch Guten etwa gleichermaßen arational? Was deren innere Bedingung betrifft, ist dies zu bejahen; bei der äußeren Bedingung des Vergnügens, welche für dasselbe doch immer vorauszusetzen ist, gibt es aber mögliche Unterschiede. Wir erinnern uns, dass das Objekt, welches die angenehme Empfindung verursacht, gemäß der Vergnügensschrift auch deutlich vorgestellt werden kann – es versteht sich unter dem kritisch geläuterten Begriff der Deutlichkeit.³⁵³ Da Reinhold in der betreffenden Textstelle eine solche Vorstellung der Beschaffenheit des Gegenstandes mit dem geistigen Vergnügen assoziiert und weil das ästhetische Vergnügen davon zu unterscheiden ist, ist es nicht ausgeschlossen, dass er auch der Auffassung ist, dass letzteres aus einer undeutlichen und also in rationaler Hinsicht weniger bestimmten Vorstellung hervorgeht.³⁵⁴ Diese Zuordnung ist vor dem Hintergrund der Frage, was Reinhold mit der größeren Beteiligung des Verstandes beim intellektuellen Vergnügen wohl ausgesagt wissen wollte, nicht unberechtigt. Immerhin ist der Intellekt beim Gebrauch von deutlichen Begriffen, die nicht nur generelle Distinktionen verschiedener Merkmale erlauben, sondern durch die zumindest eine dieser Differenzen gehaltvoll bezeichnet werden kann, verglichen mit der Sinnlichkeit stärker involviert als bei der Verwendung von rational unbestimmteren Vorstellungen, wo die Sinnlichkeit stärker hervortritt, weil es entweder nur auf singuläre (anschauliche) oder nur auf generelle (begriffliche) Distinktionen ankommt. Des Weiteren ist es aufgrund der transzendental- und auch elementarphilosophischen Komplementarität der Erkenntnisquellen nicht abwegig, anzunehmen, dass der

352 Vgl. Geschmacksschrift, 179. 353 Siehe 2.3.3 und 2.6 der hier vorliegenden Studie. 354 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 49.

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Unterschied zwischen der unausgeglichenen Beschäftigung von Sinnlichkeit und Intellekt beim geistigen Vergnügen und der ausgeglichenen Beschäftigung beim ästhetischen Vergnügen zum Teil auch auf den Ausdruck des Verstandes zurückzuführen ist, der beim ersten durch Anschauungen bestimmt und beim zweiten durch dieselben unbestimmt ist.³⁵⁵ Bedenkt man darüber hinaus, dass der Verstand beim physischen Vergnügen gar nicht beteiligt ist und hier also weder ein mit bestimmten noch mit unbestimmten Begriffen operierender Intellekt eine Rolle spielt, dann wird die Zuordnung des ästhetischen Vergnügens zum letzteren noch plausibler, weil sich die unbestimmten Begriffe unter der Voraussetzung, dass es nur drei grundlegende Arten des Vergnügens gibt, und auf Basis eines Ausschlussverfahrens nur noch dem ästhetischen Vergnügen zuordnen lassen. Auch wenn sich die Gedankengänge des letzten Absatzes bei Reinhold nicht explizit finden, gibt es also doch Gründe, dass sie seinen eigenen Ansichten entsprechen, nach denen die Lust am Schönen sodann nicht nur an sich arational ist, sondern sogar auf undeutlichen Vorstellungen und unbestimmten Begriffen von dem mittelbaren Objekt des Vergnügens beruht. Bezogen auf die KdU ist diese partielle Begriffslosigkeit des ästhetischen Vergnügens von Bedeutung, da in ihr sowohl gelehrt wird, dass das ‚Schöne ohne Begriff vorgestellt wird‘, als auch, dass sich das Geschmacksurteil nichtsdestotrotz auf unbestimmte – oder vielmehr unbestimmbare – Begriffe der Vernunft beziehen muss.³⁵⁶ Bei all den Ähnlichkeiten ist Kant darin aber deutlicher als Reinhold, da bei diesem z. B. nicht ausdrücklich die Rolle der eigentlichen Vernunft thematisiert wird.

4.1.3 Auf der Suche nach einem ersten Grundsatz der Geschmackskritik Wie aus dem zweiten Brief des ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie ersichtlich wird, besteht eine gewisse Isomorphie im Denken von Reinhold und Wolff, wenn es um das Unterfangen geht, die Künste in ein allgemeines System

355 Da Sinnlichkeit und Verstand sich sowohl nach Kant als auch nach Reinhold in der Erkenntnis ergänzen (vgl. KrV, A 50 ff./B 74 ff. Vgl. Versuch, 345 ff.; 348 ff.), ist eine in rationaler Hinsicht unbestimmtere Vorstellung zugleich auch eine Vorstellung, die einen Mangel in der anschaulichen Vermittlung aufweist, insofern es sich bei ihr um einen Begriff handelt. 356 KdU, 17; 234 ff. Der hier dem ersten Anschein nach vorliegende Widerspruch lässt sich beheben, insofern in § 6 der KdU von eigentlichen Verstandesbegriffen bzw. bestimmten Begriffen die Rede ist, die als notwendige Bedingungen der Erkenntnisurteile weder als Zweck noch als Grund der reinen ästhetischen Lust dienen können. Diese Begriffe werden in § 57 von den Vernunftbegriffen bzw. unbestimmten Begriffen abgegrenzt, durch die sich weder Erkenntnisse gewinnen noch Beweise führen lassen, die sich aber gerade deshalb als Grund für das Geschmacksurteil eignen.

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der Philosophie ein- oder wenigstens unterzuordnen. Während Wolff durch die Philosophie alle Künste systematisieren und erklären will,³⁵⁷ fordert Reinhold eine ‚erste und oberste Grundregel des Geschmacks‘ und spricht sich damit gegen eine Ästhetik aus, die „bey allen ihren reichhaltigen Materialien ein bloßes Aggregat größtentheils unzusammenhängender, schwankender, [und] halb wahrer Bemerkungen“ (Briefe I, 49) bleibt.³⁵⁸ Demnach ist es auch nicht verwunderlich, dass die Ästhetik diejenige Wissenschaft sein soll, welche „die Grundsätze, die aller Kritik des Geschmacks zum Grunde liegen, aufsucht, und in einem systematischen Zusammenhange aufstellt.“ (Briefe I, 43) Bei all den durchaus bestehenden Differenzen gibt es hier auch verglichen mit Pouillys Betonung der Wissenschaftlichkeit Übereinstimmungen; zwar besteht eine wesentliche Abweichung darin, dass Pouilly seine Ausführungen zur Naturlehre zählt, allerdings erhebt er einen ähnlichen Anspruch, wenn er seine Empfindungstheorie auf möglichst durchdachte Begriffe und gesicherte Tatsachen gegründet wissen will.³⁵⁹ Wie ist nun Reinholds Forderung mit der KdU in Beziehung zu setzen? Kant lehnt ein ‚objektives Prinzip des Geschmacks‘ ab, worunter er ein solches versteht, auf Basis dessen sich diskursiv bestimmen ließe, ob ein bestimmter Gegenstand schön ist.³⁶⁰ Reinhold geht es keineswegs um objektive Prinzipien in dem eben genannten Sinne. Einerseits zeigt sich dies daran, dass er keine begrifflichen Fixierungen vornimmt, die den Geschmack und das Schöne exakt definieren würden, andererseits aber auch daran, dass er die Ästhetik – wie vorhin zitiert – streng genommen nicht als eine Wissenschaft des Geschmacks, sondern der Kritik des Geschmacks begreift. Indem die Ästhetik nur die Grundsätze zur Kritik des Geschmacks liefert, befindet sie sich gegenüber der ästhetischen Beurteilung auf einer Metaebene, die gar nie zu den konkreten Geschmacksurteilen herabsteigt. Dies entspricht der Sache nach aber ganz dem Verständnis Kants, der sich ja nicht gegen jedes Theoretisieren in der Ästhetik ausspricht, weil er eine „Berichtigung und Erweiterung unserer Geschmacksurteile“ für sinnvoll hält, insofern man dabei „über die Erkenntnisvermögen und deren Geschäfte in diesen Urteilen Nachforschungen“ anstellt, ohne zu versuchen „den Bestimmungsgrund dieser Art ästhetischer Urteile in einer allgemeinen brauchbaren Formel darzulegen“. (KdU, 143 f.) Wie bei Reinhold ist auch bei ihm dezidiert von einer Wissenschaft der Kritik des

357 Vgl. Discursus praeliminaris, 25 [§ 39]. 358 Vgl. Briefe I, 39 ff.; 49 f. 359 „Du moins sera-t elle [sc. la marche] également sûre, si on a l’attention de ne s’appuyer que sur des faits incontestables & sur des idées distinctes.“ (Théorie des sentimens, 85) La Théorie des sentimens […] n’est qu’une des branches de la Physique“. (Théorie des sentimens, 91) 360 Vgl. KdU, 143.

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Geschmacks die Rede, welche die Aufgabe hat, die Regeln und Bedingungen der Reziprozität zwischen den Erkenntniskräften zu ermitteln.³⁶¹ Reinhold stellt keinen ersten Grundsatz der Kritik des Geschmacks auf – jedenfalls tut er dies nicht explizit. Bedenkt man allerdings, dass es sich bei dem gesuchten ersten Grundsatz ‚aller Kritik des Geschmacks‘ nicht um ein Axiom handeln kann, auf Basis dessen sich entscheiden ließe, ob z. B. Michelangelos vatikanische Pietà oder Canovas Armor und Psyche die vortrefflichere Skulptur sei, da durch einen solchen Fundmentalsatz bloß die allgemeinsten Bedingungen des Geschmacks aufgestellt werden, so fällt sogleich Reinholds Beschreibung der starken und leichten Beschäftigung des Vorstellungsvermögens ins Auge. Insofern man davon ausgeht, dass „der Begriff der Schönheit […] die Regel des Geschmackes enthalten“ und dass „das Merkmal […], welches das Verhältnis der Schönheit zum Empfindungsvermögen und zur Denkkraft zugleich ausdrückt, […] sinnliche Vollkommenheit“ (Briefe I, 47) heißen muss, kann man sehr leicht auf die Idee kommen, dass die Einheit des Mannigfaltigen, welche für diese Vollkommenheit erforderlich ist, durch das korrekte Verhältnis zwischen der starken und leichten Beschäftigung bzw. dem richtigen Zusammenspiel zwischen den Erkenntniskräften ausreichend bestimmt ist. So gedacht, würde sich daraus ergeben, dass dieses Zusammenspiel, in einer Proposition ausgedrückt, den besten Kandidaten für die oberste Regel der Kritik des Geschmacks abgibt. Eine solche Auffassung lehnt unser Elementarphilosoph in einer Auflistung möglicher Grundsätze allerdings unmissverständlich ab: Der andre meynt, die Vollkommenheit, von der bey der Schönheit die Rede ist, dadurch genug ausgezeichnet zu haben, daß er sie für diejenige Mannigfaltigkeit erklärt, welche der Stärke, verbunden mit derjenigen Einheit, welche der Leichtigkeit der Beschäftigung des Gemüthes – oder dem Vergnügen zum Grunde läge, und die dem Gegenstand, an welchem sie wahrgenommen würde, zum Objekt des Vergnügens mache. Er nennt daher sogar das Vergnügen überhaupt sinnliche Vorstellung der Vollkommenheit, und vergißt, daß es hier nicht um den Gegenstand des Vergnügens überhaupt, sondern des ästhetischen Vergnügens; nicht um das Merkmal des Angenehmen, sondern des Schönen zu thun war. (Briefe I, 47 f.)

361 „Die Kritik des Geschmacks [ist] selbst nur subjektiv in Ansehung der Vorstellung, wodurch uns ein Objekt gegeben wird; nämlich sie ist die Kunst oder Wissenschaft, das wechselseitige Verhältnis des Verstandes und der Einbildungskraft zueinander in der gegebenen Vorstellung (ohne Beziehung auf vorhergehende Empfindungen oder Begriffe), mithin die Einhelligkeit oder Mißhelligkeit derselben unter Regeln zu bringen und sie in Ansehung ihrer Bedingungen zu bestimmen. Sie ist Kunst, wenn sie dieses nur an Beispielen zeigt; sie ist Wissenschaft, wenn sie die Möglichkeit einer solchen Beurteilung von der Natur dieser Vermögen als Erkenntnisvermögen überhaupt ableitet. Mit der letzteren als transzendentaler Kritik haben wir es hier überall allein zu tun. Sie soll das subjektive Prinzip des Geschmacks als ein Prinzip a priori der Urteilskraft entwickeln und rechtfertigen.“ (KdU, 144)

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Die starke und leichte Beschäftigung ist zwar ein ausgezeichneter Kandidat für das erste Prinzip des Vergnügens überhaupt, aber kann aufgrund ihrer Unterbestimmung in Bezug auf das wahrgenommene Schöne nicht auch als Grundprinzip der Geschmackslehre fungieren. Wollte sie auch Letzteres sein, so müsste sie hinsichtlich des ästhetischen Vergnügens spezifiziert werden. Eine solche Spezifikation – im Sinne eines Gattung-Art-Verhältnisses – nimmt Reinhold jedoch nirgendwo vor, weshalb sich bloß sagen lässt, dass die oberste Grundregel der Geschmackskritik mit dem Zusammenspiel zwischen den sinnlichen und intellektuellen Elementen des Vorstellungsvermögens zu tun hat, dass sie aber näherhin bestimmt werden müsste, um auch ästhetischen Belangen gerecht zu werden. An dieser Stelle ist ein erneuter Vergleich mit der KdU naheliegend. Weil nach Kant das Geschmacksurteil kein Erkenntnisurteil ist, sondern eine ursprüngliche Beziehung zur Lust und Unlust aufweist, ist es ‚weder auf (bestimmte) Begriffe gegründet, noch auf diese abgezweckt‘. Dementsprechend ist es auch ‚nicht durch Beweisgründe bestimmbar‘, ganz gleich, ob sich diese Gründe auf die Empirie stützen oder a priori durch bestimmte Regeln erfolgen. Und weil das Geschmacksurteil interesselos ist und es somit nicht mit irgendeiner Neigung getätigt wird, erhebt man durch ein ästhetisches Urteil den Anspruch, dass das Beurteilte nicht nur einem selbst, sondern auch allen anderen gefällt bzw. gefallen wird, insofern sie sich – so wie man selbst – in der richtigen Gemütslage befinden.³⁶² Es gilt: Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren. Also kann es auch keine Regel geben, nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen. Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei, dazu läßt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze aufschwatzen. Man will das Objekt seinen eigenen Augen unterwerfen, gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung abhinge; und dennoch, wenn man den Gegenstand alsdann schön nennt, glaubt man eine allgemeine Stimme für sich zu haben, und macht Anspruch auf den Beitritt von jedermann. (KdU, 25)

Jener – von allen Wesen, die der menschlichen Gemütskonstitution entsprechen, potentiell geteilte – Gemütszustand, auf Basis welchem gültige Geschmacksurteile gefällt werden, zeichnet sich nach Kant durch ein ‚freies Spiel der Erkenntniskräfte‘ aus, dessen Akteure die Einbildungskraft auf der einen und der Verstand auf der anderen Seite sind, wobei der Intellekt die Einbildungskraft – anders als bei der Erkenntnis – nicht durch bestimmte Begriffe und feste Regeln unter seine Kontrolle bringt, sondern der produktiven Phantasie den Freiraum lässt, verschiedene Vor-

362 Vgl. KdU, 14; 17 f.; 19 f.; 113 ff.; 133 ff.; 136 ff.; 140 ff.; 145 f.

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stellungen ungehindert, aber doch auf eine nicht näher bestimme harmonische – dem Verstand grundsätzlich gemäße – Art und Weise miteinander zu verbinden.³⁶³ Dass die Einbildungskraft in diesem Spiel nicht völlig frei agiert, sondern einer gewissen Gesetzeshaftigkeit zu folgen hat – genauer gesagt von sich selbst aus dieser Gesetzeshaftigkeit folgt –, welche jedoch auf bestimmte Regeln Verzicht tut, spiegelt sich in Kants abschließender Exposition des Geschmacks wider. Nach dieser Bestimmung ist der Geschmack nämlich „ein Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes in Beziehung auf die freie Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft“. (KdU, 68 f.) Es gebe zwar kein ‚Wohlgefallen am Schönen‘ ohne den Verstand, aber wenn ‚die Einbildungskraft genötigt wird, nach bestimmten Gesetzen vorzugehen und folglich durch Begriffe bestimmt wird‘, dann liege erst recht kein solches Wohlgefallen vor.³⁶⁴ Dass die Einbildungskraft nicht ohne den Verstand – vielmehr durch den Verstand – spielt, ist jedoch nicht als eine Einschränkung, sondern als eine Beförderung, Unterhaltung und ursprüngliche Freisetzung der Phantasie zu begreifen. Denn „der Verstand [ist] der Einbildungskraft, und nicht diese jenem zu Diensten“. (KdU, 71) Die Freiheit an der Gesetzmäßigkeit beim Spiel der Erkenntniskräfte bringt Kant mit dem Ausdruck ‚Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz‘ auf den Punkt. Dies will heißen: Das Spiel zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist kein chaotisches Durcheinander, mithin nicht irrational, dennoch muss bei ihm auf bestimmte Regeln verzichtet werden, weshalb es in dieser Rücksicht ein arationales Moment enthält. Das freie Spiel ist zwanglos und jeder Zwang (durch bestimmte Begriffe und Regeln) ist seiner eigentümlichen Harmonie abträglich. Im freien Spiel werden die Erkenntniskräfte durch diese uneigentliche – weil zwanglose – Beschäftigung ‚belebt‘.³⁶⁵ Indem Kant seine Lehre auf die Streitfrage anwendet, ob ‚geometrisch-regelmäßige Gestalten‘, wie etwa ‚Quadrat‘ und ‚Würfel‘, schön genannt werden dürfen, zeigt er zudem, dass die Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz sich nicht nur auf der Ebene des freien Spiels der Gemütskräfte niederschlägt, sondern im Allgemeinen auch auf der Ebene der wahrgenommenen Natur- und Kunstgegenstände zum Tragen kommt. Denn wie nicht anders zu erwarten war, lehnt Kant die Bezeichnung ‚schön‘ für Figuren, die nicht mehr als geometrische Bestimmungen an sich haben, ab, weil hier noch alles dem ‚Zwang der Regel‘ unterliegt.³⁶⁶ Umgekehrt gilt jedoch auch,

363 Vgl. KdU, 28 ff.; 68 ff. 364 „Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (nicht in der Sinnenempfindung, noch durch einen Begriff ) gefällt.“ (KdU, 180) 365 Vgl. KdU, 31; 69. 366 „Alles Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich das [sic!] Erkenntnis oder einen bestimmten praktischen

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dass die ‚veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers oder eines Baches‘ als solche nicht schön genannt zu werden verdienen, weil diese der Ausdruck einer Regellosigkeit sind, die nicht der Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz Genüge leisten kann.³⁶⁷ Demzufolge muss man sich „an einem Produkt der schönen Kunst […] bewußt werden [können], daß es Kunst sei“ –was eine gewisse Regelhaftigkeit voraussetzt –, aber dennoch muss es „von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.“ (KdU, 179) Auf der Ebene der Kunstproduktion verhält es sich nicht anders: Der ‚ästhetische Geist‘, welcher als ‚ein belebendes Prinzip im Gemüt‘ zur Exzellenz eines Kunstwerks unentbehrlich ist,³⁶⁸ liegt wesentlich in einer ‚ästhetischen Idee‘, die „viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann“ und „die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“ (KdU, 192 f.)

4.1.4 Die starke und leichte Beschäftigung im Verhältnis zum freien Spiel Berücksichtigen wir das bisher Ausgemachte, dann sind die Ähnlichkeiten zwischen Reinholds starker und leichter Beschäftigung des Vorstellungsvermögens und Kants freiem Spiel der Erkenntniskräfte frappierend. Die starke und leichte Beschäftigung mutet wie eine rudimentäre Form des freien Spiels an. Bei beiden Gemütszuständen liegt ein nicht bis ins letzte Detail bestimmtes Zusammenwirken zwischen Sinnlichkeit und Verstand vor, das keinen bestimmten Regeln entspricht und dennoch nicht völlig regellos ist; beide ähneln sich auch darin, dass sie – als entweder mittelbare oder unmittelbare Prinzipien der Kritik des Geschmacks gedacht – zu der

Zweck zur Absicht hat, lange Weile macht. Dagegen ist das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines Anblickes nicht überdrüssig.“ (KdU, 72) 367 Vgl. KdU, 70 ff. Demgemäß führt Kant auch aus, dass das reine Geschmacksurteil auf die Zusammenstellung eines Kunstwerkes abzielt, welche intellektuell und gesetzesmäßig ist, und dass z. B. Farben und Töne diese Zusammenstellung bloß beleben: „Der Reiz der Farben oder angenehmen Töne des Instruments kann hinzukommen, aber die Zeichnung […] und die Komposition […] machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus“. (KdU, 42) 368 „Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, daß sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind ohne Geist; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft, nichts zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant sein, aber es ist ohne Geist. […] Was ist denn das, was man hier unter Geist versteht? Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.“ (KdU, 192)

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Ablehnung einer streng rationalen Regelästhetik – im Sinne Wolffs – verpflichten, ohne diese dabei einer allzu schwärmerischen und irrationalen Genieästhetik – im Sinne Dubos – Preis zu geben. Zieht man das folgende Zitat aus der KdU in Betracht, dann liegt nicht einmal mehr die spekulative These fern, dass die starke und leichte Beschäftigung Reinholds eine Inspirationsquelle für Kant darstellte: Die subjektive Bedingung aller Urteile ist das Vermögen zu urteilen selbst, oder die Urteilskraft. Diese, in Ansehung einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, gebraucht, erfordert zweier Vorstellungskräfte Zusammenstimmung: nämlich der Einbildungskraft (für die Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben) und des Verstandes (für den Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammenfassung). […] Weil eben darin, daß die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert, die Freiheit derselben besteht, so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit, also auf einem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung der Erkenntnisvermögen in ihrem freien Spiele beurteilen läßt. (KdU, 145)

Wie aus dem Kontext dieser Textstelle und daraus, dass Kant hier die ‚Zusammenstimmung zwischen Einbildungskraft und Verstand‘ als eine ‚im freien Spiel wechselseitig belebende‘ bestimmt, ersichtlich wird, wird mit den Aussagen, dass ‚die Einbildungskraft für die Anschauung und Zusammensetzung des Mannigfaltigen‘ und ‚der Verstand für die Einheit dieser Zusammensetzung‘ zuständig ist, nicht nur auf die strukturellen Voraussetzungen für die Urteilskraft, sondern auch auf die grundlegenden Bedingungen des freien Spiels hingewiesen. Wir erinnern uns, dass Reinhold die starke und leichte Beschäftigung gerade durch ein solches, sich auf die Vorstellungskraft förderlich auswirkendes, Zusammenspiel von Mannigfaltigkeit und Einheit charakterisiert,³⁶⁹ woraus sich ergibt, dass er schon vor Kant die Signifikanz dieser Zusammenstimmung für die ästhetische Lust erkannt und indirekt – d. h. vermittelst des Vergnügens überhaupt – auf sie hingewiesen hat. Auch wenn die Rolle, welche die produktive Einbildungskraft dabei übernimmt, in der Vergnügensschrift nicht explizit erwähnt wird, so wird die Wichtigkeit der Einbildungskraft doch aus der Oberon-Eröffnungsrede offenkundig – was von uns bereits

369 Siehe 2.6 der hier vorliegenden Studie. „Durch die Sinnlichkeit wird dem Triebe das Mannigfaltige, von welchem die Stärke seiner Beschäftigung abhängt, gegeben. Der andere Theil des Erkenntnißvermögens, welcher das Mannigfaltige auffaßt, und dem bloßen Stoffe die Form der Vorstellung giebt, ist die Thätigkeit, die Spontaneität des Gemüthes, der Verstand in seiner weitesten Bedeutung. Durch die wesentliche Mitwirkung dieses thätigen Vermögens kömmt Einheit ins Mannigfaltige, und folglich leichte Beschäftigung.“ (Vergnügensschrift 1789, 50)

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angedeutet wurde.³⁷⁰ Wenn Reinhold im transzendentalphilosophischen Sinne von der Sinnlichkeit spricht und damit nicht auf eine bloße Empfänglichkeit verweist, dann ist auch immer die produktive Einbildungskraft mitgemeint, da er die Ausführungen aus der KrV dazu kannte, nach welchen dieselbe sowohl zur Sinnlichkeit als auch zum Verstand gehört.³⁷¹ Die Entdeckung, dass das freie Spiel Kants seine Vordenker hat, ist natürlich nicht neu. So können wir etwa bei Paul Guyer von einer Traditionslinie lesen, die er als ‚Ästhetik des Spiels‘ bezeichnet und zu der er nicht weniger als achtzehn vorkantische Theoretiker zählt oder es zumindest für vertretbar hält, sie dazu zu rechnen – darunter z. B. die Briten Joseph Addison (1672 – 1719) und Alexander Gerard (1728 – 1795), aber auch Dubos und Mendelssohn.³⁷² Von Reinhold ist hingegen gar keine Rede, weshalb Guyer zu der – unserer Ansicht nach nicht ganz richtigen – Einschätzung kommt, dass die Idee des freien Spiels erst durch Kant eindeutig in die deutsche Ästhetik eingeführt wurde.³⁷³ Zwar ist es so, dass das freie

370 Siehe 2.2.2 der hier vorliegenden Studie. Reinhold erwähnt sogar explizit die produktive Einbildungskraft (Vgl. Oberon-Eröffnungsrede, 397), was von Bedeutung ist, da diese anders als die reproduktive Phantasie nicht nur Gegebenes gemäß empirischen Gesetzen assoziiert, sondern – wohlgemerkt unter transzendentalen und verstandesmäßigen Bedingungen – wahrhaft schöpferisch tätig ist. Schließlich ist die Einbildungskraft als eine schöpferische laut Kant für das freie Spiel der Erkenntniskräfte erforderlich: „Wenn nun im Geschmacksurteile die Einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden muß, so wird sie erstlich nicht reproduktiv, wie sie den Assoziationsgesetzen unterworfen ist, sondern als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen) angenommen“. (KdU, 69) „Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt.“ (KdU, 193) 371 „Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist. […] So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der reproduktiven, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört.“ (KrV, B 151 f.) 372 Vgl. Guyer 2014, 32; 65; 67 ff.; 73 f.; 78; 81; 97 f.; 105; 109; 124; 129; 135; 142; 146 ff.; 154; 157 ff.; 176; 180; 193; 195; 200; 227; 236 f.; 257 ff.; 265; 270; 280 f.; 355; 363; 373 f. 373 Vgl. Guyer 2014, 340.

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Spiel erst durch Kant dezisiv ausformuliert wurde, doch ist dieses Bild unvollständig, solange Reinholds Vorreiterrolle unberücksichtigt bleibt. Ansonsten ist Guyers Zuordnungen im Allgemeinen beizupflichten, jedoch nur wenn man das freie Spiel beim Großteil der von ihm behandelten vorkantischen Denker in einem sehr weiten Sinne als ein ästhetisches Erleben fasst, das ‚im Wesentlichen in einer angenehmen Verbindung von Vorstellungen besteht‘.³⁷⁴ Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Dubos Reinhold in seiner eigenen Konzeption des ungehinderten Wechselspiels der Erkenntniskräfte beeinflusst hat (auch wenn der Einfluss von Pouilly – den Guyer nicht behandelt – hier stärker ausfällt).³⁷⁵ Insoweit seine Ausführungen als ein Vorläufermodell von Reinholds Vergnügnstheorie gelten können, ist er zwangsläufig auch als ein früher Wegbereiter Kants anzusehen. Dubos‘ Hinweis auf eine weder langweilige noch allzu anstrengende Beschäftigung des Geistes, die im Empfinden und Denken besteht, deutet das Konzept eines freien Spiels zwischen Sinnlichkeit und Verstand allerdings nur an und entwickelt es bei weitem nicht vollständig.³⁷⁶ Ähnliches lässt sich auch über die anderen sogenannten ‚Ästhetiker des Spiels‘ sagen. In der Tat weist etwa der Schriftsteller und Staatsmann Addison in der viel gelesenen Londoner Tageszeitung The Spectator (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen bis zum heutigen Tag erscheinenden Zeitschrift), die auch international Berühmtheit erlangte, bereits 1712 auf eine gewisse Form des freien Spiels hin. Immerhin stellt er die Einbildungskraft in das Zentrum seiner vergnügenstheoretischen Überlegungen und betont dabei den angenehmen und ungehinderten Gebrauch unserer geistigen Fähigkeiten, der weder zu entspannend noch zu mühsam ist. Doch grenzt er die damit einhergehenden ‚pleasures of the imagination‘ von den ‚pleasures of the understanding‘ ab und integriert die beiden nicht in ein umfassendes Bild; auch entspringt die erstgenannte Art der Lust – in Auseinandersetzung sowohl mit Gegenständen als auch ihren mentalen Repräsentationen – zuletzt aus einem visuellen Prozess, wodurch ein nicht unerheblicher Teil ästhetischer Phänomene unberücksichtigt bleibt.³⁷⁷ Guyer hält es – unserer Ansicht nach zurecht – für wahrscheinlich, dass insbesondere Gerards und Mendelssohns Ausführungen zum freien Spiel wichtig für die Entwicklung von Kants Ästhetik waren, und dies nicht nur weil er dieselben nachweislich kannte.³⁷⁸ Wie schon Dubos vor ihm hält der schottische Universi-

374 Vgl. Guyer 2014, 97 f. 375 Siehe 2.2.1 der hier vorliegenden Studie. 376 Vgl. Réflexions I, 6 ff.; 25. 377 Vgl. Addison, Joseph: The Pleasures of the Imagination. In: Donald F. Bond (Hrsg.): The Spectator. Bd. 3, Oxford 1987, 535 – 582. Hier: 535 ff.; 539 ff.; 558 ff.; 574 ff. 378 Vgl. Guyer 2014, 158 f.; 174; 342; 355.

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tätsreformator Gerard in seinem preisgekrönten und einflussreichen Werk An Essay on Taste fest, dass eine moderate Beschäftigung, welche das Gemüt fordert ohne es zu ermüden, angenehm ist. Er geht aber auch wesentlich über Dubos hinaus, indem er nicht nur den reziproken Einfluss der Emotionen würdigt und zu den ästhetisch relevanten Vermögen die ‚powers of imagination‘ – die er in Anlehnung an Hutcheson als ‚internal‘ oder ‚reflex senses‘ fasst, weil sie höherstufige mentale Prozesse involvieren –, sondern auch die Urteilskraft zählt, welche mit allen anderen Fähigkeiten im richtigen Verhältnis zusammenstimmen muss, um wahren Geschmack hervorzubringen.³⁷⁹ In dem Aufsatz Rhapsodie, der im zweiten Band der Philosophischen Schriften ³⁸⁰ zu finden ist und dem Anspruch nach als eine Erweiterung und Korrektur von Ueber die Empfindungen dient, macht Mendelssohn deutlich, dass in manchen Fällen der Sinneslust eine Überseinstimmung zwischen der Harmonie des Körpers und der Seele vorliegt, sodass „das ganze System ihrer Empfindungen und dunkeln Gefühle auf eine gleichmäßige Art bewegt, und in ein harmonisches Spiel gebracht“ wird, was zur Folge habe, dass „jedes Vermögen der sinnlichen Erkenntniß […] auf die ihr zuträglichste Weise in Beschäftigung gebracht […] und […] die Seele selbst in einem bessern Zustand versetzt“ (Phil. Schriften II, 25) wird. In seinem Spätwerk, den Morgenstunden, kann Mendelssohn sogar so interpretiert werden, dass er die Gültigkeit dieses Prinzip auf jegliche Lust ausweitet.³⁸¹ Dies deshalb, weil er – kantisch anmutend – ein durch ‚Beifall ohne Begierde‘ zum Ausdruck kommendes und zwischen Erkennen und Begehren vermittelndes ‚Billigungsvermögen‘ veranschlagt, welches aber „sowohl von der Erkenntniß der Wahrheit, als von dem Verlangen nach dem Guten […] abzusondern“ (Morgenstunden, 121) ist, und darauf aufbauend festhält, dass wir bei der Beschäftigung des Billigungsvermögens – und eben nicht in einem besonderen Anwedungsfall desselben – auf eine bestimmte Weise imaginieren, wobei wir das „Wohlgefallen und Misfallen in ein angenehmes Spiel setzen.“ (Morgenstunden, 128) Offensichtlich kommen Mendelssohns Ausführungen – bei all den nach wie vor bestehenden Unterschieden – dem freien Spiel Kants schon recht nahe.³⁸²

379 Vgl. Gerard, Alexander: An Essay on Taste. 3. Aufl. Edinburgh 1780, 1 ff.; 73 ff.; 83 ff.; 133 f.; 157 f. 380 Mendelssohn, Moses: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In: Philosophische Schriften. Bd. 2. Berlin 1771. Im Folgenden zitiert als „Phil. Schriften II“. 381 Mendelssohn, Moses: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berlin 1785. Im Folgenden zitiert als „Morgenstunden“. 382 Die Differenzen zwischen Mendelssohn und Kant erläutert Beiser in seiner Monographie Diotima’s Children und widerspricht damit all denjenigen Interpretationen, die Mendelssohn zu einem Proto-Kantianer hochstilisieren. (Siehe Beiser 2009, 198 f.; 211 ff.; 240 ff.) Auch wenn seine späteren Ansätze stärker subjektivistisch ausfallen, bleibt Mendelssohn zeit seines Lebens im

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Nichtsdestotrotz nimmt Reinhold einen besonderen Platz unter denjenigen Ästhetikern des Spiels ein, die ihre Gedanken noch vor dem Erscheinen der KdU entwickelt hatten. Diese Einzigartigkeit ergibt sich nicht bloß daraus, dass sein ästhetischer Ansatz am Ende jener Denklinie steht, sondern vor allem, weil er direkt auf der theoretischen und moralisch-praktischen Philosophie Kants aufbaut. Reinhold hat allen vorkantischen Ästhetikern voraus, dass er die für das freie Spiel relevanten Erkenntniskräfte transzendentalphilosophisch konzipiert, wodurch seine eigene Version des freien Spiels in der Form der starken und leichten Beschäftigung Kant nähersteht als die Versionen aller anderen Denker vor ihm.³⁸³ Konzentriert man sich nicht nur auf diejenigen Denker, welche ihre Theorien abseits der kritischen Philosophie entwickelten, sondern bezieht man auch die Kantianer mit in den Vergleich ein, so muss mit Nachdruck auf den innovativen Leipziger Philosophieprofessor und Dichter Karl Heinrich Heydenreich (1764 – 1801) und insbesondere auf seinen Aufsatz Ideen über die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie der schönen Künste hingewiesen werden. Mit der Intention, an kantische Prinzipien anzuknüpfen, entwirft er dort nämlich bereits 1786 ein Konzept des freien Spiels. Das Gemeinsame „aller angenehme[n] Empfindungen“ liegt laut ihm darin, „daß sie uns ein süßes Selbstgefühl gewähren“. (Theorie der Künste, 241) Dieses Selbstgefühl des Geistes besteht in „der richtigen Anwendung seiner Grundkraft“, je nachdem, was von ihr gefordert wird, sodass sie zum einen „ihre Richtung schnell und ordentlich umändere, und ihre Rolle bald als Einbildungskraft, bald als Gedächtniß, bald als Scharfsinn u. s. w. ungehindert richtig spiele“. (Theorie der Künste, 242) In einem gewissen Sinne wird selbst das Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand miteinbezogen, da es auch darauf ankomme, dass „die Urtheilskraft ungehindert ihre Schlüsse retten könne, ohne von der Ein-

Grunde genommen ein Vollkommenheitsästhetiker. Schließlich hat der Mensch nicht nur die Absicht, den „Erkenntnißtrieb in Bewegung [zu] setzen, um ihn dadurch vollkommener zu machen“, sondern „wir haben [auch] dieselbe Absicht mit dem Billigungstriebe.“ (Morgenstunden, 127) Überdies ist es strittig, ob Mendelssohn das Billigungsvermögen entweder kantisch als ein eigenständiges Vermögen begreift oder ob er es unkantisch als einen bloßen Teilaspekt eines oder beider anderen Vermögen verstanden wissen will. Dass laut Mendelssohn die „Begierde […] von dem Genuße der Schönheit sehr weit unterschieden ist“ (Morgenstunden, 120) und dass er neben dem Erkenntnistrieb von einem eigenen Billigungstrieb ausgeht (vgl. Morgenstunden, 127), spricht eher für ersteres; dass das Billigungsvermögen „der Uebergang vom Erkennen zum Begehren [ist] und […] diese beiden Vermögen durch die feinste Abstufung“ verbindet (Morgenstunden, 121), sowie dass „sowohl das Erkenntniß- als das Billigungsvermögen […] Aeußerungen einer und ebenderselben Kraft der Seele“ (Morgenstunden, 125) sind, spricht eher für letzteres. 383 Das Gesagte trifft daher ebenso auf Lessings Prinzip des freien Spiels der Einbildungskraft zu, welches er in seinen Überlegungen zur Laokoon-Gruppe zur Geltung bringt und auf dessen Vorreiterfunktion Beiser hinweist. (Vgl. Beiser 2009, 273)

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bildungskraft gestört“ und dass „diese ihr Spiel muthig fortsetzen könne, ohne von jener aufgehalten zu werden“. (Theorie der Künste, 242)³⁸⁴ Dass Kant in seinem Entwurf zum freien Spiel auch von Heydenreich beeinflusst worden sein könnte, ist sicherlich keine ungrechtfertigte Vermutung.³⁸⁵ Leider findet sich in Heydenreichs Ideen zur Theorie der schönen Künste nichts, was man sinnvollerweise als ein transzendentales Argument einstufen könnte. Zudem deuten seine Ansichten, dass die ‚Einheit des Bewusstseins‘ zeige, dass alle verschiedenen Seelenkräften Äußerungen ein und derselben ‚Vorstellkraft‘ sind, und dass die Form der sinnlichen Anschauung laut Kant nicht bloß a priori, sondern ‚angeboren‘ sei, darauf hin, dass er bei der Aufstellung seines Konzepts des freien Spiels einen falschen oder wenigstens unzulänglichen Begriff der Transzendentalphilosophie hatte.³⁸⁶ Anders als bei Heydenreich liegt Reinholds Theorie des Vergnügens der Plan zugrunde, die Beschaffenheit des Vorstellungsvermögens weder induktiv noch bloß logisch-deduktiv zu erschließen, sondern als notwendige und allgemeingültige Bedingung der Möglichkeit des Vorstellens (Bewusstseins), insofern es a priori die Basis für jegliches mögliche Erleben bildet und es für das Vergnügen im Allgemeinen relevant ist, als auch der spezifischen Ausformungen dieses Bewusstseins, wie es z. B. im ästhetischen Erleben stattfindet und dabei selbst einer eigenen apriorischen Gesetzmäßigkeit gehorcht, zu deduzieren. Aufgrund der Komplexität des Themas kann es hier nicht der Ort sein, auch nur einigermaßen zufriedenstellend zu klären, welche Gemeinsamkeiten und Unterscheide zwischen den Deduktionen der kritischen Philosophie und den Deduktionen der Elementarphilosophie bestehen. Ohne eine umfassende Diskussion der verschiedenen zeitgenössischen Stellungnahmen und Interpretationen liefern zu können,³⁸⁷ lässt sich aber doch mit einiger Überzeugungskraft zeigen, dass Reinhold im Rahmen

384 Siehe auch Theorie der Künste, 264 f. 385 Auch ist es nicht abwegig, dass neben Pouilly und Dubos auch Heydenreich eine Inspirationsquelle für Reinholds starke und leichte Beschäftigung darstellte. Reinhold schien Heydenreich vorerst zu schätzen, da er ihm seinen Versuch Anfang Oktober 1789 per Post zukommen ließ. (Siehe KA 2, 167; 175) 386 Vgl. Theorie der Künste, 242 ff.; 245. Nach Armin Erlinghagen, der eine kurze aber würdigende Einführung in das Denken Heydenreichs liefert, ist dessen Philosophie erst ab 1789/1790 unbestreitbar in der kantischen verankert. (Erlinghagen 2014 b, 133) Hingegen urteilt Max Schasler in seiner etwas älteren Monographie Aesthetik als Philosophie des Schönen und der Kunst, dass Heydenreich um 1790 zwar in seinen grundlegenden Prinzipien mit Kant übereinstimmt, doch bleibe die Art und Weise seiner Reflexion in der vorkantischen Popularästhetik verhaftet. (Schasler 1872, 566) 387 Siehe z. B. Baum 1973, Breazeale 1982, Beiser 1987, Bondeli 1995, Stamm 1995, Frank 1997, Stolzenberg 2003, Henrich 2004, Bondeli 2006, Breazeale 2006, Fabbianelli 2016, Lang 2021.

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seiner Vorstellungstheorie – anders als manchmal behauptet³⁸⁸ – nicht nur eine syllogistische Art der Deduktion à la Wolff oder Descartes durchführt. In diesem Zusammenhang haben Bondeli und Imhof in der Einleitung ihrer kommentierten Neuedition des Versuchs bereits viel Treffendes ausgeführt. Indem Reinhold mehrfach betont, dass die Elementarphilosophie das eigentliche Wesen des Vorstellungsvermögens untersucht und dabei sowohl Fragen nach seinen empirischen Ursachen als auch Fragen nach der beobachterunabhängigen Außenwelt und zum Urgrund unserer Innenwelt ausklammert, rücke er das transzendentalphilosophische Problem der Gültigkeit unserer Erkenntnisansprüche ins Zentrum seiner Reflexionen.³⁸⁹ Zudem ergebe sich diese Art der Problemstellung – welche einen Bruch mit dem im 18. Jahrhundert vorherrschenden genetisch-psychologischen Paradigma darstellt –, weil der Schwerpunkt der elementarphilosophischen Untersuchung auf den inneren Bedingungen der Vorstellung (bloße Vorstellung) liegt, welche mit dem Anspruch auftreten, Bedingungen der Möglichkeit des Bewusstseins zu sein, und durch welche die Grenzen des Vorstellbaren – und darauf aufbauend jene des Erkenn- und Begehrbaren – abgesteckt werden sollen.³⁹⁰ Uns obliegt es hier erstens nur hinzuzufügen, dass Reinholds Fokussierung auf normative und geltungstheoretische Probleme Kants Ansicht entspricht, nach welcher eine transzendentale Deduktion im Allgemeinen keine Überlegungen zur Genese von Begriffen (quid facti) enthält, sondern die Angabe des Rechtsanspruchs (quid juris) der Begriffe betrifft.³⁹¹ Bereits in der Vergnügensschrift – genauer in seiner Kritik an Helvétius – bewegt sich unser Elementarphilosoph entlang dieser Gedankenbahnen, was sich daran zeigen lässt, dass für ihn die genetische Priorität der empirischen Organisation nicht im Widerspruch zur erkenntnistheoretischen Priorität der ursprünglichen Rezeptivität steht, was die Überzeugung impliziert, dass zwischen den Fragen der Genese und denjenigen der Geltung grundsätzlich zu differenzieren ist.³⁹² Zweitens gilt es zu beachten, dass die Vorstellungstheorie ein Pendant zu dem beinhaltet, was Kant als ‚Prinzip der transzendentalen Deduktion aller Begriffe a priori‘ bezeichnet, das besagt, dass die reinen Verstandesbegriffe „als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen“. (KrV, A 94/B 126) Alleine das Beweisziel ist bei Reinhold ein anderes. Es gilt die elementare Form der Vorstellung als apriorische Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins überhaupt und erst darauf aufbauend die besonderen Formen der

388 Vgl. Frank 1997, 161 ff. Vgl. Lang 2021, 531 f.; 548. 389 Vgl. Bondeli/Imhof 2013, LXXI. Vgl. Versuch, 204; 222. 390 Vgl. Bondeli/Imhof 2013, LXXII.Vgl.Versuch, 188 f.; 200; 202; 206 f.; 220; 227; 230 ff.; 235 ff.; 238; 240; 244 ff.; 250; 256; 258 f.; 283; 312 f.; 321 f.; 325 ff.; 340 f. 391 Vgl. KrV, A 84 f./B 116 f. 392 Vgl. Vergügensschrift 1789, 43 f.; 46. Siehe auch 2.5.2 der hier vorliegenden Studie.

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Vorstellungsarten – worunter unter anderem auch die Kategorien zu zählen sind – als Bedingung der Möglichkeit der Bewusstseinsarten – wozu unter anderem die Erfahrungserkenntnis gehört – zu erkennen.³⁹³ Da auch in der Vergnügensschrift innere Bedingungen, nämlich diejenigen des Vergnügens,³⁹⁴ eine wesentliche Rolle spielen, legt eine vorstellungstheoretische Deutung nahe, dass das Kerngeschäft von Reinholds meta-ästhetischen Reflexionen in der Beantwortung der Frage besteht, welche Funktion den Empfindungen in einer transzendentalphilosophischen Konstitutionstheorie des Bewusstseins und seiner Arten zukommt.

393 Hierzu befindet sich in Beyträge I unter dem Titel Ueber das Verhältnis der Theorie des Vorstellungsvermögens, zur Kritik der reinen Vernunft viel Erhellendes. Nach Reinhold wird in der KrV „die Priorität der Formen der Vorstellungen […] aus der Nothwendigkeit dieser Formen; und diese aus der nur durch sie denkbaren Möglichkeit der Erfahrung bewiesen.“ (Beyträge I, 278) Hingegen wird in der Theorie des Vorstellungsvermögens „die Priorität der Formen der Vorstellungen […] nicht aus ihrer Nothwendigkeit; sondern diese aus jener, jene aber aus der Möglichkeit des Bewusstseyns bewiesen. Es wird nämlich gezeigt, dass das Bewusstseyn überhaupt unmöglich wäre, wenn die hervorgebrachte Einheit des gegebenen Mannigfaltigen, worin die Form der Vorstellung überhaupt besteht, nicht im bloßen Vorstellungsvermögen bestimmt wäre. Was von der Gattung gilt, gilt auch von allen Arten. Es ist daher durch diesen Beweis die Priorität aller Formen der Vorstellungen, der Sinnlichen, des Begriffs und der Idee, erwiesen; obwohl dieselbe auch noch in den ihnen eigenthümlichen Theorien aus der Möglichkeit der besondern Arten des Bewusstseyns, unter denen sie stehen, einleuchtet.“ (Beyträge I, 279 f.) Dass Reinhold hier eine transzendentale Deduktion oder vielmehr mehrere transzendentale Deduktionen (wenn auch nicht ausschließlich im Sinne eines Beweises der objektiven Gültigkeit und Realität der Kategorien) im Sinn hat, zeigt sich daran, dass er den Nachweis der Notwendigkeit der Formen der Vorstellungen auf Basis der transzendentalphilosophischen Reflexion, dass ohne diese Formen sowohl die Vorstellung als auch das Bewusstsein unmöglich wäre, als ‚Deduktion der eigentlichen Theorie des Vorstellungsvermögens‘ bezeichnet. (Vgl. Beyträge I, 79 f.) Zur Bestätigung des Gesagten mag dienen, was Reinholds begabtester Schüler Erhard sowie Reinhold selbst gegen eine Kritik Rehbergs vorbringen. Auf den Vorwurf Rehbergs, dass Kant „sich in seinen Resultaten allenthalben darauf [beschränkt], zu zeigen, daß, und wie etwas im menschlichen Erkenntnißvermögen sey“, Reinhold hingegen „beweiset, daß es so seyn müsse“ (Rehberg, August Wilhelm: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Misverständnisse der Philosophen, von Karl Leonhard Reinhold. Erster Band, das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 26, Freitag, 28. Januar 1791, Sp. 201 – 208; Schluß: Nr. 27, Freitag, 28. Januar 1791, Sp. 209 – 214. Zitiert nach: Fabbianelli 2003 b, 152 – 166. Hier: 157), hält Erhard entgegen, dass so wie „Kant, von den Bedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung ausgeht, so geht er [sc. Reinhold] von den Bedingungen zur Möglichkeit des Bewusstseyns aus, um zu beweisen, dass[,] die von ihm angegebenen Fakta des Bewusstseyns vorausgesetzt, […] [das] Vorstellungsvermögen sich nicht anders denken lasse.“ (Fundamentschrift, 165) Hierzu merkt Reinhold an: „Das Seynmüssen kommt in meiner Theorie in keinem andern Sinne, als in der Kritik vor. Auch dieser zufolge muss das Erkenntnißvermögen so beschaffen seyn, wie es Kant angiebt, weil sonst Erfahrung […] unmöglich wäre.“ (Fundamentschrift, 165 Anm.) 394 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 156 ff. Siehe auch 2.4.2 der hier vorliegenden Studie.

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Neben den Übereinstimmungen zwischen der starken und leichten Beschäftigung Reinholds und dem freien Spiel Kants gibt es aber auch einige nicht zu vernachlässigende Unterschiede. Die wesentlichste von diesen Differenzen besteht darin, dass die starke und leichte Beschäftigung als ein Prinzip kein unmittelbarer Grundsatz der Geschmackskritik ist, weil durch sie bloß bestimmt wird, worum es sich beim Vergnügen überhaupt handelt, aber nicht, wodurch sich die eigentümliche Lust auszeichnet, die bei den Geschmacksurteilen am Schönen wirksam ist. Durch das Prinzip des freien Spiels wird gerade das Letztere geleistet und deshalb ist es ein unmittelbares Prinzip der Geschmackskritik. Von einem elementarphilosophischen Standpunkt aus gesehen ist es somit als eine Spezifikation – im Sinne eines GattungArt-Verhältnisses – der starken und leichten Beschäftigung zu verstehen, weshalb dieser selbst gegenüber dem freien Spiel der Status eines grundlegenderen und allgemeineren Prinzips zukommt. Will man das essentielle Merkmal einer solchen Spezifikation angeben, das sich bei der starken und leichten Beschäftigung nicht findet und per definitionem auch nicht finden darf, so wird all denjenigen, die in der Ästhetik Kants bewandert sind, schon bei einer flüchtigen Beurteilung auffallen, dass es sich dabei um die sogenannte ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ handeln muss. Gemeinhin äußert sich ein Zweck darin, dass willentlich eine bestimmte Absicht verfolgt wird, wobei das in der Absicht Intendierte bzw. der Zweck zum kausalen Bestimmungsgrund der Gedanken und Handlungen wird. Da das Geschmacksurteil interesselos ist und eine Absicht des Willens niemals ohne Interesse sein kann, kann sich folglich die ästhetische Lust bei der Vorstellung eines Zweckes unmöglich einstellen. Weil das Wohlgefallen am Schönen aber nicht zufällig ist, sondern – insofern es überhaupt Geschmacksurteile geben soll – auf apriorischen Gründen beruhen muss und die kausale Verknüpfung zwischen dem Schönen und der ästhetischen Lust somit zumindest als notwendig vorgestellt wird, muss uns das Schöne doch so erscheinen, als erfülle es einen Zweck. Dieser ist jedoch kein eigentlicher – d. i. materialer – Zweck (objektive Zweckmäßigkeit), welcher der Natur eine bestimmte Richtung vorschreibt, sondern eine formale und subjektive Zweckmäßigkeit (Zweckmäßigkeit ohne Zweck), durch die eine Entität, die wir als schön beurteilen, so begriffen wird, als ob sie derart eingerichtet ist, sodass sie – ohne dass es uns genau einsichtig ist – in uns ein freies Spiel der Erkenntniskräfte und die daraus resultierende Lust zu erzeugen vermag. Damit wird über die Natur objektiv und a priori gar nichts ausgesagt. Denn die sich auf die Lust beziehende Urteilskraft ist gar nicht bestimmend, sondern reflektierend. Mit anderen Worten ist der Urteilskraft das Allgemeine – d. i. hier die Notwendigkeit der Lust und der durch sie ausgedrückten Schönheit für alle, die ein Geschmacksurteil vollziehen – nicht bereits gegeben, sondern sie muss vom Besonderen – d. s. die konkreten Gegenstände, über die geurteilt wird – ausgehend beständig danach suchen, wozu ihr die a priori als Idee

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vorausgesetzte subjektive Zweckmäßigkeit als ein bloßer Leitfaden bzw. als regulatives Prinzip dient.³⁹⁵ Mit der Zweckmäßigkeit ohne Zweck liefert Kant ein Merkmal des genuin Ästhetischen, welches in der starken und leichten Beschäftigung Reinholds nicht liegt. Da es sich bei den Benennungen ‚Lust‘ und ‚Vergnügen‘ im Vergleich der beiden Philosophen im Wesentlichen um einen bloßen Wortstreit handelt, ergibt sich auf Basis der Reinhold’schen Vergnügenstheorie, dass die formale Zweckmäßigkeit des Schönen überhaupt – d. h. sowohl des Kunst- als auch des Naturschönen – eine Artbestimmung innerhalb der Gattung Vergnügen ist, bei welcher Bestimmung es sich um das wesentliche Merkmal der ästhetischen Lust handelt. Bemerkenswert ist, dass Reinhold bereits selbst vage auf eine solche Antwort deutet, wenn er ganz am Ende seiner Lösungsvorschläge zum Problem, welches das Wesen des Schönen ist, wortwörtlich das Merkmal der ‚Zweckmäßigkeit‘ diskutiert. Möglicherweise gegen Mendelssohn gerichtet – wie Bondeli hervorhebt³⁹⁶ –, viel wahrscheinlich aber gegen den literarisch tätigen und zum Rationalismus tendierenden Ästhetiker Karl Philipp Moritz (1756 – 1793), da dieser dem Ästhetischen explizit eine ‚innere Zweckmäßigkeit‘ zuspricht,³⁹⁷ kritisiert Reinhold gar nicht je-

395 Vgl. KdU, XXV ff.; XXXIII f.; XXXVII f. XLIII ff.; 32 ff.; 35 ff.; 61. Für das Naturschöne ergibt sich daraus, dass es für unsere Urteilskraft nicht etwas völlig Kontingentes ist, sondern eine undefinierbare Ordnung aufweist, von der wir beim Geschmacksurteil auf eine nicht-diskursive Art und Weise davon ausgehen müssen, dass es zur Beförderung und Erhaltung des freien Spiels unserer Erkenntniskräfte hin ausgerichtet ist, obwohl man dabei weder dieses Spiel noch die daraus resultierende Lust intendieren darf. Was das Kunstschöne betrifft, gilt es zu beachten, dass ein Künstler beim Schaffen seines Werks das Wohlgefallen am Schönen sehr wohl intendiert haben kann, aber der Rezipient darf es dem Künstler bei der Betrachtung des Werkes nicht gleichtun, insofern sich ästhetische Lust einstellen soll. Zugleich darf das Werk aber auch nicht so erscheinen, als stünde es unseren Erkenntniskräften völlig arbiträr gegenüber. Kurzum: Das Kunstwerk darf uns nicht als ein Mittel zu dem Zweck des freien Spiels der Erkenntniskräfte erscheinen, sondern bloß als zweckmäßig dazu eingerichtet. Wenn z. B. ein Gemälde allzu sehr nach Gefallen heischt, ist dies der Lust abträglich; ist es jedoch offensichtlich hässlich, kommt ebenso keine Lust daran zustande. 396 Vgl. Briefe I, Kommentar, 265. 397 Es ist davon auszugehen, dass Reinhold einige von Moritz’ Schriften bekannt waren, weil er ihn nach eigenem Bekunden nicht nur persönlich kennenlernte, sondern in seiner Korrespondenz – zunächst noch würdigend – auch auf eines seiner Werke verweist. (Siehe KA 2, 47 f.) In dem Aufsatz Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften, der 1785 in der Berlinischen Monatschrift erschienen und an Mendelssohn gerichtet ist, geht Moritz der Frage nach, worin sich das Vergnügen am Schönen von dem Vergnügen am Nützlichen unterscheidet. Der ‚bloß nützliche Gegenstand‘ erfülle immer einen ‚äußeren Zweck‘, der von den Interessen des Subjekts abhängt; das Schöne hingegen vergnüge ohne eine besondere Beziehung auf das Subjekt aufzuweisen ‚um seiner selbst willen‘. Da aber kein vernünftiges Wesen an etwas völlig Unzweckmäßigem Gefallen finden könne, müsse der schöne Gegenstand eine ‚innere Zweckmäßigkeit‘ aufweisen, die darin zum Ausdruck komme, dass er ein ‚in sich selbst Vollendetes‘ ist. (Vgl. Moritz, Karl Philipp: Versuch einer

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nen Lösungsversuch als solchen, sondern die Umsetzung desselben. Was die Zweckmäßigkeit sei, müsse nämlich exakt bestimmt werden, und zwar ohne dass eine solche Definition selbst wieder auf den Begriff der Zweckmäßigkeit rekurriert: Ein dritter unterscheidet zwar das Aesthetische, von dem Sinnlichvollkommenen überhaupt, und behauptet, das Merkmal, durch welches das letztere zum Rang des erstern erhoben würde, bestände in der Zweckmäßigkeit. Allein er bleibt entweder seinen Lesern alle Rechenschaft über die Zweckmäßigkeit schuldig; oder er läßt sie in der Tüchtigkeit bestehen entweder Vergnügen überhaupt – oder dasjenige Vergnügen zu gewähren, dessen Begriff er wieder durch Zweckmäßigkeit, und folglich durch einen Zirkel definirt. (Briefe I, 48)³⁹⁸

Dieser Hinweis ist selbstverständlich nicht gegen Kant gerichtet und kann es auch gar nicht sein, da Reinhold der Inhalt der KdU bei Verfassung dieser Zeilen noch nicht bekannt war. Umso erstaunlicher ist es, dass unser Elementarphilosoph nicht Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Berlinische Monatschrift, März 1785, 225 – 236. Im Folgenden zitiert als „Versuch einer Vereinigung“. Hier: 226 f.; 230 f.) 398 In der Tat lässt sich an Moritz’ Ausführungen berechtigterweise ein Zirkularitäts- oder zumindest ein Unterbestimmtheitsvorwurf erheben, da er die innere Zweckmäßigkeit zuerst negativ durch das Fehlen eines äußeren Zweckes bestimmt und sodann über das gewährte Vergnügen hinaus – welches bloß eine Begleiterscheinung des Schönen ist – keine Erklärungen liefert, was das eigentliche Ästhetische an der zweckmäßigen Ausrichtung eines Gegenstandes auf seine intrinsische Vollendung ist. (Siehe Versuch einer Vereinigung, 231 ff.) In der 1788 veröffentlichten Schrift Ueber die bildende Nachahmung des Schönen präzisiert Moritz zwar, dass das Schöne einerseits „in sich so vollkommen ist, dass es den ganzen Endzweck seines Daseyns in sich selbst hat“ (Moritz, Karl Philipp: Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788, 13), und andererseits „wie ein für sich bestehendes Ganze[s] […] in unsre Sinne fallen, oder von unsrer Einbildungskraft umfasst werden könne“ (Bildende Nachahmung, 17), indem „jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers […] im Kleinen ein [durch die Natur vermittelter schöpferischer] Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur“ (Bildende Nachahmung, 19) ist, doch liefern er damit keine eigentliche Erklärung der inneren Zweckmäßigkeit als einer ästhetischen Kategorie. Denn die erstgenannte Bestimmung ist nur ein anderer Ausdruck für etwas in sich selbst Vollendetes bzw. höchst Vollkommenes, was – vor einem rationalistischen Hintergrund – natürlich auch Schönheit erfordert, aber eben nicht nur diese; und obzwar durch die zweitgenannte Bestimmung der Unterschied zwischen dem nicht-ästhetischen Vollkommenen und dem Ästhetischen überhaupt einigermaßen deutlich wird, so kann dagegen doch vorgebracht werden, dass es auch Hässliches gibt, welches ein sinnlich oder imaginativ vermitteltes in sich bestehendes Ganzes ist. Kants Zweckmäßigkeit ohne Zweck hingegen ist auf diese Weise nicht sinnvoll kritisierbar, da sie auf Basis seiner Konzeption der reflektierenden Urteilskraft, des freien Spiels der Erkenntniskräfte und seiner metaphysischen Erörterungen über das Geschmacksurteils ausreichend positiv bestimmt wird. Wie schon Guyer zutreffend hervorhebt, ist Kants Begriff der Zweckmäßigkeit eher eine Ablehnung als eine Fortführung von Moritz‘ Konzeption. (Vgl. Guyer 2014, 412) Dies ist in Bezug auf Reinhold relevant, da es zeigt, dass sich seine implizite Kritik an Moritz entlang der Gedankenbahnen Kants bewegt – wohlgemerkt ohne diese bereits gekannt zu haben.

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nur eine zirkelfreie Exposition des Begriffs der Zweckmäßigkeit fordert, sondern seine Überlegungen zu diversen Optionen für einen ersten Grundsatz der Ästhetik mit dieser Forderung beschließt. Denn damit gibt er zu verstehen, dass die Erklärung, welche die nötige Ingredienz enthält, um das ästhetische Vergnügen vom Vergnügen überhaupt abzugrenzen, unter die Bezeichnung ‚Zweckmäßigkeit‘ zu fallen hat. Was aber hat Kant mit seiner Bestimmung der subjektiven Zweckmäßigkeit anderes geleistet, als dasjenige, was Reinhold hier verlangt? Dennoch kann Reinhold mit dieser Leistung – auch prospektiv erwogen – nicht vollkommen zufrieden sein. Gemäß seinen systematischen Ansprüchen setzt eine zufriedenstellende Erklärung des ästhetischen Vergnügens bzw. – im Sinne Kants – der reinen Geschmacksurteile nämlich das korrekte Verständnis des Vergnügens als Gattung voraus, welches wiederum nur auf Basis einer ausgearbeiteten Wissenschaft des Vorstellungsvermögens möglich ist, die Kant nicht geliefert hat.³⁹⁹ Reinhold wird auch noch nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der KdU im Grunde genommen an dieser Auffassung festhalten. Dementsprechend moniert er in der von ihm stammenden Rezension derselben, dass es in den kantischen Ausführungen ‚an einem Wort‘ fehlt, welches ‚das Gemeinsame zwischen dem Schönen und Erhabenen in einem Begriff festhält‘.⁴⁰⁰ Dass es sich bei diesem Wort um dasjenige des Vergnügens überhaupt handelt, wird aus der überarbeiten Vergnügensschrift von 1796 deutlich. Denn dort können wir lesen, dass die Streitfrage „über den beym Gefühl des Schönen und Erhabenen eigenthümlichen Genuß […] ihrer Entscheidung um vieles näher seyn [würde], wenn man einen bestimmten Begriff vom Vergnügen überhaupt aufzuweisen […] hätte“. (Vergnügensschrift überarbeitet, 272) Damit will unser Elementarphilosoph nicht auf eine sich in einem bestimmten ästhetischen Erleben äußernde Vereinigung von Schönheit und Erhabenheit hinaus, sondern nur darauf, dass das Schöne und Erhabene etwas Ge-

399 Der ‚Streit über den Grundbegriff des ästhetischen Vergnügens‘ kann „auf keine andre Weise geschlichtet werden […], als daß sich die Partheyen zuerst über die Beschaffenheit der von ihnen anerkannten Function der Empfindung beym Vergnügen überhaupt, und dann über die Beschaffenheit der nicht weniger zugestandenen Funktion der Vernunft beym ästhetischen Vergnügen vereinigen; welches aber so lange schlechterdings unmöglich ist: als man nicht über die wesentlichen Merkmale der Sinnlichkeit, und der Vernunft, und das Verhältnis dieser Vermögen unter einander einverstanden ist, oder welches hier eben so viel heißt, als man nicht über die durchgängig bestimmten Begriffe dieser Vermögen durch eine auf einen allgemeingeltenden Princip feststehende Wissenschaft des Vorstellungsvermögens einig geworden ist.“ (Briefe I, 49) 400 Vgl. Rezension KdU, 4 f. In dem 1794 erschienen zweiten Band der Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen, der diese Rezension unter leichten Veränderungen und abzüglich der Textstellen, welche die teleologische Urteilskraft behandeln, unter dem Titel Ueber das Fundament der Geschmackslehre enthält, findet sich dieselbe Kritik an Kant. (Vgl. Beyträge II, 369 – 408. Hier: 377)

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

meinsames aufweisen, das – so könnte man seinen Überlegungen hinzufügen – in der starken und leichten Beschäftigung des Vorstellungsvermögens, nicht aber in dem freien Spiel der Erkenntniskräfte zum Ausdruck kommt.

4.1.5 Vollkommenheit ganz ohne Begriff und Zweck Zum Abschluss dieses Unterkapitels muss noch etwas zur Vollkommenheit gesagt werden, die laut Reinhold beim Vergnügen und Schönen am Werk ist. Es hat sich bereits gezeigt, dass Reinhold der Descartes zugeschriebenen Formel, dass ‚ein Gegenstand als etwas Vollkommenes beurteilt werden muss, insofern er uns Vergnügen bereitet‘, beipflichtet, ohne näher darauf einzugehen, worin diese Vollkommenheit eigentlich besteht.⁴⁰¹ Natürlich müsse der Gegenstand, welcher uns Lust gewähren soll, zuerst vorgestellt werden, aber ob sich die Lust daran einstellt, hänge von dem Zustand ab, in welchem sich das empfindende und urteilende Subjekt befindet. Bekanntlich zeichne sich dieser lustvolle Zustand, auf den wir uns keineswegs erkennend, sondern begehrend richten, durch eine Befriedigung des Vorstellungstriebes aus, die durch das korrekte Verhältnis zwischen einer starken und leichten Beschäftigung des Vorstellungsvermögens gewährleistet wird. So müsse dieses Wechselspiel zwischen Sinnlichkeit und Verstand – auf der allgemeinen Ebene des Triebes nach Vorstellungen konzipiert – z. B. frei von Anstrengung, Schmerz, Betäubung und Langeweile sein.⁴⁰² Wie wir gesehen haben, hängt das Vergnügen auch bei Pouilly wesentlich von einem angemessenen Grad der Betätigung unserer Fähigkeiten ab; zudem bezeichnet er sinngemäß einen subjektiven Zustand, der eine dauerhafte Glückseligkeit gewährt, als vollkommen.⁴⁰³ Bei Reinhold wird hingegen nicht unmittelbar deutlich, dass diesem lustvollen Zustand das Merkmal der Perfektion zukommen soll, obwohl er – wie bereits ausgeführt – an einer Stelle der Vergnügensschrift den Zustand, der beim ‚grobsinnlichen Vergnügen‘ auftritt, eine ‚sinnliche Vollkommenheit‘ nennt.⁴⁰⁴ Gesichert ist jedenfalls, dass er vornehmlich die Gegenstände, die unser Erkenntnisvermögen dem Begehrungsvermögen bereitstellt, als vollkommen bezeichnet. Ganz unabhängig davon, ob unser Elementarphilosoph die Perfektion nun bloß im Gegenstand oder auch im Subjekt verortet, drängt sich die Frage auf, ob er als ein klassischer Vertreter einer Vollkommenheitsästhetik angesehen werden muss. 401 402 403 404

Siehe 2.3.1 der hier vorliegenden Studie. Siehe 2.2 der hier vorliegenden Studie. Siehe 2.2 der hier vorliegenden Studie. Siehe 2.4.2 und 2.6 der hier vorliegenden Studie.

4.1 Reinholds Theorie des Vergnügens im Vergleich mit der Kritik der Urteilskraft

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Bekanntermaßen ist es für Kant „von der größten Wichtigkeit, in einer Kritik des Geschmacks zu entscheiden, ob sich auch die Schönheit wirklich in den Begriff der Vollkommenheit auflösen“ (KdU, 45) lässt. Er lehnt all diejenigen ästhetischen Theorien ab, welche die Schönheit in der Vollkommenheit eines Gegenstandes – er sei verworren oder deutlich vorgestellt – bestehen lassen. Die Gründe dafür sind, dass eine Perfektion notwendigerweise mit einem materialen Zweck bzw. einer objektiven und inneren Zweckmäßigkeit verbunden sei, welche immer einen Begriff davon voraussetzt, was der Gegenstand für sich genommen (ohne Nützlichkeitserwägungen) sein soll, sowie dass das Schöne sich eben weder auf bestimmte Begriffe noch auf einen materialen Zweck bringen lässt, sondern sich durch eine subjektive Zweckmäßigkeit (ohne eigentlichen Zweck) auszeichnet.⁴⁰⁵ Keineswegs darf laut Kant von einer Vollkommenheit die Rede sein, welche weder Begriff noch Zweck voraussetzt, da schon alleine „die bloße Form einer Vollkommenheit […] sich vorzustellen, […] ein wahrer Widerspruch“ (KdU, 46) wäre. Von einer „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem“ (Einheit im Mannigfaltigen) zu sprechen sei aber angemessen, solange damit „von diesem Einen als Zweck (was das Ding sein solle) abstrahiert wird“. (KdU, 45 f.) Nach Reinhold wird die „Ordnung in der Verbindung des Mannigfaltigen“ bzw. „das Mannigfaltige auf Einheit zurückgebracht […] dem philosophischen Sprachgebrauche zufolge durch das Wort Vollkommenheit bezeichnet“ (Vergnügensschrift 1788, 154), wobei gilt, dass „jede Schönheit […] Einheit des Mannigfaltigen“, aber „nicht jede Einheit des Mannigfaltigen, auch selbst wie sie beym Vergnügen statt findet, […] Schönheit“ (Vergnügensschrift 1788, 154 Anm.) ist. Die Nebenbemerkung ‚selbst wie die Einheit beim Vergnügen auftritt‘ ist hier nicht unwichtig, weil „die Einheit des Mannigfaltigen“ überhaupt „jedem wirklichen und möglichen Dinge, es sey dasselbe schön oder häßlich, zukommen“ (Briefe I, 47) muss. Wie sich aus diesen Expositionen entnehmen lässt, ist jedes vorstellbare Ding, welches eine Einheit des Mannigfaltigen aufweist – und eine solche Einheit muss ihm zukommen, sonst wäre es kein Gegenstand –, bereits etwas Vollkommenes, in dem allgemeinsten Sinne, dass die vielfältigen Merkmale eines Dinges derart zusammenstimmen, um dieses Ding, in dem was es ist, zu konstituieren. Z. B. ist irgendein beliebiger Gegenstand in seiner Hässlichkeit – sie sei so schwach oder stark ausgeprägt wie sie will – vollkommen, weil alle seine Teile derart geordnet sind, um diese Eigenschaft zu verkörpern. Wir haben es hier mit einem maximal unbestimmten – man mag sogar sagen sinnentleerten – Begriff der Vollkommenheit zu tun, weil nach diesem alles, das etwas ist, perfekt genannt werden muss. Die Schönheit ist somit zwar auch eine

405 Vgl. KdU, 44 ff.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Vollkommenheit bzw. Einheit des Mannigfaltigen, aber dadurch nicht einmal annähernd vollständig bestimmt. Da Reinhold Perfektion und Schönheit folglich keineswegs für einerlei hält, entgeht er bereits von vorherein der Kritik Kants an den Vollkommenheitsästhetikern. Selbst dessen Einwand, welcher auf der Überlegung fußt, dass es keine Vollkommenheit ohne eine objektive und intrinsische Zweckmäßigkeit geben kann, greift hier nicht. Denn aufgrund der Unbestimmtheit des Vollkommenheitsbegriffs bei Reinhold genügt es bereits, dass derjenige Gegenstand, der als vollkommen deklariert wird, bloß als dasjenige Ding vorgestellt wird, das es nun einmal ist, ohne dass man dabei einen bestimmten Begriff davon haben muss, was es seiner eigenen – d. i. inneren – Beschaffenheit nach sein soll. Weil Kant bei seiner Zurückweisung einer ‚bloßen Form der Vollkommenheit‘, auf die Reinholds Begriff hinausläuft, keine Gründe anführt, die über rein analytische Zusammenhänge hinausgehen, kommt diese Ablehnung einer bloßen Sprachregelung gleich. Abgesehen von der Impraktikabilität des Reinhold’schen Vollkommenheitsbegriffs spricht also sachlich gesehen nichts gegen die Verwendung desselben, da ihm ohnehin keine theorieimmanente Funktion zukommt. Es muss nur – wie hier geschehen – klargestellt werden, dass Reinhold und Kant mit dem Wort ‚Vollkommenheit‘ keineswegs dasselbe meinen.⁴⁰⁶ Auch wenn Reinhold den subjektiven Zustand, der in der starken und leichten Beschäftigung und Befriedigung des Vorstellungstriebes besteht, gewöhnlicher-

406 Bereits Beiser weist korrekterweise darauf hin, dass Kant sich nur gegen einen bestimmten Begriff der Vollkommenheit richtet, deren Harmonie bzw. Einheit im Mannigfaltigen als Zweckoder Formursache gedacht wird. (Vgl. Beiser 2009, 18 f.) Wir sind mit Beiser aber nicht einer Meinung, wenn er behauptet, dass Wolff durch Kants Kritik an der Vollkommenheitsästhetik gar nicht getroffen wird. Unserer Ansicht nach ist es doch mehr als fragwürdig, dass mit Wolffs Grundsatz, nach welchem sich ‚bei einer Vollkommenheit alles auf einen gemeinsamen Grund bezieht, anhand dem sich die Zusammenfügung aller Teile erklären lässt‘, bloß auf eine Wirk- oder Stoffursache verwiesen werden soll. (Vgl. DM, 81 f. [§ 156]) Immerhin zeigen die Beispiele, welche Wolff zur Erläuterung der Vollkommenheit anführt, dass es ihm sehr wohl auch um Zweck- und Formursachen geht. Denn ‚eine Uhr ist vollkommen, wenn sie die Zeit richtig anzeigt‘, was einen Begriff von ihrem Zweck voraussetzt; und ‚ein Torweg ist am Gebäude eine Unvollkommenheit, wenn er nicht den Regeln der Symmetrie entspricht‘, was eine Kenntnis der richtigen Form eines Tores erfordert. (Vgl. DM, 78 f. [§ 152]; 90 f. [§ 169]) Schon eher könnte man zu der Ansicht gelangen, dass Wolff von der Kritik Kants, dass „das Geschmacksurteil […] von dem Begriffe der Vollkommenheit gänzlich unabhängig“ (KdU, 44) ist, zumindest teilweise freigesprochen werden muss, weil die vergnügliche Einsicht in die Vollkommenheit eines Kunstwerkes in ihrem Empfindungsmoment niemals deutlich sein und somit auch im Urteilsmoment kein bestimmter Begriff von dem Kunstwerk vorliegen kann. Auch bei Baumgarten, bei dem die sinnliche Erkenntnis als solche stets unter dem Grad der Deutlichkeit und somit außerhalb des genuin Begrifflichen verbleiben muss, greift dieser Vorwurf nicht. (Vgl. Aesthetica, 20 [§ 17])

4.2 Reinholds Triebtheorie

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weise nicht als vollkommen bezeichnet, muss hier noch darauf hingewiesen werden, dass auch durch diese Art des Zusammenwirkens zwischen den sinnlichen und intellektuellen Elementen des Vorstellungsvermögens – diese eigentümliche Ordnung – keine objektive und innere Zweckmäßigkeit ausgedrückt wird. Dieser Schluss ergibt sich alleine schon aus der allgemeinen Verwendungsweise des Begriffs der Vollkommenheit bei Reinhold, welche wir bereits zuvor deutlich gemacht haben.

4.2 Reinholds Triebtheorie 4.2.1 Triebe nach Stoff und Form der Vorstellung Bisher haben wir den Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens weitestehend aus unseren Darstellungen ausgeklammert, was hauptsächlich dem Umstand geschuldet ist, dass sich dieser größtenteils Themen der theoretischen Philosophie widmet. Eine partielle Ausnahme hierzu stellen die sich auf rund fünfundvierzig Seiten erstreckenden Reflexionen über die Erkenntnisgründe und Grundsätze der Grundwahrheiten der Religion, der Moralität und des Naturrechts⁴⁰⁷ – die für uns hier nicht weiter relevant sind – sowie die sich auf den letzten zwanzig Seiten befindenden sogenannten Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens dar.⁴⁰⁸ Für unsere Belange ist die Wichtigkeit dieser – die praktische Philosophie betreffenden – Grundlinien nicht zu unterschätzen, weil Reinhold dort die bereits in der Vergnügensschrift dargestellte Triebtheorie elaborierter ausarbeitet und erweitert. Lazzari spekuliert darüber, ob der von Reinhold geplante, aber niemals zur Veröffentlichung gebrachte, letzte Teil der Vergnügensschrift, welcher sich Platner widmen sollte, stillschweigend in die Grundlinien eingeflossen ist.⁴⁰⁹ Darüber hinaus wurde in der Forschungsliteratur bereits häufig darauf hingewiesen, dass die im Versuch enthaltene repräsentationalistische Bewusstseinstheorie nur schwer mit der Trieblehre aus den Grundlinien zu vereinbaren ist, wobei der Grund dafür oft im rationalistischen Erbe der Elementarphilosophie gesucht wird.⁴¹⁰ Auch wenn es nicht unserer Überzeugung entspricht, dass hier überhaupt eine systematische Inkompatibilität vorliegt, könnte man die Überlegungen Lazzaris weiterführen und zur Ansicht gelangen, dass ein Grund der elementarphilosophischen Unverein407 408 409 410

Siehe Versuch, 76 ff.; 89 ff.; 99 ff.; 117 ff. Siehe Versuch 560 ff. Vgl. Lazzari 2007, 318 f. So z. B. bei Beiser 1987, 263 ff. oder bei Henrich 2003, 139; 143 ff.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

barkeit zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft nicht unwesentlich auf diesen Platner’schen Einfluss zurückzuführen ist. Wie aus der nun folgenden Darstellung der Reinhold‘schen Triebtheorie ersichtlich wird, würde man hierdurch den Aphorismen ein allzu großes Gewicht einräumen, da sich eine Beeinflussung durch Platner zumeist auf unwesentliche Faktoren wie z. B. die Ähnlichkeit in der Wahl der Terminologie oder auf die Zweiteilung eines allgemeinen Triebes, der durch die Befriedigung der beiden untergeordneten Triebe selbst saturiert wird, beschränkt. Auch kann man die Tatsache, dass beide eine eigene Trieblehre ausgearbeitet haben, keinesfalls als Besonderheit ausweisen, da eine philosophische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Trieben und Instinkten im 18. Jahrhundert durchaus en vogue war.⁴¹¹ Indem Reinhold in den Grundlinien die vorstellende Kraft als den „eigentliche[n] Grund der Wirklichkeit der Vorstellung, in so weit derselbe im vorstellenden Subjekt vorhanden seyn muß“ (Versuch, 560), bestimmt, knüpft er an seine Ausführungen im zweiten Paragraphen der Vergnügensschrift an, da er diese Kraft dort bereits auf eine ähnliche Weise als „das Gemüth selbst[,] in so ferne durch sein Vermögen Vorstellungen wirklich werden“ (Vergnügensschrift 1788, 63), bezeichnet. Neu im Versuch ist, dass die Vorstellungskraft deutlich vom bloßen Vorstellungsvermögen und seiner Rezeptivität und Spontaneität unterschieden wird, da dieses anders als jene nur die bestimmte Möglichkeit bzw. die reinen (nicht-empirischen) Formen ausdrückt, anhand derer man sich überhaupt irgendetwas vorstellen bzw. sich etwas bewusst werden kann. Gegenüber dieser bloß formalen Elementarstruktur und denknotwendigen Voraussetzung jeglichen menschlichen Bewusstseins nimmt die vorstellende Kraft die Funktion der wesentlichen Realisierungsbedingung ein, doch muss diese Kraft in ihrer Wirksamkeit völlig jener Struktur

411 So widmet z. B. Sulzer eine seiner Abhandlungen in den Vermischten Philosophischen Schriften unter anderem der Frage, warum der Mensch manchmal gegen die eigenen Antriebe handelt (Vgl. Vermischte Schriften, 99 ff.), oder spricht wie selbstverständlich von einem „beständigen Trieb zu denken“. (Vermischte Schriften, 310) Selbst wenn bei Burke nicht explizit von Trieben die Rede ist, so impliziert seine These, dass alle unsere Leidenschaften darauf ausgerichtet sind, der ‚Selbsterhaltung‘ oder ‚Gesellschaft‘ zu entsprechen, dasjenige, was man gewöhnlicherweise als Triebe bezeichnet. (Vgl. Enquiry, 57) Mendelssohn spricht in beiden Bänden seiner Philosophischen Schriften durchaus in eigener Sache von einem ‚Trieb zur Vollkommenheit‘. (Vgl. Phil. Schriften I, 42 f.; 184 ff. Anm. Vgl. Phil. Schriften II, 51 f.) Auch sei hier auf Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) verwiesen, der in Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion den Tieren und Menschen auffällig häufig bestimmte Triebe zuschreibt. (Vgl. Reimarus, Hermann Samuel: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. 3. Aufl. Hamburg, 1766, 2; 63; 79 f. Anm.; 319 Anm.; 341 f.; 348 f.; 409; 532; 544; 568 ff.; 711 f.; 744 ff.)

4.2 Reinholds Triebtheorie

147

gehorchen.⁴¹² Der im vorstellenden Subjekt verankerte Trieb nach Vorstellungen besteht aus diesem Verhältnis bzw. „aus der Verknüpfung der Kraft mit dem Vermögen“ (Versuch, 561), was sich einfach dadurch erklären lässt, dass die Vorstellungen, die wir aufgrund des Triebes begehren, ein bloßes Vorstellungsvermögen a priori voraussetzt. Dabei heißt „durch den Trieb zur Erzeugung einer Vorstellung bestimmt werden, […] Begehren, und das Vermögen durch den Trieb bestimmt zu werden, das Begehrungsvermögen in weiterer Bedeutung.“ (Versuch, 561) Der Kern der Grundlinien besteht nun in der Aufstellung zweier wesentlich verschiedener Grundtriebe des Begehrungsvermögens – dem ‚Trieb nach dem Stoff der Vorstellung‘ und dem ‚Trieb nach der Form der Vorstellung‘. Durch den erstgenannten wird der in allen unseren Vorstellungen gegebene und damit unter die reine Form der Rezeptivität gebrachte Gehalt, das Aposteriorische, welches die Wirklichkeit des Vorgestellten andeutet, begehrt. Er wird also immer dann befriedigt, wenn der aufnehmende Teil des Vorstellungsvermögens affiziert wird, was für Reinhold nicht nur Grund genug ist, ihn – auf eine elementare Art und Weise – als ‚sinnlich‘, sondern auch als ‚eigennützig‘ zu bezeichnen. Der letztgenannte Trieb strebt nach dem an jeder Vorstellung vorhandenen Repräsentationsmodus, der durch die Kraft des Vorstellenden gemäß der im Vorstellungsvermögen der Möglichkeit nach angelegten apriorischen Gesetzmäßigkeiten der Spontaneität hervorgebracht ist. Das durch ihn bewirkte Verlangen wird folglich durch die Tätigkeit der vorstellenden Kraft gestillt, was ihn nicht nur zu einem – in einem basalen Sinne – ‚intellektuellen‘ Trieb mache, sondern auch für seine ‚Uneigennützigkeit‘ spreche.⁴¹³ Auch wenn Reinhold die folgende Assoziation nicht explizit vornimmt, ist es darüber hinaus naheliegend den Trieb nach dem Stoff mit der starken Beschäftigung des Vorstellungsvermögens und jenen nach der Form mit der leichten Beschäftigung zu verknüpfen. Diese beiden Triebe sind nach Reinhold aber nicht nur voneinander zu unterscheiden, sondern auch wesentlich durch den ‚Trieb nach Vorstellung überhaupt‘ – also nach dem Gattungsmerkmal aller Vorstellungen⁴¹⁴ – miteinander verknüpft.⁴¹⁵ Reinhold bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: Wie die Vorstellung überhaupt aus zwey wesentlich verschiedenen und wesentlich verknüpften Bestandtheilen, Stoff und Form besteht, so läßt sich der Trieb nach Vorstellung überhaupt in

412 Vgl. Versuch, 560 f. 413 Vgl. Versuch, 230 ff.; 235 ff.; 259 ff.; 264 ff.; 279 ff.; 297 ff.; 561 f. Reinholds Ausführungen zum Stoff und zur Form der Vorstellung sind an die Kant’schen Reflexionsbegriffe der Materie und Form, an das Bestimmbare überhaupt und dessen Bestimmung, angelehnt. (KrV, A 266 ff./B 322 ff.) Dass er Form und Stoff mit Trieben in Verbindung bringt, hat allerdings nichts mit Kant zu tun und wurde – höchstwahrscheinlich durch Platner angeregt – von ihm selbst beigesteuert. 414 Vgl. Versuch, 214 f. Vgl. Beyträge I, 176 f. 415 Vgl. Versuch, 561 f.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

zwey wesentlich verschiedene und wesentlich verknüpfte Grundtriebe unterscheiden, den Trieb nach Stoff und den Trieb nach Form der Vorstellung. Der Eine hat die Wirklichkeit desjenigen, was an der Vorstellung gegeben, der Andere, – was an ihr hervorgebracht werden muß, zum Objekte. Der Eine entsteht aus dem im vorstellenden Subjekte gegründeten Bedürfnisse eines Stoffes, den dasselbe nicht hervorbringen kann, verbunden mit der in seinem Vermögen bestimmten Form der Receptivität; der Andere aus der im vorstellenden Subjekte vorhandenen positiven Kraft, verbunden mit der in seinem Vermögen bestimmten Form seiner Spontaneität. Der Eine strebt nach dem Afficiertwerden der Receptivität, und ist in so ferne sinnlich in weiterer Bedeutung; der andere nach Aeußerung der Spontaneität, und ist in so ferne intellektuell in weiterer Bedeutung. Der Eine wird nur durchs Gegebenwerden befriediget, und ist in so ferne eigennützig, der andere – nur durch bloßes Handeln, und ist in so ferne uneigennützig. (Versuch, 561 f.)

Wie schon der Trieb nach Vorstellungen bzw. Vorstellung überhaupt, sind die hier neu eingeführten Triebe derart fundamental für die menschliche Existenz, dass sie allem durch das Bewusstsein vermitteltem Sein – und also aller Existenz, die uns überhaupt irgendwie zugänglich sein kann – ursächlich zugrunde liegen, weil sie es in Kombination miteinander allererst zuwege bringen, dass in uns überhaupt ein unbewusstes Verlangen nach Bewusstsein wirksam ist, welches sich daran äußert, dass unsere gesamte Konstitution beständig darauf ausgerichtet ist, nach Eindrücken und nach dem Ordnen und tätigen Verstehen dieser Eindrücke zu streben. Schließlich nennt Reinhold die Triebe nach Stoff und Form der Vorstellung – wie in dem zuletzt eingeschobenen Zitat – nicht ohne Grund ‚Grundtriebe‘. Auch wenn durch diese Bezeichnung nicht ersichtlich wird, ob wir uns den allgemeinen Trieb nach Vorstellung überhaupt als von den anderen Trieben unabhängig existierend oder gar wohl nur als Gattung der anderen Triebe zu denken haben, so wird durch jene Bezeichnung zumindest deutlich, dass es sich beim sinnlichen Trieb (nach dem Stoff ) und dem intellektuellen Trieb (nach der Form) nicht bloß um Aspekte jenes allgemeinen Triebes handelt. Diese beiden ursprünglichen Triebe werden von Reinhold in mehreren Hinsichten differenziert und spezifiziert, wobei zu beachten gilt, dass auch wenn die beiden ursprünglichen Triebe erfüllt werden, dies doch nicht auf ihre Spezifikationen zutrifft. Ohne auf alle Details eingehen zu können, ist hier insbesondere hervorzuheben, dass nur der sinnliche Trieb in seinen ‚grobsinnlichen‘ und ‚feinsinnlichen‘ Ausformungen bloß auf Empfindungen abzielt. Denn dieser Trieb, der „sinnlich in engster Bedeutung“ genannt wird (bloß sinnlicher Trieb), geht ja nicht auf die Vorstellung in ihrer Gesamtheit, sondern auf diejenige Komponente derselben, die „durch die Art des Afficiertwerdens entsteht, […] in wie ferne sie im Bewusstseyn auf das vorstellende Subjekt bezogen wird, d. h. Empfindung ist.“ (Versuch, 562) Insofern der sinnliche Trieb aber in Verbindung mit den fundamentalsten Verstandesfunktionen (Kategorien) der Quantität, Qualität, Relation

4.2 Reinholds Triebtheorie

149

und Modalität und der Idee des Unbedingten als der ‚vernünftig-sinnliche‘ Trieb auf den Plan tritt, fordert er über einzelne Empfindungen hinausgehend die Glückseligkeit, welche die Befriedigung alles nur möglichen verstandesmäßig modifizierten Begehrens in ihrer Absolutheit verheißt.⁴¹⁶ Da dieser Trieb, der als „sinnlich in bloß engerer Bedeutung“ (Versuch, 563) gilt, bei all seiner Intellektualität jene Absolutheit im Empfinden zu erreichen strebt, kann seine „mögliche Befriedigung […] nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung des wirklichen Zustandes an das Ideal der Glückseligkeit bestehen.“ (Versuch, 566)⁴¹⁷ Immerhin ist diese Art des sinnlichen Triebes, welchen Reinhold auch als ‚Trieb nach Glückseligkeit‘ bezeichnet, noch „im Dienste der sinnlichen Neigung, des nothwendigen Hanges nach Vergnügen“. (Versuch, 567) So wie der sinnliche Trieb, welcher bloß auf Empfindungen ausgerichtet ist, gilt der Trieb nach Glückseligkeit als eigennützig, da „seine Urquelle […] das durch Verstand und Vernunft modificierte Bedürfniss afficirt zu werden“ ist und seine „Befriedigung […] vom Gegebenwerden des objektiven Stoffes“ abhängt, bei dem es sich „wenigstens eben so sehr [um] eine zufällige Wirkung von Dingen, die das vorstellende Wesen nicht in seiner Gewalt hat“ (Versuch, 566), handelt. Erst der intellektuelle Trieb unter der Bezeichnung ‚rein-vernünftig‘ sei wahrhaft uneigennützig, da er sich wiederum unter die Kategorien gebracht, aber unter strengem Ausschluss aller Empfindungen und ‚durch nichts als die Selbsttätigkeit der Vernunft bestimmt‘ auf die Idee der Sittlichkeit beziehe. Sein Bestreben liegt also einzig und allein im Versuch, diese Idee anhand der ‚Handlungsweise der Vernunft‘, die a priori als ‚Vernunftform ihrer Möglichkeit nach im Subjekt vorliegt‘, zu verwirklichen. ⁴¹⁸ Auf diese Differenzen zwischen dem vernünftig-sinnlichen und rein-vernünftigen Trieb weist Reinhold auch selbst hin:

416 „Der eigentliche Gegenstand des vernünftig sinnlichen Triebes ist […] keine einzelne durch den Verstand modificierte Empfindung, sondern ein Zustand der aus der Befriedigung aller durch den Verstand bestimmten und durch Vernunft aufs Absolute ausgedehnter Triebe entstehen würde – die Glückseligkeit; ein Objekt, das nur durch eine Idee in engerer Bedeutung vorgestellt werden kann. Ich sage durch Idee in engerer Bedeutung, das heißt, durch eine Vorstellung des Unbedingten, die nur durch Verbindung empirischer Begriffe entsteht, und bey der die Vernunft nur à posteriori wirksam ist“. (Versuch, 565) Diese Bestimmung der Triebobjekte stützt sich auf Kants Tafel der Kategorien (KrV, A80/B106) und seine Termini technici der Idee und des Unbedingten. (KrV, A 310 ff./B 366) Reinhold grenzt die Ideen in engerer Bedeutung von denen in engster Bedeutung ab; erstere werden aus empirischen Begriffen, letztere hingegen nur aus apriorischen Begriffen erschlossen. (Versuch, 501 ff.) 417 Vgl. Versuch, 563 ff. 418 Versuch, 569 f.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Die Handlung der Vernunft im rein-vernünftigen Triebe ist von der Handlung im Vernünftigsinnlichen wesentlich verschieden. Beym letztern bestimmt die Vernunft das nur a posteriori Vorstellbare der Empfindung […]. Beym erstern wirkt sie durch keine Empfindung aufgefordert, […], wirkt ganz unabhängig vom Afficiertseyn, setzt zur Wirklichkeit ihrer Handlung keineswegs den sinnlichen Trieb und das Empfindungsvermögen voraus, und handelt folglich völlig à priori aus der Fülle ihrer Selbstthätigkeit. (Versuch, 569 f.)

Im Gegensatz zum vernünftig-sinnlichen Trieb (nach Glückseligkeit) kommen dem rein-vernünftigen Trieb deshalb auch die Prädikate des ‚Moralischen‘ und ‚Sittlichen‘ zu.⁴¹⁹ Auch auf deren Unterschiede hinsichtlich Eigennützigkeit und Uneigennützigkeit macht Reinhold gesondert aufmerksam: Der Trieb nach Sittlichkeit ist vom Triebe nach Glückseligkeit wesentlich verschieden. Der eine ist in der blossen positiven Kraft, der andere im blossen durch Verstand und Vernunft modificierten Bedürfnisse gegründet; der eine ist folglich ganz uneigennützig, der andere ganz eigennützig. Dem einem [sic!] ist bloß die mögliche Form seines Gegenstandes im Vernunftvermögen bestimmt, der Stoff hingegen, durch welchen sein Gegenstand zur Wirklichkeit kömmt, die Realisierung der rein-vernünftigen Handlungsweise ist ganz sein eigenes Werk; dem andern ist der Stoff seines Gegenstandes durch Empfindungen gegeben, und zwar der objektive Stoff ganz durchs Afficiertwerden von aussen. (Versuch, 572)

Doch hat der rein-vernünftige Trieb nicht nur nicht den sinnlichen Trieb und das ihn mit Vorstellungen versorgende Empfindungsvermögen zur Bedingung, sondern steht sogar im Widerstreit mit diesen. Denn wie Reinhold weiter ausführt, wird „der Trieb nach Sittlichkeit […] ganz vernichtet, wenn er dem Triebe nach Glückseligkeit“ untergeordnet wird, wohingegen der Trieb nach Glückseligkeit „bloß aufs Gesetzmässige beschränkt [wird], wenn er dem Triebe nach Sittlichkeit subordiniert wird.“ (Versuch, 573) Das dem rein-vernünftigen Trieb inhärierende uneigennützige Verlangen nach Moralität hat also einen ethischen Primat gegenüber dem vernünftig-sinnlichen Trieb und seinem eigennützigen Streben nach Glückseligkeit. Nicht zuletzt stimmt diese Vorrangstellung auch mit den Ausführungen der Vergnügensschrift, nach denen das Vergnügen niemals der Endzweck unserer sittlichen Absichten und Handlungen sein darf, überein und komplementiert diese. Ebenso in Einklang mit der Vergnügensschrift und der darin enthaltenen Neubestimmung des Begriffs der Glückseligkeit ist zu sehen, dass Reinhold die Triebe nach Glückseligkeit und Sittlichkeit in einem einzigen Trieb nach dem ‚ganzen höchsten Gut des Menschen‘ vereinigt.⁴²⁰ Diese Synthese beschreibt er folgendermaßen:

419 Versuch, 570. 420 Siehe 2.4.2 der hier vorliegenden Studie.

4.2 Reinholds Triebtheorie

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So wie Sinnlichkeit und Vernunft in ihrer unzertrennlichen Vereinigung die Natur des menschlichen Gemüthes […] ausmachen: so machen der Trieb nach Glückseligkeit und der Trieb nach Sittlichkeit in ihrer unzertrennlichen Vereinigung den ganzen Trieb des menschlichen Gemüthes, und Glückseligkeit mit Sittlichkeit verbunden, das ganze, vollständige Objekt dieses Triebes, das ganze höchste Gut des Menschen aus.Verbindung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit ist aber nur dadurch denkbar, dass im Subjekte der Trieb nach Glückseligkeit dem Triebe nach Sittlichkeit untergeordnet; im Objekte des ganzen Triebes das Maaß der Glückseligkeit durch das Maaß der Sittlichkeit bestimmt, und die Glückseligkeit nur in so ferne begehrt und erworben werde, als sich das Subjekt durch seine Sittlichkeit derselben moralisch fähig, d. h. würdig gemacht hat. (Versuch, 574)

Wie hier ersichtlich wird, betont er wiederum die Vorrangstellung der Moralität und die Unterordnung des Vergnügens, weshalb die Befriedigung des Triebes nach dem höchsten Gut nicht in der Erfüllung des Verlangens nach Vergnügen bestehen kann, insofern dieses der Glückswürdigkeit widerspricht.

4.2.2 Anwendung der Triebtheorie auf das ästhetische Vergnügen mit Berücksichtigung Kants Welche Bedeutung hat die hier dargelegte Trieblehre nun für ästhetische Belange? Wie lässt sich das ästhetische Vergnügen innerhalb der Differenzierungen zwischen dem bloß sinnlichen, dem vernünftig-sinnlichen und dem rein-vernünftigen Trieb einordnen? Wir haben bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass Reinhold in seiner Geschmacksschrift eine Dreiteilung der angenehmen Empfindungen in ‚physische‘, ‚ästhetische‘ und ‚moralische‘ vornimmt.⁴²¹ Diese Arten des Vergnügens nehmen laut ihm durch ihre voneinander verschiedenen Beschäftigungen der Gemütskräfte einen unterschiedlichen Einfluss auf unsere Glückseligkeit: Die angenehmen Empfindungen, die durch ihre Zusammenwirkung und ihr gehöriges Verhältniß gegen einander unsre Glückseligkeit ausmachen sollen, sind entweder moralisch, oder ästhetisch, oder physisch, je nachdem ihr Gegenstand mehr den Verstand als die Sinnlichkeit, oder Verstand und Sinnlichkeit gleich viel, oder endlich die Sinnlichkeit allein beschäftiget. (Geschmacksschrift, 179)

Auch wenn sich die folgende Zuordnung bei Reinhold nicht explizit findet, ist es aufgrund der jeweiligen Beteiligung der Sinnlichkeit und des Verstandes bzw. der Vernunft naheliegend anzunehmen, dass der bloß sinnliche Trieb – der ja nur auf Empfindungen abzielt – in uns das Verlangen nach dem physischen, der vernünftigsinnliche Trieb – welcher sich sowohl auf Empfindungen als auch auf den Intellekt 421 Siehe 2.4.1 und 4.1.1 der hier vorliegenden Studie.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

stützt – unter anderem das Verlangen nach dem ästhetischen und der rein-vernünftige Trieb – der alle Empfindungen ausschließt – das Verlangen nach dem moralischen Vergnügen erzeugt. Das Primat des rein-vernünftigen Triebes gegenüber dem vernünftig-sinnlichen Trieb sagt somit eine Subordination des ästhetischen Vergnügens unter das moralische Vergnügen aus. Dies kommt auf Basis der eben durchgeführten Zuordnung der These gleich, dass wenn das Ästhetische bei der Erlangung einer wahrhaften Glückseligkeit – welche die Glückswürdigkeit zur notwendigen Voraussetzung hat – eine Rolle spielen soll, dann dürfen wir an dem Ästhetischen, insofern es unmoralisch ist bzw. dem Sittengesetz widerspricht, kein Wohlgefallen finden. Der Geschmack und das Vergnügen am Ästhetischen sind dabei nicht als eine hinreichende Bedingung zur Erfüllung des Triebes nach dem ganzen höchsten Gut des Menschen zu verstehen. Denn wie Reinhold bekundet, ist er „weit [davon] entfernt […], die Bildung des Geschmacks für diejenige Kultur der Empfindung zu halten, welche allem Misbrauche [sic!] des Wissens vorbeugt, und die diejenige Harmonie zwischen Geist und Herzen hervorbringt, in welcher die Glückseligkeit und Würde des Menschen besteht.“ (Geschmacksschrift, 178) Wenn es um die Moral als solche geht, dann stütze sich diese – dem ethischen Kognitivismus Kants entsprechend – nicht auf Empfindungen, sondern sei als ein ‚System von Regeln‘ zu begreifen. Sollen diese moralischen Gesetze aber zur Anwendung kommen, müssen dabei Empfindungen involviert sein.⁴²² Da es nach Reinhold „unläugbar [ist], daß das Studium der Regeln des Geschmackes der Empfindung diejenige Bildung gebe, die man von der Logik für den Verstand zu erwarten gewohnt ist“ (Geschmacksschrift, 178), und da aus dieser Bildung ein verfeinertes Empfindungsvermögen hervorgeht, unterstützt und befördert die Beschäftigung mit Ästhetischem die Verwirklichung des Sittengesetzes. Gleichsam kann das Ästhetische und das Vergnügen an diesem als eine indirekte Triebfeder zur Umsetzung der vornehmlich auf intellektuellem Wege eingesehenen praktischen Vernunftgesetze dienen, insofern der Ästhetiker die Schönheit der Natur offenzulegen oder der Künstler die Vollkommenheit dieser Gesetze sinnlich zu manifestieren vermag, wodurch der gebildete Rezipient derselben auf das moralische Wohldenken und -handeln eingestimmt wird, ohne dass dadurch das Schöne zum Bestimmungsgrund seiner Gesinnung im moralischen Urteil wird.⁴²³ Aufgrund dieses kontingenten Zusammenhangs zwischen dem Schönen

422 Vgl. Geschmacksschrift, 178 f. 423 „Mit einer sinnlichen Hülle angethan wird diese Vollkommenheit [des Sittengesetzes] Schönheit, erscheint dem Verstande und dem Gefühle zugleich, und wird aus einer bloßen Idee ein wirklicher Gegenstand für uns.“ (Geschmacksschrift, 179)

4.2 Reinholds Triebtheorie

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und der Moral, der auf der Ebene der Triebtheorie einem indirekten positiven Einfluss des durch den Geschmack geleiteten vernünftig-sinnlichen Triebes auf den rein-vernünftigen Trieb gleichkommt, wird der ‚gebildete und kultivierte Verstand‘, der anders als die ‚ungebildete Sinnlichkeit‘ nicht dem physischen, sondern dem moralischen Vergnügen den Vorzug gibt, auch das ästhetische Vergnügen dabei nicht außer Acht lassen.⁴²⁴ Denn „der kultivierte Verstand wird seine Wahl […] nie durchsetzen, wenn er nicht die Sinnlichkeit auf seiner Seite hat; er wird sie aber nie auf seiner Seite haben, wenn er ihr nicht wirkliche Gegenstände vorzuhalten hat“. (Geschmacksschrift, 179 f.) Wie Reinhold deutlich macht, unterstützen die Künste und Bildung des Geschmacks die Bestrebungen der Natur, uns durch ihre Schönheit zu erhabeneren Formen des Vergnügens zu bewegen und damit für Moralität empfänglicher zu machen. Mit anderen Worten haben sie einen pädagogischen Zweck: Diese weisen und wohlthätigen Absichten der Natur zu befördern, ist der vornehmste Zweck und die edelste Beschäftigung der schönen Künste und Wissenschaften. Indem diese die einzelnen Schönheiten, welche die Natur über ihre Werke ausgegossen hat, näher um uns herum versammeln, vervielfältigen und erhören lehren: erwecken, nähren und schärfen sie in uns diejenige Fähigkeit unsres Empfindungsvermögens, welche zunächst an die Moralische gränzt; erzeugen sie Neigungen und Fertigkeiten zu angenehmen Empfindungen, bey welchen der Verstand nicht weniger als die Sinnlichkeit thätig ist. (Geschmacksschrift, 181)

Die schönen Künste und das kultivierte Gefallen an ihren Produkten erfüllen aber auch einen pädagogischen Zweck in Bezug auf die allgemeine wissenschaftliche Bildung: Nicht weniger wichtig ist der Einfluß des gebildeten Geschmackes auf die Bildung des Geistes durch Wissenschaften, als auf die Bildung des Herzens durch Sittlichkeit. Durch den Genuß derjenigen Schönheiten mit welchen das Studium der Regeln des Geschmacks vertrauter macht, erhält der Geist diejenige sanfte, ruhige und heitere Stimmung, die seine ernsthaftesten Anstrengungen erleichtert, und mit dem glücklichsten Erfolge krönt. Erhaben über die Versuchungen, seine Erholung bey groben und niedrigen Ergötzungen aufzusuchen, die seine Kräfte zerstreuen und abstumpfen würden, erquickt er sich an den ewig blühenden, niemals ersättigenden Reizen, die ihm Natur und Kunst zu allen Zeiten darbieten. (Geschmacksschrift, 181 f.)

Unser Elementarphilosoph schlägt damit einen Mittelweg zwischen dem zum Neuplatonismus tendierenden Anthony Ashley Cooper, dem dritten Earl of Shaftesbury (1671 – 1713), und dem kulturpessimistisch veranlagten Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) ein. Denn anders als Shaftesbury, der in seinen ästhetischen 424 Vgl. Geschmacksschrift, 179.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Ausführungen von einer substantiellen Einheit des Wahren, Schönen und Guten ausgeht,⁴²⁵ fasst Reinhold dieselben nicht bloß als verschiedene Zugangsweisen zu ein und derselben Sache auf. Obwohl er der Ansicht ist, dass Geschmack und sittliches Gefühl letztendlich auf derselben Fähigkeit beruhen, hat die von den Gefühlen fast vollständig losgelöste Ethik – als eine reine und also ohne Beimischung der Tugendlehre – nichts mit ersterem zu schaffen. Und anders als Rousseau, der selbst eine Art Platonismus bedient, indem er den freien Künsten einen verderblichen Einfluss auf die Gesellschaft attestiert,⁴²⁶ schätzt Reinhold die Künste insgesamt als postiv ein, solange ihre Ausübung nicht im Widerspruch zu den ethischen Prinzipien steht. Einerseits ist es also möglich, dass das Schöne etwas moralisch Schlechtes verkörpert, wiewohl das Schöne unter ethischen Erwägungen nicht moralisch schlecht sein darf; und andererseits kann die Vermittlung ästhetischer Qualitäten Moral und Wahrheit befördern. Es ist bemerkenswert, dass Reinhold bereits vor Kant in einer ähnlichen Form auf die Bedeutung des Schönen für die Moral hingewiesen hat. In der KdU können wir lesen, dass „das Schöne […] kultiviert, indem es […] auf [die] Zweckmäßigkeit im Gefühle der Lust acht zu haben lehrt“ (KdU, 113), oder uns darauf vorbereitet „etwas“ und „selbst die Natur ohne Interesse zu lieben“ (KdU, 115), was der moralischen Pflichterfüllung, die unter Umständen gegen das Eigeninteresse gerichtet ist, natürlich nur zuträglich sein kann, auch wenn das ästhetische Urteil am Erhabenen hierfür von größerer Bedeutung sein mag.⁴²⁷ Damit übereinstimmend hält Kant

425 „The most natural beauty in the world is honesty, and moral truth. For all beauty is truth. True features make the beauty of a face and true proportions, the beauty of architecture as true measures, that of harmony and music. In poetry, which is all fable, truth still is the perfection.“ (Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Lawrence E. Klein (Hrsg.). Cambridge 2000, 65) Vgl. Guyer 2014, 34; 38 ff.; 47. 426 „Nos âmes se sont corrompues à mesure que nos sciences et nos arts se sont avancés à la perfection. Dira‐t‐on que c’est un malheur particulier à notre âge? Non, messieurs; les maux causés par notre vaine curiosité sont aussi vieux que le monde.“ (Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts. In: Schriften zur Kulturkritik. Kurt Weigand (Hrsg.). Hamburg 1995, 2 – 59. Hier: 14) „C’est un grand mal que l’abus du temps. D’autres maux pires encore suivent les lettres et les arts. Tel est le luxe, né comme eux de l’oisiveté et de la vanité des hommes. Le luxe va rarement sans les sciences et les arts, et jamais ils ne vont sans lui.“ (Discours, 34) Vgl. Guyer 2014, 291; 293 ff.; 297 ff. 427 „Der Gegenstand eines reinen und unbedingten intellektuellen Wohlgefallens ist das moralische Gesetz in seiner Macht, die es in uns über alle und jede vor ihm vorhergehenden Triebfedern des Gemüts ausübt; und da diese Macht sich eigentlich nur durch Aufopferungen ästhetisch kenntlich macht […]: so ist das Wohlgefallen von der ästhetischen Seite (in Beziehung auf die Sinnlichkeit) negativ, d. i. wider dieses Interesse, von der intellektuellen aber betrachtet positiv und mit einem Interesse verbunden. Hieraus folgt, daß das intellektuelle, an sich selbst zweckmäßige (das Moralisch‐)Gute, ästhetisch beurteilt, nicht sowohl schön als vielmehr erhaben vorgestellt werden müsse, so daß es mehr das Gefühl der Achtung […] als der Liebe und vertraulichen Zu-

4.2 Reinholds Triebtheorie

155

fest, dass bei dem, den „die Schönheit der Natur unmittelbar interessiert, […] man Ursache [hat], wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu vermuten.“ (KdU, 169 f.)⁴²⁸ All diese Äußerungen kumulieren schließlich in seiner These, dass „das Schöne […] das Symbol des Sittlichguten“ (KdU, 258) ist, was im Grunde genommen nichts anderes bedeutet, als dass das Schöne das Moralische indirekt gemäß einer Analogie darstellt, durch die sich über das Moralische derart reflektieren lässt, als ob es etwas Schönes wäre, weil beide z. B. darin übereinkommen, dass sie für alle urteilenden Subjekte a priori gültig sind und Anlass zu dem Bewusstsein geben, uns selbst als Wesen zu begreifen, die nicht auf das bloße Lustempfinden reduziert werden können.⁴²⁹ Mit der Rede vom ‚Symbol des Sittlichguten‘ verbindet Kant aber so wie Reinhold auch einen indirekten positiven Einfluss des Geschmacks auf unsere Empfänglichkeit für das wahrhaft Sittliche: Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt. (KdU, 260)⁴³⁰

Ingesamt betont Reinhold die motivierende Funktion zum moralisch guten Denken und Handeln, welche dem Ästhetischen zukommt – insofern es moralische Ideen zu hypostasieren vermag –, aber etwas stärker als Kant. Vermutlich schien unserem Elementarphilosophen das Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, welches nach Kant „die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (KpV, 139) ist, durch kontingente Faktoren ergänzungsbedürftig.

neigung erwecke; weil die menschliche Natur nicht so von selbst, sondern nur durch Gewalt, welche die Vernunft der Sinnlichkeit antut, zu jenem Guten zusammenstimmt.“ (KdU, 120) 428 „Die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteile, welches, ohne von irgendeinem Interesse abzuhangen [sic!], ein Wohlgefallen fühlen läßt und es zugleich a priori als der Menschheit überhaupt anständig vorstellt, […] [und] dem moralischen Urteile, welches ebendasselbe aus Begriffen tut, [führt] auch ohne deutliches, subtiles und vorsätzliches Nachdenken, auf eine gleichmäßiges unmittelbares Interesse an dem Gegenstande des ersteren, sowie an dem des letzteren; nur daß jenes ein freies, dieses ein auf objektive Gesetze gegründetes Interesse ist. Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, die sich an ihren schönen Produkten der Kunst […] als Zweckmäßigkeit ohne Zweck […] zeigt; welchen letzteren […] wir natürlicherweise in uns selbst, und zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der moralischen Bestimmung, suchen“. (KdU, 170) 429 Vgl. KdU, 256 ff. 430 Das Gesagte bestätigend können wir auch in der Metaphysik der Sitten lesen, dass die Schönheit „diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, […] etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben“. (MS AA VI, 443)

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Nicht zu vernachlässigen ist auch der postive Einfluss des Schönen auf die Wissenschaft. Zusammen mit der Beförderung der moralischen Gesinnung durch den gebildeten Geschmack ergibt sich eine Einheitsfunktion des ästhetischen Erlebens. In gewisser Hinsicht erweist sich das Schöne oder das Vergnügen an demselben in den realen Äußerungen der menschlichen Vernunft als symbolischer Knotenpunkt der beiden Gegenpole Natur und Freiheit.⁴³¹ Bereits Bondeli macht darauf aufmerksam, dass Reinhold in seiner Geschmacksschrift wertvolle Überlegungen zur Vermittlung des Gegensatzes zwischen Sinnlichkeit und Verstand einerseits sowie zwischen Natur (Verstand) und Moral (Vernunft) andererseits liefert.⁴³² Dies darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass Reinhold eine Vermittlung im Sinne Kants vornimmt. Denn diese besteht im Kern darin, dass das Phänomen des Schönen – besonders des Naturschönen – Anlass dazu gibt, über die Natur von einem subjektiven Gesichtspunkt aus als etwas zu reflektieren, das für unsere Urteilskraft zweckmäßig eingerichtet ist, womit Raum für die gegründete Vermutung geschaffen wird, dass die Natur auch für den Freiheitsbegriff zweckmäßig eingerichtet sein könnte.⁴³³ Reinholds symbolischer Knotenpunkt wird dieser Form einer regulativen Vermittlung nicht gerecht, weil ihm das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit fehlt. Nun gilt es zu prüfen, ob Reinholds – vor der Veröffentlichung der dritten Kritik ausgearbeitete – Theorie des Vergnügens und Trieblehre mit derjenigen Platners übereinstimmt. Hier wird sich zeigen, dass Reinhold in vielfacher Weise durch Platner inspiriert wurde, dass die sachlichen Unterschiede jedoch insgesamt stärker wiegen als die Gemeinsamkeiten, und dass dies unverkennbar auf die Einflüsse der Kritik der reinen und der Kritik der praktischen Vernunft zurückzuführen ist.

431 Kant zu diesen Gegenpolen: „Das Gebiet des Naturbegriffs unter der einen [Gesetzgebung des Verstandes], und dass des Freiheitsbegriffs unter der anderen Gesetzgebung [der Vernunft] sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, den sie für sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) aufeinander haben können, durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit; und es ist insofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem anderen hinüberzuschlagen.“ (KdU, LIII f.) 432 Vgl. Bondeli 2016, 13. 433 Vgl. KdU, LIII ff.

4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich

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4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich 4.3.1 Reinholds und Platners Vergnügenskonzeptionen im Vergleich Wie wir bereits ausgeführt haben, zeichnen sich die angenehmen und unangenehmen Empfindungen nach Reinhold dadurch aus, dass sie nicht dem Erkenntnisvermögen, sondern dem Begehrungsvermögen angehören. Immer dann, wenn wir vergnüglich gestimmt sind, ist also im Wesentlichen das Begehren am Werk. Der sinnliche Trieb strebt nach Vergnügen und kümmert sich weder um Wahres noch um Falsches; der Trieb nach Vorstellungen verlangt nach der Verwirklichung der Vorstellungen, welche zum Zustand des Subjekts zählen und bei denen es sich nicht um die vorstellbaren oder erkennbaren Objekte handelt. Findet das Begehrte im Bewusstsein sein reales Pendant, so stellt sich eine subjektive Vollkommenheit ein und der Trieb wird befriedigt, was Vergnügen bereitet. Die Empfindungen und somit auch das Vergnügen und Missvergnügen weisen nur eine konstitutive Bedingung auf: die Empfänglichkeit für einen Vorstellungsstoff bzw. das Vermögen, affiziert zu werden (Sinnlichkeit). Bei Platner sind die Empfindungen ein sinnlich vermitteltes Bewusstsein der eigenen Zustände, die nicht vom Erkenntnisvermögen herrühren, sondern vom Empfindungsvermögen abstammen, wobei die Empfindungen entweder als positive oder negative auftreten, je nachdem, ob der ihnen zugrundeliegende Trieb befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt.⁴³⁴ Es sind bereits hier Unterschiede zwischen den beiden Philosophen zu verzeichnen. Von Reinhold werden die Empfindungen nicht als ein Bewusstsein der subjektiven Zustände aufgefasst, sondern als Bestimmungen oder Veränderungen dieser Zustände, insofern sie Vorstellungen sind, womit er sich nach der in der KrV enthaltenen Stufenleiter der Vorstellungsarten richtet.⁴³⁵ In dieser Anleitung zum korrekten Sprachgebrauch bestimmt Kant die Empfindung in Abgrenzung zur Erkenntnis nämlich als eine „Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes bezieht.“ (KrV, A 320/

434 Siehe 3.2.2 der hier vorliegenden Studie. 435 „Man hat oft, aber jedesmal sehr unrichtig die Empfindung für Bewusstseyn der Veränderung des Zustandes erklärt. Die Empfindung ist die Veränderung des Zustandes selbst, nicht das Bewusstseyn derselben. Dieses setzt Vorstellung der Veränderung des Zustandes, Vorstellung der Empfindung voraus, und ist dann Bewusstseyn der Empfindung […]. Zu jeder Empfindung im engeren Sinne gehört freylich Bewusstseyn, in dem die Empfindung in der aufs Subjekt bezogenen sinnlichen Vorstellung besteht: aber nicht zu jeder Empfindung gehört Bewusstseyn der Empfindung, so wenig als zu jeder Vorstellung Bewusstseyn der Vorstellung. Die sinnliche Vorstellung ist nur in sofern blosse Veränderung des Zustandes als sie aufs Subjekt bezogen wird. Dieß Bezogenwerden ist ihr also als Empfindung wesentlich.“ (Versuch, 359 f.)

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

B 376) Was für Platner eine Empfindung ist, ist für Reinhold streng genommen das Bewusstsein einer Empfindung. Ein weiterer ins Auge stechender Unterschied ist, dass Platner das Empfindungsvermögen als Ursache für die Empfindungen hervorhebt, wohingegen bei Reinhold die Zugehörigkeit des Vergnügens zum Begehrungsvermögen zentral ist. Man kann hier aber nur zur Überzeugung gelangen, dass in diesem Punkt eine Inkompatibilität vorliegt, wenn man fälschlicherweise davon ausgeht, dass es sich bei den Termini ‚Empfindungsvermögen‘ und ‚Begehrungsvermögen‘ um verschiedene Bezeichnungen derselben Sache handelt. Tatsächlich können sie aber nicht einfach synonym gesetzt werden. Denn mit ‚Empfindungsvermögen‘ verweist Platner auf eine Fähigkeit, die bei ihrer Betätigung die physische und zugleich seelische Ursache der Empfindungen ist,⁴³⁶ wohingegen mit ‚Begehrungsvermögen‘ im Sinne Reinholds ein von jeglicher Organisation, Kräften und geistiger Substanzen abstrahiertes bloßes Vermögen gemeint ist, das erst durch einen Trieb bestimmt nicht-veridisch nach Vorstellungen strebt.⁴³⁷ Zwar weicht Platner von dem elementarphilosophischen Verständnis, was grundsätzlich zu einem Vermögen gehört, ab, da er vor dem Hintergrund dieses Verständnisses für das Empfindungsvermögen den Begriff des inneren Sinnes in seiner weiteren Bedeutung verwendet, welcher etwa die Organisation miteinschließt.⁴³⁸ Weil seine Vergnügenskonzeption jedoch wesentlich auf einer Trieblehre fußt, kann ihm das Begehren und ein dafür vorauszusetzendes Vermögen offensichtlich kein Fremdkörper sein. Auch was die Befriedigung einer durch einen Trieb veranlassten Begierde, die Betonung der Sinnlichkeit, den Ausschluss des Erkenntnisvermögens und die Negierung des Bezugs auf Gegenstände, bei einer gleichzeitigen Betonung der subjektiven Zustände, betrifft, gleichen die beiden Philosophen einander in der Bestimmung der Natur des Vergnügens. Nach Platner sind Empfindungen undeutlich und können auch nicht zergliedert und deutlich gemacht werden.⁴³⁹ Wir erinnern uns, dass sich unser Elementarphilosoph gegen das Axiom der rationalistischen Tradition, demzufolge die Sinnlichkeit als eine Deprivation des Geistes aufzufassen ist, richtet, indem er sich für die Apriorität der Rezeptivität und ihre Unentbehrlichkeit für alle Vorstellungen einsetzt. Denn anderenfalls würde die Undeutlichkeit der Empfindungen fälschlicherweise für einen Mangel, also für eine Verworrenheit, erklärt werden, die durch die Deutlichkeit einer intellektuellen Einsicht in die Vollkommenheit behoben wird.

436 437 438 439

Vgl. Aphorismen I 1776, 109 ff. [§§ 354 ff.]. Vgl. Vergnügensschrift 1789, 47. Vgl. Versuch, 202 ff.; 220 ff.; 560 f. Vgl. Versuch, 195 ff. Siehe 3.2.2 der hier vorliegenden Studie.

4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich

159

Da die Empfindungen weder deutlich gemacht werden können noch sollen, sind sie zwar undeutlich, aber nicht verworren.⁴⁴⁰ Vergleicht man diesen Versuch einer Auflösung des Unbehagens, welches unter Umständen durch die rationalistische Abwertung der Sinnlichkeit erzeugt wird, mit Platners Ausführungen, so scheinen hier Ähnlichkeiten zu bestehen. Denn wenn Empfindungen gar nicht deutlich sein können, dann ist der Schluss zur Auffassung, dass man sie nicht mehr – in einem abwertenden Sinne – als verworren bezeichnen darf, nämlich nicht mehr weit. Jedoch trifft gemäß den Aphorismen das Merkmal, nicht zergliedert werden zu können, gar nicht auf alle Empfindungen zu. Immerhin gilt, dass „einige Arten von angenehmen und unangenehmen Empfindungen“ durch „die Zergliederung der Idee des Gegenstandes in einen deutlichen Begriff“ zunächst „geschwächt und endlich ganz vernichtet“ (Aphorismen II, 35 [§ 96]) werden. Nur diejenigen Empfindungen „können durch Zergliederung nicht vernichtet werden […], in welchen außer der Idee des Zustandes […] [keine] klare Vorstellung“ (Aphorismen II, 35 [§ 97]) vorhanden ist. Mit anderen Worten können nur diejenigen Empfindungen nicht deutlich gemacht werden, welche unabhängig von evaluativen Sachurteilen auftreten, weshalb von einer generellen und konsequenten Aufwertung der Sinnlichkeit – wie Reinhold sie durchführt – bei Platner nicht die Rede sein kann. Da er nichtsdestotrotz zum Teil eine gewisse Aufwertung vornimmt, wenn es um die Empfindungen für sich alleine genommen geht, stellt er hiermit möglicherweise eine Inspirationsquelle für Reinhold dar. Bedenkt man, dass Reinholds Begriff der Undeutlichkeit auch Implikationen für den Verstand bereithält, was sich daran zeigt, dass er die ‚Begriffe von Recht und Unrecht‘ und ‚Termini der spekulativen Philosophie‘ als Beispiele für verworrene Vorstellungen anführt, dann ist seine Nähe zu Kant hier aber weit auffälliger.⁴⁴¹ Denn dieser richtet sich – wenn auch in einem anderen Kontext als Reinhold – bereits in seiner KrV nicht nur gegen einen rationalistisch geprägten Begriff der Sinnlichkeit, der eine Undeutlichkeit im negativen Sinne beinhaltet, sondern hebt überdies hervor, dass auch Begriffe – d. s. die Vorstellungen des Verstandes – undeutlich sein können.⁴⁴²

440 Siehe 2.3.3 der hier vorliegenden Studie. 441 Vgl. Vergnügensschrift 1788, 77 f. 442 „Daß […] unsere ganze Sinnlichkeit nichts als die verworrene Vorstellung der Dinge sei, welche lediglich das enthält, was ihnen an sich selbst zukömmt, aber nur unter einer Zusammenhäufung von Merkmalen und Teilvorstellungen, die wir nicht mit Bewußtsein auseinander setzen ist eine Verfälschung des Begriffs von Sinnlichkeit und von Erscheinung, welche die ganze Lehre derselben unnütz und leer macht. […] Ohne Zweifel enthält der Begriff von Recht, dessen sich der gesunde Verstand bedient, eben dasselbe, was die subtileste Spekulation aus ihm entwickeln kann, nur daß im gemeinen und praktischen Gebrauche man sich dieser mannigfaltigen Vorstellungen in diesem Gedanken nicht bewußt ist. Darum kann man nicht sagen, daß der gemeine Begriff sinnlich sei, und

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

Wie sich gezeigt hat, kommen Reinhold in seiner Kritik an Mendelssohn und Wolff nicht nur die kantischen Bestimmungen der Sinnlichkeit und des Verstandes, sondern auch seine eigenen Begriffe der alle besonderen Vermögen übergreifenden Rezeptivität und Spontaneität zur Hand.⁴⁴³ Da die Empfindung bereits zur Sinnlichkeit in ihrer eigentlichen Bedeutung gehört, ist in diesem Zusammenhang eher der Begriff der elementarphilosophischen Spontaneität relevant: So sei zwar die Sinnlichkeit als ein ‚Teil des Erkenntnisvermögens‘ – und als innere Bedingung – beim ‚physischen Vergnügen‘ alleine und beim ‚intellektuellen Vergnügen‘ zusammen mit dem Verstand beteiligt, aber der ‚Spontaneität des Gemüts‘ bzw. dem ‚Verstand in weitester Bedeutung‘ komme die allumfassende Funktion zu, ‚das Mannigfaltige derart aufzufassen, dass dem bloßen Stoff die Form der Vorstellung gegeben wird‘, weshalb diese Spontaneität – als eine äußere Bedingung – auch beim ‚grobsinnlichen Vergnügen‘ eine Rolle spielt.⁴⁴⁴ Auch Platner erklärt sich auf eine ähnliche Weise, indem er sowohl die sinnlichen Empfindungen des Körpers als auch die intellektuellen der Seele als Wirkungen des Empfindungsvermögens deklariert, und die intellektuellen Empfindungen auf einem Kontinuum durch Urteile des Verstandes beeinflusst sein lässt.⁴⁴⁵ Sogar eine alle Vermögen überspannende Selbsttätigkeit wird von ihm im ersten Band der Aphorismen zumindest angedeutet, da er dort einerseits die Empfindungen unter den Arten der Ideenbeschäftigungen anführt und andererseits deklariert, dass in jedem Leiden auch immer Tätigkeit vorhanden sei.⁴⁴⁶ Mit gutem Recht könnte Reinhold aber an Platner kritisieren, dass er seine Einsicht in diese Grundtätigkeit weder weiter expliziert noch auf seine Vergnügenskonzeption im zweiten Band der Aphorismen appliziert. Die bloße Spontaneität spielt in der Reinhold’schen Vergnügenskonzeption noch in einer anderen Hinsicht eine Rolle. Denn angeregt durch Pouilly, führt er die Stärke der Beschäftigung der Vorstellungskraft auf die Aufnahme mannigfaltiger Eindrücke durch die Sinnlichkeit und die leichte Beschäftigung dieser Kraft auf die strukturierende Tätigkeit der bloßen Spontaneität, Einheit und damit Ordnung in diese Eindrücke zu bringen, zurück.⁴⁴⁷ Platner allerdings wägt – wie wir bereits wissen – nur die Lebhaftigkeit der Empfindungen gegen die Wirksamkeit der Urteile ab und äußert sich nicht über die Stärke der Beschäftigung. Nun könnte man dennoch versucht sein, ihm die Auffassung zuzuschreiben, dass der Grad der

eine bloße Erscheinung enthalte, denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstande“. (KrV, A 43/B 60 f.) 443 Siehe 2.3.3 der hier vorliegenden Studie. 444 Vgl. Vergnügensschrift 1789, 49 f. 445 Siehe 3.2.2 der hier vorliegenden Studie. 446 Vgl. Aphorismen I 1776, 16 [§ 53]; 113 [§ 368]. 447 Siehe 2.6 der hier vorliegenden Studie.

4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich

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Lebhaftigkeit der Empfindung den Grad der Stärke der Beschäftigung der mit dem Trieb des Lebens verbundenen Kraft denotiert, wobei eine starke Beschäftigung beim bloßen Empfinden und eine schwache Beschäftigung bei den mit den Empfindungen verwobenen wertenden Urteilen stattfinden würde. Hierin würden sich Platner und Reinhold dann wieder gleichen. Doch unter der Berücksichtigung von Platners Ausführungen ist es wahrscheinlicher, dass er die starke und leichte Beschäftigung der Vorstellungskraft von der individuellen Beschaffenheit der Menschen abhängig machen würde, sodass diese Kraft von jemandem, der eher zur Verfeinerung des geistigen Vergnügens tendiert, bei der intellektuellen Lust harmonischer beschäftigt ist als bei jemandem, der bessere Voraussetzungen zum sinnlichen Vergnügen hat – und vice versa. ⁴⁴⁸ Reinhold geht es grundsätzlich nicht um derartige psychologische Zusammenhänge, sodern um die ewigen Gesetzmäßigkeiten, die für jegliches Vergnügen vorausgesetzt werden müssen. In unserem Vergleich muss nun noch berücksichtigt werden, wie Reinhold sich gegenüber Platners Konzepten der moralischen und ästhetischen Empfindungen positionieren würde. Aufgrund der großen Ähnlichkeiten zwischen Platners und Sulzers ethischer Überlegungen und weil die letzteren in der Vergnügensschrift explizit einer Kritik unterzogen werden, lässt sich Reinholds Haltung gegenüber Platner auch in diesem Punkt rekonstruieren. Wie bereits zu Beginn des Unterkapitels ‚Über die Dynamik zwischen Empfindungen und evaluativen Urteilen‘ deutlich wurde, ist Platners Vergnügenskonzeption eudämonistisch ausgerichtet. Hier sei über diesen Gesichtspunkt seiner Lehre noch hinzugefügt, dass sich die Tugenden insbesondere durch das Wollen des Guten auszeichnen und die angenehmen Empfindungen erst durch die Tugenden einen moralischen Wert erhalten.⁴⁴⁹ Nichtsdestotrotz sind die Tugenden bloße Mittel zur Erreichung des Endzwecks der Glückseligkeit bzw. der‚Mehrheit angenehmer Zustände in der Totalität des Lebens‘. Obwohl durch die Betonung des moralischen Werts der Tugenden Brücken zu Reinholds Theorie geschlagen werden können, unterscheiden sich doch beide aufgrund der verschiedenen Zweckauffassung wesentlich voneinander. Da der oberste Zweck des moralisch relevanten Denkens und Handelns nach Reinhold in der Erfüllung der moralischen Pflicht besteht, kann er sich ganz und gar nicht mit Platners Ansicht, dass „die Glückseligkeit der Endzweck des Schöpfers“ und damit „die Bestimmung der lebendigen Geschöpfe“ (Aphorismen II, 3 [§ 1]) ist und dass alles davon Abweichende als „ein Menschenverachtender Pietismus“ (Aphorismen II, 9 [§ 20]) angesehen werden muss, einverstanden erklären. Es sollte unschwer zu erkennen sein, dass Reinhold gegen Platners Verständnis vom moralischen Vergnü-

448 Siehe 3.2.3 der hier vorliegenden Studie. 449 Vgl. Aphorismen II, 46 [§§ 126 – 128].

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

gen denselben Vorwurf wie gegen Sulzer erheben würde: Nämlich, dass es den Wert und den Verdienst der Tugend zerstöre, weil es die angenehmen Empfindungen nicht als bloße Folge aus der guten Absicht und den moralischen Handlungen, sondern als das erklärte Ziel begreift. Was die ästhetischen Empfindungen betrifft, muss auf die Gleichartigkeit der Dreiteilung der Empfindungen zwischen den Aphorismen und der Geschmacksschrift hingewiesen werden. Sowohl bei Platner als auch bei Reinhold wird zwischen physischen, ästhetischen und moralischen Empfindungen unterschieden. Auch wenn bereits Sulzer eine ähnliche – eher objektseitige – Dreiteilung in ästhetische, moralische und sinnliche Vergnügungen – im Sinne desjenigen, woran man sich vergnügt – vornimmt,⁴⁵⁰ kann es unserer Ansicht nach gar nicht bestritten werden, dass Reinhold diesbezüglich von seinem ehemaligen Lehrer beeinflusst worden ist. Dennoch gibt es auch hier bedeutsame Differenzen, die deutlich machen, dass Platner – wie so oft – nicht mehr als eine Inspirationsquelle darstellte. Während es dem philosophierenden Arzt darum geht die ästhetischen Empfindungen in dem Kontinuum zwischen den subjektgerichteten körperlichen Empfindungen ohne Urteilscharakter und den objektgerichteten seelischen Empfindungen mit Urteilscharakter zu lokalisieren, fasst unser Elementarphilosoph die physischen, ästhetischen und moralischen Empfindungen vergnügenstheoretisch und hinsichtlich ihres Einflusses auf die menschliche Glückseligkeit ins Auge.⁴⁵¹ Aufgrund der plausiblen Zuordnungen des physischen Vergnügens zum bloß sinnlichen Trieb, des ästhetischen Vergnügens zum vernünftig-sinnlichen Trieb und des moralischen Vergnügens zum rein-vernünftigen Trieb – weil das Physische nur mit dem Sinnlichen, das Ästhetische mit dem Sinnlichen und Intellektuellen gleichermaßen und das Moralische mehr mit dem Verstand als mit der Sinnlichkeit zu tun hat –, wird ersichtlich, dass es Reinhold – anders als Platner – in der Funktion des ästhetischen Vergnügens vorrangig nicht um ein Subjekt-Objekt-Verhältnis geht.⁴⁵² Zwar versteht Reinhold die Vorstellung eines Objekts als eine notwendige Bedingung für die Lust, doch ist das ästhetische Vergnügen als solches wie jedes Vergnügen und auch jede Empfindung überhaupt bloß subjektiv, weshalb seine ästhetischen Ansätze vielmehr denjenigen Kants, welcher das Schöne ins Subjekt versetzt, als denjenigen Platners, der das Schöne in dem ausgewogenen Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bestehen lässt, entsprechen.⁴⁵³ Denn gemäß der KdU ist dasjenige, „was an der Vorstellung eines Objekts bloß subjektiv ist, d. i. ihre Beziehung auf das Subjekt, […] die ästhetische Beschaffenheit derselben“ (KdU, 450 451 452 453

Siehe 2.4.1 der hier vorliegenden Studie. Siehe 3.2.2 und 4.2.2 der hier vorliegenden Studie. Siehe 4.2.1 der hier vorliegenden Studie. Siehe 2.6 und 3.2.2 der hier vorliegenden Studie.

4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich

163

XLII); und „um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekte zum Erkenntnisse [sic!], sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt“. (KdU, 3 f.) Reinhold weist – über Platner hinausgehend und Schiller bereits rudimentär vorwegnehmend – der Ausbildung unserer ästhetischen Empfindungsfähigkeit eine vermittelnde Rolle zwischen der ‚ungebildeten Sinnlichkeit‘ und dem ‚gebildeten Verstand‘ zu, indem jene diesem dazu verhilft seine Regeln anschaulich zu machen.⁴⁵⁴ Auch ist in Reinholds Dreiteilung nichts von der psychologischen Dynamik erkennbar, wie Platner sie beschreibt. Jedoch ist dies kein Zufall und hat systematischen Charakter, weil es Reinhold letztendlich um scharfe (nicht auf einem Kontinuum beruhende) Abgrenzungskriterien der verschiedenen Arten des Vergnügens geht – wie aus allen seinen Schriften, die wir hier behandelt haben, aber insbesondere aus dem zweiten Brief des ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie ersichtlich wird⁴⁵⁵ –, die – so könnte er kritisieren – bei Platner verwischt würden. Sicherlich wäre solch ein Vorwurf nicht unberechtigt, da uns doch selbst bereits ein negativ zu wertendes Symptom der Platner’schen Vagheit in der Bestimmung der differentia specifica der Arten der Empfindungen begegnet ist. Denn wie sich gezeigt hat, veranschlagt Platner die Empfindungen der ästhetischen Vollkommenheit von Natur und Kunst mehr auf der Seite der intellektuellen Empfindungen als auf der Seite der sinnlichen, obwohl er davor deutlich macht, dass die ästhetischen Empfindungen in der Mitte zwischen den sinnlichen und geistigen Empfindungen zu verorten sind.⁴⁵⁶ Ein möglicher Lösungsversuch, die Empfindungen der ästhetischen Vollkommenheit als eine Art Sonderform der ästhetischen Empfindungen einzuführen, ist zum Scheitern verurteilt, weil damit alle ästhetischen Empfindungen insgesamt intellektualisiert würden, was Platners Grundthese widerspricht. Zudem sei noch darauf hingewiesen, dass Platners ästhetische Konzeption mit Kants Interesselosigkeit des Geschmacksurteils unvereinbar ist, weil das ästhetische Vergnügen der Aphorismen nicht nur mit einer Befriedigung des Triebes nach Ideenbeschäftigung, sondern auch mit einer Befriedigung des Triebes nach körperlichem Wohlstand zu tun hat, die wohl schwerlich ohne Begierde und Neigung möglich ist.⁴⁵⁷ Zweifellos lässt sich dasselbe auch über eine Erfüllung des Triebes nach Leben behaupten. Wie wir zu erweisen versucht haben, ist die Bedürfnisbe-

454 455 456 457

Siehe 4.2.2 der hier vorliegenden Studie. Vgl. Bondeli/Imhof 2016, L f. Vgl. Briefe I, 46 ff. Siehe 3.2.3 der hier vorliegenden Studie. Siehe 3.2.3 der hier vorliegenden Studie.

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4 Reinholds transzendentalphilosophische Theorie des Vergnügens und der Triebe

friedigung, welche laut Reinhold beim ästhetischen Vergnügen auftritt, mit Kant hingegen vereinbar, da diese auf dem Trieb nach Vorstellungen beruht und dementsprechend nichts weiter als die Vorstellung der Schönheit fordert, wobei es sich um ein Begehren handelt, gegen das sich Kant keineswegs ausspricht.⁴⁵⁸

4.3.2 Reinholds und Platners Trieblehren im Vergleich Nach Lazzari gibt es in den von Reinhold und Platner vertretenen Triebkonzeptionen drei inhaltliche Übereinstimmungen, die laut ihm auch deren Vergnügenskonzeptionen betreffen: ‚Das Vergnügen resultiert aus der Befriedigung eines allgemeinen Triebes, der aus zwei Triebkomponenten besteht‘; ‚Erst wenn beide Triebkomponenten befriedigt werden, wird auch der allgemeine Trieb erfüllt‘; ‚Sowohl der allgemeine Trieb als auch die Triebkomponenten werden genau dann befriedigt, wenn der vorgestellte Gegenstand das Vorstellungsvermögen bzw. die vorstellende Kraft auf zwei voneinander verschiedenen Weisen beschäftigt‘.⁴⁵⁹ Obwohl diese äußerst allgemein gehaltenen Gemeinsamkeiten prima facie unproblematisch erscheinen und es in der Tat größtenteils auch sind, so ist hier doch Vorsicht geboten. Der in allen drei Punkten von Lazzari verwendete Terminus der Triebkomponente könnte nämlich zu dem falschen Verständnis Anlass geben, dass nicht nur Platners Triebe des körperlichen Wohlstandes und der Ideenbeschäftigung bloß Aspekte eines einzigen Triebes sind, sondern dass dies auch für Reinholds Triebe nach Stoff und Form der Vorstellung gelte. Denn wie sich gezeigt hat, handelt es sich bei diesen beiden um Grundtriebe, weshalb sie nicht wie bei Platner als bloße Aspekte eines einzigen fundamentalen Triebes aufgefasst werden dürfen.⁴⁶⁰ Es ist sogar nicht einmal abwegig, den Reinhold’schen Trieb nach Vorstellung überhaupt als eine Abstraktion aus den beiden Grundtrieben zu deuten, was beim Trieb des Lebens per definitionem niemals möglich wäre. In diesem Sinne beruht Platners Lehre auf einem Triebmonismus, Reinholds hingegen auf einem nicht-strikten bzw. partiellen Triebdualismus. Die Gemeinsamkeiten, auf die Lazzari hinweist sind zudem allzu schemenhaft, weshalb sie leicht über die tatsächlich vorliegenden Differenzen hinwegtäuschen. Der auffälligste dieser Unterschiede besteht wohl darin, dass bei Platner alle Triebe auf Empfindungen abgezweckt sind, was bei Reinhold nicht der Fall ist, weil der rein-vernünftige Trieb als Spezifikation des Triebes nach der Form der Vorstellung

458 Siehe 4.1.1 der hier vorliegenden Studie. 459 Vgl. Lazzari 2007, 323 f. 460 Siehe 4.2.1 der hier vorliegenden Studie.

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nicht nach Empfindungen, sondern nach der Idee der Sittlichkeit strebt. Dass Lazzari dieser Sachverhalt entgeht, zeigt sich daran, dass er Reinhold den Ausdruck ‚uneigennütziges Vergnügen‘ in den Mund legt, der bei ihm selbst (wenn er seine eigene Theorie vor dem Erscheinen der KdU entfaltet) nicht vorkommt, da er ausschließlich die Triebe als ‚uneigennützig‘ oder ‚eigennützig‘ bezeichnet.⁴⁶¹ Überdies ist die Verwendung dieses Ausdrucks aus systematischen Gründen – im Sinne der Elementarphilosophie – problematisch, weil durch den uneigennützigen Trieb stets nur die Form begehrt wird, welche als solche niemals eine Empfindung und also auch keine positive Empfindung sein kann. Von einer uneigennützigen Lust kann nur die Rede sein, insofern das Vergnügen eine bloße Begleiterscheinung der Befriedigung des uneigennützigen Triebes ist, worauf Reinhold in Briefe II aufmerksam machen wird.⁴⁶² Während bei Platner die evaluativen Sachurteile zusammen mit uneigennützigen geistigen Empfindungen auftreten, besteht die Uneigennützigkeit des Triebes nach der Form der Vorstellung in einem Streben nach einer vom Empfinden unabhängigen Tätigkeit der vorstellenden Kraft bzw. einem bloßen Handeln. Dasselbe gilt auch für die Erweiterung des Triebes nach der Form in der Art der Uneigennützigkeit des rein-vernünftigen Triebes, die sich aus einem Verlangen nach einer vom Vergnügen unabhängigen Form des Handelns speist, welches er in uns bewirkt. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Theorien der beiden Philosophen in der Bedeutung des Begriffs der Uneigennützigkeit stark voneinander abweichen. Die Platner’sche Uneigennützigkeit hat wesentlich damit zu tun, dass die an sich subjektiven Empfindungen in Verbindung mit den Sachurteilen auf die Vollkommenheit der Gegenstände gerichtet sind; die Reinhold’sche Uneigennützigkeit hingegen hat weder etwas mit Empfindungen noch mit einer Objektgerichtetheit zu tun, sondern mit einer autonom wirkenden Selbsttätigkeit. Aber auch bei der Eigennützigkeit gibt es Disparitäten. Indem die Eigennützigkeit in den Aphorismen mit der essentiellen Subjektbezogenheit der Empfindungen in Verbindung steht, kommt sie nicht mit der Eigennützigkeit des Versuchs überein, weil diese mit dem empfindungsbasierten Gegebenwerden des Vorstellungsstoffes wesentlich zusammenhängt und nicht direkt etwas mit der Subjektbezogenheit zu tun hat.

461 Vgl. Lazzari 2007, 324. 462 „Unter dem sittlichen Vergnügen [kann] durchaus kein solches verstanden werden, welches auf irgend eine Art der Sittlichkeit, es sey nun dem Gesetze oder dem Willen der dasselbe befolgt, zum Grunde gelegt werden könnte; sondern es läßt sich nur als dasjenige denken, das mit dem Gesetze und dem Entschlusse, der demselben gemäß ist, als Folge zusammenhängt. Nur in so ferne kann es auch ein uneigennütziges Vergnügen im eigentlichen Sinne des Wortes geben“. (Briefe II, 261) Richtig gefasst wird das unneigennützige Vergnügen z. B. durch Wolfgang Rother. (Siehe Rother 2010, 113; 119)

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Diese Divergenzen spiegeln sich natürlich auch darin wider, wie die verschiedenen Triebe von den beiden Philosophen konzipiert werden. Der Trieb des Lebens erzeugt in uns ein Verlangen nach denjenigen Dingen, die unsere – von Gott gewollte – Glückseligkeit befördern, welche im Kern in der Erhaltung und Beförderung unserer physiologischen und psychologischen Beschaffenheit besteht. Der Trieb nach Vorstellungen übernimmt eine völlig andere Funktion, da er in uns das Bedürfnis nach der Beschäftigung des Vorstellungsvermögens generiert, durch welche sich das Bewusstsein ungehindert äußern kann. Besonders auffällig zeigt sich dieser Unterschied zwischen dem Trieb des körperlichen Wohlstandes und demjenigen nach dem Stoff der Vorstellung einerseits und dem Trieb der Ideenbeschäftigung und dem Trieb nach der Form der Vorstellung andererseits. Der Trieb des körperlichen Wohlstands treibt uns zur physiologischen Gesundheit an und der Trieb der Ideenbeschäftigung zu einer geistigen Betätigung, die sich auf unsere gesamte Konstitution günstig auswirkt. Gegenüber diesen eher anthropologisch und psychologisch gearteten Überlegungen hebt Reinhold mit seinen beiden Grundtrieben eine transzendentalphilosophische Dimension hervor, die Platner unbekannt war und vor einer ernsthaften Beschäftigung mit der kritischen Philosophie auch unbekannt sein musste: Zusammen mit dem Trieb nach Vorstellung überhaupt sind die Triebe nach dem Stoff und der Form – dem Anspruch nach – die fundamentalsten notwendigen und daher erfahrungsunabhängigen Bedingungen der Wirklichkeit – d. h. der realen Umsetzung – des Bewusstseins, was sie zu Reflexionsobjekten der die Elementarlehre betreffenden praktischen und nicht der theoretischen Philosophie macht, die sich als eine elementare bloß um die reinen Bedingungen der Möglichkeit – d. h. der bloßen Struktur – des Bewusstseins bekümmert. Denn ohne jene Bedingungen der Wirklichkeit des Bewusstseins würde unser Gemüt nicht dazu angehalten werden, ein insgesamt stimmiges Ineinandergreifen der Komponenten einer Vorstellung – von welchem ein tatsächlich existierendes Bewusstsein abhängt – zu erzeugen. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass anders als bei Platners Trieb des Lebens die Befriedigung des Triebes nach Vorstellungen – spezifiziert als Trieb nach dem höchsten Gut – nicht in einer Homöostase aus sinnlichem und intellektuellem Vergnügen, also nicht in einem dynamischen Gleichgewicht körperlicher Wirkmechanismen und seelischer Tätigkeiten, sondern in einer Subordination der Rezeptivität unter die Spontaneität, des Vergnügens und der eigennützigen Glückseligkeit unter die sich aus dem selbsttätigen Streben nach Moralität ergebenden Glückswürdigkeit, liegt. Dieser Unterschied lässt sich wiederum auf den Einfluss, welchen Kant auf Reinhold hatte – vornehmlich durch die KpV –, zurückführen und

4.3 Reinholds und Platners Theorien im Vergleich

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spiegelt sich ohnehin in den Überlegungen unseres Elementarphilosophen, dass das Vergnügen niemals die eigentliche Triebfeder der Moralität sein darf, wider.⁴⁶³ Als ein weiteres Glied der Konzepte und Topoi, welche die Elementarphilosophie aus der Transzendentalphilosophie gewinnt und die bei Platner natürlicherweise fehlen, ist noch auf den Gebrauch der kantischen Kategorientafel zur Bestimmung der Modifikationen des vernünftig-sinnlichen und des rein-vernünftigen Triebes hinzuweisen, wodurch die Merkmale der jeweiligen Objekte dieser verschiedenen Triebe a priori charakterisiert werden.⁴⁶⁴ Mit dieser Applikation versucht Reinhold offensichtlich eine Brücke zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen zu schlagen, für die es in Platners Philosophie nicht einmal die theoretischen Voraussetzungen gibt. Reinhold kam allerdings nicht als einziger und erster auf die Idee, die Kategorientafel in praktischen Belangen anzuwenden, zumal Kant selbst eine ‚Tafel der Kategorien der Freiheit‘ in der KpV liefert.⁴⁶⁵ Erwähnenswert ist auch, dass im selben Jahr, in welchem der Versuch des Vorstellungsvermögens erschien, Johann Heinrich Abicht (1762 – 1816) mit seinem Versuch einer Metaphysik des Vergnügens nach Kantischen Grundsätzen zur Grundlegung einer systematischen Thelematologie und Moral das Ziel verfolgte, die Besonderheiten des Ichs, die bei der Selbstanschauung auftreten und damit den Grad und die Qualität des Vergnügens a priori beeinflussen, auf die Titel und Momente der Kategorientafel als ‚pathetische Urbegriffe‘ zurückzuführen.⁴⁶⁶ Mit dieser subjektbezogenen Einteilung schlägt er einen ähnlichen Weg wie Reinhold ein.⁴⁶⁷ Mit unseren Darstellungen sollten die Impulse, welche unser Elementarphilosoph von seinem ehemaligen Leipziger Lehrer hinsichtlich der philosophiehistorisch ausgerichteten Problematisierung von philosophischen Positionen, der Wahl der Terminologie und der vereinzelt vorliegenden sachlichen Anregungen keineswegs verschleiert werden. Überblickt man jedoch den hier vorliegenden Vergleich, so sollte die Originalität von Reinholds philosophischen Entwürfen und deren Independenz gegenüber den Vergnügens- und Triebkonzeptionen Platners sowie deren Dependenz gegenüber der theoretischen und praktischen Philosophie Kants 463 Siehe 2.4.2 der hier vorliegenden Studie. 464 Vgl. Versuch, 563 f.; 570. 465 Vgl. KpV, 117. 466 Vgl. Versuch einer Metaphysik des Vergnügens, 100 ff. [§§ 32 ff.]; 108 ff. [§ 36]. 467 Höchstwahrscheinlich waren Reinhold Abichts Ausführungen bekannt, zumal dieser ihm seinen Versuch einer Metaphysik des Vergnügens persönlich zusandte (siehe KA 2, 105) und die Rezension desselben in der Allgemeinen Literatur-Zeitung möglicherweise von Reinhold stammt. (Siehe Reinhold, Karl Leonhard: Leipzig, b. Hauges Wittwe: Versuch einer Metaphysik des Vergnügens nach Kantischen Grundsätzen, zur Grundlegung einer systematischen Thelematologie und Moral, von M. Joh. Heinr. Abicht. 1789. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1789, Bd. 3, Nr. 303, 877– 880; Nr. 304, 881 f.)

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mehr als deutlich geworden sein. Platner ist nur einer von vielen Theoretikern und auch bei weitem nicht der bedeutendste, der Reinholds philosophische Reflexionen in seinen Jenaer Jahren beeinflusst hat.

5 Fazit Abschließend schreiten wir nun dazu über, die in der Einleitung aufgeworfenen Problemstellungen hinsichtlich der erzielten Resultate überblicksmäßig zu beantworten. Eine Begründung dieser Ergebnisse wird hier deshalb nicht mehr geliefert und ist den obigen Kapiteln zu entnehmen. I. Welche Kritik übt Reinhold an den in der Vergnügensschrift behandelten philosophischen Ansätzen, was hebt er an ihnen positiv hervor und was lässt sich daraus an Informationen über seine eigene Vergnügenskonzeption gewinnen? Die Kritik Reinholds an den ‚vier einseitigen Systemen‘ ist im Detail vielschichtig, aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass er einerseits weder non-kognitivistischen Subjektivierungstendenzen, nach welchen es sich beim Vergnügen um einen nichtreferentiellen Zustand handelt, noch kognitivistischen Objektivierungstendenzen zustimmen kann, welche die Lust als einen veridischen Zustand begreifen, der die ästhetische Wahrheit oder Falschheit eines Gegenstandes repräsentiert, und dass er sich andererseits sowohl gegen eine intellektualistische Auffassung, welche die Empfindungen essentiell in einer tätigen Kraft verankert sieht, als auch gegen eine sensualistische Konzeption, die beim Empfinden auf Seiten des Subjekts eine bloße Passivität veranschlagt, ausspricht. Laut Reinhold ist jede positive und negative Empfindung eine Modifikation des auf unseren subjektiven Zustand gerichteten Begehrens und keineswegs ein Teil des Erkenntnisvermögens. Durch das Vergnügen wird nicht die Vollkommenheit (Einheit im Mannigfaltigen) des Gegenstandes eingesehen; vielmehr liefert es vermittelst einer Beteiligung des Verstandes einen Eindruck über unseren subjektiven Zustand, der in einer sich nicht bis ins letzte Detail auf Regeln und Begriffe zu bringenden starken und leichten Beschäftigung der Vorstellungskraft besteht, die das Vergnügen unmittelbar verursacht. Empfindungen haben nur eine konstitutive Bedingung, die in der Sinnlichkeit und Empfänglichkeit bzw. Rezeptivität für einen Vorstellungsstoff besteht, der jedoch zuerst durch die tätigen Aspekte des Vorstellungsvermögens herbeigeschafft und unter die allgemeinste Form der Vorstellung gebracht werden muss. Diese Spontaneität des Vorstellungsvermögens ist zwar eine notwendige Bedingung der Empfindung, aber keine konstitutive. Wie wir gesehen haben, plädiert Reinhold nicht nur für die Sinnlichkeit als eine apriorische Grundkonstante des Vorstellungsvermögens, sondern versucht diese These auch transzendentalphilosophisch zu untermauern. Seine Vergnügenstheorie ist deshalb keineswegs psychologisch zu verstehen – wenigstens nicht in einer empirischen oder rationalen Hinsicht. Hier sei auch noch einmal auf die Originahttps://doi.org/10.1515/9783111347875-007

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5 Fazit

lität hingewiesen, die Reinhold in seiner Kritik an dem objektiven Gesichtspunkt an den Tag legt: Die Undeutlichkeit ist zwar ein Wesensmerkmal der Empfindungen und sinnlichen Vorstellungen, aber weil die ursprüngliche Sinnlichkeit nicht mit den physischen Sinnen identifiziert werden darf und eine unentbehrliche Voraussetzung jeglichen Bewusstseins ist, kann dem Sinnlichen als solchem kein Mangel und also keine Verworrenheit zugeschrieben werden. II. Was für eine Bedeutung kommt Platner für Reinholds eigene Theorie zu? Haben seine philosophischen Reflexionen einen größeren positiven Einfluss auf Reinhold als Kant und die anderen in der Vergnügensschrift diskutierten Philosophen? Wenn es uns zunächst um die Philosophen der ‚vier einseitigen Systeme‘ geht, so ist zu konstatieren, dass Helvétius und vor allem Sulzer die Rolle von Antagonisten einnehmen, von denen Reinhold seine Vergnügenstheorie besonders gut abgrenzen kann. Auch Mendelssohn zählt zu denjenigen Autoren, die Reinhold dazu benützt, um seine eigene Empfindungskonzeption besser hervortreten zu lassen – obwohl er auf das Gesamtwerk Mendelssohns bezogen in manchen Punkten stärker an diesen hätte anschließen können. Dubos und Wolff sind durch ihre unterschiedlichen Auffassungen zur ästhetischen Rationalität für Reinhold sowohl wichtige Abgrenzungs- als auch Anknüpfungspunkte – der eine, weil er neben der von Reinhold disqualifizierten irrationalen Genieästhetik auch arationale Momente des Schönheitserlebens zur Geltung bringt, der andere, weil er neben der für Reinhold überzogenen rationalistischen Regel- und Vollkommenheitsästhetik auch auf die Arationalität im Empfindungsmoment aufmerksam macht. Unter all diesen Philosophen tut sich Pouilly besonders hervor. Denn Reinhold entwickelt zwar zum Teil auch durch Dubos angeregt, aber vor allem unter dem Einfluss von Pouillys Lehre, dass angenehme Empfindungen mit einer den Körper nicht schwächenden Beschäftigung sowie einer den Geist nicht ermüdenden Übung einhergehen und durch die von ihm veranschlagten Objektivierungstendenzen unter subjektiven Vorzeichen, sein eigenes triebtheoretisches Modell eines Zusammenspiels aus rezeptiven und spontanen Vermögensaspekten. Die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Reinholds und Platners Theorien betreffend, ist festzuhalten, dass beide auf einer Trieblehre fußen und trotz unterschiedlicher Terminologie die Unverzichtbarkeit der Empfindungen in unserem voluntativen und evaluativen Weltbezug, der erst auf Basis einer sinnlich vermittelten Selbstreferentialität möglich ist, betonen. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zwischen den beiden Philosophen auch in der Konzeption einer alle besonderen Vermögen übergreifenden Spontaneität, die bei Reinhold allerdings eine transzendentalphilosophische Dimension hat, welche Platner fremd ist. Weiters

5 Fazit

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nehmen beide Philosophen eine Dreiteilung der Empfindungen in physische, ästhetische und moralische vor, aber diesen Begriffen kommt in den jeweiligen Theorien eine andere Bedeutung zu. Während bei Platner die ästhetischen Empfindungen die Waage zwischen den körperlichen und den seelischen Empfindungen halten und die Übergänge zwischen dieser Dreiteilung auf einem psychologischdynamischen Kontinuum beruhen, geht es Reinhold weder um eine derartige Kontinuität, noch um das dadurch ausgedrückte empfindungstheoretische SubjektObjekt-Verhältnis. Platner bricht nicht mit der lex continui der Grade der Klarheit, was sich daran zeigt, dass sich laut ihm nur einige Empfindungen nicht in Partialvorstellungen auflösen lassen. Von einer konsequenten Aufwertung der Sinnlichkeit kann hier deshalb nicht die Rede sein, wie Reinhold sie mit unbestreitbarer Anlehnung an die KrV durch die Loslösung der Undeutlichkeit von der Verworrenheit erzielt. Sicherlich wird bei Platner schon eine teilweise Aufwertung der Sinnlichkeit vorgenommen, an seiner Stelle könnte aber genauso gut Wolff als eine diesbezügliche Inspirationsquelle für Reinhold angeführt werden, da schon bei ihm die Sinnlichkeit, im Lustmoment des Empfindens, ihr Eigenrecht erhält. Alles in allem betrachtet, knüpft Reinholds Empfindungs- und Lustbegriff vor dem Erscheinen der KdU aber vor allem an Kant an. Dies ist auch der Fall, wenn es um das Verhältnis zwischen dem moralischen Vergnügen und dem Sittengesetz geht. Geprägt durch die KpV dürfen nach Reinhold angenehme Empfindungen nur eine mögliche Begleiterscheinung der Moralität, aber niemals der intendierte Zweck sein, wohingegen Platners – aber auch Sulzers – Eudämonismus eine solche Auffassung nicht zulässt. Schon alleine aus diesen kurzen Gegenüberstellungen wird deutlich, dass Platner nur eine von vielen Inspirationsquellen und Einflüssen auf Reinhold ist und bei weitem nicht eine derart prominente Rolle übernimmt wie Kants theoretische und praktische Philosophie. Dies wird bestätigt, wenn man die Beantwortung der nächsten Frage in die Beurteilung miteinfließen lässt. III. Welche Funktion hat Reinholds Trieblehre in Bezug auf seine allgemeine Theorie des Vergnügens und welche Einflüsse sind hier von Seiten Platners zu verzeichnen? Das elementarphilosophische Triebmodell liefert die Gründe, warum wir überhaupt Vergnügen – selbst in seiner rudimentärsten Ausprägung – empfinden und zeigt, dass sich dieses nicht nur dann einstellt, wenn der sinnliche Trieb, der auf Empfindungen abzielt, und der vernünftig-sinnliche Trieb, der nach dem verstandesmäßig modifizierten Vergnügen verlangt, eigennützig befriedigt werden. Denn der rein-vernünftige Trieb bereitet bei der Erfüllung seines uneigennützigen Verlangens nach der Idee der Sittlichkeit ebenso Vergnügen.

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5 Fazit

Die Einflüsse Platners auf Reinhold bezüglich der Triebtheorie beschränken sich auf unwesentliche Faktoren, wie z. B. die verwendete Terminologie oder die überaus allgemeine Annahme, dass sich Vergnügen einstellt, sobald ein Trieb befriedigt wird. Die Differenzen hingegen setzen schon bei den Eigenschaften der grundlegenden Triebe an. Während Platners Lehre aufgrund des einzigen Triebes des Lebens als ein Triebmonismus zu klassifizieren ist, läuft Reinholds Lehre auf einen partiellen Triebdualismus hinaus, da bei ihm die beiden Triebe nach Stoff und Form der Vorstellung die grundlegenden sind. Anders als bei Platner, bei dem alle Triebe auf Empfindungen abzielen, strebt der rein-vernünftige Trieb als Spezifikation des Triebes nach der Form der Vorstellung nach der Idee des sittlich Guten. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch in der Bedeutung des Begriffs der Uneigennützigkeit: Bei Platner speist sich diese aus dem urteilenden Wohlgefallen an den Gegenständen; diejenige Reinholds fußt hingegen auf einer autonom wirkenden Selbsttätigkeit. Während der Trieb des Lebens uns in letzter Konsequenz zur Erhaltung unseres Organismus antreibt, kommt bei Reinholds Grundtrieben eine transzendentalphilosophische Dimension zur Geltung: Die Triebe nach Stoff und Form sind in ihrem Zusammenwirken als Trieb nach Vorstellung überhaupt die apriorischen Bedingungen der tatsächlichen Umsetzung allen Bewusstseins. Bezogen auf die Moralität wird in Reinholds Trieblehre das Vergnügen dem Streben nach Glückswürdigkeit untergeordnet, was bei Platner aufgrund seines Eudämonismus von vornherein ausgeschlossen ist. IV. Was lässt sich aus Reinholds sehr allgemein gehaltenen vergnügenstheoretischen Ausführungen neben deren Relevanz für die Ethik insbesondere für ästhetische Belange gewinnen? Wiewohl die starke und leichte Beschäftigung der Vorstellungskraft die unmittelbare Ursache des Vergnügens überhaupt ist, so lässt sich aus Reinholds Ausführungen entnehmen, dass diese Beschäftigung, in ein nicht näher bestimmtes harmonisches Verhältnis versetzt, auch für das ästhetische Vergnügen und also gleichsam für das Schöne und den Geschmack relevant ist. Schönheit ist Einheit im Mannigfaltigen bzw. Vollkommenheit, aber da der Begriff der Vollkommenheit bei Reinhold maximal unbestimmt ist und das ästhetische Vergnügen essentiell von dem richtigen Verhältnis der starken und leichten Beschäftigung abhängt, ist die Schönheit, die sich immer nur an dem Wohlgefallen äußert, eine auf einen subjektiven Zustand bezogene, aber von allen fühlenden und urteilenden Subjekten potentiell geteilte Angelegenheit. Das Mannigfaltige, von dem die Stärke der Beschäftigung abhängt, wird dem Trieb nach Vorstellungen vermittelst der Sinnlichkeit gegeben; die durch die Spontaneität hervorgerufene Einheit und Ordnung, welche das anschauliche Wirrwarr zu einem Ganzen formt, ist für die Leichtigkeit

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der Beschäftigung verantwortlich. In einem nicht gänzlich auf Regeln und Begriffe zu bringenden Zusammenwirken von Mannigfaltigkeit und Einheit liegt das ästhetische Vergnügen beschlossen. Das wahrgenommene Schöne ist deswegen aber keineswegs irrational, sondern drückt eine gewisse Arationalität aus, die sich zwar gegen eine durchgängige Bestimmung des Verstandes sperrt, aber nicht der Vernunft widerspricht. Weil die starke und leichte Beschäftigung überhaupt erst durch Kräfte und Triebe in Gang kommt, hängt das ästhetische Vergnügen von einer Bedürfnisbefriedigung ab, aber nicht in dem Sinne, dass das Schöne als Schönes – weder im Empfindungsmoment der Lust noch im triebbasierten Verlangen überhaupt – intendiert wird, sondern insoweit es als eine Vorstellung begehrt wird. Aufgrund der plausiblen Zuordnung des ästhetischen Vergnügens zum vernünftig-sinnlichen Trieb wird das ethische Primat des rein-vernünftigen Triebes gegenüber dem vernünftig-sinnlichen auf ästhetische Belange übertragen, woraus folgt, dass das Ästhetische zur wahrhaften Glückseligkeit des Menschen nur dann etwas beitragen kann, wenn es nicht dem Sittengesetz widerspricht. Dass der gebildete Geschmack am Naturschönen und der Kunst überhaupt für die Glückseligkeit relevant ist, ist für Reinhold geradezu selbstverständlich. Am Beispiel der Poesie bringt er zum Ausdruck, dass eine sowohl sinnliche als auch intellektuelle Auseinandersetzung mit derselben keineswegs nur zur Erholung dient, sondern zur Stärkung all unserer geistigen Kräfte sowie unserer Empfänglichkeit zum moralischen Wohldenken und Wohlhandeln. Die damit zutiefst verknüpfte Reinigung und Verfeinerung des Geschmacks trägt durch das Gefallen an der ästhetisch aufbereiteten Moralität und also vermittelst kontingenter Faktoren zur Verwirklichung des Sittengesetzes auf Erden bei. V. Gelingt es Reinhold seinen Anspruch einzulösen, die Geschmackskritik Kants zumindest teilweise zu antizipieren? Wir haben die ästhetischen Implikationen von Reinholds Vergnügens- und Trieblehre mit Kants Geschmackskritik aus der KdU hinsichtlich der Kriterien ‚Interesselosigkeit‘, ‚freies Spiel‘, ‚formale Zweckmäßigkeit‘, ‚Vollkommenheit‘, ‚moralische Relevanz der Ästhetik‘ und ‚Vermittlungsfunktion der Ästhetik‘ verglichen. Obwohl Reinhold alle Lust – und somit auch die ästhetische – zum Begehrungsvermögen zählt, sind seine Ansichten mit der kantischen Lehre vereinbar, da mit dem Begehren nach Vorstellungen – im Sinne Kants – kein Interesse verbunden ist. Vielmehr deutet Reinhold mit seinem Trieb nach Vorstellungen auf eine Voraussetzung, die auch dem kantischen Geschmacksurteil zugrunde gelegt werden muss, insofern uns auch bei ihm die Schönheit selbst als bloße Vorstellung nicht gleichgültig sein darf. Im Unterschied zu Kants Lustbegriff ist Reinholds Vergnü-

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gensbegriff aber weniger restriktiv. Fernerhin ist es bemerkenswert, dass die Vergnügenstheorie unseres Elementarphilosophen über die Zeit hinweg konstanter ist, als es zunächst scheint. Wie anhand unserer Darstellung deutlich geworden sein sollte, weisen das freie Spiel der Erkenntniskräfte und die starke und leichte Beschäftigung große Ähnlichkeiten auf, weshalb die These, dass Kant in diesem Punkt von Reinhold inspiriert worden sein könnte, nicht fern liegt. Reinhold nimmt unter allen vorkantischen Ästhetikern einen besonderen Platz ein, insofern er die für das freie Spiel relevanten Vermögen nachweislich transzendentalphilosophisch konzipiert. Anders als das freie Spiel Kants ist die starke und leichte Beschäftigung jedoch kein unmittelbares Prinzip der Geschmackskritik, sondern des Vergnügens überhaupt und nimmt gegenüber demselben die Funktion eines übergeordneten Prinzips ein; die formale Zweckmäßigkeit ist die Artbestimmung, die der starken und leichten Beschäftigung fehlt. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass Kants Kritik an der rationalistischen Vollkommenheitsästhetik nicht gegen den Vollkommenheitsbegriff bei Reinhold spricht, da durch diesen kein materialer Zweck ausgedrückt wird. Außerdem fällt auch die große Ähnlichkeit zwischen Kants Lehre, dass das Schöne ein Symbol des sittlich Guten ist, und Reinholds Betonung der moralischen Relevanz des Ästhetischen ins Auge. Reinholds Ausführungen lassen darüber hinaus die Deutung zu, dass der Ästhetik eine vermittelnde Funktion zwischen Natur und Freiheit zukommt. Aber schon allein, weil er kein Konzept der subjektiven Zweckmäßigkeit entwickelt, gibt es doch einschneidende Differenzen zur von Kant angestrebten regulativen Vermittlung. Summa summarum lässt sich festhalten, dass Reinhold seinem Anspruch, Kants Meinung in ästhetischen Belangen wenigstens zum Teil getroffen zu haben, zwar nicht wirklich gerecht werden konnte, dass seine Ausführungen in den von uns besprochenen Punkten aber auch nicht mit der Kritik der Urteilskraft konfligieren. Dabei ist hervorzuheben, dass unser Elementarphilosoph entgegen seiner ursprünglichen Intention bereits vor 1790 auf einige Aspekte hingewiesen hat, die sich als Theorieelemente eines vergnügens- und triebtheoretischen Fundaments der dritten Kritik eignen. Gewiss liefert er auch einen wertvollen Einblick darin, wie man eine transzendentalphilosophische Ästhetik im Anschluss an Kant, aber doch auch anders als Kant konzipieren kann. Überschlagen wir unsere Bemühungen, Reinholds Beiträge zur Ästhetik in seinen frühen Jenaer Jahren nachzugehen, so zeigt sich unserer Ansicht nach die Fruchtbarkeit und Originalität seiner philosophischen Reflexionen, welche es verdienen, in der Forschung, aber auch in allgemeinen Überblicksbänden zur Geschichte der Ästhetik stärker berücksichtigt zu werden. Die hier vorliegende Studie könnte nicht zuletzt als ein möglicher Ausgangspunkt dazu dienen.

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Flatt, Johann Friedrich Franks, Paul 110

83, 97

Baggesen, Jens Immanuel 80 f. Bamberger, Fritz 31 f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 33 f., 40, 43 – 46, 99, 144 Beck, Jacob Sigismund 11 Beiser, Frederick C. 27, 33, 37, 43, 133 – 135, 144 f. Bellini, Giovanni 107 Berens, Johann Christoph 84 Bergmann, Ernst 83 f., 90 Biester, Johann Erich 84 Boileau, Nicolas 27 Bondeli, Martin 1, 3, 12 – 15, 29, 39, 112 f., 115, 135 f., 139, 156, 163 Bouhours, Dominique 27 Burke, Edmund 64, 106, 146 Cassirer, Ernst 33, 45 Crousaz, Jean-Pierre de

27

Descartes, Rene´ 30, 32, 52, 136, 142 Diderot, Denis 64 Dreves, Georg 26, 78 Dubos, Jean-Baptiste 8, 13, 17, 22 – 31, 37, 49, 56, 63, 99 f., 102, 105 f., 117, 120 f., 130 – 133, 135, 170 Eberhard, Johann August 4, 29 Engel, Johann Jacob 46, 90 Epikur 64 f., 100 f. Erdmann, Johann Eduard 1 Erhard, Johann Benjamin 80 f., 137 Erlinghagen, Armin 42, 135 Euler, Werner 52, 57, 63 Fabbianelli, Faustino

13, 21, 31, 38, 135, 137

https://doi.org/10.1515/9783111347875-009

21

Gerard, Alexander 131 – 133 Gerten, Michael 1 Goethe, Johann Wolfgang von 6 Gottsched, Johann Christoph 120 Guyer, Paul 11, 64, 131 f., 140, 154 Helve´tius, Claude-Adrien 8, 67, 100 Herder, Johann Gottfried 2, 6, 82 f. Heydenreich, Karl Heinrich 42 f., 134 f. Holbach, Paul-Henri Thiry d’ 64 Hutcheson, Francis 97, 133 Imhof, Silvan

13 f., 29, 39, 112, 136, 163

Kant, Immanuel 1 – 3, 5 – 7, 10 f., 13 – 15, 19 f., 23, 41 – 43, 46, 57, 59, 61, 63, 67 – 70, 77, 80 – 84, 87 f., 97, 100, 102, 104 – 116, 124 f., 127 – 141, 143 f., 147, 149, 151 f., 154 – 157, 159 f., 162 – 164, 166 f., 170 f., 173 f. Kersting, Wolfgang 1 Kim, Yun Ku 5, 13 Klemmt, Alfred 1, 83 La Mettrie, Julien Offray de 64 f. Lang, Stefan 16 f., 135 f. Lazzari, Alessando 13 f., 19, 67, 81 f., 95, 98 f., 102, 145, 164 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 8, 27, 33 f., 42 f., 52, 86 f., 90 Leonardo da Vinci 36 Lessing, Gotthold Ephraim 6, 8, 46, 134 Locke, John 85 Maimon, Salomon 16 Mandeville, Bernard 64 Marx, Karianne Jolanda 84 Meier, Georg Friedrich 99 Mendelssohn, Moses 8, 13, 18, 22, 29 – 32, 34 f., 37 – 42, 47, 49, 67, 74, 77, 99, 102, 131 – 134, 139, 146, 160, 170

186

Personenregister

Michelangelo 107, 126 Moritz, Karl Philipp 139 f. Newton, Isaac

52

Platner, Ernst 9 f., 13, 18 f., 29, 34, 42, 63, 75, 77 – 104, 113, 145 – 147, 156 – 168, 170 – 172 Platon 89 Pollok, Anne 22 Pouilly, Louis-Jean Le´vesque de 8, 13, 17, 22 – 26, 29 – 31, 51, 55 f., 63, 72, 78, 100, 102, 105, 117, 125, 132, 135, 142, 160, 170 Raffael 107 Rehberg, August Wilhelm 5, 137 Reimarus, Hermann Samuel 146 Reinhold, Ernst Christian Gottlieb Jens Riedel, Wolfgang 62 Rousseau, Jean-Jacques 153 f. Sauer, Werner 110 Schasler, Max 135

3, 6, 79

Schiller, Friedrich 6, 83, 97, 163 Schütz, Christian Gottfried 6 Seneca 65 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 153 f. Stöckmann, Ernst 25, 30 f. Sulzer, Johann Georg 8 f., 13, 18, 34, 46 – 60, 62 f., 67, 75, 77, 100 – 102, 146, 161 f., 170 f. Tizian 107 Turner, William

108

Verri, Pietro 5, 106 Villaume, Peter 5 Voigt, Christian Gottlob von

2, 83

Wieland, Christoph Martin 2, 4, 6, 12, 79 Winckelmann, Johann Joachim 120 f. Wolff, Christian 8 f., 13, 18, 29 – 38, 40, 42 f., 51 f., 54 f., 62 f., 74 f., 86, 90, 99, 102, 121 f., 124 f., 130, 136, 144, 160, 170 f. Zöller, Günter

1

Sachregister Achtung vor dem Sittengesetz 61 f., 154 f. Allgemeingeltung 20 f., 28, 104, 141 Allgemeingültigkeit 20 f., 41, 57, 108, 114, 135 – Gemeingültigkeit 114 f. Apperzeption, synthetische Einheit der 69 f., 131 Aufklärung 8, 20, 25, 44, 79, 84 Bedingung, innere und äußere 14, 57 – 59, 61, 123, 136 f., 157, 160, 169 Befriedigung 15, 23 f., 28 – 30, 32, 47, 71 – 73, 76, 105, 112, 117 f., 142, 144, 146, 149, 151, 158, 163 – 166 Begehrungsvermögen 12, 14, 71 – 76, 104 f., 110 f., 113, 142, 145, 147, 157 f., 167, 173 – Begehren 23, 72, 77, 104, 106, 109 f., 133 f., 147, 149, 157 f., 164, 169 f., 173 Bildung 50, 65, 97, 120, 152 f., 163 Billigungstrieb 134 Billigungsvermögen 133 f. Commercium mentis et corporis Conditio humana 119 f. Connaisseur (Sommelier) 115 Deduktion 59, 62 f., 135 – 137 – metaphysische 59, 140 – syllogistische (logische) 135 f. – transzendentale 136 f. Dualismus der Erkenntnisstämme

84, 96

110

Eigennützigkeit/Uneigennützigkeit 60 f., 75, 77, 94 – 96, 98, 100, 112 f., 147 – 150, 165 f., 171 f. Einbildungskraft (Phantasie) 28, 34, 51, 64, 70, 82, 90, 93, 107 f., 118 – 120, 122, 126 – 135, 140, 155, 163 – produktive 127, 130 f. – reproduktive 131 Einheit des Mannigfaltigen 40, 50, 55 f., 72 f., 76, 97, 126, 130, 143 f., 169, 172 Elementarphilosophie 3, 12, 14, 16, 41, 58, 76, 81, 83, 87, 104, 110 f., 123, 135 – 138, 145, 158, 160, 165, 167, 171 https://doi.org/10.1515/9783111347875-010

Emotion 29, 64, 133 Emotionstheoretiker 23, 25 Empfindsamkeit 8, 26, 31, 120 Empfindungsvermögen 28, 59, 63, 90, 92, 94, 99 f., 126, 150, 152 f., 157 f., 160 Empirie (Erfahrung) 16 f., 23, 35, 37, 57 – 59, 64, 68 – 70, 76, 82, 84, 95, 115 f., 127, 131, 136 f., 146, 149, 169 – Erfahrungserkenntnis 137 – Erfahrungsurteil 116 Empirismus 84 – 86 Epikureer 64 f., 100 f. Erhabenheit 5, 10, 24, 26, 42, 61, 64, 78, 96, 107, 141, 154 Erkenntnis, anschauliche 35, 44 f., 71, 144 Erkenntnis a priori 68 f., 131 Erkenntnistheorie 68, 87, 136 Erkenntnistrieb 134 Erkenntnisurteil 114, 124, 127 Erkenntnisvermögen 20, 41 f., 44 f., 72 – 76, 88, 90 – 92, 94, 96, 99, 110 f., 113 f., 118, 125 f., 130 f., 137, 142, 157 f., 160, 169 Erleben, ästhetisches 5, 10, 106, 114, 132, 135, 141, 156, 170 Erscheinung/Ding an sich 23, 42, 58 f., 156, 159 f. Ethik 1, 3, 10, 54 f., 60, 85, 88 f., 113, 123, 150, 152, 154, 161, 172 f. – kantische 60, 152 Eudämonismus 54, 89, 161, 171 f. Formalismus, ästhetischer 108 Freies Spiel der Erkenntniskräfte 27, 71, 117 – 119, 127 – 135, 138 – 140, 142, 170, 173 f. – Ästhetik des Spiels 131 f., 134 Gefühl 4 f., 8, 16, 22, 24, 28 f., 32, 35, 61, 64 f., 82, 85 – 87, 93, 101, 106 – 112, 114, 119 – 121, 123, 130, 133 f., 141, 152, 154 f. – sittliches 119, 123, 154 Gefühlsethik 123 Geist, ästhetischer 129 Genese/Geltung 68, 73, 87, 136

188

Sachregister

Genieästhetik 27, 117, 120, 130, 170 Genuss 10, 31, 39, 54, 75, 91, 106, 108, 112, 115 f., 119, 141, 153 Geschmack 3 f., 12 f., 28, 34, 42, 47, 50, 52, 64, 103 f., 107, 115, 119 – 121, 123, 125 f., 128 f., 133, 152 – 156, 172 f. – Geschmackskritik 5 – 7, 11, 104, 111, 116, 124 – 127, 143, 173 – Geschmackslehre 3, 104, 111, 121, 141 – Geschmacksregel 12, 104, 125, 153 Geschmacksurteil 105 – 107, 109, 114 – 116, 124 f., 127, 129 – 131, 138 – 141, 144, 155, 163, 173 – reines 107, 109, 129, 141, 155 Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz 128 f. Glückseligkeit 30, 50, 54 f., 60 – 62, 88 f., 91 f., 98, 103, 142, 149 – 152, 161 f., 166, 173 Glückswürdigkeit 61, 103, 151 f., 166, 172 Grundkraft 8, 47, 51, 59, 62 f., 85, 97, 134 – intellektuelle 48, 51, 59 f., 62 f. Grundsatz (Prinzip) 20 f., 28, 46, 51 f., 54, 57, 60, 67, 69 f., 86, 104, 110 f., 118, 121, 124 – 127, 138, 141, 144 f., 154 – apriorischer 57, 111, 126 – der Einheit der Apperzeption 69 – der Geschmackskritik 108, 124 – 127, 129, 138, 141, 174 – der transzendentalen Deduktion 136 – erster 28, 67, 70, 104, 111, 124, 126 f., 141 – transzendentaler 97 Grundtrieb, intellektueller 47 f., 52, 54 Harmonie 45, 74, 128, 133, 144, 152, 161, 172 Hedonismus 29, 65, 89 Idee, ästhetische 129 Innatismus 85 – 87 – Anlage 6, 85 – 87, 91, 95 – 97, 112, 119 f., 135, 155 Intellektualismus 48, 51 f., 55, 70, 96, 163, 169 Interesse/Interesselosigkeit 50, 105 f., 109, 114 – 116, 127, 138 f., 154 f., 163, 173 Je ne sais quoi

26 f., 37, 52, 72, 117, 120

Kategorien 88, 131, 137, 148 f., 167 – Kategorientafel 167

Klassizismus 120 Kognitivismus 35, 71, 152, 169 – ästhetischer 35, 71, 169 – ethischer 152 Komplementarität der Erkenntnisquellen 123 Kritizismus 42, 82, 88, 110 Kunst 5 f., 29, 36 f., 42, 51, 107 – 109, 115 f., 118 – 122, 124 – 126, 129, 139 f., 152 – 155, 163, 173 Kunstkritik 10, 107 Kunstschönes 6, 139 Kunstwerk 22, 27, 37, 51, 73, 96, 108, 116, 119, 121 f., 128 f., 139, 144 Leiblichkeit 17, 39, 41, 57 – 59, 65 – 69, 71, 136, 158, 172 Leidenschaft 22, 64, 66, 106, 121, 146 lex continui (Grade der Klarheit) 33, 36, 45, 75, 171 Malerei 22, 51, 107 Materialismus 9, 45, 64 f., 67 Moralität/Sittlichkeit 10, 61, 104, 112 f., 115, 145, 149 – 151, 153, 155, 165 – 167, 171 – 173 Musik 51, 53, 108 f., 115 Naturschönes 6, 139, 152, 155 f., 173 Natur und Freiheit 156, 173 f. Ordnung

38, 49, 72, 122, 139, 143, 145, 160, 172

Philosophie, kritische 1 – 3, 6, 11, 19, 78, 80, 83, 134 f., 166 f. Pietismus 89, 161 Poesie (Dichtkunst) 5 f., 22, 51, 108, 115, 118 – 120, 139, 173 Prinzip des zureichenden Grundes 86 f., 122 Psychologismus 85 Rationalismus 8, 29 – 31, 33 f., 43, 45, 86, 139 f., 145, 158 f., 170, 174 Rationalität, ästhetische 28, 64, 170 – Arationalität 27, 29, 37, 116, 121, 123 f., 128, 170, 173 – Irrationalität 27, 37, 120 f., 128, 130, 170, 173 Reduktionismus 48, 63, 97, 108, 110 Regelpoetik 120

Sachregister

Reiz und Rührung 5, 25, 105, 107 f., 110, 115, 118 f., 129, 153 Relationsurteil, evaluatives 93 – 95 Rezeptivität 14 f., 17 – 19, 23, 28, 41, 43, 56 – 58, 61, 63, 67 – 70, 74 – 76, 77, 100, 102, 117, 131, 136, 146 – 148, 155, 157 f., 160, 166, 169 f., 173 – bloße 41, 68, 131 Romantizismus 64 Sachurteil, evaluatives 92, 94, 96, 100, 159, 165 Satz des Bewusstseins (S. d. B.) 16, 67 Schönheit 4 – 6, 10, 12, 22, 24, 26, 29, 31 f., 35 – 40, 42 f., 45, 47, 49 – 52, 56 f., 64, 72 f., 78, 95 – 97, 99, 101, 103 – 110, 115 f., 118 – 127, 129, 134 f., 138 – 144, 152 – 156, 162, 164, 172 – 174 Schönheit als Symbol des sittlich Guten 155, 174 Seelenlust, reine 38 f., 47 Selbstaffektion, transzendentale 70 Selbstgefühl 85 – 87, 134 sensibilité physique 8, 65, 69 Sensualismus 9, 45, 65, 67, 100, 169 Sinnlichkeit, apriorische (ursprüngliche) 55, 59, 67 – 69, 103, 169 f. Sittengesetz 61, 152, 155, 171, 173 Skeptizismus, kritischer 20, 80 Spieltrieb 97 Spiritualismus 65, 67, 70 Spontaneität 8, 14, 17 f., 23, 40 f., 46, 55 f., 58, 61, 67, 70, 72, 74 f., 77, 100, 102 f., 113 f., 117, 130 f., 146 – 150, 160, 165 f., 169 f., 172 – autonom wirkende 61, 165, 172 – bloße 17, 41, 67, 103, 160 Starke und leichte Beschäftigung 8, 24 – 28, 38, 55, 71 – 74, 76, 116 – 119, 121, 123, 126 f., 129 f., 134 f., 138 f., 142, 144, 147, 160 f., 169, 172 – 174 Stoiker 101 f. Stufenleiter der Vorstellungsarten 15, 157 Taxonomie der Vorstellungen 31, 34, 36, 90 – Deutlichkeit/Undeutlichkeit 8, 33 f., 36 f., 39, 41 – 45, 51, 74 f., 90 – 92, 117, 121, 123, 144, 158 f., 170 f. – Klarheit/Dunkelheit 33 f., 37, 43 – 45, 90 – 92, 115, 118, 133

189

– Klarheit, extensive/intensive 33, 43 – 45, 90 – 92, 115 – Lebhaftigkeit 43, 45, 48 f., 51, 53, 90 f., 93, 120, 160 f. – Verworrenheit 33 – 45, 52, 74, 91, 118, 122, 143, 158 f., 170 f. – Wirksamkeit 49, 93, 98, 146, 160 Transzendentaler Idealismus 23 Transzendentalphilosophie 6 f., 45, 58 f., 67 f., 76 f., 83, 87, 102 f., 108, 131, 134 – 137, 166 f., 169 f., 172, 174 Trieb, bloß sinnlicher 148, 151, 162 Trieb der Ideenbeschäftigung 95, 100, 163, 166 Trieb des körperlichen Wohlstandes 95 f., 98, 100, 163 f., 166 Trieb des Lebens 91, 95 – 98, 161, 163 f., 166, 172 Triebfeder 60 f., 113, 152, 154 f., 167 Triebmonismus/-dualismus 164, 172 Trieb nach dem höchsten Gut 150 f., 166 Trieb nach Schönheit 97 Trieb nach Vorstellungen (Vorstellung überhaupt) 22 f., 28 f., 32, 71 – 73, 76, 109 f., 117 f., 142, 144, 147 f., 157, 164, 166, 172 f. – nach Vorstellungsform 145, 147 f., 164 – 166, 172 – nach Vorstellungsstoff 71 f., 112, 145, 147 – 150, 157, 164, 166, 171 f. Trieb, rein-vernünftiger 149 – 153, 162, 164 f., 167, 171 – 173 Trieb, vernünftig-sinnlicher 149 – 153, 162, 171, 173 Triebtheorie 10 – 13, 17, 23, 77, 81, 97 f., 103 f., 145 f., 151, 153, 156, 158, 164, 167, 170 – 173 Tugendlehre 54, 60, 66, 88 f., 154, 161 f. Urteil, ästhetisches 127, 154 Urteil, moralisches

94, 105, 107, 109, 115 f., 125, 114, 152, 155

Vergnügen (Lust, Empfindung) 4 f., 7 – 15, 17 – 19, 21 – 30, 32 f., 35 – 43, 46 – 52, 54 – 64, 66, 70 – 79, 81, 89 f., 92, 98 – 106, 108 – 115, 117 – 119, 122 – 124, 126 f., 130, 135, 137 – 143, 149 – 153, 156 – 158, 161 – 167, 169, 171 – 174

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Sachregister

– ästhetisches 10, 28, 51, 73, 93 f., 96 f., 99, 105 f., 109, 111, 114, 116 f., 122 – 124, 126 f., 130, 138 f., 141, 151 – 153, 161 – 164, 171 – 173 – bloßes 99, 112 – 116, 130 – intellektuelles 93 – 96, 98, 101, 122 – 124, 160 f., 163, 165 f. – moralisches 50, 54, 60, 66, 75, 114, 123, 152 f., 162, 171 – physisches 10, 38, 47, 53, 56, 59, 66, 73, 75, 85, 93 – 95, 106, 114 f., 124, 142, 148, 160, 162 Vermögen, Lust und Unlust zu fühlen 37, 105, 110 f., 114, 127 Vollkommenheit (Perfektion) 8, 22, 30 – 40, 42, 44 f., 50 f., 54 – 56, 71 – 75, 88 f., 91 – 93, 96 – 99, 101, 122, 126, 134, 140, 142 – 146, 152, 157 f., 163, 165, 169, 172 f. – bloße Form der 143 f. Vollkommenheitsästhetik 134, 142, 144, 170, 174 Vorstellungsmonismus/-pluralismus 110 f. Vorstellungstheorie 14, 58, 68, 87, 136 f. Vorstellungsvermögen 14 f., 17 – 19, 23 f., 41, 44, 57 f., 63, 68 f., 71, 75 f., 102, 109 f., 113, 117 f.,

126 f., 129, 135 – 137, 141 f., 145 f., 147, 164, 166, 169 – bloßes 58, 76, 137, 146 f. Wahrnehmungsurteil 116 Werturteil 28, 94, 161 Wohlgefallen 14, 26, 28, 36, 92 – 94, 98, 101, 107, 112 – 116, 127 f., 133, 138 f., 152, 154 f., 172 – am Angenehmen 116 – ästhetisches 14, 28, 112 f., 128, 138 f. – freies 155 – intellektuelles 101, 154 – moralisches 112 f. – urteilendes 93, 98, 172 Zeichnung/Farbe 107 f., 129 – Querelle du coloris 108 Zweckmäßigkeit 130, 138 – 141, 143 – 145, 154 – 156, 173 f. – innere 139 f., 143 – 145 – objektive 138 – subjektive 138 – 141, 143, 155 f., 173 f.