Die Ontotheologie des vorkritischen Kant 9783110849417, 9783110081305


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German Pages 307 [320] Year 1980

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Table of contents :
Zur Einführung
Erster Teil: Das ontotheologische Argument der Nova Dilucidatio von 1755
1. Kapitel: Die zwei Fassungen des ontotheologischen Arguments beim vorkritischen Kant und die Methode ihrer Behandlung. Die charakteristischen Merkmale der früheren Fassung gegenüber der späteren
2. Kapitel: Der Gedankengang des Beweises der Propositio VII in der Nova Dilucidatio
3. Kapitel: Diskussion abweichender Positionen in der Deutung des Arguments
Zweiter Teil: Das ontotheologische Argument in der Abhandlung „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ von 1762
1. Kapitel: Charakter und Besonderheiten der jüngeren Version des ontotheologischen Beweises gegenüber der älteren
2. Kapitel: Der Gedankengang des ontotheologischen Arguments in der ersten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes
3. Kapitel: Aufbau der zweiten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes und ihre Stellung in der Gesamtkonzeption der Abhandlung
Dritter Teil: Diskussion anderer neuerer Deutungen des einzig möglichen Beweisgrundes, insbesondere unter der Rücksicht der Methode
1. Kapitel: Die Interpretation des ,,Beweisgrundes" bei Klaus Reich und Dieter Henrich
A. Klaus Reich
B. Dieter Henrich
2. Kapitel: Die Interpretation des „Beweisgrundes“ bei Pierre Laberge, Horst- Günter Redmann und Joseph Moreau
A. Pierre Laberge
B. Horst-Günter Redmann
C. Joseph Moreau
3. Kapitel: Die Interpretation des „Beweisgrundes“ bei Mariano Campo, Ada Lamacchia und Joachim Kopper
A. Mariano Campo
B. Ada Lamacchia
C. Joachim Kopper
Zum Beschluß
Literatur
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Die Ontotheologie des vorkritischen Kant
 9783110849417, 9783110081305

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Josef Schmucker Die Ontotheologie des vorkritischen Kant

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G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper 112

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980

Josef Schmucker

Die Ontotheologie des vorkritischen Kant

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Schmucker, Josef: Die Ontotheologie des vorkritischen Kant / Josef Schmucker. - Berlin, New York : de Gruyter, 1980. (Kantstudien : Erg.-H. : 112) ISBN 3-11-008130-X

© Copyright 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer-Karl J. Trübner-Veit & Comp., Berlin 3 0 Printed in Germany - Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, und der Anfertigung von Mikrofilmen - auch auszugsweise - vorbehalten. Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1000 Berlin 61

Dem Andenken an meinen Vetter und Freund Pfarrer Paul Bodensteiner

Pope wählete einen Weg, der, um den schönen Beweis von Gott allen Menschen vernehmlich zu machen, der allergeschickteste unter allen möglichen ist und der, welches eben die Vollkommenheit seines Systems ausmacht, sogar alle Möglichkeit der Herrschaft eines allgenugsamen Urwesens unterwirft, unter welchem die Dinge keine andern Eigenschaften, auch sogar nicht solche, die man wesentlich notwendige nennt, haben können, die nicht vollkommen zu Ausdrückung seiner Vollkommenheit zusammenstimmen . . . (R 3704) Dieser Beweis aus bloßen Begriffen ist nicht complet ohne Bestätigung durch den empirischen Beweis, daß die Grundsätze der Vernunft mit der Erfahrung stimmen, ob sie zwar nicht daher entlehnt sind. Umgekehrt ist ein empirisch Argument ohne diesen Vernunftbeweis nicht hinreichend zu einem bestimmten Begriff des Urwesens. (R 4250) Mein ontotheologischer Beweis, der darin richtig ist, daß wir nach der Ordnung der Natur unter demselben Schöpfer Beziehungen auf Zwecke gewahr werden. (R 4647) Aus Kants Reflexionen zur Metaphysik

Inhalt Zur Einführung

1

Erster Teil: Das ontotheologische Argument der Nova Dilucidado von 1755

11

1. Kapitel: Die zwei Fassungen des ontotheologischen Arguments beim vorkritischen Kant und die Methode ihrer Behandlung. Die charakteristischen Merkmale der früheren Fassung gegenüber der späteren 2. Kapitel: Der Gedankengang des Beweises der Propositio VII in der Nova Dilucidano 3. Kapitel: Diskussion abweichender Positionen in der Deutung des Arguments

18 26

Zweiter Teil: Das ontotheologische Argument in der Abhandlung „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" von 1762

51

13

1. Kapitel: Charakter und Besonderheiten der jüngeren Version des ontotheologischen Beweises gegenüber der älteren 53 2. Kapitel: Der Gedankengang des ontotheologischen Arguments in der ersten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes 62 3. Kapitel: Aufbau der zweiten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes und ihre Stellung in der Gesamtkonzeption der Abhandlung 107 Dritter Teil: Diskussion anderer neuerer Deutungen des einzig möglichen Beweisgrundes, insbesondere unter der Rücksicht der Methode 137 1. Kapitel: Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Klaus Reich und Dieter Henrich 140 A. Klaus Reich B. Dieter Henrich

140 169

2. Kapitel: Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Pierre Laberge, HorstGünter Redmann und Joseph Moreau 195 A. Pierre Laberge B. Horst-Günter Redmann C. Joseph Moreau

195 226 252

3. Kapitel: Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Mariano Campo, Ada Lamacchiaund Joachim Kopper 259 A. Mariano Campo B. AdaLamacchia C. Joachim Kopper

:

259 290 294

Zum Beschluß

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Literatur

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Zur Einführung Das Werk, das der Leser vor Augen hat, ist die Frucht der Bemühungen von Jahrzehnten. Schon als angehenden Kandidaten der Theologie, dessen Interesse vor allem dem Problem der Gottesbeweise zugewandt war, hatte den Verfasser der Gedanke fasziniert, daß Kant, der von der katholischen Theologie so kompromißlos bekämpfte und doch so außerordentlich einflußreiche Kritiker der Gottesbeweise, in seiner vorkritischen Zeit, aber immerhin in einem Alter von beinahe 40 Jahren und damit offenbar auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, allen Ernstes eine Demonstration des Daseins Gottes im strengen Sinn des Wortes vertreten hat. Er erinnert sich noch gut, wie er in seinem ersten Hochschulsemester im Sommer 193 0 im Kreuzgang des ehemaligen Schottenklosters von Regensburg (des nunmehrigen Priesterseminars) über dem Text des einzig möglichen Beweisgrundes meditierend auf und ab ging, in dem „heißen Bemühen", hinter den Sinn des, obenhin betrachtet, nicht besonders schwierig scheinenden Textes zu kommen. Am Ende dieser Bemühungen stand freilich die Uberzeugung, daß es nicht gelungen war, zu einem wirklichen Verstehen dieses für ihn damals interessantesten Kapitels der Kantischen Philosophie vorzudringen. Die ungelöste Aufgabe aber hielt sein Interesse auch in den folgenden Jahren des philosophischen und theologischen Studiums wach. Mit der Ausarbeitung seiner (unveröffentlichten) Münchener Dissertation von 1948 (Die Entwicklung der ethischen Prinzipienlehre Kants bis zum Erscheinen der Kr. d. r. V.) rückte dann dieses frühe theologische Werk Kants für den Verfasser unter einem neuen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt des Interesses: dem der vorkritischen Entwicklung des Philosophen, und zwar sowohl auf dem moralphilosophischen wie auch auf dem metaphysischen Gebiet. Abgesehen davon, daß wenigstens eine wichtige Stelle aus dem Beweisgrund unmittelbar die ethische Problematik betraf (nämlich die über den Begriff der Vollkommenheit'), stellte dieses Werk, wie schon aus seinem Umfang abzunehmen war, die bedeutendste metaphysische Veröffentlichung der vorkritischen Epoche dar. Das aber, was den Verfasser an dieser Schrift nun am meisten frappierte und ihn entscheidend dazu bestimmte, in den folgenden drei Jahrzehnten gerade dxevorkritische metaphysische Entwicklung Kants zu seinem besonderen Forschungsgebiet zu machen, war die Tatsache, daß der Philosoph bereits in diesem frühen Werk, das spätestens im Herbst 1762 abgeschlossen war, mit denselben Gedankengängen und Argumenten die drei bekannten Gottesbeweise, den ontologischen Descartes', den kosmologischen Wolffs und den physiko-theologischen kritisiert und ablehnt, wie dann so viel später in den Abschnitten III bis VI des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik der Kr. d. r. V. Wenn diese Kritik der Rationaltheologie wie überhaupt der ganzen Metaphysica specialis als eine der großen Leistungen des Kritizismus zu gelten hatte, wie 1

Siehe KGS II, 90; Zur Frage der Titel „Beweisgrund" etc. siehe Teil I, Anm. 1 S. 13

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allgemein angenommen wird, dann mußte der erwähnten Tatsache eine außerordentliche entwicklungsgeschichtliche Bedeutung zukommen, die möglicherweise die herkömmliche Vorstellung über die vorkritische metaphysische Entwicklung Kants sprengte und deren Bild von Grund auf veränderte. In der Tat verdichtete sich beim Verfasser diese anfängliche Vermutung im Lauf seiner langfristigen Bemühungen um Kants vorkritische Entwicklung zu der Überzeugung, daß die geläufige Auffassung der letzteren, die sie vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, als Entwicklung zum Kritizismus im Sinn des transzendentalen Idealismus in der Deutung von Raum und Zeit und der Kategorien interpretiert, die wesendichste Dimension dieser Entwicklung übersehen hat: daß sich diese nämlich überhaupt nicht unmittelbar und geradlinig auf den transzendentalen Idealismus bzw. die Analytik der Kr. d. r. V. hinbewegt, sondern unmittelbar und geradlinig auf den Standpunkt der transzendentalen Dialektik, d. h. auf die Kritik der reinen Vernunftschlüsse und ihrer Endbegriffe (conceptus terminatores) auf den Gebieten der Metaphysica specialis, und zwar so, daß diese Entwicklung sich entscheidend in der Auseinandersetzung des vorkritischen Kant mit der traditionellen Metaphysik, vor allem der Wolffschule, vollzog und schon im wesentlichen abgeschlossen war, bevor noch die beiden großen Umbrüche2 stattfanden, aus denen der transzendentale Idealismus der Analytik bzw. Ästhetik der Kr. d. r. V. hervorging. Es liegt auf der Hand, daß in dieser Sicht nicht nur das Verhältnis zwischen dem Analytikteil der Kritik und ihrem Dialektikteil in einem neuen Licht erscheint, sondern daß damit auch der vorkritischen metaphysischen Entwicklung Kants eine grundlegende Bedeutung zufällt für das Verständnis des kritischen Hauptwerks selbst, wie überhaupt des gesamten kritizistischen Systems. Für diese neue Auffassung der vorkritischen Entwicklung nun kam dem Einzig möglichen Beweisgrund in zweifacher Hinsicht eine entscheidende Bedeutung zu: fürs erste stellte dessen dritte Abteilung mit ihrer Kritik der drei traditionellen Gottesbeweise im Sinn des dritten Hauptstücks der Dialektik ein Grunddokument für die eben gekennzeichnete Sicht der metaphysischen Entwicklung Kants dar, ein Dokument, das hinsichtlich der Datierung in keiner Weise in Zweifel gezogen werden konnte, während man das bei anderen in dieser Beziehung wichtigen Zeugnissen, etwa den Berliner Losen Blättern 29 und 27 (RR 3716, 3717) wiederholt versucht hat 3 . Andererseits stellte sich nun unabweisbar das Problem: wie erfolgte noch in der vorkritischen Phase die Fortentwicklung vom einzig möglichen Beweisgrund, d.h. vom ontotheologischen Argument, zur Lehre von dem bloß subjektiv gültigen Vernunftideal, wie sie uns dann in dem Abschnitt II des dritten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik begegnet? Hierbei ging es einerseits um die vorkritischen Dokumente, die diese Entwicklung belegen, andererseits um das Verstehen der entwicklungsgeschichtlichen Motivierung dieser tiefgreifenden Wandlung und Umformung bei Kant, die erst die Kritik der Rationaltheologie im Sinn des dritten Hauptstücks der Dialektik zum Abschluß bringt. Gerade das Verstehen dieser entschei2 3

in der Diss, von 1770 und im Brief an M. Herz vom 21.2.1772 So J. Fang in „Kantinterpretationen I" (Regensberg, 1967) u. bes. Norbert Hinske in Kantstudien 1974, Sonderheft, 84 ff. Vgl. dazu des Verf. Stellungnahme in Kantstudien 1976, 73 ff.

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denden und im Grunde einzigen substantiellen vorkritischen Entwicklung der Gotteslehre Kants 4 setzt aber ein wirkliches Verstehen des Ansatz- und Ausgangspunktes derselben, also des ontotheologischen Arguments der ersten Abteilung des Beweisgrundes, voraus, das ohne eine sorgfältige und gründliche Analyse seines Gedankengangs im Rahmen der ganzen Abhandlung nicht gewonnen werden konnte. Für den Verfasser bildete so das Bemühen um ein reales, konkretes Verstehen gerade des ontotheologischen Arguments ein Grundanliegen seiner Forschungen auf dem Gebiet der vorkritischen Philosophie Kants, wie seine diesbezüglichen bisherigen Arbeiten ausweisen5. Dazu kam aber abschließend ein dritter Grund, der dem Verfasser die eingehende Analyse und Interpretation der frühen theologischen Abhandlung des Philosophen zu einer unumgänglichen Aufgabe machte: Wenn die sich aus der Erforschung seiner vorkritischen Entwicklung ergebende Sicht des Verhältnisses zwischen Analytik- und Dialektikteil der Kr. d. r. V. richtig war, dann erhielt der transzendentale Idealismus der Analytik überhaupt erst in überzeugender Weise jene positive Funktion als tragendes Fundament im System der kritizistischen Metaphysik, wie sie ihm unter anderem die Vorrede zur 2. Auflage der Kritik von 1787 und die Entwürfe zur Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik aus den neunziger Jahren 6 zuerkennen. Das Entscheidende dabei war jedoch, daß damit das Gottesproblem, trotz aller unmittelbaren Kritik und Ablehnung der traditionellen Argumente der Dialektik, in neuer und unerwarteter Weise in den Mittelpunkt des kritizistischen Systems rückte; denn es trat damit deutlich hervor, daß der Kritizismus Kants keineswegs eine grundsätzliche Überwindung der Metaphysik als solcher bzw. die endgültige Ablehnung einer rationalen Lösung ihrer Grundfragen bedeutete oder gar intendierte, sondern als neuer, kritisch gesicherter Weg zu ihrer Lösung verstanden sein wollte. Gewiß erfolgte nunmehr die Lösung dieser metaphysischen Probleme, d. h. der Probleme des Übersinnlichen, die der Philosoph gewöhnlich unter die Trias Gott, Freiheit und Unsterblichkeit bzw. Seele zusammenfaßt, primär, wenn auch nicht ausschließlich, vom Praktisch-Moralischen her, aber diese praktische Lösung selbst erschien nun auf Grund der positiven Öffnung und Hinordnung des transzendentalen Idealismus auf die Metaphysik des Ubersinnlichen nicht mehr als ein nur zusätzlicher oder äußerlicher Anbau an das Kerngebäude des kritizistischen Systems, sondern als innerlich mit dem transzendentalen Idealismus in der Idee einer kritizistischen Metaphysik 4

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Vgl. das Referat des Verf. auf dem III. Intern. Kantkongreß 1970 in Rochester (USA) O n the development of Kants Transcendental Theology, in: Proceedings of the Third Internat. Kant Congress, hrsg. von Lewis White Beck, Dordrecht 1972, 495-500 So vor allem: Die Gottesbeweise beim vorkrit. Kant, in: Kantstudien 1963,445 ff. Die Frühgestalt des ontotheol. Arguments in der Nova Dilucidario und ihr Verhältnis zum Einzig möglichen Beweisgrund von 1762, in: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1967, 39ff; Die Originalität des ontotheol. Arguments Kants gegenüber verwandten Gedankengängen bei Leibniz und in der Schulphilosophie der Zeit, in: Kritik und Metaphysik, Berlin 1966, 120ff. ; O n the development of Kants Transcendental Theology (s. Anm. 4); Joseph Moreaus Interpretation der Kantischen Gottesbeweiskritik in ,,Le Dieu des philosophes", in: Archiv f. Gesch. d. Philosophie 1972, 37-88; Zur entwicklungsgeschichtl. Bedeutung der Inauguraldiss. von 1770, in: Kantstudien 1974 (Sonderheft) 263 ff. K G S X X , 253-351

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verbunden, so daß beide Elemente wesentliche Teile ein und desselben Systems darstellten 7 . Mit anderen Worten: die genannte grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Analytikteil der Kr. d. r. V. und dem dort entwickelten transzendentalen Idealismus und der bereits in der vorkritischen Epoche gewonnenen Erkenntnis der durchgehenden Dialektik der traditionellen Metaphysica specialis in dem Sinn, daß der erstere nicht nur den Grund für die Unvermeidlichkeit der Dialektik der natürlichen Vernunft in ihren Schlüssen auf das Ubersinnliche einsichtig macht, sondern zugleich damit das wesentliche Hindernis beseitigt für eine endgültige, kritisch gesicherte Lösung der metaphysischen Grundfragen vom Moralisch-Praktischen her, verlangte auch dringend eine neue Behandlung der Frage nach der Stellung und Bedeutung des Gottesproblems im System des Kantischen Kritizismus und damit, wenigstens für die katholische Theologie, eine neue und wesentlich positivere Auseinandersetzung mit der Kantischen Kritik an der traditionellen Rationaltheologie. Diese Aufgabe wäre freilich der katholischen Theologie schon gestellt gewesen mit jener bedeutsamen Wende der Kantinterpretation in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die durch hervorragende Forscher, wie Max Wundt, Josef Bohatec, Heinz Heimsoeth und auch durch den späteren Vleeschauwer8, um nur einige wichtige Namen zu nennen, repräsentiert wird: eine Wende, die H. G. Redmann so kennzeichnet: ,,Die letzten Jahrzehnte haben Kant neu sehen gelehrt. Bei aller Verschiedenheit der Fragestellung und Antworten, die gegeben werden, ist es das eine, was die gegenwärtige Kantforschung grundsätzlich vom Neukantianismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts unterscheidet: Kants Kritizismus wird heute nicht mehr als ein die Metaphysik und die Religion zerstörendes, sondern vielmehr als ein das eigene metaphysische bzw. religiöse Anliegen begründendes Denken verstanden"9. Wenn dem so ist, daß der Kritizismus Kants nur die Begründung einer neuen Metaphysik sein wollte und diese nach ihm zuletzt auf die Religion führt, wie Bohatec sagt10, oder, wie Wundt es ausdrückt, daß der Gottesgedanke und seine Auswirkungen das letzte Ziel wie der Metaphysik überhaupt, so auch der Kantischen Philosophie wird", dann war damit in Wahrheit auch die katholische Theologie angesprochen und aufgefordert, sich mit dieser neuen Sicht des Kantischen Kritizismus in anderer, positiverer Weise als üblich auseinanderzusetzen. Daß ihr das, trotz bedeutsamer Versuche in dieser Richtung, im ganzen nicht überzeugend gelang, hat, wie wir meinen, zu einem guten Teil seinen Grund darin, daß auch die genannten Vertreter der neuen metaphysischen Kantinterpretation das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Idealismus der Analytik und dem Dialektikteil der Kr. d. r. V. in dem bezeichneten entscheidenden Punkt nicht eindeutig bestimmt haben. Die jüngere Generation der Kantforscher, wie die oben Genannten, hat zwar klar die zentrale Stellung des metaphysischen

Ebd. 311 und XVIII, 667ff (RR 6343, 6344, 6349, 6353) Vgl. Kantstudien 1963, 363ff. 9 Horst-Günter Redmann, Gott und die Welt, Göttingen 1962, 15 10 Josef Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", Hamburg 1938, 11 " Max Wundt, Kant als Metaphysiker, Stuttgart, 1924, 389, vgl. 434, 436 7 8

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und theologischen Problems im System des Kantischen Kritizismus erkannt - zu massiv stehen diese Themen in den drei Kritiken und anderen Schriften der kritischen Epoche, als daß man den Ernst des Einsatzes Kants in dieser Hinsicht bezweifeln könnte-, sie hat auch eingesehen, daß in dessen eigener Sicht und Intention nicht der transzendentale Idealismus der Analytik mit seiner Subjektivierung von Raum und Zeit und der Kategorien das eigentliche Ziel des Kritizismus war, sondern ihm nur die Rolle des Fundaments oder der Vorbereitung für das neu zu errichtende Gebäude einer kritizistischen Metaphysik zukam. So schrieb Heimsoeth in seinem großen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, der bezeichnenderweise den Titel „Transzendentale Dialektik" trägt: „ D i e zweite Hälfte der Kritik blieb hier [bei Paton] außer Betracht. Sie ist auch sonst, wenn überhaupt (wie etwa bei Kemp Smith), nur gleichsam nachträglich und wenig genau erläutert worden, so, als ob es sich um allzusehr durch Kants Jahrhundert und eigene Anliegen bedingte Gegenstände handelte. Aber für Kant selbst war faktisch diese zweite Hälfte, welche unter dem von ihm neu geprägten Titel einer transzendentalen Dialektik steht, das eigentliche Ziel des Werkes; die Arbeit an den Lehren und Erweisen des ersten Teils hat er immer als Vorbereitung und Mittel dazu angesehen und bezeichnet. Die Kritik des Dialektischen in aller überkommenen Metaphysik sollte für den eigenen Neubau den Boden freilegen" 12 . Damit ist ohne Zweifel ein sehr wichtiger Aspekt der Kr. d. r. V. aufgezeigt, doch fehlt hier und im ganzen Kommentar jene Präzisierung des Verhältnisses zwischen Analytik und Dialektik, die erst in vollem Umfang die Rolle des transzendentalen Idealismus als Fundament für den eigenen Neubau verstehen läßt, wie sie in der Vorrede zur 2. Auflage gekennzeichnet ist. Heimsoeth geht, wie noch fast allgemein die Kantforschung überhaupt, von der Voraussetzung aus, die Dialektik, d.h. die Feststellung und Erkenntnis des dialektischen Charakters der Schlüsse unserer Vernunft auf die übersinnlichen Prinzipien des Absoluten, seien eine Folge des transzendentalen Idealismus und aus ihm abgeleitet 13 , womit fast zwangsläufig die Kritik an der traditionellen Metaphysik zum Gipfelpunkt des kritischen Systems wird und als unmittelbare positive Funktion der Ideenlehre nur die eines Systems von Leitprinzipien für die Erforschung der erfahrungsgegebenen Natur bleibt. Der positive metaphysische Bau, d. h. die Vernunfterkenntnis des Ubersinnlichen, bleibt diesem Gebäude der Vernunftkritik irgendwie nur äußerlich angefügt und es wird jene innere geschlossene Einheit der kritizistischen Metaphysik, d. h. der Erkenntnis des Übersinnlichen auf Grund der Kritik der reinen Vernunft, nicht in überzeugender Weise deutlich, wie sie die Vorrede zur 2. Auflage, die Entwürfe der späten Preisschrift, und vor allem auch die Reflexionen der neunziger Jahre 14 so eindrucksvoll vor Augen stellen. Macht man dagegen mit der Erkenntnis ernst, die sich aus der Erforschung der vorkritischen metaphysischen Entwicklung Kants ergab, daß nämlich die Erkenntnis und der 12 13

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Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Berlin 1966, VIII So mit allen Konsequenzen Wolfgang Cramer in : Gottesbeweise und ihre Kritik, Frankfurt 1967; Vgl. dazu des Verf. Stellungnahme in Archiv f. Gesch. der Philosophie 1970, 287ff. K G S X X , 311; XVIII, 667 ff.

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Aufweis des dialektischen Charakters unserer Vernunftschlüsse auf die Prinzipien des Ubersinnlichen ihrer Substanz nach wie auch entwicklungsgeschichtlich vorkritisch sind - der Substanz nach, weil sie sich für Kant aus einer immanenten Kritik der die absolute Realität von Raum und Zeit voraussetzenden traditionellen Metaphysik ergaben; entwicklungsgeschichtlich, weil sie in der Tat vor den beiden Wendepunkten (1770/1772), die zum transzendentalen Idealismus führten, abgeschlossen waren - , verliert einerseits die Dialektik als Kritik der alten Metaphysica specialis den Charakter des Ziel- und Gipfelpunkts des Kritizismus als eines neuen Zugangs zur Metaphysik und erhöht sich andererseits in dem gleichen Maße die Bedeutung der Analytik bzw. des transzendentalen Idealismus als der eigentliche tragende Grund des neuen metaphysischen Baues; denn ihr fällt nun eine im doppelten Sinn fundamentale Rolle zu: fürs erste erweist sich der transzendentale Idealismus als der einzige Weg, die natürliche Dialektik der reinen Vernunftschlüsse und ihrer Endbegriffe zu erklären und verständlich zu machen: nämlich aus ihrer natürlichen, unkritischen Voraussetzung der absoluten Realität von Raum und Zeit; fürs zweite aber wird gerade durch ihn jene Dimension der Wirklichkeit eröffnet, in der es nun möglich wird, die Begriffe des Absoluten, die in der räumlich-zeitlichen notwendig dialektisch werden, widerspruchsfrei zu denken: die Dimension des übersinnlichen An-sich, und damit die Dialektik der natürlichen reinen Vernunftschlüsse zu überwinden. Dadurch aber wird erst die Kritik des gesamten Vernunftvermögens zur Grundlage der kritizistischen Metaphysik: sie ist nur Fundament, nur Untergeschoß, auf dem nun das eigentliche Gebäude der Metaphysik des Übersinnlichen auf Grund der praktischmoralischen Prinzipien aufgebaut werden kann, in das aber gerade von dem so verstandenen Fundament aus, wie sich zeigen wird, auch wesentliche theoretische Bauelemente eingehen15. Die kritizistische Metaphysik wird auf diese Weise zu jenem architektonisch geschlossenen Bau von überzeugender innerer Einheit, wie ihn die oben erwähnten Quellen darstellen. In dem Mangel einer exakten Bestimmung des inneren Verhältnisses zwischen Analytik- und Dialektikteil, die allerdings der vorliegende Text der Kr. d.r. V. nicht gerade leicht macht, sehen wir also einen wesentlichen Grund für die Tatsache, daß die katholische Theologie mit dieser neuen Sicht des Metaphysikers Kant nicht allzuviel anzufangen gewußt hat. Man ist, hierin einig mit der Kantforschung im allgemeinen, immer davon ausgegangen, die Kantische Kritik der Metaphysik und speziell der rationalen Theologie in der transzendentalen Dialektik sei eine logische Konsequenz aus der Revolutionierung „der Denkungsart", wie sie in der Analytik durch die Subjektivierung von Raum und Zeit und der Kategorien vollzogen wurde. Folglich sah die katholische Theologie in der Auseinandersetzung mit dem Kritizismus ihre Aufgabe vor alllem darin, die Grundthesen des transzendentalen Idealismus zu kritisieren, d. h. sie entweder in globo zu verwerfen oder sie aber ontologisch zu deuten bzw. ins Ontologische weiter- und überzuführen. Diese Art der Auseinandersetzung mit dem Kritizismus geht jedoch an der eigentlichen Substanz der von Kant intendierten Metaphysik vorbei, weil diese gerade den transzen15

Vgl. des Verf. Beitrag „Die positiven Ansätze Kants zur Lösung des philos. Gottesproblems", in Kurt Krenn (Hrsg.), Die wirkliche Wirklichkeit Gottes, Paderborn 1974, 61 ff.

Einführung

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dentalen Idealismus zur unabdingbaren Voraussetzung einer kritisch gesicherten Lösung der metaphysischen Grundfragen macht, die nach ihm das eigentliche Ziel und die Absicht des kritizistischen Systems darstellt. Wir sind also, mit anderen Worten, der Uberzeugung, daß die eigentliche Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit dem Kritizismus Kants in der von der neuen metaphysischen Interpretation seines Systems gebotenen differenzierteren und positiveren Weise noch zu leisten ist. Sie muß das Ganze seiner kritizistischen Metaphysik ins Auge fassen und darf sich weder auf eine Gegenkritik seiner Kritik der Gottesbeweise noch auf eine Kritik des transzendentalen Idealismus beschränken oder hier auch nur ihren Schwerpunkt suchen. Für diese theologische Auseinandersetzung mit dem Kantischen Kritizismus ist nun nach dem oben Ausgeführten die Herausarbeitung des wesentlich vorkritischen Charakters der Lehren der transzendentalen Dialektik, speziell ihres dritten Hauptstücks, resp. das Studium der vorkritischen metaphysischen Entwicklung Kants von grundlegender Bedeutung, weil nur so die Rolle und der Stellenwert seiner Kritik der traditionellen Rationaltheologie im Rahmen des Systems der kritizistischen Metaphysik richtig gesehen und beurteilt werden kann. Dabei gilt es, nicht nur im einzelnen die substantielle Identität der Gottesbeweiskritik der Abschnitte III bis VI des theologischen Hauptstücks mit derjenigen der dritten Abteilung des Beweisgrundes von 1762 aufzuweisen und die vorkritische Entwicklung Kants von dem einzig möglichen Beweisgrund, den er ohne Zweifel als seinen bedeutendsten Beitrag zur traditionellen Metaphysik betrachtet hat l f i , zur Lehre vom transzendentalen Vernunftideal überzeugend darzustellen, was wir in einem eigenen Werk zu tun gedenken 17 , sondern als conditio sine qua non der letztgenannten Aufgabe wie überhaupt jedes tieferen Verstehens der ganzen vorkritischen metaphysischen Entwicklung Kants sich allen Ernstes um ein genuines Verständnis des Einzig möglichen Beweisgrundes selbst zu bemühen, und zwar sowohl der Abhandlung im ganzen, wie vor allem ihrer ersten Abteilung, in der das ontotheologische Argument der Nova Dilucidatio ausführlich entwickelt wird. Wir meinen in der Tat, daß die bisherigen Interpretationsversuche diesem bedeutenden Werk und seinem großen neuen Beweisentwurf für das Dasein Gottes nicht das nötige Engagement und die nötige Akribie zugewandt haben und daß sie allzu schnell bereit waren, dem Philosophen hier grobe Fehlschlüsse zu unterstellen. Darin dürfte aber auch einer der Gründe, und zwar nicht der letzte und geringfügigste, dafür liegen, daß die Rolle und Bedeutung des Gottesproblems im System des Kantischen Kritizismus so lange nicht entsprechend gewürdigt worden ist, weder von der Kantforschung selbst noch von der katholischen Theologie. Da nun der Verfasser mit der gegenwärtigen Abhandlung über die Ontotheologie des vorkritischen Kant und der geplanten über den vorkritischen Ursprung und Charakter der Kantischen Gottesbeweiskritik die Voraussetzung schaffen will für die Bestimmung der Rolle der Gottesfrage im System des Kantischen Kritizismus (und mit diesen drei Arbeiten die Vorbedingung für eine neue Auseinandersetzung der katholischen Theologie 16 17

Vgl. KGS XVIII, 95 (R 5116) unter dem Titel: Der vorkrit. Ursprung u. Charakter der Kantischen Gottesbeweiskritik.

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mit dem Kritizismus Kants), erhält für ihn das engagierte Bemühen um den substantiellen Grundgedanken seiner vorkritischen Ontotheologie in dieser weiteren Problemsicht eine fundamentale Bedeutung. Darum ist für ihn die Auseinandersetzung mit jenen neueren Interpretationsversuchen von Wichtigkeit, die ihm auf die eine oder andere Weise das Kantische Argument nicht ernst genug zu nehmen scheinen, sei es daß sie dasselbe überhaupt nicht als Versuch eines Gottesbeweises gelten lassen wollen und Kant eine andere Intention unterstellen, sei es daß sie es als leicht zu durchschauenden Fehlschluß erklären. Dabei geht es uns in dieser Auseinandersetzung vor allem um das Problem der Metbode, d.h. um die Mängel des methodischen Verfahrens jener Lösungen, auf Grund deren sie zu einer so negativen Beurteilung der Kantischen Argumentation gelangen. Denn das von der Interpretation eines vorliegenden philosophischen Werkes, wie in unserem Fall des Einzig möglichen Beweisgrundes, geforderte methodische Vorgehen, um wirklich hinter die von seinem Verfasser intendierte und ausgedrückte Konzeption zu kommen, ergibt sich sozusagen aus der Natur der Sache selbst: es kann nur darin bestehen, aus dem unmittelbaren, näheren und entfernteren Kontext der Sätze und Abschnitte den exakten Gedankengang der Kantischen Argumentation zu bestimmen, d.h. so, daß die einzelnen Beweisschritte in ihrer spezifischen Funktion innerhalb des Ganzen deutlich werden, was naturgemäß u. a. voraussetzt, daß auch alle Aussagen des Philosophen über die Art und Struktur des Arguments ohne jedweden Abstrich berücksichtigt werden. Dabei ist unter dem weiteren Zusammenhang im Fall des einzig möglichen Beweisgrundes vor allem auch die Logik des Gedankengangs der ganzen Abhandlung zu verstehen. Wenn also ζ. B. eine Interpretation mit klaren Aussagen Kants über die Art und Weise der Argumentation oder über ihren Grundcharakter, wie wir sie am Ende der ersten Abteilung (im „Beschluß") oder aber in der dritten Abteilung (wo Kant sein ontotheologisches Argument dem Cartesianischen gegenüberstellt) antreffen, nichts anzufangen vermag oder diesen förmlich widerspicht, so ist das mehr als nur ein Einwand gegen eine derartige Interpretation. Das gleiche muß für eine Deutung gelten, die nicht plausibel zu machen vermag, wie in einem Werk über den „einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" der weitaus größte Teil des Raumes eingenommen werden kann durch Betrachtungen über die verbesserte Physikotheologie und damit zusammenhängende Probleme, ohne daß dadurch die literarische Einheit des Werkes, die Kant offensichtlich nach dem Zeugnis der Vorrede durchaus am Herzen lag 18 , aufgehoben wird. Und ebenso wird man einem Interpretationsversuch skeptisch gegenüberstehen, der, anstatt den Grundgedanken des Arguments aus der Analyse des Textes in seinem näheren und weiteren Zusammenhang zu eruieren, ihn durch den unmittelbaren Textvergleich der ersten Abteilung des Beweisgrundes mit dem durch einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten von ihm getrennten Abschnitt II des dritten Hauptstücks der Dialektik gewinnen will oder überhaupt den Schlüssel des Verständnisses entscheidender Gedankenschritte der Kantischen Argumentation in Lehren und Grundsätzen der kritischen Epoche sucht. Denn hier ist unvermeidlich die Gefahr gegeben, daß in dem einen Fall die Spanne zwischen beiden durch die jeweiligen Texte repräsentierten Entwicklungsstadien, 18

Vgl. KGSII, 68, Z. 22 ff.

Einführung

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je nach der Auffassung des betreffenden Interpreten von der vorkritischen Entwicklung Kants im allgemeinen, konstruktiv überbrückt wird, und im anderen, daß spätere spezifisch kritizistische Lehrelemente, wenn sie für die Interpretation hilfreich zu sein scheinen, in den früheren Text hineininterpretiert werden. Schließlich halten wir es auch für methodisch unvertretbar und dem Kantischen Beweisentwurf nicht angemessen, ihn nach modernen erkenntniskritischen Gesichtspunkten zu beurteilen und zu kritisieren, die wenigstens mittelbar durch das spätere Kantische System selbst bedingt sind: man kann seinem Argument in Wahrheit nur dann gerecht werden und zu einem genuinen Verständnis desselben vordringen, wenn man es von seinen eigenen damaligen Voraussetzungen nachzudenken und zu würdigen bemüht ist. Wir werden uns also im dritten Teil des Werkes unter diesen methodischen Gesichtspunkten eingehender befassen mit einer Reihe neuerer Interpretationsversuche, die uns in sich wie auch durch ihren bereits feststellbaren Einfluß auf die Kantforschung von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. So werden wir vor allem näher eingehen auf die Interpretationen von Klaus Reich und Dieter Henrich, die den einzig möglichen Beweisgrund, d.h. das ontotheologische Argument, von ihrer bestimmten Auffassung der angeblich „kritizistischen" Kritik der Rationaltheologie in der transzendentalen Dialektik her durch unmittelbaren Textvergleich in seinem Grundgedanken und in seiner entwicklungsgeschichtlichen Funktion zu bestimmen versuchten und so zu jener subjektiven Deutung des Prinzips der Möglichkeit, von dem die Kantische Argumentation ausgeht, gelangten, die dieses als Möglichkeit des Denkens oder des Gedankens auffaßt. In einem weiteren Kapitel werden wir uns sodann den Interpretationen von Pierre Laberge, Horst-Günter Redmann und Joseph Moreau zuwenden, die eben diese Grundkonzeption übernehmen und sie, jeder auf seine Weise, zur Grundlage ihrer weitergehenden eigenen Deutung machen: der erstere um auf dieser Grundlage seine These zu entwickeln, daß das ontotheologische Argument Kants seiner essentiellen inneren Logik nach auf einen spinozistischen Gott hinausführe, daß aber Kant gerade im Einzig möglichen Beweisgrund von 1762 diese Logik des Arguments abzubiegen und zu durchbrechen versucht habe, um es zu einem theistischen Gottesbeweis umzugestalten, wobei gerade er, um seine Thesen zu stützen, ausgiebig Belegtexte aus der kritischen Epoche heranzieht: der zweite (Redmann) aber, um auf eben dieser Basis zu beweisen, daß Kants eigentliche Absicht mit dem Einzig möglichen Beweisgrund gar nicht philosophischer oder rationaltheologischer Natur gewesen sei, d. h. daß er mit dieser Abhandlung bzw. mit ihrem einzig möglichen Beweisgrund in Wahrheit gar keinen Gottesbeweis der Vernunft intendiert habe (trotz alles gegenteiligen Anscheins), sondern die Bestätigung und Apologie der kalvinistischen Schöpfungstheologie seines akademischen Lehrers Stapfer; der dritte (Moreau) schließlich, um von der gleichen Basis aus das gerade Gegenteil von diesem letzteren darzutun: daß Kants ontotheologisches Argument für das Dasein Gottes als transzendentales, d.h. im striktesten philosophischen Sinn zwingendes, aufzufassen sei. Im letzten Kapitel dieses dritten Teils werden wir aber noch einem anderen Interpretationstyp unsere Aufmerksamkeit zuwenden, der vom Prinzip der Möglichkeit des Denkens, von dem die vorher genannten Interpreten ausgingen, abrückt und statt dessen das Denkliche, d.h. die Begriffsinhalte, als Ausgangspunkt der Kantischen Argumentation

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Einführung

versteht, wobei dieses Denkliche als mehr oder weniger schwankend zwischen einer genuin ontologischen und einer bloß begriffslogischen Bedeutung aufgefaßt wird. So vor allem Mariano Campo, der diese Doppeldeutigkeit der Kantischen Position im wesentlichen auf die durch den Rationalismus der Epoche verderbte metaphysische Prinzipienlehre des Philosophen zurückführt, deren in Descartes wurzelnden Subjektivismus der Philosoph trotz gewisser Rehabilitierungsversuche der alten realistischen Metaphysik nicht entscheidend zu überwinden vermochte. Der Interpretation Campos schließt sich in den wesentlichen Punkten auch Ada Lamacchia an, während J . Kopper in einer rein systematischen Analyse (im Gegensatz zu der betont philosophiegeschichtlichen Campos) eine entschieden ontologische Deutung des Denklichen als Region des Essentiellen vertritt. Trotzdem bleibt insofern eine nicht zu bestreitende Affinität zur Position Campos und A.Lamacchias, als der Autor die Möglichkeit eines legitimen Überschritts von der essentiellen Ebene zur metaphysischen des Seins in Abrede stellt und auf diese Weise ebenfalls zum Ergebnis kommt, daß die Argumentation Kants, formal betrachtet, einen Fehlschluß darstelle. Damit haben wir bereits kurz die Grundkonzeption der genannten Interpreten angedeutet. Wir werden in den ihnen gewidmeten Kapiteln im einzelnen auf ihre Argumentation eingehen, um darzutun, wie ihre Ergebnisse bzw. Thesen durch die bezeichneten methodischen Voraussetzungen und Ansätze bedingt sind. Diese Auseinandersetzung soll aber im Sinn des Verfassers nicht nur eine Art Komplettierung oder Abrundung der eigenen Interpretation darstellen (in diesem Fall hätte sie wesentlich kürzer ausfallen können), sondern in Wahrheit einen negativen Beweis, sozusagen die Gegenprobe, für die Richtigkeit der in dem vorliegenden Werk gebotenen Interpretation und ihrer methodologischen Grundsätze, was voraussetzt, daß die innere Problematik jener anderslautenden Deutungen auf Grund ihrer spezifischen methodischen Ansätze herausgearbeitet wird, was ohne eine detaillierte Analyse ihrer Grundthesen nicht geschehen konnte. Wie gesagt, soll nach der Absicht des Verfassers das vorliegende Werk mit den noch geplanten folgenden die Voraussetzung schaffen für eine sachliche und positive Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit dem Kritizismus Kants. Da nach der Meinung des Verfassers die Stellung und Bedeutung des Gottesproblems im System des Kritizismus Kants nur dann voll in den Blick kommen kann, wenn der genuine Ausgangspunkt seiner theologischen Lehre und Entwicklung voll zur Gegebenheit gebracht wird, erklärt sich sein Engagement für dieses letztgenannte Ziel, zu dessen Erreichung er keine Mühe gescheut hat.

Erster Teil Das ontotheologische Argument der Nova Dilucidado von 1755

1. Kapitel Die zwei Fassungen des ontotheologischen Arguments beim vorkritischen Kant und die Methode ihrer Behandlung Die charakteristischen Merkmale der früheren Fassung gegenüber der späteren Dem Interpreten der vorkritischen Ontotheologie Kants stellt sich ein erstes Problem von der quellenmäßigen Uberlieferung seines ontotheologischen Arguments her: dieses begegnet uns in einer zweifachen, wenigstens äußerlich recht verschiedenen Gestalt, und zwar in zwei Veröffentlichungen, die zeitlich nicht weniger als sieben Jahre auseinander liegen: in der Nova

Dilucidado

von 1755 und im Einzig möglichen

Beweisgrund

von

1762 1 , wobei sieben Jahre verglichen mit der gesamten vorkritischen Phase einen langen Zeitraum bedeuten. Damit steht man vor der Frage: Darf man die substantielle Identität der Argumente, wie sie die meisten Forscher vertreten, voraussetzen und sie beide per modum unius behandeln, um die Gedankengänge der einen Form je nach Bedarf durch die der anderen zu ergänzen bzw. zu verdeutlichen, oder soll und muß man jede der beiden Fassungen zunächst für sich analysieren, um die Unterschiede bzw. Ubereinstimmungen überhaupt erst einmal klar herauszuarbeiten. Laberge

sieht diese Problemsitua-

tion so: „ D a s , was die Darbietung (présentation) des ontotheologischen Arguments von 1755 schwierig macht, ist seine Wiederholung (reprise) im Beweisgrund. Hauptzüge (lignes de force) des Arguments besser in der Nova Dilucidano so liefert uns der Beweisgrund

Wenn die hervortreten,

höchst willkommene Verdeutlichungen (explicitations).

U m zwei Darstellungen zu vermeiden, von denen die erste trotz allem zu dunkel bliebe, die zweite trotz allem Gefahr liefe, ein Doppel (doublet) zu werden, werden wir nicht zögern, uns dessen zunutze zu machen, was uns nur eine Verdeutlichung (explicitation) im Beweisgrund Diluddatio

zu sein scheint und was deshalb die Stelle eines Scholions schon in der Nova einnehmen könnte. Wir werden dann für unser Kapitel über den

Beweis-

grund das aufbewahren, was uns die zweite Fassung an wirklich Neuem beizubringen schein" 2 . Der Autor sieht allerdings in dieser Art des Vorgehens auch ein gewisses Risiko : daß sie nämlich schon eine Interpretation darstelle; und das ist sie zum mindesten insofern, als sie

1

2

Wir gebrauchen den Kurztitel Beweisgrund ebenso wie den erweiterten Kurztitel mit Majuskel: der Einzig mögliche Beweisgrund immer für die Schrift von 1762, den letzteren mit Minuskel: der einzig mögliche Beweisgrund jedoch für das ontotheologische Argument, das in der ersten Abteilung der Schrift entwickelt wird und ihr Titelthema darstellt. Siehe Pierre Laberge, La Théologie Kantienne précritique, Ottawa, 1973, 57

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I. Teil

die substantielle oder wenigstens die fundamentale Indentität der Argumente voraussetzt (wobei der Begriff einer fundamentalen Identität, wie sich zeigen wird, gerade die besondere eigene Interpretation des Autors andeutet). Das bezeichnete Vorgehen stellt aber nicht nur deswegen ein Risiko dar, weil zum mindesten ein angesehener Kantforscher (Klaus Reich) die gegenteilige Auffassung, nämlich die ihrer wesentlichen Verschiedenheit vertritt, sondern vor allem, weil die Gefahr besteht, daß es unausgesprochen die Deutung, die erst das Resultat der Analyse sein sollte, vorwegnimmt. Gewiß ist diese Methode unbedenklich, wenn sie, nachdem gründliche und detaillierte Analysen der Quellentexte vorausgegangen sind, bloß als solche der Darstellung gewählt wird. Wird sie aber in irgendeiner, wenn auch noch so verdeckten, Weise zum Prinzip der Analyse und Interpretation selber gemacht, dann besteht in der Tat die Gefahr, daß unter Umgehung der oft mühsamen Detailanalysen auf den bloßen Anschein hin Entsprechungen oder Unterschiede angenommen werden, die eine genauere Analyse nicht bestätigt. Dieser Unsicherheitsfaktor wird im übrigen in Laberges obiger Begründung auch deutlich bezeichnet, wenn er sagt, er werde sich für die Interpretation des Beweises der Nova Dilucidatio derjenigen Stellen des Beweisgrundes bedienen, die ihm nur eine Explizitierung dessen zu sein scheinen, was Kant bereits dort gebracht hat, und für das Kapitel über den Beweisgrund nur das zurückbehalten, was diese Abhandlung gegenüber der früheren wirklich Neues beizusteuern scheine. Denn wenn das Verhältnis der beiden Argumente nach dem bestimmt wird, was an ihnen gleich oder verschieden zu sein scheint, dann ist das ein unsicheres und fragwürdiges Fundament für die Interpretation. In der Tat bedeutet diese Methode bei Laberge in concreto: daß diejenigen Stellen des Beweisgrundes, die seine Sicht von dem spinozistischen Grundcharakter des Arguments auszudrücken oder zu begründen scheinen, bereits als implizit in der Nova Dilucidatio enthalten angenommen werden, während alles, was seine These von der gegen die Natur des Arguments erzwungenen Umorientierung desselben im Beweisgrund vermeintlich bestätigt, als das spezifisch Neue und Eigene dieser Schrift aufgefaßt wird. Wenn nun schon für die bezeichnete Methode der Darbietung die detaillierte Einzelanalyse der beiden Quellentexte die einzige sichere Grundlage der Interpretation selbst darstellt, dann gibt es, zumal für eine monographische Behandlung des ontotheologischen Arguments, keinen Grund, den Leser nicht unmittelbar an eben dieser detaillierten Analyse der beiden Versionen teilnehmen zu lassen und damit auch an der Einsicht in die Gründe, warum und wieweit die einzelnen Elemente und Gedankengänge als beiden gemeinsames Gut und warum und wieweit sie jeweils als ihr Sondergut betrachtet werden müssen. Das Bedenken Laberges gegen eine je eigene Anlyse und Interpretation scheint uns nicht überzeugend; denn sie unterscheiden sich trotz aller augenfälligen Ähnlichkeiten in der Form der Beweisführung, aber auch im Inhaltlichen so merklich voneinander, daß die These ihrer substantiellen Identität nicht a limine vorausgesetzt werden kann. Im übrigen könnte und müßte gegebenenfalls auch der Schönheitsfehler eines Doppels (doublet) in Kauf genommen werden, wenn dies der einzige oder auch nur der zuverlässigste Weg wäre, in der Frage des Verhältnisses zwischen beiden Beweisformen zur Klarheit zu kommen. Wir werden deshalb im folgenden die Analyse und Interpretation der beiden Quellentexte bzw. Abhandlungen in den zwei ersten Hauptabteilungen unseres Werkes

Die beiden Fassungen des ontotheol. Arguments in ihrem Verhältnis zueinander

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gesondert durchführen, und zwar so, daß wir stets auch den jeweiligen Paralleltext vor Augen haben und Beweisschritt für Beweisschritt mit ihm vergleichen. Die Frage des Verhältnisses der zwei Argumente zueinander enthält aber auch ein Problem, das vor und unabhängig von deren Analyse untersucht und gelöst werden kann, weil die letztere dadurch in keiner Weise präjudiziert wird, ja das sogar vorausgehend gelöst werden muß, weil seine Lösung geradezu ein unentbehrliches Leitprinzip der Analyse selbst darstellt, da ohne sie nur allzuleicht die subtileren Zusammenhänge bzw. Implikate der Texte übersehen werden, wodurch es zu schwerwiegenden Fehlurteilen kommen kann: wir meinen den großen Unterschied in der literarischen Form der Darbietung des Arguments in den beiden Abhandlungen. Was sind in dieser Hinsicht die in die Augen springenden charakteristischen Merkmale der früheren Beweisführung in der Propositio VII der Nova Dilucidatio gegenüber der späteren des Beweisgrundes? Zunächst haben wir schon rein äußerlich den großen Unterschied des Umfangs: das Argument der Nova Dilucidatio ist auf den Raum von ungefähr einer Seite in der Akademieausgabe zusammengedrängt, während die erste Abteilung des Beweisgrundes mit dem dortigen apriorischen Argument aus den Möglichkeiten immerhin ca 20 Seiten füllt. Dazu kommen die Unterschiede, die sich aus ihrer spezifischen literarischen Form und dem literarischen Rahmen, in dem sie stehen, ergeben. Die Nova Dilucidatio ist eine in scholastischer Thesenform abgefaßte lateinische Dissertation, die formal über die beiden großen Leibnizschen Prinzipien, das Kontradiktions- bzw. Identitätsprinzip und das des zureichenden Grundes handelt, deren Hauptthema aber das damals in mehr als einer Hinsicht kontroverse Prinzip vom zureichenden bzw. determinierenden Grund bildet, dessen Behandlung nicht weniger als fünf Sechstel des gesamten Raumes der Dissertation einnimmt. Im Rahmen dieser letzteren Thematik, näherhin des Problems der Allgemeingültigkeit des Prinzips vom bestimmenden Grund, erscheint sowohl Kants Kritik des ontologischen Arguments Descartes' (Prop. VI) wie sein eigenes ontotheologisches Argument aus den Möglichkeiten, das er offenbar an die Stelle des abgelehnten Descartesschen setzen will (Prop. VII). Beide Propositionen sollen dartun, daß das Prinzip vom Grunde, als solches des Seins- oder Existenzgrundes bzw. der ratio antecendenter determinans verstanden, nicht gültig ist für ein absolut notwendig Daseiendes, also auch nicht für den Beweis des Daseins Gottes in Frage kommen kann, wie der Descartessche Beweis annimmt, sondern daß es im Hinblick auf das absolut notwendig Seiende nur eine ratio consequenter determinans geben kann, nämlich den Schluß auf ein notwendiges Dasein aus den Möglichkeiten der Dinge, wie er in seinem eigenen ontotheologischen Argument (Prop. VII) durchgeführt wird. In der Prop. VIII wird dann als Konsequenz aus dem Vorausgehenden gezogen, daß die Gültigkeit des Prinzips des zureichenden Seins- bzw. Daseinsgrundes, als ratio cur, d.h. ratio antecedenter determinans verstanden, eingeschränkt ist auf das kontingent Daseiende, andererseits aber (gegen Crusius) für alles kontigent Daseiende, einschließlich der freien Willkürentscheidungen, gültig ist (Prop.

ix)· Gewiß ist es nicht so, daß es Kant in der Prop. VI und VII nur um diesen formalen Aspekt der Allgemeingültigkeit des Prinzips vom Grunde geht, sondern er nimmt hier sicher zugleich auch die Gelegenheit wahr, in der großen Kontroverse um die Möglichkeit

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I. Teil

einer apriorischen Gotteserkenntnis, die von Leibniz und Wolff behauptet, von Crusius aber negiert wurde, einen gewichtigen eigenen Beitrag zu leisten; und dies, indem er positiv zeigte, daß das absolut notwendig Seiende einerseits als unbedingt durch einen determinierenden Daseinsgrund zu denken sei, daß es aber andererseits einen Erkenntnisgrund a priori nicht ausschließe, und worin ein solcher allein bestehen könne: Quicquid igitur absolute necessario existere perhibetur, id non propter rationem quandam existit, sed quia oppositum [ = seine Nichtexistenz] cogitabile plane non est. Haec oppositi impossibilitas est ratio cognoscendi existentiam [= ratio consequenter determinans], sed ratione antecedenter determinante plane caret. Existit. Hoc vero de eodem et dixisse et concepisse sufficit. D . h . , die Existenz muß im absolut Notwendigen als das Ursprüngliche, auch begrifflich als das Ursprüngliche angenommen und kann nicht als aus einer vorhergehenden Möglichkeit abgeleitet gedacht werden, wie Descartes und andere vorausgesetzt hatten ; sie ist so ursprünglich zu denken, daß mit ihrer Negierung auch jeder Begriff von ihm völlig verschwindet, wie es im letzten Satz des Scholions der Prop. VII ausgedrückt wird. Demgegenüber enthält die erste Abteilung der Abhandlung von 1762 den thematisch und ausführlich durchgeführten Gottesbeweis aus dem Realen der Möglichkeiten nicht in der Art von scholastischen Thesen, sondern in der freien akademischen Form, in der die einzelnen Gedankengänge und Begriffe in organischer Aufeinanderfolge entwickelt werden. Die Darstellung des apriorischen Beweises aus dem Realen der Möglichkeiten als der einzig möglichen Demonstration des Daseins Gottes ist das Hauptthema der ganzen Abhandlung, dem auch die beiden anderen Abteilungen, die sehr umfangreiche zweite mit einer Art aposteriorischem Pendant zum apriorischen Argument, und die dritte mit der Kritik aller übrigen Gottesbeweise nach dem Maßstab einer strikten Demonstration untergeordnet sind. Wir haben in der ersten Abteilung eine geradlinige, von Stufe zu Stufe fortschreitende Darstellung aller logischen Beweisschritte des Arguments ohne eingeschobene Corollarien und Scholien, also ohne das Korsett der scholastischen Thesenform, bei der, wie gerade in den lateinischen Traktaten Wolffs deutlich wird, die Syllogismen des Beweises selber oft inhaltsleer und formalistisch bleiben, während die wirklichen Beweisgründe erst in den Corollarien und Scholien erscheinen. Man muß bei der Interpretation der beiden Argumente stets diesen doppelten wesentlichen Unterschied vor Augen haben, wenn man kurzschlüssige Folgerungen vermeiden will: 1. Der Beweis der Nova Dilucidado ist einer anderen, umfassenderen Thematik untergeordnet, im Rahmen welcher er nur ein, wenn auch wichtiges Element bildet: er wird deshalb einerseits in einer sehr gerafften Form gegeben und weist andererseits auch nicht jene Vollständigkeit auf, die er als thematisch durchgeführter Gottesbeweis haben müßte: so wird hier abgesehen von dem Beweis der Geistigkeit und Personalität des notwendig Seienden, weil er für die hier anstehende Frage des Verhältnisses zwischen ratio antecedener determinans und notwendig existierendem Absoluten nicht entscheidend war. Demgegenüber ist die Entwicklung des Arguments in der Abhandlung von 1762, wo es thematisch als Gottesbeweis, und zwar als die einzig mögliche Demonstration des Daseins Gottes, dargetan werden soll, unvergleichlich ausführlicher und zugleich vollständiger hinsichtlich der Wesenseigenschaften des absolut Notwendigen, unter welchen die für den religiösen Got-

Die beiden Fassungen des ontotheol. Arguments in ihrem Verhältnis zueinander

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tesbegriff so fundamentalen seiner Geistigkeit und Personalität zu den wichtigsten zählen; 2. die Darstellung des Arguments in der Nova Dilucidatio erfolgt in der Form des Beweises einer scholastischen These, dessen formale Syllogismen erst durch das Scholion in ihren Termini und in ihren Zusammenhängen näher erklärt und verdeutlicht werden. In dem Beweisgrund von 1762 entfällt der Zwang der syllogistischen Form, so daß hier die einzelnen Beweisschritte in ihren durchgehenden logischen Zusammenhängen und nach ihrer tatsächlichen Bedeutung im Rahmen des Ganzen ungehindert entwickelt werden konnten.

2. Kapitel Der Gedankengang des Beweises der Propositio VII in der Nova Dilucidatio Wie ist nun der Beweis der Nova Dilucidatio im einzelnen aufgebaut? Gemäß der scholastischen Thesenform steht die zu beweisende Lehre als These am Anfang: sie ist das Ziel des folgenden Beweisgangs und seiner Erklärungen im Scholion. Ihr Wortlaut: Datur ens, cuius existentia praevertit ipsam et ipsius et omnium rerum possibilitatem, quod ideo absolute necessario existere dicitur. Vocatur Deus. Diese These ist von eminenter Wichtigkeit: ihre Bedeutung für die Interpretation der Ontotheologie Kants kann kaum überschätzt werden; denn sie enthält im Grunde alle wesentlichen Elemente der letzteren ausdrücklich oder einschlußweise, so daß an ihr letztlich jede Deutung gemessen werden muß. Das wird in den Analysen dieses ersten und des folgenden zweiten Teiles deutlich werden. Hier im unmittelbaren Kontext der Habilitationsschrift stellt sie die Explizierung und Weiterführung der positiven Aussage der Kernsätze der vorausgehenden Propositio VI dar, nachdem die negative in deren Scholion (als Kritik des Cartesianischen Beweises) entfaltet worden ist. Diese Kernsätze stehen dort als Corollarium und besagen, daß es für das absolut Notwendige keine ratio antecedenter determinans seines Daseins geben kann, sondern nur eine ratio cognoscendi, die in der Undenklichkeit bzw. Unmöglichkeit seines Nichtseins (oppositi impossibilitas) bestehe. Dieser Erkenntnisgrund wird in dem nun folgenden Beweis entwickelt und er ist, wie in der These angedeutet wird, von solcher Art, daß durch ihn nicht nur die Notwendigkeit der Annahme eines notwenig Daseienden bewiesen wird (wie man es von einem bloßen Erkenntnisgrund, der nicht ratio antecedenter determinans ist, erwarten würde), sondern zugleich auch die ontologische Modalität seines Daseins eingesehen wird: quod ideo absolute necessario existere dicitur. Hier in der Propositio VII haben wir also auch den exakten Begriff des notwendig Seienden, den Kant dem Leibnizschen des Wesens notwendigen bzw. des auf Grund seiner Möglichkeit Existierenden entgegensetzt: jenes Existierende, das aller Möglichkeit schlechthin, seiner eigenen sowohl wie der aller Dinge vorausgeht, und sie, wie zu ergänzen ist, auch begründet, so daß im notwendigen Wesen selber das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit das umgekehrte ist von dem, das die von Descartes her bestimmte rationalistische Richtung angenommen hatte; denn nach dieser wurde im Absoluten das Dasein durch die Möglichkeit als seine ratio antecedenter determinans begründet. Demgegenüber betont Kant: Deus omnium entium unicum est, in quo existentia prior est vel, si mavis, identica cum possibilitate. Et huius nulla manet notio, simulatque ab existentia eius discesseris: der Begriff desselben muß vollkommen verschwinden, wenn man das absolut Notwendige ohne Existenz als bloße Möglichkeit zu denken ver-

Der Gedankengang des Beweises der Prop. VII der Nova Dilucidatio

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sucht, während für Descartes und Leibniz der Möglichkeitsbegriff desselben als das der Existenz vorhergehende und sie begründende Prinzip auch ohne aktuelles Denken der Existenz vollziehbar war. Das notwendige Wesen hat selber keinen Daseinsgrund und ist vielmehr selber der Grund alles anderen: Ubi enim in rationum catena ad principium perveneris, gradum sisti et quaestionem plane aboleri consummatione responsionis, per se patet, oder wie er vorher gesagt hatte : Existit : hoc de eodem et dixisse et concepisse sufficit. Der Erkenntnisgrund seiner Existenz aber ist die impossibilitas oppositi, d. h. die Unmöglichkeit seiner Nichtexistenz, die wir aus der Möglichkeit der Dinge erkennen, von der in der Definition der These gesagt wird, daß ihr die unbedingt notwendige Existenz vorhergehe. In dieser Definition wird die eigene Möglichkeit des Absoluten und die Möglichkeit aller Dinge, als auf seine notwendige Existenz folgende, d . h . durch sie bedingte, in dieser Hinsicht auf die gleiche Stufe gestellt, so daß man von dieser Formulierung allein aus noch nicht eindeutig entscheiden könnte, ob nicht doch ein spinozistisches Gott- und We/tverhältnis gemeint sei, obwohl die scharfe Trennung zwischen der eigenen Möglichkeit und der aller Dinge allein schon in die gegenteilige Richtung weist. Aber aus dem Scholion wird klar, daß für Kant diese beiden „Möglichkeiten" der Definition auf einer verschiedenen ontologischen Ebene liegen. Schon der bereits angeführte Schlußsatz: Deus omnium entium unicum est in quo existentia prior est vel, si mavis, identica cum possibilitate, scheidet die beiden Arten des Möglichen dadurch voneinander, daß hier implizit gesagt wird, daß im Falle der Dinge die Möglichkeit deren Existenz vorausgeht, und daß sie deswegen nicht absolut, sondern kontingent existieren. Dementsprechend wird zu Beginn des Scholions von dieser Möglichkeit der Dinge gesagt, daß sie ein documentum maxime primitivum für den Gottesbeweis darstelle, das diesen zu einem „quantum eius maxime fieri potest essentialis" mache, weil es als das ontologisch radikalere Prinzip der Dinge im Verhältnis zu ihrer Existenz zu betrachten ist: si Deum sustuleris, non existentiam omnem rerum solam, sed et ipsam possibilitatem internam [rerum] prorsus aboleri. Diese rerum possibilitas interna, durch die die Existenz der Dinge bedingt ist, geht nicht nur den Dingen voraus und ist deshalb nicht mit ihrer Existenz identisch, sie ist auch nicht identisch mit der notwendigen Existenz, weil ja das notwendig Existierende das einzige ist, bei dem die Existenz der Möglichkeit vorangeht oder mit ihr identisch ist, sie kann also nur als Folge des notwendigen Existierenden gedacht sein, wie auch zweimal mit hinreichender Deutlichkeit formuliert wird: „Datur itaque Deus et unicus, absolute necessarium possibilitatis omnis principium", und: „nisi in Deo, omnis realitatis fonte, quicquid est in notione reale, existeret. Wir haben hier, mit anderen Worten, der Sache nach bereits die Lehre des Beweisgrundes von dem Unterschied der Möglichkeiten als Bestimmung und als Folge der notwendigen Existenz. Der nun folgende Beweis der These ist in scholastischer Manier mit einigen wenigen Syllogismen durchgeführt, durch die nur die entscheidenden Punkte desselben ausdrücklich bewiesen werden, nämlich 1. daß das Reale, d . h . die Realgehalte, unserer Möglichkeitsbegriffe notwendig existieren müssen; 2. daß sie, in einem einzigen unendlichen Seienden vereint, notwendig existieren müssen. Die nötigen Erklärungen und Zusammenhänge, die in einer freien akademischen Beweisführung organisch auseinander entwickelt

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I. Teil

werden, sind hier in das Scholion verwiesen. Die sichere Deutung des Beweisganges und der in ihm verwendeten Begriffe und der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge ist nur dadurch möglich, daß man ständig einerseits die These der Prop. VII selber und andererseits die Erklärungen des Scholions im Auge behält. Aus dem Tenor der These geht eindeutig hervor, daß es sich bei dem für den Beweisgang fundamentalen Begriff der possibilitas, die hier als notionum quarundam iunctarum non repugnantia definiert wird und die deshalb gleichbedeutend ist mit der notio [rei] possibilis, um die Möglichkeiten der Dinge handelt, um die possibilia, die ipsa rerum possibilitas interna bzw., wie es im Scholion weiter heißt, um die essentiae, also die essentiae rerum. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Kant hier die ontologische Möglichkeit der Dinge inhaltlich mit den Möglichkeitsbegriffen von ihnen gleichsetzt, d.h. daß nach ihm die möglichen Begriffe der Dinge zugleich die Begriffe der möglichen Dinge und damit die Möglichkeit der Dinge selbst bedeuten und daß der eine Terminus ohne weiteres an die Stelle der anderen treten kann. Nur so kann der Gedankengang des Beweises überhaupt ein Beweis für die These der Prop. VII sein. Das mögliche Ding wird also in eindeutiger Weise mit dem denklichen Ding, d. h. mit dem möglichen Begriff eines Dinges, gleichgesetzt, so daß der Beweis aus den Bedingungen der Möglichkeitsbegriffe zusammenfällt mit dem aus den Bedingungen der Möglichkeit der Dinge. Daß dem wirklich so ist, ergibt sich im übrigen evident aus der Tatsache, daß Kant in der These der Prop. VII die possibilitas omnium rerum im gleichen ontologischen Sinn versteht, wie die ,,ipsa ipsius possibilitas" des notwendig Seienden selbst, die schlechterdings nicht anders denn als eine ontologische Dimension des absolut Notwendigen und in keiner Weise mehr als etwas bloß Logisch-Begriffliches gedacht werden kann. Wir haben hier also eine strenge Parallelisierung der Begriffe des Möglichen und des Unmöglichen: wie das ontologisch Unmögliche das ist, was sich widerspricht: quidquid enim sibi contradicit, s. quod simul esse et non esse concipitur, vocatur impossibile 3 , so ist nach Kants damaliger Auffassung und Überzeugung das ontologisch Mögliche das, was sich nicht widerspricht, das, von dem man denken kann, daß es zugleich, d . h . (materialiter) identisch, sei. Das aber ist nichts Neues bei Kant; denn wir finden das alles mit nicht viel anderen Worten in dem von ihm gebrauchten Handbuch der Metaphysik Baumgartens. Darum also ist dieser Beweis des Daseins Gottes, obwohl er unmittelbar ein Beweis aus den Realgehalten unserer möglichen Begriffe bzw. unserer Möglichkeitsbegriffe ist, doch eo ipso ein Beweis aus dem documentum maxime primitivum, nämlich der ipsa rerum possibilitas. Der Beweisgrund aber, der bereits in der Definition des notwendig Existierenden angedeutet ist, besteht dann darin, daß durch die Aufhebung des letzteren, des notwendig Existierenden bzw. Gottes, nicht nur alle Existenz der Dinge, sondern auch alle ihre innere Möglichkeit aufgehoben würde: si Deum sustuleris, non existentiam omnem rerum solam, sed et ipsam possibilitatem internam prorsus aboleri. Gott wird also in diesem Argument bewiesen als die Bedingung aller Möglichkeit der Dinge, und darum wird in diesem wesentlichsten aller Gottesbeweise (demonstratio existentiae divinae, quantum eius maxime fieri potest, essentialis) nicht nur einfach die Existenz Gottes als eines die Mög3

KGS I, 391

Der Gedankengang des Beweises der Prop. VII der Nova Dilucidatio

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lichkeiten begründenden Prinzips bewiesen, sondern, wie bereits erwähnt, in eins damit zugleich die absolute Notwendigkeit der Existenz Gottes, d.h. die besondere Modalität derselben im Vergleich zu der der kontingenten Dinge unserer Erfahrungswelt: quod ideo absolute necessario existere dicitur... Datur igitur Deus et unicus, absolute necessarium omnis possibilitatis principium. Der Schluß auf das notwendige Dasein bzw. ein notwendig Daseiendes erfolgt also nicht aus der Notwendigkeit der Wesenheiten, wie Leibniz und die Wolffschule sie annahm, daß nämlich die Wesenheiten der Dinge in sich absolute Notwendigkeiten darstellten oder notwendige Urbilder der Dinge, aus denen man etwa auf einen notwendig existierenden Intellekt schließen könnte. Denn, so betont Kant hier, Wesenheiten sind nicht im eigentlichen Sinn notwendig, man könne vielmehr nur sagen, daß sie den Dingen, deren Wesenheiten sie sind, notwendig zukommen: Quamquam enim essentias (quae consistunt in interna possibili tate^vulgo absolute necessarias vocitent, tarnen rebus absolute necessario competere rectius dicerentur. Und er erläutert das hier Gesagte am Wesen des Dreiecks, das in der Zusammenfügung dreier Seiten bestehe. „Wer aber gesunden Sinnes, fragt er, würde behaupten wollen, daß es an sich notwendig sei, daß drei Seiten immer zusammen verbunden gedacht werden; aber daß es für das Dreieck notwendig sei, das müsse man einräumen: h.e. si cogitas triangulum, cogitas necessario tria latera, quod idem est ac si dicis: si quid est, est" 4 . Damit ist jene Sicht der Wesenheiten oder Möglichkeiten grundgelegt, aus der er dann seine Theorie von der der Möglichkeit eigentümlichen respektiven Setzung gegenüber der absoluten des Daseins im Beweisgrund entwickeln wird. In den Wesenheiten gibt es also nur die respektive Notwendigkeit der Setzung des Verhältnisses der Identität, wie sie durch die Urteilskopula zum Ausdruck kommt, nicht eine absolute Notwendigkeit in dem Sinn, daß man die Wesenheiten als absolut und notwendig gültige Zusammensetzungen denken müßte, als notwendige exemplaria der Dinge und in diesem Sinn als ewige Wahrheiten. Dieses letztere ist also nicht der Ausgangspunkt des Arguments : dieser ist vielmehr das Gegebensein der Materialgehalte, aus denen die Wesenheiten nach dem Prinzip der noncontradictio zusammengesetzt sind bzw. sich zusammensetzen lassen: daß dem Denken jene Materialgehalte gegeben sind oder zur Verfügung stehen (suppetunt) aus denen z. B. der Wesensbegriff des Dreiecks sich zusammensetzt, oder ganz allgemein gesprochen: ut sit . . . quod cogitali possit, daß überhaupt etwas zu denken, etwas Denkliches gegeben ist, aus dem durch Zusammensetzung, Limitierung und Bestimmung „notio quaevis rei cogitabilis" resultieren kann. Daß dem Denken solche Denkinhalte gegeben sind oder zur Verfügung stehen als etwas, als realitates obiectivae im Sinn Descartes', die etwas sind und nicht nichts (wie etwa das Wort blitri keinen solchen objektiven Realgehalt aufweisen kann), das ist ohne Zweifel der Ausgangspunkt des Schlusses, der hier im Scholion verkürzt so angedeutet wird: Dieses Gegebensein sinnvoller objektiver Realgehalte wäre nicht verständlich: nisi in Deo, omnis realitatis fonte, quicquid est in notione reale, existeret.

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Ebendort Z. 30-37

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I. Teil

Auf dem Hintergrund der Formulierung der These in der Prop. VII selbst wie des für die scholastische Beweisform so wichtigen Scholions ist also der doppelte Schritt des Beweisganges Kants zu lesen: nachdem er in seiner Analyse des Begriffes der Möglichkeit nach seiner formalen und materialen Seite hin festgestellt hat, daß es ohne das Gegebensein von gemäß dem Widerspruchsprinzip zu vergleichenden Materialgehalten keine Möglichkeitsbegriffe geben könnte, folgert er zunächst, daß dieses ihr ,,suppetere" nicht möglich wäre, wenn ihre Reales: quicquid est in omni notione possibili reale, nicht existieren würde, d. h. er schließt zunächst auf die Existenz dieser Realgehalte als Grund dafür, daß sie unserem Denken zur Bildung der Möglichkeitsbegriffe gegeben sein können. Aber mit dem gleichen Atemzug vollzieht er zugleich einen zweiten Beweisschritt, daß sie nicht nur irgendwie existieren, sondern notwendigerweise existieren müssen, wenn sich ihre Gegebenheit für unser Denken erklären lassen soll, und er gibt ineins damit den entscheidenden Grund für diesen Schluß auf die notwendige Existenz dieser Inhalte an: weil es sonst überhaupt nichts Mögliches mehr gäbe, sondern nur Unmögliches. Der Schluß mag überraschen, aber nur auf den ersten Blick; wenn wir die These der Prop. VII und das auf den Beweisgang folgende Scholion zur Erklärung heranziehen, wird der Gedanke Kants mit Sicherheit erkennbar: der erste Schritt, der Schluß auf die Existenz der Materialgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe, kann fürs erste nicht als Schluß auf die Existenz der Erfahrungsdinge verstanden werden, was ein fundamentales Mißverständnis wäre; denn nach der Intention Kants soll der Beweis von den Möglichkeiten der Dinge ausgehen, die als die grundlegendere ontologische Dimension ihrer Existenz vorhergehen und sie ermöglicht; vielmehr drückt dieser Schluß die Grundüberzeugung Kants aus, die er mit Crusius teilt oder von ihm übernommen hat: daß die Möglichkeit nicht etwas schlechthin Ursprüngliches gegenüber der Existenz sein kann, sondern daß das Ursprüngliche das Wirklichsein oder die Existenz sein muß und alle Möglichkeit letztlich nur durch eine Existenz begründet sein kann. Die Existenz der Realgehalte wird also im ersten Schlußschritt schon als überempirische erschlossen, damit aber noch nicht als absolut notwendige. Diese überempirische, der Möglichkeit der Dinge selbst vorgängige und sie bedingende Existenz muß aber - das ist der weitere Schluß - als absolut notwendige angenommen werden, weil ohne diese Voraussetzung überhaupt nichts als möglich gedacht werden könnte und die reine Unmöglichkeit die Folge wäre, d. h. alle Möglichkeit grundsätzlich aufgehoben würde, oder anders ausgedrückt, Möglichkeit überhaupt unmöglich würde. Das aber, wodurch - das ist nun aus der Definition des absolut Notwendigen der Prop. VII leicht zu ergänzen - alle Möglichkeit grundsätzlich aufgehoben würde, so daß nur Unmöglichkeit übrig bliebe, das ist schlechterdings unmöglich. Also ist die Aufhebung der alle Möglichkeit bzw. alle Materialgehalte der Möglichkeitsbegriffe begründenden Existenz schlechterdings unmöglich, diese folglich absolut notwendig. Auf diese Weise ist freilich erst bewiesen, daß die Materialgehalte des Möglichen absolut notwendig existieren müssen, damit sie unserem Denken als objektive Realgehalte zur Bildung unserer Möglichkeitsbegriffe gegeben sein können, aber noch nicht die These der Prop. VII, die von einer einzigen notwendigen Existenz als Bedingung aller Möglichkeit, sowohl der eigenen wie aller anderen Dinge, spricht. Das ist nun der Gegenstand des fol-

Der Gedankengang des Beweises der Prop. VII der Nova Dilucidario

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genden wesentlichen Beweisschrittes des Arguments. Das unmittelbare Beweisziel desselben aber ist die These, mit der Kant die erste Etappe des Beweises beschlossen hat: Porro omnímoda haec realitas in ente unico adunata sit necesse est, d. h. alle diese Materialgehalte des Möglichen bzw. unserer Möglichkeitsbegriffe müssen nicht nur notwendig existieren, sondern sie müssen auch in einem einzigen Wesen vereint notwendig existieren: es geht also u m die Einzigkeit des absolut notwendig Seienden. U m dieses zu beweisen, schließt Kant nun im folgenden zwei dieser Position entgegengesetzte Aiternati- . ven aus: einmal daß diese Realgehalte der Möglichkeiten auf mehrere Seiende verteilt notwendig existieren könnten; und 2. wenn das nicht denkbar ist und sie also in einem einzigen unendlichen Seienden vereinigt gedacht werden müssen, daß dieses einzige unendliche Seiende in mehreren Exemplaren vervielfacht existieren würde. Kant will also per modum exclusionis seine These beweisen, daß die Realgehalte aller unserer Möglichkeitsbegriffe in einem einzigen Wesen vereinigt notwendig existieren müssen. Die Widerlegung der zuletzt genannten Alternative ist am einfachsten, weil hier der G r u n d der Unmöglichkeit leicht zu durchschauen ist: wenn dieses einzige unendliche Seiende in mehreren Exemplaren existierte, so würde das eine aliquoties facta repetido des einen und selben unendlichen Seienden bedeuten. Dieses aliquoties, d . h . die Zahl dieser Wiederholungen, ist aber nicht als notwendige, sondern nur als zufällige denkbar. Also wäre eine solche vervielfachte Existenz des Unendlichen nur als kontingente denkbar und stünde somit im Widerspruch zu der bereits bewiesenen absoluten Notwendigkeit. Komplizierter ist demgegenüber die Überlegung, mit der Kant die Unhaltbarkeit der ersten der These entgegenstehenden Alternative dartut. N e h m e n wir an, die Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe wären auf mehrere Existierende verteilt, die dann selber absolut notwendig existieren müßten, damit jene in ihnen notwendig existieren könnten, dann würde das bedeuten, daß sowohl deren Wesenheiten wie deren Existenzen durch Privationen eingeschränkt und durch sie begrenzt wären: privationibus nonnullis iuncta. D a nun die absolute Notwendigkeit den Privationen nicht in gleicher Weise zukommen kann wie den Realitäten selbst, jene aber andererseits bei eingeschränkten Wesen notwendig zu der omnímoda rei determinano gehören, absque qua res existere nequit, folgt, daß sie nicht absolut notwendig, sondern nur contingenter existieren könnten, was der angenommenen Alternative, die eine absolute Existenz verlangt, widerspricht. D e n Grundsatz: daß die absolute Notwendigkeit den Privationen nicht ebenso zukommen kann wie den Realitäten, stellt Kant als unmittelbar evident hin und erklärt ihn nicht weiter. Man könnte vermuten, daß er den Gedanken, begrenzte Wesen seien einer absolut notwendigen Existenz unfähig, aus der allgemeinen Uberzeugung der damaligen Philosophie übernommen habe, wie Tonelli annimmt 5 . Aber die besondere Formulierung, daß die absolute Notwendigkeit nicht ebenso den Privationen wie den Realitäten zukommen kann, scheint mir doch darauf hinzuweisen, daß Kant wenigstens implizit auch den G r u n d andeuten wollte, warum endliche Wesen nur eine kontingente Existenz haben können. Dieser G r u n d wird verschieden zu bestimmen sein, je nachdem man den 5

Tonelli, Elementi metodologici e metafisici in Kant dal 1745 al 1768, Torino 1959, 139

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I. Teil

Ausdruck „absoluta nécessitas", von der er in diesem Zusammenhang spricht, unmittelbar als absolut notwendige Existenz nimmt, oder in einem allgemeineren Sinn versteht und direkt nur auf die Wesensordnung als solche bezieht, um daraus erst die Unmöglichkeit einer absolut notwendigen Existenz abzuleiten. In der ersteren Annahme, die ich für die unwahrscheinlichere halte, würde sich als Erklärung dieses Prinzips anbieten, daß die Existenz per se auf die Realitäten, und nur per accidens und indirekt auf die Privationen bezogen ist; da nun andererseits diese Privationen zu der omnímoda determinatio des aufnehmenden Wesens gehören und sie infolgedessen auch dessen Existenz limitieren müssen, würde die absolut notwendige Existenz, die eine unbedingte sein muß, von etwas abhängen und bestimmt werden, auf das sie nicht direkt bezogen sein kann, was ihr als unbedingter Existenz widerspricht. In der zweiten Annahme dagegen, die mir näherliegend zu sein scheint, daß nämlich dieses Prinzip sich nur auf die Wesensordnung selbst bezieht, würde sich eine Begründung des genannten Grundsatzes ergeben, die mit der Widerlegung der bereits behandelten zweiten Alternative aufs engste verwandt ist: Nimmt man an, daß in diesen durch Privationen eingeschränkten Wesen die absolute Notwendigkeit den Privationen ebenso zukomme wie den Realitäten, so daß sie folglich als limitierte Wesenheiten notwendig existierten, dann würde das bedeuten, daß die Verteilung der Realgehalte auf diese einzelnen Wesen absolut notwendig w.äre, d. h. daß die Art der Verteilung und damit auch die Anzahl dieser notwendig existierenden limitierten Wesen absolut notwendig und eine andere Art der Verteilung der Realitäten und damit eine andere Anzahl dieser Wesen unmöglich, d. h. undenkbar wäre. Da dies aber in keiner Weise einsichtig ist, könnten solche durch Privationen eingeschränkte Wesen nicht absolut notwendig existieren und folglich auch die Möglichkeiten der Dinge nicht begründen. So kommt Kant auf Grund der Widerlegung der beiden Gegenpositionen zu dem Schluß : non nisi unicum [ens infinitum] absolute necessario existere statuendum est. Damit aber ist der Gottesbeweis abgeschlossen: Datur itaque Deus et unicus, absolute necessarium possibilitatis omnis principium. Im Grunde freilich ist mittels dieser Argumentation der Beweis der These der Propositio VII noch nicht völlig erreicht; denn diese umfaßt auch die Definition der absolut notwendigen Existenz selbst, die nicht nur als das notwendige Prinzip der Möglichkeit aller Dinge zu bestimmen ist, sondern auch als das der eigenen Möglichkeit. Vermutlich aber will Kant auch dieses Element mit der abschließenden Formel, die ja durch den Begriff „ G o t t " ausdrücklich zur These zurückkehrt, mitumfassen: wenn er ihn als absolute necessarium possibilitatis omnis principium bezeichnet, also auch seiner eigenen Möglichkeit selbst, wie denn auch der Schlußsatz des Scholions gerade dieses Element ausdrücklich macht, wie wir sahen. Andererseits freilich ist nicht ohne weiteres einsichtig, wie der konkrete Beweisgang im corpus der Prop. VII selbst auch diesen Punkt der These wirklich sichert, denn er beweist seinem Ansatz gemäß nur, daß die Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe in einem einzigen unendlichen Wesen notwendig existieren müssen, wenn nicht Möglichkeit radikal verschwinden und an ihre Stelle absolute Unmöglichkeit treten soll. Aber der eben erwähnte Schlußsatz des Scholions, der deutlich gegen Leibniz und die Wolffschule gerichtet ist, sowie der unmittelbar dieser Schlußbemerkung vorhergehende Hinweis auf das ontologische Argument Descartes' deuten darauf hin, daß im

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Sinne Kants hier das Ergebnis des Beweises der Prop. V I I zu ergänzen ist durch die Uberlegungen und Schlußfolgerungen der Prop. VI mit ihrem Corollarium und ihrem Scholion. Oder man könnte auch umgekehr die Prop. V I I als Weiterführung und Ergänzung der Prop. VI und ihrer Argumentation auffassen, in der bewiesen worden ist, daß das notwendig Daseiende keine ratio antecedenter determinane haben und auch die in dem Begriff der omnitudo realitatis ausgedrückte „Möglichkeit" keine solche ratio ,,in ihm selbst" darstellen kann; quo sane vix quicquam aliud magis a recta ratione remotum reperiri potest. Für das notwendig Existierende kann nur gelten: Existit: hoc vero de eodem et dixisse et concepisse sufficit. Das bedeutet im Kontext nicht nur, daß das notwendig Daseiende notwendigerweise grundlos existiert, d.h. daß die Absolutheit seiner Existenz jede ontologische Begründung ausschließt, sondern daß sein Wesen und Begriff selbst durch diese Absolutheit der Existenz zu definieren ist und nicht, wie bei Leibniz und Wolff, durch eine der Existenz vorgängige Möglichkeit des Absoluten. Damit ist aber implizit gegeben, daß im absolut Notwendigen die Möglichkeit ontologisch mit der Wirklichkeit oder der Existenz identisch ist bzw. daß sie logisch später ist als die letztere gemäß dem Prinzip: was ist, kann auch sein. Damit sind wir aber in der Sache beim Schlußsatz des Scholiums der Propositio V I I , der nur diese Gedanken der vorausgehenden Propositio auf eine klare, ausdrückliche Formel bringt. Die Beweisführung der Prop. V I I ist vor allem in ihrem ersten grundlegenden Teil äußerst gerafft: der Schritt von der These, daß die Gegebenheit der Realgehalte unser Möglichkeitsbegriffe nur denkbar ist durch eine (überempirische) Existenz dieser Realgehalte, zu der These, daß diese ihre Existenz eine absolut notwendige sein muß, wird gleichsam in ein und demselben Atemzug vollzogen, und die Begründung des zweiten und entscheidenden Schrittes wird nur wie beiläufig in der Klammer angedeutet: weil es sonst nichts Mögliches, sondern nur Unmögliches geben könnte. Der Beweisgang des 2. Teiles ist zwar detaillierter, aber immer noch so, daß die Begründung des Prinzips: die absolute Notwendigkeit kann den Privationen nicht ebenso zukommen wie den Realitäten, nicht ausdrücklich gemacht wird, ebenso wenig übrigens wie der Grund, daß eine aliquoties facta repetitio des unendlichen Wesens nur contingenter existieren könnte. So ist es nicht zu verwundern, daß es dort, wo man den Tenor der These als der zu beweisenden Wahrheit selbst und das Scholion, das die notwendigen Erklärungen der Termini und damit die authentische Interpretationshilfe darbietet, nicht hineinreichend beachtet und ausgeschöpft hat, zu Fehlinterpretationen kommen konnte.

3. Kapitel Diskussion abweichender Positionen in der Deutung des Arguments Am meisten entfernt sich n. u. U. von dem Sinn der Kantischen Texte die Interpretation Reichs in der Einleitung zu seiner Neuherausgabe des Einzig möglichen Beweisgrundes, Hamburg 19636. Die Beweisführung der Prop. VII der Nova Dilucidatio hat nach ihr zum Ziel, die Bedingungen der Möglichkeit zu ermitteln, irgend etwas als möglich zu begreifen. Diese Bedingungen seien 1. die Existenz des Realen einer solchen Konzeption in Gott; 2. die Widerspruchslosigkeit des Realen als das formale Prinzip einer solchen Konzeption. Der tiefere Grund aber, diese Bedingungen für die Begreiflichkeit des Möglichen zu fordern, sei Kants damalige Lehre vom Wesen der Wahrheit, die er in den Propositiones I bis V entwickelt habe und die von zwei Grundsätzen beherrscht werde : 1. Nichts ist wahr ohne bestimmenden ( = erzeugenden) Grund (Prop. V) ; 2. der Begründungsregreß für Wahrheiten müsse im Sinne der Cartesianer und Leibnizianer zuletzt auf Begriffe (conceptus, notiones, ideae) als Grund wahrer Sätze führen. Von diesen Voraussetzungen aus ergebe sich als Rohbau des Arguments in der Habilitationsschrift: die Begreiflichkeit der Möglichkeit der Dinge muß einen Grund und zwar einen erzeugenden Grund haben. Da die Gründe von Wahrheiten letztlich Notionen sind, so müssen Notionen den Charakter von Realgründen der Möglichkeit der Dinge haben. Sie haben ihn als Ideen in Gottes Verstand, die seiner Weltschöpfung zum Grunde liegen. Diese Lehre von den der Welt zugrunde liegenden Ideen expliziere Kant erst in der Prop. XIII, in der die Realität der Idee bald das schema intellectus divini, bald als conceptus ideae divinae oder intellectus divini concepta delineatio bezeichnet werde. In diesem Sinn nenne er bereits in der Prop. VII die ipsa omnium rerum possibilitas, die ein Dasein voraussetze, ein documentum maxime primitivum, ein allererstes Zeugnis für unseren Verstand, ein solches seien sie aber, wenn unsere Ideen des Möglichen „des idées vues en Dieu" sind. Das sei der Standpunkt eines Intuitionismus in der Erkenntnistheorie, den er im folgenden als „anmaßenden Intuitionismus und verborgenen Mystizismus der Habilitationsschrift" bezeichnet. Wir haben gegen diese Auffassung in einem eigenen Aufsatz ausdrücklich Stellung genommen7. Sie scheint uns ein Beispiel konstruktiver Interpretation zu sein, die nicht aus

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Der einzig mögliche Beweisgrund im Lichte von Kants Entwicklung zur Kritik der reinen Vernunft, in: Kl. Reich (Hrsg.) Immanuel Kant, Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Hamburg 1963, V I I - X I X Die Frühgestalt des Kantischen ontotheologischen A r g u m e n t s . . . in: Studien zu Kants philos. Entwicklung, Hildesheim, 1967

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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einer detaillierten Analyse der Kantischen Schrift in ihrem näheren und weiteren Zusammenhang gewonnen, sondern eher von einer bestimmten Auffassung des metaphysischen Entwicklungsgangs des vorkritischen Kant her den Texten unterstellt wird. So vermögen wir in den Props. I-V nichts zu entdecken von jener Konzeption, aus der dann der Beweisgang der Prop. VII wie aus seiner Wurzel herauswachsen soll: daß Kant dort seine Lehre vom Wesen der Wahrheit im Sinn der Cartesianer und Leibnizianer entwickle in dem Sinn, daß der Begründungsregreß für Wahrheiten zuletzt auf Begriffe, notiones etc. als Gründe wahrer Sätze zurückführe, wie es in der Prop. V formuliert werde: Nichts ist wahr ohne einen bestimmenden (=überzeugenden) Grund. Denn die Formulierung dieser Prop. V ist hier ohne Zweifel falsch interpretiert; ihr Sinn ist im Vergleich zu dem ihr von Reich unterstellten recht hausbacken: es geht da nämlich gar nicht um so etwas wie das „Wesen der Wahrheit"; denn die ratio determinans, die hier ganz allgemein für die Wahrheit eines jeden beliebigen Urteils gefordert wird, ist lediglich der Grund, der von der Verbindung eines Prädikats mit einem Subjekt das Gegenteil dieses Prädikats eindeutig ausschließt und also das Subjekt durch das betreffende Prädikat eindeutig bestimmt. In diesem Sinn ist das Prinzip des determinierenden Grundes, der ratio determinans absolut allgemein gültig für jeden wahren Satz. Reich dagegen identifiziert die ratio determinans der These der Prop. V fälschlicherweise mit dem „erzeugenden" Grund, der nicht nur die Wahrheit erkennen läßt, sondern sie ursprünglich begründet, also mit jenem, den Kant ratio antecedenter determinans nennt, während nach Kant die ratio determinans der Wahrheit auch eine bloß consequenter determinans sein kann, durch die etwa aus den Folgen einer Sache auf die Wahrheit des Urteils über sie geschlossen wird, ohne daß dadurch nun auch der Seinsgrund der Wahrheit selbst erkannt würde: es ist eine bloße ratio quod, aus der man nur erkennt, daß eine Sache sich so und so verhält, ohne zu erkennen, warum sie sich so und so verhält bzw. verhalten muß. Von einer Theorie vom Wesen der Wahrheit im Sinne der Cartesianer und Leibnizianer, daß der Begründungsregreß für Wahrheiten zuletzt auf Begriffe als Gründe wahrer Sätze führen müsse, ist hier schwerlich etwas zu finden. Auf ebenso schwachen Füßen stehen nach u. U. die beiden weiteren Gründe, die Reich für seine Interpretation anführt. Der Ausdruck, mit dem Kant hier seinen neuen Gottesbeweis charakterisiert: daß er auf dem documentum maxime primitivum beruhe, kann nämlich nach dem Zusammenhang nicht bedeuten, daß dieses in den „idées vues en Dieu" als dem eigentlich Realen der Möglichkeiten bestehe und daß damit der erkenntnistheoretische Standpunkt eines Intuitionismus bezüglich der Fundamente unserer Erkenntnis bezogen werde. Denn durch diesen Ausdruck soll lediglich begründet werden, warum es sich beim Beweis aus den Möglichkeiten um den denkbar wesentlichsten Gottesbeweis handle (etwa im Verhältnis zu dem in der Prop. XIII angedeuteten aus dem commercium der Weltsubstanzen), und dieses documentum maxime primitivum ist, wie wiederum aus dem Kontext hervorgeht, nichts anderes als eben die Möglichkeit der Dinge: ipsa rerum possibilitas, die, wie aus dem unmittelbar folgenden Satz deutlich wird, als das ursprünglichere ontologische Prinzip im Verhältnis zur Daseinsordnung (zu der auch das commercium der Substanzen gehört) gilt: si Deum sustuleris non existentiam omnem rerum solam, sed et ipsam possibilitatem internam [die im unmittelbar folgenden mit den

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I. Teil

essentiae rerum identifiziert wird] prorsus aboleri. Das einzige sichere Kriterium einer Interpretation ist und bleibt eben neben dem Wortlaut selbst der nähere und weitere Kontext einer Stelle, der nicht ohne Gefahr, den Sinn zu verfehlen, übergangen werden kann. Ebensowenig überzeugend aber scheint mir der dritte Grund des Autors zu sein, nämlich die Ausdrücke der Prop. XIII, in der Kant nach ihm seine platonische Konzeption näher expliziere, insofern hier die Realität der Idee bald als conceptus ideae divinae, bald als intellectus divini concepta delineatio etc. bezeichnet werde. Denn diese Begriffe gehören in einen gänzlich anderen Zusammenhang, nämlich in den des Beweises des Daseins Gottes aus dem commercium der existierenden Weltsubstanzen, also zu einem aposteriorischen Beweis, und sie stellen das Ergebnis eines Schlusses von der Tatsache ihrer gegenseitigen kausalen Beeinflussung auf ein gemeinsames Prinzip ihres Ursprungs und auf die durch dieses Ursprungsprinzip erfolgte gegenseitige Hinordnung aufeinander dar. Die Idee in dem schöpferischen göttlichen Prinzip, durch die diese Zuordnung bewirkt wird, ist a posteriori erschlossen, stellt also keineswegs eine Intuition in die Ideen Gottes oder etwas derartiges dar. Daß der Autor diesen Schluß auf die Idee eines die Substanzen hervorbringenden und aufeinander beziehenden schöpferischen Prinzips mit dem apriorischen Beweis aus den Möglichkeiten in Zusammenhang bringt und als Explizierung desselben deutet, ist u. E. wiederum bezeichnend für den konstruktiven Charakter seiner Interpretation. Daß Kant diese Konzeption der Prop. XIII nicht als Element des apriorischen Beweises betrachtet hat, geht im übrigen schon aus der Tatsache hervor, daß er an dieser Lehre auch noch während der ganzen sechziger Jahre in nicht wenigen Reflexionen und sogar noch in der IV. Sektion der Dissertation von 1770 festgehalten hat, nachdem er den Beweis aus den Möglichkeiten spätestens bereits um die Mitte des Jahrzehnts aufgegeben hatte. Laberge erwähnt diese Interpretation Reichs der Prop. VII der Nova Diluddatio nur im Vorübergehen 8 , ohne sich mit ihr im einzelnen auseinanderzusetzen. Er selbst geht von einer im Grunde diametral entgegengesetzten Auffassung aus, daß nämlich die Version der Nova Diluddatio das ontotheologische Argument des vorkritischen Kant nicht nur in seiner ursprünglichsten, sondern auch in seiner reinsten Gestalt enthalte, während die spätere Fassung des Beweisgrundes für ihn eine Trübung, wenn nicht geradezu eine Verfälschung des ursprünglichen Gedankens darstellt, insofern dort die wesentliche und dem Argument immanente Logik, die zu einem spinozistischen Begriff des Absoluten führe, durchbrochen und par force in die Bahnen eines Beweises des theistischen Gottes gelenkt werde. Für ihn gibt es deshalb unter der Rücksicht des Gottesbeweises keine substantielle Identität zwischen den beiden Beweisformen, wie wir sie bisher vertreten haben und auch in diesem Werk vertreten, sondern nur eine „identité fondamentale", d . h . konkret eine Identität des Ansatzes, von dem aus auf ein einziges notwendiges und unendliches Seiendes geschlossen wird - so weit reicht das gemeinsame Fundament - , während sich dann gerade in der Bestimmung des Verhältnisses dieses notwendigen unendlichen Wesens zu der Welt bzw. zu den in ihr verwirklichten Möglichkeiten die beiden Fassungen wesentlich voneinander entfernen: während die ursprüngliche dieses 8

Laberge, op. cit. 58

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eine unendliche Wesen, wie es der inneren Logik des Ansatzes entspreche, im Sinne des spinozistischen Allgottes als omnitudo reaütatum, zu denen auch die Ausdehnung gehört, bestimme, versuche die spätere Fassung die Beziehung zwischen dem Absoluten und der Welt als ein Grund-Folgeverhältnis umzudeuten, um so zu einem theistischen Gottesbegriff zu gelangen. Damit wird nun ohne weiteres die fundamentale Bedeutung gerade der frühen Version des Arguments für die Interpretation der Ontotheologie des vorkritischen Kant bei Laberge deutlich. Von einer detaillierten Analyse des Textes der Prop. VII herkommend, wird man fragen: wie kommt es zu dieser ganz anderen Deutung des Arguments? Drei Gründe, die allerdings miteinander zusammenhängen, lassen sich dafür aus unserer Sicht anführen: der fundamentale, wenn auch nur negative, liegt nach u.Ü. in dem Mangel einer durchgehenden, detaillierten Analyse des ganzen Komplexes der Prop. VII. Der Autor begnügt sich mit der Heraushebung einiger Elemente des formellen Beweisganges, die ihm bedeutsam zu sein scheinen, ohne den Tenor der These der Propositio selbst zu berücksichtigen, der die Definition der absolut notwendigen Existenz enthält, implizit auch den Beweisgrund für die Behauptung seiner Wirklichkeit, und damit jene entscheidenden Elemente, die dann in den diesbezüglichen Ausführungen des Scholions näher erklärt werden. Wie wir im vorausgehenden gezeigt haben, ist in diesem ganzen Komplex, beim Licht besehen, bereits deutlich die Lehre von dem wesentlich verschiedenen Verhältnis der notwendigen Existenz zur eigenen Möglichkeit als deren Bestimmung und der notwendigen Existenz und den Möglichkeiten der anderen Dinge als deren Folge enthalten, womit sich die These Laberges von dem grundsätzlich spinozistischen Charakter der ersten Fassung, die angeblich nur das erstere Verhältnis kenne und das zweite als Durchbrechung der inneren Logik des Arguments der Version von 1762 zuweist, a limine erledigt. Die ursprüngliche Fassung des ontotheologischen Arguments ist im Sinne Kants der Beweis eines einzigen absolut notwendig Seienden, das als Grund der Möglichkeiten aller Dinge deren Realgehalte insgesamt in sich enthält und daher ein ens infinitum ist. Die These der Prop. VII in ihrem ureigenen Wortlaut mit den zugehörigen Erläuterungen des Scholions ist n.u.U. in sich selbst die Widerlegung der Grundauffassung von Laberge. Mit dem Mangel einer durchgehenden detaillierten Analyse des Komplexes der Prop. VII, die allein ein ursprüngliches Verständnis des Kantischen Argumtens gewährleisten kann, hängt nun bei Laberge ein anderes zusammen: seine unkritische Übernahme von Thesen der Sekundärliteratur, vor allem jener von Dieter Henrich, dem der Autor in praktisch allen entscheidenden Positionen folgt. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung bringt er seine uneingeschränkte Bewunderung gegenüber dessen bekanntem Werk „Der ontologische Gottesbeweis" zum Ausdruck, wobei er in der Anmerkung ausdrücklich auf das 2. Kapitel: Kants Kritik der Ontotheologie, S. 137-188, hinweist9. So ist es nicht zu verwundern, daß er sich auch die Grundauffassung Henrichs vom Ansatz und Ausgangspunkt des Kantischen ontologischen Arguments ohne Vorbehalt zu eigen macht: die ganz einfache Grundlage des Arguments sei, daß es Mögliches, d.h. Denkliches gebe. Die radikalste Bedingung der Möglichkeit, die sich im Grunde auf die Möglichkeit des 9

Ebd. 8

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Gedankens zurückführen lasse, sei, daß etwas zu denken gegeben ist, daß etwas zu denken existierel0. Man sieht, wie hier die Möglichkeit der Dinge, die ipsa rerum possibilitas, von der in der These der Prop. VII einzig und allein die Rede ist und die dann auch wieder im Scholion auftritt, vor allem auch in der näheren Erklärung des Schlusses auf die notwendige Existenz der Realgehalte der Möglichkeitsbegriffe (wenn man Gott aufhebe, werde nicht nur allein alle Existenz der Dinge, sondern auch ihre innere Möglichkeit völlig beseitigt) umgemünzt wird in eine possibilitas cogitandi, cogitationis, ,,qu' il puisse y avoir de la pensée" 11 . Reich und Henrich haben das ontotheologische Argument des Beweisgrundes, in dessen Entwicklung in der Tat das Mögliche stets auch als das Denkliche bezeichnet wird, so interpretiert. Diese Interpretation wird nun von Laberge auf den Gedankengang der Prop. VII der Nova Dilucidatio übertragen, die ja für ihn die ursprüngliche und konsequenteste Form des ontotheologischen Arguments darstellt, obwohl dort, wie wir sahen, unsere Möglichkeitsbegriffe unmittelbar als Vergegenwärtigung der Möglichkeit der Dinge verstanden werden. Auf Grund dieser Umdeutung, d. h. des Verstehens des Begriffes der Möglichkeit formal als Möglichkeit des Denkens, wird das „Reale" der Möglichkeit, bei Kant die objektiven Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe, als radikalste Bedingung der Möglichkeit des Denkens, zu einem gegebenen Existierenden. Das ist n. u. U. eine grundlegende Verfälschung des Kantischen Begriffs von dem Realen der Möglichkeit, wenigstens in dem Argument der Nova Dilucidatio. Bei der Analyse der ersten Abteilung des Beweisgrundes werden wir auf die betreffende Interpretation von Reich und Henrich zurückkommen. In der Prop. VII der Nova Dilucidatio wird jedenfalls das Reale der Möglichkeiten als die objektiven Realgehalte unserer Möglichkeits^egriffe verstanden, die die Möglichkeiten der Dinge vergegenwärtigen, deren Gegebenheit für das Denken ihre notwendige Existenz in einem den Möglichkeiten der Dinge vorgängigen notwendig Seienden voraussetzt. Mit der Auffassung des Ausgangspunktes des ontotheologischen Arguments als der Möglichkeit des Denkens und seinem Pendant der Gegebenheit eines existierenden Realen ist für Laberge die erste entscheidende Weiche seiner ganzen Interpretation der Ontotheologie Kants sowohl in der Nova Dilucidatio wie im Beweisgrund gestellt. Die zweite Weichenstellung erfolgt dann in seiner Deutung des materialen Elements der Möglichkeit der Prop. VII mittels jener Stelle am Ende der 2. Betrachtung des Beweisgrundes, in der Kant den Begriff des feurigen Körpers analysiert, um zu zeigen, daß die letzten Materialgehalte unserer Begriffe des Möglichen, wenn sie in ihrer Möglichkeit verständlich sein sollen, eine Existenz voraussetzen. „Diese allgemeinverständlich erklärende Seite (page vulgarisatrice) Kants hilft uns - so Laberge - also zu verstehen, warum und in welchem Sinn man die Existenz der Data der Möglichkeit annehmen muß. Sie leistet uns einen zweiten Dienst. Sie läßt uns einsehen, daß das ,Reale der Möglichkeiten' im strengen Sinn (au sens fort) nicht angetroffen wird auf der Ebene der komplexen Begriffe, sondern auf der der einfachen, der derniers Data, um den Ausdruck des Beweisgrundes zu gebrau10 11

Vgl. ebd. 66 Vgl. ebd. 95

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chen. Das ist also das Reale im strengen Sinn, auf dessen notwendige Existenz wir schließen, denn es ist das, was jeder Möglichkeit zugrunde liegt (qui est au fond de toute possibilité), von dem die Aufhebung der Existenz alle Möglichkeit vernichten würde" 12 . Das Entscheidende aber kommt erst in den folgenden Sätzen ans Licht: „Kant hat die absolut notwendige Existenz des Materialen, genauer des Realen oder der letzten Data der Möglichkeit bewiesen. Wir müssen diese letzten Data, diese einfachen Data als unendliche denken, denn wenn sie es nicht wären, wären sie nicht einfach. Für Kant hebt sich in der Tat jede Negation von dem Grund einer Position ab (se détache sur le fond d'une position). Das ist eine wohlbekannte These des Beweisgrundes und der Kritik der reinen Vernunft. Ein endlicher Geist ζ. B. ist nur denkbar als Begrenzung, Limitierung eines unendlichen. Während also ein unendlicher Geist ein Datum simplex wäre, wäre ein limitierter Geist, als ein durch eine Negation gekennzeichneter Geist, ein complexes Datum" 1 3 . Hier haben wir die zweite entscheidende Weichenstellung Laberges, die ausschließlich seiner Interpretation eigentümlich ist. Aus beiden Voraussetzungen: einmal, daß die Möglichkeit, von der Kant auf ein absolut notwendig Existierendes schließt, formell die Möglichkeit des Denkens, des Gedankens ist, die als solche ein existierendes Materiales voraussetzt; zweitens, daß dieses Materiale im strengen Sinn die einfachen Data des Materialen, d.h. iiiimitierte Ralitäten sein müssen, wie unendlicher Geist oder unendliche Ausdehnung, wird ohne weiteres das Charakteristische seiner Deutung der Ontotheologie Kants erkennbar: daß das Argument seinem Ansatz und seiner ganzen Struktur nach nur fähig ist, auf eine omnitudo realitatum, d.h. auf einen spinozistischen Gott, zu schließen und daß es in der Nova Dilucidatio in der Tat nichts anderes erschlossen hat. Es handelt sich jedoch um eine Interpretation, die nicht so sehr aus einer eingehenden Analyse der Propositio VII in ihrem Kontext gewonnen ist, als vielmehr aus Quellen, die außerhalb des zu interpretierenden Textes liegen, wie der Analyse der Möglichkeit des feurigen Körpers am Schluß der 2. Betrachtung des Beweisgrundes oder der Deutung des entscheidenden Ansatzpunktes des Arguments bei Henrich, hier also der Sekundärliteratur. Auf diesen letzteren Punkt werden wir eingehender im folgenden Teil, im Zusammenhang mit der Interpretation des Arguments im Beweisgrund von 1762, zurückkommen. Hier geht es uns entscheidend um die Frage, ob die bezeichnete Stelle des Beweisgrundes überhaupt das hergibt, was Laberge für seine Interpretation der Prop. VII daraus gewinnen will. Nach des Autors Verständnis dieser Stelle will Kant hier also die derniers Data der Möglichkeiten als Data simplicia im Sinn von nicht durch Negationen limitierten Realitäten bezeichnen. Geht man jedoch von dem Gedankengang der Nova Diluddatio selbst aus, so findet man keinerlei Andeutung von dem, was hier als das Materiale der Möglichkeit ausgemacht wird. Es ist dort nämlich lediglich die Rede von dem Wesen der Möglichkeit als non-repugnantia denklicher Materialgehalte, wie etwa für das mögliche Dreieck der Inhalte: Seiten, eingeschlossener Raum, Winkel, oder allgemein, daß dem Denken überhaupt solche Denkinhalte gegeben sein können, die erfordert sind, damit es 12 13

S. ebd. 66 S. ebd. 68

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combinando, limitando, determinando beliebige Begriffe möglicher Dinge bilden kann. Wir finden hier also nichts von jenen letzten, einfachen Data des möglichen Denkens, die Laberge im Auge hat. Eben deshalb greift er zurück auf jene Stelle über den feurigen Körper im Beweisgrund, mit der Kant den Gedanken „ v o n dem selbst bei der inneren Möglichkeit jederzeit zum Grunde liegenden Dasein in eine etwas größere N ä h e zu den gemeinen Begriffen eines gesunden Verstandes zu bringen" sucht 1 4 . D o r t glaubt er den Gedanken von den Data simplica in dem bezeichneten Sinn zu finden. Was aber will Kant in diesem Abschnitt nach dem Kontext in Wirklichkeit dartun? Er will am Beispiel des Begriffs „feuriger Körper" oder „listiger Mensch" zeigen, daß die letzten Materialgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe ein Dasein voraussetzen, indem er diese Begriffe zunächst, und zwar exemplarisch am Beispiel des Begriffs „ K ö r p e r " , bis zu den vermutlich letzten inhaltlichen Elementen, nämlich Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Kraft etc. analysiert und betont, daß man die Möglichkeit dieser letzten einfachen Materialgehalte nicht mehr wie die der zusammengesetzten durch das Widerspruchsprinzip bewähren kann, weil sie eben nicht mehr aus Elementen bestehen, die sich widersprechen oder nicht widersprechen können. D a n n führt er seine Überlegung am Beispiel des einen von diesen einfachen Elementen des Körpers, dem der Ausdehnung oder des Raumes, zu Ende: Diese letzten nicht mehr auflösbaren Elemente unseres Begriffes Körper, wie Raum oder Ausdehnung, bedeuten entweder etwas und damit etwas Mögliches, oder sie bedeuten nichts, wie ein sinnloses Wort (etwas blitri). Wenn sie etwas und damit ein Mögliches bedeuten, dann kann diese Möglichkeit nicht mehr in einem Nichtwiderspruch, sondern nur mehr in einer Existenz begründet sein, entweder daß sie selber existieren oder wenigstens durch etwas Existierendes als eine Folge gegeben sind 1 5 . Laberge versucht nun, wie gesagt, mit dieser Stelle seine Auffassung von den Data Simplicia der Möglichkeit als den notwendig existierenden unbegrenzten Realitäten zu stützen. Dabei sieht er fürs erste hinweg über die wiederholten nachdrücklichen Hinweise Kants, daß bei der inneren Möglichkeit der Dinge, von der er ja ausschließlich ausgehen will 1 6 , wie etwa der inneren Möglichkeit eines feurigen Körpers oder listigen Menschen, gar nicht die Frage ist, ob solche Dinge existieren, es genüge vielmehr, daß sie gedacht werden können. Es gehe lediglich um die Begriffe dieser Dinge u n d ihre Zusammensetzung, mag es sich nun um wirkliche oder bloß mögliche Dinge handeln: „Ich räume ein, daß weder Körper noch Feuer wirkliche Dinge sein dürfen (=müssen), u n d gleichwohl ein feuriger Körper innerlich möglich sei." Was aber die Ausdehnung als ein vermutlich letztes einfaches Element des Begriffes Körper betrifft, so betont er nochmals ausdrücklich, daß man sich, wenn es u m die innere Möglichkeit gehe, wegen dieses Dati (!) nicht auf die Erfahrung berufen dürfe, denn es gehe u m die Frage, „ o b eine innere Möglichkeit des feurigen Körpers stattfindet, wenngleich gar nichts existiert"11. Kant ist also bemüht, die innere Möglichkeit als etwas von den existierenden Dingen der Erfahrung Unabhän-

14 15 16 17

Κ GS Ebd. Ebd. Ebd.

II, 80 81 78; vgl. A. G. Baumgarten, Metaphysica § 15 in: KGS XVII, 29 II, 80 (kursiv Verf.)

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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giges hinzustellen und die letzten Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe nicht von den existierenden Dingen der Erfahrung abzuleiten. Worin gründet dann die Möglichkeit dieser letzten einfachen Realgehalte, wie Ausdehnung und Raum, wenn es bereits letzte sind, bzw. jener, auf die wir notwendigerweise in der Analyse zuletzt kommen müssen, deren Möglichkeit nicht mehr durch den Nichtwiderspruch konstituiert sein kann? Was für Kant gleichbedeutend ist mit der Frage: Wie erklärt es sich, daß diese einfachen, nicht mehr zusammengesetzten und daher nicht mehr zergliederbaren Gehalte unserer Möglichkeitsbegriffe einen realen Bedeutungsgehalt haben und nicht leere Worte sind wie blitri? Um diese Möglichkeit eines echten Realgehaltes in ihnen zu erklären, sagt Kant, kann man sich nur mehr auf ein Dasein berufen, das diesem Bedeutungsgehalt zugrunde liegt, bzw. ihn begründet. Natürlich könnte die Realität des Begriffsinhaltes Raum bzw. Ausdehnung unmittelbar und am einfachsten durch die Erfahrung des existierenden Raumes erhärtet werden, worauf Kant hinweist mit den Worten: „wenn nicht der Raum existiert (oder wenigstens durch etwas Existierendes gegeben ist als eine Folge)". Aber im Kontext geht es ihm ja einzig und allein um den Raum als bloße innere Möglichkeit, „wenngleich gar nichts existiert", d.h. weder eine Erfahrungswelt noch der Erfahrung fähige Geister, wie er dann ausdrücklich im „Beschluß" dieser ersten Abteilung des Beweisgrundes erklärt18. Folglich kann für ihn hier nur die zweite Art der Fundierung „durch ein Existierendes als eine Folge" in Frage kommen. Laberge jedoch beachtet nicht, worum es Kant nach dem Kontext hier eigentlich geht, und legt sich sofort auf die erste von diesem angeführte Alternative, als die von dem angeblich spinozistischen Charakter des Arguments geforderte, fest, während er die zweite, nach unserer Analyse vom Philosophen in Wahrheit intendierte, hier völlig übergeht, um sie dann später als dessen Versuch zu erklären, die ursprünglich spinozistische Logik des Arguments in eine theistische überzuführen. Damit hängt aber auf engste zusammen, daß er diese letzten, einfachen Realgehalte als unbegrenzte, unendliche Realitäten verstehen will, eine These, die als solche gewiß weder in der Nova Dilurìdatio noch in der Analyse des feurigen Körpers im Beweisgrund anzutreffen ist. Für den Autor ist sie jedoch implicite mit dem Kantischen Grundsatz gegeben, daß Negationen nur denkbar sind auf Grund von Positionen: „Pour Kant, en effet, toute négation se détache sur le fond d'une position. C'est une thèse bien connue du Beweisgrund et de la Critique de la Raison pure. Un esprit limité par exemple ne se conçoit qu'en tant que limitation d'un esprit illimité. Tandis qu'un esprit illimité serait un Datum simple, un esprit limité, en tant qu'esprit marqué d'une négation, serait un Datum complexe"' 9 . Diese Deutung der einfachen oder letzten Data, wie der Ausdehnung oder des Raumes, ergänzt die These, daß zur Möglichkeit des Denkens etwas Existierendes gegeben sein muß, in Richtung auf ein spinozistisches Absolutes. Denn das Reale der Möglichkeit (des Denkens) „au sens fort" werden damit nun die einfachen, d.h. unendlichen Realitäten, die bei Laberge sich dann immer mehr konzentrieren auf die beiden spinozistischen Attribute: unendliche Ausdehnung und unendlicher Geist. Die Frage ist nur, ob die vorlie18

"

Ebd. 91 Ebd. 68

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genden Texte eine solche Deutung zulassen. Das scheint mir in keiner Weise der Fall zu sein, vielmehr schließen im Gegenteil n. m. U. die Texte, und zwar sowohl die der Nova Dilucidado wie auch der vom Autor hinzugezogene Abschnitt (über den feurigen Körper) aus dem Beweisgrund, eine solche Deutung positiv aus, und zwar aus folgenden Gründen: Fürs erste hat Kant weder in der einen noch in der anderen Schrift die letzten, einfachen Data der Möglichkeitsbegriffe so erklärt. Da nun der Begriff der Data Simplicia in jedem Fall ein entscheidendes Glied seiner Beweisführung darstellt, so hätte er ihn, falls die Deutung Laberges wirklich zuträfe, sicher in diesem Sinn unmißverständlich und ausdrücklich entwickelt. Fürs zweite führt der Philosoph in der Analyse des Begriffs Körper als vermutlich letzte, nicht mehr weiter zergliederbare Materialgehalte nicht nur die Ausdehnung bzw. den Raum an, sondern auch Undurchdringlichkeit, Kraft „und wer weiß, was noch mehr". Er vertritt mit anderen Worten einen dynamischen Materiebegriff und nicht den mechanischen Descartes' und Spinozas, für die sich alles am Körper auf Ausdehnung zurückführen läßt. Anziehungskraft und Repulsionskraft (auf welch letzterer die Undurchdringlichkeit beruht) sind für ihn die Grundkonstitutiva des physischen Körpers, auf die nach seiner damaligen Auffassung sogar auch die Ausdehnung und der Raum zurückzuführen ist, da sie aus dem Wechselspiel zwischen diesen beiden Kräften entspringen20. Wendet man also das Prinzip Laberges auf diese Grundkräfte an, dann gehören zu den einfachen materialen Data des Wesens Körper auch z.B. eine unendliche, notwendig existierende Anziehungs- und Repulsionskraft!! Dazu kommt ein weiteres: betrachtet man den Typ des Vergleiches der Materialgehalte des Möglichen nach dem Widerspruchsprinzip, den Kant stets und ausschließlich im Auge hat, näher, so sind es jedesmalposiizw Gehalte, die miteinander verglichen werden, was ja schon im Begriff des Realen, der Realgehalte zum Ausdruck kommt: also beim Dreieck die Seiten, die Winkel, der eingeschlossene Raum; beim rechtwinkeligen Dreieck, das Dreieck und die Rechtwinkeligkeit, beim feurigen Körper: Körper und Feuer, beim Körper: Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Kräfte etc. Immer geht es darum, ob die jeweiligen Elementargehalte nach dem Widerspruchsgesetz vereinbar sind oder sich ausschließen, wie etwa Kreis und Eckigkeit. Mit anderen Worten: Kant hat offensichtlich einen wesentlich anderen Typ von Zusammensetzung im Auge als das, was Laberge als die entscheidende Zusammensetzung betrachtet, durch die er erst zu seinen einfachen Data, zu dem Reale ,,au sens fort" gelangt: die Zusammensetzung zwischen einer Realität und ihrer Einschränkung und Begrenzung. Hat es, so muß man sich fragen, hier bei dieser „Zusammensetzung" überhaupt noch einen Sinn nach einer Zusammensetzbarkeit nach der Regel des Widerspruchs zu fragen, um etwa die Möglichkeit eines endlichen Geistes aus der Vereinbarkeit zwischen unendlichen Geist und seiner Limitierung nach dem Gesetz des Widerspruchs zu bewähren? Und schließlich handelt es um die Data, d.h. die gegebenen Materialia eines Begriffes, um die Gegebenheit der zu einem Begriff notwendigen Teilgehalte, aus denen er sich zusammensetzt, die dem Denken gegeben sein müssen, um daraus die Begriffe möglicher Dinge zu bilden. Die einfachen Data müssen demnach das unmittelbar Gege20

Vgl. Monadologia physica, Prop. VIII, KGS I, 482

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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bene sein, aus dem dann - postea - das Denken combinando, limitando, determinando jeden beliebigen Begriff eines denklichen Dinges macht. Ist etwa, s o müßte man fragen, der unendliche Geist eine solch ursprüngliche Gegebenheit für unser D e n k e n , von dem her der Verstand durch Limitierung und Negierung erst zu dem Begriff des endlichen Geistes gelangen kann? Ist unserem Denken die positiv unendliche Ausdehnung als ursprüngliches einfaches D a t u m gegeben, u m daraus den Begriff eines begrenzten Körpers bilden zu können? D a z u k o m m t , daß nach der A u f f a s s u n g und Interpretation Laberges diese „einfachen D a t a " nicht nur als Begriffsinhalte gegeben sein müßten, sondern als Existenzen! S o führt diese Interpretation, wenn man sie konsequent weiter verfolgt nicht nur, fast möchte man sagen, ins Abenteuerliche, sondern gewiß auch immer weiter weg von den Texten und ihrem unmittelbaren Sinn. D a s Ergebnis unserer Auseinandersetzung mit der Interpretation Laberges ist also, daß es sich bei dem Materialen oder Realen der Möglichkeiten einzig um das Inhaltliche, um die objektiven Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe handelt, die, u m in der Begrifflichkeit Descartes' 2 1 zu sprechen, ihre formelle und aktuelle Realität in einer absolut notwendigen Existenz als ihren G r u n d voraussetzen, die aber als objektive Realgehalte unserer Begriffe etwas v o n ihrer notwendigen Existenz u n d damit von ihrem Realgrund Verschiedenes sind. Diese ihre notwendige Existenz ist ihre Existenz in G o t t , dem Qiiellgrund aller Realität, wodurch das Verhältnis zwischen beiden klar als das von G r u n d und F o l g e gekennzeichnet wird. In der Interpretation der 2. E t a p p e des Beweises erklärt der Autor den Kantischen G r u n d s a t z : daß den Privationen die absolute Notwendigkeit nicht in gleicher Weise zuk o m m e n kann wie den Realitäten und daß deshalb den durch Privationen bestimmten Wesenheiten nur eine kontingente Existenz eignen könne, durch das gleiche Prinzip, mit dem er schon zu seinem D a t u m simplex g e k o m m e n war. Während Kant fragt, ob die Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe, die notwendig existieren müssen, wenn es überhaupt Mögliches geben soll, diese ihre notwendige Existenz nur in einem einzigen notwendig Seienden haben können oder gegebenenfalls auch in mehreren, handelt es sich nach Laberge bei ihm u m die Frage, ob die letzten D a t a , also die notwendig existierenden unbegrenzten Realitäten, nicht auf mehrere absolut notwendig Seiende verteilt sein könnten 2 2 . U n d zu Kants obiger These liefert er in diesem Zusammenhang folgende Begründung: „ O h n e Zweifel [ist das so] ; denn es ist hier das nämliche Prinzip im Spiel, kraft dessen er für das absolut N o t w e n d i g e den nur partiellen Besitz einer partikulären Realität verneint. Eine Vielheit (pluralitas) von Realitäten wäre also dann nur denkbar auf dem G r u n d e einer omnitudo realitatum . . , 2 3 . Muß man dann nicht, fragt der A u t o r , statt den mit Negationen behafteten Möglichkeiten der originären omnitudo realitatum, von der jene abgeleitet sind, die notwendige Existenz zuerkennen, die wir in der ersten E t a p p e unseres Arguments den ersten D a t a des Gedankens zuerteilt haben? Wenn man die absolut notwendige Existenz entweder 21 22 23

dem, was abgeleitet ist, oder dem Originären, von

Descartes, Meditationes de prima philosophia, Meditatio III a S. Laberge, op. cit. 69 S. ebendort

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dem es abgeleitet ist, zuschreiben muß, fällt die Wahl leicht . . . Die absolut notwendige Existenz, sagt Kant, kommt den Negationen nicht so zu wie den Realitäten, wie deromnitudo realitatum (sie!). Es ist also die originäre omnitudo realitatum, die conditio sine qua non der vollständigen Bestimmung jedes Objekts [des Gedankens], die mit absoluter Notwendigkeit existiert" 24 . Nun ist gewiß der Ausgangspunkt dieser Argumentation nicht der der Kantischen und damit auch die Frage, die der Autor hier unterstellt, nicht die Kants. Denn dieser hat, wie aus dem Vorausgehenden deutlich wurde, im ersten Beweisschritt nicht bewiesen und nicht beweisen wollen, daß die „einfachen", nämlich die unbegrenzten Realitäten als das eigentlich Reale der Möglichkeit des Denkens existieren müssen, sondern, daß die objektiven Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe in einem überempirischen Seienden notwendig existieren müssen, damit ihre Gegebenheit als Denkinhalte begreiflich sei. Für Kant lautete also die Frage ganz einfach: Sind die objektiven Realgehalte aller unserer Möglichkeitsbegriffe bzw. deren Data als notwendig existierende auf mehrere Seiende verteilt denkbar? Demgemäß ist auch der Beweisgang Kants, der diese Alternative ausschließt, anders als der von Laberge entwickelte. Dieser letztere ist, wie angedeutet, nur die konsequente Weiterführung des vorausgehenden des Autors für die einfachen, unendlichen Data. Die einfachen Data müssen unendlich sein, weil jede limitierte Realität, wie wir hörten, noch etwas Zusammengesetztes und Komplexes wäre. Wenn aber nur bestimmte einfache (= unendliche) Realitäten in einem notwendig Seienden vereinigt wären, dann wäre das seinerseits auf höherer Ebene wiederum keine „einfache Realität, sondern eine komplexe, weil wiederum eine aus Realität und Negation zusammengesetzte. Laberge hätte somit konsequenterweise gleich bei der Analyse der Data der Möglichkeit des Denkens auf die omnitudo realitatum als das einzig wirklich denkbare einfache „Datum" schließen müssen. Daß diese nicht ein Datum im wahren Sinn gewesen wäre, hätte kein Hindernis bilden können, weil ja auch seine „einfachen Data", wie z.B. unendlicher Geist, keine wirklichen Data sind. Das ist aber nicht die einzige Schwierigkeit der Labergeschen Interpretation: Es ist auch formal der Gedankengang des vom Autor skizzierten Arguments verschieden von dem Kants im zweiten Beweisschritt. Nach dem ersteren läuft der Schluß so: Wenn die notwendig existierenden „einfachen" d.h. unbegrenzten Data auf mehrere Seiende verteilt wären, wären diese letzteren durch Negationen eingeschränkt. Weil Negationen die negierten Realitäten voraussetzen, sind eingeschränkt Seiende nur denkbar als bedingt durch eine bzw. abgeleitet von einer omnitudo realitatum. Da nun die notwendige Existenz nicht ebenso dem Abgeleiteten und Bedingten wie dem Ursprünglichen und Unbedingten zukommen kann, kann sie in Wahrheit nur der omnitudo realitatum zukommen, nicht aber jenen limitierten Komplexen einfacher Realitäten. Also ist das absolut Notwendige ausschließlich die omnitudo realitatum, die nur als einziges, unendliches Wesen gedacht werden kann. Der Kantische Schluß dagegen ist anders aufgebaut: Jene ex hypothesi notwendig existierenden Komplexe von Realgehalten der möglichen Dinge wären durch Negationen bestimmt; denn solche Negationen würden notwendig zu ihrer 24

S. ebd. 73

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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omnímoda determinano gehören, „absque qua res existere nequit", so daß in dieser Voraussetzung die notwendige Existenz ebenso wesentlich den Negationen wie den Realitäten zukommen müßte. N u n aber kann die notwendige Existenz nicht ebenso den Negationen wie den Realitäten zukommen. Also könnten solche limitierten Seiende nicht notwendig, sondern nur kontingent existieren. Folglich können die Realgehalte der Möglichkeiten nicht in einem eingeschränkten Wesen notwendig existieren, also nur in einem ens infinitum. Kant beweist also diesen letzten Satz dadurch, daß er die anfangs aufgestellte Hypothese ausschließt. Folglich ist sein Argument negativ und zielt lediglich ab auf den Ausschluß eingeschränkter Wesen von der notwendigen Existenz, womit dann eo ipso die bereits bewiesene notwendige Existenz der Realgehalte der Möglichkeiten nur als in einem ens infinitum denkbar dargetan ist. Mit anderen Worten: das ens infinitum erscheint erst in der letzten Conclusio und fungiert in keiner Weise als Beweisprinzip oder als Mittelbegriff des Schlusses selbst, während es bei Laberge, und zwar als omnitudo realitatum, von der bei Kant überhaupt nicht die Rede ist, das alles tragende Beweisprinzip darstellt. Mit dieser Interpretation der 2. Etappe des Schlusses scheint mir der Autor überdies in Widerspruch mit seiner Deutung der ersten zu geraten : nach ihm hätte Kant dort geschlosen, daß die „derniers D a t a " , die letzten einfachen d . h . unbegrenzten Data aller Möglichkeit (des Denkens), als das Reale der „Möglichkeit" im strengen Sinn, absolut notwendig existieren: C'est du Reale au sens fort que nous concluons qu'il existe nécessairement, car c'est lui qui est au fondement de toute possibilité, c'est la suppression de son existence qui ruinerait toute possibilité 25 ; denn diese „derniers Data" können nach dem eben behandelten zweiten Schluß, trotz ihrer infinitudo secundum quid, als solche nur kontingent existieren. Außerdem sehe ich einen Widerspruch mit Laberges spinozistischer Deutung des ontotheologischen Arguments im allgemeinen. D e n n nach dieser ist die omnitudo realitatum als Prinzip der limitierten Realitäten nach dem Modell des Verhältnisses zwischen dem Raum und den bestimmten Raumgebilden, d. h. nicht als Realgrund, sondern nur als logischer Grund zu denken. Ist dem aber so, dann folgt aus dem Beweis, wie ihn Laberge versteht, nicht mehr, daß limitierte Realitäten nur kontingent existieren könnten, da diese dann, wie etwa auch die Welt, ebenso notwendig existieren wie die Allheit des Realen selber. Dies aber führt zu einem letzten grundsätzlichen Einwand gegen die Labergesche Interpretation: seine Einbeziehung der Kantischen Ableitung des transzendentalen Ideals als Element bzw. als Hintergrund des Beweisganges der Nova Dilucidano: „ W i r glauben, daß eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen der in dem Kapitel der Kr. d . r . V . über das transzendentale Ideal aufgezeigten Illusion und dem ontotheologischen Argument in der Lage ist, uns verstehen zu lassen, warum Kant erklärt, daß die absolut notwendige Existenz den Negationen nicht ebenso wie den Realitäten zukommen kann 2 6 . Die Heranziehung der so viel späteren Lehre vom transzendentalen Ideal zur Interpretation des Arguments der Nova Dilucidano halten wir f ü r einen Anachronismus 25 26

Op. cit. 66 S. ebd. 70

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und damit für methodisch illegitim; denn man kann das Verhältnis zwischen beiden Konzeptionen in Wahrheit nur bestimmen, wenn man zuvor unabhängig voneinander den Sinn beider für sich untersucht hat. Andernfalls ist die Gefahr gegeben, daß man die eine nach dem mißverstandenen Sinn der anderen interpretiert und damit beide mißdeutet. Die Labergesche Interpretation des transzendentalen Ideals als spinozistisch gedachte omnitudo realitatum ist n. u. U. dafür ein Beispiel. Neben der Interpretation von Kl. Reich und Pierre Laberge erscheint uns besonders die einer Gruppe von italienischen Gelehrten von Interesse: die von Mariano Campo, Ada Lamacchia und Giorgio Tortelli. Die Diskussion ihrer Standpunkte in der Deutung des Arguments der Nova Diluddatio kann weiterhin dazu beitragen, die entscheidenden Elemente des von Kant Intendierten zu klären. Alle drei Genannten glauben Unklarheiten und Widersprüche in den Argumentationen des Philosophen feststellen zu können, was, wie wir sehen werden, hauptsächlich darauf beruht, daß sie das Reale der Möglichkeiten nicht eindeutig und ausschließlich als die objektiven Realgehalte unserer Begriffe von möglichen Dingen und damit der (ontologisch) möglichen Dinge selbst deuten. In der Prop. VII, sagt Campo, glaubt Kant die Existenz Gottes beweisen zu können von der possibilitas oder der „pensabilità dei contenuti concettuali", der Denklichkeit der Begriffsinhalte, aus. Hören wir also seine merkwürdige (strana) Argumentation, in der wir drei Momente unterscheiden wollen: a) Jede Möglichkeit besteht in der non-repugnantia der Begriffe und wird deshalb durch deren Vergleich erkannt. Dieser Vergleich setzt aber zu vergleichende Termini voraus. „Sequitur quod nihil tamquam possibile concipi possit, nisi quicquid est in omni possibili notione reale existât", b) Dieses Reale existiert nicht nur, sondern „existet absolute necessario", weil es andernfalls nicht Mögliches gäbe; c) diese realia, die gleichsam der Stoff aller unserer möglichen Begriffe sind: velut materiale possibilium omnium conceptuum, müssen in einem einzigen Seienden vereint sein. In der Tat haben in den vielen existierenden Dingen (, ,res" existentes) die Realitäten eine limitierte, determinierte, bestimmte Existenz (ohne eine omnímoda determinatio kann ein Ding nicht existieren . . .). Die Realitäten sind hier also affiziert durch Privationen, von denen man nicht sagen kann, daß sie mit absoluter Notwendigkeit existieren. Die „Dinge" sind also kontingent; aber ihre „realitates" ohne „privationes" müssen in einem gewissen Unendlichen existieren, das nur ein einziges sein kann" 2 7 . Campo problematisiert dann im folgenden den Begriff des „reale" in der Kantischen Argumentation: Was ist denn dieses Reale, das in jedem möglichen Begriff gegeben ist? Che cosa sono questi realia o queste realitates? Es scheint, antwortet er, auf den ersten Blick, daß es sich um die Denkbarkeit der einzelnen Idealgehalte (etwa des Kreises etc.) handle und damit um etwas bloß Logisches: in diesem Fall wäre das Ungenügen der Kantischen Argumentation offenbar; denn sie würde unverhüllt den Fehler des paralogistischen Sprungs von der Denklichkeit zur Realität begehen 28 . Bei näherem Zusehen freilich zeige die Kantische Argumentation aber auch eine gewisse Verwandtschaft mit der quarta via des heiligen Thomas. Die realitates wären dann im Grunde die Vollkommenheiten 27 28

S. M. Campo, La genesi del criticismo Kantiano, Varese 1953, 124 f. S. ebd. 125

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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(unità, verità etc.) die in den Kreaturen limitiert und kontingent, nach einem „mehr oder weniger" gemäß den Stufen des Seienden, in Gott aber unendlich und wesenhaft sind . . . Auf dieser metaphysischen Basis aber ist das Argument nicht mehr apriorisch: es geht aus von der Beobachtung der Seienden und deren Eigenschaften und Vollkommenheiten. Es setzt die Existenz der Wesen voraus . . . es landet nicht nur bei einer exemplarischen Idee, sondern auch bei einer causa efficiens. Ist aber diese metaphysische Basis noch lebendig in Kant? Vielleicht nicht mehr, oder wenigstens nicht mehr ausdrücklich und unmißverständlich; denn der Ausgangspunkt Kants scheint eher (piuttosto) il „possibile", il pensabile, il contenuto concettuale e ideale zu sein: und man sieht dann nicht mehr, wie von einem solchen Ausgangpunkt der „inneren Möglichkeit" als der einfachen Nichtwidersprüchlichkeit der Begriffe die Existenz eines unendlichen Seienden als ihre Quelle bewiesen werden kann 29 . Wie auch sonst, ergeht sich Campo anschließend in allgemeineren Betrachtungen: daß die Metaphysik, von der der junge Kant ausgehe, verdorben sei durch eine rationalistische Fundierung (impostazione) und Mentalität, die die Quelle von inneren Schwierigkeiten seien, und die ihn zu Revisionen und fatalen Entwicklungen drängten. Eine erste Revision werde sogleich in der Nova Dilurídatio selbst deutlich, die schon die Unrückführbarkeit der Existenz auf die Essenz, der Ursache auf den logischen Grund behaupte. Im übrigen setze der junge Autor auch existierende und agierende endliche Dinge voraus. Aber diese Überbleibsel des traditionellen Realismus und diese Erfordernisse der Existenz seien im übrigen „imprigionati nei ferrei quadri del razionalismo deduzionista e determinista" : eingesperrt in die ehernen Gitter des deduktiven und deterministischen Rationalismus. Daher ein innerer Konflikt von Tendenzen, die sich gegenseitig Abbruch zu tun suchen. Auf der einen Seite eine entschiedene Kritik des ontologischen Arguments, auf der anderen lasse er die Existenz Gottes hauptsächlich dazu dienen „a fondare la logica dei pensabili..." die Logik der Denkinhalte zu fundieren. Diesen Konflikt sehe man auch noch in der Wiedergabe des Arguments in der Schrift von 1763 : ζ. Β. darin, daß die Existenz klar als unrückführbar auf die denklichen Prädikate bezeichnet wird, andererseits daß auch dort noch das Motiv des Beweises des Daseins Gottes die possibilità del pensabile sei: „Ii conflitto delle due esigenze e l'equivoco della „realtà" (oscillante tra le perfezioni entitative e la pensabilità) sussistono nell' opera del 1763 nella I Parte di essa: der Konflikt der beiden Erfordernisse und das Mehrdeutige des Begriffes „Realität" (der hin- und herschwinge zwischen entitativen Vollkommenheiten und der (bloßen) Denklichkeit), bestehen weiter im Werk von 1763, in der 1. Abteilung desselben" 30 . Mit gutem Grund greift Campo, um in der Deutung des Arguments zur Klarheit zu kommen, auf die Ausführungen des Scholions zurück. Hier nenne Kant das Argument eine „wesentliche Demonstration des Daseins Gottes, die aus der Möglichkeit der Dinge selbst gewonnen sei". Aus ihr werde deutlich, daß man, wenn man Gott aufhebe, nicht nur alle Existenz der Dinge, sondern selbst auch ihre innere Möglichkeit beseitige. „Wir hatten uns also nicht geirrt: Kant bedient sich der inneren Möglichkeit d.h. (ossia) der 29 30

S. ebendort S. ebd. 126

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Denklichkeit. Das ergebe sich auch aus dem, was er unmittelbar darauf hinzufüge über die inneren Wesenheiten der Dinge. Wie sei es möglich, daß der Begriff ζ. B. eines Dreiecks durch Komposition, Begrenzung, Bestimmung in einer Weise resultiere, daß sich der Gedanke der Seiten und der des eingeschlossenen Raumes so zusammenfügen, daß man etwas bekomme, was gedacht werden kann? Das sei nicht möglich, wenn man nicht zurückgehe auf Gott, dem Quell aller Realität, in dem all das existiert, was im Begriff real ist. ,, Wie man sieht, schließt der Autor seine Überlegungen, wird stets ausgegangen nicht von Seienden, sondern von Begriffen. Ungefähr so, wie wenn man ausginge nicht von den Dingen, sondern von deren Ideen, die in den Worten eines Buches enthalten sind, und man alles in allem die Existenz und das Sein Gottes beweisen wollte nicht dadurch, daß man sich auf die Erde und die Planeten und die Sterne stützt, sondern auf ein Werk über Astronomie und dessen Worte und Begriffe" 31 . Campos Analysen nicht nur hier beim ontotheologischen Argument, sondern ebenso in den anderen Kapiteln über die vorkritische Metaphysik Kants sind beherrscht von dem Bestreben, darin überall rationalistische Grundsätze und Elemente als Wurzeln seines späteren Kritizismus zu entdecken. So vermag er beispielsweise hier bei seinem Vorblick auf den Beweisgrund von 1762 die „verbesserte" Physikotheologie dieser Schrift auch nur in dieser Perspektive zu sehen. Nachdem er deren erste Abteilung, wie eben angedeutet, charakterisiert hat, fährt er fort: „Ein zweiter Teil fügt dann ein anderes Argument hinzu, das als aposteriorisches bezeichnet wird, weil es von der Ordnung ausgeht: aber es ist in seltsamer Weise bezeichnend (stranamente caratteristico), daß auch dieses andere Argument es vorzieht, von der notwendigen Ordnung der geometrischen und mechanischen Wahrheiten auszugehen. Mit anderen Worten: es zeigt sich auch bei ihm die rationalistische Mentalität, die nicht die Seienden und ihre Kontingenz im Auge hat, sondern die notwendigen idealen Wahrheiten" 32 . Damit ist Kants Bemühung, die Physikotheologie auf eine solidere Basis zu stellen und sie zugleich in Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft zu bringen, a limine der Stempel der rationalistischen Denkweise aufgedrückt. Die Motive, die Kant bestimmt haben, von der notwendigen Ordnung der Dinge und nicht von ihrer zufälligen auszugehen, bleiben dabei ebenso unberücksichtigt wie der Grund, warum er diese Art von Physikotheologie der Thematik des einzig möglichen Beweisgrundes zu- und unterordnen konnte. Wenn der Autor den metaphysischen Standpunkt des frühen Kant durch die Mentalität des Rationalismus verdorben sieht und darin überall Spannungen und Widersprüche feststellen zu können glaubt, so kommt das vor allem daher, daß er den entscheidenden Ansatz seines ontotheologischen Arguments, das objektiv-reale oder inhaltliche Moment unserer Möglichkeitsbegriffe als unmittelbaren Ausdruck der ontologischen Möglichkeit der Dinge, nicht klar und eindeutig bestimmt. So gewinnt er den Eindruck, daß Kant in dem fundamentalen Begriff des Realen der Möglichkeit bzw. der Möglichkeitsbegriffe hin- und herschwanke zwischen bloßer „pensabilità dei singoli contenuti ideali" im Sinn

31 32

S. ebd. 126 f. S. ebd. 126

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eines bloß Logischen und den realitates als perfectiones der existierenden Welt im Sinne des vierten thomasischen Weges. Wie konnte der Autor, so wird man fragen, überhaupt auf den Gedanken kommen, Kant habe als Ausgangspunkt die Vollkommenheiten der wirklichen Dinge genommen und nicht die idealen Inhalte der Möglichkeitsbegriffe? Es sind vermutlich drei Gründe dabei im Spiel gewesen: einmal ist Campo überzeugt, daß der Schluß von den idealen Inhalten der Begriffe auf die Existenz Gottes ein leicht zu durchschauender Paralogismus ist, den man natürlich einem Denker wie Kant nicht gern anlastet. Ein zweiter Grund liegt sicher in der äußerst gedrängten und daher auch nicht auf den ersten Blick durchschaubaren Fassung des ersten Beweisschrittes bei Kant, den Campo, wie wir sahen, so formuliert: „Aber jeder Vergleich setzt zu vergleichende Termini voraus: wenn die Termini nicht wären, könnte kein Vergleich statthaben. Sequitur, quod nihil tamquam possibile concipi possit, nisi quicquid est in omni possibili notione reale existât." Hier scheint ausgedrückt zu sein, daß die Möglichkeit, von der Kant ausgeht, die empirische Existenz der nach dem Widerspruchsgesetz zu vergleichenden „Realitäten" voraussetzt, was aber ein grundsätzliches Mißverständnis wäre. Der dritte und hauptsächlichste Grund aber ist ein wirkliches Mißverständnis des Autors: „Infatti, nelle molte cose esistenti („res" existentes), le realitates hanno una esistenza limitata, determinata, definita . . . Le realitates cioè vi sono affette da privationes, le quali non si può dire che esistano di assoluta necessità. Le res perciò sono contingenti..." Tatsächlich haben die Realitäten in vielen existierenden Dingen eine eingeschränkte, bestimmte, begrenzte Existenz... d.h. die Realitäten sind dort behaftet mit Privationen, von denen man nicht sagen kann, daß sie mit absoluter Notwendigkeit existieren. Die „Dinge" sind deshalb kontingent 33 . Hier versteht Campo also den zweiten Schlußschritt Kants so, als ob dieser die limitierten Realitäten oder Vollkommenheiten der Erfahrungsdinge im Auge hätte, was sicher nicht zutrifft. Denn Kant diskutiert dort, nachdem er zuvor bereits von den objektiven Realgehalten unserer Möglichkeitsbegriffe auf deren notwendige Existenz geschlossen hatte, die Frage, ob diese notwendig existierenden Realgehalte auf mehrere notwendig existierende Wesen verteilt sein könnten oder ob sie nur in einem einzigen unendlichen notwendig existieren können, und er schließt die erste Alternative deswegen aus, weil es sich bei jenen als limitierten Wesen nur um kontingent existierende Seiende handeln könnte. Von den empirischen Dingen unserer Erfahrung ist hier überhaupt mit keinem Wort die Rede, ebensowenig übrigens wie im ersten Beweisschritt. In beiden Fällen handelt es sich ausschließlich um die erschlossene überempirische notwendige Existenz der objektiven Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe bzw. der Möglichkeiten als Grund derselben, der den letzteren und a fortiori der kontingenten empirischen Existenz der Dinge ontologisch vorhergeht. Das eigentliche Mißverständnis des Autors aber liegt in seiner Deutung gerade dieses Ausgangspunktes Kants als eines bloß Logischen. Wenn man natürlich das Logische, die Begriffe, als einen Bereich für sich ohne metaphysische und damit ohne unmittelbare reale Bedeutung auffaßt und folgerichtig dazu in diesem Sinn auch die Möglichkeit der 33

Ebd. 124 f.

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Dinge, von der der Philosoph in der These und im Scholion spricht, dann ergibt sich unvermeidbar die Konsequenz, daß der Schluß von diesem Ausgangspunkt auf eine Existenz oder gar auf eine notwendige Existenz ein Paralogismus, ähnlich dem des ontologischen Beweises Descartes', ist. Aber für Kant, für den Kant der Nova Dilucidatio (und des Beweisgrundes) hat der Begriff sowohl seinem Formalen wie seinem Materialen nach metaphysische, reale Bedeutung: er drückt die Möglichkeit als eine ontologische Dimension der Wirklichkeit der Dinge aus. Das gilt also auch von dem formalen Prinzip des möglichen Gedankens: die non-contradictio des Begriffsinhaltes bedeutet nicht nur die Möglichkeit, gedacht zu werden, sondern auch die Möglichkeit des Seins des gedachten Dinges, wie die contradictio nicht nur die Unmöglichkeit des Gedankens, sondern auch die Unmöglichkeit des Seins des Undenkbaren bedeutet. Die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips als eines Seinsgesetzes hat der Philosoph auch später immer anerkannt. Für den frühen Kant aber gilt ebenso auch das Umgekehrte: daß das zu denken Mögliche, das Nichtwidersprüchliche eo ipso ein possibile esse im ontologischen Sinn ist, eine ontologische Möglichkeit darstellt. Unsere Begriffe, das Denkliche, das repraesentabile, wie Baumgarten sagt, sind in diesen Jahren für Kant wie für Leibniz und die Wolffschule das Mögliche im ontologischen Sinn bzw. die objektiv gültige Vorstellung der möglichen Dinge. Die Uberzeugung, daß wir mit unseren Begriffen von den Dingen, soweit sie wirklich widerspruchsfrei sind, eine grundlegendere ontologische Dimension derselben erreichen, als es ihre aktuelle Existenz ist, ist der Ausgangspunkt dieses Arguments, weswegen es Kant damals als das denkbar wesentlichste Argument für das Dasein Gottes betrachtet hat, als ein wesentlicheres als alle jene, die an der Existenz der Dinge ansetzen, einschließlich des Arguments aus dem commercium der Weltsubstanzen. Sieht man das Argument Kants so - und wenn man die Propositio VII selbst und das Scholion erschöpfend analysiert, kann man es n. u. Ü. nicht anders sehen - , dann verschwinden mit einem Schlag sämtliche Unklarheiten und Widersprüche, von denen in der Analyse Campos die Rede ist. Die Interpretation des Arguments der Nova Dilucidatio in dem Werk von Ada Lamacchia „La filosofia della religione in Kant" 34 unterscheidet sich in den wesentlichen Punkten nicht von der Campos. Ihr Verständnis des Kantischen Arguments und zugleich die Problematik ihrer Deutung desselben kommt schon klar zum Ausdruck in der Art, wie sie den Beweis Kants vorstellt: „Man kann das Argument in drei Gedankenschritten (in tre momenti) artikulieren: a) die logische Notwendigkeit oder non-repugnantia zwischen den Begriffen wäre nicht denkbar, wenn nicht die zu vergleichenden Data oder realitates angenommen würden." Nun aber kommt die entscheidende Interpretation: ,,è come dire: non vi sarebbero connessioni necessarie se non vi fossero cose ( !) da connettere: seque che niente è possibile se non esiste (!) qualcosa die reale, se cioè all' elemento formale logico non corrisponde l'elemento materiale come sostrato; e fin qui, il discorso sembra scorrevole e perfetto": Das will sagen: es könnte keine notwendigen Verbindungen geben, wenn nicht Dinge zu verbinden da wären: folglich, daß nichts möglich ist, wenn nicht etwas Reales existiert, d. h. wenn dem formalen logischen Element nicht das 34

A. Lamacchia, La filosofia della religione in Kant, Manduria 1969

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materiale Element als Substrat entspricht, und bis hierher scheint der Gedankengang flüssig und vollkommen; b) die data oder realitates müssen notwendig existieren, weil die Negierung der Möglichkeit (Denklichkeit) zugleich auch Negierung aller Möglichkeit, d. h. die absolute Unmöglichkeit, das metaphysische Nichts bedeuten würde, c) Die realitates oder die Data, die das materiale Substrat der Möglichkeit bilden, sind jedoch nicht notwendig existierend, da sie vielfältig und kontingent sind: es ist jedoch notwendig, daß jene Realitäten notwendigerweise und ohne Begrenzungen in einem einzigen Seienden existieren . . , 3 5 . Diese Paraphrase des Kantischen Beweisganges enthält nach dem Vorausgehenden ein zweifaches Mißverständnis: einmal die Deutung des Ausgangs- bzw. des Ansatzpunktes der Kantischen Argumentation in dem Sinn, daß dieser die Existenz der realitates oder Data einschließe; dann aber, wie bei Campo, das des zweiten Beweisschrittes, daß dort die durch Negationen eingeschränkten Dinge der Erfahrungswelt gemeint seien. So ist es nicht zu verwundern, daß auch sie, ähnlich wie Campo, schwankt zwischen der Deutung des Ausgangspunktes Kants als der inneren Möglichkeit der Dinge, die auch von ihr als etwas bloß Logisches und Ideales verstanden wird, von dem es keinen legitimen Oberschritt zur Real- oder Existenzordnung geben könne, und der Deutung der realitates, von denen Kant ausgeht, als „res", und damit der kontingenten Existenz der Dinge, womit das Argument zu einem gemischt apriorisch-aposteriorischen Beweis werde, der dem Augustinischen oder auch Anselmischen oder dem 4. Weg des heiligen Thomas nahekäme. Und ebenso wie Campo gewinnt auch die Autorin aus dem Scholion die Überzeugung, daß Kant tatsächlich nur die innere Möglichkeit als den logischen Gehalt der Möglichkeitsbegriffe zum Ausgangspunkt genommen habe. „Nichtsdestoweniger scheint die letztere Hypothese unbezweifelbar zu werden, wenn man den Schluß im Scholion der Prop. VII lese" 36 . In diesem Fall aber sieht A. Lamacchia in der Argumentation Kants nicht nur einen illegitimen transitus ad aliud genus, sondern darüber hinaus auch einen äquivoken Gebrauch des Terminus Notwendigkeit: „Man sieht jedoch nicht, wie man, wenn einmal die innere oder formale Möglichkeit der Dinge negiert ist, die man a priori und unabhängig von der Existenz dieses oder jenes Einzeldinges behauptet, dann auf die absolute Unmöglichkeit schließen könne, die nicht nur einen logischen Widerspruch bedeutet, sondern die Negierung der Möglichkeit alles Möglichen: hier liegt ein äquivoker Gebrauch des Terminus Notwendigkeit vor, der einmal im logischen, das andere Mal im realen Sinn genommen wird" 3 7 . Dazu ist lediglich zu sagen, daß das Widerspruchsprinzip für Kant auch ein Seinsgesetz ist und daher seine Aufhebung als des Formalprinzips möglicher Gedanken notwendig die Aufhebung aller Möglichkeit der Dinge bedeuten würde und damit das nihil negativum der schlechthinnigen Unmöglichkeit, nicht weniger als die Negierung des Realgrundes alles Materialen von Möglichkeitsbegriffen und damit von Möglichkeiten der Dinge. 35 36 37

S. ebd. 130 f. S. ebd. 132 S. ebendort

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Schließlich sieht die Philosophin, wiederum ähnlich wie C a m p o , in der Kantischen Argumentation „tendenze diverse e problemi non ancora del tutto risolti dal filosofo" und seinen mit Schwierigkeiten verbundenen Versuch ,,di svincolarsi dai presupposti dell' ontologia wolffiana" 3 8 . Dieser Eindruck des Widersprüchlichen, Unklaren, des Schwierigen im Versuch, sich von den Voraussetzungen der Wölfischen Ontologie zu befreien, entspringt jedoch weitestgehend auch bei ihr aus dem Mißverständnis entscheidender Positionen und Voraussetzungen Kants, wie das nochmals in ihrer Zusammenfassung des Arguments zum Schluß ihrer Ausführungen sehr deutlich wird: „ E i n Beweis der Existenz Gottes als des notwendigen Fundaments der Wirklichkeit und der Möglichkeiten, der aposteriorische und apriorische Elemente verwendet: die Kontingenz der existierenden Dinge auf der einen, die Möglichkeit oder ideale Denklichkeit derselben auf Grund ihrer logischen Nichtwidersprüchlichkeit auf der anderen Seite" 3 9 . Auch G . Tortelli, der schon vor A . Lamacchia den Beweis der N o v a Dilucidatio analysiert hat, hat C a m p o vor Augen und bezieht sich auf ihn. Aber er sieht die Probleme der Interpretation wesentlich anders als die Genannten. Zunächst faßt er den Ausgangspunkt Kants sehr klar: „ D e s h a l b ist es, damit es ein Mögliches geben kann, notwendig, daß das, was in einem Begriff real ist (d. h. nach dem Sprachgebrauch der Schule die positiven Bestimmungen, Determinationen des Begriffs im Unterschied zu den negativen, den Privationen) auch existiere, und überdies, daß es in absolut notwendiger Weise existiere 4 0 . Das ist eine sehr exakte Wiedergabe des Kantischen Gedankens. U n d ebenso exakt ist die nun folgende Interpretation desselben: „ D e r Ausgangspunkt ist klar: die Materie (die Realgehalte werden omnium possibilium conceptuum velut materiale genannt) entstammt nicht der F o r m : um positive Bestimmungen denken zu können, müssen wir annehmen, daß sie vorausgehend existieren, d. h. damit ein Reales als möglich gedacht werden kann, muß es zuvor als existierend vorausgesetzt (!) w e r d e n " 4 ' . Es ist freilich auch richtig, daß, wie Tonelli sagt, „ l a chiave di volta del argomento" nicht ausdrücklich und in unmißverständlicher Weise gekennzeichnet ist, d . h . daß das den Beweis tragende und stützende Glied oder Element als solches nicht klar herausgestellt wird, so daß man auf Grund der Kantischen Formulierungen des Syllogismus allein zweifeln könnte, ob nicht in den Ansatz- oder Ausgangspunkt der Argumentation das Faktum des cogito wesentlich einzubeziehen sei. Tonelli formuliert das Problem so: „ W i r d ein Faktum, nämlich jenes, daß ein Ding als möglich gedacht wird, vorausgesetzt und schließt man, weil das, was gedacht wird nicht durch eine Art Parthenogenesis aus dem obersten Denkgesetz hervorgehen kann, auf ein konkret Existierendes, das dem rein formalen Denkprinzip entgegengesetzt ist: wenn also das Argument auf das cogito aufbaut und dieses wesentlich in die Basis, den Ausgangspunkt desselben eingeht, ist dann nicht wenigstens die Existenz des denkenden Subjekts vorausgesetzt, um dem abstrakten Denkgesetz einen konkreten Inhalt zu geben, auch wenn diese noch nicht genügen wür-

38 39 40 41

E b d . 133 S. ebendort Giorgio Tonelli, Elementi metodologici e metafisici in Kant dal 1745 al 1768, Torino 1959, 137 S. ebendort

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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de, diesen konkreten Inhalt zu garantieren?" 4 2 In der Tat nehmen alle Vertreter dieser Auffassung sofort auch ein anderes existierendes Prinzip als Voraussetzung dafür an, daß etwas als möglich gedacht werden bzw. dem Denken des Möglichen ein konkreter Inhalt gegeben werden kann: nämlich die existierenden konkreten Dinge der Erfahrungswelt. Aber Tonelli nennt diese Interpretation und ebenso auch die weitere, daß die zur Begründung des Materialen der Möglichkeiten geforderte Existenz selbst nur eine solche „in ideis" sein könnte - womit aber dann doch mittelbar die Materie der Möglichkeit aus ihrer Form hergeleitet und überdies der Übergang zur Ordnung der realen Existenz völlig abgeschnitten würde - , in diesem Zusammenhang nur mehr, um die möglichen Alternativen der Interpretation abzustecken bzw. um auf das Ambivalente der Formulierung des Arguments bei Kant hinzuweisen. Für ihn ist von Anfang an jene Interpretation die allein in Frage kommende, die das Kantische Argument in die Nähe analoger Gedankengänge bei Leibniz und Wedel rückt, jene nämlich, die es als „ragionamento ontologico a priori" auffaßt, das also nicht implizit das cogito voraussetzt, sondern ausgeht von der „possibilità in abstracto" und annimmt, daß diese Möglichkeit „per fondarsi ontologicamente richieda che le si supponga un esistente": für ihre ontologische Begründung die Voraussetzung einer Existenz verlangt. Tonelli scheidet deshalb die genannten anderen Alternativen aus, und zwar vor allem aus zwei überzeugenden Gründen: einmal aus dem Vergleich mit der Weiterentwicklung des Arguments in dem Beweisgrund von 1762 und dann vor allem auch aus dem allgemeinen Charakter der ganzen Argumentation: „daß nämlich alles denken läßt, Kant beabsichtige einen Beweis a priori der Existenz Gottes zu liefern: er stütze sich in der Tat auf den reinen Begriff der Möglichkeit, ohne das cogito oder die wirkliche Existenz der Welt zu erwähnen, jene obligatorischen Ansatzpunkte für die aposteriorischen Beweise, die im damaligen Milieu im Umlauf waren" 4 3 . Toneliis Standpunkt unterscheidet sich hier vorteilhaft von der Vorstellung des Ausgangspunktes des Kantischen Arguments, wie wir sie bei Laberge, Campo und A. Lamacchia vorfanden, eine Vorstellung, die dessen Gedankengang in Wahrheit zu einem verworrenen und geradezu inintelligiblen Gebilde macht. Auch darin sieht der Autor zweifellos richtig: daß der eigentliche Hebel des Beweises nicht das bloße Identitäts- und Widerspruchsprinzip sein kann, sondern darüber hinaus entscheidend das Prinzip des Grundes mit ins Spiel komme: „Der reine Begriff der Möglichkeit ist in Wirklichkeit der Ausgangspunkt, aber es ist zweifelhaft, ob die Prinzipien der Identität und des Widerspruchs, die ihn regieren, hinreichen, den Beweis zu tragen. Gott hat in der Tat seine ratio cognoscendi in dem Faktum, daß er notwendig ist, das Mögliche denkbar zu machen; aber das, wodurch man von dem Möglichen zu Gott gelangt, ist nicht ein Nexus der Identität oder des Widerspruchs; es ist evident ein komplizierterer Zusammenhang des bestimmenden Grundes" 4 4 . Aber Tonelli formuliert diesen Standpunkt nur zögernd und mit großer Vorsicht: „Es scheint (!) also, daß Kant die Existenz Gottes a priori beweist, aber nicht auf Grund des Prinzips der Identität oder des 42 43

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S. ebendort S. ebd. 138 S. ebendort

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I. Teil

Widerspruchs allein. Wenn dem so ist, dann wird die Materie nicht von der F o r m abgeleitet, und man hat es nicht lediglich mit dem allein „ i n ideis" gültigen reinen Möglichen zu tun. Aber dieser Standpunkt ist alles andere als ausdrücklich u n d indiskutabel" 4 5 . Der G r u n d , warum Tonelli sich seiner Sache nicht völlig sicher zu sein scheint, dürfte mit jenem zusammenhängen, der ihn auch das Argument Kants in die N ä h e des Leibnizschen Beweises aus dem Realen der Möglichkeiten in der Monadologie (n. 43, 44) rücken läßt: daß er nämlich den Ausgangspunkt Kants in der Möglichkeit vor allem in ihrer Denklichkeit sieht. Der eigentliche Ausgangspunkt des Schlusses sind, wie aus dem Tenor der These VII und den Erklärungen des Scholions hervorgeht, nicht unsere Begriffe des Möglichen als Begriffe, sondern als die in ihnen repräsentierten Möglichkeiten der Dinge, und zwar nicht nach ihrem Formalprinzip, dem ontologisch verstandenen Identitäts- und Kontradiktionsprinzip, sondern nach ihrem Inhaltlich-Materialen; denn das Formalprinzip weist, auch als ontologisches verstanden, nicht über den immanenten Bereich der Möglichkeiten hinaus. Zwar ist es nach der knappen Formulierung des Beweises selbst und auch nach gewissen Sätzen des Scholions unmittelbar das Gegebensein der Begriffsinhalte f ü r das Denken als das von etwas und nicht nichts, das eine Begründung dieser objektiven Realgehalte in einer vorhergehenden Existenz derselben verlangt, aber diese Realgehalte sind im Sinne Kants bzw. seines Lehrbuches, der Metaphysik Baumgartens, nur insofern etwas und nicht nichts, als sie eine ontologische Möglichkeit des Seins, ein possible esse ausdrücken. N i m m t man unsere Möglichkeitsbegriffe als Vergegenwärtigung der objektiven Möglichkeit der Dinge und versteht man sie in dieser Funktion als den eigentlichen Ausgangspunkt der Argumentation Kants, dann wird auch ohne weiteres verständlich, daß Kant unmittelbar auf ihre (überempirische) Existenz als G r u n d ihres Gegebenseins f ü r unser Denken schließen kann. Wir sehen hier schon im Ansatz einen wesentlichen Unterschied zu dem ähnlich klingenden Argument von Leibniz in der M o nadologie, wozu aber noch andere Differenzen kommen, vor allem im Schluß auf das notwendige Dasein, weswegen wir Toneiiis Beurteilung des Arguments als ,,di scarsa originalità" nicht teilen können 4 f i . Wichtiger erscheint uns dagegen der Hinweis des Autors auf den Darjes-Schüler Wedel und auf Crusius, deren Auffassung hinsichtlich des Verhältnisses von Möglichkeit und Dasein Kant entscheidende Anregungen f ü r seinen ontologischen Gottesbeweis gegeben haben dürfte: Wedel habe a priori bewiesen, „ d a ß das Mögliche das Existierende voraussetzt und das kontingent Existierende das notwendig Existierende, das Gott ist". Ähnlich habe Crusius die These vertreten, daß der Begriff der Existenz dem der Möglichkeit vorausgesetzt werden müsse, womit er in den Fußstapfen seines Lehrers Hoffmann gegen den Wölfischen Begriff der Philosophie im allgemeinen als Wissenschaft vom Möglichen polemisiert habe. Kant dürfte in der Tat von ihnen die gegen den Rationalismus gerichtete Grundüberzeugung gewonnen haben, daß die Möglichkeit als Dimension des Wirklichen notwendig Existenz voraussetzt, daß nur auf G r u n d von Existenz Möglichkeit im ontologischen Sinn denkbar ist, daß also Möglichkeit nicht das schlechthin erste und grundle45 46

S. 139; vgl. unseren Aufsatz „Die Originalität..." in: Kritik und Metaphysik, 120ff. S. ebd. 139

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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gende Prinzip der Wirklichkeit sein kann, auch nicht im Absoluten, sondern nur die Existenz. Von diesem Grundgedanken aus, der für sich selbst spricht, gewinnt die Kantische Argumentation sehr an Überzeugungskraft und Durchsichtigkeit; denn es ist klar, daß f ü r die Begründung der Möglichkeit als einer der Wirklichkeit der Welt ontologisch vorgängigen und ursprünglicheren, „primitiveren" Dimension nicht irgendwelche Existenz der Realgehalte des Möglichen, insbesondere nicht die kontingente in den Erfahrungsdingen selbst, in Frage kommen konnte, sondern nur eine überempirische Existenz derselben, und letztlich nur ihre absolut notwendige. Aber gerade in Kants Schluß auf ihre absolut notwendige Existenz sieht Tonelli noch eine besondere Schwierigkeit, die er offenbar für den entscheidenden Einwand gegen die ganze Argumentation hält. Dieser Einwand ergibt sich f ü r ihn aus seiner Interpretation des Schlüsselsatzes derselben: et quidem (quoniam si ab hoc discesseris, nihil omnino possibile, h. e. non nisi impossibile foret) existet absolute necessario, den er, wie folgt, paraphrasiert: „ I n der Tat, wenn das Mögliche (das Identische) ein Existierendes (einen bestimmenden Grund) voraussetzt, so ist dieses Existierende ein Notwendiges, weil, wenn es nicht da wäre, es nur das Unmögliche (das Widersprüchliche) geben könnte; folglich kann dieses vom Möglichen vorausgesetzte Existierende kein kontingent, sondern es muß ein notwendig Existierendes sein. Die Möglichkeit der Dinge setzt G o t t voraus, nicht die Welt" 4 7 . Wenn wir richtig verstehen, sind diese Sätze so zu interpretieren: Wenn das Mögliche, als das Identische im Gegensatz zum Unmöglichen als dem Widersprüchlichen verstanden, ein Existierendes als ratio determinans voraussetzt, dann bedeutet die Aufhebung dieses die Möglichkeit begründenden Existierenden die Aufhebung des Möglichen als des Identischen, also das Unmögliche als das nicht Indentische oder Widersprüchliche. Da aber das Widersprüchliche das Unmögliche schlechthin ist, bedeutet auch die Aufhebung dieser die Möglichkeit begründenden Existenz etwas U n mögliches oder Widersprüchliches, also kann das die Möglichkeit begründende Existierende nur ein absolut notwendiges Dasein bedeuten, d . h . ein Dasein, dessen Nichtexistenz als widersprüchlich gedacht werden müßte. Das die Möglichkeit begründende Existierende kann also nicht ein kontingent Existierendes sein, weil ein solches weder die Notwendigkeit des Möglichen als des notwendig Identischen, noch seine Aufhebung die Unmöglichkeit des Möglichen als einen Widerspruch begründen könnte. Tonelli schließt die Behandlung dieses entscheidenden Punktes seiner Deutung des Arguments mit der Bemerkung: „ M a n hat den Eindruck, daß Kant hier den Fehler einer quaternio terminorum begehe, oder daß er zwei verschiedene Begriffe vermenge: das Unmögliche und das Nichtmögliche. In der Tat, wenn es nicht irgend ein Datum gibt, gibt es keine Möglichkeit, aber es kann dann auch keine Unmöglichkeit (Widersprüchlichkeit) geben. Deswegen wird Kant im Beweisgrund seinen Beweis nicht auf das U n mögliche, sondern auf die Unzulässigkeit (Unzugebbarkeit) des Nichts gründen" 4 8 . A. Lamacchia faßt, wie wir gesehen haben, diesen angeblich doppeldeutigen Gebrauch des Terminus Unmöglichkeit anders: einmal, als Negierung der inneren Möglichkeit, 47 48

S. ebd. 138 f. S. ebd. 139

I. Teil

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d.h. der non-contradictio, also im Sinne des Widersprüchlichen, das sie offenbar als bloße Aufhebung der Denkmöglichkeit versteht, und der absoluten Unmöglichkeit, die nicht nur eine logische Widersprüchlichkeit bedeute, sondern die Aufhebung der Möglichkeit alles Möglichen: qui è un uso equivoco del termine di necessità, una volta assunta in senso logico, una volta in senso reale 49 . Beide Autoren sehen also in der Kantischen Argumentation eine doppeldeutige Verwendung des Terminus Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit und damit eine quaternio terminorum. Nach Tonelli gebraucht Kant den Terminus Unmöglichkeit einmal im Sinne des bloßen non possible, d.h. im Sinne einer bloßen Aufhebung der Möglichkeit, das andere Mal im Sinne von impossibilità im Sinn von Widersprüchlichkeit: non possibile gegenüber impossibile-contradictorium. Nach A. Lamacchia liegt die Äquivokation darin, daß der Terminus unmöglich einmal nur im logischen Sinn, d. h. im Sinn des Widersprüchlichen gebraucht wird, das andere Mal aber im realen Sinn, in dem von „negazione della possibilità di ogni possibile". In der Tat handelt es sich hier beim Beweis der notwendigen Existenz (der Realgehalte) als Bedingung der Möglichkeit um das zweite zentrale Problem der Interpretation der Kantischen Ontotheologie: das erste betraf die Bestimmung des Ausgangs- oder Ansatzpunktes der Argumentation. Von der Lösung dieser beiden Grundprobleme der Interpretation hängt es ab, ob und wie weit man die Kantische Ontotheologie als einen gelungenen Weg zur Lösung der rationaltheologischen Problematik betrachten kann. Nimmt man als Bedingung der „Möglichkeit" im Sinne des Arguments das cogito als wesentliches Element in den Ansatzpunkt hinein, verliert der Gedankengang unausweichlich den Charakter eines apriorischen Beweises, wie ihn Kant offensichtlich intendiert hat, ja diese Position verlangt konsequent die Ergänzung durch ein zweites aposteriorisches Element als Ausgangspunkt der Argumentation: die Gegebenheit der Dinge der Erfahrung, um das Denken der Möglichkeiten zu gewährleisten, womit nicht nur der aposteriorische Charakter noch mehr betont, sondern zugleich damit auch der wesentliche Unterschied zum kosmologischen Argument, dem argumentum a contingentia mundi, verwischt wird, ganz abgesehen davon, daß es von der bezeichneten Basis aus nicht möglich ist, auf eine absolut notwendige Existenz zu schließen, wie allgemein zugegeben wird. So aufgefaßt ist die Ontotheologie Kans in der Tat eine „strana argomentazione", die schon von ihrem Ansatz her unausweichlich zum Scheitern verurteilt ist. Der zweite Punkt, der über die logische Schlüssigkeit dieses Arguments entscheidet, wird durch die oben genannten Einwände von Tonelli und A. Lamacchia bezeichnet: Wird der Terminus impossibile hier in der Tat in einem doppelten Sinn gebraucht, so daß wir einen Syllogismus mit vier Termini und damit einen Paralogismus vor uns haben? Nun kann man diese Frage gewiß nicht ohne weiteres und mit Sicherheit aus der außerordentlich knappen, gedrängten Formulierung des ersten Schlußschrittes allein negativ beantworten, wohl aber, wenn man diese letztere einerseits im Kontext mit der These der Prop. VII und dem erläuternden Scholion liest, und andererseits den Gedankengang dieses Schlusses auf die notwendige Existenz im Beweisgrund, auf den Tonelli selbst, wie wir sahen, in diesem Zusammenhang hinweist, zum Vergleich heranzieht. Dann zeigt sich 49

A. Lamacchia, op. cit. 132

Diskussion anderer Deutungen des Arguments

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nämlich, daß in dem obigen Einwand von G . Toneiii bzw. von A. Lamacchia jeweils ein entscheidendes Element übersehen wird. Für den ersteren ist die Unmöglichkeit, das impossibile schlechthin, lediglich das logisch Widersprüchliche, alles andere bleibt hinter ihm zurück als bloßes non possibile, als bloße Aufhebung der Möglichkeit. So glaubt er, daß die Aufhebung der die Möglichkeit begründenden Existenz nur zu einem non possibile führen könne, aber nicht zu einem impossibile im Sinne einer absoluten Widerspruchsunmöglichkeit, und deshalb habe Kant im Beweisgrund daraus die Konsequenz gezogen und den Beweis nicht auf das impossibile im Sinn der Contradictio, sondern auf die Unzugebbarkeit des Nichts gegründet. Für A. Lamacchia dagegen bedeutet die bloße logische Unmöglichkeit oder das contradictorium als etwas bloß Logisches noch nicht die schlechthinnige Aufhebung aller Realmöglichkeit, von der aus allein auf eine absolute Daseinsnotwendigkeit geschlossen werden könnte. Bezüglich dieser subtilen Einwände ist jedoch folgendes zu betonen: was die Position Toneiiis betrifft, daß in diesem Argument das impossibile als contradictorium gar nicht entscheidend ins Spiel k o m m t : der wesentliche Schluß des Arguments geht allein vom Materialen oder Inhaltlichen der Möglichkeitsbegriffe aus, nicht aber vom formalen Prinzip der Nichtwidersprüchüchkeit; die Definition des Möglichen als des Nichtwidersprüchlichen ist bloß das Mittel, um die Notwendigkeit deutlich zu machen, daß im Denken unserer Möglichkeitsbegriffe ein Materiales, ein Inhaltliches gegeben sein muß - suppetere - . Das Argument arbeitet grundsätzlich nur mit dem später sogenannten realen Unmöglichkeits- bzw. Notwendigkeitsbegriff 5 0 , das ,,ηοη nisi impossibile foret" ist nach dem ganzen Gedankengang der Argumentation, und das ist sogar in der äußersten Gerafftheit desselben noch deutlich erkennbar, nicht das Unmögliche des Widersprüchlichen, sondern die Unmöglichkeit, daß es Mögliches geben könnte, wenn die Materialgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe nicht notwendig existierten. Folglich bedeutet hier das impossibile nicht ein contradictorium, sondern die grundsätzliche Aufhebung der Möglichkeit alles Möglichen durch das ,,Nichtgegebensein&ö«rce«" von Materialgehalten. Es handelt sich um eine reale Unmöglichkeit im engeren Sinn und dementsprechend um eine reale Notwendigkeit des die Möglichkeiten begründenden Daseins, dessen U n möglichkeit nicht einen Widerspruch bedeutet, sondern die Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeit. Gegenüber A. Lamacchia aber ist zu betonen, daß im Sinne Kants das Widersprüchliche weder eine bloß verminderte Form von Unmöglichkeit bedeutet noch auch etwas bloß Logisches, sondern eine ebenso radikale Aufhebung aller Möglichkeit von Möglichem wie das Nichtgegebenseinkönnen von Materialgehalten, und zwar eine ebenso notwendig für die Realordnung selbst geltende, weil ja das Kontradiktionsprinzip als Definition des Unmöglichen 5 ' nicht primär ein logisches, sondern ein ontologiscbes Prinzip bedeutet.

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KGS II, 182; XVII, 270 (R 3725) Ebd. I, 391

Zweiter Teil Das ontotheologische Argument in der Abhandlung „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" von 1762

1. Kapitel Charakter und Besonderheiten der jüngeren Version des ontotheologischen Beweises gegenüber der älteren Die erste Fassung des ontotheologischen Beweises in der Nova Dilucidario legt in mancher Hinsicht Rätsel auf, die nur unter bestimmten Voraussetzungen zu lösen sind. Als eine derselben bezeichneten wir, daß man in der Analyse der dortigen Propositio VII stets auch die Weiterentwicklung des ontotheologischen Arguments in der Abhandlung von 1762 mit in Betracht ziehe. Wenn wir uns nun der Interpretation dieser letzteren zuwenden, so gehen wir am zweckmäßigsten wieder aus von deren charakteristischen Eigentümlichkeiten gegenüber der ursprünglichen Form des Arguments, wie sie noch vor allen Einzelanalysen, vor allem auch mit Hilfe der Vorrede der Abhandlung, feststellbar sind. Soweit sie in direktem Gegensatz zu jener ersten Fassung stehen, haben wir sie bereits in dem einführenden Kapitel des ersten Teiles angedeutet: zunächst, daß wir hier im Beweisgrund eine ausführliche und detaillierte Entwicklung des Arguments in einer freien, akademischen, nicht in das Korsett der scholastischen Thesenform eingebundenen Darstellungsweise vor uns haben, in der sowohl die einzelnen Gedankenschritte wie auch die Prinzipien, von denen die Argumentation getragen ist, in weit höherem Maße ausdrücklich gemacht werden, als es in der Nova Dilucidatio der Fall war. Fürs zweite, daß wir hier im Beweisgrund das ontotheologische Argument nicht wie dort in Unterordnung unter eine allgemeinere metaphysische Problematik behandelt finden, sondern als selbständige Thematik und zwar formal als Gottesbeweis, was zur Folge hat, daß nun nicht mehr nur die fundamentalen ontologischen Attribute des absoluten Wesens, seine Notwendigkeit und Unendlichkeit, bewiesen werden, sondern darüber hinaus vor allem auch jene, die für den Gottesbeweis und seine religiös-weltanschauliche Bedeutung grundlegend sind, nämlich dessen Geistigkeit und personaler Charakter; ferner daß Kant im Beweisgrund das ontotheologische Argument thematisch als Demonstration im strengen Sinn des Wortes, d.h. als Beweis von mathematischer Stringenz entwickeln will, und zwar als den einzig möglichen, wie es im Titel angekündigt wird, womit zugleich die Aufgabe gestellt ist, es in dieser Hinsicht in seinem Verhältnis zu den übrigen Arten der Gottesbeweise zu bestimmen, was ausführlich in der dritten Abteilung geschieht. Zu allen diesen Punkten bringt nun gerade die Vorrede bemerkenswerte Erläuterungen und Präzisierungen, die für die Beurteilung der Art und Weise, wie Kant selbst damals von seinem ontotheologischen Argument gedacht bzw. wie er es eingeschätzt und gewertet hat, aufschlußreich sind. Gleich im ersten Absatz äußert er sich über den Wert und die Funktion der von ihm intendierten strikten Demonstration des Daseins Gottes im Hinblick auf die vernunftmäßige Begründung es Gottesglaubens. Dabei betont er, daß er zwar nicht der Meinung ist, daß die für den Menschen so wichtige Einsicht: es ist ein

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II. Teil

Gott, „ohne Beihilfe [solcher] tiefer metaphysischer Untersuchungen" wanke oder in Gefahr sei, da die Vorsehung die für unser Dasein wichtigsten Erkenntnisse nicht abhängig machen wollte von der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse, sondern sie vielmehr dem natürlichen gemeinen Verstand anvertraut habe, der uns, wenn man ihn nicht durch falsche Kunst verwirre, geradewegs zum Wahren und Nützlichen führe, insofern wir dessen äußerst bedürftig sind. Damit sind vor allem „die genugsam überführenden Beweistümer" für das Dasein Gottes gemeint, die, obwohl sie noch innerhalb der Schranken gemeiner Einsichten liegen, zur Uberzeugung vom Dasein Gottes durchaus hinreichen, „obgleich der subtile Forscher allerwärts die Demonstration und die Abgemessenheit genau bestimmter Begriffe oder regelmäßig verknüpfter Vernunftschlüsse vermißt", d. h. obwohl es sich bei ihnen nicht um Demonstrationen im eigentlichen Sinn handelt. Trotzdem aber verteidigt er die Billigkeit und den Nutzen eines Unternehmens, wie er es hier vorhat, nämlich die Demonstration in dieser wichtigen Frage zu versuchen bzw. einen Weg zu ihr aufzuzeigen. Einmal, weil „ein der Nachforschung gewohnter Verstand", der Verstand des Philosophen also, in einer so wichtigen Erkenntnis auch etwas Vollständiges und deutlich Begriffenes erlangen möchte, d. h. eben die eigentliche Demonstration, und ferner, weil eine dergleichen Einsicht, wenn man ihrer mächtig geworden, „viel mehreres in diesem Gegenstande aufklären könnte". Diese Ausführungen Kants sind wichtig für das Verständnis dessen, was er mit seinem einzig möglichen Beweisgrund eigentlich intendiert hat, weil sie der in jüngster Zeit von namhafter Seite vertretenen These widersprechen, der Philosoph habe mit der Abhandlung von 1762 überhaupt nicht in erster Linie die Lösung des Gottesproblems, d.h. die rationale Begründung des Gottesglaubens im Auge gehabt, sondern die Bestimmung des Begriffs ens necessarium als eines Problems der theoretischen Metaphysik, näherhin als des Endbegriffs der rationalen Kosmologie 1 . Aber sowohl der Eingangs- wie der Schlußabsatz der Abhandlung sprechen eine andere Sprache: in dem ersteren, wir haben es eben gehört, sieht Kant die Demonstration als eine durchaus wünschenswerte Vervollkommnung der nach seiner Auffassung unverzichtbaren Fundierung des Gottesglaubens durch die „genugsam überführenden Beweistümer des natürlichen, gemeinen Verstandes", sie dient also ebenfalls nach ihm diesem letzteren Ziel. Und ganz in diesem Sinn beschließt er die Abhandlung mit den Worten: „Hierin [sc. daß sein Nichtsein absolutes Nichts bedeutete] wird also das eigene Merkmal von dem Dasein des Wesens aller Wesen bestehen. Hierin sucht den Beweistum, und wenn ihr ihn nicht daselbst anzutreffen vermeint, so schlaget euch von diesem ungebähnten Fußsteige auf die große Heeresstraße der menschlichen Vernunft. Es ist durchaus nötig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere". Es kann nach unserer Uberzeugung keinerlei Zweifel bestehen, daß es Kant in dieser Abhandlung primär, ja ausschließlich, eben um die Demonstration des Daseins Gottes als Begründung des religiösen Glaubens ging 2 . In der Tat finden wir bei einer systematischen Analyse der Texte im einzelnen auch 1 2

Vgl. D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 183 f. Mit Recht A. Lamacchia, op. cit. 130 über den Kantischen Beweisentwurf: „rivelando lo sforzo massimo compiuto dalla ragione Kantiana di radicare la fede nella razionalità teoretica."

Besonderheiten der jüngeren Fassung des Arguments im „ B e w e i s g r u n d " von 1762

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nirgends eine Andeutung, daß es ihm auch oder gar in erster Linie um die Lösung des genannten Problems der theoretischen Metaphysik bzw. der rationalen Kosmologie zu tun gewesen wäre. Außerdem würde dies einer Grundintention des ganzen Kantischen Philosophierens, gerade auch in der kritischen Phase, widersprechen: daß nämlich die Metaphysik die für die letzten Zwecke der Menschheit entscheidenden Fragen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu ihrem eigentlichen Gegenstand und Zweck habe, wobei er die rationale Lösung dieser Fragen [in der kritischen Epoche vor allem durch den praktischen reinen Vernunfglauben] stets im Zusammenhang mit der Fundierung des religiösen Glaubens sieht. Das bezeugen u . a . einmütig die drei Kritiken 3 und eine beträchtliche Zahl von Reflexionen zur Metaphysik nach 1770, so daß es nach unserer Überzeugung schlichthin eine Verfälschung des Kantischen Kritizismus bedeutet, ihm diese theologische Ausrichtung und Sinngebung zu nehmen, indem man ihn auf eine kritische Theorie der ontologischen Prinzipien bzw. auf eine Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung einengt. Was aber dieses Ziel einer Demonstration des Daseins Gottes selbst betrifft, so erklärt er in der Vorrede ausdrücklich, daß sein einzig möglicher Beweisgrund, d. h. seine ontotheologische Argumentation in der ersten Abteilung, nicht als eine ausgeführte Demonstration zu betrachten sei, sondern nur sozusagen als eine Sammlung des Baugeräts, aus dessen brauchbaren Stücken Kenner das eigentliche Gebäude aufführen könnten; die von ihm verwendeten Begriffe bezeichneten zwar richtige Merkmale der Sachen, die brauchbar seien, um daraus zu abgemessenen Erklärungen zu gelangen, aber sie seien noch keine Definitionen, wie es eine Demonstration verlangen würde. Darum habe diese Abhandlung, obwohl sie die Frucht eines langen Nachdenkens sei, das Merkmal einer unvollendeten Ausarbeitung an sich, auch deswegen, weil er bewußt und absichtlich nur die Grundzüge des Hauptrisses zu einem Gebäude liefern wollte: um den Entwurf im ganzen zuerst dem strengen Urteil der Meister in der Kunst zu unterwerfen, bevor man herangehe, ihn im einzelnen nach den strengen Regeln, die eine solche Demonstration verlange, durchzuführen. So habe er gelegentlich nur Beweistümer angeführt, ohne imstande zu sein, ihre Verknüpfung mit der Folgerung für jetzt deutlich zu zeigen, oder lediglich gemeine Verstandesurteile, ohne ihnen durch logische Kunst die Gestalt der Festigkeit zu geben, die ein Baustück in einem System haben müßte, entweder weil er es schwer fand, oder weil die Weitläufigkeit der nötigen Vorbereitungen der Größe, die das Werk haben sollte, nicht gemäß war, oder schließlich, weil er sich dazu berechtigt glaubte, der Forderung, die man mit Recht an systematische Verfasser stelle, enthoben zu sein, da er ja keine ausgeführte Demonstration angekündigt habe. Aus diesen Ausführungen der Vorrede wird deutlich, daß auch die entfaltete Form des ontotheologischen Arguments im Beweisgrund in den Augen Kants selbst keineswegs vollkommen ist, daß er dort in seinem angekündigten Unternehmen, „ d i e Demonstration zu suchen, ob sie sich nichtirgendwo darböte", nicht immer das Niveau einer wirklichen Demonstration, der Abgemessenheit genau bestimmter Begriffe und regelmäßig verknüpfter Vernunftschlüsse, erreicht hat.

3

S. Kr. d. r. V. Β X X ff; 395 (Anm.), 491 ff, 618, 632, 668 ff; K G S V, 124 ff; 436-485

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II. Teil

Diese den demonstrativen Rang des Arguments stark einschränkenden Bemerkungen der Vorrede stehen jedoch in einem fühlbaren Gegensatz zu den allgemeinen Charakterisierungen desselben zum Abschluß der ersten und dann vor allem in der ganzen dritten Abteilung, wo das Argument als apriorischer Beweis gekennzeichnet wird, der offenbar nach Kants Uberzeugung den zu Beginn der letzteren aufgestellten höchsten Anforderungen durchaus entspricht 4 . Das Rätsel löst sich, wenn man die Art und Weise in Betracht zieht, wie er in der abschließenden 4. Betrachtung den ontotheologischen Beweis mit den Argumenten für die Geistigkeit des notwendigen und allgenugsamen Wesens zu Ende führt, weil gerade in diesem für einen Gottes be weis so entscheidenden Teil die Unvollkommenheit des Arguments als einer Demonstration besonders deutlich in die Augen springt. Deshalb wird man das, was er in der Vorrede ganz allgemein von der Unvollständigkeit der Ausführung, der ungenügenden Abgrenzung und Bestimmung der Begriffe, der Einführung bloßer, ,Beweistümer" und gemeiner Verstandesurteile sagt, in erster Linie auf diese 4. Betrachtung beziehen müssen. Denn wir haben hier das Eigenartige, daß gerade in diesem entscheidenden Kapitel die Beweise nicht mehr aus dem ontotheologischen Ansatz selbst abgeleitet werden, sondern aus anderen, außerhalb der reinen Ontotheologie liegenden, nämlich solchen der natürlichen Theologie und der Physikotheologie, womit die Einheit des Prinzips der Argumentation im Grunde aufgegeben ist. Die ersten drei Betrachtungen sind, wie wir sehen werden, nichts anderes als die vollständige und konsequente Durchführung des Beweises der These der Propositio VII der Nova Dilucidano aus dem dort angedeuteten Ansatz: Datur ens, cuius existentia praevertit ipsam et ipsius et omnium rerum possibilitatem, quod ideo (!) absolute necessario existere dicitur; sie nähern sich also weitestgehend dem, was Kant von einer Demonstration im strengen Sinn verlangt und worauf er mit seinem einzig möglichen Beweisgrund eigentlich abzielte. Die Argumentationen der 4. Betrachtung dagegen liegen offensichtlich nicht mehr auf diesem Niveau, sondern gehören im Grunde nur mehr zu den Beweistümern des gesunden natürlichen Verstandes. Die Unvollkommenheit des ontotheologischen Arguments liegt hier also entscheidend darin, daß gerade der für die Begründung des religiösen Glaubens so wichtige Abschluß desselben nicht in der Weise einer Demonstration im strengen Sinn und damit einer apriorischen Deduktion geleistet wird, ein Umstand, dessen sich Kant offenbar sehr wohl bewußt war und der ihn vor allem zu jener fast überbescheidenen Präsentation desselben in der Vorrede veranlaßt hat. Was er aber in dieser Hinsicht eigentlich hätte leisten müssen, aber nicht leisten wollte und wohl auch nicht konnte, kommt in jener Anmerkung über den Begriff der Vollkommenheit zum Ausdruck, die er den Beweisen für die Geistigkeit des göttlichen Wesens in der 4. Betrachtung abschließend noch anfügt. Dort entschuldigt er sich quasi, daß er „in dem ganzen Zusammenhange aller bisher vorgetragenen zu meinem Beweise gehörigen Gründe nirgend des Ausdrucks von Vollkommenheit gedacht" habe, von dem er sagt, daß er, nachdem er, .lange Zeit über den Begriff der Vollkommenheit insgemein oder insbesondere sorgfältige Untersuchungen angestellt habe", zu der Uberzeugung gekommen sei, „daß in einer genauen Kenntnis derselben überaus viel verborgen liege, was die Natur 4

Ebd. II, 155; vgl. 157, Z. 25 f; 161; 91

Besonderheiten der jüngeren Fassung des Arguments im „Beweisgrund" von 1762

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eines Geistes, unser eigen Gefühl und selbst die ersten Begriffe der praktischen Weltweisheit aufklären kann", und daß dieser Begriff selbst in seinen verschiedenen und abweichenden Bedeutungen „eine Beziehung auf ein Wesen, welches Erkenntnis und Begierde hat, voraussetze". Und gerade speziell in diesem Punkt macht er als Entschuldigungsgrund die zu große Weitläufigkeit geltend: „Da es nun viel zu weitläufig geworden sein würde, den Beweisgrund von Gott und der ihm beiwohnenden Realität bis zu dieser Beziehung hindurch zu führen, ob es zwar vermöge dessen, was zum Grunde liegt, gar wohl tunlich gewesen wäre, so habe ich es der Absicht dieser Blätter nicht gemäß befunden, durch die Herbeiziehung dieses Begriffes Anlaß zu einer allzu großen Weitläufigkeit zu geben" 5 . Nun gerade wenn man neben der geistigen („ein Wesen, welches Erkenntnis und Begierde hat") vor allem auch die moralphilosophische Komponente dieses Begriffs, die ja hier ganz ausdrücklich angesprochen wird und die für den personalen Charakter Gottes von so grundlegender Bedeutung ist, ins Auge faßt, dann wird man diese Begründung schwerlich akzeptieren können, zumal wenn es für ihn „vermöge dessen, was zum Grunde liegt, gar wohl tunlich gewesen wäre, den Beweisgrund von Gott und der ihm beiwohnenden Realität bis zu dieser Beziehung hindurch zu führen". Denn damit kann nach dem Kontext nur der ontotheologische Ansatz selbst gemeint sein, so daß dieses Hindurchführen des Beweisgrundes bis zu dieser Beziehung erst die eigentliche Vollgestalt des ontotheologischen Arguments als einer Demonstration des Daseins Gottes, als des Gottes der Religion, bedeutet hätte. Aber man wird füglich daran zweifeln können, ob dies für ihn tatsächlich „gar wohl tunlich" gewesen wäre, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er schon kurz darauf (in der Preisschrift über die Deutlichkeit vom Ende 1762) die ersten Begriffe der praktischen Weltweisheit in einer Weise bestimmt, daß man nicht sieht, wie sie aus dem Ansatz des ontotheologischen Arguments entwickelt werden könnten, und daß er konsequent dazu wenige Jahre später (im Schlußteil der Träume eines Geistersehers) im Gegensatz zu allen spekulaiv-theoretischen Einsichten eine praktisch-moralische Begründung des Gottesglaubens als die entscheidende vorstellt 6 , die dann im System des Kritizismus zu derjenigen Lösung der metaphysischen Grundfragen wird, für die die Kritik der reinen Vernunft den Weg bereitet. Der eigentliche Grund, warum er sich auf dieses Problem nicht eingelassen hat, dürfte also nicht so sehr die damit verbundene „Weitläufigkeit" gewesen sein, sondern „weil ich es schwer fand", d.h. weil er sich der großen Schwierigkeit bewußt war oder sie wenigstens ahnte, den ontotheologischen Gottesbeweis in diesem entscheidenden Punkt geradlinig zu Ende zu führen. Ja von der künftigen Entwicklung her gesehen, können wir sogar mit Sicherheit sagen, daß er mit diesem Versuch gescheitert wäre. So ist der ontotheologische Gottesbeweis gerade auch im Hinblick auf die Begründung des Gottesglaubens etwas Unvollkommenes, der Ergänzung durch andere Prinzipien Bedürftiges. Aber immerhin konnte er als einziger nach der Überzeugung Kants die on-

5 6

Ebd. 90 (kurs. Verf.) Ebd. 373; vgl. dazu X X , 57, Z. 17 ff und unsere Interpretation in : Die Ursprünge der Ethik Kants, Meisenheim 1961, 159 f.

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II. Teil

tologischen Grundeigenschaften Gottes demonstrativ dartun, eine Aufgabe, die nach ihm bisher kein Gottesbeweis wirklich zu lösen vermocht hatte. Zu den bis jetzt behandelten Eigentümlichkeiten des einzig möglichen Beweisgrundes gegenüber dem Argument der Nova Dilucidano kommt aber noch eine weitere hinzu, die freilich auf den ersten Blick für die Ontotheologie als solche gar nicht wesentlich zu sein scheint, weswegen sie auch oft übersehen oder nur en passant behandelt wurde: wir meinen die Stellung und Funktion des verbesserten physikotheologischen Arguments im Beweisgrund, die, wie schon aus dem unverhältnismäßigen Umfang der zweiten Abteilung der Abhandlung hervorgeht, Kant im Hinblick auf deren Hauptthema sehr hoch einschätzt. Der Philosoph hatte ja schon im Jahre 1755 die Grundzüge seiner verbesserten Physikotheologie entworfen, aber nicht in der Nova Dilucidado, sondern in der Vorrede zu seiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels: In den beiden Abhandlungen des Jahres 1755 erscheinen so diese Argumente getrennt und ohne Beziehung zueinander, während hier im Beweisgrund eine sehr enge, ja wesentliche Verbindung zwischen beiden hergestellt wird, was im übrigen auch allein die Tatsache rechtfertigen kann, daß er der ersten Abteilung, d.h. der Entwicklung des ontotheologischen Arguments, diese auffallend umfangreiche zweite folgen läßt, die offenbar das verbesserte physikotheologische Argument zu ihrem Hauptgegenstand hat. Gewiß sind für die konkrete Gestalt dieser zweiten Abteilung auch jene Motive maßgebend gewesen, auf die Campo hinweist und die schon in der Einleitung der Naturgeschichte und Theorie des Himmels eine Rolle gespielt haben: die Harmonisierung des Gottesglaubens mit den Prinzipien der modernen exakten Naturwissenschaft. Aber der entscheidende Grund dafür, daß Kant die Darlegung des verbesserten physikotheologischen Beweises und damit zusammenhängende Probleme, als zweiten und ausfühlichsten Teil in seine Abhandlung über den einzig möglichen Beweisgrund aufgenommen hat, liegt sicher darin, daß für ihn die beiden Argumente von ihrem Ursprung her eine wirkliche Einheit bilden dergestalt, daß der verbesserte physikotheologische Beweis nichts anderes ist als das aposteriorische Pendant seines apriorischen aus dem Realen der Möglichkeiten 7 . Vermag man das nicht zu sehen, dann bleibt die Einfügung dieses ganzen umfangreichen Teiles mehr oder weniger äußerlich, wie es Kl. Reich in seiner Einleitung von 1963 sieht: daß Kant in der Schrift von 1762 die beiden Argumente der Schriften von 1755, der Nova Dilucidatio und der Naturgeschichte, für das Dasein Gottes in dieser Abhandlung von 1762 eingehender behandeln wollte. Es wäre aber alles in allem schlechter Stil, wenn er in einer Abhandlung über das ontotheologische Argument als den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes am weitaus ausführlichsten ein anderes Argument behandelt hätte, das mit dem einzig möglichen Beweisgrund nicht wesentlich zusammenhing. Aber auch dann, wenn durch den Aufweis der inneren Einheit beider Argumente die zweite Abteilung im Prinzip gerechtfertigt ist, bedeutet die konkrete Durchführung wegen ihrer Weitläufigkeit nach dem eigenen Empfinden Kants nicht gerade eine Vollkommenheit in stilistischer Hinsicht; denn er entschuldigt sich deswegen in der Vorrede: „Es könnte scheinen, eine Verletzung der Einheit, die man bei der Betrachtung seines Gegen7

Ebd. II, 92

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standes vor Augen haben muß, zu sein, daß hin und wieder ziemlich ausführliche physische Erläuterungen vorkommen; allein da meine Absicht in diesen Fällen vornehmlich auf die Methode, vermittelst der Naturwissenschaft zur Erkenntnis Gottes hinaufzusteigen, gerichtet ist, so habe ich diesen Zweck ohne dergleichen Beispiele nicht wohl erreichen können. Die siebente Betrachtung der zweiten Abteilung bedarf desfalls etwas mehr Nachsicht, vornehmlich da ihr Inhalt aus einem Buche, welches ich ehedem ohne Nennung meines Namens herausgab, gezogen worden, wo hievon ausführlicher, obzwar in Verknüpfung mit verschiedenen etwas gewagten Hypothesen, gehandelt ward . . ." 8 . Kant entschuldigt sich also nicht deswegen, weil er diese ganze zweite Abteilung, die auf den ersten Blick wenig mit dem ontotheologischen Argument zu tun zu haben scheint, überhaupt im Rahmen der Thematik des einzig möglichen Beweisgrundes ausführlich behandelt, eben weil für ihn das verbesserte physikotheologische Argument gewissermaßen nur die Kehrseite der Medaille des ontotheologischen ist. Ist dem aber so, dann ergibt sich aus diesem zweiten Teil bzw. aus der Analyse seiner verbesserten Physikotheologie, eine entscheidende Interpretationshilfe für die erste Abteilung; denn durch die Art, wie die beiden Argumente von ihm innerlich miteinander verbunden werden, wird n . u . Ü . eine bestimmte Deutung des ontotheologischen Ansatzes der ersten Abteilung a limine ausgeschlossen: es handelt sich um jene, die die Möglichkeit des Denkens als solchen zum Ausgangspunkt des Beweises des absolut Notwendigen macht; denn in diesem physikotheologischen Beweis geht es einzig und allein um die wesensnotwendige Harmonie der Dinge und damit um die Harmonie in den Möglichkeiten der Dinge als dem Ansatzpunkt des Schlusses auf Gott als Prinzip der Possibilien. Das sind wohl die hauptsächlichsten Eigentümlichkeiten, durch die sich der einzig mögliche Beweisgrund von der früheren Version des Arguments in der Nova Dilucidatio, aufs ganze gesehen, unterscheidet. Es kommen noch gewisse Unterschiede in wichtigen Einzelthesen hinzu, wie z. B. der im Beweis der Einzigkeit des notwendig Existierenden, der für die Interpretation von Laberge, wie wir sehen werden, eine so wichtige Rolle spielt. Ferner haben wir einen bedeutsamen Unterschied in der Bewertung des ontotheologischen Arguments als solchen: während Kant in der Nova Dilucidano das Argument lediglich als den denkbar wesentlichsten Beweis für das Dasein Gottes betrachtet, ihm aber ausdrücklich den eigentlich genetischen Charakter abspricht, beurteilt er es im Beweisgrund als jenes, das aus dem ureigenen Wesen des absolut Notwendigen auf das Dasein Gottes schließt, so daß er ihm nun auch folgerichtig den genetischen Charakter ohne Einschränkung zuerkennt 9 . Da diese Auffassung aber aufs engste mit dem Merkmal der AprioHtät des Beweises zusammenhängt, wird dadurch in der Tat jener entscheidende Fortschritt gegenüber dem Standpunkt der Prop. VII der Nova Dilucidado signalisiert, auf Grund dessen das ontotheologische Argument nun als einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes erscheint, so daß diese neue Beurteilung des Arguments den eigentlichen Hintergrund der Titelthematik der Abhandlung von 1762 bildet. Die Frage nun, ob und wie weit diese ohne Zweifel wichtigen Einzelleh8

Ebd. 68 f. ® Ebd. I, 395 (Scholion); II, 91

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II. Teil

ren des Beweisgrundes in den zuerst angeführten allgemeinen Unterschieden, die die wesentliche Identität der Argumentation nicht tangieren, begründet sind, oder ob sie wirklich ein den Charakter des Arguments veränderndes Element bilden, wenigstens in dem Sinn, daß sie ihm eine andere Zielausrichtung geben, wie Laberge annimmt, kann nur die nähere Analyse der Texte selber ergeben. Schließlich scheint die Vorrede noch auf das Wissen um die Methodenproblematik als charakteristisches Merkmal des Einzig möglichen Beweisgrundes hinzuweisen; denn es findet sich hier ein fast düster anmutender Vorblick auf die Schwierigkeit und Gefährlichkeit eines derartigen Unternehmens: man müsse sich dazu auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen, ein finsterer Ozean ohne Ufer und Leuchttürme, wo man es wie der Seefahrer auf einem unbeschifften Meere halten müsse, der bei jeder Landung seine Fahrt auf neue überprüfe, ob nicht etwa unbekannte Seeströme seinen Lauf verwirrt haben. Hier klingt das alte Problem der Methode der Metaphysik an, das seit der Wahren Schätzung der lebendigen Kräfte als nocht ungelöste und noch zu lösende Aufgabe vor ihm stand10. Und im nächsten Absatz deutet er auch den methodischen Grundsatz an, den er in dem Einleitungsabschnitt der 1. Betrachtung wiederholt und der dann ein zentrales Thema der am Ende des Jahres abgefaßten Preisschrift über die Deutlichkeit bilden wird: „Es gibt eine Zeit, wo man in einer solchen Wissenschaft, wie die Metaphysik ist, sich getraut alles zu erklären und alles zu demonstrieren, und wiederum eine andere, wo man sich nur mit Furcht und Mißtrauen an dergleichen Unternehmungen wagt." Man sieht, daß der Verfasser offenbar nicht mit unangefochtenem Selbstvertrauen an dieses Unternehmen einer Demonstration des Daseins Gottes herangeht und daß er auch seiner Lösung wohl nicht absolut sicher ist. Das erscheint mir bemerkenswert, weil es in einem merklichen Gegensatz steht zu der sehr zuversichtlich klingenden Sprache in den Darlegungen der Abhandlung selbst, wenn man von den wenigen Stellen absieht, in denen auch hier eine gewisse Skepsis oder wenigstens Reserve zum Durchbruch zu kommen scheint". Im übrigen kommt freilich das Methodenproblem der Metaphysik, von der kurzen methodologischen Skizze der Einleitung zur 1. Betrachtung abgesehen, in der ganzen Abhandlung nicht weiter zur Sprache, ja man hat vielmehr den Eindruck, daß gerade die Entwicklung des apriorischen Arguments im ersten Teil recht wenig zu tun hat mit oder recht wenig beeinflußt ist von den methodologischen Grundsätzen der Metaphysik, die er in dieser Einleitung skizziert und dann in der nicht viel später abgefaßten Preisschrift über die Deutlichkeit ausführlich darlegt. Wenn er dort die Methode der Metaphysik als im Grunde identisch mit der Newtons in der Naturwissenschaft bezeichnet 12 , so wird man sich verwundert fragen, wo hier in der ersten Abteilung, in der Entwicklung des einzig möglichen Beweisgrundes zu einer Demonstration des Daseins Gottes, eine spezifische Ähnlichkeit mit der Newtonschen Methode in der Naturwissenschaft feststellbar sei.

10 11

12

Ebd. I, 30f. So etwa II, 118, Z. 4ff; 161, Z. 4ff, 163. Ebd. 286

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Die restlichen Ausführungen der Vorrede beziehen sich nicht mehr auf die Vorstellung des Werkes selbst, sondern auf dessen Leser und Kritiker: unter denen, „die sich das Urteil über Werke des Geistes anmaßen", sei nur ein kleiner Teil, der „kühne Blicke auf das Ganze eines Versuches" werfe und „vornehmlich die Beziehung, die die Hauptstücke desselben zu einem tüchtigen Bau haben könnten, wenn man gewisse Mängel ergänzte oder Fehler verbesserte". Das sei die Art der Leser, deren Urteil der menschlichen Erkenntnis vornehmlich nutzbar sei, nicht aber die überwiegende Zahl der anderen, die dazu unfähig sind und sich grüblerisch und kritisch auf einzelne Teile konzentrieren, um, ohne den Hauptplan überhaupt zu würdigen, bestrebt sind, jeden angefangenen Bau in Trümmer zu verwandeln, oder gar nur eine scheinbare Veranlassung wünschen, auf eine Schrift den bitteren Vorwurf des Irrglaubens zu werfen. Dabei stellt er als goldene Regel für die Beurteilung solcher Werke des Geistes auf, daß man mit der Aufrichtigkiet eines unbestochenen Sachwalters sich in Gedanken in die Stelle der verschiedenen Personen, die ihre Gründe vorbringen, versetzt, um sie so stark zu finden, als sie nur immer werden können, um dann allererst auszumachen, welchem Teile man sich widmen wolle. Ohne Zweifel will er damit auch seinen Lesern „die ungeheuchelte Billigkeit, sich selbst der Sache des Gegenteils [ihrer eigenen Auffassung] in dem Grade anzunehmen, als es möglich ist", als Maxime der Beurteilung eindringlich ans Herz legen, wobei er aber betont, daß er in einer schweren Betrachtung wie der gegenwärtigen auf manche Aussetzungen der Kritiker gefaßt sei und daß es ihm auch nicht allzu schwer fallen werde, von anderen eines Besseren belehrt zu werden, weil er ja von Anfang an seine Ansprüche auf Richtigkeit des Gesagten „gelinde, unsicher und bescheiden" vorgetragen habe 13 . Nichtsdestoweniger, und das steckt gewiß, wie aus dem Motto der Vorrede hervorgeht, hinter diesen Appellen an seine Leser und Kritiker, ist es seine Sorge, daß man vorschnell, ohne gründliches Bemühen um das Verständnis dieses großen Entwurfs, ein Urteil der Verwerfung aussprechen könnte. Dieses in dem Wort des Lukrez ausgedrückte Anliegen: Ne mea dona tibi studio disposta fideli, intellectaprius quam sint, contemptarelinquas, ist auch an uns Interpreten gerichtet und warnt uns davor, den einzig möglichen Beweisgrund, noch bevor wir ihn wirklich verstanden haben, als offenbaren Fehlschluß abzutun! Dieses Motto soll uns denn auch als Leitgedanke in der nun folgenden Interpretation der ersten Abteilung des Beweisgrundes dienen.

13

Ebd. 67 f.

2. Kapitel Der Gedankengang des ontotheologischen Arguments in der ersten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes Wir wollen nun im folgenden versuchen, die einzelnen Gedankenschritte der ersten Abteilung des Beweisgrundes in ihrem Zusammenhang möglichst genau und vollständig herauszuarbeiten, indem wir dabei zugleich ständig die Beziehung aufzeigen und den Vergleich durchführen mit den jeweils entsprechenden Positionen der Nova Dilucidatio. N u r so kann n. u. U. die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Fassungen des ontotheologischen Arguments eindeutig beantwortet werden. Dieses wird hier im Beweisgrund in vier Betrachtungen entwickelt und endet in deren letzter mit einer allgemeinen Charakterisierung desselben sowie einer Überleitung zur folgenden zweiten Abteilung, durch welche der Zusammenhang und das Verhältnis zwischen den beiden Abteilungen kurz, aber klar gekennzeichnet wird. In der ersten Betrachtung handelt Kant von dem Begriff des Daseins im allgemeinen, vor allem im Verhältnis zu dem der inneren Möglichkeit der Dinge, in der zweiten von der ineren Möglichkeit der Dinge und ihrer Bedingtheit durch ein Dasein. In der dritten von dem schlechterdings notwendigen Dasein bzw. dem schlechthin notwendig Daseienden und seinen wesentlichen Eigenschaften, womit der Gottesbegriff, soweit er auf dem rein ontotheologischen Weg bestimmt werden kann, umschrieben ist. In der vierten handelt er sodann ausdrücklich vom Dasein Gottes, wobei er diesen Begriff über die rein ontologischen Bestimmungen des notwendig Daseienden hinaus durch eine Theologia naturalis ergänzt, die ausgeht von den besonderen Eigenschaften des geistigen Seins bzw. der gegebenen Welt, um auf diese Weise dem notwendig Seienden die Eigenschaften des Wollens und Denkens zu sichern, womit erst der geistig-personale Charakter des absolut Notwendigen und damit der Gottesbegriff der Religion erreicht ist. In der 1. Betrachtung, die „ V o m Dasein überhaupt" überschrieben ist, führt er zunächst in einem einleitenden Abschnitt aus, daß er sich speziell in dieser metaphysischen Untersuchung nicht mit dem bloß klaren gemeinen Begriff des Daseins begnügen könne, wie es sonst sogar in der tiefsinnigsten Wissenschaft etwa mit dem klaren gemeinen Begriff „Vorstellung" möglich sei oder in der Geometrie mit dem gemeinen Begriff „ R a u m " , weil bei diesen Begriffen im Unterschied zu dem des Daseins kein Mißverstand zu befürchten sei. Das gelte im übrigen auch in dem ganzen übrigen Bereich der Weltweisheit sogar für den Begriff des Daseins selbst, außer in den für die Demonstration des Daseins Gottes entscheidenden Fragen des absolut notwendigen und des zufälligen Daseins; „denn hier hat eine subtilere Nachforschung aus einem unglücklich gekünstelten, sonst sehr reinen Begriff irrige Schlüsse gezogen, die sich über einen der erhabensten Teile

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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der Weltweisheit verbreitet h a b e n " 1 4 . W a s damit gemeint ist, ist k l a r : der ontologische Gottesbeweis Descartes', der das absolute Dasein als notwendig aus dem Begriff des ens realissimum resultierend betrachtet und die N o t w e n d i g k e i t des göttlichen Daseins als logische Widerspruchsnotwendigkeit erklärt hat. Aus diesem Grund kann Kant sich hier in der Frage der Demonstration des Daseins Gottes, in der der Begriff des notwendigen Daseins eine grundlegende Rolle spielt, u m derartige Verirrungen auszuschließen, nicht mit dem bloß gemeinen klaren Begriff begnügen und muß sich deshalb in dieser Betrachtung nolens volens zu einer gewissen „ A u f l ö s u n g " des sonst sehr einfachen und wohlverstandenen Begriffs des Daseins „ v e r s t e i g e n " I S . Allerdings wolle er nicht mit einer formellen Erklärung, d . h . mit einer Definition des Daseins, mit einer vollständigen Bestimmung des Begriffes, die alle Wesenselemente des Gegenstandes enthält, beginnen, sondern nach jenen methodischen Prinzipien vorgehen, die er dann ausführlich in seiner Preisschrift über die „ D e u t l i c h k e i t " zu Ende des Jahres 1762 entwickeln w i r d : „Ich werde so verfahren als einer, der die Definition sucht und sich zuvor von demjenigen versichert, was man mit Gewißheit bejahend oder verneinend von dem Gegenstande der Erklärung sagen kann, ob er gleich noch nicht ausmacht, w o r i n der ausführlich bestimmte Begriff desselben bestehe". Diese Methode sei es auch, von der er gerade in diesem P u n k t einige A u f klärungen erhoffe, die er vergeblich bei anderen gesucht h a b e ' 6 . Im Sinne dieser Vorbemerkungen bestimmt er sodann das Dasein zuerst negativ (n. 1): Das Dasein ist kein Prädikat, keine Determination irgend eines Dinges, und dann positiv ( n . 2 ) : Dasein ist die absolute Position eines Dinges im Unterschied zu der bloß beziehungsweisen, respektiven Position der Prädikate eines Dinges, w ä h r e n d er in einem abschließenden 3. Paragraphen den Unterschied zwischen dem Dasein und der Möglichkeit b z w . der ihrer eigentümlichen Setzung behandelt. Die für Kants Philosophieren grundlegende These „Dasein ist kein P r ä d i k a t " m u ß richtig verstanden werden. Kant erklärt diese Aussage selber: Dasein ist nicht eine Determination von irgendeinem Ding, wobei das Ding natürlich nicht als existierendes, sondern als bloß mögliches verstanden w i r d . Prädikat bedeutet also soviel wie positives Wesens- b z w . Soseinsmerkmal eines Dinges b z w . des Begriffs eines Dinges: W e n n man ein Ding mit all seinen erdenklichen positiven Bestimmungen oder Determinationen nimmt, selbst die des Ortes und der Zeit nicht ausgenommen, wie z . B . Julius Cäsar, so ist damit noch nicht entschieden, ob er existiert oder bloß existieren kann, d. h. bloß möglich ist: der Schöpfer der Welt könnte alle seine Prädikate ohne jede Ausnahme als solche erkennen und ihn doch als ein bloß mögliches Ding ansehen, das ohne seinen schöpferischen Willen nicht existierte. U n d so gebe es Millionen von Dingen nach allen ihren Prädikaten, die sie enthalten würden, wenn sie existierten, die bloß möglich sind und die das höchste Wesen mit allen diesen Prädikaten, so daß ihnen keine ihrer Bestimmungen fehlt, als bloß mögliche erkenne. Sie hätten also, wenn sie existierten, keine einzige Bestimmung, kein einziges Prädikat mehr als sie als bloß mögliche Dinge haben; „ d e n n bei der Möglichkeit eines Dinges nach seiner durch14 15 16

Ebd. 70 f. Ebendon Ebd. 71

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II. Teil

gängigen Bestimmung kann gar kein Prädikat fehlen: Und wenn es Gott gefallen hätte, eine andere Reihe der Dinge, eine andere Welt zu schaffen, so würde sie mit allen den Bestimmungen und keinen mehr existiert haben, die er an ihr doch erkennt, ob sie gleich bloß möglich ist" 1 7 . Diese wichtige η. 1 schließt mit dem Hinweis auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch, in dem auch das Dasein nach Art eines Prädikats ausgesagt wird, z . B . : das See-Einhorn existiert, oder regelmäßige Sechsecke existieren (in der Natur), Sätze, die im strengen Sinn der Prädikation folgendermaßen zu formulieren wären: einem gewissen existierenden Seetiere kommen die Merkmale oder Prädikate zu, die ich in dem Begriffe Einhorn zusammen denke, bzw. gewissen Dingen in der Natur kommen die Prädikate zu, die ich in dem Begriff regelmäßiges Sechseck zusammen denke. Und er erklärt diesen „gemeinen" Sprachgebrauch so: in diesen Beispielen, in denen das Dasein wie ein Prädikat ausgesagt wird, ist das Dasein nicht sowohl ein Prädikat von dem Dinge selbst (wobei Ding hier, wie aus dem unmittelbar Vorhergehenden deutlich wird, als mögliches Ding zu verstehen ist), sondern von dem Gedanken, den man davon hat, in dem Sinn nämlich, daß der „Gedanke" ein Erfahrungsbegriff ist, der ein existierendes Ding vorstellt: folglich muß die Existenz eigentlich in das Subjekt des Satzes: ein existierendes Ding ist ein SeeEinhorn, und nicht ins Prädikat, was strenggenommen bedeuten würde: der Begriff eines See-Einhorns als eines möglichen Dinges enthält das Dasein, was falsch wäre; denn jeder Begriff enthält grundsätzlich nur Prädikate der Möglichkeit und niemals das Dasein. Der ungenaue gemeine Sprachgebrauch sei für gewöhnlich unbedenklich, nur in den seltenen Fällen „einer höher gesteigerten Betrachtung" sei die richtige Formulierung bzw. die genaue Unterscheidung vonnöten, z . B . , wo man es darauf anlegt, das Dasein aus bloß möglichen Begriffen herleiten zu wollen, wie man zu tun pflegt, wenn man die absolut notwendige Existenz beweisen will 18 . Hier wird nochmal deutlich, daß diese ganzen Ausführungen über das Dasein in seinem Verhältnis zur Möglichkeit oder zu den Begriffen des Möglichen eine einschlußweise Widerlegung des ontologischen Beweises Descartes' darstellen. Diese η. 1 ist in dreifacher Hinsicht wichtig: fürs erste weil daraus klar hervorgeht, was Kant unter dem Begriff „Prädikat" oder „Determination" eines Dinges versteht: Es sind die positiven und negativen Merkmale oder Bestimmungen eines möglichen Dinges, womit sich Kant im übrigen vollkommen in der Terminologie seines Autors Baumgarten bewegt' 9 . Dabei umfaßt der Begriff des möglichen Dinges alle Soseinsmerkmale, einschließlich der individuellen, also die omnímoda determinano20. Die Existenz ist demgegenüber etwas grundsätzlich anderes: sie ist niemals die inhaltliche Bestimmung eines Möglichkeitsbegriffs und kann deshalb auch niemals aus dem Begriff eines möglichen Dinges abgeleitet werden. Fürs zweite, weil die Grundlage des Kantischen ontotheologischen Arguments hier deutlich bezeichnet wird: nämlich die Welt der möglichen Dinge,

Ebd. Ebd. " Ebd. 2 0 Ebd. 17

18

72 73, 72 XVII, 34, §§ 36 ff. I, 395 u. II, 76

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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wobei diese so vorgestellt wird, daß sie wesentlich über die der aktuell existierenden Dinge hinausreicht: „Wer kann in Abrede ziehen, daß Millionen Dinge, die wirklich nicht dasind, nach allen Prädikaten, die sie enthalten würden, wenn sie existierten, bloß möglich seien?" - daß also Gott Millionen andere Dinge, die nicht existieren, mit allen Prädikaten die sie haben würden, wenn sie existierten, als bloß mögliche erkennt? Kant diskutiert diese Voraussetzung seiner Argumentation nicht ausdrücklich, sondern übernimmt sie aus den Vorstellungen der damaligen Philosophie, die selbst wieder auf ältere der Scholastik zurückgehen, als selbstverständlich. Endlich drittens, was schon angedeutet wurde: daß die Möglichkeit als solche die durchgängige Bestimmung bis zur Individualität einschließt: „Bei der Möglichkeit eines Dinges nach seiner durchgehenden Bestimmung kann gar kein Prädikat fehlen" 21 . Damit aber taucht hier ein Ausdruck in der Kennzeichnung des möglichen Dinges auf, den wir schon aus der Prop. VII kennen: die omnímoda determinano, absque qua res existere nequit. Es ist eine ziemlich allgemein herrschende Meinung, daß Kant zur Zeit der Nova Dilucidado der Grundsatz: „Dasein ist kein Prädikat" noch unbekannt gewesen sei und daß er deshalb noch nicht vermocht hätte, den ontologischen Beweis mittels dieses Prinzips und damit überzeugend zu widerlegen, vielmehr nur den logischen Einwand dagegen habe vorbringen können, was keine wirkliche Widerlegung darstelle22. Nimmt man aber den eben angeführten Ausdruck ernst und vor allem auch den Zusammenhang, in dem er steht: daß nämlich auch die Privationen und Negationen zur omnímoda determinato gehören und daher die Existenz selber zu einer eingeschränkten machen, dann wird man ihn schwerlich anders verstehen können, als daß die Existenz selber nicht zur omnímoda determinatio gehört, also als etwas grundsätzlich anderes der ganzen Ordnung der Determinationen gegenübersteht. Was aber kann das anderes bedeuten als: Dasein ist kein Prädikat? Gewiß hat Kant damals dieses Prinzip nicht formell in Anspruch genommen, um den Cartesianischen Beweis zu widerlegen, aber es gibt außer diesem Ausdruck selber auch sonst gewichtige Gründe, die dagegen sprechen, daß Kant in der Nova Dilucidatio das Dasein als Prädikat des ens realissimum als Begriffs der Möglichkeit verstanden habe, ganz abgesehen davon, daß er in der Prop. VI und seinem Corollarium und Scholion nirgends das ausdrücklich behauptet, wie ihm hier unterstellt wird 23 . In der n. 2 bringt Kant sodann die positive Bestimmung des Daseins als absolute Position im Gegensatz zur bloß respektiven der Prädikate im Urteil bzw. in dem ihm zugrunde liegenden Begriff der Möglichkeit „Das Dasein ist die absolute Position eines Dinges und unterscheidet sich dadurch von jeglichem Prädikate, welches als ein solches jederzeit bloß beziehungsweise auf ein ander Ding gesetzt wird" 24 . Der Begriff der Position oder Setzung ist völlig einfach und identisch mit dem von Sein. Der Begriff des Seins kann nun ein Doppeltes bedeuten: die absolute Setzung eines Dinges, dann bedeutet er die Existenz desselben, oder die bloß respektive Setzung eines Dinges als Merkmal eines 21 22 23 24

Ebd. II 72; vgl. 76 Vgl. D. Henrich op. cit. 182, P. Laberge op. cit. 52ff. z . B . ausdrücklich bei Laberge op. cit. 52f. K G S II, 73

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II. Teil

anderen Dinges, bzw. die Position der Beziehung zwischen einem Ding und seinem Merkmal, dann bedeutet die Position nichts als den Verbindungsbegriff im Urteil, die Kopula , , i s t " . Das sei alles, was sich zur Auswicklung oder Auflösung dieses Begriffes des Daseins sagen l a s s e , „ d a ß er nämlich nicht mit den Verhältnissen, die die Dinge zu ihren Merkmalen haben verwechselt werde". Im übrigen sei dieser Begriff beinahe unauflöslich in dem Sinn, daß seine Merkmale nur wenig klarer und einfacher sind als die Sache selbst. Als Beispiel der bloß respektiven Setzung führt er den Satz an: G o t t ist allmächtig. Hier werde nur die logische Beziehung zwischen G o t t und Allmacht gedacht und gesetzt: daß nämlich die letztere ein Merkmal des ersteren sei, absolut werde hier nichts gesetzt, weder G o t t noch die Allmacht. Dann kommt er nochmals auf den Gedanken der bloß möglichen Welten zurück, jetzt unter dem Gesichtspunkt, daß das Dasein zu der M ö g lichkeit als ein außer ihr liegendes Moment hinzukommen müsse gemäß der Thematik des ganzen Abschnittes: Wenn G o t t über eine mögliche Welt sein allmächtiges Werde

spre-

che, dann setze er dem in seinem Verstand vorgestellten Ganzen keine neuen Bestimmungen oder Prädikate hinzu, etwa die Existenz als neues Prädikat, sondern er setzt diese ganze Reihe der Dinge, in der alles nur beziehungsweise auf dieses Ganze gesetzt war, mit iillen ihren Prädikaten absolut. D i e Beziehungen aller Prädikate zu ihren Subjekten bezeichnen niemals etwas Existierendes, und wenn nicht schon das Subjekt als existierend vorausgesetzt wird, so bleibe es bei jedem

Prädikat unbestimmt, ob es zu einem existie-

renden oder bloß möglichen Subjekt gehöre: das Dasein könne daher selber kein Prädikat sein. Sage ich: G o t t ist ein existierendes Ding, so scheint es, als wenn ich die Beziehung eines Prädikates zum Subjekte ausdrücke. Aber es sollte richtig heißen: Etwas Existierendes ist G o t t , d . h . einem existierenden Ding kommen diejenigen Prädikate zu, die wir zusammen genommen durch den Ausdruck „ G o t t " bezeichnen 2 5 . In n. 3 geht Kant dann ausdrücklich auf die Frage ein, in welchem Sinn im Daseienden mehr als im bloß Möglichen gesetzt sei. Gemäß dem Vorausgehenden ist allerdings schon klar, daß im Daseienden nicht mehr an Inhalten oder Bestimmungen gesetzt sein kann als im bloß Möglichen: D e n n alle Bestimmungen und Prädikate des Wirklichen können auch bei der bloßen Möglichkeit desselben angetroffen werden, aber die Setzung dieser Bestimmungen ist bei dem Wirklichen eine andere. D e r Unterschied liegt also in der Art, in dem Wie der Setzung: „ D e n n frage ich: Wie ist alles dieses bei der bloßen Möglichkeit gesetzt?, so werde ich inne, es geschehe nur beziehungsweise auf das Ding selber, d.i. wenn ein Triangel ist, so sind drei Seiten, ein beschlossener Raum, drei Winkel u. s. w . , oder besser: die Beziehungen dieser Bestimmungen zu einem solchen Etwas, wie ein Triangel ist, sind bloß gesetzt, aber existiert er, so ist alles dieses absolute, d. i. die Sache selbst zusammt diesen Beziehungen, mithin mehr gesetzt" 2 6 . Also mit einem W o r t : in einem Existierenden werde nichts mehr gesetzt als in einem bloß Möglichen (denn alsdann sei die Rede von den Prädikaten desselben), allein durch etwas Existierendes werde mehr gesetzt als durch ein bloß Mögliches, denn dieses gehe auch auf die absolute Position der Sache selbst. „Sogar ist in der bloßen Möglichkeit nicht die Sache selbst, sondern es sind bloße 25 26

Ebd. 74 Ebd. 75

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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Beziehungen von etwas zu etwas nach dem Satze des Widerspruchs gesetzt", womit sich bestätige, daß das Dasein eigentlich gar kein Prädikat von irgend einem Dinge sei 27 . Im letzten Absatz dieser Nummer 3 geht er kurz auf andere, damals geläufige Bestimmungen des Daseins ein, nämlich auf die von Wolff, Baumgarten und Crusius. Die Wölfische Erklärung des Daseins, es sei ein complementum possibilitatis, sei zu unbestimmt; denn wenn man nicht schon vorher wisse, was zur Möglichkeit des Dinges gehöre, d. h. konkret, wenn man nicht wisse, ob die Möglichkeit als solche schon die omnímoda determinatio enthalte oder aber auf Soseinsebene noch unvollständig sei, sei nicht klar, was complementum possibilitatis bedeute. In dieser Hinsicht ist Baumgartens Bestimmung eindeutig: nach ihm ist das Dasein jene innere Bestimmung eines Dinges, die dasjenige ergänzt, was durch die im Wesen liegenden und die daraus abfließenden Bestimmungen an ihm noch unbestimmt gelassen ist, also die Ergänzung des Wesens des Dinges zur omnimoda determinatio, was aber das Gegenteil des Kantischen Standpunktes bedeutet, nach welchem diese letztere die Voraussetzung ist, daß ein mögliches Ding existieren kann. Kant führt gegen die Auffassung Baumgartens zwei Gründe an: einmal, daß die Verbindung eines Dinges mit allen denklichen und möglichen Prädikaten niemals den Unterschied zwischen einem möglichen und einem wirklichen Ding ergebe; zweitens, daß die Voraussetzung Baumgartens, daß ein mögliches Ding im Hinblick auf viele Prädikate noch unbestimmt sei - durch Unbestimmtheit unterscheidet sich ja nach Baumgarten das mögliche von dem wirklichen Ding - , eine große Unrichtigkeit enthalte; denn es sei z . B . ein Mensch, der nicht eine bestimmte Statur, Zeit, Alter, Ort und dergleichen habe, nicht möglch, d. h. die omnimoda determinatio gehört zur Möglichkeit eines Dinges; m. a. W. sowohl die positiven wie die negativen Bestimmungen müssen als vollständig gegeben vorausgesetzt werden, damit man von einem möglichen Ding sprechen kann, denn kein Ding könne als mögliches Ding unbestimmt gedacht werden im Hinblick auf irgendeinen kontradiktorischen Gegensatz: es ist entweder weiß oder nicht weiß, und so fort in bezug auf alle möglichen Prädikate. Jedes mögliche Ding ist so in bezug auf alle möglichen Prädikate nach dieser Regel eindeutig bestimmt, d. h. was im Hinblick auf einen kontradiktorischen Gegensatz unbestimmt wäre, kann nicht existieren und ist infolgedessen kein mögliches Ding, was wiederum nichts anderes besagt als die omnimoda determinatio, absque qua res existere nequit. Aus diesem Grund sei aber auch die Crusianische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Möglichkeit und Dasein falsch, nach der das Irgendwo- und Irgendwannsein das Dasein eines Dinges über seine Möglichkeit hinaus bezeichnet; denn die Zeit- und Ortsbestimmung gehöre immer noch zu den Bestimmungen eines möglichen Dinges: „Denn so könnte an manchen bestimmten Orten mancher Mensch zu einer gewissen Zeit existieren, dessen alle Bestimmungen der Allwissende, so wie sie ihm beiwohnen würden, wenn er existierte, wohl kennt, und der gleichwohl wirklich nicht da ist" 2 8 . Wenn man dagegen einwenden wollte, daß das Irgendwo- und Irgendwannsein nur dann das Dasein bedeute, wenn das Ding an einem be-

27 28

Ebendort Ebd. 76

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stimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit wirklich da ist, würde man das zu Erklärende schon voraussetzen und folglich durch sich selbst erklären. In der Auffassung des Daseins unterscheidet sich also Kant grundsätzlich von der Wolffschule einerseits und von Crusius andererseits. Seine Position gleicht hier weitestgehend derjenigen der Disputationes Metaphysicae des Franz Suarez, wie wir noch im einzelnen sehen werden. Wichtig für das Verständnis seiner ontologischen Voraussetzungen ist nun näherhin die Bestimmung dessen, was er unter der bloß respektiven Position der Möglichkeit im Gegensatz zur absoluten des Daseins versteht, weil das mit dem Grundprinzip des ontotheologischen Schlusses zusammenhängt, daß die Möglichkeit kein ursprüngliches ontologisches Prinzip sein kann, sondern grundsätzlich eine absolute Position oder ein Existierendes voraussetzt. Was bedeutet die Aussage: In der Möglichkeit sei alles nur beziehungsweise aufeinander, bzw. sei im Grund nur die Beziehung zwischen den Dingen und ihren Prädikaten gesetzt und diese respektive Setzung werde durch den Verbindungsbegriff (copula) des Urteils ausgedrückt? Zunächst ist auf den Umstand hinzuweisen, daß diese Konzeption im Beweisgrund nicht neu ist, da sie sich im Grunde schon im Scholion der Prop. VII in der Nova Dilucidano findet, wenn auch in einem anderen Problemzusammenhang: nämlich nicht unter der Rücksicht des Verhältnisses zwischen Möglichkeit und Dasein, sondern unter der der Notwendigkeit der Wesenheiten. Es heißt dort: den Wesenheiten als solchen, in denen die innere Möglichkeit bestehe, kommt die Notwendigkeit nicht absolute zu, sondern nur respektive auf die Dinge, von denen sie ausgesagt werden, und er erläutert das an der Wesenheit Dreieck, die nicht an sich notwendig sei in dem Sinn, daß drei Seiten immer notwendig zum Dreieck verbunden gedacht werden, sondern nur so, daß sie dem gedachten „Ding" notwendig zukommen, d. h. si cogitas triangulum, cogitas necessario tria latera, quod idem est ac si dicis: si quid est, est. Hier aber heißt es: Wenn ich frage: ,,wie ist das alles bei der bloßen Möglichkeit gesetzt, so werde ich inne, es geschehe nur beziehungsweise auf das Ding selber, d. i. wenn ein Triangel ist, so sind drei Seiten, ein beschlossener Raum, drei Winkel etc. oder besser: die Beziehungen dieser Bestimmungen zu einem solchen Etwas, wie ein Triangel ist, sind bloß gesetzt . . . " Gewiß ist hier die Setzung selbst bzw. das Wie der Setzung gegenüber der absoluten Setzung der Existenz das eigentliche Thema, aber es ist doch unverkennbar, daß dort in der Nova Dilucidano die spezifische Setzung in der Möglichkeit genauso gekennzeichnet wird wie hier im Beweisgrund. Der Unterschied liegt lediglich darin, daß dort vermöge der Thematik die Möglichkeit, nur soweit sie essentia bedeutet, im Mittelpunkt steht und daher auch diese respektive Setzung als notwendiges competere im Gegensatz zur (verneinten) absoluten Notwendigkeit der Essenz selber erscheinen muß, während im Hinblick auf das bloße Verhältnis zwischen der absoluten Setzung der Existenz und der bloß respektiven der Möglichkeit dieser Aspekt der Notwendigkeit des competere nicht den formalen Gesichtspunkt enthalten kann, da ja die Möglichkeit des Dinges im vollen Sinn, d. h. als omnimode determinata, unendlich viele Bestimmungen mehr als die wesensnotwendigen umfaßt. Aber was die Setzung in der Möglichkeit als solche betrifft, ist kein Unterschied und die Tatsache, daß das gleiche Beispiel mit fast den gleichen Worten an beiden Stellen angeführt wird, ist sicher nicht zufällig.

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Was bedeutet aber näherhin diese respektive Setzung in sich selbst? Und hat sie irgend welche ontologische Bedeutung, und wenn ja, worin besteht sie? Zunächst könnte auf Grund der Ausführungen Kants der Eindruck entstehen, daß damit die Möglichkeit der Dinge zu einem bloß Logischen, zu einem bloßen Inhalt unseres urteilenden Denkens gemacht und ihr alle ontologische Bedeutung genommen werde. Dem steht jedoch entgegen, daß Kant in den vorausgehenden Nummern, wo er ausdrücklich von den bloß möglichen Welten sprach, gewiß nicht an die Urteile unseres (menschlichen) Verstandes dachte, in denen ja die Prädikate formell durch die Urteilskopula beziehungsweise auf die Subjekte gesetzt werden. Die Millionen bloß möglicher Dinge, von denen er dort spricht, sind gewiß nicht deswegen für Gott mögliche Welten, weil die für sie als mögliche Welten charakteristische respektive Position durch die Kopula unseres Urteils gesetzt würde. Oder wenn er sagt: Gott spreche über eine mögliche Welt sein allmächtiges Werde, so erteile er dem in seinem Verstand vorgestellten Ganzen keine neuen Bestimmungen, sondern setze diese Reihe der Dinge mit allen Prädikaten absolute oder schlechthin, so wird diese mögliche Welt als im Verstand Gottes und nicht in dem des Menschen vorgestellt bezeichnet, aber auch hier so, daß diese Möglichkeitswelt und die in ihr gegebene respektive Setzung offenbar nicht formal in der Vorstellung des göttlichen Verstandes besteht, sondern diesem als ein irgendwie in sich Bestehendes vorgegeben ist. In der I.Betrachtung der zweiten Abteilung heißt es demgemäß: ,,Es bietet nämlich die innere Möglichkeit der Dinge demjenigen, der ihr Dasein beschloß, Materialien dar, die eine ungemeine Tauglichkeit zur Ubereinstimmung und eine in ihrem Wesen liegende Zusammenpassung zu einem auf vielfältige Art ordentlichen und schönen Ganzen enthalten" 29 . Wie aber ist dann diese vorgängige ontologische Möglichkeit zu denken in bezug auf unseren urteilenden Verstand und in bezug auf die Vorstellung Gottes andererseits? Im Hinblick auf die letztere wird die Möglichkeit gewiß von Kant nicht gedacht als etwas unabhängig von Gott in sich Bestehendes ; denn er polemisiert schon in den frühesten Reflexionen gegen diese Vorstellung, die er Leibniz zuschreibt, und auch wiederum weiter unten im Beweisgrund selbst 30 . Aber sie hat nach ihm andererseits ihren Ursprung nicht im göttlichen Verstand als solchem, sondern im Wesen Gottes selbst. Aber das ist natürlich das Ergebnis erst der ganzen Argumentation des ersten Teiles und mag hier nur vorweggenommen werden, um an den eigentlichen Sinn der Möglichkeit bei Kant heranzukommen. Das Entscheidende in unserem gegenwärtigen Zusammenhang ist das Verhältnis der Möglichkeit zu unserem menschlichen Denken, das ja hier mit der Identifizierung ihrer spezifischen Setzung mit der Urteilskopula zunächst und eindeutig angesprochen ist. Nimmt man alle Stellen im Beweisgrund und in den Reflexionen, die darüber etwas aussagen, zusammen, dann kann kein Zweifel bleiben, daß Kant hier der Möglichkeit, nicht anders als in der Nova Dilucidatio, eine ontologische Bedeutung, nämlich die einer dem Dasein vorausgehenden Seinsdimension, zuweist, und nur unter dieser Voraussetzung kann er ja auch von der Möglichkeit der Dinge auf ein absolut notwendiges Dasein schließen. Aber wie ist diese ontologische Bedeutung bzw. diese ontologische Dimension zu 29 30

Ebd. 100 Ebd. XVII, 230ff (RR 3704, 3705) und II, 112, 125

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denken, wenn andererseits die eigentümliche respektive Setzungsweise der Möglichkeit mit der der Urteilskopula identifiziert wird, die doch eine spezifische Funktion unseres Denkens, unseres Bewußtseins ist? Hier sind n. u. Ü. zwei Grundüberzeugungen Kants im Spiel: die eine, daß die Gesetze der Identität und des Widerspruchs keine bloß logischen, keine bloßen Denkgesetze sind, sondern primär ontologische Bedeutung haben. Dieser Standpunkt Kants ist nun keineswegs originell: er übernimmt ihn aus dem Baumgartenschen Kompendium über Metaphysik, das ihm als Vorlage für seine Vorlesungen diente: Dort steht unter dem Titel Praedicata entis interna universalia an erster Stelle das Possibile. Dieses wird definiert als „non nihil, aliquid, repraesentabile, quidquid non involvit contradictionem, quidquid non est A et non-A" (§ 8). Aber auch das Prinzip der omnímoda determinatio hat er hier gefunden (freilich so, daß er nicht wie Baumgarten die Existenz unter die Determinationen einbezieht): Omne possibile est aut A, aut non-Α, aut neutrum; iam neutrum est nihilum, quia esset utrumque. Ergo omne possibile aut est A, aut non-Α, seu omni subiecto ex omnibus praedicatis contradictoriis alterutrum convenit (§ 10). In den Paragraphen 11 bis 13 finden wir eine Definition des möglichen bzw. unmöglichen Dinges, an die die obigen Formulierungen der Nova Dilucidado und des Beweisgrundes unmittelbar anknüpfen, in denen die grundlegende Bedeutung des Ontologischen gegenüber dem LogischBegrifflichen hinreichend klar zum Ausdruck gebracht wird. Omne possibile A est A, seu quidquid est, illud est, seu, omne subiectum est praedicatum sui. Si negas : quoddam possibile A est non-A, hinc A et non A, seu nihil, quod impossibile. Haec propositio dicitur principium positions, seu, identitatis (§ 11). Posito impossibili oritur contradictio . . . Positio A et non-Α oritur contradictio. Posito A et B, quo posito ponitur non-Α, ponitur impossibile, hinc oritur contradictio, prior patens ( . . . ) posterior latens (§§ 12, 13). Die Gesetze des Widerspruchs, der Identität und des ausgeschlossenen Dritten werden so auch bei Baumgarten als Grundsätze der Möglichkeit der Dinge aufgefaßt und damit primär als etwas Ontologisches, wobei für ihn (und die Wolffschule) wie für den frühen Kant das Nichtwidersprüchliche oder Identische eo ipso das ontologisch Mögliche bedeuteten. Soviel zur ersten Voraussetzung, von der Kant in seinem ontotheologischen Argument ausgeht. Die andere Grundauffassung, die er damals noch mit dem Rationalismus eines Leibniz und der Wolffschule teilte, ist die, daß wir mit unseren Begriffen eine tiefere Dimension der Wirklichkeit erreichen, als es die der konkret existierenden Erfahrungsdinge ist, nämlich die ihrem Dasein vorgängige ihrer ontologischen Möglichkeit, womit ganz natürlich die Annahme verbunden ist, daß die Region der Möglichkeiten sich über die tatsächlich existierenden Dinge hinaus erstreckt. Wenn nun Kant sagt, daß die Position in den Möglichkeiten nur eine respektive der Prädikate in Beziehung auf ihre Subjekte sei und durch die Urteilskopula ausgedrückt werde, dann ist damit gegeben, daß die ontologische Dimension der Möglichkeiten genau der Struktur des Urteils entspricht, bzw. daß diese letztere genau die Struktur der Möglichkeit vergegenwärtigt nach der Identitätsformel: si quid est, est. Es ist also nicht so, daß die Möglichkeit erst durch die begriffliche Abstraktion bzw. durch das Urteil konstituiert würde, sondern sie ist als Möglichkeit und damit als Position der Identität dem Denken vorgegeben. Daß Kant von dieser Voraussetzung ausgeht, geht aus seinen ver-

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schiedenen Aussagen und Erklärungen deutlich hervor. So urteilt er abschließend über sein ontotheologisches Argument: „Der Beweisgrund . . . , den wir geben, ist lediglich darauf erbauet, weil etwas möglich ist. Demnach ist er ein Beweis, der vollkommen a priori geführt werden kann. Es wird weder meine Existenz noch die von anderen Geistern noch die von der körperlichen Welt vorausgesetzt" 31 . Das heißt: es ist ein Beweis, der von dem Bereich der Möglichkeiten als einer von der Existenz endlicher Geister und der materiellen Dinge unabhängigen ontologischen Dimension ausgeht. Der Ausgangspunkt kann also nicht formell durch mein,,cogito" konstituiert sein, folglich auch nicht die respektive Positionsweise in den Möglichkeiten durch die Urteilskopula als solche. Ferner sagt er in einer in verschiedener Hinsicht wichtigen und aufschlußreichen Reflexion aus den letzten fünfziger oder den ersten sechziger Jahren, in der R 3706: „Wenn die Verknüpfung eines Prädikats mit einem Ding nicht willkürlich [wie die der Flügel mit dem Pferd im Pegasus], sondern durch die Sache selbst gegeben ist, dann kommt es ihm nicht darum zu, weil ich es in ihm gedenke, sondern es ist notwendig, in ihm solches zu gedenken darum, weil es ihm an sich selbst zukommt. Weswegen ich nicht sagen kann, daß einem Triangel die Gleichheit der Winkel mit zweien rechten nur in Gedanken, sondern an sich selbst zukomme. Es hindert auch dieses nicht, daß ich ein dergleichen möglich Ding nur gedenke [d.h., daß es nicht in Wirklichkeit, sondern nur in Gedanken existiert], denn es ist an sich selber immer etwas, obgleich es niemand gedenkt, und das Prädikat kommt ihm an sich selbst zu, obgleich es niemand damit verbindet"32. Dieses Zukommen ist aber nichts anderes als die respektive Position. Also auch hier gilt: Das „ist" der respektiven Position wird von Kant primär als eine ontologische und erst sekundär als logische Setzung, als die der Urteilskopula als solcher, gedacht. Das Reich der Möglichkeiten ist somit für Kant etwas sowohl dem menschlichen wie auch dem göttlichen Verstand Vorgegebenes. Worin besteht nun näherhin diese ontologisch verstandene respektive Setzung der Möglichkeit? Kant spricht in diesem Zusammenhang gewöhnlich von der respektiven Setzung der Prädikate in einem Möglichkeitsbegriff bzw. der durch ihn vergegenwärtigten Möglichkeit, wie etwa der Allmacht in dem Wesen, in der Möglichkeit „Gott". Hier ist der Begriff der respektiven Setzung deutlich: es ist einfach die notwendige identische Setzung eines Wesensmerkmals mit dem bereits als konstituiert vorausgesetzten möglichen Wesen, wie es in der Nova Dilucidatio hieß: Si cogitas triangulum, cogitas necessario tria latera, quod idem est ac si dicis: si quid est, est. Das gilt aber ebenso auch im Hinblick auf die logisch zufälligen Bestimmungen eines durchgängig hinsichtlich aller kontradiktorischen Gegensätze bestimmten Dinges. Diese Weise der respektiven Setzung ist also ontologisch ohne weiteres verständlich. Für Kant hat sie hier deshalb eine zentrale Bedeutung, weil sich aus ihr ergibt, daß aus einem Begriff der Möglichkeit niemals eine absolute Setzung, d. h. ein Dasein abgeleitet werden kann, weil alle in einem solchen enthaltenen Merkmale nur respektive gesetzt sind. Darüber hinaus aber läßt sich fragen: in welchem Sinn kommt den möglichen Dingen selbst nur eine respektive Setzung zu? Oder 31 32

Ebd. II, 91 Ebd. XVII, 240f (kurs. Verf.)

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anders ausgedrückt: wie sind nach Kant die möglichen Dinge, d.h. die Subjekte der bisher behandelten respektiven Setzung selbst ontologisch konstituiert? Der Philosoph hat diese Frage nicht ausdrücklich gestellt, aber die Antwort darauf ist in seiner Konzeption der Möglichkeit implizit enthalten: Die Möglichkeiten werden als Möglichkeiten konstituiert durch die gegebenen einfachen Materialgehalte, die nur durch ein Dasein begründet sein können, und durch das ihnen immanente ontologische Grundprinzip der Identität bzw. des Widerspruchs. In den Materialien: Seiten, Winkel, eingeschlossener Raum etc. ist die Möglichkeit ihrer Zusammensetzung zum Dreieck nach dem Gesetz der Identität gegeben und damit die Möglichkeit „Dreieck". Und so auch bei den anderen Elementargehalten unserer Begriffe, die an sich immer etwas sind, auch wenn sie von niemand gedacht werden, und die als solche mögliche Verbindungen zu vollständig bestimmten Dingen enthalten, denen das Dasein zukommen kann. Wenn Kant in der Nova Dilucidatio sagte: ut sit in genere quod cogitari possit, unde resultet postea combinando, limitando notio quaevis rei cogitabilis 33 , oder wenn er hier im Beweisgrund sagt, daß Gott durch sein allmächtiges Werde dem in seinem Verstände vorgestellten Ganzen einer möglichen Welt kein neues Prädikat hinzufüge, sondern damit nur ,, diese Reihe der Dinge, in welcher alles sonst nur beziehungsweise auf dieses Ganze gesetzt war, mit allen Prädikaten absolute oder schlechthin" setze 34 , dann wird damit hinreichend deutlich, daß die Möglichkeiten selber, d.h. die möglichen Dinge, ontologisch nichts anderes sind, als die an sich bestehenden Kombinationsmöglichkeiten der gegebenen einfachen Realgehalte zu möglichen Dingen gemäß dem ontologischen Identitäts- und Widerspruchsprinzip. Damit ist aber auch die respektive Position, die für die möglichen Dinge als mögliche gegenüber der absoluten der existierenden charakteristisch ist, in ihrem Wesen deutlich geworden: es ist ihre Vereinbarkeit nach dem Widerspruchsprinzip oder ihre materiale Identität: das „ist" des ontologisch verstandenen Identitätssatzes bedeutet für die materiale Identität der zu möglichen Dingen zusammengesetzten Realgehalte deren respektive Position. Damit glauben wir den Ausgangs- oder Ansatzpunkt des Kantischen apriorischen Gottesbeweises hinreichend gekennzeichnet zu haben. In der 2. Betrachtung des Beweisgrundes: Von der inneren Möglichkeit, insofern sie ein Dasein voraussetzt, wird zunächst grundsätzlich und in abstracto die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Ordnung der Möglichkeiten und dem Dasein überhaupt behandelt. Demgegenüber wird im Syllogismus der Nova Dilucidatio die prinzipielle Frage nicht ausdrücklich gestellt, sondern es wird unmittelbar von dem Gegebensein der Inhalte unserer Möglichkeitsbegriffe, von dem suppetere derselben für unser Denken, darauf geschlossen, daß die objektiven Realgehalte unserer Begriffe ein Dasein, also, um mit Descartes zu sprechen, eint formelle und aktuelle Realität haben müssen: nisi quicquid est in omni possibili notione reale existât. Zum Zwecke der grundsätzlichen Behandlung der obigen Frage wird hier im Beweisgrund zunächst ausdrücklich die Lehre von dem doppelten Prinzip der Möglichkeit, dem formalen und materìalen, entwickelt. Dabei bestimmt er das Formalprinzip des Möglichen, entsprechend der bereits oben bezeichneten 33 34

Ebd. I, 395 f. Ebd. II, 74

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Logik, vom Formalprinip des Unmöglichen her: alles was in sich selbst widersprechend ist, ist unmöglich . . . „Diese Repugnanz nenne ich das Formale der Undenklichkeit oder Unmöglichkeit; das Materiale, was hiebei gegeben ist, und welches in solchem Streite steht, ist an sich selber etwas und kann gedacht werden". Ein Widersprüchliches als solches kann nicht gedacht werden, weil es an sich selber nichts ist, wie es bei Baumgarten heißt: praedicatorum contradictoriorum nullum est subiectum, seu nihil est, et non est: „Ein Triangel, der viereckicht wäre, ist schlechterdings unmöglich. Indessen ist gleichwohl ein Triangel, imgleichen etwas Viereckichtes an sich selber etwas" 3 5 . So haben wir also im Unmöglichen zwei Elemente: die an sich möglichen und Etwas seienden Gehalte als Materialprinzip und das Element ihres logischen Widerspruchs als Formalprinzip. Entsprechend ist es auch beim Möglichen: hier haben wir auch die an sich Etwas seienden Materialgehalte und die Übereinstimmung derselben mit dem Satz des Widerspruchs als das logische oder formale Prinzip der Möglichkeit: „Ich werde dieses letztere auch das Logische in der Möglichkeit nennen, weil die Vergleichung der Prädikate mit ihren Subjekten nach der Regel der Wahrheit nichts anders als eine logische Beziehung ist, das Etwas oder was in dieser Ubereinstimmung steht, wird bisweilen das Reale der Möglichkeit heißen" 3 '', wobei Kant in diesem Zusammenhang mit Nachdruck betont, daß er hier jederzeit von keiner anderen Möglichkeit oder Unmöglichkeit als der inneren und schlechterdings und absolute so genannten spreche. Wenn er aber hier das Formalprinzip der Möglichkeit das Logische der Möglichkeit nennt, so darf das ebensowenig wie das des Unmöglichen als etwas bloß für das Denken Gültiges betrachtet werden: es sind im Gegenteil formale Prinzipien der Inhalte, die an sich selber etwas sind und deshalb auch gedacht werden können, wie denn auch schon in Prop. III der Nova Dilucidatio der Widerspruchssatz als Gesetz des ontologisch Unmöglichen gekennzeichnet wird 3 7 . Nach dieser Analyse der inneren Möglichkeit, in der sowohl das Material- und Formalprinzip ausdrücklich entwickelt werden, in der aber zugleich auch klar wird, daß er das ontologisch Mögliche ebenso wie Baumgarten schlechthin mit dem Denklichen identifiziert, stellt er die zentrale These dieser Betrachtungen auf: Die innere Möglichkeit aller Dinge setzt irgendein Dasein voraus. Damit ist nun jener erste Schluß des Arguments der Nova Dilucidatio: daß das Reale unserer Möglichkeitsbegriffe existieren muß, in der ausführlichen Entwicklung desselben im Beweisgrund nicht nur ins Grundsätzliche abgewandelt, sondern es wird auch der dort naheliegende Eindruck korrigiert, als handle es sich lediglich um unsere Begriffe und ihre Inhalte, also um etwas bloß Logisches, und nicht um die Möglichkeiten der Dinge, die durch unsere Begriffe vergegenwärtigt werden. Das ist aber nur der erste Teil des im ersten Schlußschritt der Nova Dilucidatio Enthaltenen: quod nihil tamquam possibile concipi possit, nisi quicquid est in omni possibili notione reale existât: d. h. ohne Existenz des Materialen der Möglichkeiten würde alle

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Ebd. 77; beachte: Das Materiale der Möglichkeitsbegriffe wird auch hier wie in der vorher angeführten R 3706 als „an sich selber etwas" bezeichnet, das gedacht werden kann, also als vom Denken unabhängiger Ggenstand des Denkens. Ebd. 77 f. Ebd. I, 391

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Möglichkeit aufgehoben, d.h. undenklich und unmöglich werden. Daraus ergibt sich in der grundsätzlichen und abstrakten Darstellung dieses Verhältnisses: daß die innere Möglichkeit aller Dinge irgendein Dasein voraussetzt, weil es sonst kein Materiales der Möglichkeiten geben könnte, was nun weiterentwickelt wird in den Satz, daß es schlechterdings unmöglich ist, daß gar nichts existiere, oder anders ausgedrückt: daß etwas existieren muß, damit es überhaupt Möglichkeit geben kann bzw. überhaupt Mögliches denkbar ist. Der Grund aber für die schlechthinnige Unmöglichkeit, daß überhaupt nichts existiere, ist kein anderer als jener, der in der Nova Dilucidatio für die notwendige Existenz der Realgehalte des Möglichen angegeben wird: weil die Aufhebung aller Existenz die schlechthinnige Unmöglichkeit alles Möglichen bedeuten würde. Dieses : es ist unmöglich, daß gar nichts existiere, steht also sozusagen zwischen dem ersten Schlußschritt der Nova Dilucidatio: Das Reale in den Möglichkeiten läßt sich nicht denken, wenn dieses Reale nicht existiert, und dem zweiten: es läßt sich nicht denken, wenn es nicht auch notwendigerweise existiert, wobei die Begründung für diesen letzteren Schluß auch schon für den mittleren gilt: denn in jedem Fall würde sich die Unmöglichkeit alles Möglichen und damit das absolute Nichts ergeben, was unmöglich ist. Man sieht hier deutlich, wie Kant hier den äußerst zusammengedrängten Schluß der Prop. VII in seine inneren Momente entfaltet und zugleich die leicht mißverständliche Formulierung desselben verdeutlicht: als Ausgangspunkt des Schlusses erscheint nun ausdrücklich die ontologische Möglichkeit aller Dinge, was in der Prop. VII durch die Formulierung des Schlußverfahrens eher verdeckt und nur durch die These selbst und die Ausführungen des Scholions eindeutig klargemacht wird; der Schluß geht demgemäß hier auch nicht unmittelbar auf die Existenz der Materialgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe selbst wie in der Prop. VII, was den Gedanken nahelegen mußte, daß diese Materialgehalte formell als solche existieren und notwendig existieren müssen, sondern lediglich auf irgendein Existierendes, durch das das Materiale der Möglichkeiten gegeben sein kann; und zwar aus der Einsicht, daß sie in ihrem Sein oder Gegebensein als solche Inhalte des Möglichen nicht aus sich selbst verständlich sind und daher einer Begründung durch ein anderes, das nur ein Existierendes sein kann, bedürfen, während das Formale der Möglichkeiten als Identität mit sich selbst oder Ubereinstimmung ihrer Elemente nach dem Widerspruchsprinzip durch sich selbst verständlich ist und kein anderes zu seiner Erklärung nötig hat. Das Materiale aber bedarf einer weiteren Begründung. Es genügt hier also nicht, wie Tonelli richtig gesehen hat, das Prinzip des Widerspruchs wie beim Formalprinzip, um die Möglichkeit zu erklären, sondern es wird das Prinzip des Grundes gefordert, weil das Möglichsein der einfachen Gehalte nicht mehr durch das Prinzip des Widerspruchs begriffen werden kann. Der Schluß auf ein Existierendes wird im Grunde genauso begründet wie in der Prop. VII, nur daß, statt auf die Existenz der Realgehalte selber, auf irgendeine fundierende Existenz geschlossen wird; es könnte kein Mögliches geben, wenn die Realgehalte der Möglichkeiten nicht in irgend einem Existierenden begründet wären. „Es ist aus dem anjetzt Angeführten deutlich zu sehen, daß die Möglichkeit wegfalle, nicht allein wenn ein innerer Widerspruch als das Logische der Unmöglichkeit anzutreffen, sondern auch wenn kein Materiale, kein Datum zu denken da ist. Denn alsdann ist

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nichts Denkliches gegeben, alles Mögliche aber ist etwas, was gedacht werden kann, und dem die logische Beziehung gemäß dem Satze des Widerspruchs zukommt" 3 8 . Hier scheint die ganze Diskussion der Möglichkeit auf die Ebene des Denkens bzw. der Denklichkeit verlagert zu sein, das Mögliche scheint in das Denkliche aufgelöst: die Denklichkeit als solche das Prinzip zu sein, von dem die Argumentation ausgeht. In der Nova Dilucidano war die Rede von dem suppetere der Materialgehalte für das Denken und das denkende Vergleichen, von dem suppetere der Teilbegriffe zur Bildung der Begriffe aller möglichen Dinge, von dem Gegebenwerden (datur) der Materialgehalte der Begriffe für den Vergleich nach dem Widerspruchsprinzip. Hier heißt es: die Möglichkeit verschwindet, wenn kein Datum zum Denken da ist, denn dann sei nichts Denkliches mehr gegeben, und alles Mögliche sei etwas, das gedacht werden kann und dem die logische Beziehung gemäß dem Widerspruchsprinzip zukomme. Aber genau betrachtet, wird in diesen Formulierungen die Deutung, daß die Denklichkeit qua Denklichkeit der formale Ausgangspunkt des Schlusses sei, auch schon wieder korrigiert: das Mögliche ist das Etwas, das gedacht werden kann. Denn damit ist ein Zweifaches gesagt: Das Mögliche ist nicht das Gedachte als solches, oder der mögliche Gedanke als möglicher Gedanke, sondern das Etwas, das gedacht werden kann, aber nicht gedacht werden muß, und dem auch, wenn es nicht gedacht wird, die logische Beziehung nach dem Widerspruchsgesetz zukommt, und zwar deswegen, weil es immer auch etwas an sich ist, auch wenn es niemand „gedenkt", auch wenn kein denkendes Subjekt existierte, das es denken könnte, auch keine materiale Welt existierte, in dem es verwirklicht ist, also auch dann immer noch etwas, dem die Beziehung der Identität bzw. des Nichtwiderspruchs zukommt. Die Identifizierung des Möglichen mit dem Denklichen darf also nicht dazu verleiten, die Möglichkeit der Dinge im Sinne einer ihrem empirischen Dasein vorgängigen ontologischen Dimension als den eigentlichen Ausgangspunkt des Kantischen Arguments zu verkennen oder zu übersehen. Der Schluß aber, daß das Materiale der Möglichkeit ein Dasein voraussetzt, wird hier im Prinzip genauso geführt wie in der Nova Dilucidatio: Wenn alles Dasein als aufgehoben gedacht wird, dann ist nichts absolute gesetzt, dann kann es auch kein Materiales zu einem Denklichen bzw. Möglichen geben. Daraus ergibt sich unmittelbar die weitere Folgerung: Wenn gar nichts existiert und damit auch die Materialgehalte der Möglichkeit nicht irgendwie Existenz haben, kann es keine solchen Materialgehalte des Denklichen geben und alle Möglichkeit fällt gänzlich weg. Denn es ist zwar kein Widerspruch in dem Gedanken, daß gar nichts existiere, wohl aber in dem, daß gar nichts existiere und trotzdem etwas möglich sei, weil das Gegebensein von Materialgehalten eben nur durch Existierendes denkbar ist. Denn die Aufhebung aller Existenz bedeutet, daß ganz und gar nichts ist, und man widerspreche sich, wenn man behaupte, es sei trotzdem etwas möglich. Denn wenn alle Absolutsetzung aufhöre, verschwinde damit notwendig alle respektive Setzung. Diese letztere erscheint damit als etwas Sekundäres, Abkünftiges gegenüber der absoluten Setzung. Hier stellt sich dem Interpreten, der aus moderner Sicht die Texte betrachtet, allerdings ein Problem, das Joseph Geyser so formuliert hat: „Was bei den elementaren Wesenhei38

Ebd. II, 78

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ten ein Problem sein kann, ist nicht ihre innere, sondern einzig ihre äußere Möglichkeit (d. h. ob es eine Ursache gibt, die sie verwirklichen kann). Bedarf es, damit diese Wesenheiten, rein als Wesenheiten, möglich seien, eines gewissen Wirklichen, zu dessen Wesenheit sie sich als Folge verhalten? Die Ausführungen Kants enthalten, scheint mir, nichts, was die Bejahung dieser Frage logisch begründen könnte" 39 . Aber Kant denkt hier scholastischer als der moderne Scholastiker Geyser. Für ihn sind die Wesenheiten nicht Idealgebilde platonischer Art, die als absolut in sich wesend gedacht werden könnten, sondern sie sind mögliche Dinge und das bedeutet possibilia esse, und sie sind etwas „Reales" und Sinnhaftes nur durch diese Beziehung auf das mögliche Dasein. Auf Grund dieser Realbedeutung können sie nicht als sich selbst genügende, absolute Prinzipien vorgestellt werden, verlangen sie vielmehr eine letzte ontologische Begründung in einem Dasein, in einer formellen oder aktuellen Realität, um mit Descartes zu sprechen4". Der Grundgedanke dieses Kantischen Schlusses von den Möglichkeiten auf ein sie begründendes Dasein beruht also auf der einfachen ontologischen Überlegung, daß Möglichkeit als possibilitas essendi nicht als etwas schlechthin Ursprüngliches, sondern nur als etwas dem Prinzip des Daseins Nach- und Untergeordnetes gedacht werden kann, wie schon Crusius und andere vor ihm gelehrt hatten. Aus dem Gedanken nun, daß es unmöglich sei, alle Möglichkeit als unmöglich zu denken, ergibt sich im Zusammenhang mit dem eben Gesagten unmittelbar die Folgerung: Es ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiere. Hier wird also bereits für die Unmöglichkeit der Aufhebung aller Existenz der Grund in Anspruch genommen, der in der Nova Dilucidatio mehr implizit als Begründung des notwendigen Daseins der Materialgehalte des Möglichen gegeben worden war: nihil omnino possibile i. e. non nisi impossibile foret, und zwar durchaus konsequent, weil das die allgemeinere Voraussetzung betrifft, daß etwas als möglich gedacht werden kann, die sich unmittelbar aus dem Grundsatz ergibt, daß Möglichkeit nur auf Grund von Existierendem denkbar ist. Die hier behauptete und bewiesene Notwendigkeit ist aber eine bloß logische Notwendigkeit einer Existenz und noch nicht die Modalität einer notwendigen Existenz. Diese ergibt sich erst in der folgenden Betrachtung durch die weitere Analyse des Begriffes der Unmöglichkeit der Aufhebung alles Möglichen. Aber man sieht bereits hier, wie gedrängt der Gedankengang der Beweisführung der Nova Dilucidatio in der Tat ist. Denn der Schluß, daß es schlechterdings unmöglich ist, daß gar nichts existiere, würde dort noch zum ersten Schritt gehören: nihil tamquam possibile concipi possit, nisi, quicquid est in omni possibili notione reale, exsistat ... Die der diesbezüglichen These des Beweisgrundes entsprechende Explizitierung des Schlusses der Propositio VII würde lauten: Es ist schlechterdings unmöglich, daß die Realgehalte unserer möglichen Begriffe nicht auf irgendeine Weise existieren, weil auch für diesen Fall schon gelten würde: non nisi impossibile foret: Es würde alle Möglichkeit des Möglichen aufgehoben, was unmöglich ist. Damit wäre nun freilich nicht der ganze Inhalt der neuen These des Beweisgrundes: es sei schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiere, gedeckt. Denn die Nichtexistenz der 39 40

Joseph Geyser, Das Prinzip vom zureichenden Grund, Regensburg 1929, 107 Descartes, Meditationes, Med. III a

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Realgehalte aller Möglichkeitsbegriffe ist nicht ohne weiteres identisch mit der Aufhebung aller Existenz: hier kommt nicht nur das Summarische, sondern auch das Unvollständige der Argumentation der Prop. VII gegenüber der Formulierung der Propositio selbst, die ja an Klarheit und Schärfe nicht mehr überboten werden kann, klar zutage. Kant hat sicher bei längerer Reflexion über den Beweisgang seiner Prop. VII das Unzureichende desselben erkannt und damit auch die Notwendigkeit, das Argument neu zu formulieren, um es zur vollständigen Deckung mit der These der Propositio selbst zu bringen. Dies verlangte vor allem, daß das seiner Argumentation zugrunde liegende Prinzip der Bedingtheit aller Möglichkeit durch ein Existierendes allgemein formuliert wurde und als Grundprinzip im Beweisgang selbst figurierte; also nicht nur: wenn die Materialgehalte nicht irgendwie existierten, gäbe es keine Realgehalte des Möglichen und damit nur Unmögliches, weshalb sie notwendig existieren müssen, sondern: wenn überhaupt nichts existierte, könnte es keine Materialgehalte des Möglichen geben und damit nur Unmögliches, weshalb notwendig irgend etwas existieren muß. Die erste Formulierung ist insofern problematisch, als aus der Nichtexistenz der Realgehalte des Möglichen nicht eo ipso folgt, daß es nur Unmögliches gebe und sie folglich unbedingt existieren müssen, weil es ja noch eine andere Möglichkeit geben konnte, nämlich die Möglichkeit des absolut Notwendigen, die als solche nicht in den Realgehalten unserer Möglichkeitsbegriffe und damit der möglichen Dinge erscheint. Folglich hätte Kant im Rahmen seines damaligen Gedankenganges eigentlich nur schließen können: wenn die Inhalte des Möglichen nicht irgendwie existierten, könnte es keine Realgehalte für unser Denken möglicher Dinge geben, aber nicht es könnte dann schlechterdings nur Unmögliches und damit das absolute Nichts geben, also auch nicht schließen, daß diese Realgehalte der möglichen Dinge notwendig existieren. Wird aber, wie hier im Beweisgrund, die These der Bedingtheit der Möglichkeit durch die Existenz allgemein und grundsätzlich formuliert, dann greift sozusagen die dort für die notwendige Existenz der Realgehalte als Grund der Möglichkeiten gegebene Begründung schon für die Annahme einer Existenz überhaupt; denn die Aufhebung von Existenz überhaupt bedeutet dann die Aufhebung aller Existenz schlechthin, also auch jeder denkbaren Existenz außerhalb der Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe, auch jener absoluten, deren Möglichkeit nicht eine Folge einer Existenz, sondern Bestimmung ihrer Existenz selbst ist. Wenn überhaupt nichts existiert, dann ist überhaupt nichts möglich, dann ergibt sich wirklich die Aufhebung aller Möglichkeit als das schlechthin Unmögliche, und dadurch wird es erst möglich zu schließen: es ist unmöglich, daß gar nichts existiert. Mit diesem Grundsatz des Beweisgrundes wird also der Schluß der Nova Dilucidatio nicht nur explizitiert, sondern auch korrigiert, und damit dem dort gegebenen Beweisziel, wie es in der Formulierung der These bezeichnet wird, adäquat gemacht. Damit ist nun das eine Grundprinzip des ontotheologischen Beweisganges klar herausgearbeitet: daß die Möglichkeit des Inhaltlichen der Possibilien nur auf Grund eines Existierenden denkbar ist. Das zweite tragende Prinzip der Argumentation ist in der Analyse dieser n.2 schon wiederholt zutage gekommen: daß es schlechterdings unmöglich und undenklich sei, daß alle Möglichkeit aufgehoben werde. Hier hat immer wieder die Kritik der Interpreten eingesetzt: warum soll es undenklich, also widersprüchlich sein, alle

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Möglichkeit als aufgehoben zu denken, wenn, wie Kant selber sagt, in der Verneinung aller Existenz kein innerer Widerspruch ist 41 . Und immer wieder hat man in diesem Zusammenhang den Einwand erhoben, Kant gebrauche hier den Begriff unmöglich in einem verschiedenen Sinn, womit sein Grundsyllogismus im Grunde mit 4 Termini arbeite: Unmöglichkeit im logischen Sinn und Unmöglichkeit im realen Sinn, oder Unmöglichkeit im Sinn des Widersprüchlichen und der „inammissibilità" „Unzugebbarkeit" des absoluten Nichts. N u n bemüht sich aber Kant gerade hier in Absatz n.3 der 2. Betrachtung um die Etablierung eines allgemeineren und radikaleren Begriffs des Unmöglichen, im Verhältnis zu dem der des Widersprüchlichen sozusagen eine Spezies darstellt: dieser Begriff lautet: unmöglich ist das, wodurch alle Möglichkeit aufgehoben wird, oder was alle Möglichkeit unmöglich machen würde. Auf diese Bedeutung wird von Kant auch das Widersprüchliche zurückgeführt: Das Widersprüchliche ist nicht nur ein Undenkliches, ein Ungedanke, bzw. nicht nur die Aufhebung oder Negierung einer bestimmten ontologischen Möglichkeit wie etwa der eines viereckigen Kreises; nicht deswegen ist der viereckige Kreis etwas schlechthin Unmögliches, weil dieser bestimmte Gedanke oder diese bestimmte Möglichkeit durch den Widerspruch sich selbst aufhebt, sondern weil dadurch das Formalprinzip aller Möglichkeit, nämlich das der Identität oder Übereinstimmung mit sich selbst, und damit alle Möglichkeit aufgehoben würde. Darum also ist das Widersprüchliche etwas schlechterdings Unmögliches, weil es ein alle Möglichkeit von Möglichem Aufhebendes ist. Wenn Baumgarten formuliert: praedicatorum contradictoriorum nullum est subiectum, seu nihil est, et non est, so sagt er damit nur, daß sich dieser besondere Gedanke, diese besondere Möglichkeit selbst zunichte macht, aufhebt. Kant betont demgegenüber, die absolute Unmöglichkeit des Widersprüchlichen ist erst dadurch begründet, daß durch die darin enthaltene Negierung des Prinzips der Identität bzw. des Widerspruchs, des Formalprinzips alles Möglichen, alle Möglichkeit aufgehoben und die schlechthinnige Unmöglichkeit und Undenklichkeit folgen würde: das absolute Nichts, das die Aufhebung der Möglichkeit alles Möglichen bedeutet, ist für Kant das schlechterdings Unmögliche. Dieses absolute Nichts und schlechthin Unmögliche resultiert nun nach ihm in einem noch radikaleren, weil fundamentaleren Sinn aus der Aufhebung des Realprinzips aller Möglickeit: Wenn die Realgehalte von möglichen Dingen absolut bedingt sind durch ein Existierendes, dann bedeutet die Aufhebung aller Existenz ebenso eine schlechthinnige Aufhebung aller Möglichkeit, d. h. die Unmöglichkeit alles Möglichen, und folglich ist es undenkbar und unmöglich, daß gar nichts existiert; und wenn alle Möglichkeit von einem bestimmten Existierenden abhinge, so daß die Aufhebung dieses bestimmten Existierenden die Unmöglichkeit alles Möglichen nach sich ziehen müßte, dann ist es auch schlechthin unmöglich, daß dieses bestimmte Existierende nicht existiert, d . h . dann existiert dieses bestimmte Seiende absolut notwendigerweise. Aber so weit sind wir hier noch nicht, das ist erst das Thema der 3. Betrachtung. N u n folgt bei Kant in der n. 4 der 2. Betrachtung ganz logisch die grundsätzliche Diskussion des Verhältnisses zwischen der den Möglichkeiten zugrunde liegenden Existenz und den Möglichkeiten der Dinge selber, wobei er unterscheidet zwischen der Möglich41

z.B. A. Riehl, Der philos. Kritizismus, Lpz. 1908, Bd. I, 307f.

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keit als Bestimmung eines Wirklichen (Existierenden) und als Folge eines Wirklichen (Existierenden). Auch diese Unterscheidung ist von den Interpreten an dieser Stelle kritisiert worden: so bemerkt z.B. Reich in seiner Einleitung von 1963, Kant beginne sogleich ( !) mit der Unterscheidung zwischen der Möglichkeit als Bestimmung eines Seienden und der Möglichkeit als dessen Folgen; diese Unterscheidung sei nach dem Zusammenhang völlig u n b e g r ü n d e t . . . 4 2 In Wirklichkeit führt der Philosoph diese Unterscheidung ein auf dem Höhepunkt seiner ontotheologischen Analysen und Argumentationen, unmittelbar vor der Ableitung des zentralsten, sozusagen des Angel-Begriffs der ganzen Argumentation, nämlich desjenigen des notwendig Daseienden, den er im nächsten Beweisschritt von der Basis des Grundsatzes: es ist absolut unmöglich, daß gar nichts existiert, gewinnen wird. Der Einführung dieser Unterscheidung sind in der Tat die wichtigen Analysen und Beweisführungen der 1. und 2. Betrachtung vorausgegangen, und andererseits ist zu beachten, daß die 4. Betrachtung nicht mehr von dem eigentlich ontotheologischen Ansatz ausgeht, und überdies, daß die folgende 3. Betrachtung nur mehr in den beiden ersten Absätzen einen substanziellen Fortschritt der Argumentation bringt, während die Ableitung der ontologischen Attribute des notwendig Seienden in Wahrheit nichts weiter als eine Explizitierung des mit dem Begriff des letzteren Gewonnenen bedeutet. Es wäre also viel richtiger zu sagen, daß Kant auf dem Höhepunkt seiner Argumentation die Unterscheidung zwischen Möglichkeit als Bestimmung eines Wirklichen und als Folge eines Wirklichen einführt. Fürs zweite ist die Einführung dieser Unterscheidung im Kontext des Beweisgrundes durhaus begründet. Denn bisher hatte Kant nur von den Möglichkeiten der Dinge gehandelt und den Grundsatz aufgestellt, daß ihre Möglichkeit ein Dasein voraussetze und nur in einem Dasein begründet sein könne, womit er im Grunde noch nicht über den Gedanken des ersten Beweisschrittes der Nova Dilucidatio hinausgekommen war. Indem er nun aber diesen Gedanken hier im Unterschied zur letzteren negativ und damit universal formuliert: wenn gar nichts existiert, kann es auch keine Möglichkeit, folglich nur Unmöglichkeit geben, trifft er in abstracto auch jenes Dasein, dem seine Möglichkeit nicht vorausgeht, sondern (logisch) folgt, bzw. als seine Bestimmung mit ihm identisch ist. Damit aber ist ihm Gelegenheit gegeben, bevor er zum Beweis der absolut notwendigen Existenz in der nächsten Betrachtung übergeht, das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Dasein in grundsätzlicher und alle Fälle umfassender Weise zu diskutieren, womit er zugleich den eben angedeuteten folgenden Beweisschritt vorbereitet: denn hierbei geht es gerade um jenen Fall, von dem er sagt, es könne von ihm noch kein Beispiel gegeben werden, da er erst im folgenden behandelt werde. Die ganze Gedankenfolge zeigt evident, daß es sich bei dem Verhältnis, nach welchem die Möglichkeit in dem Wirklichen als eine Bestimmung gegeben ist, nicht um jenes handelt, von dem in den ganzen bisherigen Analysen die Rede gewesen war: daß die Möglichkeiten eine Existenz als Grund erfordern, sondern um ein völlig neuartiges, das sich von dem bisher behandelten wesentlich unterscheidet.

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Kl. Reich, Der einzig mögliche Beweisgrund, 1963, Einleitung

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Liest man in diesem Kontext die ersten Sätze der n.4 der 2. Betrachtung, so kann n. u. Ü keinerlei Zweifel diesbezüglich übrigbleiben: „Es ist von aller Möglichkeit insgesamt und von jeder insonderheit darzutun, daß sie etwas Wirkliches, es sei nun ein Ding oder mehrere, voraussetze. Diese Beziehung aller Möglichkeit auf irgendein Dasein kann nun zwiefach sein. Entweder das Mögliche ist nur denklich, insofern es selber wirklich ist, und dann ist die Möglichkeit in dem Wirklichen als eine Bestimmung gegeben; oder es ist möglich darum, weil etwas anders wirklich ist, d. i. seine innere Möglichkeit ist als Folge durch ein ander Dasein gegeben. Die erläuternden Beispiele können noch nicht füglich hier herbeigeschafft werden. Die Natur desjenigen Subjekts, welches das einzige ist, das zu einem Beispiele in dieser Betrachtung dienen kann, soll allererst erwogen werden" 4 3 . Dagegen läßt das bisher behandelte Verhältnis zwischen Dasein und Möglichkeit eine abschließende Charakterisierung zu: „Indessen bemerke ich nur noch, daß ich dasjenige Wirkliche, durch welches als einen Grund die innere Möglichkeit anderer gegeben ist, den ersten Realgrund dieser absoluten Möglichkeit nennen werde, so wie der Satz des Widerspruchs der erste logische Grund derselben ist, weil in der Ubereinstimmung mit ihm das Formale der Möglichkeit liegt, so wie jenes die Data und das Materiale im Denklichen liefert" 44 . Kant versucht nun im letzten Abschnitt der 2. Betrachtung dieses zuletzt genannte Verhältnis, „den Gedanken von dem selbst bei der inneren Möglichkeit [d. h. nicht nur bei der äußeren] jederzeit zum Grunde liegenden Dasein" durch die Analyse von Beispielen wie „feuriger Körper" oder „listiger Mensch" in eine größere Nähe zu den gemeinen Begriffen eines gesunden Verstandes zu bringen. Wir haben gesehen, wie Laberge gerade diesen Abschnitt für seine spinozistische Interpretation der ersten Fassung des Arguments in der Prop. VII der Nova Dilucidatio in Anspruch nehmen will: daß Kant hier die letzten Data, wie den Raum, als existierende, und ferner, daß er sie als einfache, d. h. als nicht durch Privationen eingeschränkte und damit als unendliche voraussetze: ferner, daß er die von Kant formulierte Alternative, der Raum als Datum eines möglichen Dinges müsse wenigstens durch etwas Existierendes als Folge gegeben sein, als Korrektur seines ursprünglichen Gedankens deutet, durch die die spinozistische Folgerung der Argumentation verhindert werden soll. Aber der Sinn dieser Erklärung kann im Gesamtkontext des Abschnittes und der ganzen 2. Betrachtung nur der folgende sein: nachdem Kant das Problem der einfachen Realgehalte der Möglichkeiten, wie eines feurigen Körpers oder eines listigen Menschen, scharf auf den Punkt eingestellt hat, daß deren einfachen Realgehalte schlechterdings nicht mehr durch das Prinzip des Widerspruchs in ihrer Möglichkeit begriffen werden können, bleibt als Antwort auf die Frage, wie sie möglich seien bzw. in ihrer Möglichkeit begreiflich seien, nur die Berufung auf ein Dasein: entweder daß sie selber existieren, d . h . von einem erfahrenen Existierenden abstrahiert sind, oder daß sie wenigstens durch etwas Existierendes als dessen Folge gegeben sind, wobei aber die erste Alternative auf Grund der Problemstellung, daß es sich um reine, aller empirischen Existenz vorgängige und von ihr unabhängige Möglichkeiten handle, schon ausge43 44

K G S II, 79 Ebd. 79 f.

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schlossen ist. Diese erste Alternative ist als Antwort nur möglich, wenn die Frage grundsätzlich und ganz allgemein gestellt wird: Wie können die materialen Realgehalte unserer Begriffe in ihrer Realgültigkeit begriffen werden; denn dann ist die nächstliegende Erklärung die, daß sie etwas Existierendes vergegenwärtigen, damit sind sie in ihrer Realbedeutung begriffen. Aber diese Lösung scheidet hier offensichtlich aus, weil ja erklärt werden soll > wie die einfachen Materialgehalte von möglichen Dingen in ihrer Möglichkeit als etwas und nicht nichts begriffen werden können, wenn gar nichts Erfahrbares existiert. Hier bleibt nur die 2. Alternative, daß sie durch etwas Existierendes als eine Folge gegeben sind, nämlich jenes Existierende, das er vorausgehend als den ersten Realgrund der inneren, absoluten Möglichkeit bezeichnet hatte und damit als Pendant ihres ersten Formalgrundes, des Widerspruchsprinzips. In der 3. Betrachtung soll nun zunächst der zentrale Begriff der ganzen Argumentation, der des notwendigerweise Daseienäen, bestimmt sowie seine Wirklichkeit bewiesen und die in diesem Begriff enthaltenen Wesenseigenschaften abgeleitet werden. Kant entwickelt den Begriff von der Nominaldefinition des absolut Notwendigen aus: schlechterdings notwendig ist das, dessen Gegenteil an sich unmöglich ist, indem er fragt: worauf kommt es denn an, damit das Nichtsein eines Dinges schlechterdings unmöglich sei? In diesem Zusammenhang nimmt er wiederum die Gelegenheit wahr, die Erklärung der Notwendigkeit des Daseins als logische Widerspruchsnotwendigkeit, wie sie im Cartesianischen Beweis vorausgesetzt wird, abzulehnen, und zwar mit der Begründung: „Das Dasein ist gar kein Prädikat und die Aufhebung des Daseins keine Verneinung eines Prädikats, wodurch etwas in einem Ding sollte aufgehoben werden und ein innerer Widerspruch entstehen können". Die Aufhebung des Daseins bedeute nur die Verneinung der Absolutsetzung des Dinges und seiner Eigenschaften, was aber die logischen Beziehungen zwischen ihm und diesen letzteren nicht tangiere. Also es werde durch das Nichtsein nicht dasselbe, was in einem Ding als einem möglichen gesetzt ist, sondern etwas anderes aufgehoben, so daß durch die Aufhebung des Daseins niemals ein Widerspruch entstehen könne. Die logische Widerspruchsnotwendigkeit ist deshalb auf die Prädikate bloß möglicher Dinge beschränkt. Die absolute Notwendigkeit des Daseins ist von grundsätzlich anderer Art: sie ist nicht absolute logische, sondern absolute Äed/notwendigkeit. Demgemäß ist auch jene absolute Unmöglichkeit, deren Gegenteil die Notwendigkeit des Daseins ist, nicht die logische eines Widersprüchlichen, sondern eine von realer Art. Um diese reale Unmöglichkeit zu bestimmen, geht Kant aus von dem bereits erwähnten allgemeineren Begriff des schlechterdings Unmöglichen: schlechthin nichts und unmöglich ist, was alles Denkliche vertilgt. Diese Unmöglichkeit als absolutes Nichts kann sich nun auf zweifache Weise ergeben: einmal durch das Widersprüchliche, weil dadurch das Formalprinzip alles Denklichen bzw. alles Möglichen aufgehoben wird und damit alle Möglichkeit und Denklichkeit unmöglich wird, oder aber aus der Aufhebung oder Negierung des letzten Realgrundes alles Denklichen oder Möglichen: „Ich nehme daraus alsbald ab, daß, wenn ich alles Dasein überhaupt aufhebe, und hiedurch der letzte Realgrund alles Denklichen wegfällt, gleichfalls alle Möglichkeit verschwindet, und nichts mehr zu denken bleibt. Demnach kann etwas schlechterdings notwendig sein, entweder wenn durch sein Gegenteil das Formale alles Denklichen aufgehoben wird, d. i. wenn es

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sich selbst widerspricht, oder auch, wenn sein Nichtsein das Materiale zu allem Denklichen und alle Data dazu aufhebt." Da das erstere niemals beim Dasein stattfinde, sondern nur bei den Dingen als möglichen im Verhältnis zu ihren Prädikaten, schließt Kant emphatisch :, ,So ist entweder der Begriff von der schlechterdings notwendigen Existenz gar ein täuschender und falscher Begriff, oder er muß darin beruhen, daß das Nichtsein eines Dinges zugleich die Verneinung von den Datis zu allem Denklichen sei" 45 . Denn das bleibe als die einzige Möglichkeit, eine absolute Realmöglichkeit oder absolute Notwendigkeit der Existenz zu denken. Daß es sich aber um einen wahren Begriff handle, werde im folgenden dargetan. Man könnte sich fragen: Welchen Fortschritt bedeutet das hier Gesagte über die These der n.3 der vorausgehenden Betrachtung: es ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiere, hinaus? Dort wurde aus eben demselben Grund, nämlich daß die Aufhebung alles Denklichen oder Möglichen schlechterdings unmöglich sei, geschlossen, daß es unmöglich ist, daß gar nichts existiere, oder daß notwendig etwas existieren müsse. Dieses „notwendig" bedeutet eine logische Notwendigkeit, das Gegenteil also einen Widerspruch: „Allein daß irgend eine Möglichkeit sei und doch gar nichts Wirkliches, das widerspricht sich", nämlich wenn es richtig ist, daß es Mögliches nur auf Grund von Wirklichem geben kann. Hier aber, bzw. in dem folgendem Abschnitt 2 wird aus demselben Grund der Unmöglichkeit der Aufhebung alles Möglichen bzw. alles Denklichen auf die Notwendigkeit des Daseins des alle Möglichkeit begründenden Prinzips geschlossen, d . h . die Modalität seines Daseins näher bestimmt. Wie beweist nun Kant aus dem bezeichneten Grunde die These dieser n.2 der S.Betrachtung: „Es existiert ein schlechterdings notwendiges Wesen"? Hier ist zunächst anzumerken, daß er diese These in der n. 2 nicht vollständig, sondern nur partiell beweist, nämlich nur, daß etwas, eines oder mehrere Dinge, notwendigerweise existieren müsse, weil ohne das alle Möglichkeit der Dinge verschwinden und das völlige Nichts der Möglichkeit bzw. Denklichkeit resultieren würde, was schlechterdings unmöglich ist. Wir stehen hier also genau vor dem zweiten Glied des ersten Schlußschrittes der Nova Dilucidatio: et quidem (quoniam si ab hoc discesseris, nihil omnino possibile, h. e. non nisi impossibile foret) existet absolute necessario. Warum aber kann nur ein notwendigerweise Existierendes die Realgehalte der Möglichkeiten begründen? Der Grund für diesen weiteren Schritt ist derselbe wie für den vorhergehenden, daß überhaupt etwas existieren muß, wenn etwas möglich sein soll, bzw. daß es absolut unmöglich ist, daß gar nichts existiere: weil damit alle Möglichkeit aufgehoben würde und die Aufhebung aller Möglichkeit absolut unmöglich ist. Denn wenn es unmöglich ist, daß alle Möglichkeit aufgehoben wird, dann muß es nicht nur irgendwie ein Existierendes geben, sondern es muß dieses alle Möglichkeiten begründende Existierende ebenso unaufhebbar sein wie die Möglichkeit von Möglichkeiten selbst, d . h . es muß schlechthin notwendigerweise existieren, und das bedeutet, daß es so existieren muß, daß die eigene Möglichkeit ihm lediglich durch sein Dasein selbst gegeben, eine Bestimmung seines Daseins ist, und diesem Dasein also nicht seine Möglichkeit vorausgeht. Denn es ist offensichtlich, daß ein kontingent Existieren45

Ebd. 82

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des, dem die eigene Möglichkeit als Bedingung vorausgeht, weder alle Möglichkeit noch (anteilmäßig) die absolute Unaufhebbarkeit aller Möglichkeit begründen kann. Nun wäre das, absolut gesprochen, a priori auf drei Weisen denkbar, wobei aber die erste für Kant im Ernst nicht in Frage kommt. Diese drei Weisen eines alle Möglichkeit begründenden und damit notwendigen Daseins wären entweder 1) daß alle Dinge, die existieren und existieren können, absolut notwendig existieren und somit nur möglich sind insofern sie existieren, d. h. ihre Möglichkeit eine notwendige Bestimmung ihrer Existenz ist, so daß sie zusammengenommen zugleich alle Möglichkeit durch ihre Existenz realisierten; oder 2) daß es mehrere in dieser Weise notwendig existierende Dinge über der Welt gibt, die als überempirisch Daseiende alle Möglichkeit der Dinge der Erfahrung und aller anderen bloß möglichen Welten als Folgen begründen; oder 3) daß es nur ein einziges in dieser Art notwendig existierendes Dasein über der Welt gibt, weil es die Möglichkeit aller anderen Dinge, der existierenden sowohl als der bloß möglichen, begründet. Die erste Alternative scheidet für Kant a limine aus mehr als einem Grunde aus: Einmal, weil die Dinge der Erfahrung, wenn ihnen die Existenz in dieser Weise notwendig zukäme, als absolut unabhängig voneinander sich nicht gegenseitig im Wirken beeinflussen könnten (für Kant ist die dynamische Wirkgemeinschaft der eindeutigste Beweis der Kontingenz der Weltursachen, d.h. dafür, daß ihnen keine notwendige Existenz zukommt). Ferner, weil ein notwendig Existierendes, dem keine Möglichkeit vorangeht, sondern die eigene Möglichkeit nur als ihre Bestimmung zukommt und so mit ihm selbst identisch ist, nicht anders existieren kann, als es existiert, und folglich unveränderlich und ewig sein würde, was die Substanzen der Welt offensichtlich nicht sind. Und schließlich, weil es in dieser Voraussetzung überhaupt kein bloß Mögliches geben könnte, für Kant es aber selbstverständlich ist, wie wir sahen, daß ganze Welten von Dingen bloß möglich sind, die tatsächlich nicht existieren, aber existieren könnten. Also bleibt für ihn nur die zweite und dritte Alternative, die uns als die einzig diskutablen zu Beginn der n. 2 der 3. Betrachtung vorgestellt werden und in den Beweis der absolut notwendigen Existenz eingehen: „Alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings notwendig. Demnach existiert etwas absolut notwendiger Weise. Bis dahin erhellt, daß ein Dasein eines oder mehrerer Dinge aller Möglichkeit zugrunde liege, und daß dieses Dasein an sich selbst notwendig sei" 4(S . Kant faßt also hier ausdrücklich auch die Möglichkeit ins Auge, daß das alle Möglichkeit der Dinge begründende und damit notwendige Dasein mehreren Seienden zukommen könnte, oder mit den Worten der Nova Dulucidatio ausgedrückt, daß die Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe, die notwendig existieren müssen, auf mehrere notwendig Seiende verteilt sein könnten. Der in diesem Zusammenhang sehr wichtige Beweis, daß die alle Möglichkeit begründende Existenz nur eine einzige sein kann, wird in der folgenden Nummer (3) unter dem Titel: Das notwendige Wesen ist einig [d.h. ein 46

Ebd. 83 (kursiv Verf.)

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einziges] geführt, womit erst die These d e r n . 2 : „Es existiert ein schlechterdings notwendiges Wesen", vollständig bewiesen ist. Aber dieser Beweis der Einzigkeit des notwendig Seienden bzw. der Ausschluß der Hypothese, daß gegebenenfalls auch eine Mehrzahl notwendig Seiender als begründendes Prinzip der Möglichkeiten in Frage kommen könnte, wird bereits in der zweiten Hälfte der n. 2 vorbereitet durch die Entwicklung des Gegenbegriffs des absolut Notwendigen, nämlich des Begriffs des Zufälligen sowohl in logischer wie in realer Bedeutung: des ersteren in jenen Prädikaten der Dinge, deren Gegenteil ihrem Wesen nicht widerspricht, wie das etwa für die Rechtwinkligkeit als Eigenschaft des Dreiecks der Fall ist; des letzteren, des Zufälligen im realen Sinn, d . h . des zufällig Existierenden als desjenigen, dessen Gegenteil oder Nichtsein denkbar oder möglich ist, weil dadurch nicht alles Denkliche bzw. Mögliche aufgehoben wird. „Dasjenige Dasein, wodurch nicht das Materiale zu allem Denklichen gegeben ist, ohne welches also noch etwas zu denken, das ist, möglich ist, dessen Gegenteil ist im Realverstande möglich, und das ist [= existiert] in demselben Verstände auch zufällig" 47 . N u n in diesem Begriff des zufällig Existierenden liegt eigentlich schon implizit der Beweis für die Einzigkeit des notwendig Daseienden. Denn wenn das notwendig Seiende insofern notwendig ist, als es alle Möglichkeit begründet, so daß ohne es alle Möglichkeit zur Unmöglichkeit würde, dann kann dieses Begründende nicht eine Vielheit von notwendig seienden Wesen sein in dem Sinn, wie die Nova Dilucidado sie hypothetisch angenommen hatte. Denn dann ließe sich jedes dieser die Möglichkeiten begründenden Seienden als aufgehoben denken, ohne daß damit alle Möglichkeit als aufgehoben, d . h . als unmöglich gedacht werden müßte. Also verlangt der Begriff der Notwendigkeit des die Möglichkeiten begründenden Seienden seine Einzigkeit. Dieser Gedanke liegt in der Tat dem nun folgenden Beweis der Einzigkeit des notwendig Seienden in n.3 zugrunde. Der Zusammenhang wird sofort deutlich, wenn wir den Begriff des absolut notwendigen Seienden als der alle Möglichkeit begründenden Existenz auf eine hypothetische Vielheit solcher Realprinzipien anwenden: wenn mehrere Existierende alle Möglichkeiten begründen sollen, dann könnten sie das nur so, daß jedes einzelne auch die Möglichkeit dieser anderen (notwendig) Existierenden begründen würde. Damit würden sie aber alle in ihrer Möglichkeit jeweils von allen anderen notwendig Existierenden abhängig. Ein notwendig Seiendes kann aber nicht in seiner Möglichkeit durch ein anderes Existierendes bedingt, sondern muß mit seiner Möglichkeit identisch sein. Folglich könnte eine solche Vielheit nur kontingent existieren. Das ist aber bereits der Gedankengang des Beweises der Einzigkeit des notwendig Seienden in n. 3 : „Weil das notwendige Wesen den letzten Realgrund aller anderen Möglichkeit enthält, so wird ein jedes andere Ding nur möglich sein, sofern es durch ihn als einen Grund gegeben ist. Demnach kann ein jedes andere Ding nur als eine Folge von ihm stattfinden und ist also aller Dinge Möglichkeit und Dasein von ihm abhängend . . . Mithin können nicht mehrere Dinge absolut notwendig sein" 48 .

47 48

Ebdort Ebd. 83f.

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Man sieht hier deutlich, daß erst im Beweisgrund der Beweis der These der Nova Dilucidado: Datur ens, cuius existentia praevertit ipsam et ipsius et omnium rerum possibilitatem, quod ideo (!) absolute necessario dicitur, vollständig als apriorischer Beweis aus der Analyse des Begriffes der absoltuen Realnotwendigkeit konsequent und vollständig durchgeführt wird, während in der Nova Dil., wie wir gesehen haben, die Argumentation hinter dem, was die These eigentlich aussagt, zurückbleibt und der Ergänzung durch die der vorausgehenden Prop. VI bedarf ; man versteht also, daß Kant das Bedürfnis hatte, nach der Nova Dilucidatio diesen für ihn so wichtigen Beweis mit strafferer logischer Konsequenz und mit größerer Vollständigkeit thematisch durchzuführen. Der Beweis der Einzigkeit des notwendig Seienden ist demnach in der Entwicklung des ontotheologischen Arguments des Beweisgrundes so eng mit dem Schluß auf die notwendige Existenz als das alle Möglichkeit begründende Prinzip selbst verbunden, daß das eine ohne das andere nicht bewiesen werden kann, und zwar deswegen, weil beide sich aus demselben Prinzip ergeben. Im Grunde beruht aber auch der Beweis für die Einfachheit, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit und die unendliche Realität oder die Allgenugsamkeit dieses Wesens nur auf der näheren Analyse dieses Begriffs des absolut notwendig Daseienden. Der Beweis der Einfachheit dieses notwendig Existierenden ist offensichtlich nahe verwandt mit dem seiner Einzigkeit. Einfach, das bedeutet hier ein nicht aus mehreren Substanzen zusammengesetztes Wesen, kein Aggregat von Substanzen. Kant faßt drei Möglichkeiten ins Auge, wie ein solch zusammengesetztes Wesen als notwendig daseiend denkbar wäre: entweder so, daß nur eine dieser Teilsubstanzen notwendig, die anderen aber zufällig existieren, oder aber, daß mehrere oder alle dieser Teilsubstanzen notwendig sind; oder schließlich, daß keine derselben für sich, sondern nur alle zusammen notwendig sind. Die erstere Alternative ist deswegen unmöglich, weil alle anderen Teilsubstanzen in ihrer Möglichkeit und in ihrem Dasein dann nur als Folgen der notwendig existierenden denkbar wären und also nicht als Teile zu ein und derselben (notwendigen) Substanz gehören könnten. Die zweite deswegen, weil, wenn alle zusammen als notwendig gedacht werden, das der Definition des Notwendigen widerspricht, die verlangt, daß das notwendig Seiende alle Möglichkeit begründet und seine Aufhebung alle Möglichkeit vernichten würde, während in dieser Hypothese durch keine der notwendigen Substanzen alle Möglichkeit begründet wäre. Ebenso die dritte, weil einem Agrégat von Substanzen nicht mehr an Notwendigkeit zukommen kann, als den Teilen, aus denen es besteht. Also könnte ein solches Aggregat von zufälligen Substanzen auch nur zufällig existieren. Gegen diese letztere Argumentation könnte man nun, das ist der etwas weiter explizierte Gedanke Kants, den Spieß umdrehen und sagen, daß die hier vorausgesetzte Möglichkeit genau durch die Definition des absolut Notwendigen gedeckt werde, nämlich als desjenigen, durch das alle Möglichkeit begründet werde, insofern in diesem Fall alle Möglichkeiten durch eine Vielheit von Seienden begründet würden, die dann folgerichtig in ihrer Ganzheit notwendig wäre. Hier kehrt also als Einwand die Annahme des zweiten Beweisschrittes des Arguments der Nova Dilucidatio wieder, daß die notwendig seienden Realgehalte des Möglichen in einer Mehrheit von existierenden Dingen ursprünglich wirklich sei. Der Unterschied liegt lediglich darin, daß dort jedes einzelne Glied dieser

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II. Teil

Vielheit als notwendig vorausgesetzt wurde, weil die Realgehalte unserer Möglichkeitsbegriffe schon als notwendig existierend bewiesen waren, während hier die notwendige Existenz ausdrücklich nur der Gesamtheit dieser die Möglichkeiten begründenden Seienden zugesprochen wird, weil hier ohne einen solchen vorausgegangenen Beweis lediglich aus dem Begriff der absolut notwendigen Existenz argumentiert wird. Kant konnte in seiner Antwort deshalb hier nicht so argumentieren wie in der Nova Dilucidano; denn diese Argumentation, daß beschränkte Dinge nur kontingent existieren können, hätte den Einwand nicht getroffen, da dieser gerade von der Voraussetzung ausging, daß diese je einen Teil der Möglichkeit begründenden Seienden für sich zufällig seien. Er mußte also anders argumentieren, und er tat es auf seine Weise, die den Ausgangspunkt seines ontotheologischen Arguments noch zusätzlich verdeutlicht. Er sagt: Diese Annahme sei eine auf verborgene Weise vorgestellte große Ungereimtheit: denn man setze hier voraus, daß durch die Aufhebung einer bzw. jeder beliebigen dieser begründenden Existenzen ein Teil der inneren Möglichkeiten aufgehoben werden könnte, ohne dadurch die durch die anderen begründeten mitaufzuheben. Das aber sei unmöglich, denn das würde bedeuten, daß die innere Möglichkeit selbst aufgehoben werden könnte, was bedeuten würde, etwas als nichts zu erklären, was ganz undenklich sei; diese Undenklichkeit und Unmöglichkeit aber bedeute, gemäß der obigen Erklärung der absoluten Unmöglichkeit, die im Widersprüchlichen liegt, daß damit alle Möglichkeit aufgehoben wäre; denn, ,eine innere Möglichkeit aufheben, ist [soviel wie] alles Denkliche vertilgen". Daraus erhellt, daß die Möglichkeiten nicht in einer Vielheit von existierenden Substanzen, wie immer sie auch gedacht werden mag, begründet sein können, sondern daß in einer einzigen die Data zu allem Denklichen gegeben sein müssen, deren Aufhebung somit die Aufhebung aller Möglichkeit bedeuten würde und damit unmöglich ist; folglich, daß „was den letzten Grund von einer inneren Möglichkeit enthält, ihn auch von aller überhaupt enthalte, mithin dieser Grund nicht in verschiedenen Substanzen verteilt sein könne" 4 9 . Hier wird deutlich, daß von Kant die Möglichkeiten als solche bzw. ihre Realgehalte als schlechthin unaufhebbar gedacht werden und ihre Aufhebung mit dem schlechthin Unmöglichen gleichgesetzt wird. Daß das wirklich die Überzeugung Kants war, die seiner ontotheologischen Argumentation zugrunde lag, geht aus den Reflexionen der frühen sechziger Jahre hervor, in denen den Möglichkeiten schlechthin die gleiche Notwendigkeit zugeschrieben wird wie der sie begründenden Existenz: so in R 3712 „Das Merkmal des absolut notwendigen Wesens kann . . . nicht darin (sein), daß es als ein letzter Grund von allem, was da ist, angesehen wird, sondern daß es ein Grund ist von allem überhaupt, sowohl was da ist, als was möglich ist; denn da die Möglichkeit überhaupt gewiß notwendig ist, so ist alsdenn das, was den Grund enthält, auch so"; und in R 3736 (n. 3) : Ideo nota propria existentiae necessariae reperiunda erit in respectu ipsius ad possibilitatem, quae itidem est necessaria." In der kurzen n. 5 dieser Betrachtung leitet Kant aus dem Begriff des absolut Existierenden als dessen notwendige Eigenschaften die Unveränderlichkeit und Ewigkeit ab, indem er auf jene Bestimmung desselben zurückgreift, die er vorwegnehmend bereits im 49

Ebd. 84 f.

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letzten Abschnitt der 2. Betrachtung gekennzeichnet hatte: Das notwendig Seiende ist jenes, das nur insofern möglich ist, als es wirklich ist, so daß bei ihm die Möglichkeit in seinem Wirklichsein als eine Bestimmung gegeben ist. Es ist allerdings auffallend, daß diese wesentlichste Bestimmung des notwendig Daseienden im Beweisgrund nicht markanter herausgearbeitet und vorgestellt wird, daß sie in dem Gedankengang der ersten Abteilung nicht jene zentrale Rolle zu spielen scheint wie selbst in der gedrängten Fassung des Arguments in der Nova Diluddatio, wo sie sowohl in der These der Propositio selbst wie am Ende des Scholions als grundlegendes Element deutlich hervortritt. Es kann aber andererseits nicht im geringsten zweifelhaft sein, daß diese Definition des Notwendigen nicht weniger auch für die Argumentation des Beweisgrundes fundamental ist, wie aus der bereits analysierten diesbezüglichen Stelle der n. 4 der 2. Betrachtung hervorgeht, ferner aus der Lösung des Einwandes gegen die Allrealität des Realgrundes aller Möglichkeit in n. 6 der 3. Betrachtung 50 , vor allem aber daraus, daß sie, wie angedeutet, in dem nun in n. 5 folgenden Beweis der Unveränderleichkeit und Ewigkeit des notwendigen Wesens geradezu das Prinzip bildet, von dem die Argumentation ausgeht und von dem sie getragen wird: „Weil selbst seine eigene Möglichkeit und jede andere dieses Dasein voraussetzt", was nichts anderes ist als die Ubersetzung von ens, cuius existentia praevertit ipsam et ipsius et omnium rerum possibilitatem. Aus diesem Begriff allein werden hier die Attribute der Unveränderlichkeit und der Ewigkeit des absolut Notwendigen abgeleitet: Da alles was da ist, durchgängig bestimmt ist und „da dieses Wesen nun lediglich darum möglich ist, weil es existiert, so findet keine Möglichkeit desselben statt, außer insofern es in der Tat da ist; es ist also auf keine andere Art möglich, als wie es wirklich ist . . . Sein Nichtsein ist schlechterdings unmöglich, mithin auch sein Ursprung und Untergang, demnach ist es ewig" 5 '. Ohne Schwierigkeit ergibt sich dann aus diesem Begriff des notwendig Existierenden für Kant in der n.6 dieser Betrachtung als weitere und letzte seiner ontologischen Bestimmungen die Allrealität, die omnitudo realitatis, und zwar im Sinn der höchsten Realität, wie es im Titel dieser Nummer zum Ausdruck kommt:, ,Das notwendige Wesen enthält die höchste Realität." Daß wir mit ihr und der der Notwendigkeit des Daseins selbst vor den grundlegenden Attributen des ontologischen Gottesbegriffes stehen, geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie das Gegenstück der fundamentalen Inhalte des Cartesianischen ontologischen Arguments: ens realissimum und ens necessarium, bilden. Die an sich sehr durchsichtige Ableitung, die lediglich die Folgerung aus dem implizit im Begriff des notwendig Existierenden Enthaltenen zieht, bedarf im Grunde keiner weiteren Erklärung: „Da die Data zu aller Möglichkeit in ihm anzutreffen sein müssen, entweder als Bestimmungen desselben, oder als Folgen, die durch ihn als den ersten Realgrund gegeben sind, so sieht man, daß alle Realität auf eine oder andere Art durch ihn begriffen sei. Allein eben dieselben Bestimmungen, durch die dieses Wesen der höchste Grund ist von aller möglichen Realität, setzen in ihm selber den größten Grad realer Eigenschaften, der nur immer einem Dinge beiwohnen kann. Weil ein solches Wesen also das realste unter 50 51

Ebd. 86, Z. 32 f. Ebd. 85

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II. Teil

allen möglichen ist, indem sogar alle anderen nur durch dasselbe möglich sind, so ist dieses nicht so zu verstehen, daß alle mögliche Realität zu seinen Bestimmungen gehöre" 52 . Allerdings enthält dieser Text mehr, als man ihm auf den ersten Blick ansieht. Die Allrealität im Sinn des höchsten Grades von Realität wird abgeleitet aus dem Begriff des Realgrundes aller Möglichkeiten, wobei ein doppelter Gedanke wichtig ist: Dieser Grund muß fürs erste alle Materialgehalte der Möglichkeiten in irgendeiner Weise, aber realiter in sich enthalten, denn sonst könnte er sie nicht begründen als seine Folgen, aber er kann sie nicht summenhaft in sich enthalten, nicht ihr Inbegriff sein, nicht omnitudo realitatum in dem Sinn, daß alle Realitäten des Möglichen auch zu seinen Bestimmungen gehörten. Es ist eine Grundthese des vorkritischen Kant, die ungebrochen weiterwirkt im 2. Abschnitt des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik, daß Gott als Grund der Möglichkeiten im Verhältnis zu diesen letzteren nicht zu denken ist nach dem Modell einer extensiven Größe zu ihren Teilgrößen bzw. nach dem Verhältnis des Raumes zu seinen begrenzten Raumgestalten, sondern nach dem Modell der intensiven Größen im Verhältnis zu den in ihnen enthaltenen möglichen Wirkungen oder Folgen, wie es in der sehr frühen Reflexion 3727 zum Ausdruck kommt: „Quantitas est vel compositi vel intensive talis, h. e. gradus. Gradus maior non est minorum totum,, sed ratio, h. e. duplex gradus, qui duorum graduum aequalium potest esse causa . . . Diese Sicht, auf die ontologische Ebene übertragen, ergibt dann, was die R 3775 so formuliert: Ens (transcendentaliter) maximum est realissimum, et generaliter, in quo non est quantitas synthetica seu extensiva, sed intensiva. In priori enim synthesis numquam est terminata . . . (Cf. R 3776) 53 bzw. die R 3889: . . . Die höchste Realität besteht nicht darin, daß alles in ihr sei, sondern durch ihr (!) als einen Grund; denn das Maximum der Realität ist nicht synthetisch möglich oder durch Koordination, sondern mindere Grade sind nur durch Einschränkung des Größten möglich. Nun ist die höchste Realität die, welche nicht eingeschränkt werden kann; also ist diejenige, welche daß Maß aller Dinge ist und darin aller Dinge Realität liegt, nur die Folge von dem ente summo" 54 . Wir stehen hier vor einem Grundgedanken der vorkritischen Theologie Kants, der der Sache nach schon in der Nova Dilucidatio damit gegeben ist, daß er die durch das absolut Notwendige begründeten Möglichkeiten der Dinge streng von der eigenen Möglichkeit als Bestimmung unterscheidet und sie damit lediglich als Folgen des absolut notwendig Existierenden charakterisiert. Unser obiger Text enthält aber noch einen weiteren wichtigen Gedanken, der ebenfalls für die vorkritische Gotteslehre Kants grundlegend ist: daß die von dem ens summum begründeten Möglichkeiten in zweifacher Weise in ihm als ihrem Grund enthalten sein können: entweder als Bestimmungen oder, wie die Scholastik sagt, formaliter, oder nicht als Bestimmungen, sondern nur der Kraft nach, sie hervorzubringen, d. h. bloß virtualiter; so müssen z. B. Verstand, Wille, wie in der nächsten Betrachtung nachgewiesen werden wird, im Wesen Gottes formaliter, also als Bestimmungen, enthalten sein, während 52 53 54

Ebendort KGS XVII, 290 Ebd. 328

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ihm andere, wie die Ausdehnung oder Materialität, nur virtualiter, d.h. der Kraft nach zukommen können. Nur müssen jene ersteren Realgehalte des Möglichen, die als Bestimmungen in ihm sind, ihm im absolut höchsten Grad oder in höchster Vollkommenheit zugeschrieben werden, da es sonst nicht alle denkbaren eingeschränkten Grade dieser Vollkommenheiten begründen könnte. In diesem Sinn also ist das absolut notwendige Wesen das realste unter allen möglichen, weil alle anderen nur durch dasselbe möglich sind. Im folgenden tritt Kant einer Auffassung entgegen, die den Begriff des „realsten unter allen möglichen Wesen" so verstehen möchte, „daß alle mögliche Realität zu seinen Bestimmungen gehöre". Das sei eine Vermengung der Begriffe, die bis dahin ungemein geherrscht habe: ,,Man erteilt alle Realitäten Gott oder dem notwendigen Wesen ohne Unterschied als Prädikate, ohne wahrzunehmen, daß sie nimmermehr in einem einzigen Subjekt als Bestimmungen neben einander können statt finden. Die Undurchdringlichkeit der Körper, die Ausdehnung u. d. g. können nicht Eigenschaften von demjenigen sein, der da Verstand und Willen hat" 5 5 . Das stellt er als eine unmittelbar evidente Einsicht hin, ohne sich schon hier auf seine Lehre von den negativen Größen bzw. der Realrepugnanz zu berufen: das notwendige Wesen, das bereits im vorausgehenden als einfache Substanz erwiesen worden ist, kann nicht zugleich die Eigenschaften eines Körpers und eines Geistes haben. Es ist im Hinblick auf eine gewisse Richtung der Interpretation von Bedeutung, wie und warum Kant in diesem Zusammenhang seine neue Lehre von den negativen Größen bzw. der Realrepugnanz einführt: Er will damit eine These zurückweisen, durch die der obigen Formel, daß alle mögliche Realität zu seinen Bestimmungen gehöre, ein sozusagen orthodoxer, unanstößiger Sinn gegeben werden soll, dadurch nämlich, daß man gewisse „Realitäten" wie Ausdehnung, Körperlichkeit etc. nicht als positive Realitäten anerkennt, sondern als Nichtrealitäten oder Privationen erklärt, womit die obige Formel inhaltlich auf das gleiche hinausginge wie die Kants. Aber das sei eine bloße Ausflucht, da es sich bei den genannten materiellen Qualitäten und auch den negativ bewerteten seelischen Erlebnissen, wie dem Schmerz, um wahre Realitäten handle. Mit einer derartigen Begründung könne man also Eigenschaften wie Ausdehnung oder Schmerz nicht vom ens realissimum ausschließen. Man sei aber zu dieser falschen Lösung gekommen durch ein Mißverständnis des Grundsatzes, daß Realitäten als solche einander nicht widersprechen können, da der logische Widerspruch aus der Position und Negation eben derselben Realität resultiere. Das ist nun der Ort, an dem Kant seine Lehre von der Realrepugnanz einführt: ,,Ob ich nun gleich einräume, daß hier kein logischer Widerstreit sei, so ist dadurch doch nicht die Realrepugnanz gehoben", die er mit dem Beispiel zweier entgegengesetzt bewegter Körper erläutert, die ihre gegenseitige Bewegung zu 0 = Ruhe aufheben; und er kommt zum Schluß : „Nun kann aber in dem allerrealsten Wesen keine Realrepugnanz oder positiver Widerstreit seiner eigenen Bestimmungen sein, weil die Folge davon eine Beraubung oder Mangel sein würde, welches seiner höchsten Realität widerspricht, und da, wenn alle Realitäten in demselben als Bestimmmungen lägen, ein solcher Widerstreit entstehen 55

Ebd. II, 85

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müßte, so können sie nicht insgesamt als Prädikate in ihm sein, mithin weil sie doch alle durch ihn gegeben sind, so werden sie entweder zu seinen Bestimmungen oder Folgen gehören" 5 6 . Kant hätte diesen Schluß, daß nicht alle Realitäten zu den Bestimmungen des realsten unter allen möglichen Wesen gehören können, noch augenscheinlicher machen können durch den Gedanken der Abhandlung der Negativen Größen, daß alle Realitäten im absoluten Wesen dann, wenn man die jeweils gleichsinnigen entgegengesetzten Positionen addiert, als Gesamtsumme Zero ergeben müßten, woraus er dort den Schluß zieht, daß die gesamte Weltrealität in sich nichts sei. Obwohl er nun, wie wir sahen, in seiner inzwischen neuentdeckten Erkenntnis der negativen Größen und ihren Konsequenzen eine zusätzliche Bestätigung seiner These erblickt, daß nicht alle Realitäten als Bestimmungen in dem höchsten Wesen sein können, so stellt sie doch, wie unsere Analyse des Textes der n. 6 zeigt, kein konstitutives Prinzip seiner Argumentation dar. Diese beruht, worauf wir immer wieder hingewiesen haben, auf jener Definition des absolut Notwendigen, die wir mit aller Präzision bereits in der These der Propositio VII der Nov. Dil. formuliert finden, eine Definition, die zusätzlich im Scholion der Sache nach eindeutig in dem Sinn erklärt wird, daß nur die eigene Möglichkeit zu seiner Bestimmung, die der anderen Dinge aber zu seinen Folgen gehöre. Kant geht zum Abschluß der 3. Betrachtung noch auf eine weitere Schwierigkeit ein, deren Lösung, ähnlich der des vorausgehenden Einwandes, zur Klärung seines Standpunktes beiträgt, die aber auch dadurch von Bedeutung ist, daß hier erstmals wie im Vorübergehen ein Prinzip erwähnt wird, das für die weitere Entwicklung der Kantischen Ontotheologie von größter Bedeutung sein wird. Die Schwierigkeit ist diese: daß das absolut notwendige Wesen, wenn es den Grund aller anderen Möglichkeit enthält, auch den Grund ihrer Mängel und Negationen und damit folgerichtig in sich selber Mängel und Negationen enthalten müßte, eine Schwierigkeit, die man auch als Instanz gegen die vorausgehende Schlußfolgerung auffassen kann (daß im höchsten Wesen keine Mängel und Privationen sein können). Die Lösung liegt nach Kant in dem Begriff des notwendigen Wesens als eines Realgrundes der Möglichkeiten selber. Denn nach diesem Begriff ist im notwendigen Wesen seine Möglichkeit durch sein Dasein selbst ursprünglich als Bestimmung gegeben. Daraus folgt, daß die durch das notwendige Wesen begründeten Möglichkeiten wesentlich verschieden sind von der Möglichkeit des notwendigen Wesens selber, also nicht von gleicher Art wie diese sein können, womit schon gegeben ist, daß sie im Vergleich zu ihr Mängel und Privationen haben müssen. Mit anderen Worten: ihre Einschränkung ist schon notwendig mit ihrem Wesen als andere Möglichkeiten gegeben und bedarf nicht eines positiven Grundes, so daß folglich auch das notwendige Wesen nicht diese Mängel selbst enthalten muß, um sie in den Möglichkeiten begründen zu können. Formelhaft ausgedrückt: die Möglichkeit der anderen Dinge beruht hinsichtlich dessen, was in ihnen real ist, auf dem höchsten Wesen als ihrem Realgrund, hinsichtlich dessen, was in ihnen Mangel und Begrenzung ist, auf ihrem Wesen, insofern es von der des absoluten Wesens unterschiedene Möglichkeiten sind, als logischem Grund. Um dies noch mehr zu verdeutlichen, führt Kant zusätzlich jenen Gesichtspunkt an, der, wie ge56

Ebd. 86

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sagt, in der weiteren Entwicklung eine so grundlegende Rolle spielen wird: Negationen, Privationen sind nichts Positives und damit auch nicht etwas an sich, sondern nur auf Grund ihrer Gegenpositionen Denkliches, sonst müßte ein Ding möglich sein, das aus lauter Negationen besteht. Der eigentliche Grund aber, warum es überhaupt in den Dingen Mängel und Verneinungen geben kann, liegt letztlich darin, daß es Positionen geben kann, die nicht die größten sind, also limitierte Positionen; denn darin sind nach dem Gesetz des Widerspruchs bereits die Verneinungen gegeben und zugleich, daß sie als solche keinen Realgrund, sondern nur einen logischen Grund, der in ihrem Wesen selbst liegt, voraussetzen. Die vierte und letzte Betrachtung dieser ersten Abteilung trägt den Titel: Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Der Grund ist einleuchtend: damit der ontotheologische Gedankengang als Gottesbeweis im eigentlichen und vollen Sinn gelten kann, bedarf es noch des Nachweises, daß das absolut Notwendige, als das alle Realität in sich enthaltende höchste Wesen, auch formell Verstand und Willen besitzt und also personaler Natur sei. Dieser Teil des Arguments hat kein Gegenstück in der Nova Dilucidatio, was sich aber, wie wir sahen, daraus erklärt, daß dort der ontotheologische Beweis nur insoweit behandelt wurde, als es die übergeordnete Thematik des Prinzips vom zureichenden Grund, speziell die Frage seiner Allgemeingültigkeit auch für das absolut Notwendige, verlangte, während es hier thematisch um den Gottesbeweis als solchen ging, in dem die Frage der personalen Natur des Absoluten grundlegend ist. Es kommt aber als Grund dieses Unterschiedes noch ein anderer Gesichtspunkt hinzu. Es ist nicht zu übersehen, daß dieser letzte Teil des Arguments streng genommen über die reine ontologische Begrifflichkeit, mit der Kant bisher gearbeitet hat, hinausgeht: bis jetzt wurde alles abgeleitet aus dem Begriff der inneren Möglichkeit der Dinge und ihres Prinzips des notwendig Daseienden, aus dem Begriff des notwendig Daseienden, wie er ihn in der Nova Dilucidado definiert hatte 57 . Zwar hatte er in der n. 6 der 3. Betrachtung diese neue Thematik der vierten durch die Unterscheidung zwischen Data der Möglichkeiten, die dem notwendigen Wesen auch formal als Bestimmungen zukommen und solchen, die nur fundamental wie die Folgen im Grunde in ihm sein können, vorbereitet, um sozusagen bestimmten Inhalten des Möglichen, wie es der Verstand und der Wille sind, eine privilegierte Rolle im Rahmen der ontotheologischen Argumentation zu ermöglichen. Streng genommen ist aber damit die Basis der eigentlichen ontotheologischen Argumentation verlassen, sofern es sich bei ihr um einen Beweisgrund handeln soll, der lediglich darauf erbauet ist, weil etwas möglich ist und der deshalb vollkommen a priori geführt werden kann58. Denn hier muß offenbar eine Anleihe gemacht werden von der theologia naturalis, die von den Eigenschaften unserer geistigen Natur ausgeht, also von diesen bestimmten Möglichkeiten Verstand und Wille, deren Eigenart uns nur durch Erfahrung bekannt sein kann. Kant kennzeichnet sein ontotheologisches Argument in der dritten Abteilung wie folgt: „Denn es ist nur die innere Möglichkeit selbst, von der erkannt werden soll, daß sie irgend ein Dasein voraussetze, und nicht die besonderen Prädikate, durch die sich

57 58

Ebd. I, 395: These der Prop. VII Ebd. II, 91 (kursiv Verf.)

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II. Teil

ein Mögliches von den anderen unterscheidet; denn der Unterschied der Prädikate findet auch beim bloß Möglichen statt und bezeichnet niemals etwas Existierendes. Demnach würde auf die erwähnte Art aus der inneren Möglichkeit alles Denklichen ein göttliches Dasein müssen gefolgert werden" 5 9 . Diese Stelle bezieht sich zwar formell auf das Cartesianische Argument, das von einem bestimmten Möglichen bzw. auf Grund der besonderen Prädikate, durch die es sich von allen anderen Möglichkeiten unterscheidet, auf das Dasein Gottes schließt, dabei wird aber doch auch das Kants als solches gekennzeichnet, das von der Basis der inneren Möglichkeit alles Denklichen und nicht auf Grund der besonderen Prädikate, durch die sich ein Mögliches von den anderen unterscheidet, auf ein göttliches Dasein schließt. Genau genommen kommt man aber von dieser Grundlage aus nur zu einem absolut notwendig Daseienden, das als Grund der Realgehalte aller Möglichkeiten sie alle wenigstens virtuell in sich enthalten muß. Das göttliche Dasein, soweit es darüber hinaus Geist und Person besagt, d . h . wie es sich die 4.Betrachtung zum Thema setzt, ist nur erreichbar auf Grund von besonderen Prädikten, durch die sich bestimmte Möglichkeiten von anderen unterscheiden. Daß es sich hier um eine andere Art der Argumentation handelt, geht im übrigen auch schon daraus hervor, daß Kant sie einführt mit der Bemerkung, es könnten verschiedene Beweisgründe dafür angeführt werden, daß zu den bisher bewiesenen ontologischen Eigenschaften des notwendig Daseienden noch die des Verstandes und des Willens hinzukommen müssen. Bisher war es immer der eine Beweisgrund des notwendigen Wesens als des Realgrundes aller Möglichkeiten gewesen, aus dem alle Eigenschaften desselben abgeleitet wurden, so daß hier die Forderung einer Demonstration des Daseins Gottes, wie er sie zu Beginn der dritten Abteilung aufstellt, erfüllt war: daß dieser Beweis, wenn er eine Demonstration von dem höchsten Grad mathematischer Gewißheit sein soll, nur durch einen einzigen Weg kann erlangt werden, sodaß es keine Auswahl unter mehr dergleichen geben könne. Diese Forderung gilt offenbar für diese 4. Betrachtung nicht mehr: der Beweisgrund ist nicht nur von dem der vorausgegangenen Ableitungen verschieden, sondern es werden auch verschiedenartige Ansätze des Beweises in Anspruch genommen. Damit ändert sich auch die ganze Art des Argumentierens nicht nur dem Vorausgehenden gegenüber, sondern auch unter den drei verschiedenen Beweisansätzen selber. Der erste Beweisgrund: Verstand und Wille sind wahre Realitäten, und was hier den Ausschlag gibt, sie sind beide von solcher Art, daß sie mit der höchsten möglichen Realität, wie sie für das notwendig Daseiende bewiesen wurde, zusammen bestehen können. Also kommen diese besonderen Möglichkeiten dem höchsten Wesen auch formell und nicht nur virtuell oder fundamental zu, wie das bei anderen Realitäten, etwa der Ausdehnung, sicher der Fall ist. Es ist bezeichnend, daß Kant der entscheidenden Voraussetzung dieses Schlusses: daß nämlich beide Eigenschaften mit der größtmöglichen Realität in einem Dinge zusammen bestehen können, nicht mehr jene Evidenz zuschreibt, welche für logisch vollkommene Beweise, d . h . für Demonstrationen, gefordert ist: „welches letztere man durch ein unmittelbares Urteil des Verstandes einzuräumen sich gedrungen sieht, ob es zwar nicht füglich zu derjenigen Deutlichkeit gebracht werden kann, welche 59

Ebd. 157

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logisch vollkommene Beweise erfordern"'' 0 . Das entspricht also durchaus dem, was wir im vorausgehenden gesagt haben, daß dieser Beweisschritt nicht zu jenem Teil der Argumentation gehört, der als apriorischer Beweis die Stufe mathematischer Evidenz erreicht. Auch der zweite Beweis ist von dieser Art, zumal er jenes entscheidende Element des ersten voraussetzt, dem er selbst die vollkommene logische Beweisbarkeit abspricht; er lautet: die Eigenschaften eines Geistes, Verstand und Wille, sind von solcher Art, daß keine andere Realität in einem Wesen ihren Mangel ersetzen könnte. Da nun diese Eigenschaften einerseits des höchsten Grades der Realität fähig sind und also dem höchsten Wesen zukommen können, andererseits aber auch Möglichkeiten darstellen, die als Folgen durch das höchste Wesen bedingt sind, so würden, wenn idas notwendige Wesen nicht selber Verstand und Wille besäße, diese Eigenschaften unii alle Realität des geistigen Wesens durch es möglich sein, ohne daß sie ihm selber als eine Bestimmung zukämen. Das aber würde bedeuten, daß in diesem Falle die Wirkung größer wäre als die Ursache. Denn ein endliches geistiges Wesen würde dann, obwohl es in anderer Hinsicht, etwa der Macht oder der Unabhängigkeit, dem notwendigen Wesen weit unterlegen wäre, dieses doch durch den Verstand und den Willen als Eigenschaften der höchsten Art übertreffen. Weil nun die Folgen den Grund nicht übertreffen können, so müssen Verstand und Wille der notwendigen, einfachen, unendlichen Substanz formaliter als Bestimmungen zugehören. Auch dieser Argumentation kommt schon wegen der bezeichneten Voraussetzung, daß sie des höchsten Grades der Realität fähig seien, aber auch sonst nicht jene mathematische Stringenz zu, die der Philosoph von einer Demonstration verlangt. Der dritte Ansatz ist im Grunde physikotheologisch. Die Ordnung, Schönheit, Vollkommenheit in allem, was möglich ist, setzten ein Wesen voraus, in dessen Eigenschaften entweder diese Beziehungen gegründet sind oder durch welches die Dinge diesen Beziehungen gemäß als ihrem Grunde möglich sind. Ohne Zweifel wird hier die doppelte Art von Physikotheologie angedeutet, die auf dem göttlichen Verstand und Willen beruhende der künstlichen Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit vor allem in den Organismen und die der notwendigen Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit infolge des Gegründetseins ihrer Möglichkeiten in dem göttlichen Wesen selber. Da nun das göttliche Wesen der Realgrund alles dessen ist, was außer ihm möglich ist, so werden in ihm folgerichtig auch diejenigen Eigenschaften anzutreffen sein, durch welche diesen Beziehungen der Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit gemäß alles außer ihm wirklich werden kann. „Es scheint (!) aber, daß der Grund der äußeren Möglichkeit, der Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit nicht zureichend ist, wofern nicht ein dem Verstände gemäßer Wille vorausgesetzt ist. Also werden diese Eigenschaften dem obersten Wesen müssen beigemessen werden" 61 . Daß in dieser letzten Argumentation gerade auch die künstliche (zufällige) Naturordnung, also der Ansatz der gewöhnlichen Physikotheologie, eine entscheidende Rolle spielt, geht aus dem Vergleich mit einem Beispiel aus der menschlichen Welt hervor: ungeachtet aller Gründe, durch die Pflanzen und Bäume von der Natur hervorgebracht werden können, sind doch regelmäßige Blumenstücke, Alleen etc. nur durch 60 61

Ebd. 87 Ebd. 88

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einen Verstand, der sie entwirft, und einen Willen, der sie ausführt, möglich. „Alle Macht oder Hervorbringungskraft, imgleichen alle anderen Data zur Möglichkeit ohne einen Verstand sind unzulänglich, die Möglichkeit solcher Ordnung vollständig zu machen" 62 . Auch der kurze, diese Betrachtung abschließende Absatz zeigt wiederum deutlich, daß Kant hier nach seiner eigenen Uberzeugung die streng demonstrative Ebene verlassen hat: „Aus einem dieser hier angeführten Gründe, oder aus ihnen insgesamt wird der Beweis, daß das notwendige Wesen Willen und Verstand haben, mithin ein Geist sein müsse, hergeleitet werden können. Ich begnüge mich bloß, den Beweisgrund vollständig zu machen. Meine Absicht ist nicht eine förmliche Demonstration darzulegen"63. Die Vielheit der Argumente, die Freiheit der Wahl, ob man sich auf dieses oder jenes oder auf alle zusammen stützen wolle, der Hinweis, daß es ihm nur um die Vervollständigung gehe und keine formelle Demonstration angestrebt werde, zeigt deutlich, daß er diese Betrachtung lediglich als eine Ergänzung seines ontotheologischen Arguments aufgefaßt wissen will, die nur den Gewißheitsgrad der natürlichen Theologie beanspruchen kann und somit wesentlich hinter dem mathematischen des apriorischen Beweises zurückbleibt. Auch die abschließende Zusammenfassung in n. 2 betont die Unabgeschlossenheit des ganzen Versuchs, wohl gerade auch im Hinblick auf die besonderen Bedingungen des Beweises der Geistigkeit und Personalität Gottes: „Es existiert etwas schlechterdings notwendig. Dieses ist einig in seinem Wesen, einfach in seiner Substanz, ein Geist nach seiner Natur, ewig in seiner Dauer, unveränderlich in seiner Beschaffenheit, allgenugsam in Ansehung alles Möglichen und alles Wirklichen. Es ist ein Gott" 6 4 . Aber er wolle keine bestimmte Erklärung von dem Begriff Gott geben, d. h. keine Definition, wie es eine systematische Behandlung des Gegenstandes erfordern würde, er wolle nur eine Analyse bieten, durch die man sich zu einer förmlichen Lehrverfassung tüchtig machen könne. Mit der n.2 der 4. Betrachtung ist eigentlich der Gottesbeweis abgeschlossen. Kant aber fügt dem Ganzen noch eine Anmerkung an mit einer doppelten Thematik, von denen die erste an sich nichts wesentlich Neues bringt, die zweite aber entwicklungsgeschichtlich bedeutsam ist. Über diesen zweiten Teil der Anmerkung, in dem Kant seine gegenüber der Wolffschule neuartige Auffassung vom Wesn der Vollkommenheit andeutet und die Gründe darlegt, die ihn abgehalten haben, „den Beweis von Gott und der ihm beiwohnenden Realität bis zu dieser Beziehung hindurch zu führen", haben wir bereits im vorausgehenden Kapitel bei der Charakterisierung des ontotheologischen Arguments im Beweisgrund gesprochen. Der erste Absatz der Anmerkung stellt eine Ergänzung zum Beweis der Geistigkeit und Personalität Gottes dar, durch die noch zusätzlich dessen Bedeutung für den Gottesbeweis unterstrichen und der Rückgriff auf die nicht mehr auf dem ontotheologischen Ansatz beruhenden Argumente gerechtfertigt wird. Im Rahmen dieser letzteren hatte Kant bewiesen, daß, falls Verstand und Wille nur Folgen und nicht Bestimmungen des höchsten Wesen wären, dieses, trotz aller einzigartigen Vorzüge, die 62 63 64

Ebendort Ebd. 88 f. Ebd. 89

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sich aus dem Begriff des notwendig Existierenden ergeben, im Hinblick auf diese Eigenschaften, denen eine besondere Würde zukommt, den endlichen Geistern an Vollkommenheit nachstehen würde. Hier in der Anmerkung fügt er dem nun den folgenden Gedanken hinzu: im Falle der ersteren Alternative (daß Verstand und Wille nur Folgen wären) müßte man jenes Wesen als einen nicht durch „Erkenntnis und Entschließung", sondern aus blinder Notwendigkeit wirkenden Grund betrachten, womit sich dieser ,,Gott" von dem ewigen Schicksal, d.h. dem Fatalismus einiger antiker Denker nicht mehr unterschiede. Diese Vorstellung aber bleibe weit hinter dem zurück, was „man sich denken muß, wenn man einen Gott denkt". Daher, und das klingt nun in der Tat wie eine Rechtfertigung, müsse man „in jeglicher Lehrverfassung" (der Gotteslehre) auf diesen Umstand besonders achten und das sei auch der Grund, „warum wir ihn nicht haben aus den Augen setzen können" 65 . Damit kommen wir zum letzten Abschnitt der 4. Betrachtung: n.4 unter dem Titel „Beschluß". Dieser Abschnitt ist in mehr als einer Beziehung bedeutsam. Es lassen sich in ihm drei Gedankenreihen unterscheiden. Die erste zieht aus dem mit dem ontotheologischen Argument erreichten Gottesbegriff bzw. aus dem ihm zugrunde liegenden des notwendig Daseienden einige Folgerungen, von denen die wichtigsten folgende sind: daß die Welt nicht dieses absolut notwendige Wesen ist, und andererseits daß Gott nicht die einzige Substanz und die Welt nur ein Akzidens der Gottheit sein könne. Die Widerlegung dieser spinozizistischen Auffassung des göttlichen Wesens und zugleich die eines gewissen das denkende Ich verabsolutierenden Idealismus liegt in dem dem ganzen Argument zum Grunde liegenden Begriff des absolut notwendigen Daseins, das zugleich das allerrealste bzw. höchste Wesen ist (als Realgrund aller Möglichkeit, woraus sich ja überhaupt der Begriff der notwendigen Existenz ergab). Das notwendige Wesen ist als jenes, dessen Möglichkeit in seinem Dasein gründet, unveränderlich und unaufhebbar. Diese Kriterien, angewendet auf das denkende Ich und die Welt, zeigen, daß beide nicht notwendige Wesen sein können. „Kein ander Wesen, dessen Nichtsein möglich ist, das ist, dessen Aufhebung nicht zugleich alle Möglichkeit aufhebt, kein veränderliches Ding oder in welchem Schranken sind, mithin auch nicht die Welt ist von einer solchen Natur. Die Welt ist nicht ein Akzidens der Gottheit, weil in ihr Widerstreit, Mängel, Veränderlichkeit, alles Gegenteile der Bestimmungen einer Gottheit angetroffen werden" 66 . Der ontotheologische Gottesbegriff resultiert aus zwei Grundmerkmalen: der absoluten Fülle der Realität, die Gott als Prinzip aller Möglichkeit zukommt und die ihn zum höchsten aller möglichen Seienden macht, und der absoluten Notwendigkeit, die besagt, daß seine eigene Möglichkeit nicht seinem Dasein vorausgeht, sondern nur durch dieses selbst gegeben ist, worin seine Ewigkeit und Unveränderlichkeit beschlossen sind. Deshalb führt Kant gegen die These, daß die Welt ein Akzidens der Gottheit sei, nicht nur als Grund an, daß es in ihr Widerstreit und Mängel infolge der Schranken ihres Seins und vor allem der Realrepugnanz der sie zusammensetzenden Seienden gebe, sondern auch ihre Veränderlichkeit, die direkt der Definition des absolut Notwendigen widerspricht. 65 66

Ebd. 89 f. Ebd. 90

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II. Teil

Die zweite Gedankenreihe enthält die abschließende Charakterisierung des Arguments als eines vollkommen apriorischen, weil es bloß_darauf erbaut sei, daß etwas möglich ist, und es daher „weder meine Existenz noch die von anderen Geistern noch die von der körperlichen Welt" voraussetze. Als apriorischer Beweis ist es der einzig mögliche, der zur Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit führt und führen kann, weil er von dem ausgeht, was wirklich die absolute Notwendigkeit ausmache, nämlich die Unmöglichkeit des absoluten Nichts". In dem nun folgenden Absatz hebt Kant dieses Argument aus dem Wesentlichen der absoluten Notwendigkeit eindeutig ab von allen aposteriorischen Beweisen, die von den Wirkungen dieses Wesens auf sein Dasein als Grund derselben geführt werden, die also auf eine prima causa der Welt schließen. Der Unterschied liegt nach ihm einmal darin, daß die letzteren nicht so streng beweisen, wie sie vorgeben, wie er sozusagen im Vorübergehen anmerkt; entscheidend aber ist, daß diese Kausalschlüsse auf keinen Fall die absolute Notwendigkeit des Daseins jener prima causa einsehen lassen, sondern nur jene bedingte, die er in den Reflexionen necessitas hypothetica consequentiae nennt: „daß, wenn Wirkungen da sind, sie [als eine erste unabhängige Ursache] auch existieren müsse, nicht aber daß sie schlechterdings notwendigerweise da sei" fi8 . Welche Beweise hat Kant hier, wird man sich fragen, konkret im Auge? Sicher die direkten Kausalschlüsse, die vom Dasein als Folge auf ein Daseiendes als ersten Grund schließen, wie den Wölfischen Kontingenzbeweis, den er in der dritten Abteilung einer strengen Kritik unterwirft, ferner seinen eigenen Kontingenzbeweis aus dem commercium der Substanzen, den er bereits in der Nova Dihtcidatio an die Stelle des Wölfischen gesetzt sehen wollte. Aber auch den physikotheologischen, wenigstens in seiner gewöhnlichen, populären Form, der von den „zufälligen" zweckmäßigen Anordnungen der Welt, besonders im organischen Bereich, unmittelbar auf eine sehr mächtige und weise Ursache schließt. Dagegen dürfte er in diesem Zusammenhang kaum an seinen in der nun folgenden zweiten Abteilung ausführlich entwickelten verbesserten physikotheologischen Beweis gedacht haben; denn dieser schließt, wie wir sehen werden, nicht von der existierenden Welt und ihrer Ordnung unmittelbar auf deren Ursache, sondern auf die Ordnung und Harmonie der der Welt zugrunde liegenden Wesenheiten oder Möglichkeiten und von da auf den Realgrund aller Möglichkeiten und damit auf das notwendige Dasein, wenn dieser letztere Schluß auch vom Ausgangspunkt her nicht zwingend sein kann. Zugleich ist mit dieser zweiten Gedankenreihe des „Beschlusses" auch der deutlichste Beweis aus den Kantischen Texten gegeben, daß der eigentliche Ansatz des ontotheologischen Arguments nicht die Möglichkeit des Denkens bzw. des Gedankens als solcher ist, sondern die Möglichkeit der Dinge. Denn wie sollte man es sonst zusammenreimen, daß der Philosoph einerseits zu Beginn der Entwicklung des Arguments mit Nachdruck betont, „daß hier jederzeit von keiner anderen Möglichkeit oder Unmöglichkeit, als der inneren oder schlechterdings und absolute so genannten die Rede sein wird", wobei er hier lediglich die Kennzeichnung der inneren Möglichkeit bei Baumgarten (Metaphysica, 67 68

Ebd. 91 KGS XVII, 273 (R 3731); 252 (R 3712)

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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§ 1 5 ) übersetzt 6 9 , andererseits hier abschließend das Argument charakterisiert als solches, das vollkommen a priori geführt werden kann auf G r u n d dessen allein, daß etwas möglich ist, so daß es weder meine Existenz, noch die von anderen Geistern noch die einer körperlichen Welt voraussetzt - und daß er trotzdem als Ansatzpunkt nicht die Möglichkeit der Dinge, sondern die Möglichkeit des Denkens oder des Gedankens genommen hätte? Die entscheidende Voraussetzung des Denkens bzw. des Gedankens oder auch der Möglichkeit des Denkens und des Gedankens, um von da zum notwendig Existierenden gelangen zu können, wäre nämlich einerseits die Existenz von etwas, das dem Denken gegeben ist, die Existenz der Welt oder der Erfahrungsdinge, wie alle Vertreter dieser Richtung betonen; andererseits aber noch ursprünglicher und unmittelbarer die Existenz denkender Subjekte, also meines Ichs oder die anderer Geister. Wie hätte also Kant hier bei der abschließenden Charakterisierung des Arguments, sozusagen ohne mit einer Wimper zu zucken, sagen können, das Argument sei völlig a priori und setze weder die Existenz meines Ichs noch die anderer Geister noch die der körperlichen Welt voraus, wenn er das cogito als entscheidendes Element in den ersten Ansatz des Arguments hineingenommen, wenn er als Basis desselben die Möglichkeit des Denkens oder des Gedankens als solcher angenommen hätte? In diesem Fall würden die zitierten Sätze, sowohl der am Anfang der 2. wie der am Ende der 4. Betrachtung, mit denen er doch sein Argument im ganzen charakterisieren will, völlig unverständlich. Man müßte ihm nicht nur Mangel an logischem Denken attestieren, wenn er glaubte, aus den Bedingungen des Denkvollzugs auf ein absolutes Dasein schließen zu können, sondern auch Unfähigkeit, seine Gedanken verständlich auszudrücken, da er mit derartigen Bemerkungen seine eigentliche Auffassung bis zur Unkenntlichkeit entstellt hätte. Damit haben wir nun die Analyse der ersten Abteilung des Beweisgrundes im wesentlichen abgeschlossen: die beiden letzten Absätze des „Beschlusses" sind Uberleitungen zum zweiten Teil, die die Grundideen desselben angeben und so entscheidende Interpretationshilfen darstellen f ü r diesen ausführlichsten Abschnitt der ganzen Abhandlung. Bevor wir aber zu der Analyse desselben übergehen, wollen wir, um den Verstehenshorizont f ü r die Kantische Ontotheologie zu erweitern und zu vertiefen, ihre Grundsätze mit den parallelen der scholastischen Possibilienlehre vergleichen. Das scheint uns auch deswegen geboten, weil Erklärer wie M. C a m p o den jungen Kant einseitig als Rationalisten charakterisieren und dessen ontologische Grundpositionen vorab als Konsequenzen aus dem Descartesschen Ansatz im Cogito und als Gegensatz zur realistischen Metaphysik der Tradition interpretieren. Hans Seigfried hat auf dem 3. Internationalen Kantkongreß 1970 (in Rochester, USA) unter dem Titel,,Kant's thesis about being anticipated by Suarez?" ein Referat gehalten, das dem Verfasser im Manuskript vorliegt. Darin geht es dem Referenten vor allem um des Suarez' ,,basic doctrine of possibility and reality", also gerade um jenes Verhältnis, das im Einzig möglichen Beweisgrund eine grundlegende Rolle spielt. Es gibt nach Seigfried eine unleugbare Parallele zwischen der These des Suarez über das esse und der 69

Ebd. II, 78 und XVII, 29

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Kants, daß das esse, das Dasein kein Prädikat, d. h. keine Bestimmung eines Dinges sei, sondern nur die Setzung des Dinges in sich und in der Natur. Suarez vertrete in der Tat die Auffassung, daß das Dasein (esse, esse existentiae, actu existere, existentia actualis) weder eine transzendentale noch eine prädikamentale Bestimmung des Dinges ist, sondern die Konstitution in ihm selbst und in natura rerum und „outside of its cause(s)". Es könne also nicht als ein Element verstanden werden, das dem als Ding Gedachten etwas hinzufüge, um es zu vervollständigen. Um etwas als Ding oder wirkliches Seiendes zu denken, müsse man alles zusammennehmen, was zu den kategorialen und was zu den transzendentalen Prädikaten gehöre. Aber weder die kategoriale noch die transzendentale Synthesis ,,shows whether or not a thing exists in itself, outside of its cause, and in nature", ja sie geben nicht einmal unmittelbar zu erkennen, ob es ein Ding sei, das in seinen Ursachen wirklich existiert, also ob es wirklich möglich sei, d. h. ob wirklich ein Ding in sich selbst und in der Natur existiert, das das Vermögen (potentia) hat, das so bestimmt als möglich gedachte Ding als an sich seiend in der Natur hervorzubringen, bzw. in dem es aktuell existiert als effectus possibilis. Die prädikamentalen und transzendentalen Prädikate drücken also nur das aus, „what makes a thing the thing that it is, and they determine in this way solely the essence or quiddity of a thing". Wenn man z.B. ein individuelles Ding vorstelle, das lediglich in seinen Ursachen existiert, und es als im genus Substanz völlig bestimmt denkt, so könne man nicht noch etwas anderes zu ihm Hinzukommendes vorstellen, wenn man dieses nämliche Ding nun als existiertend in der Natur und außerhalb der Ursachen denkt. Andernfalls hätte man dieses Ding noch nicht als vollständig im genus Substanz vorgestellt, and one would not be conceiving exactly of the same thing as actually existant outside of its causes that one had conceived of as actually existant in its causes; or else(...) God would always produce something different or something more than what he intended to. Wie man sieht, hat Kant das genauso in den ersten beiden Betrachtungen der ersten Abteilung des Beweisgrundes gelehrt, und er hätte mit eben diesen Worten seine These erklären können, daß ein Ding in seinem aktuellen Dasein nichts mehr an Realität enthalten könne als in seiner vollständigen Möglichkeit angetroffen wird, und sein späteres Beispiel, daß hundert wirkliche Taler nicht mehr an Realität enthalten als hundert mögliche Taler, betont Seigfried mit Recht, könnte ebenso die Lehre von Suarez wie die eigene Kants illustrieren. Und ebenso wie Kant folgert bereits Suarez, daß die kategorialen und transzendentalen Bestimmungen des Dinges, das, was das Was des Dinges ausmacht, keinerlei Kriterium enthält, ob es ein existierendes oder bloß mögliches Ding ist (Kant), oder zu unterscheiden zwischen der möglichen Realität des Dinges und seiner aktuellen Realität (Suarez) oder allgemein zwischen seiner bloßen Möglichkeit und seiner Aktualität oder Existenz. Denn es sind nur Bestimmungen seines Realgehaltes als solchen: ,,it is the reality of the same thing which is actual or merely possible". Der Unterschied zwischen beiden liegt also nicht darin, daß die Existenz eine Realität zur möglichen Realität oder Wesenheit eines Dinges hinzufügte. Und doch wird durch die Existenz oder Aktualität sowohl nach Suarez wie nach Kant der „Realität" eines bloß möglichen Dinges etwas hinzugefügt, zwar nicht ein neues Ding oder ein Mehr an „Realität", als im möglichen ist, sondern das ganze Ding als aktu-

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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eil existierendes. Die Realität eines bloß möglichen Dinges, auch w e n n es vollkommen bestimmt ist, ist aktuell noch nichts, sagt Suarez, solange es bloß in seinen Ursachen und der Möglichkeit nach (in potentia) existiert. N u r w e n n es aktuell außerhalb seiner U r s a che und in der Natur der Dinge existiert, ist es etwas in sich selbst. Die Aktualität oder aktuelle Existenz fügt also die ganze Realität eines Dinges ihm selbst und den bereits in der N a t u r existierenden Dingen hinzu, ebenso wie Kant sagt: durch die Existenz oder A k t u a lität w i r d mehr als die Möglichkeit des Dinges gesetzt, aber nicht mehr an Realität in dem Ding. Anders ausgedrückt: durch die Aktualität des Dinges w i r d nichts gesetzt, w a s innerlich zur Washeit oder Quiddität des Dinges gehörte und diese vermehren w ü r d e , sondern es w i r d dadurch das ganze in der O r d n u n g des Wasseins vollständig bestimmte Ding selbst als aktuell in sich existierend außerhalb seiner Ursachen und in der N a t u r der Dinge gesetzt: ,,it is merely the constitution of a thing as existing in itself and in nature, or merely the constitution of its reality in itself". Es ist also in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Realen der Möglichkeit als den inhaltlichen Bestimmungen, und z w a r i m Sinne der omnímoda determinado der Wesenheit eines Dinges, und der Existenz als der Setzung desselben extra causas oder in natura rerum kein Unterschied zwischen der Position des Suarez und der des frühen Kant. G e w i ß aber besteht ein solcher in der Auffassung der realen Möglichkeit eines Dinges: für Kant bedeutet offenbar der objektive Realgehalt des nichtwidersprüchlichen Gegenstandes des Denkens bereits die reale Möglichkeit des gedachten Dinges, für Suarez dagegen w i r d dieser objektive Realgehalt erst durch seine „ E x i s t e n z " in dem W i r k vermögen eines existierenden Dinges zu einem real möglichen, d . h . zu einem möglichen Ding im Unterschied zu einer bloßen conceptio mentis, die auch ein bloßes figmentum mentis sein könnte. Mit anderen W o r t e n : die sogenannte äußere Möglichkeit ist für den Möglichkeitsbegriff des Suarez im Sinne einer realen Möglichkeit von entscheidender Bedeutung; formelhaft: die Realgültigkeit eines als möglich gedachten Gegenstandes oder Dinges ist eine denominatio ab extrínseco, von der hervorbringenden Kraft einer existierenden Ursache, während für Kant dieser Bezug für die Möglichkeit als solche, auch im Sinn der realen Möglichkeit, nicht konstitutiv ist, sondern nur Bedeutung hat für die Beziehung des real möglichen Dinges auf seine faktische Existenz : der logisch mögliche Gedanke von einem Ding ist für ihn eo ipso schon die Vergegenwärtigung des real möglichen Dinges. Deshalb ist bei ihm auch die Beziehung zwischen der Möglichkeit als realer M ö g lichkeit des Dinges zu dem notwendigen göttlichen Sein anders, in gewissem Sinn radikaler als bei Suarez: z w a r ist auch bei ihm die Möglichkeit als reale Möglichkeit bedingt durch ein Existierendes, nämlich durch das notwendig Existierende, aber nicht insofern es die gedachte oder denkliche Realität hervorbringen kann, sondern insofern es durch sein Wesen als absolut notwendig Seiendes die Realität des möglichen Dinges begründet und allein begründen kann: das Wesen des absolut Daseienden selbst ist der Grund, von dem die Möglichkeit der Dinge als reale Möglichkeit abhängt, oder in der Terminologie des Suarez ausgedrückt: die Existenz der Möglichkeiten in dem Wesen und nicht formell in der Wirkmächtigkeit des notwendig Seienden ist das, w a s ihnen und ihren Realitätsgehalten den Charakter einer realen Möglichkeit verleiht und sie dadurch geeignet macht, durch die Kausalität einer Ursache absolut gesetzt b z w . als in sich seiend konstituiert zu

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werden. Hier ist offenbar Seigfried zu summarisch, wenn er diesen Unterschied außer Betracht läßt und beide Standpunkte als im Grunde identisch hinstellt: „Being a possible thing means (seil, nach Suarez) to exist actually in the cause which has the power to produce that thing in nature (potentia, virtus ad illam efficiendam), or, in Kant's precriticai terminology, a possible thing is possible because there is another thing actual, i. e. its inner possibility is nothing but a result of the actuality of another thing". Dieses letztere ist zwar richtig formuliert, aber es meint eine formal andere Beziehung auf das absolute Seiende als jene, die Suarez im Auge hat. Obwohl nun für Suarez neben der Bedingung der logischen Denklichkeit oder Nichtwidersprüchlichkeit die Beziehung auf die hervorbringende Kausalität der Wirkursache für das als möglich gedachte Ding wesentlich ist, um es als real mögliches zu konstituieren, kommt er, wie Seigfried dartut, auf dem Umweg über die Definition der Allmacht Gottes zu einer wenn auch nicht formalen, so doch materialen Identifizierung des nicht widersprüchlichen d.h. des als möglich denkbaren Dinges mit dem real möglichen und damit wenigstens praktisch zu der Position Kants, für den das nicht widersprüchliche, als möglich gedachte Ding eo ipso das real mögliche bedeutet. Seigfried unterstreicht den Unterschied zwischen der bloß materialen Identifizierung beider auf Grund der Analyse und Definition der Allmacht Gottes und der formellen, wie wir sie in der Wolffschule und beim frühen Kant vorfinden, um Suarez gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er habe die Metaphysik auf eine Art Logomachie zurückgeführt, insofern sie letztlich nur mehr mit logischen Möglichkeiten befaßt zu sein scheine. Suarez komme erst zu dieser materialen Gleichsetzung auf Grund der näheren Bestimmung und Definition Gottes; denn auf die Frage, was Gott durch seine Allmacht hervorbringen könne, habe er nicht, wenn er nicht eine tautologische Antwort geben wollte, sagen können: alles, was durch seine Allmacht möglich ist, bzw. was in seiner Allmacht als möglicher Effekt existiert, sondern nur mehr die negative Bedingung der Möglichkeit anführen können: Gott kann durch seine Allmacht alles hervorbringen, was sich nicht widerspricht, so daß er auf dem Umweg einer näheren Analyse des Gegenstandes der Allmacht Gottes zu dieser materialen Gleichsetzung von nicht Widersprüchlichem d. h. logisch Möglichem und real Möglichem gelangte: Quidquid non involvit contradictionem est possibile per omnipotentiam Dei. Das heißt: inhaltlich fallen beide zusammen: das was logisch möglich ist, was als möglicherweise existierend gedacht werden kann, dem es also nicht widerspricht in der Natur und in sich selbst zu existieren, ist auch real möglich, aber nicht auf Grund seiner Denklichkeit, seiner Nichtwidersprüchlichkeit allein, sondern nur auf Grund der Kausalität Gottes und seiner Allmacht, in der er alles in der Natur hervorbringen kann, was sich nicht widerspricht. Die logische Möglichkeit des Dinges als die Nichtwidersprüchlichkeit seiner gesamten Realgehalte hat keine wie immer geartete potentia realis positiva, sie ist als nihil rei esse reine potentia passiva oder receptiva: keine logische Möglichkeit eines Dinges ist als solche per se und ex se eine reale Möglichkeit oder eine reale Wesenheit, sondern nur durch die Allmacht Gottes. Damit werden nun neben den bezeichneten Ubereinstimmungen auch wesentliche Unterschiede zwischen den ontologischen Positionen des Suarez und denen des frühen Kant deutlich: während nach dem ersteren für die reale Möglichkeit eines im Begriff vorge-

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stellten Dinges die Beziehung auf die Ursache ihrer möglichen Verwirklichung das entscheidende Konstitutivum darstellt und der objektive Realgehalt seines Begriffs an sich noch keine wahre ontologische Bedeutung hat, ist für Kant dieser als bloße nichtwidersprüchliche Synthese von Bestimmungen schon das eigentliche Kriterium der realen Dingmöglichkeit als solcher und daher von entscheidendem ontologischem Gewicht. Damit aber ändert sich auch die Art der Beziehung zu ihrem fundierenden Prinzip, dem notwendigen Wesen: während für Suarez der Realitätscharakter der Möglichkeiten formal durch das inesse in potentia causalitatis divinae begründet wird, beruht er für Kant unmittelbar und formal auf dem inesse in essentia divina, wodurch der objektiven Realität der Möglichkeiten als solcher ein eigener und zwar unaufhebbarer Seinscharakter zukommt, von dem aus der Schluß auf ihr begründendes Prinzip als ein notwendiges Dasein überhaupt erst möglich wird. Hier liegt also ohne Zweifel ein grundlegender Unterschied zwischen der Position des jungen Kant und der des großen scholastischen Philosophen. Um so bemerkenswerter ist es deshalb, wenn wir bei den späteren Vertretern dieser scholastischen Richtung eine praktisch völlige Übereinstimmung in den ontologischen Grundpositionen finden, von denen Kant in der Konzeption seines einzig möglichen Beweisgrundes ausgeht. Man braucht nur etwa das bekannte Compendium der Ontologie von P. Donai10, der vor einem Menschenalter in Innsbruck scholastische Philosophie lehrte, zur Hand zu nehmen, um sich davon zu überzeugen: in dem 2. Kapitel, das überschrieben ist „De ente existenti et possibili" handelt er in Artikel 4 und 5 über die Possibilien und vertritt im Hinblick auf sie folgende Thesen. Artikel 4: „Möglich (possibile) wird jenes genannt, das existieren kann, Möglichkeit aber heißt die Eignung zum Existieren (aptitudo ad existendum). Zu dieser Eignung, im vollen Sinn genommen, sind zwei Dinge erfordert: 1) daß das Ding in sich nicht widersprüchlich ist; 2) daß eine Ursache vorhanden ist, die es hervorbringen kann . . . jene nennt man die innere Möglichkeit, diese letztere aber die äußere. Die innere (absolute) Möglichkeit ist die Eignung zur Existenz, die das Ding aus sich hat und die darin besteht, daß seine Konstituenten oder Merkmale einander nicht widersprechen... Die Möglichkeit im vorzüglichen Sinn (praecipua) ist die innere; die äußere folgt auf die innere und setzt sie voraus. Ja wenn einfachhin von Möglichkeit die Rede ist, hat man nur die innere vor A u g e n . . . Es ist außerdem zu unterscheiden zwischen dem ,,mere possibile", dem, was bloß möglich ist, und dem „praecisive possibile", was sowohl von der Existenz wie von der Nichtexistenz abstrahiert und deshalb sowohl von den existierenden wie nichtexistierenden Dingen ausgesagt werden k a n n . . . Daraus läßt sich leicht erschließen, daß zwischen dem Möglichen, praecisive verstanden, und dem (metaphysischen) Wesen kein Unterschied außer dem kleinen gedanklichen (rationis) bestehe, daß das Wesen (essentia) besagt, was jenes sei, das für die Existenz geeignet ist, das Mögliche (possibile) aber ausdrücklich seine Eignung für das Existieren bezeichnet. Vor allem stelle sich die Frage nach der Realität der Möglichkeiten (possibilium). Da nämlich die bloß möglichen Dinge (mere possibilia)... in der Ordnung der existierenden nicht in Erscheinung treten, könnte es scheinen, daß sie in sich selbst betrachtet völlig 70

J. Donat, Ontologia, Innsbruck 1940

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nichts und nur insofern etwas seien, als und wann sie im Geiste konzipiert werden". Dazu die These 6: „Die Möglichkeiten (possibilia) sind von der Erkenntnis des Intellektes unabhängig . . . sie haben zwar in sich keinerlei Existenz, trotzdem sind sie nicht völlig nichts sondern wahrhaftige Seiende (vera entia)", was, wie folgt, erklärt wird: „Die Possibiüen erlangen im Geiste, in dem sie gedacht werden, eine gewisse Existenz . . . aber diese Existenz ist nicht eine ihnen innerliche, sondern äußerliche; denn sie besteht in nichts anderem als darin, daß sie in einer Vergegenwärtigung des Geistes ausgedrückt sind, eine Vergegenwärtigung und ein Ausdruck, die sicherlich von den Possibiüen selber zu unterscheiden sind (distincta est). Wir behaupten also, daß die Possibilien, in sich betrachtet, keineswesgs von der Erkenntnis abhängig sind. Denn: jenes hängt nicht von der Erkenntnis des Intellektes ab, das ihr vorhergeht und von ihr vorausgesetzt wird. Nun aber gehen die Possibilien der Erkenntnis des Intellektes vorher und werden von ihr vorausgesetzt; denn die Erkenntnis macht nicht ihr Objekt, sondern vergegenwärtigt es und gleicht sich ihm an, folglich setzt sie ihr Objekt voraus. Die Möglichkeiten haben in sich keine Existenz, sie sind jedoch nicht schlechthin nichts, sondern „entia". Denn sie sind etwas (aliquid), das ens aber bedeutet dasselbe wie aliquid und wird von allen Dingen ausgesagt, die nicht völlig nichts sind.. . Die Possibilien unterscheiden sich so von den Negationen und Impossibilien, die einfach nichts sind. Denn sie haben die Eignung zum Existieren (aptitudinem ad existendum), sie haben ein ihnen eigenes Wesen, sie bestimmen den Intellekt im Denken, was man gewiß von etwas, das einfach nichts ist, nicht sagen kann" 7 1 . Artikel 5: „Der nächste Grund (ratio próxima) der Wesenheiten oder Möglichkeiten, d. h. der nächste (unmittelbare) Grund ihrer Entität, warum sie nämlich etwas und nicht einfachhin nichts sind und warum sie geeignet sind für die Existenz, liegt ohne Zweifel in ihren eigenen, einander nicht widersprechenden Merkmalen. Aber es fragt sich, ob ein weiterer ontologischer Grund angenommen werden muß, von dem diese nicht widersprechenden Merkmale selbst abhängen bzw. durch den bewirkt wird, daß es überhaupt nicht widersprechende Merkmale gibt und nicht vielmehr absolut nichts... d. h. ob die Konstitutiva oder Merkmale des möglichen Dinges aus sich allein das sind, was sie sind, ober ob sie einen entfernteren Grund außer ihnen haben, auf dem sie beruhen (in qua nitantur). Wir sagen: Gott ist ein solcher Grund oder ein solches Fundament, so daß also Gott nicht nur der letzte Grund der Existenz der Dinge, sondern auch der ihrer Möglichkeit ist. Zugleich werden wir genauer bezeichnen, auf welche Weise Gott dieser letzte Grund der Wesenheiten ist, indem wir behaupten, er sei nicht durch seine Macht oder seinen Willen, sondern allein auf Grund seines Wesens oder seines unendlichen Seins das letzte Fundament (der Möglichkeiten)" 72 . Die These 7 : , ,Die Wesenheiten der Possibilien hängen weder von der Macht noch vom Willen Gottes ab", ist insofern bemerkenswert, als sie sich gegen die obige Position des Suarez richtet, dagegen klar den Standpunkt einnimmt, den Kant vertritt. Von noch größerer Bedeutung aber ist in unserem Zusammenhang die These 8 über die „ultima ratio 71 72

Donat op. cit. 69f. Ebd. 71 f.

Gedankengang des ontotheol. Arguments in der 1. Abtlg. des „Beweisgrundes"

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seu fundamentum essentiarum sive possibilium", in der der Gedanke vom letzten Grund der Wesenheiten weitergeführt und näher erklärt wird: daß nämlich „die Konstitutiva der Possibilien auf einem weiteren realen Fundament beruhen (niti), nämlich auf dem göttlichen Wesen, so daß also, wenn man absurderweise voraussetzte, Gott existiere nicht, es weder widersprüchliche noch nichtwidersprüchliche Merkmale, sondern absolut nichts geben würde. Jedoch ist offensichtlich, daß Gott nicht die Ursache der Possibilien sein kann: denn diese werden als solche nicht hervorgebracht, eine Ursache aber hat nur das, was entsteht. Die Possibilien können auch nicht aus Gott emanieren, wie häufig die Pantheisten vom Ursprung der Dinge träumen. Denn Gott hat als völlig einfaches Seiendes keinerlei Zusammensetzung aus Teilen in sich, so daß etwas von ihm abgetrennt werden könnte. Vielmehr ist Gott allein dadurch der letzte Grund der Wesenheiten, daß sie mögliche Nachahmungen von ihm sind, freilich nicht vollkommene, sondern nur unvollkommene. Wie das Bild des Menschen allein dadurch ist, daß es den Menschen nachahmt, und, wenn der Mensch nicht wäre, es auch selber nicht sein könnte; auf ähnliche Weise also erhalten die possibilia ihr Wesen und ihre Denklichkeit allein dadurch, daß sie das Wesen Gottes zu einem Teil nachahmen, so daß, wenn Gott nicht auf diese Weise nachahmbar wäre, auch sie nicht sein könnten. Das Wesen Gottes ist aber hier zu verstehen als unendliches Sein oder absolute göttliche Vollkommenheit (esse infinitum seu perfectio absoluta divina)." Von den Beweisen dieser These ist vor allem der zweite und der dritte hinsichtlich der Position Kants wichtig, zumal der letztere, weil er einen Gottesbeweis enthält, den auch dieser im Zusammenhang mit seinem apriorischen Argument aus den Möglichkeiten führt, wie wir sehen werden; aber auch der zweite ist im Hinblick auf den von Kant abgelehnten Standpunkt des Leibniz von großem Interesse: „Gott kann in seinem Wirken von nichts anderem abhängen, weil das eine Unvollkommenheit bedeuten würde. Wenn aber die Möglichkeiten nicht letztlich von Gott abhingen, würde er selbst von den Möglichkeiten abhängen. Denn da er nur bewirken kann, was möglich ist, würde er ständig von den Möglichkeiten als von ihm völlig unabhängigen Normen abhängig sein und müßte sich ihnen anpassen, wie ein Musiker den Gesetzen der Töne; und er würde ihrer als äußerer Ergänzung bedürfen, denn sie würden seinem Wirken die Gegenstände darbieten, die er von sich selbst nicht hätte. Also hängen die possibilia letztlich von Gott ab, und zwar sicherlich auf die Weise, daß sie Nachahmungen des göttlichen Wesens sind; denn etwas anderes gibt es nicht, wodurch Gott der letzte Grund der Möglichkeit sein könnte." Besonders wichtig ist dann aus dem bezeichneten Grund der dritte Beweis „non supposita existentia Dei", nämlich der ex harmonía possibilium: „Es herrscht zwischen den Possibilien oder den Wesen der Dinge eine bewundernswerte Harmonie: ihre gegenseitige Zusammenstimmung, Ähnlichkeit, Unterordnung wird aus den mathematischen und metaphysischen Gesetzen deutlich, die allüberall ohne Widerspruch miteinander harmonieren; sie wird deutlich in dem Einklang, der zwischen der geistigen und materiellen Ordnung herrscht... in den geordneten Reihen der Tier- und Pflanzenarten, in dem wunderbaren Zusammenklang der Töne und Farben und des ganzen Universums. Diese gegenseitige Harmonie der Möglichkeiten verlangt einen zureichenden Grund, der nicht

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in den einzelnen Möglichkeiten, getrennt für sich genommen, zu finden ist. Denn als einzelne für sich können sie nicht durch ihr Sein den Grund dafür enthalten, daß sie mit anderen übereinstimmen. Folglich kann der zureichende Grund dafür nur darin liegen, daß alle Möglichkeiten in einem einzigen Seienden übereinkommen, insofern sie aus ihm als seine möglichen Nachahmungen sozusagen abfließen (quasi émanant). Dieses Seiende aber ist unendlich, weil die Vielheit der possibilia, deren Vollkommenheiten es alle insgesamt enthalten muß, ohne Ende ist. Es ist ein Existierendes, weil es unvernünftig (ineptum) wäre zu denken, daß die Möglichkeiten in einem anderen bloß Möglichen ihren Grund hätten und von diesem abhingen; schließlich ist es ein ewiges, weil die Möglichkeit der Dinge sich über alle Zeit hinaus erstreckt (excedit). Also kann es keinen anderen zureichenden Grund für die Harmonie der Possibilien geben als den, daß sie in einem ewigen, unendlichen Seienden, Gott, übereinkommen (conveniunt), dessen Wesen sie nachahmen und in dem sie folglich ihr letztes Fundament haben . . . " Wie wir sehen werden, führt Kant in der zweiten Abteilung auf prinzipiell dieselbe Weise seinen aposteriorischen Beweis aus der Harmonie der in der Welt verwirklichten Möglichkeiten 73 . Vergleicht man die ontologischen Grundthesen und -Voraussetzungen dieser scholastischen Possibilienlehre, so kann man eine praktisch lückenlose Übereinstimmung mit jenen feststellen, von denen auch Kant sein ontotheologisches Argument aus dem Realen der Möglichkeiten konzipiert hat. Natürlich gibt es Nuancen und Abwandlungen in der Durchführung dieser Grundgedanken, wie etwa in dem Beweis des Daseins Gottes aus der Harmonie der Möglichkeiten, den der scholastische Philosoph und Theologe anders konkretisiert als der Philosoph des 18. Jahrhunderts, dem vor allem das Problem der Harmonisierung von Gottesglauben und der neuen naturwissenschaftlichen Weltsicht seiner Zeit am Herzen lag und dessen Absicht deshalb in der Führung dieses Beweises vornehmlich auf die Methode gerichtet war, „vermittelst der Naturwissenschaft zur Erkenntnis Gottes hinaufzusteigen", wie er in der Vorrede sagt. Aber die ontologischen Grundsätze, von denen sowohl die genannte scholastische Richtung wie auch Kant ausgehen, sind in der Substanz dieselben und es ist für den mit den Kantischen Texten näher Vertrauten leicht, dies für alle entscheidenden Punkte im einzelnen nachzuweisen, wobei sich nicht selten sogar die Formulierungen einander erstaunlich nähern. Bedenkt man darüber hinaus, in wie vielen und entscheidenden Punkten Kant bereits in der Nova Dilu cidatio der Lehre eines Leibniz und Wolff kritisch und ablehnend gegenübersteht, dann kann man ermessen, wie einseitig Campos Beurteilung des metaphysischen Standpunktes des frühen Kant eigentlich ist. Wenn nun die ontologischen Grundsätze Kants über die Möglichkeiten weitgehend mit denen der genannten scholastischen Richtung übereinstimmen, worin liegt dann, so wird man fragen, überhaupt noch ein Unterschied zwischen beiden. Die Beantwortung dieser Frage ist geeignet, den eigentlichen Kern der Kantischen Ontotheologie, das Unterscheidende seines metaphysischen Standpunktes zu verdeutlichen. Man kann sagen, daß die obigen Gedankengänge des scholastischen Denkers bis hart an die Schwelle des ureigenen Kantischen Schlusses hinführen, nämlich bis zu dem Gedanken: wenn Gott als 73

Ebd. 75 ff.

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der unendliche, alle Realität der Möglichkeiten umfassende, ewige Grund der Possibilien nicht existent wäre, dann könnte es überhaupt nichts Reales geben, weder Existierendes, noch Mögliches, noch die inhaltlichen Merkmale von Möglichem und Unmöglichem, sondern nur das absolute Nichts; denn die Möglichkeiten und ihre inhaltlichen Merkmale verlangen einen letzten Grund ihres Seins, der nur im Wesen und im unendlichen Sein Gottes gefunden werden kann. Bis dahin gehen die Gedankengänge Kants und der genannten scholastischen Richtung völlig parallel. Ebenso stimmen sie darin grundsätzlich überein, daß die Harmonie der Möglichkeiten, wie sie sich in den metaphysischen und mathematischen Gesetzen, in der Natur, in der Zusammenstimmung der verschiedenen Seinsbereiche offenbare, nur erklärbar ist durch ihr Fundiertsein im Wesen Gottes. Was aber Kant gegenüber dem scholastischen Denker in der Metaphysik der Possibilien eigen ist, liegt darin, daß er über das absolute Nichts, das aus der Annahme der Nichtexistenz Gottes, als des Realgrundes der Möglichkeiten, sich ergeben würde, noch weiter reflektiert und dadurch einen über die obige scholastische Position hinausgehenden Ansatz gewinnt, von dem aus er auf die Notwendigkeit des Daseins des letzten Grundes der Möglichkeiten schließen kann. Dem gegenüber ist der obige scholastische Gottesbeweis aus den Möglichkeiten lediglich ein Beweis der Existenz Gottes als des letzten Fundaments der Möglichkeiten. Der „ H e b e l " des darüber hinausgehenden neuen Beweisschrittes Kants liegt, wie wir sahen, in dem Gedanken, daß sich aus dem Nichtsein des Realprinzips der Möglichkeiten nicht nur einfach deren Aufhebung ergeben würde, sondern die grundsätzliche Aufhebung der Möglichkeit von Möglichkeiten überhaupt und damit die radikalste Form des Un-möglichen: das absolute Nichts als Aufhebung aller Möglichkeit von Möglichem ist das absolut Unmögliche. Es ist der Begriff einer absoluten realen Unmöglichkeit (gegenüber der logischen des Widersprüchlichen), aus der Kant auf die absolute reale Daseinsnotwendigkeit des die Möglichkeiten begründenden Prinzips schließt. Diese läßt sich aber nach ihm ontologisch nur so denken, daß in dem notwendig Existierenden die Möglichkeit dem Dasein nicht ontologisch vorhergeht, sondern ihm vielmehr folgt bzw. mit ihm identisch ist. Das also ist das spezifisch Neue und Eigentümliche der Argumentation Kants, worin er über die entsprechende scholastische hinausgeht und den Ansatz zu einem in Wahrheit ontologischen, apriorischen Argument des Daseins Gottes als des absolut notwendigen Daseins gewinnt, durch den diese absolute Notwendigkeit aus ihren ontologischen Prinzipien verständlich wird. Aber Kant ist, wie im Schlußabsatz der Abhandlung zum Ausdruck kommt, bewußt, daß er sich mit diesen Gedankengängen auf „einem ungebähnten Fußsteig" befindet: „Hierin [nämlich daß die Aufhebung der inneren Möglichkeit der Dinge alles Denkliche vertilgt] wird also das eigene Merkmal von dem Dasein des Wesens aller Wesen bestehen. Hierin sucht den Beweistum, und wenn ihr ihn nicht daselbst anzutreffen vermeint, so schlaget euch von diesem ungebähnten Fußsteige auf die große Heeresstraße der menschlichen Vernunft. Es ist durchaus nötig, daß man sich von dem Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere" 7 4 . Das ist nochmals eine kurze Zusammenfassung des Grundgedankens seines ontotheologischen 74

KGS II, 162 f.

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II. Teil

Arguments und zugleich eine Beurteilung desselben, in der eine gewisse Skepsis anklingt, die ahnen läßt, daß für K a n t in der Tat in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

3. Kapitel

Aufbau der zweiten Abteilung des Einzig möglichen Beweisgrundes und ihre Stellung in der Gesamtkonzeption der Abhandlung Die meisten Versuche einer Interpretation der Ontotheologie Kants bzw. seines Beweisgrundes von 1762 legen keinen oder keinen größeren Wert auf die Analyse der außerordentlich umfangreichen zweiten Abteilung des letzteren, deren Hauptthema ohne Zweifel das verbesserte physikotheologische Argument bildet. Man ist offenbar der Uberzeugung, daß dieser etwa zwei Drittel der ganzen Abhandlung umfassende Abschnitt nichts Wesentliches zur Behandlung des Titelthemas derselben beitrage und daß im übrigen das Wichtigste daraus in der dritten Abteilung im Rahmen der Kritik der übrigen Gottesbeweise, darunter speziell auch des „kosmologischen", wiederkehre. Ein anderer Grund dieser Abstinenz dürfte darin liegen, daß gerade diese Abteilung schwierige interpretatorische Probleme aufwirft sowohl hinsichtlich der Einheitlichkeit ihres Gedankengangs wie auch der Art ihrer Einbeziehung in die Gesamtkonzeption des Beweisgrundes. Nichtsdestoweniger bleibt dieser Abschnitt gerade hinsichtlich seiner Funktion und Rolle im Gesamtentwurf der Abhandlung ein Grundproblem der Interpretation, dessen Lösung, wie schon im 1. Kapitel angedeutet wurde, deshalb von großer Bedeutung ist, weil sich aus der genaueren Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesem zweiten Teil und der Ontotheologie des ersten ein entscheidendes Kriterium für die Deutung der letzteren ergibt. Die zweite Abteilung des Beweisgrundes stellt also dem Interpreten, wie eben angedeutet, ein zweifaches Problem: einmal die Frage ihrer Rolle und Funktion in dem Gesamtentwurf der Abhandlung, die zwar, abstrakt betrachtet, leicht beantwortbar zu sein scheint, deren Lösung in der konkreten Durchführung aber große Schwierigkeiten bereitet. Der Grund liegt nun gerade in dem, was den zweiten Problemaspekt ausmacht: die Frage nach der durchgehenden Logik der ihr zugehörigen acht Betrachtungen und damit die ihrer inneren Einheit, die nicht geringe Rätsel aufgibt. Denn man hat den Eindruck, daß die verschiedenen Betrachtungen bzw. Gruppen von ihnen zwar irgendwie miteinander zusammenhängen, daß aber hier doch jeweils verschiedene Themen selbständig und ohne notwendigen Zusammenhang untereinander abgehandelt werden, so daß der Gliedcharakter der einzelnen Teile oder Teilgruppen im Rahmen einer logisch geschlossenen Thematik auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Gerade die oftmalige Wiederholung derselben Gedanken in den verschiedenen Betrachtungen verstärkt den Anschein, daß wir hier keine in einer geradlinigen Logik fortschreitende Gedankenentwicklung vor uns haben, sondern eher eine Kette von verwandten Themen und Themengruppen, die jeweils relativ selbständig für sich behandelt werden.

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II. Teil

Der ganze Problemkomplex kündigt sich in etwa bereits in der Uberschrift der ganzen Abteilung an, wenn man sie nämlich mit der im letzten Absatz der ersten Abteilung bezeichneten Thematik der folgenden zweiten vergleicht. Diese Uberleitung lautet : , , Wenn wir aber auch durch eine reife Beurteilung der wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die uns durch die Erfahrung bekannt werden, selbst in den notwendigen Bestimmungen ihrer innern Möglichkeit eine Einheit im Mannigfaltigen und Wohlgereimtheit in dem Getrennten wahrnehmen, so werden wir durch den Erkenntnisweg a posteriori auf ein einiges Principium aller Möglichkeit zurückschließen können und uns zuletzt bei demselben Grundbegriffe des schlechterdings notwendigen Daseins befinden, von dem wir durch den Weg a priori anfänglich ausgegangen waren. Nunmehr soll unsere Absicht darauf gerichtet sein, zu sehen, ob selbst in der inneren Möglichkeit der Dinge eine notwendige Beziehung auf Ordnung und Harmonie und in diesem unermeßlichen Mannigfaltigen Einheit anzutreffen sei, damit wir daraus urteilen können, ob die Wesen der Dinge selbst einen obersten gemeinschaftlichen Grund erkennen" 75 . Dem scheint die Uberschrift der zweiten Abteilung: „Von dem weitläufigen Nutzen, der dieser Beweisart besonders eigen ist", ein Titel, der im übrigen genau der in der Vorrede angegebenen Einteilung7'' folgt, keineswegs in eindeutiger Weise zu entsprechen, insofern er zum Ausdruck bringt, daß der aposteriorische Beweis zum mindesten nicht der einzige und ausschließliche Inhalt dieses zweiten Teiles sein wird; ja man wird sogar sagen können, daß die Themen etwa der 4. Betrachtung: „Gebrauch unseres Beweisgrundes in Beurteilung der Vollkommenheit einer Welt nach dem Laufe der Natur" mit den beiden Abteilungen: „Was aus unserm Beweisgrunde zum Vorzuge der Ordnung der Natur vor dem Ubernatürlichen kann geschlossen werden" und „Was aus unserm Beweisgrunde zum Vorzuge einer oder andern Naturordnung geschlossen werden kann" sich unmittelbarer unter den Haupttitel der Abteilung subsumieren lassen als die Entwicklung des aposteriorischen Beweises, ebenso wie etwa auch die 8. Betrachtung mit ihrer These, daß gewisse kosmologische und kosmotheologische Probleme, wie die Frage, ob nur eine einzige beste Welt möglich sei, eindeutig nur „von unserem Beweisgrunde" her gelöst werden können. Der Gegenstand, die Thematik dieser Abteilung scheint also recht verschiedenartig zu sein. Dazu kommt, daß auch die Schlußrichtung wechselt: einmal haben wir, wie in den Betrachtungen 5 bis 7 über die Physikotheologie, in der Entwicklung seines verbesserten physikotheologischen Arguments, wie es im überleitenden Absatz hieß, einen aposteriorischen Parallel-Beweis, der in der umgekehrten Richtung verläuft wie der apriorische, nämlich von den durch die Erfahrungserkenntnis feststellbaren Eigenschaften der Dinge aus zu dem einzigen Prinzip aller Möglichkeiten und damit dem notwendigen Wesen; dann haben wir die vom Prinzip aller Möglichkeiten ausgehende, absteigende Schlußfolgerung auf die Beurteilung der Weltbegebenheiten nach ihrem Verhältnis zu dieser oder jener Naturordnung, wie in der 4. Betrachtung, also eine Verschiedenheit im Formalen der Gedankenbewegung wie auch in den materialen Problemen.

75 76

Ebd. 92 Ebd. 69

Die zweite Abteilung des „Beweisgrundes" und ihr Verhältnis zur ersten

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Daß aber Kant auch und nicht an letzter Stelle den Entwurf des bezeichneten aposteriorischen Arguments aus den notwendigen Wesensverhältnissen der Erfahrungsdinge unter den Nutzen dieser Beweisart, d . h . des apriorischen Beweises, begreift, geht eindeutig daraus hervor, daß er einerseits in dem überleitenden Absatz der ersten Abteilung diesen aposteriorischen Beweisweg als die eigentliche Aufgabe der folgenden bezeichnet, und ferner, daß er unter der bezeichneten Überschrift des Ganzen sogleich in der 1. Betrachtung diesen Beweis durchführt unter dem Titel: „ W o r i n aus der wahrgenommenen Einheit in den Wesen der Dinge auf das Dasein Gottes a posteriori geschlossen wird". Das kann nur den Sinn haben, daß der apriorische Beweis, - der im vorletzten Absatz des ersten Teiles mit der Folgerung geschlossen hatte, daß der schöpferische Wille Gottes als Begierde nach der höchsten Fruchtbarkeit mit den Wesen der Dinge übereinstimmen müsse, weil diese im Wesen Gottes selbst begründet sind und daher in den Möglichkeiten der Dinge höchste Einheit, Harmonie und Ordnung herrschen muß77 - daß dieser apriorische Beweis dazu anrege, den umgekehrten Weg zu gehen, nämlich von der Beobachtung der notwendigen Harmonie in den Wesenheiten selbst aus auf ein einiges Principium aller Möglichkeiten zurückzuschließen. Der apriorische Beweis spielt also hier in etwa die Rolle der späteren theologischen Vernunftidee als Leitprinzip der Naturforschung, freilich mit dem Unterschied, daß dort die Idee durch die Ergebnisse der von ihr geleiteten Erforschung der Natur erst realisiert werden muß, während hier die beiden Argumente sich als Komplementärbeweise gegenüberstehen, und zwar so, daß der entscheidende der apriorische ist und als solcher auch den zweiten, den aposteriorischen, nach sich zieht, gewissermaßen als eine Verifizierung durch die Erfahrung, wie es in einer Reflexion aus dem Anfang der siebziger Jahre ausgesprochen wird (R 4250) : „Dieser Beweis aus bloßen Begriffen ist nicht komplett ohne Bestätigung durch den empirischen Beweis, daß die Grundsätze der Vernunft mit der Erfahrung stimmen, ob sie zwar nicht daher entlehnt sind. Umgekehrt ist ein empirisches Argument ohne diesen Vernunftbeweis nicht hinreichend zu einem bestimmten Begriff des Urwesens" 7 8 . Diese Reflexion scheint insofern einen fortgeschrittenen Standpunkt über den der Abhandlung von 1762 hinaus zu repräsentieren, als der apriorische Beweis einer aposteriorischen Verifizierung bedürftig genannt wird, während doch dem einzig möglichen Beweisgrund von 1762 als Beweis von mathematischer Evidenz und Schlüssigkeit eine unbedingte und von jeder Verifizierung unabhängige Gültigkeit zugesprochen werden muß. Freilich, wenn man bedenkt, was Kant gerade in dieser Abteilung gelegentlich von den reinen Vernunftbeweisen anmerkt: „Schwerlich würde wohl jemand seine ganze Glückseligkeit auf die angemaßte Richtigkeit eines metaphysischen Beweises wagen, vornehmlich wenn ihm lebhafte sinnliche Überredungen entgegenständen" 7 9 , dann wird man den Unterschied nicht mehr so wesentlich finden. Sicher hat Kant auch schon zur Zeit des Beweisgrundes wenigstens im Hinblick auf die praktische Überzeugungskraft einen der Erfahrung näheren Beweis, wie es der physikotheologische überhaupt und im allgemeinen war, für nötig gehalten. So dürfte er das Verhältnis zwischen beiden Argu77 78 79

Ebd. 91 f. (kursiv Verf.) Ebd. XVII, 481 Ebd. II, 118

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II. Teil

menten in der Tat schon damals wenigstens in der durch die R 4250 bezeichneten Richtung gesehen haben. Kant führt nun diesen aposteriorischen Weg des Beweises aus den Möglichkeiten in der 1. Betrachtung in zwei Schritten durch, deren Hauptthematik aus den Titeln der beiden Nummern hervorgeht: 1. Die Einheit in dem Mannigfaltigen der Wesen der Dinge gewiesen an den Eigenschaften des Raums; und 2. Die Einheit im Mannigfaltigen der Wesen der Dinge, gewiesen an demjenigen, was in den Bewegungsgesetzen notwendig ist. In der ersteren wird die Einheit und Harmonie der notwendigen Eigenschaften der geometrischen Figuren, wie etwa des Kreises, als Ausgangspunkt des aposteriorischen Schlusses genommen: „Wir haben, um in den notwendigen Eigenschaften des Raums Einheit bei der größten Mannigfaltigkeit und Zusammenhang in dem, was eine von dem andern ganz abgesonderte Notwendigkeit zu haben scheint, zu bemerken, nur bloß unsere Augen auf die Zirkelfigur gerichtet, welche deren noch unendliche hat, davon ein kleiner Teil bekannt ist. Hieraus läßt sich abnehmen, welche Unermeßlichkeit solcher harmonischen Beziehungen sonst in den Eigenschaften des Raums hege, deren viele die höhere Geometrie in den Verwandtschaften der verschiedenen Geschlechter der krummen Linien darlegt, und alle außer der Übung des Verstandes durch die denkliche Einsicht derselben das Gefühl auf eine ähnliche oder erhabenere Art wie die zufälligen Schönheiten der Natur rühren80. Und wenn man bei den letzteren nach dem Grund ihrer Möglichkeit zu fragen berechtigt sei, warum dann nicht auch bei jenen, wo die Harmonie gewiß nicht darum weniger befremdlich sei, weil sie notwendig ist? „Ich halte dafür, antwortet Kant, sie sei es darum nur desto mehr. Und weil dasjenige Viele, davon jedes seine besondere und unabhängige Notwendigkeit hätte, nimmermehr Ordnung, Wohlgereimtheit und Einheit in den gegenseitigen Beziehungen haben könnte, wird man dadurch nicht eben sowohl, wie durch die Harmonie in den zufälligen Anstalten der Natur auf die Vermutung eines obersten Grundes selbst der Wesen der Dinge geführt, da die Einheit des Grundes auch Einheit in dem Umfange aller Folgen veranlaßt?" 81 . In n. 2 dieser 1. Betrachtung wird die Einheit und Harmonie in der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Wesen auf Grund der notwendigen elementaren Gesetze der Materie zum Ausgangspunkt eben dieses Schlusses gemacht. Es gibt, so führt er aus, eine Zufälligkeit und Harmonie in der Mannigfaltigkeit von Naturdingen, die nach den allgemeinen Eigenschaften und Gesetzen der Materie unverständlich sind und die man deshalb nur als Folge einer positiven Anordnung um eines Zweckes willen verstehen kann, folglich als zufällig betrachten muß. So könne man z.B. „keine allgemeine Ursache angeben, weswegen die Klauen der Katze, des Löwen u. a. m. so gebauet sind, daß sie sporen, das ist, sich zurücklegen können, als weil irgendein Urheber sie zu dem Zwecke, um vor dem Abschleifen gesichert zu sein, so angeordnet hat, indem diese Tiere geschickte Werkzeuge haben müssen, ihren Raub zu ergreifen und zu halten" 82 . Allein, stellt er dem entgegen, wenn gewisse allgemeinere Beschaffenheiten der Materie außer einem Vorteile, 80 81 82

Ebd. 95 Ebd. 95 f. Ebd. 96

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um dessen willen man sie sich so eingerichtet denken kann (wie man etwa den Luftkreis um die Erde als zu dem Zwecke angeordnet annehmen kann, daß Menschen und Tiere atmen und leben können), ohne daß irgend etwas Neues dazukäme, viele andere Vorteile zeigen, die zu den verschiedensten Zwecken geeignete Mittel sind, oder, wie Kant auch formuliert, „wenn ein einfältiges Gesetz, das jedermann um eines gewissen Guten willen allein schon nötig finden würde, gleichwohl eine ausgebreitete Fruchtbarkeit an noch viel mehrerem zeigt, wenn die übrigen Nutzen und Wohlgereimtheiten daraus ohne Kunst [d.h. ohne jede künstliche Anordnung], sondern vielmehr notwendigerweise fließen, wenn endlich dieses sich durch die ganze materielle Natur so befindet: so liegen offenbar selbst in den Wesen der Dinge durchgängige Beziehungen zur Einheit und zum Zusammenhange, und eine allgemeine Harmonie breitet sich über das Reich der Möglichkeit selber aus" 8 3 . Da dies aber nicht dem „Ungefähr" beigemessen werden könne, zeige es eine in den Möglichkeiten der Dinge liegende Einheit und die gemeinschaftliche Abhängigkeit selbst der Wesen aller Dinge von einem einigen großen Grunde an 84 . Dabei betont er, daß es sich bei den Gesetzen der Materie, die er hier im Auge hat, um die Grundgesetze des materiellen Sein überhaupt handelt, wie das des Stoßes und die der Bewegung oder das von Maupertuis entdeckte allgemeine Gesetz der Sparsamkeit im Naturwirken, die deshalb als im Wesen der Materie selbst begründet angenommen werden müßten, weil Materie unter anderen Gesetzen gar nicht denkbar sei. Es handle sich also hier um eine Notwendigkeit von der obersten Art, die sich logisch aus dem Wesen der Materie ergebe, die aber nicht hindere, daß die innere Möglichkeit der Materie selbst, nämlich die Data und das Reale, was diesem Denklichen zum Grunde liegt, nicht unabhängig für sich selbst gegeben, sondern durch irgend ein Prinzipium gesetzt sei, was die Zufälligkeit der Bewegungsgesetze im Äed/verstande bedeute 85 . Damit ist der Beweis aus der notwendigen Ordnung, Einheit und Zweckmäßigkeit der Natur auf Grund der Wesensgesetze der Materie und des Raumes abgeschlossen, also jenes aposteriorische Pendant des apriorischen Beweises geliefert, das Kant im Schlußabschnitt der ersten Abteilung angekündigt hatte. In den nun folgenden Betrachtungen 2 mit 4 ist, und das ist wichtig für das Verständnis dieser zweiten Abteilung, die Blick- und Schlußrichtung umgekehrt. Von dem durch den apriorischen Beweis erschlossenen obersten Prinzip der Wesen der Dinge ergibt sich die Möglichkeit, das je nach der Seinsschicht unterschiedliche Verhältnis der Welt bzw. der Weltbegebenheiten zu Gott in neuer und differenzierterer Weise zu bestimmen. Daraus resultieren wichtige Gesichtspunkte und Grundsätze für die wissenschaftliche Erforschung der Natur, worin Kant einen weiteren wichtigen „Nutzen, der dieser Beweisart eigen ist", erblickt, wie in den bereits angeführten Titeln der beiden Abschnitte der 4. Betrachtung zum Ausdruck kommt. Die Grundsätze der Naturforschung, die Kant im Auge hat, betreffen die Rolle des Übernatürlichen, d.h. des Wunders, in den Weltbegebenheiten und sein Verhältnis zum natürlichen

83 84 85

Ebendort Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd. 98 ff.

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II. Teil

Bereich, sowie das Verhältnis zwischen der zufälligen „künstlichen" und der notwendigen Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur. Demgegenüber spielen die beiden vorausgehenden Betrachtungen 2 und 3, die die Abhängigkeit der Welt von Gott nach ihren verschiedenen Weisen und Dimensionen untersuchen, mehr die Rolle einer Vorbereitung zunächst auf die eben angedeutete Lehre der 4. Betrachtung, wobei auch hier schon jene spezielle Abhängigkeit der Welt von Gott, die mit der der Möglichkeiten der Dinge von ihrem obersten Realgrund gegeben ist, immer wieder als der grundlegende Unterscheidungsgesichtspunkt herausgearbeitet wird. Schon die 2. Betrachtung differenziert die Abhängigkeit aller Dinge von Gott nach diesem Gesichtspunkt als „moralische" und „unmoralische" im Sinn von «¿cAf moralisch er, d. h. als Abhängigkeit der Dinge auf Grund seines Willens oder freien Entschlusses, und als jene andere, die nicht durch den Willen Gottes bedingt ist, sondern der freien Entscheidung vorausgeht und unmittelbar durch das Wesen Gottes selber gegeben ist. Diese letztere gründet in der Abhängigkeit der Möglichkeiten der Dinge, der die Abhängigkeit ihres Daseins als moralische gegenübersteht, „weil sie nur darum existieren, weil Gott gewollt hat, daß sie sein sollten". Im übrigen werden hier bei der Darstellung der nichtmoralischen Abhängigkeit der Dinge von Gott, d . h . ihrer notwendigen Wesensgesetze und Wesenbeziehungen, die notwendig aus den Möglichkeiten resultieren, unvermeidlich in der Substanz dieselben Gedanken wiederholt, die in der 1. Betrachtung als Ausgangspunkt des aposteriorischen Rückschlusses auf das Prinzip aller Möglichkeiten gedient hatten, nur daß hier immer wieder diese notwendige Wesensordnung der Dinge der Zufälligkeit ihrer Existenz, die „moralisch" von Gott abhängig ist, gegenübergestellt wird: „Ich gehe hier nur immer auf die Beziehung, die das Wesen der Luft oder eines jeden andern Dinges zu der möglichen Hervorbringung so vieler schönen Folgen hat, das ist, ich betrachte nur die Tauglichkeit ihrer Natur zu soviel Zwecken, und da ist die Einheit wegen der Ubereinstimmung eines einigen Grundes zu soviel möglichen Folgen gewiß notwendig, und diese möglichen Folgen sind insofern voneinander und von dem Dinge selbst unzertrennlich [=unabtrennbar]. Was die wirkliche Hervorbringung dieser Nutzen anlangt, so ist sie insofern zufällig, als eins von den Dingen, darauf sich das Ding bezieht, fehlen, oder eine fremde Kraft die Wirkung hindern kann" 8 ''. Das heißt: die nach diesen Gesetzen notwendigen Folgen können von zufälligen Bedingungen wie der Existenz gewisser anderer Dinge abhängen, wie ja auch die Existenz der betreffenden Substanz, etwa der Luft, selbst zufällig ist. Ähnliches haben wir bei den Eigenschaften des Raumes, die ja ebenfalls in der 1. Betrachtung eine grundlegende Rolle gespielt haben: „ I n den Eigenschaften des Raumes liegen schöne Verhältnisse und in dem unermeßlich Mannigfaltigen seiner Bestimmungen eine bewundernswürdige Einheit. Das Dasein aller dieser Wohlgereimtheit, insofern Materie den Raum erfüllen sollte, ist mit allen ihren Folgen der Willkür der ersten Ursache beizumessen; allein was die Vereinbarung so vieler Folgen, die alle mit den Dingen in der Welt in so großer Harmonie stehen, untereinander

86

Ebd. 101

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anlangt, so würde es ungereimt sein, sie wiederum in einem Willen zu suchen" 8 7 . Dieses ,,In-so-großer-Harmonie-stehen" mit den Dingen dieser Welt bedeutet, daß diese wesentlich zusammenhängenden Folgen von Raumgebilden auch grundlegend sind für die notwendigen Verhältnisse in den materiellen Dingen. „Ich führe hier darum so wenig geachtete und gemeine Folgen aus den einfältigsten und allgemeinsten Naturgesetzen [wie daß die Weltkörper in ihrem flüssigen Zustand allgemeinen Gesetzen zufolge eine Kugelgestalt anzunehmen bestrebt sind] an, damit man daraus sowohl die große und unendlich weit ausgebreitete Zusammenstimmung, die die Wesen der Dinge überhaupt untereinander haben, und die großen Folgen, die derselben beizumessen sind, auch in den Fällen abnehme, wo man nicht geschickt genug ist, manche Naturordnung bis auf solche einfältige und allgemeine Gründe zurückzuführen, als auch damit man das Widersinnige empfinde, was darin liegt, wenn man bei dergleichen Übereinstimmungen die Weisheit Gottes als den besonderen Grund derselben nennt. Daß Dinge da sind, die so viel schöne Beziehung haben, ist der weisen Wahl desjenigen, der sie um dieser Harmonie willen hervorbrachte, beizumessen, daß aber ein jedes derselben eine so ausgebreitete Schicklichkeit zu vielfältiger Übereinstimmung durch einfache Gründe enthielte, und dadurch eine bewundernswürdige Einheit im Ganzen konnte erhalten werden, liegt selbst in der Möglichkeit der Dinge, und da hier das Zufällige, was bei jeder Wahl vorausgesetzt werden muß, verschwindet, so kann der Grund dieser Einheit zwar in einem weisen Wesen, aber nicht vermittelst seiner Weisheit gesucht werden" 8 8 . Während hier in der Darstellung des Unterschiedes von moralischer und nichtmoralischer Abhängigkeit von Gott und ihres Verhältnisses zueinander vor allem das nichtmoralisch von Gott Abhängende der Weltwirklichkeit im Mittelpunkt steht, nämlich die Unabhängigkeit der Wesensgesetze bzw. der Möglichkeit der Dinge vom göttlichen Willen, und als moralisch von ihm abhängende Dimension lediglich die Existenz dieser nach notwendigen Wesensgesetzen verbundenen Weltdinge und Weltbegebenheiten erschien, faßt Kant in der nun folgenden 3. Betrachtung einen bestimmten Teil der Weltereignisse ins Auge, der ebenso radikal und unmittelbar vom freien Willensentschluß Gottes abhängig ist, aber die Ordnung des Natürlichen, das sowohl die Existenz wie die Wesensgesetze der Welt umfaßt, übersteigt und daher als etwas Zusätzliches zum Gesamtbestand der Natur hinzutritt: jene Weltbegebenheiten, die von einer außer- oder übernatürlichen Ursache in den Naturverlauf hineingewirkt werden, nämlich die Wunder, womit Kant die Diskussion eines wichtigen Themas der Naturforschung vorbereitet, das schon damals die Gemüter erregte: wie steht die wissenschaftliche Erforschung der Natur zur Möglichkeit von übernatürlichen Eingriffen Gottes, d . h . zur Möglichkeit von Wundern? Die Wunder stehen dem gegenüber, was zur Ordnung der Natur gehört, d.h. dessen „Dasein oder Veränderung in den Kräften der Natur zureichend gegründet ist", und zwar so, daß auch „die Art, wie sie auf die Hervorbringung ihrer Wirkung gerichtet" sind, auf einer Regel der natürlichen Wirkgesetze dieser Kräfte beruht, weswegen man sie natürliche Weltbegebenheiten nenne. Auch die Wunder gehören zu den Ereignissen der 87 88

Ebendort (kurs. Verf.) Ebd. 103

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II. Teil

Welt und sind damit ohne Zweifel ihrerseits Weltbegebenheiten, die aber nicht vermittels der Naturordnung von Gott hervorgebracht werden, also als übernatürliche Ereignisse zu bezeichnen sind. Dabei sei nochmals zu unterscheiden zwischen Wundern im bloß formalen Sinn, die darin bestehen, daß durch eine übernatürliche Anordnung und Lenkung das natürliche Wirken der Naturursachen in bestimmten Fällen auf Zwecke hingeordnet wird, die mit den Naturkräften selbst keinen inneren Zusammenhang haben, wie z.B. die Bestrafung moralischer Schuld durch Naturkatastrophen etc., und Wundern auch im materialen Sinn, daß nämlich die unmittelbar bewirkende Ursache selbst außerhalb der Natur liegt, d.h. übernatürlich ist, daß also die Kausalität Gottes unmittelbar Wirkungen in den Ablauf der natürlichen Weltbegebenheiten einfügt. Dem aber steht die Abhängigkeit der Weltbegebenheiten von Gott vermittelst Act Naturordnung gegenüber, die er nach dem in der 1. Betrachtung Gesagten wiederum unterteilt in eine solche gemäß der notwendigen und eine gemäß der zufälligen Gesetzmäßigkeit der Natur, wie es hier im Titel des 2. Abschnittes der 3. Betrachtung heißt: „Einteilung der natürlichen Begebenheiten, insofern sie unter der notwendigen oder zufälligen Ordnung der Natur stehen". Damit erweitert sich aber die Dimension der moralischen Abhängigkeit der Welt und Weltbegebenheiten von Gott noch beträchtlich, insofern jetzt auch die ganze zufällige Ordnung der Natur, und nicht nur das Dasein der Dinge und das auf übernatürliche Weise Bewirkte darin begriffen wird; zu dieser zufälligen Ordnung der Natur kann man schon, wie er hier gleich zu Beginn des 2. Abschnitts ausführt, „die Verknüpfung verschiedener Arten von Dingen [in der Welt], ζ. E. der Luft, der Erde, des Wassers", zählen, welche neben der Existenz dieser Dinge selbst die unabdingbare Voraussetzung der notwendigen Naturordnung bilden: „Allein obgleich die Naturgesetze insofern keine Notwendigkeit zu haben scheinen, als die Dinge selbst, davon sie es sind, im gleichen die Verknüpfungen, darin sie ausgeübt werden können, zufällig sind, so bleibt gleichwohl eine Art der Notwendigkeit übrig, die sehr merkwürdig ist" 8 9 . Das ist wiederum die Ordnung und Einheit des Naturgeschehens, die durch die Wesensgesetze bestimmt werden, die ihrerseits in der Harmonie und Einheit der Möglichkeiten gründen: also die notwendige Ordnung der Natur. „Diese Einheit aber und mit ihr die Vollkommenheit i s t . . . notwendig und klebt dem Wesen der Sache an, und alle Wohlgereimtheit, Fruchtbarkeit und Schönheit, die ihr insofern zu verdanken ist, hängt von Gott vermittelst der wesentlichen Ordnung der Natur ab, oder vermittelst desjenigen, was in der Ordnung der Natur notwendig ist. Man wird mich hoffentlich schon verstehen, daß ich diese Notwendigkeit nicht auf das Dasein dieser Dinge selber, sondern lediglich auf die in ihrer Möglichkeit liegende Ubereinstimmung und Einheit als einen notwendigen Grund einer so überaus großen Tauglichkeit und Fruchtbarkeit erstreckt wissen will" 90 . Diese notwendige Naturordnung hat er vorausgehend so gekennzeichnet: „Es gibt . . . viele Naturgesetze, deren Einheit notwendig ist, das ist, wo eben derselbe Grund der Ubereinstimmung zu einem Gesetze auch andere Gesetze notwendig macht. 89 90

Ebd. 106 (kurs. Verf.) Ebd. 107

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Ζ. E. eben dieselbe elastische Kraft und Schwere der Luft, die ein Grund ist der Gesetze des Atemholens, ist notwendigerweise zugleich ein Grund von der Möglichkeit der Pumpwerke, von der Möglichkeit der zu erzeugenden Wolken, der Unterhaltung des Feuers, der Winde etc. Es ist notwendig, daß zu den übrigen der Grund anzutreffen sei, sobald auch nur zu einem einzigen derselben Grund da ist" 9 1 . Hier kommt sehr klar zum Ausdruck, was Kant unter der notwendigen Naturordnung versteht. Demgegenüber liegt das Charakteristische der zufälligen bzw. künstlichen Naturordnung darin, daß „der Grund einer gewissen Art ähnlicher Wirkungen nach einem Gesetze nicht zugleich der Grund einer anderen Art Wirkungen nach einem andern Gesetze in demselben Wesen ist", so daß „die Vereinbarung dieser Gesetze zufällig (ist)" bzw. „in diesen Gesetzen zufällige Einheit (herrscht)", was bedeutet, daß das, was sich ihnen gemäß in dem Ding zuträgt, nach einer zufälligen Naturordnung geschieht. „Der Mensch sieht, hört, riecht, schmeckt u.s.w., aber nicht eben dieselben Eigenschaften, die die Gründe des Sehens sind, sind auch die des Schmeckens. Er muß andere Organe zum Hören wie zum Schmecken haben. Die Vereinbarung so verschiedener Vermögen ist zufällig und, da sie zur Vollkommenheit abzielt, künstlich"92. Kant betont, daß wir durchgängig die bewunderungswürigsten Beispiele einer zufälligen, aber mit großer Weisheit übereinstimmenden Einheit im Pflanzen- und Tierreich finden, während umgekehrt „vornehmlich die unorganische Natur unaussprechlich viel Beweistümer einer notwendigen Einheit in der Beziehung eines einfachen Grundes auf viele anständige Folgen" liefere, so daß man sogar vermuten müsse, daß selbst in der organischen Natur manche Vollkommenheit, hinter der man zunächst eine besondere Veranstaltung vermutet, lediglich eine notwendige Folge aus eben demselben Grund sein könnte, welcher sie mit anderen schönen Wirkungen vermöge seiner wesentlichen Fruchtbarkeit verknüpft, d.h., daß auch in diesem Naturbereich mehr notwendige Einheit herrschen könnte, als man wohl denkt. Alle Naturwirkungen stehen so vermittelst der einen oder anderen Naturordnung unter Gott, aber so, daß die zufällige, weil bedingt durch die weise Wahl und Einrichtung Gottes, zur Dimension der moralischen Abhängigkeit der Welt von Gott gehört, die notwendige dagegen, als unmittelbar durch das Wesen Gottes begründet, zu jener der nichtmoralischen. Die 2. und 3. Betrachtung behandeln gewiß wichtige Themenkreise, die von dem Beweisgrund der ersten Abteilung her eine wesentliche Erhellung erfahren, aber in dem Zusammenhang, in dem sie stehen, doch vor allem Vorbereitungen darstellen zunächst für das Thema der 4. Betrachtung, das durch seine Titel, wie wir sahen, ausdrücklich auf das Hauptthema der ganzen Abteilung „dem weitläufigen Nutzen dieser Beweisart" bezogen ist. Dieser weitläufige Nutzen besteht darin, daß durch den apriorischen Beweis gewisse fundamentale Voraussetzungen bzw. Grundsätze der Naturforschung metaphysisch einsichtig gemacht werden: der erste dieser Grundsätze sei jene bekannte Regel der Weltweisen, ja überhaupt der gesunden Vernunft, „daß man ohne die erheblichste Ursache nichts für ein Wunder, oder eine übernatürliche Begebenheit halten solle", was, wie " Ebendort Ebd. 106 (kurs. Verf.)

92

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II. Teil

Kant expliziert, einen zweifachen Gedanken enthält: einmal, „ d a ß Wunder selten seien" ; dann „ d a ß die gesamte Vollkommenheit des Universums auch ohne viele übernatürliche Einflüsse dem göttlichen Willen gemäß nach den Gesetzen der Natur erreicht w e r d e " 9 3 . Dabei betont er ausdrücklich, daß der Grund dafür nicht, wie manche glauben, darin liege, daß Zwecke oder Vollkommenheiten, die durch Wunder verwirklicht werden, etwa dadurch allein schon minderen Wertes seien als vom Naturverlauf bewirkte, als ob in dem Natürlichen als solchem unmittelbar ein Vorzug läge, in dem Ubernatürlichen aber, als einer Unterbrechung der Naturordnung, an sich ein Ubelstand. Denn das Gute stecke nur in der Erreichung des Zweckes und werde den Mitteln nur um seinetwillen zugeschrieben. Die natürliche Ordnung habe, wenn nach ihr nicht vollkommene Folgen entspringen, unmittelbar keinen Grund eines Vorzugs in sich, weil sie nur nach der Art eines Mittels betrachtet werden könne, welchem keine eigene, sondern nur eine von der Größe des dadurch erreichten Zweckes entlehnte Werthaftigkeit zukomme. Also sei etwas nicht darum gut, weil es nach dem Lauf der Natur geschehe, sondern dieser letztere sei deshalb gut, weil das daraus Resultierende gut und vollkommen sei. Die Auffassung, die jener Regel der Weltweisen bzw. der gesunden Vernunft zugrunde liege, sei also - so dürfen wir die Gedankenfolge interpretieren-, daß Gott in seinem Ratschluß eine Welt „begriff, in der alles mehrenteils durch einen natürlichen Zusammenhang die Regel des Besten erfüllte", d . h . in der auf die einfachste Weise, nämlich durch das Naturwirken selbst, die vollkommenen Zwecke am richtigsten erreicht werden. Hier stelle sich nun die Frage, wie es komme, „ d a ß die allgemeinen Gesetze der Natur dem Willen des Höchsten in dem Verlauf der Begebenheiten der Welt, die nach ihnen geschehen, so schön entsprechen, und welchen Grund . . . man (habe), ihnen diese Schicklichkeit zuzutrauen, daß man nicht öfter, als man wahrnimmt, geheime übernatürliche Vorkehrungen zugeben müßte, die ihren Gebrechen unaufhörlich zu Hilfe kämen", d . h . „ w i e es auch nur hat möglich sein können in einer Verbindung der Weltbegebenheiten nach allgemeinen Gesetzen so große Vollkommenheit zu vereinbaren, vornehmlich wenn man die Menge der Naturdinge und die unermeßlich lange Reihe ihrer Veränderungen betrachtet, wie da nach allgemeinen Regeln ihrer gegenseitigen Wirksamkeit eine Harmonie hat entspringen können, die keiner öfteren übernatürlichen Einflüsse bedürfe" 9 4 . Die Erklärung ergibt sich aus dem einzig möglichen Beweisgrund, nach welchem auch die Wesen oder Möglichkeiten selbst von Gott abhängen und daher die Dinge der Natur sogar in den notwendigsten Bestimmungen ihrer inneren Möglichkeit das Merkmal der Abhängigkeit von demjenigen Wesen an sich haben, in welchem alles mit den Eigenschaften der Weisheit und Güte zusammenstimmt. Es wird also nicht nötig sein, daß dort, wo die Natur nach notwendigen Gesetzen wirkt, unmittelbare göttliche Ausbesserungen dazwischen kommen, weil sich nach ihnen, als im Wesen Gottes selber gründenden, niemals etwas Gott Mißfälliges ereignen kann. Denn wie sollten die Folgen der Dinge, deren zufällige Verknüpfung vom Willen und weisen Ratschluß Gottes abhängt, deren wesentliche Beziehungen aber, als Grund des Notwendigen in der Naturordnung, letztlich im 93 94

Ebd. 108 Ebd. 109 (Text und Anm.)

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göttlichen Wesen gründen, das mit seinen Eigenschaften (Weisheit und Güte) in der größten Harmonie steht, wie also sollten diese Folgen dem göttlichen Willen entgegen sein? Die Sinnhaftigkeit und damit auch die Möglichkeit von Wundern wird infolgedessen auf jene Begebenheiten des Weltlaufes eingeschränkt sein, die von der Freiheit abhängen, insofern sie die Möglichkeit enthalten, von der allgemeinen Abzielung der Naturdinge auf Vollkommenheit abzuweichen und damit dem göttlichen Willen zu widerstreiten. Da aber auch das freie Verhalten der Menschen nach gewissen, wenn auch nicht notwendigen Gesetzen erfolgt (nach Regeln der Willkür, die die Ausübung derselben auf eine andere Art gewiß machen), so sei die allgemeine Abhängigkeit der Wesen der Dinge von Gott auch hier noch ein großer Grund, die Wirkungen selbst dieser Ursachen im ganzen für anständig und der Regel des Besten gemäß zu halten, so daß nur selten die Ordnung der Natur einer unmittelbaren übernatürlichen Verbesserung oder Ergänzung bedürftig sei. Ganz anders dagegen, wenn man, wie es gewöhnlich geschehe, die Dinge der Natur so auffaßt, „daß ihre innere Möglichkeit für sich unabhängig und ohne einen fremden Grund sei" 9 5 ; denn dann müßte man es geradezu seltsam und unbegreiflich finden, wenn ohne eine beständige Reihe von Wundern etwas Taugliches durch einen natürlichen großen Zusammenhang in der Welt zustande kommen sollte. In der Tat müßte es ein befremdliches Ungefähr sein, daß die Wesen der Dinge, von denen jedes für sich seine abgesonderte Notwendigkeit hätte, sich so sollten zusammenschicken, daß selbst die höchste Weisheit aus ihnen ein großes Ganzes zuwege bringen könnte, in welchem bei so vielfältiger Abhängigkeit dennoch nach allgemeinen Gesetzen eine keiner Verbesserung bedürftige Harmonie und Schönheit hervorleuchtete, wie sich uns der Weltverlauf tatsächlich in der Erfahrung darbiete9'1. Der zweite Nutzen unseres Beweisgrundes für die Beurteilung und Erforschung der Natur liegt nach dieser 4. Betrachtung darin, daß eine weitere Grundregel im Verfahren der gereinigten Weltweisheit daraus verständlich wird, nämlich das allgemein angenommene Prinzip, in der Erforschung der Ursachen des Naturgeschehens vor allem darauf bedacht zu sein, die Einheit der Natur möglichst zu wahren, also möglichst viele Wirkungen „aus einem einzigen, schon bekannten Grunde herzuleiten und nicht zu verschiedenen Wirkungen wegen einiger scheinbaren größeren Unähnlichkeiten sogleich neue und verschiedene wirkende Ursachen anzunehmen" ; m. a. W. daß man in der Erforschung der Natur präsumieren soll, daß in ihr große Einheit herrsche hinsichtlich der Zulänglichkeit eines einzigen Grundes zu mancherlei Art von Folgen, bzw. daß „die Vereinigung einer Art Erscheinungen mit denen von anderer Art mehrenteils als etwas Notwendiges und nicht als eine Wirkung einer künstlichen und zufälligen Anordnung anzusehen" sei, wie er am Beispiel der Schwerkraft und an der Ätherhypothese erläutert. Und selbst da, wo „ein sehr genaues Ebenmaß", wie etwa in der Struktur der Schneeflocke, eine besondere künstliche Anordnung zu erheischen scheint, sei man davon überzeugt, daß sie dem notwendigen Ergebnis aus allgemeinen Gesetzen beigemessen werden müs95 96

Ebd. 112 Vgl. ebendort

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II. Teil

se, befolge man also noch immer die Regel der Einheit, statt eine künstliche Anordnung anzunehmen97. Freilich sei die Natur auch reich an Gebilden, wo alle Weltweisheit, die über ihre Entstehung nachsinnt, sich genötigt sehe, diesen Weg der Erklärung zu verlassen, d.h. den Weg, ihre Entstehung als Folge der allgemeinen und notwendigen Naturgesetze zu deuten. Denn daselbst sei eine große Kunst und eine zufällige Vereinbarung durch freie Wahl gewissen Absichten gemäß augenscheinlich als Grund eines besonderen Naturgesetzes, welches zur künstlichen Naturordnung gehöre: So zeige etwa der Bau der Pflanzen und Tiere eine derartige Anordnung, die nach allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen unerklärlich bleibe; aber das genannte Leitprinzip der Naturforschung habe selbst in diesem Bereich eine gewisse Anwendung, so ζ. B. in der Frage, wie näherhin der Ursprung der Organismen durch die Kausalität der göttlichen Weisheit zu erklären sei: ob nämlich die einzelnen Individuen unmittelbar durch übernatürliche, künstliche Anordnung von Gott hervorgebracht seien und nur die „Fortpflanzung" im Sinn des jeweiligen Eintritts der Auswickelung des bereits von Gott Gestalteten einem Naturgesetz anvertraut sei, oder ob nur einige Individuen des Pflanzen- und Tierreichs unmittelbaren göttlichen Ursprungs seien, sie aber in diesem Fall mit dem unbegreiflichen Vermögen ausgestattet worden wären, nach einem ordentlichen Naturgesetz ihresgleichen zu erzeugen, d.h. neu hervorzubringen und nicht bloß „auszuwickeln". Da es im ersteren Fall im Hinblick auf den übernatürlichen Charakter des Ursprungs der einzelnen Individuen, entgegen der gewöhnlichen Meinung, völlig belanglos sei, wann man die Erzeugung durch Gott ansetze, ob im Moment der jeweiligen Begattung oder im Anfang der Schöpfung der Welt, so bedeute jene sogenannte „natürliche Ordnung der Auswickelung" in Wahrheit nicht eine Regel der Fruchtbarkeit der Natur, durch die der übernatürliche Charakter des Ursprungs gemindert würde, sondern die Methode eines unnützen Umschweifs, so daß sich als Alternativen ergäben: entweder bei jeder Begattung die Bildung der Frucht unmittelbar einer göttlichen Handlung beizumessen, oder der ersten göttlichen Anordnung der Pflanzen und Tiere das Vermögen zuzuschreiben, ihresgleichen nach einem natürlichen Gesetze nicht bloß „auszuwickeln", sondern wahrhaftig zu erzeugen98. Der Gesichtspunkt, nach dem Kant auch diese Frage entscheiden will, ist das Ubergewicht der metaphysischen Gründe, da, naturwissenschaftlich betrachtet, beide Annahmen mit den größten Schwierigkeiten verbunden seien. Und jene Gründe sprechen für die Wahrung der Einheit der Natur durch die Annahme eines wahrhaften Erzeugungsvermögens. Denn wenn auch alle vorgebrachten Hypothesen über dessen Natur unverständlich und ganz willkürlich sind, so sei auch die Annahme des „übernatürlichen" Ursprungs der einzelnen Individuen lediglich deswegen, weil man ihre natürliche Entstehungsart nicht begreift, ebenso willkürlich. Und er begründet seine Entscheidung für die natürliche Erzeugung durch ein alltägliches, die gesunde Vernunft überzeugendes Beispiel: „Hat wohl jemals einer das Vermögen des Hefens seines gleichen zu erzeugen mechanisch begreiflich gemacht? und gleichwohl bezieht man sich desfalls nicht auf einen 97 98

Ebd. 113 Ebd. 115

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übernatürlichen Grund." Jene Regel der Naturforschung will also besagen, und das zu zeigen sei seine Absicht hier gewesen, ,,daß man den Naturdingen eine größere Möglichkeit, nach allgemeinen Gesetzen ihre Folgen hervorzubringen, einräumen müsse, als man es gemeiniglich tut" 9 9 . Die Analysen der damit abgeschlossenen zweiten Textgruppe (2. mit 4. Betrachtung) haben aber nicht nur zu dem Ergebnis geführt, wichtige Grundprinzipien der Naturforschung metaphysisch einsichtig zu machen, sondern auch die Voraussetzung geschaffenund das war ohne Zweifel ihr weiteres Ziel - für eine ausführliche und gründliche Behandlung des Themas der Physikotheologie. Dieses beschäftigte Kant schon seit der Zeit vor der Naturgeschichte, vor allem auch deswegen, weil er in ihr einen Weg sah, die neue, moderne Naturwissenschaft mit dem religiösen Glauben zu versöhnen, ja darüber hinaus eine für beide Seiten fruchtbare Wechselbeziehung zwischen ihnen herzustellen. Die Behandlung dieses Themas wäre in dieser Form hier sicher nicht so überzeugend gelungen ohne die vorausgegangenen Ausführungen der Betrachtungen 2 mit 4, in denen neben ihren unmittelbaren Fragestellungen die Grundlagen der verschiedenen Wege der Physikotheologie mit aller nur denkbaren Präzision herausgearbeitet wurden. Und wie dort alles auf die Unterscheidung zwischen der zufälligen bzw. künstlichen und der wesentlichen und notwendigen Naturordnung hinauslief, so wird hier der Gegensatz und das Verhältnis der auf der zufälligen Naturordnung basierenden gewöhnlichen und der von der notwendigen, wesenhaften Naturordnung ausgehenden verbesserten Physikotheologie zum beherrschenden Thema. Dabei wird das Verhältnis zwischen beiden so bestimmt, daß auch der ersteren ihre Berechtigung nicht bestritten und ihre Vorzüge nicht aberkannt werden, daß aber andererseits, wie schon in der Vorrede zur Naturgeschichte, die in der damaligen Theologie offenbar weit verbreitete Tendenz, alle Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit auch der anorganischen Natur auf eine positive, weise Anordnung Gottes zurückzuführen, mit Entschiedenheit zurückgewiesen wird. Es kann kein Zweifel sein, daß für Kant das verbesserte physikotheologische Argument den Kern des großen Abschnittes der Betrachtungen 5 bis 7 bildet, ein Thema, in dem dieser mit der 1. Betrachtung übereinstimmt. Nimmt man hinzu, daß die drei dazwischenliegenden Betrachtungen 2 mit 4 die Voraussetzungen für die ausführliche Diskussion dieses Gegenstandes erarbeiten, so kann man das ganze die Betrachtungen 2 mit 7 umfassende Mittelstück der Abteilung als die ausführliche und systematische Entfaltung der zunächst in der ersten entworfenen Skizze des aposteriorischen Arguments, als Pendants des apriorischen, auffassen. Der Schlüsselbegriff dieser ganzen zweiten Abteilung ist ohne Zweifel der der notwendigen, aus dem Wesen der Dinge sich ergebenden Naturgesetzlichkeit, die letztlich in den Möglichkeiten der Dinge begründet ist. Auf sie werden die verschiedenen Aspekte und Probleme der Natur- bzw. Weltwirklichkeit bezogen und von ihr aus beleuchtet und beurteilt. Sie bildet die Entsprechung des Reiches der reinen Möglichkeiten (von dem das apriorische Argument ausging) in der Welt unserer Erfahrung. Es ist daher nicht zu verwundern, daß, wie schon bemerkt, in den verschiedenen Problemstellungen immer wie99

Ebendort

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der die gleichen diesbezüglichen Gedankengänge auftauchen, die den Eindruck ständiger Wiederholungen erwecken und dadurch den einen einheitlich fortschreitenden Gedankengang erwartenden Leser verwirren. Wir wollen nun im folgenden die wesentlichen Gedanken dieses wichtigen und umfangreichen Abschnittes der zweiten Abteilung, der Betrachtungen 5 bis 7, in einer knappen Zusammenfassung vorstellen. In der η. 1 der fünften Betrachtung weist der Philosoph auf die drei grundlegenden Wege hin, das Dasein Gottes aus seinen Wirkungen zu erkennen, die jenen drei Arten der Abhängigkeit der Weltbegebenheiten von Gott entsprechen, die er in der vorausgehenden dritten aufgezeigt hat. Der erste Weg ist jener, nach welchem das Dasein Gottes aus übernatürlichen, d . h . wunderbaren Begebenheiten im Rahmen des Weltgeschehens erschlossen wird, und das sei dann der einzig wirksame, „wenn Menschen völlig verwildert sind, oder eine halsstarrige Bosheit ihre Augen verschließt". Der zweite geht aus von der zufälligen Ordnung der Natur, „von der man deutlich einsieht, daß sie auf vielerlei andere Art möglich war, in der gleichwohl große Kunst, Macht und Güte hervorleuchtet", und die daher auf einen göttlichen Urheber schließen läßt, ein Weg, der für die richtige Betrachtung einer wohlgearteten Seele Beweistümer genug enthält, „einen mit großer Weisheit und Macht begleiteten Willen daraus abzunehmen" ; um durch ihn zu einer moralischen Gewißheit, die zum tugendhaften Verhalten hinlänglich ist, zu gelangen, sind die gemeinen Begriffe des Verstandes hinreichend. Der dritte Weg ist nun gerade jener, der zu dem bereits erwähnten Pendant des apriorischen Beweises führt, jener nämlich, der von der notwendigen und wesentlichen Naturordnung aus auf ein oberstes Prinzip nicht nur des Daseins, sondern selbst der Möglichkeit der Dinge schließen läßt. Hierzu werde aber (im Gegensatz zu den vorausgehenden) notwendig Weltweisheit erfordert, wie denn überhaupt nur ein höherer Grad der letzteren dazu befähige, mit einer Klarheit und Überzeugung zu jener Wahrheit (des Daseins Gottes) zu gelangen, die ihrer Größe gemäß seien. Die zwei zuletzt genannten Wege bezeichnen zugleich die beiden grundlegenden Methoden der Physikotheologie, weil sie aus der Betrachtung der Natur bzw. Naturordnung zur Erkenntnis Gottes aufsteigen 100 . In der n. 2 behandelt Kant sodann „die Vorteile und auch die Fehler" des ersteren dieser beiden Wege, nämlich der gewöhnlichen und bis dahin allgemein gebräuchlichen Methode der Physikotheologie, wobei er deren wesentliche Grundsätze und Forderungen kurz so zusammenfaßt: Sie bestehe darin, daß 1. die Vollkommenheit und Regelmäßigkeit der Natur in ihrer Zufälligkeit gehörig begriffen wird; 2. daß in dieser künstlichen Ordnung alle Beziehungen der Zweckmäßigkeit deutlich gekennzeichnet werden, um daraus 3. auf einen weisen und gütigen Willen zu schließen, mit dem man auf Grund der Größe des Werkes den Begriff einer unermeßlichen Macht verbindet. Kant findet Worte hoher Anerkennung für diese Methode der Gotteserkenntnis, die man sich vergegenwärtigen muß, wenn man die kurzen Andeutungen über diesen Beweis in der dritten Abteilung richtig beurteilen will: „Diese Methode ist vortrefflich: erstlich weil die Uberzeugung überaus sinnlich und daher sehr lebhaft und einnehmend und demnach auch dem gemeinsten Verstände leicht und faßlich ist; zweitens weil sie natürli100

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eher ist als irgend eine andere, indem ohne Zweifel ein jeder von ihr zuerst anfängt; drittens weil sie einen sehr anschauenden Begriff von der hohen Weisheit, Vorsorge oder auch der Macht des anbetungswürdigen Wesens verschafft, welcher die Seele füllt und die größte Gewalt hat auf Erstaunen, Demut und Ehrfurcht zu wirken. Diese Beweisart ist viel praktischer als irgend eine andere selbst in Ansehung des Philosophen. Denn ob er gleich für seinen forschenden oder grübelnden Verstand hier nicht die bestimmte abgezogene Idee der Gottheit antrifft und die Gewißheit selbst nicht mathematisch, sondern moralisch ist, so bemächtigen sich doch so viel Beweistümer, jeder von so großem Eindruck, seiner Seele, und die Spekulation folgt ruhig mit einem gewissen Zutrauen einer Überzeugung, die schon Platz genommen hat. Schwerlich würde wohl jemand seine ganze Glückseligkeit auf die angemaßte Richtigkeit eines metaphysischen Beweises wagen, vornehmlich wenn ihm lebhafte sinnliche Überredungen entgegen ständen. Allein die Gewalt der Uberzeugung, die hieraus erwächst, darum eben weil sie so sinnlich ist, ist auch so gesetzt und unerschütterlich, daß sie keine Gefahr von Schlußreden [=Argumentationen] und Unterscheidungen besorgt und sich weit über die Macht spitzfindiger Einwürfe wegsetzt 101 , eine Charakterisierung, die unwillkürlich an die entsprechende der K r . d . r . V . in Β 651 f. erinnert. Trotz der genannten Vorzüge hat diese gewöhnliche Methode der Physikotheologie nach Kant aber auch beträchtliche Nachteile bzw. Mängel; denn 1. wenngleich es einerseits durchaus berechtigt sei, „die an unzähligen Endabsichten reichen Produkte des Pflanzen- und Tierreichs nicht allein der Macht des Ungefähre, sondern auch der mechanischen Notwendigkeit nach allgemeinen Gesetzen der materiellen Natur zu entreißen", so sei es andererseits ein großer Irrtum, diese Methode nun auch auf die anorganische Natur und deren Ordnung anzuwenden und ζ. B. „von der durch große Weisheit getroffenen Vereinbarung so vieler nützlicher Eigenschaften des Luftkreises, den Wolken, dem Regen, den Winden, der Dämmerung etc." zu sprechen, die sich alle in Wirklichkeit notwendig bereits aus den Grundeigenschaften der Luft, Schwere und Elastizität, ergäben. Durch diese falsche Argumentation und ihre Voraussetzung, daß das notwendige Wirken der Natur keine derartigen schönen und zweckmäßigen Resultate hervorbringen könne, liefere man den Gegnern des Gottesglaubens, wie er schon in der Vorrede zur ¡Cosmogonie ausgeführt hatte, das Material zu den gefährlichsten Einwänden. 2. Diese falsche Methode sei überdies ein Hindernis sowohl für die Naturforschung wie auch für die Ausbreitung der philosophischen Erkenntnis; denn wenn man aus der Uberzeugung, daß die nach ihren allgemeinen Gesetzen wirkende Natur keine derartigen „Wohlgereimtheiten" hervorbringen könne, bzw. daß man, falls man dies einräume, sie auf das blinde Ungefähr zurückführen müßte, alle Vollkommenheit der Welt als eine durch Kunst veranstaltete Ordnung der Natur auffaßt, dann müsse man allüberall als deren unmittelbaren Grund die Weisheit und Macht Gottes anführen und könne folglich auch von allen weiteren Nachforschungen absehen, was dem Denkfaulen gegenüber dem unermüdlichen Forscher dazu noch den Vorzug der größeren An101

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dacht und Frömmigkeit verleihe. Kant zeigt dies im einzelnen an der Art, auf solche Weise die Entstehung der Flüsse, der Gebirge und des Planetensystems zu erklären. 3. Der dritte Nachteil dieser Methode, falls sie im ausschließlichen Sinn verstanden und auch auf das anorganische Naturwirken angewandt wird, liege darin, daß sie grundsätzlich unvermögend ist, einen Urheber der Materie und der Bestandteile des Universums selbst zu beweisen, d.h. nur hinreicht zum Erweis eines Urhebers der Formung der Materie bzw. der künstlichen Zusammenfügung dieser Bestandteile, womit die Gefahr jenes feineren Atheismus gegeben sei, „nach welchem Gott im eigentlichen Verstände als ein Werkmeister und nicht als ein Schöpfer der Welt, der zwar die Materie geordnet und geformt, nicht aber hervorgebracht und erschaffen hat, angesehen werde" 102 . Bei alldem aber, so betont Kant abschließend, gehe es nicht darum, jene sowohl der Würde wie auch der Schwäche des menschlichen Verstandes am meisten angemessene Methode der Gotteserkenntnis anzufechten oder herabzusetzen, sondern sie zu verbessern bzw. zu ergänzen, was bedeute, daß sie in ihren Grenzen gebraucht, durchaus nützlich und empfehlenswert sei. Damit ist der Hintergrund bezeichnet für die Darstellung der verbesserten Methode der Physikotheologie in der 6. Betrachtung, deren Grundthesen und -prinzipien wir bereits aus dem Vorausgehenden kennen; wir können uns deshalb mit einer kurzen Zusammenfassung begnügen. Ziffer 1 entwickelt das allgemeine Prinzip, von dem diese ganzen Analysen getragen sind: daß nämlich „die Ordnung und vielfältige vorteilhafte Zusammenstimmung überhaupt", „große Regelmäßigkeit und Wohlgereimtheit in einem vielstimmichten Harmonischen", ganz unabhängig von der Frage, ob sie zu einer notwendigen oder zu einer zufälligen Naturordnung gehören, grundsätzlich einen verständigen Urheber erfordern; denn „die eine Regel der Anständigkeit mag in der andern schon wesentlich liegen, oder willkürlich damit verbunden sein, so findet man es geradezu unmöglich, daß Ordnung und Regelmäßigkeit entweder von Ungefähr, oder auch unter viel Dingen, die ihr verschiedenes Dasein haben, so von selbst sollte stattfinden, denn nimmermehr ist ausgebreitete Harmonie ohne einen verständigen Grund ihrer Möglichkeit nach zureichend gegeben" 103 . Die Nummer 2 dieser Betrachtung enthält den eigentlichen Kern der von Kant entworfenen verbesserten Methode der Physikotheologie: die notwendige oder wesentliche Naturordnung, von der diese Methode ausgeht, führt zu einem. Urheber der Materie selbst, die in solcher Weise geordnet ist. Wie im vorausgehenden dargelegt, läßt die von der zufälligen und künstlichen Naturordnung allein ausgehende Argumentation kraft ihres Ansatzes nur auf einen sehr weisen und mächtigen Ordner und Gestalter der Weltmaterie, nicht aber auf eine schöpferische Ursache, die sie ihrer Substanz nach hervorgebracht hat, schließen. So hätten nach diesem Prinzip auch Aristoteles und viele andere Philosophen des Altertums nicht die Materie oder den Stoff der Natur, sondern nur die Form von der Gottheit hergeleitet. Und Kant vermutet, daß die Philosophie überhaupt erst durch die Offenbarung auf den Gedanken gebracht wurde, die Substanz der Dinge selbst,, ,die den 102 103

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rohen Zeug der Natur ausmachen", als etwas zu betrachten, was ohne einen Urheber nicht möglich ist; aber er bezweifelt, ob es ihr damit bis jetzt gelungen sei, und er werde diesen Zweifel in der letzten Abteilung (durch seine Kritik der traditionellen Gottesbeweise) begründen. Zugleich ist er jedoch überzeugt, daß er sowohl mit seinem apriorischen Beweis aus den Möglichkeiten wie mit dessen aposteriorischem Gegenstück auf Grund der verbesserten Physikotheologie dieses Problem erfolgreich in Angriff genommen hat. Denn wenn nicht alle Naturvollkommenheit auf einer künstlichen Anordnung der Weisheit beruht, „sondern Regeln von großer Nutzbarkeit auch mit notwendiger Einheit verbunden sind, und diese Vereinbarung in den Möglichkeiten der Dinge selbst liegt", so muß ein weises Wesen sein, ohne welches alle diese Naturdinge nicht einmal möglich sind und in welchem als ihrem letzten Grund ihre Wesenheiten selbst sich zu so harmonischen Beziehungen vereinigen. „Alsdann aber ist klar, daß nicht allein die Art der Verbindung, sondern die Dinge selbst nur durch dieses Wesen möglich sind, das ist, nur als Wirkungen von ihm existieren können, welches die völlige Abhängigkeit der Natur von Gott allererst hinreichend zu erkennen gibt", d . h . verstehen läßt. Die in den Wesen der Dinge gründende Harmonie und Ubereinstimmung müsse deshalb mit der Weisheit, Güte und Macht Gottes zusammenstimmen, weil dasjenige in Gott der Grund der Möglichkeit der Dinge sei, was auch den Grund der genannten Eigenschaften bilde, und er erklärt in der Anmerkung, daß ein Wesen von völlig unabhängiger Natur, wie das göttliche, überhaupt nur insofern uneingeschränkt weise sein kann, als die Gründe der möglichen Harmonie und Vollkommenheit der zu verwirklichenden Dinge in ihm selber, nicht aber außer ihm liegen, da ja sonst seine Weisheit nicht in jeder Hinsicht unabhängig und damit auch nicht uneingeschränkt wäre 104 . In n. 3 der Betrachtung faßt er die Grundsätze dieser verbesserten physikotheologischen Methode in sechs Punkten zusammen: 1. Man suche die Ursache selbst der vorteilhaftesten Verfassungen der Natur möglichst in solchen allgemeinen Gesetzen, die das einheitliche Prinzip außer von diesen auch von anderen „anständigen" Wirkungen und Folgen sind. 2. Man achte auf das Enthaltensein dieser verschiedenen Tauglichkeiten in einem Grunde und damit auf das Notwendige ihrer Verknüpfung, um einerseits dieses Erfolgen nach notwendigen Gesetzen vom ungefähren Zufall zu unterscheiden, andererseits den auf Grund dieser Harmonie erfolgenden Schluß auf das Dasein Gottes nicht mit jenem zu verwechseln, der von der künstlichen Naturordnung ausgeht. 3. Man vermute nicht nur in der anorganischen, sondern auch in der organischen Natur eine größere notwendige Einheit als unmittelbar in die Augen fällt, d . h . auch dort, wo eine künstliche Einheit gegeben zu sein scheint. Das sei sowohl den philosophischen Grundsätzen sehr gemäß als auch für den physikotheologischen Beweis vorteilhaft. 4. Man gehe von der künstlichen und zufälligen Ordnung aus, um auf die Weisheit eines Urhebers, von der wesentlichen und notwendigen Einheit in den Naturgesetzen aber, um auf ein weises Wesen als einen Grund zu schließen, d. h. auf ein Wesen, das nicht durch seine Weisheit ein Grund (der Ordnung und Harmonie) ist, sondern durch dasjenige in ihm, was mit seiner 104

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Weisheit notwendig harmonieren muß, nämlich durch sein Wesen. 5. Man schließe von der zufälligen Naturordnung auf einen Urheber der Form, nach der das Universum gestaltet ist, von der notwendigen auf dasselbe Wesen als einen Urheber sogar der Materie und des Grundstoffes aller Naturdinge. 6. Man stelle jene allgemeinen Regeln auf, die die Gründe der Zusammenstimmung dessen, was in der Natur mechanisch oder geometrisch notwendig ist, mit dem Besten des Ganzen verständlich machen, und versäume nicht, selbst die Eigenschaften des Raumes nach diesem Gesichtspunkt zu erwägen 105 . Die n. 4 bringt dann ausführlich die Anwendung bzw. die Konkretisierung dieser Regeln im Rahmen einer naturgesetzlich-mechanischen Erklärung von solchen zweckmäßigen Hervorbringungen der anorganischen Natur, die in der gewöhnlichen Physikotheologie mit Vorliebe als Beispiele einer künstlichen Anordnung um bestimmter Absichten willen angeführt werden; so die Bildung der Gebirge auf der Erdoberfläche, die Formung und die daraus resultierende Gestalt der Flüsse und Ströme, die die Länder durchziehen, und ihre Nützlichkeit für den Menschen, ferner solche Naturphänomene, die mancherlei Vorteile als Nebenwirkung mit sich bringen, wie etwa die Wirkung der Anziehung des Mondes in Ebbe und Flut mit ihren Vorteilen für die Schiffahrt und ihrem Nutzen als Mittel nautischer Berechnungen, und schließlich in der siebten Betrachtung die naturgesetzliche Formung der Himmelskörper, zumal unseres Sonnen- und Planetensystems, wobei er in dem einführenden Abschnitt den bereits in der Vorrede geäußerten Gedanken wiederholt, daß man gegebenenfalls diese Darlegungen „als etwas, das überdem mit der Hauptabsicht dieser Schrift nur eine entfernte Verwandtschaft hat" überschlagen könne. In der achten (und letzten) Betrachtung, die überschrieben ist: „Von der göttlichen Allgenugsamkeit", finden wird nochmals beide Betrachtungs- und Schlußweisen sozusagen auf ihren Höhepunkten einander gegenübergestellt: die von der notwendigen Naturordnung zur Höhe des apriorischen Schlusses aufsteigende führt zu „einem Begriff von dem höchsten Wesen, der alles in sich faßt, was man zu gedenken vermag", nämlich zu dem der Allgenugsamkeit Gottes, in der alles gründet, was ist und möglich ist. Eine menschliche Sprache könne den Unendlichen so zu sich selbst reden lassen: „Ich hin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne insofern es durch mich etwas ist. " Das sei der erhabenste aller Gedanken, der freilich noch weithin unbekannt und unbegriffen sei. Welche Minderung dieser Größe und Erhabenheit bedeute es, wenn man die Abhängigkeit der anderen Dinge von ihm auf ihr Dasein einschränkt und ihre Möglichkeit davon ausnimmt, „wodurch ein großer Anteil an dem Grunde von so viel Vollkommenheit jener obersten Natur entzogen und ich weiß nicht welchem ewigen Undinge beigemessen wird". Daß Gott „in der Summe aller dieser Betrachtungen" als das Wesen erscheint, „welches nebst den Gründen der Wirklichkeit auch die von aller Möglichkeit enthält", ist das, was für den menschlichen Verstand den Gegenstand der größten Bewunderung bildet: „ D e n n man kann sich zwar durch die Analogie dessen, was Menschen ausüben, einigen Begriff davon machen, wie ein Wesen die Ursache von etwas Wirklichem sein könne, nimmermehr aber, wie es den Grund der inneren Möglichkeit von anderen Dingen ent-

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halte, und es scheint, als wenn dieser Gedanke viel zu hoch steigt, als daß ihn ein erschaffenes Wesen erreichen könnte" 1 0 6 . Aber wiederum entspricht diesem Aufstieg zu dem höchsten Begriff vom göttlichen Wesen die Möglichkeit einer umgekehrten, absteigenden Gedankenbewegung: dieser hohe Begriff von der göttlichen Natur ermöglicht es uns, letzte Fragen über das gesamte Universum a priori zu entscheiden, deren Lösung uns von der Betrachtung des Universums selbst her verschlossen bliebe. Es sind Fragen wie die folgenden: Ob es unter allen möglichen Welten eine Steigerung ins Unendliche in den Graden der Vollkommenheit gebe, da keine natürliche Ordnung gedacht werden kann, im Vergleich zu der nicht eine noch vollkommenere vorstellbar ist; oder, wenn man voraussetzt, daß eine bestimmte Stufe der Weltordnung die höchste sei, ob dann nicht mehrere solche vollkommenste Welten denkbar wären. Derartige Fragen seien entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwer aus der Betrachtung der Möglichkeiten selbst zu entscheiden. Aber von „ o b e n " , d.h. vom göttlichen Wesen her, lassen sie sich eindeutig beantworten. Denn da erkenne ich fürs erste, daß die Bevorzugung einer möglichen Welt vor anderen ohne oder gar wider das Urteil, das sie als objektiv bessere jene Bevorzugung verdiene, eine Unvollkommenheit im göttlichen Wesen bedeuten würde, insofern dann entweder die bewirkenden Kräfte (Verstand und Wille) in ihm nicht übereinstimmten, oder wenigstens seine Wirksamkeit ohne entsprechende Gründe in verschiedener Weise auf ihre möglichen Gegenstände bezogen wäre. Daraus aber könne man schließen, daß die oben ins Auge gefaßten Fälle unmöglich sind. Denn, so formuliert Kant den hier zugrunde liegenden Grundsatz allgemein, es sei viel schwieriger, aus nicht hinreichend gesicherten angenommenen Möglichkeiten auf ein notwendiges Verhalten des vollkommensten Wesen zu schließen, als umgekehrt aus der erkannten Harmonie, die die Möglichkeiten der Dinge mit der göttlichen Natur haben müssen, und folglich von dem, was dieser am meisten entspricht, auf die Möglichkeit zu schließen. Demgemäß werde man auch vermuten können, „daß in den Möglichkeiten aller Welten keine solchen Verhältnisse sein können, die einen Grund der Verlegenheit in der vernünftigen Wahl des höchsten Wesens enthalten müßten". Abschließend begründet Kant, warum der Begriff Allgenugsamkeit die Vollkommenheit des höchsten Wesens richtiger zum Ausdruck bringe als der der Unendlichkeit. Denn da dieser letztere in seiner eigentlichen Bedeutung mathematisch sei, insofern er das Verhältnis einer Größe zu einer Maßgröße so bestimme, daß dieses Verhältnis größer ist als alle Zahl, impliziere dieser Terminus eine grundsätzliche Gleichartigkeit zwischen Gott und den erschaffenen Dingen und gebe überdies „den unverringerten Besitz von aller Vollkommenheit nicht geradezu zu verstehen". Das Gegenteil dagegen gelte für den Begriff der Allgenugsamkeit, weswegen dieser Ausdruck der logischen Richtigkeit mehr angemessen sei als der der Unendlichkeit, obwohl bei letzterem die Erweiterung über alle Zahlenbegriffe die Seele rühre und durch eine gewisse Verlegenheit in Staunen setze. Es ist kein Zweifel, daß hier der für den vorkritischen Kant so wichtige Gedanke zum Durchbruch kommt, der in den Reflexionen der Zeit so formuliert wird: das ens realissi-

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mum ist nach der Art einer höchsten intensiven und nicht nach dem Modell einer maximalen extensiven Größe zu denken. Überblickt man nach einer eingehenderen Analyse das Ganze dieser umfangreichen zweiten Abteilung, so ergibt sich doch ein viel geschlosseneres Bild, als es zunächst den Anschein hat. Wir können im ganzen zwei gegenläufige, aber doch auch sich ergänzende und bestimmende Gedankenrichtungen unterscheiden: einmal die von der Naturordnung, und zwar entscheidend der notwendigen Naturordnung, zu Gott aufsteigende der verbesserten Physikotheologie, wie wir sie in der 1. und der 5. mit 7. Betrachtung vorfinden, was die unmittelbare Durchführung des Planes bedeutet, den er im letzten Absatz der ersten Abteilung als die eigentliche Aufgabe der folgenden bezeichnet hatte: den Rückschluß von den wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die uns durch Erfahrung bekannt werden, auf ein einziges Prinzip aller Möglichkeit und damit zum schlechterdings notwendigen Dasein. Die zweite Gedankenrichtung verläuft umgekehrt und ist angedeutet in dem vorletzten Absatz der ersten Abteilung, wo er ausgeführt hatte: von Gott als dem Grund alles Realen der Möglichkeiten könne zurückgeschlossen werden auf die innere Beschaffenheit des Reiches der Möglichkeiten selber: daß in diesem nämlich höchste Vollkommenheit, vollkommenste Einheit, Harmonie und Ordnung herrschen müsse. Daraus ergibt sich der Schluß, daß auch in den Dingen der Natur schon auf Grund ihrer notwendigen Wesensverhältnisse eine solche Ordnung, Schönheit und Harmonie herrschen muß, also ein deduktiver Schluß von der Vollkommenheit und Harmonie des Reiches der Möglichkeiten auf die Vollkommenheit und Harmonie in den Wesen der Dinge und damit einer vollkommenen notwendigen und wesentlichen Naturordnung, die keinerlei übernatürlicher Einwirkungen zu ihrer Verbesserung bedarf. Damit läßt sich nun a priori nicht nur auf unsere Welt als die vollkommenste aller möglichen Welten schließen, wie es in dem vorletzten Absatz der 8. Betrachtung geschieht, sondern auch die obersten Grundsätze der Naturforschung metaphysisch begründen, ja strenger fassen, daß nämlich das gesamte nach der Naturordnung, vor allem der notwendigen, verlaufende Weltgeschehen ohne übernatürliche Eingriffe dem göttlichen Willen gemäß und damit vollkommen ist, so das Wunder überhaupt nur im Bereich des freien Handelns der Personen, und auch da nur in Ausnahmefällen, zur Erreichung der göttlichen Absichten in Frage kommen können, und ferner als 2. allgemein anerkannte Regel der Naturforschung, „daß in der Natur große Einheit sei in Ansehung der Zulänglichkeit eines einzigen Grundes zu mancherlei Folgen", indem man annehme, daß eine Art von Erscheinungen mit solchen anderer Art mehrenteils notwendig verbunden und nicht als Wirkung einer künstlichen und zufälligen Ordnung anzusehen sind. N u n ist sicher, daß gerade derartige methodische Grundsätze der Naturforschung zu der Erkenntnis jener notwendigen Einheit und Harmonie in den wesentlichen Beziehungen der Dinge der Welt führen, die die moderne Naturwissenschaft in so erstaunlichem Maße entdeckt hat. Sie aber ist die Grundlage der von den Dingen der Erfahrung zu Gott als Grund der Möglichkeiten aufsteigenden Physikotheologie. N u n begründet Kant ausdrücklich und ganz allgemein die ,,Regeln der verbesserten Methode der Physikotheologie" in dem „Zutrauen auf die Fruchtbarkeit der allgemeinen Naturgesetze wegen ihrer

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Abhängigkeit vom göttlichen Wesen" l u 7 . Die von dem apriorischen Beweis absteigende deduktive Gedankenrichtung reicht also hier bis zu den Grundsätzen der verbesserten Physikotheologie, was einer petitio prineipii zum mindesten nahe zu kommen scheint. Aber im Grunde genommen steht auch der Gedanke des verbesserten physikotheologischen Schlusses selber unmittelbar unter diesem Gesichtspunkt des deduktiven Schlusses von dem Reich der Möglichkeiten und seiner Harmonie auf die Vollkommenheit und Einheit der Welt vor allem in deren notwendigen Wesensordnung; denn der Zusammenhang der beiden letzten Absätze der ersten Abteilung legt es nahe, daß der Gedanke eines aposteriorischen Schlusses „aus der Beurteilung der wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die uns durch Erfahrung bekannt werden", angeregt ist durch jene Folgerung auf die Vollkommenheit bzw. Einheit, Harmonie und Ordnung in den Möglichkeiten der Dinge (im vorletzten Absatz), so daß hier von einer Prävalenz des deduktiven, absteigenden Verfahrens gesprochen werden muß. Haben wir aber nicht dann doch eine verkappte petitio prineipii in der entgegengesetzten Gedankenbewegung der verbesserten Physikotheologie? Es geht also hier um das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem apriorischen und dem aposteriorischen Beweis. Daß wir hier eine gegenseitige Ergänzung haben, wie es in der R 4250 angedeutet wird, darauf haben wir schon hingewiesen. Das heißt, daß der aposteriorische Beweis seinerseits für den apriorischen etwas bedeuet, nämlich ihn irgendwie ergänzt vor allem in Hinblick auf die subjektive Kraft der Uberzeugung und als Abwehr von „Schlußreden" und Einwänden gegen den rein abstrakten, metaphysischen Schluß, wobei allerdings gerade auch der gewöhnlichen Physikotheologie eine große Bedeutung zufällt. Das Problem liegt aber in dem, welche Funktion im Sinne Kants dem apriorischen Argument im Hinblick auf die Ermöglichung des aposteriorischen zukommt, bzw. wie dieses letztere durch das erstere bedingt ist. Denn daß Kant dieses Verhältnis so angenommen habe, daß das physikotheologische Argument zu einer Petitio prineipii wird, darf a limine ausgeschlossen werden. In der Tat begeht der von Kant hier entwickelte aposteriorische Rückschluß von der notwendigen Wesensordnung der Natur zu Gott diesen Fehlschluß nicht, weil sein Ausgangspunkt bzw. seine Basis nicht die aus der Harmonie des Reiches der Möglichkeiten abstrakt erschlossene Harmonie in den Wesensbeziehungen der Erfahrungsdinge ist, sondern einzig und allein die durch die wissenschaftliche Erforschung der Natur entdeckte Einheit und Ubereinstimmung; die Basis ist also durchaus empirisch, was schon daraus hervorgeht, daß nach Kant dieses aposteriorische Argument auch wegen der Beschränktheit unserer Erkenntnis nie den Charakter einer Demonstration erreichen kann. Wenn dem so ist, dann kann das apriorische Argument für das aposteriorische bzw. für die es tragende wissenschaftliche Erkenntnis der Natur nur eine Rolle spielen, die jener analog ist, die Kant später dem Vernunftideal zuschreibt, nämlich die eines regulativen Prinzips, aus dem sich gewisse Grundannahmen für die Naturforschung ergeben, die erst fortschreitend durch deren Resultate bestätigt werden. Und auch nur soweit, als diese Verifizierung reicht, können sie zum aposteriorischen Beweis bzw. zu dessen Ansatzpunkt etwas beitragen. 107

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Gewiß ist die Funktion des apriorischen Beweises in dieser Hinsicht der späteren des Vernunftideals nur analog, weil ja der Metaphysiker, der von der Schlüssigkeit des ontotheologischen Arguments überzeugt ist, weiß, daß es sich hierbei nicht etwa nur um heuristische Prinzipien oder bloße Postulate handelt, sondern sicher aus metaphysischen Prämissen ableitbare Grundsätze der Forschung, aber er weiß davon nur als Metaphysiker, nicht aber als Naturforscher, dem es obliegt, auch die methodischen Prinzipien seiner Analysen des Naturgeschehens zu verifizieren; darum kann er als solcher jene metaphysischen Folgerungen auch nur als heuristische Prinzipien der Naturforschung betrachten, die erst durch ihre Fruchtbarkeit bestätigt werden müssen. Das ist wohl die Formel, mit der das Verhältnis zwischen dem vom apriorischen Beweis absteigenden Schluß auf die allgemeinsten Grundzüge der Natur und dem von der Naturerkenntnis zu Gott als Prinzip der Möglichkeiten aufsteigenden präzise bestimmt werden kann; es bedeutet so in einem gewissen Sinn eine Vorwegnahme der späteren Lehre vom Vernunftideal als regulativem Prinzip der Naturforschung. Zugleich aber wird man sagen müssen, daß dieses spätere Verhältnis zwischen der Vernunftidee Gottes als eines Leitprinzips der Naturforschung und dem physikotheologischen Argument logisch einfacher und befriedigender ist, weil damit nun auch jeder Anschein einer petitio principii entfällt und das transzendentale Vernunftideal einerseits ganz eindeutig nur als heuristisch-methodisches Prinzip der Naturerkenntnis fungiert und andererseits dem physikotheologischen Argument, dessen Basis durch den Erfolg jener Methode sich ständig erweitert und verstärkt, allein die Aufgabe der Realisierung des Ideals zufällt. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang überdies jene Stellen des Beweisgrundes, die Kants hintergründige Skepsis gegen seinen eigenen Entwurf einer strikten Demonstration des Daseins Gottes kaum verbergen können, sowie die Tatsache, daß schon bald nach 1762 das Gebäude dieses apriorischen Gottesbeweises einstürzen und damit jene Entwicklung beginnen wird, die in die Lehre vom transzendentalen Ideal einmündet, dann wird man sagen können, daß bereits in der Abhandlung von 1762 die spätere theoretische Lösung der Gottesfrage bei Kant, nämlich der physikotheologische Gottesbeweis als immer weiter fortschreitende Realisierung der als Leitprinzip der Naturforschung fungierenden transzendentalen Gottesidee und damit der doktrinale Vernunftglau.be an das Dasein Gottes keimhaft grundgelegt ist. Unsere Analyse dieser umfangreichen zweiten Abteilung des Beweisgrundes hat deutlich gemacht, in welchem Sinn die von der notwendigen Naturordnung ausgehende verbesserte Physikotheologie Kants ein aposteriorisches Pendant des apriorischen Arguments oder dessen Kehrseite darstellt, so wie es der Philosoph im letzten Absatz der ersten Abteilung als Thema und Ziel der folgenden zweiten angegeben hat. Denn wenn auch die Schlußrichtung der beiden Beweise im entgegengesetzten Sinn verläuft, so entsprechen sich doch die Begriffselemente, mit denen sie arbeiten, auf das genaueste. So schließt der verbesserte physikotheologische von den notwendigen Gesetzen und Beziehungen der Dinge der Erfahrungswelt zunächst auf die Einheit und Harmonie der in ihnen verwirklichten Möglichkeiten selbst und von da auf das einige, d. h. auf das einzige Prinzip aller Möglichkeiten und gelangt so bei demselben Grundbegriff des unbedingt notwendigen Daseins an, von dem wir im apriorischen Beweis ausgegangen waren. Dabei

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ist klar, daß wir, um auf diesem aposteriorischen Weg zu dem letzteren Begriff gelangen zu können, eine sehr weitgehende Extrapolation von dem uns bekannten Ausschnitt der Harmonie der Möglichkeiten unserer Erfahrungswelt auf die in dem ganzen Weltall verwirklichten, die wir zum größten Teil nicht oder noch nicht kennen, vollziehen müssen, ja darüber hinaus auf die Gesamtheit der Möglichkeiten, die in allen möglichen Welten je verwirklicht werden könnten; denn als Hebel des Schlusses auf das notwendige Dasein, so haben wir in der Analyse des ontotheologischen Arguments gesehen, kann einzig und allein die Allheit der Möglichkeiten bzw. die Negierung dieser Allheit als absolutes Nichts fungieren. Die eigentliche Basis des verbesserten physikotheologischen Arguments, die dieses zur aposteriorischen Kehrseite des apriorischen werden läßt, ist also die Einheit und Harmonie der in unserer Erfahrungswelt verwirklichten Möglichkeiten, die den Schluß auf die Einheit und Harmonie des Alls der Möglichkeiten nahelegt. Es ist deshalb seinem Ansatz und seiner Struktur nach ein grundsätzlich anderes Argument als alle vom Dasein der Dinge ausgehenden Argumente, zu dem auch das ex commercio substantiarum gehört, die als solche nie auch nur den Begriff des absolut notwendigen Daseins erreichen können, wie Kant am Schluß der ersten Abteilung und am Schluß der dritten ausdrücklich betont 108 . Vom verbesserten physikotheologischen dagegen sagt er ausdrücklich, daß es kraft seines Ansatzes den Begriff des absolut Notwendigen erreicht 109 , wenn es auch die Realität dieses Begriffes nicht demonstrativ erweisen kann (im Unterschied zum apriorischen Argument), da die Kenntnis der Wesensnotwendigkeiten der Dinge unserer Erfahrung grundsätzlich zu schmal ist, um zwingend die Harmonie aller Möglichkeiten des Seins erschließen zu können. Weil das verbesserte physikotheologische Argument an der metaphysischen Dimension der Möglichkeiten, der tiefsten des kontingent Seienden überhaupt - documentum maxime primitivum nennt sie Kant in der Nova Dilucidado -, ansetzt, darum ist es unter all den von der Erfahrung ausgehenden Argumenten auch das einzige, das Gott, den notwendig Daseienden, als Schöpfer der Materie erweist, womit jene einzigartige Weise des göttlichen Wirkens erreicht wird, die kein geschöpflicher Geist in ihrer Möglichkeit mehr zu begreifen vermag, wie der Philosoph in der 8. Betrachtung dieser zweiten Abteilung betont 110 . Der Schlüsselbegriff, in dem sich das absteigende apriorische und das aufsteigende aposteriorische Argument treffen, ist also der des Realgrundes aller Möglichkeit, in ihm hängen beide in engster Korrelation zusammen, durch ihn unterscheiden sich beide als die einzigen, die den Begriff des absolut notwendig Daseienden und den des Schöpfers der Materie erreichen, von allen anderen Beweisen, deren entscheidender Ausgangspunkt in der einen oder anderen Weise das Dasein der Dinge ist und die deshalb auch nur bis zu Gott als causa prima der tatsächlich existierenden Welt gelangen. Wenn wir nun auf diese Weise, gestützt auf Kants eigene Worte, eine so enge Beziehung zwischen dem apriorischen Argument der ersten Abteilung und dem verbesserten ,oe 109 11ΰ

Ebd. 91, 162f. Ebd. 92 Ebd. 152 f.

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physikotheologischen Argument der zweiten herstellen, so meldet sich sozusagen spontan ein Einwand von der dritten Abteilung des Beweisgrundes her: hat Kant nicht dort einen wesentlichen Trennungsstrich gezogen zwischen dem verbesserten physikotheologischen Argument und dem apriorischen Beweis aus den Möglichkeiten? Also scheint die Korrelativität zwischen den beiden Argumenten, bzw. der Gegensatz des verbesserten physikotheologischen zu den aposteriorischen, am Dasein der Dinge ansetzenden, keineswegs den Vorstellungen Kants zu entsprechen. Die Antwort lautet: Kant handelt in der dritten Abteilung, wo er den einzig möglichen Beweisgrund den drei traditionellen Argumenten gegenüberstellt, nicht formell und erst recht nicht ausschließlich von seiner verbesserten Physikotheologie, sondern von einem Argument, das alle an der Erfahrung des Existierenden anknüpfenden Ansätze, außer dem spezifischen des Wölfischen Kontingenarguments, in einer Einheit zusammenfaßt, weswegen er vom kosmologischen und nicht vom physikotheologischen Argument spricht. Dieses kosmologische Argument ist fürs erste umfassender als das bloß physikotheologische, denn es enthält vor allem auch die in den Erfahrungsdingen feststellbaren Momente der Zufälligkeit, also der Kontingenz der Dinge: „Was nun den zweiten Beweis von derjenigen Art anlangt, da aus Erfahrungsbegriffen von existierenden Dingen auf das Dasein Gottes und zugleich seine Eigenschaften geschlossen wird, so verhält es sich hiermit ganz anders [als in dem unmittelbar vorher kritisierten Wölfischen argumentum a contingentia mundi]. Dieser Beweis ist nicht allein möglich, sondern auch auf alle Weise würdig durch vereinigte Bemühungen zur gehörigen Vollkommenheit gebracht zu werden. Die Dinge der Welt, welche sich unsern Sinnen offenbaren, zeigen sowohl deutliche Merkmale ihrer Zufälligkeit, als auch durch die Größe, die Ordnung und zweckmäßigen Anstalten, die man allenthalben gewahr wird, Beweistümer eines vernünftigen Urhebers von großer Weisheit, Macht und Güte. Die große Einheit in einem so weitläufigen Ganzen läßt abnehmen, daß nur ein einziger Urheber aller dieser Dinge s e i . . . " ' " . Man sieht, das „kosmologische" Argument, das Kant hier dem Wölfischen Kontingenzargument entgegenstellt, umfaßt zwei wesentliche Komponenten: Die Merkmale der Zufälligkeit der Welt, und diese ergibt sich für Kant ohne Zweifel am deutlichsten aus dem commercium der Weltsubstanzen (weswegen er es schon in der Nova Dilucidado an die Stelle des Wölfischen Arguments hatte setzen wollen), und dann die Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit in den Dingen der Welt, wobei auffällt, daß der Philosoph in diesem Zusammenhang den Schlüsselbegriff des verbesserten physikotheologischen Arguments, nämlich die in den Möglichkeiten der Dinge gründende notwendige Harmonie und Einheit derselben nicht mehr erwähnt. Das bedeutet, daß er von der Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit der Dinge im allgemeinen spricht und nicht unterscheidet zwischen jenen notwendigen, in den Wesenheiten gründenden, und den auf freier, künstlicher Ordnung oder Anstalt beruhenden zufälligen Elementen derselben. Ja die Art und Weise, wie er über die Vorzüge des kosmologischen Arguments hier spricht, läßt erkennen, daß er mit primär jene Physikotheologie im Auge hat, die er in der zweiten Abteilung als die gewöhnliche, traditionelle charakterisiert hatte, die keine Weltweisheit ' " Ebd. 159

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voraussetzt, sondern dem gemeinen Verstand ohne weiteres zugänglich ist; denn was er hier in der dritten von diesem Aspekt des kosmologischen Beweises ausführt, entspricht çenau der Art, wie er in der 5. Betrachtung der zweiten die gewöhnliche Physikotheologie im Unterschied zu verbesserten gekennzeichnet hatte. Hier heißt es: „Indessen, wenn die Frage wäre, welcher denn überhaupt unter beiden [dem „ontotheologischen" und dem „kosmologischen"] der beste sei, so würde man antworten: so bald es auf logische Genauigkeit und Vollständigkeit ankommt, so ist es der ontologische, verlangt man aber Faßlichkeit für den gemeinen richtigen Begriff, Lebhaftigkeit des Eindrucks, Schönheit und Bewegkraft auf die moralischen Triebfedern der menschlichen Natur, so ist dem kosmologischen Beweise der Vorzug zuzugestehen. Und da es ohne Zweifel von mehr Erheblichkeit ist, den Menschen mit hohen Empfindungen, die fruchtbar an edler Tätigkeit sind, zu beleben, indem man zugleich den gesunden

Verstand überzeugt,

als mit

sorgfältig abgewogenen Vernunftschlüssen zu unterweisen, dadurch daß der feineren Spekulation ein Genüge getan wird, so i s t . . . dem bekannten kosmologischen Beweise der Vorzug der allgemeinen Nutzbarkeit nicht abzusprechen"" 2 . Dort aber lesen wir über den gewöhnlichen physikotheologischen Beweis: „Dagegen findet die richtige Betrachtung einer wohlgearteten Seele an so viel zufälliger Schönheit und zweckmäßiger Verbindung, wie die Ordnung der Natur darbietet, Beweistümer genug, einen mit großer Weisheit und Macht begleiteten Willen daraus abzunehmen, und es sind zu dieser Uberzeugung, sofern sie zum tugendhaften Verhalten hinlänglich, das ist, moralisch gewiß sein soll, die gemeinen Begriffe des Verstandes hinreichend..." Demgegenüber werde zu der verbesserten Physikotheologie notwendiger Weise Weltweisheit erfordert und es sei auch einzig und allein ein höherer Grad derselben fähig, mit einer Klarheit und Uberzeugung, die der Größe der Wahrheit gemäß ist, zu dem nämlichen Gegenstand zu gelangen"3. Aus dieser Sicht des verbesserten physikotheologischen Arguments aber gewinnt man mit der zweiten Abteilung des Beweisgrundes

eine entscheidende Interpretationshilfe im

Hinblick auf das Argument der ersten Abteilung, denn daraus ergibt sich, wie schon in unserem Einleitungskapitel erwähnt, ein weiterer dezisiver Grund (neben anderen bereits erwähnten oder noch zu behandelnden), eine bestimmte Deutung des ontotheologischen Ansatzes peremptorisch auszuschließen: nämlich daß es sich bei diesem Ansatz formell um die Möglichkeit des Denkens oder des Gedankens handle, und daß Kant auf ein notwendig Existierendes als unabdingbare Bedingung der Möglichkeit des Denkens geschlossen habe. Diese Auffassung, auf die wir im dritten Teil dieser Arbeit ausführlich zurückkommen werden, hat nach u . U . wie keine andere das genuine Verständnis der Kantischen Ontotheologie in sich und auch in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Funktion verdunkelt bzw. verhindert. Sie hätte aber nicht aufkommen können, wenn man sich genauer Rechenschaft gegeben hätte über das Verhältnis zwischen dem ontotheologischen Argument des ersten und dem verbesserten physikotheologischen des zweiten Teiles des Beweisgrundes. Denn aus diesem (für sich allein genommen und abgesehen von " 2 Ebd. 161 (kurs. Verf.) Ebd. 116

1,3

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II. Teil

anderen Gründen) läßt sich schon schlüssig beweisen, daß der Ansatz des ontotheologischen Arguments nur die Möglichkeit der Dinge, und zwar aller Dinge sein kann, nicht aber formell die Möglichkeit des Denkens oder des Gedankens. Denn nie und nirgends ist in dieser ganzen umfangreichen zweiten Abteilung von dieser letzteren als Ansatz des Schlusses auf das notwendig Daseiende die Rede. Mit dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen den beiden Abteilungen stimmt auch einzig und allein die Art und Weise überein, wie Kant in der dritten den einzig möglichen Beweisgrund im Gegensatz zum Cartesianischen Argument charakterisiert: „Dagegen ist der Schluß von den Möglichkeiten der Dinge als Folgen auf das Dasein Gottes als einen Grund von ganz anderer Art. Hier wird untersucht, ob nicht dazu, daß etwas möglich sei, irgend etwas Existierendes vorausgesetzt sein müsse, und ob dasjenige Dasein, ohne welches selbst keine innere Möglichkeit stattfindet, nicht solche Eigenschaften enthalte, als wir zusammen in dem Begriffe der Gottheit verbinden. In diesem Fall ist zuvorderst klar, daß ich nicht aus der bedingten Möglichkeit auf ein Dasein schließen könne, wenn ich nicht die Existenz dessen, was nur unter gewissen Bedingungen möglich ist, voraussetze . . . hier aber soll ( . . . ) nicht aus dem Dasein derselben [nämlich der Folge] geschlossen werden, daher ein solcher Beweis nur aus der inneren Möglichkeit geführt werden kann, wofern er gar stattfindet. Ferner wird man gewahr, daß er aus der absoluten Möglichkeit aller Dinge überhaupt entspringen müsse. Denn es ist nur die innere Möglichkeit selbst, von der erkannt werden soll, daß sie irgendein Dasein voraussetze, und nicht die besonderen Prädikate, dadurch sich ein Mögliches von dem anderen unterscheidet; denn der Unterschied der Prädikate findet auch beim bloß Möglichen statt und bezeichnet niemals ein Existierendes. Demnach würde auf die erwähnte Art aus der inneren Möglichkeit alles Denklichen ein göttliches Dasein müssen gefolgert werden" " 4 . Nimmt man dazu die Charakterisierung des ontotheologischen Arguments am Ende des letzten Absatzes der Abhandlung, dann sieht man klar, daß nur unter der Voraussetzung unserer Deutung, nach der es in Korrelation zu dem verbesserten physikotheologischen steht, die drei Abteilungen des Beweisgrundes eine wirkliche Einheit bilden, während sie im Fall der Deutung seines Ansatzes als Möglichkeit des Denkens ihren inneren Zusammenhang verlieren und man nicht mehr sieht, wovon Kant eigentlich handeln wollte bzw. wie er so Verschiedenartiges in seine Thematik einbeziehen konnte. Wenn nun auf diese Weise in der Abhandlung von 1762 eine so enge Beziehung besteht zwischem dem ontotheologischen und dem verbesserten physikotheologischen Argument, dann stellt sich die Frage, ob dies von Kant erst im Beweisgrund so gesehen wurde und nicht etwa auch schon zur Zeit der Nova Dilucidado, obwohl in ihr von dem physikotheologischen Argument nicht die Rede ist. Die Tatsache, daß die beiden Argumente 1755 in zwei ganz verschiedenen Abhandlungen erscheinen, läßt zwar zunächst daran denken, daß es sich in der damaligen Sicht Kants um zwei verschiedene Argumentationen handle, die nicht viel miteinander zu tun haben. Aber gerade der Umstand, daß die beiden Argumente im Beweisgrund in eine so enge Beziehung zueinander gebracht werden und die Basis der Schlüsse: das Prinzip der Möglichkeit der Dinge, für beide im Grunde das-114

Ebd. 157 (kurs. Verf.)

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selbe ist, läßt doch auch wiederum vermuten, daß sich die Trennung in den Schriften von 1755 vielleicht aus rein formalen Gründen erklärt: insofern dort jedes von ihnen jeweils einem verschiedenen Problemkomplex zu- und untergeordnet ist, so daß aus der Tatsache ihres getrennten Erscheinens in verschiedenen Abhandlungen nichts gefolgert werden könnte hinsichtlich der Art und Weise, wie Kant selbst damals das Verhältnis zwischen beiden gesehen hat. Wir haben jedoch ein früheres Zeugnis als die beiden Abhandlungen von 1755, das uns, wie wir meinen, noch näher an den Ursprung der beiden Argumente heranführt uns zugleich mit großer Wahrscheinlichkeit erkennen läßt, daß sie beide aus ein und derselben Quelle entsprungen sind. Es sind die Fragmente L. Bl. D 32 und D 33, die zu den frühesten Stücken des Nachlasses gehören und von Adickes in die erste Hälfte der fünfziger Jahre datiert werden, nämlich in die Phase a ' (1753/54), weil sie offensichtlich Entwürfe enthalten für die von der Berliner Akademie 1753 für das Jahr 1755 ausgeschriebene Preisaufgabe über den Optimismus im System Popes. Auf S. 3 des L . B l . 32 vergleicht Kant den Lehrbegriff Popes mit dem System des Optimismus bei Leibniz und zeigt dabei den Vorzug des ersteren auf: Leibniz habe nur vermocht, die höchste Weisheit, die er durch seine metaphysischen Beweise für unbezweifelbar bewiesen hielt, wegen der Zulassung der Übel und Mängel der Welt zu entschuldigen, was aber nur jene überzeugen konnte, die diesen Beweisen vom göttlichen Dasein Beifall gaben, während die anderen, die die Spur Gottes aus der Welt selbst entdecken wollten, „in Kümmernis" blieben. Pope habe demgegenüber einen Weg gewählt, der der allergeschickteste unter allen möglichen ist, um den schönen Beweis von Gott allen Menschen vernehmlich zu machen, und der, „welches eben die Vollkommenheit seines Systems ausmacht, sogar alle Möglichkeit der Herrschaft eines allgenugsamen Urwesens unterwirft, unter welchem die Dinge keine andern Eigenschaften, auch so gar nicht solche, die man wesentlich notwendige nennt, haben können, die nicht vollkommen zur Ausdrükkung seiner Vollkommenheit zusammen stimmen. Er geht die Schöpfung stückweise vornehmlich da durch, wo es ihr am meisten an Ubereinstimmung zu fehlen scheint; doch er zeigt, daß jedes Ding, welches wir gern aus dem Plan der größten Vollkommenheit wegwünschen möchten, auch vor sich erwogen, gut sei, und daß man nicht vorher ein vorteilhaftes Vorurteil von der Weisheit des anordnenden Wesens haben dürfe, um ihm den Beifall zu erwerben. Die wesentlichen und notwendigen Bestimmungen der Dinge, die allgemeinen Gesetze, die durch keine erzwungene Vereinung in einen harmonierenden Plan gegeneinander in Beziehung gesetzt sind, werden sich gleichsam von selber 2ur Erhaltung vollkommener Zwecke anschicken ... Kann man wohl, wenn man die wesentlichen Beschaffenheiten in einer so allgemeinen natürlichen Harmonie sieht, vermuten, daß, was sich so zum trefflichen Ganzen anschickt, zugleich die Ursache so böser . . . " (bricht a b ) " 5 . Adickes merkt zu diesem Text an: „Pope lehrt ebenso wie Leibniz, daß Gott aus allen möglichen Welten die beste ausgesucht und sie in die Wirklichkeit überführt habe ( . . . ) . Den weiteren Gedanken von der Unterwerfung sogar aller Möglichkeit unter die Herrschaft des Urwesens, der Pope von Leibniz unterscheiden soll und der sich ganz in der 115

Ebd. X V I I , 2 3 3 f . (kurs. Verf.)

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II. Teil

Richtung auf Kants Gottesbeweis von 1755 ( . . . ) und 1763 ( . . . ) bewegt, dürfte Kant in Pope hineingetragen haben, getrieben von dem Wunsch, die Überlegenheit seines Lieblingsdichters über Leibniz zu beweisen." N u n , faßt man alle einschlägigen Stellen der beiden genannten Losen Blätter ins Auge, wo wird man sagen müssen, daß darin vor allem die Grundgedanken seines späteren verbesserten physikotheologischen Beweises skizziert werden, und zwar so, daß wir hier bereits die wesentlichsten Thesen unserer zweiten Abteilung des Beweisgrundes formuliert finden, zuweilen bis zur Deckung des sprachlichen Ausdrucks. Dabei sind diese Gedankengänge sicher nicht einfach aus Pope übernommen, sondern stellen das Ergebnis der Reflexion Kants über die diesbezüglichen Ausführungen des Dichters dar, da sie nur zu deutlich die späteren Kantischen Gedankengänge und Formulierungen vorwegnehmen. Aber die enge Verbindung, in die sie Kant selbst hier mit Pope bringt, läßt es durchaus als wahrscheinlich erscheinen, daß er die entscheidenden Anregungen tatsächlich von diesem seinem Lieblingsdichter erhalten hat. Andererseits weist der von Adickes hervorgehobene Passus von der Unterwerfung sogar aller ( !) Möglichkeit unter die Herrschaft des Urwesens gewiß auch in die Richtung seines ontotheologischen Arguments, wie er es dann erstmals in der Nova Dilucidatio entwickelt hat, wobei zugleich deutlich wird, daß gerade in diesem Gedanken, daß die Möglichkeiten selber in dem höchsten Wesen ihren Grund haben und daher zu seiner Weisheit und Güte nicht in Gegensatz stehen können, beide Argumente wesentlich zusammenhängen. Da in dem ganzen Kontext sich nirgends die Andeutung eines eigenen apriorischen Beweises des Daseins Gottes findet, der den apriorischen Argumenten des Leibniz gegenübergestellt würde, sondern Kant im Gegenteil durch seine grundsätzliche Kritik an dem Standpunkt des Leibniz implizit zum Ausdruck bringt, daß er auf der Seite derer steht, die nicht „Einsicht und Folgsamkeit genug haben, um den metaphysischen Beweisen des Daseins Gottes Beifall zu geben"; da andererseits „die allgemeine Ubereinstimmung der Anordnungen der Welt, wenn sie an und vor sich selber erkannt werden können", nach ihm „den schönsten Beweis von dem Dasein Gottes und der allgemeinen Abhängigkeit aller Dinge von demselben" darbietet, ein Beweis, den er zugleich als „den sichersten und leichtesten Beweis von der Wirklichkeit eines allgenugsamen, unendlich gütigen und unendlich weisen Wesen" bezeichnet' l f t ; da schließlich in allen diesen Ausführungen über die Gottesbeweise das Moment der Notwendigkeit des Daseins, das für das ontotheologische Argument schlechterdings konstitutiv werden wird, überhaupt nicht auftaucht, so wird man zu einem doppelten Schluß kommen müssen: 1. daß zwar das Prinzip des späteren ontotheologischen Beweises hier bereits formuliert wird, aber der Beweis selbst von ihm zu dieser Zeit nocht nicht konzipiert wurde; und - da dieses Prinzip hier im Zusammenhang mit den schon weitgehend formulierten Gedankengängen des späteren verbesserten physikotheologischen Beweises a u f t r i t t - daß 2. das ontotheologische Argument durch eine weitergehende Reflexion über die Prinzipien des verbesserten physikotheologischen im Geiste Kants entsprungen sein dürfte. Das konnte dadurch geschehen, daß er sich in den Jahren 1753/54 eingehender mit der Meta116

Ebd. 238

Die zweite Abteilung des „Beweisgrundes" und ihr Verhältnis zur ersten

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physik Baumgartens befaßte, in der ja zum größten Teil das begriffliche Instrumentarium sowie auch entscheidende Grundgedanken dieses Arguments gegeben waren; was die letzteren betrifft, etwa die These, daß auch die Wesenheiten bzw. die Möglichkeiten dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegen, wie sie in der Antwort auf einen diesbezüglichen Einwand in derPraefatio von 1748 zum Ausdruck kommt: Respondeo: habent [seil, essentiae rationem sufficientem] in essentialibus eas constituentibus, uti totum in partibus, et haec iterum essentialia si non habent rationem sui sufficientem internam in eo, cuius sunt essentialia, habent tarnen extra ens, de quo quaeritur, certe tandem in intellectu summo". Ferner der Begriff des repraesentabile als des possibile, der des schlechthin Unmöglichen als nihil negativum, der des Praedicatum als positiver und negativer Determination des possibile. Der scharfsinnige Kant konnte von jenem im Zusammenhang mit dem Beweis Popes entwickelten Grundsatz „der Unterwerfung sogar aller Möglichkeit unter die Herrschaft des Urwesens" ausgehend diesen Ansatz zu seinem ontotheologischen Argument weiter entwickeln mit den Mitteln, die ihm die Baumgartensche Metaphysik darbot, indem er das nihil negativum als absolute Unmöglichkeit auch auf die Unmöglichkeit des Gegebenseins von Realgehalten des Möglichen ausdehnte und damit den Zugang gewann zu dem Begriff einer absoluten Äe^/unmöglichkeit als Gegensatz zu einer absoluten Äed/notwendigkeit. So dürften also die beiden Argumente, die in dem Beweisgrund eine so enge Einheit bilden, bereits in ihren Ursprüngen wesentlich zusammenhängen, und zwar so, daß das apriorische Argument eine sekundäre Weiterentwicklung darstellt, die von jener ursprünglichen Form des physikotheologischen Gedankengangs ausging bzw. angeregt wurde und die auch nur solange bestehen konnte, als die hier einschlägigen Voraussetzungen der Ontologie Baumgartens für Kant Gültigkeit behielten. Da für ihn diese aber schon bald nach 1762 in mehr als einem Punkt problematisch wurden, mußte für ihn auch das ontotheologische Argument in seiner eigentlichen Gestalt fragwürdig werden, während das verbesserte physikotheologische davon nicht berührt wurde und deshalb weiterhin das Feld behaupten konnte. So gesehen stellt das ontotheologische Argument in gewissem Sinn nur eine, wenn auch bedeutsame Episode in der Entwicklung Kants dar, während die Physikotheologie in ihren beiden Formen sich in ihr im Grunde als unerschütterlich erweisen sollte.

Dritter Teil Diskussion anderer neuerer Deutungen des einzig möglichen Beweisgrundes, insbesondere unter der Rücksicht der Methode

Wie bereits in der Einführung dargelegt, soll dieser dritte, kritische Teil unserer Arbeit nicht nur eine Komplettierung der beiden vorausgehenden und der in ihnen gebotenen Analysen der die Ontotheologie Kants enthaltenden Quellenschriften darstellen, sondern sozusagen die Kehrseite der Medaille, d. h. er soll den negativen Beweis der Richtigkeit der dort gegebenen Interpretation und vor allem der Richtigkeit und Unabdingbarkeit der dort eingeschlagenen Methode liefern. Da wir die Autoren, mit denen wir uns in diesem Teil befassen werden, bereits in unserer Einführung vorgestellt haben und da sie überdies zu einem guten Teil auch schon aus dem 3. Kapitel des ersten Teils bekannt sind, können wir sogleich medias in res gehen.

1. Kapitel Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Klaus Reich und Dieter Henrich A. Kl. Reich ist einer der nicht zahlreichen Forscher, die sich eingehender mit der vorkritischen theologischen Lehre Kants befaßt haben. So vor allem in seiner Abhandlung von 1937 über die theologische Frühschrift Kants, dann mehr als 20 Jahre später in seiner Einleitung zu der Textausgabe des Einzig möglichen Beweisgrundes (1963) im Rahmen der „Philosophischen Bibliothek". Wir analysieren hier zunächst eine Abhandlung von 1937, und darauf seine in wesentlichen Punkten modifizierte Interpretation von 1963. Um die Abhandlung Reichs von 1937 richtig zu verstehen, muß man sich von vornherein die Absicht und die Voraussetzungen vor Augen halten, mit denen der Autor an die Analyse der theologischen Frühschrift Kants herangeht: er will nämlich nicht eine philosophiegeschichtliche Untersuchung liefern, die etwa bestimmen soll, welche Bedeutung und Rolle dieser Schrift im Rahmen der Entwicklung Kants zur Gotteslehre des Kritizismus zukommt, sondern lediglich eine Analyse ihres ersten Teils, der den einzig möglichen Beweisgrund enthält, aus der Sicht und vom Standpunkt der Kr. d.r.V. aus, und zwar in dem radikalen Sinn, daß dieser letztere die ausschließliche Norm der Beurteilung der betreffenden vorkritischen Lehre wird. Das wird besonders daraus deutlich, daß hier sowohl die Kr.d.r.V. wie der Beweisgrund unter einem rein systematischen Gesichtspunkt angegangen werden, nämlich dem des Verhältnisses von Kritizismus und Dogmatismus in der Metaphysik, wie klar im Untertitel der Schrift zum Ausdruck kommt: „Ein Beirag zum Verständnis des Verhältnisses von Dogmatismus und Kritizismus in der Metaphysik". Ja, Reich distanziert sich in dem einleitenden Kapitel ausdrücklich von der Problemstellung, mit der die Philosophiehistoriker an Kants vorkritische Schriften heranzugehen pflegen: „Sie sind geleitet von der Idee, die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft auf Grund der Verfolgung der im Verhältnis zu den vorausgehenden Schriften jeweils neuen Sätze in der Reihe der W e r k e . . . zu verstehen. Nicht nur die Resultate der von dieser Idee geleiteten Nachforschung, sondern diese Idee selbst berechtigt unseres Erachtens zu der denkbar größten Skepsis. Ein solches Verfahren mag vielleicht bei bloßen Reformatoren der Philosophie, bei einem Aristoteles, Descartes oder Leibniz oder auch dem jungen Kant, in Beschränkung auf die vorkritischen Werke, durchführbar sein, auf die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft angewendet verlangt es die seltsame Voraussetzung, die doch wenigstens nicht das Zeichen der historischen Objektivität für sich hat: das reife Kantische Werk nicht ernst zu nehmen. Denn ist die Kritik der reinen Vernunft wirklich das, was sie sein soll, so muß eine solche Betrachtung der vorkritischen

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Schriften immer vor der Kritik außen vor bleiben: wenn diese nämlich wirklich nicht nur eine Reform, sondern eine Revolution der Denkart in der Philosophie ist" 1 . Daraus geht klar ein Doppeltes hervor: einmal daß Reich der Kr. d. r. V. nicht nur eine Sonderstellung in der Reihe der Erzeugnisse des philosophischen Denkens zuerkennt, sondern einen absoluten Rang, der von solcher Art ist, daß er durch keine philosophiegeschichtliche Betrachtung in seinem Eigentlichen erreicht werden kann, daß also auch die philosophiegeschichtliche Analyse der Entwicklung zum Standpunkt der K r . d . r . V. als echte Quelle ihres Verständnisses ausscheidet. Ferner: für die vorkritischen Schriften, und hier ist ohne Zweifel bereits in erster Linie an den Beweisgrund von 1762 gedacht, wird zwar die Bedeutung eines solchen Vorgehens nicht rundweg in Abrede gestellt, aber doch, ebenso wie im Hinblick auf die Werke der genannten anderen Großen, nur recht bedingt anerkannt, „es mag vielleicht durchführbar sein". Aber die Kr. d . r . V . als die grundlegende Norm, an der letztlich der Wert alles Philosophierens gemessen werden muß, steht bei Reich so stark im Mittelpunkt, daß die Frage der Sinnhaftigkeit der philosophiegeschichtlichen Betrachtung, selbst für die vorkritischen Schriften Kants, zweifelhaft bleiben muß, weil man sich fragen müsse, ob ihnen nämlich nicht prinzipiell durch den in der Kr. d. r. V. gewonnenen Standpunkt jeder philosophische Wert genommen wird: „So scheint es, als ob die vorkritischen Schriften Kants für die Philosophie wertlos sein müßten. Ein sachlicher wie ein historischer Wert scheint ihnen von der Kritik der reinen Vernunft geraubt zu sein, eben durch ihre Geschiedenheit von der Kritik als despotischer Dogmatismus vom revolutionären Kritizismus" 2 . Die einzige Möglichkeit, sie von dieser totalen Entwertung zu bewahren und ihnen „trotzdem" einen gewissen Wert zuzuerkennen, liegt nach Reich lediglich in einer „genaueren Berücksichtigung eben des Verhältnisses von Dogmatismus und Kritizismus in der Philosophie", und zwar in dem Sinn, wie Kant selbst etwa Mendelssohns Werk „Morgenstunden" als wertvoll anerkannt hat, „nämlich daß es als ein vollkommenes Produkt der dogmatisierenden Metaphysik angesehen werden kann, als ein .Denkmal der Scharfsinnigkeit eines Mannes, der die ganze Stärke einer Erkenntnisart, der er sich annimmt, kennt und sie in seiner Gewalt hat, an welchem also eine Kritik der Vernunft, die den glücklichen Fortgang eines solchen Verfahrens bezweifelt, ein bleibendes Beispiel findet, ihre Grundsätze auf die Probe zu stellen, um sie danach entweder zu bestätigen oder zu verwerfen" 3 . Das heißt m. a. W. : Eine Betrachtung und Analyse der vorkritischen Schriften hat philosophisch nur dann Sinn und Wert, wenn diese als solche vollkommene Produkte der dogmatisierenden Vernunft ein bleibendes Beispiel darstellen, an dem der Kritizismus seine Grundsätze erproben und bewähren kann. Denn die Möglichkeit auch des Verwerfens wird gewiß weder von Kant noch von Reich ernstlich in Betracht gezogen. Wenn es nun unter den wenigen vorkritischen Schriften metaphysischen Inhalts - Reich rechnet

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2 3

Kl. Reich, Kants einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Leipzig 1937, 2 Ebendort Ëbd. 3

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III. Teil

darunter mit Recht die Nova Dilucidano von 1755, den Beweisgrund, von 1763 4 , die Untersuchung über die „Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" von 17625 - überhaupt ein solches vollkommenes und exemplarisches Beipiel der dogmatischen Metaphysik gibt, dann kann es nur der Beweisgrund von 1763 sein, weil er „die deutliche Vorstellung eines aus prinzipiellen Erwängungen heraus gewählten Objekts dogmatisch metaphysischer Spekulation ungefähr eines Jahrzehnts" enthält, nämlich das der rationalen Theologie: das schlechterdings notwendige Wesen, das „ein Objekt von der Art ist, daß sobald man einmal auf die echte Spur seines Begriffes gekommen ist, noch mehr Sicherheit als die mehresten anderen philosophischen Kenntnisse zu versprechen scheint" 6 . Für Reich konzentriert sich also aus seiner Sicht der Kr. d. r. V. das ganze Interesse bzw. die ganze Fragestellung im Hinblick auf die vorkritischen Schriften Kants auf einen Punkt, nämlich: Kann der Einzig mögliche Beweisgrund von 1763 als ein solches bleibendes Denkmal und Musterbeispiel der dogmatischen Metaphysik betrachtet werden? Und hier hebt nun für Reich die ganze Schwierigkeit an: Wenn man einerseits voraussetzt, daß der Beweisgrund ein derartiges Musterstück der dogmatischen Philosophie darstellt und andererseits die Kr. d.r.V. es sich im theologischen Hauptstück der transzendentalen Dialektik zur Aufgabe macht, alle Wege der spekulativen Vernunft für eine dogmatische Demonstration des Daseins Gottes zu prüfen, dann, so schließt der Autor völlig richtig, „werden wir erwarten müssen, daß das Spezifische seines [d. h. des Einzig möglichen Beweisgrundes] Gedankenganges in der , Kritik der reinen Vernunft' schon von Kant selber einer Kritik unterworfen worden sei und zwar einer solchen, die sich der eigentümlichen Mittel des Kritizismus in der reinen theoretischen Philosophie bedient" 7 . Daß dies aber nun gerade nicht der Fall ist, ist das große Problem, das für die Sicht Reichs der Beweisgrund als ein bleibendes Denkmal der dogmatischen Metaphysik aufwirft. Die Aporie verschärft sich noch durch folgende Umstände: Fürs erste: „Kant unterzieht in der Kritik nur die drei im ,Einzig möglichen Beweisgrund' abgelehnten Beweise als die einzig möglichen Versuche zur Demonstration des Daseins Gottes einer kritischen Untersuchung. Aber andererseits kennt er doch gewiß einen Beweis außer diesen, um den er selbst mindestens ein Jahrzehnt lang mit größtem Ernst sich bemüht hat. Und nicht einmal seine Stelle im System deutet er in der Kritik mit einem Wort an, wo doch sonst stets die Vollständigkeit der Einteilung in eine jede Aufgabe mit einbezogen ist!" 8 . Eine weitere Verschärfung des Problems sieht Reich mit Recht in der Tatsache, daß Kant in dem der Widerlegung des physikotheologischen Beweises gewidmeten Abschnitt VI, in welchem dieser, ebenso wie im vorausgehenden der kosmologische, auf den ontologi4

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Reich und andere Autoren datieren den Beweisgrund nach dem Erscheinungsjahr 1763, wir ziehen es vor, das Werk nach dem Entstehungsjahr, in dem es abgeschlossen wurde, nämlich 1762, zu datieren, weil damit der entwicklungsgeschichtliche Ort desselben genauer bezeichnet ist. Wir zitieren diese gegen Ende 1762 entstandene Abhandlung gewöhnlich als Preisschrift oder frühe Preisschrift. Preisschrift, 4. Betrachtung, K G S II, 296 Reich, op. cit. 5 Ebd. 8

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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sehen zurückgeführt wird, bemerkt, daß „mithin dieser [ontologische] immer noch den einzig möglichen Beweisgrund (wofern überall nur ein spekulativer Beweis stattfindet) enthalte, den keine menschliche Vernunft vorbei gehen kann" (B653). Reich sieht nur zwei Möglichkeiten, diese Charakterisierung des ontologischen Arguments als des „einzig möglichen Beweisgrundes" zu verstehen: entweder daß Kant in der Kr. d . r . V . sein früheres Argument aus dem Realen der Möglichkeiten als eine solche Verirrung der Vernunft betrachtet hat, daß er glaubte, es bei der Aufstellung der überhaupt denkbaren Beweise gar nicht erwähnen zu brauchen, weil er es eben schon als dogmatische Argumentation für verfehlt oder nicht regelrecht hielt; oder aber, daß er der Überzeugung war, der ontologische Beweis Descartes sei in seinem ehemaligen „Beweisgrund" ebenso als das letzt entscheidende Element enthalten bzw. vorausgesetzt wie im physikotheologischen und kosmologischen. „Wenn man aber bedenkt, daß die Schrift von 1763 den ontologischen Beweis ja ausdrücklich in der dritten Abteilung ablehnt, wird sie für den Leser der Kritik der reinen Vernunft zu einem völligen Rätsel" 9 . Das ganze Interpretationsproblem Reichs bezüglich des Beweisgrundes konzentriert sich also in concreto auf die Frage: „ O b er sich , beim Licht besehen, als eine bloße Lächerlichkeit herausstellt, die eine ernsthafte Behandlung in der Kritk der reinen Vernunft mit Recht nicht verdient hat, oder ob er in einem Gedankengange besteht, der in derselben Weise ernst zu nehmen ist wie der Schein, von dem sich die ganze dogmatische Metaphysik hat verführen lassen, und vielleicht auch trotz des entgegengesetzten Anscheins in der Kritik der reinen Vernunft ernst genommen worden ist" Mit anderen Worten: Es geht Reich um ein Doppeltes: a) ob der „einzig mögliche Beweisgrund" als genuines Musterbeispiel dogmatischen Philosophierens gelten kann; b) ob er als solches dogmatisch regelrechtes Argument für das Dasein Gottes in der Kr. d . r . V . im Rahmen ihrer Kritik der Gottesbeweise der dogmatischen Metaphysik vom Standpunkt des Kritizismus aus ernst genommen, d . h . behandelt und diskutiert worden ist, wenn das auch nicht so offen zutage liegt, wie bei den anderen Argumenten. Man sieht, der Gesichtspunkt Reichs, unter dem er den Einzig möglichen Beweisgrund ins Auge faßt, ist ein rein systematischer: der des Verhältnisses zwischen Dogmatismus und Kritizismus. Und es ist näherhin ein Problem der Interpretation der Kr. d. r. V., das ihn sich eingehender mit der vorkritischen Schrift beschäftigen läßt, d. h. es geht bei ihm nicht in erster Linie um den Einzig möglichen Beweisgrund um seiner selbst willen: nicht um ihn als einen etwa ernst zu nehmenden oder diskutablen Weg der natürlichen Gotteserkenntnis (ein Gesichtspunkt, für den ja auch die zweite Abteilung mit dem aposteriorischen Beweis zu berücksichtigen gewesen wäre), aber auch nicht etwa um seinen philosophiegeschichtlichen Ort, um die Frage, worin das Charakteristische und Unterscheidende dieser spezifisch Kantischen Form des Arguments aus den Möglichkeiten bestehe gegenüber verwandten Gedankengängen der zeitgenössischen Philosophie, bzw. was Kant veranlaßt haben könnte, das Argument gerade in dieser Weise abzuwandeln. Vielmehr geht es Reich bei dem Kantischen Beweisgrund (wie bei allen Werken der dogmati9 10

Ebd. 7 Ebd. 7f.

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III. Teil

sehen Philosophie) lediglich darum, ob er als „Denkmal und bleibendes Beispiel" der dogmatischen Metaphysik betrachtet werden kann, „das geeignet ist, die Kritik der reinen Vernunft in ihrer Bedeutung und in ihrem Wert zu erhellen". Und es geht ihm ferner nur darum, ein in die Augen springendes Problem der Interpretation der Kr. d. r. V. zu lösen: nämlich das des Fehlens dieses Beweises unter den von Kant in der „Dialektik" der Kr. d. r. V. in ihrem transzendentalen Schein aufgewiesenen und damit widerlegten Beweisen für das Dasein Gottes. Das Charakteristische und zugleich Uberraschende der Lösung, die Reich in seiner Abhandlung von 1937 für jenes Grundproblem, um das sich sein Interpretationsversuch letztlich bewegt, anbietet, besteht darin, daß er, auf Grund seines Verständnisses der Kantischen Unterscheidung zwischen dem Formal- und Materialprinzip der Möglichkeiten im Beweisgrund, das ontotheologische Argument in seiner unmittelbar von Kant entwickelten Form als dogmatisch nicht regelrecht erklärt. Letzteres deswegen, weil in dieser Unterscheidung das Materiale der Möglichkeit, das „Denkliche", als etwas genommen wird, was unter den Gesetzen der Wirklichkeit (des Daseins) steht, also als eine reale Bedingung der Wirklichkeit eines Gedankens bzw. alles Denkens überhaupt, das Formalprinzip der Möglichkeit aber, d. h. die Widerspruchslosigkeit der Verbindung des Gegebenen, als die unumgängliche logische Bedingung eines Gedankens oder Begriffs von irgend etwas bzw. der Möglichkeit des Denkens überhaupt verstanden w i r d " . Ein derartiger Begriff des „Möglichen" aber müsse den Anschein eines Kunstgriffes erwekken, „mittels dessen plötzlich von außen in die Sache hineingesprungen wird, ohne daß verständlich werde, wieso die Sache einen solchen Zugang erlaubt, nämlich die Ontologie [konkret: die ontologisch verstandene Möglichkeit der Dinge] einen Zugang von einer Betrachtung über logische Bedingungen eines Gedankens überhaupt und reale Bedingungen der Wirklichkeit eines Gedankens" 1 2 . Infolge dieser Fassung des Material- und Formalprinzips der Möglichkeit ist also für Reich der Gedankengang des Arguments in der ersten Abteilung des Beweisgrundes dogmatisch nicht regelrecht, und die einzig mögliche Ehrenrettung dieser vorkritischen Kantischen Schrift könnte nach dem Autor nur darin bestehen, daß deren unmitelbare Formulierung des Arguments, nach der dessen zentrales und tragendes Prinzip „die innere Möglichkeit der Dinge setzt irgendein Dasein voraus" auf eine logische und reale Bedingung des Denkens als solchen bezogen und damit von der Möglichkeit und Wirklichkeit des Denkens abhängig wird, als relativ unerheblich bzw. als ein bloß mißglückter Ausdruck jenes Gedankengangs angesehen werden könnte, der nach den Maßstäben der Kr. d. r. V. als die korrekte dogmatische Form des Schlusses von dem Begriff der Möglichkeit der Dinge auf das Dasein Gottes betrachtet werden muß 1 3 . Das zweite überraschende Moment der Lösung Reichs liegt- in folgerichtiger Entsprechung zum ersten - darin, daß er in Abschnitt II des dritten Hauptstücks der „Dialektik" der Kr. d. .r. V., nämlich in der dortigen Ableitung des transzendentalen Ideals, geradezu " Ebd. 2 2 f . 12 Ebd. 31 13 Ebd. 29, 32

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den dogmatisch richtigen und regelrechten Schluß von dem Begriff der Möglichkeit der Dinge auf das Dasein Gottes formuliert findet und daß er nun nach diesem Vorbild das in den ersten drei Betrachtungen der ersten Abteilung des Beweisgrundes breit entwickelte Argument zu korrigieren und umzuformen sucht, und zwar mittels eines Grundsatzes, den Kant erst in der Ziffer 4 der 3. Betrachtung, und zwar nur beiläufig in einem sekundären Beweis f ü r die Einfachheit des schlechthin notwendigen Wesens, anführt, des Grundsatzes nämlich: „Es ist. . . gänzlich undenklich und widersprechend, daß etwas nichts sei, und dieses will so viel sagen, eine innere Möglichkeit aufheben, ist alles Denkliche vertilgen" 14 . Diese Aussage gebe sich direkt und ohne Basierung auf bloß formale Logik und auf Wirklichkeitserkenntnis als eine Wesensaussage über die Möglichkeit der Dinge überhaupt, wir befänden uns hier ohne den Hinblick auf eine „logische" oder „physische" Fundamentierung auf dem Boden der aus den Begriffen von Dingen überhaupt deduzierenden Metaphysik. „Der Rettungsversuch, den wir als gerechte Beurteiler Kants .Einzig möglichem Beweisgrund' noch angedeihen lassen müssen, besteht also darin, den Satz, ,daß es unmöglich sei, daß etwas nichts sei, was soviel besagen will, eine innere Möglichkeit aufheben, ist alles Denkliche vertilgen* als Grund des anderen, daß alle Möglichkeit eine Wirklichkeit voraussetzt, an Stelle jener verzeichneten Einteilung der Möglichkeit nach Form und Materie gelten zu lassen, und in diesem Zusammenhang den nervus probandi des einzig möglichen Beweisgrundes zu sehen" 1 5 . Das Entscheidende dieser Reichschen ,Lösung' ist einmal die im vorausgehenden skizzierte Interpretation des Formal- und Materialprinzips der Möglichkeit im Beweisgrund, in der wir, obwohl sie Schule gemacht hat"', die grundlegende Fehlinterpretation des ganzen Kantischen Gedankengangs erblicken; sie ist es auch, auf die jene Kompliziertheit und Vertracktheit des auf ihrer Basis von Reich nachkonstruierten Gedankengangs des Einzig möglichen Beweisgrundes zurückzuführen ist, der gegenüber die Argumentation Kants selbst geradezu ein Musterbeispiel von Klarheit und Folgerichtigkeit darstellt. Das andere bedeutsame Element seiner Lösung liegt in der Tatsache, daß er im ersten Teil des Abschnittes II des theologischen Hauptstücks der „Dialektik" der Kr. d. r. V. das dogmatisch regelrechte Schlußverfahren erblickt, das Kant im Beweisgrund, wie der aus Ziffer 4 der 3. Betrachtung angeführte Grundsatz zeige, eigentlich vorgeschwebt, dessen genuiner Ausdruck ihm damals aber noch nicht geglückt sei. Diese These zeigt nämlich fürs erste, daß Reich den einzig möglichen Beweisgrund ausschließlich von der Kr. d. r. V. her interpretiert, so sehr, daß er ihn nach dem Vorbild der letzteren korrigiert und auf die angeblich genuine dogmatische Form bringt; dann aber, last not least, daß der Autor im II. Abschnitt des theologischen Hauptstücks ein Stück dogmatischer und damit vorkritischer Metaphysik erblickt, in jenem Teil der Kr. d. r. V. also, der sozusagen als Höhepunkt der transzendentalen Ideenlehre sich, so möchte man meinen, ganz auf der Ebene des transzendentalen Idealismus bewegen müßte. Aber abgesehen davon: wenn man sich vergegenwärtigt, daß, wie von allen zugegeben wird, eine wesentliche Be14 15 16

Ebd. 31 Ebd. 32 Wir finden diese Auffassung u. a. wieder bei Henrich, Laberge, Moreau, Redmann, wie wir sehen werden.

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III. Teil

ziehung zwischen dem Gedankengang des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762 und dem der Ableitung des transzendentalen Ideals in unserem II. Abschnitt besteht, dann bietet diese Reichsche Interpretation des letzteren eine höchst einfache Lösung des eingangs bezeichneten Problems der Gottesbeweiskritik der Kr. d. r. V., also des Rätsels ihres scheinbar völligen Ubergehens des ehemals so wichtigen Beweises: daß nämlich Kant hier in diesem Abschnitt II den genuinen dogmatischen Schluß von dem Begriff der Möglichkeit der Dinge auf das Dasein Gottes, der den wahren nervus probandi des einzig möglichen Beweisgrundes des jungen Kant gebildet hatte, als bloßen Schein enthüllt, wie er denn überhaupt nur durch die kritische Philosophie als Schein enthüllt werden konnte (womit sich zugleich erklärt, daß mitten in den Gedankengängen der kritischen Philosophie ein Stück dogmatischer und damit vorkritischer Metaphysik auftaucht 17 ). Wichtig ist dabei vor allem, daß Reich seine These von der Ableitung des transzendentalen Ideals als eines Stücks dogmatischer Metaphysik nicht nur ad hoc aufstellt, um die dogmatische Regelmäßigkeit des einzig möglichen Beweisgrundes zu salvieren, sondern daß er diese These auch in durchaus plausibler Weise begründet; denn er kann mit Recht darauf hinweisen, daß Kant in dem ersten Teil des Abschnittes II, in dem er die dogmatisch richtige Unterscheidung zwischen dem Materialen und Formalen der Möglichkeiten als Prinzip der Ableitung des transzendentalen Ideals entwickle, ohne Anwendung eines spezifisch kritischen Gedankens verfahre, da hier keinerlei Erörterung der Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) zur Erkenntnis von Dingen stattfinde: „Die Betrachtungen, die das Kapitel vom transzendentalen Ideal bis hierher über den Begriff der Möglichkeit der Dinge aufgestellt hat, sind rein ontologische (dogmatische). Sie setzen keine Kritik der reinen Vernunft im eigentlichen Sinne dieses Begriffes voraus. Durch sie wird die im ,Einzig möglichen Beweisgrunde' gemachte Bestimmung des Formalen der Möglichkeit eines Dinges als seiner Widerspruchslosigkeit als rein immanent unzureichend erwiesen: diese wird als lediglich logische Bedingung der Möglichkeit eines Gedankens erkannt". - Gleichzeitig mache für den sorgsamer gewordenen ,Analysten' schon der bloße Begriff der in der alten Metaphysik wie in der Kr. d. r. V. behandelten ,Ontologie oder Transzendentalphilosophie' die im Einzig möglichen Beweisgrund vollzogene Gleichsetzung von ,Materialem der Möglichkeit der Dinge' und ,Stoff für das wirkliche Denken' unmöglich, denn sie betrachteten den Verstand und die Vernunft nur als auf Gegenstände überhaupt bezogen, „ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären'"6. Nach Reich hat also Kant den einzig möglichen Beweisgrund von 1762 im theologischen Hauptstück der transzendentalen Dialektik durchaus ernst genommen und die kritische Auseinandersetzung mit ihm keineswegs übergangen oder vernachlässigt, da er ihn bereits im II. Abschnitt, also noch vor den drei anderen Gottesbeweisen, analysiere und kritisiere, indem er dort zunächst seine dogmatisch richtige Form entwickele und sie dann mit den Mitteln des Kritizismus als illegitime Realisierung und Hypostasierung einer bloßen Idee, nämlich des Ideals der reinen Vernunft, und damit als transzendentalen Schein erweise. 17 18

Reich, op. cit. 32, 34 Ebd. 27f.

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Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen auf die Problematik der Reichschen Analyse des einzig möglichen Beweisgrundes, weil ihre ganze Vertracktheit aus jener Deutung des Kantischen Formal- und Materialprinzips der Möglichkeiten resultiert, die sich in unserer Analyse der ersten Abteilung des Beweisgrundes als ein fundamentales Mißverständnis des Kantischen Begriffs der Möglichkeit erwiesen hat. Es ist ja von vornherein zu erwarten, daß ein an sich leicht verständlicher geschlossener Gedankengang, dessen Grundbegñíí mißdeutet und der nach Maßgabe dieses mißverstandenen Grundbegriffs par force in einen logischen Zusammenhang gebracht wird, eine unwahrscheinliche Kompliziertheit annehmen muß, die einen Nachvollzug schwierig, wenn nicht unmöglich macht. Die fundamentale Problematik dieses Deutungsversuches liegt vielmehr in ihrem von vornherein angenommenen methodischen Standpunkt: daß der Schrift von 1762 überhaupt nur die Rolle zukommen kann, als Musterbeispiel einer dogmatischen Argumentation zu fungieren, an dem sich die Wahrheit des Kritizismus bewähren kann, womit gegeben ist, daß die Kr.d.r. V. bzw. ihre „kritizistische" Kritik der Rationaltheologie als sich selbst genügende Instanz zum alleinigen Maßstab der Interpretation der vorkritischen Schrift erklärt wird. Nun läßt sich aus überzeugenden Gründen dartun, daß die Gottesbeweiskritik und die Antinomienlehre der transzendentalen Dialektik in ihrer Substanz vorkritisches Gedankengut sind und schon in vorkritischer Zeit entwickelt wurden, so daß umgekehrt die Rolle der Dialektik der reinen Vernunft und damit auch der Kritik der alten Metaphysica specialis in der Kr. d. r. V. überhaupt erst verständlich wird, wenn man von dieser Voraussetzung ausgeht19. Ist dem aber so, dann bedeutet das Vorgehen Reichs soviel wie den Wagen vor die Pferde spannen: denn damit wird das zu Erklärende zum Beurteilungsprinzip dessen gemacht, von dem her es selbst allein verständlich werden kann. Daß eine solche Methode sich weder zur Erschließung des Sinnes der Kritik der Rationaltheologie der Kr. d. r. V. noch zur Erschließung des Sinnes unserer vorkritischen Schrift eignen wird, ist zu erwarten, und wir werden im Folgenden im einzelnen dartun, wie sie den Sinn von beiden in der Tat bei Reich nicht erschließt, sondern im Gegenteil verstellt. Seine These, eine philosophiegeschichtliche Betrachtung der vorkritischen Schriften bzw. Entwicklung Kants müsse auf jeden Fall im Hinblick auf seine „Kritik" vorne draußen bleiben, erweist sich hier als das πρώτον ψευδός seiner Interpretation; denn das Gegenteil ist der Fall: nur eine philosophiegeschichtliche Erhellung der vorkritischen Entwicklung Kants zur Erkenntnis des dialektischen Charakters unserer reinen Vernunfterkenntnis und damit die Anerkennung ihres vorkritischen Charakters kann zu einem wirklichen Verständnis des Dialektikteils der Kr. d. r. V. führen, weil nur von dieser Voraussetzung aus das Verhältnis zwischem dem Analytik- und Dialektikteil derselben richtig bestimmt werden kann. Alle Mängel der Reichschen Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes lassen sich auf die Umkehrung dieses Begründungszusammenhangs der Deutung zurückfüh19

Für die Gottesbeweiskritik vgl. die dritte Abteilung des Beweisgrundes, für die Antinomienlehre die Entwürfe der späten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik in KGS XX, 259-332 vgl. dazu des Verf. Abhandlung: Was entzündete in Kant das große Licht von 1769? in: Archivi. Gesch. d. Phil. 1974, 393-434

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III. Teil

ren. Weil für den Autor die Kr. d. r. V. gegenüber aller vorausgegangenen Entwicklung etwas schlechthin Neues und Einzigartiges ist, das als absoluter Maßstab aller Beurteilung von philosophischen Systemen fungiert und demgegenüber deshalb auch eine vorkritische Schrift nur insofern Bedeutung haben kann, als sie das Beispiel eines dogmatischen Beweises darbietet, an dem die Kritik ihre Wahrheit bewähren kann, interessiert ihn an dem Beweisgrund nur das, was allein dieser Rolle genügen kann, nämlich die ontotheologische Argumentation der ersten Abteilung. Die entwicklungsgeschichtlich grundlegende und auch für die Deutung der transzendentalen Dialektik der Kr. d.r.V. entscheidende Rolle der dritten Abteilung bleibt ebenso unberücksichtigt, wie im Grunde auch die für die Interpretation des Ganzen so wichtige zweite Abteilung, die mit einer kurzen Erwähnung abgetan wird: „Da es nur auf den gelieferten Beweisgrund selber ankommt, darf sich die Betrachtung auf die erste Abteilung ( . . . ) beschränken. Die zweite Abteilung hat zum Inhalte den ,weitläufigen Nutzen, der dieser Beweisart besonders eigen ist'. Dieser Nutzen besteht in der Anwendung des einzig möglichen Beweisgrundes zur Verbesserung der Physiko-Theologie: aus dem einzig möglichen Beweisgrund folgt notwendige Einheit, Harmonie usw. in den Möglichkeiten der Dinge. Daneben gibt diese Abteilung noch eine physiko-theologische Betrachtung, die auf einem von dem Weg a priori der ersten Abteilung ganz getrennten ,Erkenntnisweg a posteriori' einen ,schönen, aber nicht demonstrativen' Beweisgrund vom Dasein Gottes liefert, indem sie ,aus der Einheit im Mannigfaltigen und Wohlgereimtheit in dem Getrennten in den notwendigen Bestimmungen der inneren Möglichkeit der Dinge, die uns durch Erfahrung bekannt werden, zurückschließt auf ein einiges Prinzip aller Möglichkeit' ( . . . ) . Die dritte Abteilung schließlich enthält die Prüfung der überhaupt denkbaren Beweise vom Dasein Gottes und den Nachweis, daß der in der ersten Abteilung gelieferte, der einzig mögliche ist. Sie kann daher hier ebenfalls beiseite gelassen werden" 20 . Die Analyse der außerordentlich umfangreichen zweiten Abteilung, die nicht weniger als zwei Drittel des Raumes der ganzen Abhandlung in Anspruch nimmt, bleibt also hier äußerst summarisch, indem sie lediglich die Gedanken der überleitenden Schlußabsätze der ersten Abteilung referiert, ohne auf das schwierige Problem der inneren Einheit der vielfältigen und vielschichtigen Problematik dieser zweiten Abteilung und ihrer Funktion im Ganzen der Abhandlung näher einzugehen, und, last not least, ohne überhaupt den Kerngedanken dieser Uberleitung selbst, nämlich die hier klar ausgesprochene innere Korrelativität der beiden Argumente, desjenigen der ersten und desjenigen der zweiten Abteilung, überhaupt in Sicht zu bekommen, eine Sicht, die sich der Autor ja durch seine Deutung der Möglichkeit der ersten Abteilung als Möglichkeit des Denkens und ihrer realen und logischen Bedingungen grundsätzlich verbaut hat. Denn es ist klar: nur wenn man als den Grund- und Angelbegriff der Argumentation des ersten Teiles im Sinne Baumgartens die Möglichkeit der Dinge bzw. das repraesentabile als das possible esse auffaßt, kann man überhaupt die beiden Argumente als innere und notwenige Einheit begreifen und damit auch die innere Einheit der Abhandlung selbst in den Blick bekommen, während in der Auffassung Reichs die beiden Abteilungen von etwas grundsätzlich Ver20

Reich, op. cit. 8

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schiedenem sprechen und damit die wesentliche Einheit des Beweisgrundes verloren geht. Damit hängt nun auch zusammen, daß der Autor offene Türen einrennt, wenn er eine Ehrenrettung der Abhandlung Kants in dem Sinne versucht, daß ihm trotz seiner angeblich mißglückten Formulierung des Beweises bzw. trotz seines verfehlten Begriffes der Möglichkeit, doch in Wahrheit deren genuin dogmatischer Begriff vorgeschwebt sei, wie aus jenen Bemerkungen hervorgehe, die den Beweis im ganzen charakterisieren. Reich sagt in Abschnitt 5 seiner Abhandlung unter dem Titel,, Nochmals der nervus probandi' ' : „Ein solcher Versuch, Kants 1763 geliefertem Beweisgrund gerecht zu werden und allererst in seiner Verbesserung des in einem Baustück erkannten Mangels das Ganze des Hauptplanes auf seine Festigkeit und Tauglichkeit zur Errichtung des dogmatisch regelrechten Beweises zu prüfen, wird natürlich das Augenmerk auf das richten, was Kant über die immanent orientierenden Verweisungen innerhalb des Vortrages des Beweises selber hinaus . . . an Stellen, die die Eigenart des Beweises resümierend kennzeichnen sollen, als den ursprünglichen Gedanken angibt. Im .Beschluß' des ,Beweisgrundes zu einer Demonstration des Daseins Gottes' heißt es: ,Der Beweisgrund von dem Dasein Gottes, den wir geben, ist lediglich darauf erbauet, weil etwas möglich ist' "21. Reich will mit diesem Hinweis auf die These vorbereiten, daß Kant in seinem Beweisgang nicht eigentlich von jener „verfehlten" Einteilung der Möglichkeit in das Formal- und Materialprinzip im obigen Sinn ausgehen wollte, sondern von jenem Grundsatz der Ziffer 4 der 3. Betrachtung, die „sich direkt und ohne Basierung auf bloß formale Logik und auf Wirklichkeitserkenntnis als eine Wesensaussage über die Möglichkeit der Dinge Uberhaupt gibt" 2 2 . Aber Kant sagt an dieser von Reich zitierten Stelle des ,Beschlusses', an der er in der Tat seinen einzig möglichen Beweisgrund abschließend charakterisiert, noch etwas mehr über das Wesen dieses Beweises als etwa bloß, daß er lediglich daraus argumentiere, daß etwas möglich ist. Er fährt nämlich gerade hier mit folgenden entscheidenden Sätzen, die Reich mit Stillschweigen übergeht, fort: „Demnach ist es ein Beweis, der vollkommen a priori geführt werden kann. Es wird weder meine Existenz, noch die von anderen Geistern, noch die von der körperlichen Welt vorausgesetzt.. ." 2 3 . Wie kann der Philosoph, so fragen wir, diesen Beweis aus den Möglichkeiten so charakterisieren, wenn er zuvor das Formalprinzip der Möglichkeit als die logische Bedingung der Möglichkeit eines Gedankens von etwas und ihr Materialprinzip als die reale Bedingung der Wirklichkeit eines Gedankens von etwas, nämlich als die real existierenden Dinge definiert hatte? Wenn der Autor also mit dem Aufgebot großen Scharfsinns eine Ehrenrettung Kants als eines dogmatisch regelrechten Denkers versucht, der eigentlich und im Grunde von dem dogmatisch regelrechten Begriff der Möglichkeit habe ausgehen wollen, dann dürften unsere Analysen des vorausgehenden zweiten Teiles unserer Arbeit gezeigt haben, daß der Philosoph in der Tat in der ganzen ersten Abteilung nichts anderes getan hat als eben dieses.

21 22 23

Ebd. 21 Ebd. 31 KGS II, 91

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III. Teil

Aber die bezeichnete Methode Reichs, von der Kr. d. r. V. als einer absoluten und fixen Größe aus, unsere vorkritische Schrift zu beurteilen, macht auch seine Interpretation des 2. Abschnittes des theologischen Hauptstücks der Dialektik, der als unmittelbarer Beziehungspunkt und „kritizistische Parallele" zum einzig möglichen Beweisgrund in Frage kommt, selbst fragwürdig, was nicht überraschen kann, wenn der gegenteilige methodische Ansatz, wie wir ihn vertreten, richtig ist. Wie wir sahen, interpretiert der Autor in der Abhandlung von 1937 die Ableitung des transzendentalen Ideals im 2. Abschnitt des theologischen Hauptstücks als die genuin dogmatische oder ontologische Form des Beweises aus den Möglichkeiten, die er aber dort nur zu dem Zweck entwickle, um sie mit den Mitteln des Kritizismus zu widerlegen, d.h. als einen Scheinbeweis der dogmatischen Metaphysik zu demaskieren, ähnlich wie er es dann in den folgenden Abschnitten mit den drei traditionellen Gottesbeweisen tue. Nach der Interpretation Reichs ist also die Entdeckung des transzendentalen Scheins in der Realisierung des so aus dem Begriff der Möglichkeit erschlossenen Gottesbegriffs eine spezifische Leistung der „Kritik" in dem Sinn, daß die Realisierung des Ideals auf dem Boden der dogmatischen Metaphysik unumgänglich gewesen war und also nur durch das Spezifische der kritischen Philosophie überwunden werden konnte. Es werde, so führt Reich im 6. Abschnitt seiner Abhandlung („Wiederum Kritik") aus, in dem Kapitel vom transzendentalen Ideal der Schluß, der den wahren nervus probandi des einzig möglichen Beweisgrundes des „jungen Kant" darstelle, als bloßer Schein enthüllt, als eine auf bloße und reine Begriffe der Möglichkeit der Dinge überhaupt gestützte Vernünftelei; denn Kant weise dort nach, daß wir zur Objektivierung und Realisierung des lediglich subjektiv notwendigen Begriffs vom Inbegriff aller Realität keine Befugnis haben, daß es eine bloße Idee sei, und daß deswegen alle Folgerungen, die aus einem solchen Ideal abfließen, die durchgängige Bestimmung der Dinge selbst nichts angingen und darauf nicht den geringsten Einfluß hätten 24 . Nun das, was auf den ersten Blick eine elegante Lösung des von Reich herausgestellten schwierigsten Problems der Interpretation des dritten Hauptstücks zu sein scheint, erweist sich in der Tat bei näherem Zusehen als bloße Scheinlösung. Fürs erste ist die im 2. Abschnitt durchgeführte Ableitung des transzendentalen Ideals inhaltlich nicht identisch mit dem Gedankengang des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762. Gewiß hat Reich darin recht, daß es sich hier um einen substantiell vorkritischen Gedankengang handelt, aber es ist nicht der Gedankengang des Beweisgrundes selbst, sondern der seiner späteren vorkritischen Entwicklungsphase, die bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erreicht wird und in den Reflexionen dieses Zeitraums überzeugend nachgewiesen werden kann 2 5 . Der Beweisgang von 1762 geht aus von dem Baumgartenschen Begriff des possible esse als einer ontologischen Dimension der Dinge, die ihrer kontingenten Existenz vorhergeht und unabhängig von dieser ist, die Ableitung des transzendentalen Ideals im 2. Abschnitt geht aus von den Begriffen möglicher Dinge und den Bedingungen

24 25

Reich, op. cit. 34 f. KGS XVII vgl. u.a. RR 3716, 3717, 3732, 3888-3890, 3931

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ihrer Bestimmbarkeit bis zur letzten Individualität, womit im Grunde schon gegeben ist, daß man von dem ersten Ansatz sehr wohl auf eine Existenz schließen kann, von dem letzteren aus aber ein solcher Schluß problematisch bleiben muß. Dieses spätere vorkritische Entwicklungsstadium, mit dem der ehemalige einzig mögliche Beweisgrund einmündet in die Lehre vom Vernunftideal, finden wir in der Tat in reiner Form im 1. Teil des 2. Abschnittes des theologischen Hauptstücks wieder, freilich so, daß dieser erste Teil bis Β 609 reicht und die ganze sogenannte „Widerlegung" der Realisierung des Ideals mit einschließt. Daraus ergibt sich uns der zweite Einwand gegen diese Lösung Reichs: daß ohne jeglichen Anhaltspunkt im Text des 2. Abschnittes die Enthüllung des transzendentalen Scheins der Realisierung des Ideals von ihm auf das Konto des transzendentalen Idealismus gesetzt wird; denn es dürfte jedem, der den Gedankengang des ersten und grundlegenden Teiles dieses Abschnittes, nämlich Β 600-609 aufmerksamt verfolgt, klar werden, daß Kant auch zur Entdeckung oder Feststellung des Scheins in der Realisierung und Hypostasierung des Ideals (B 606-609) ebenfalls nicht die Prinzipien des Kritizismus, d.h. die der grundsätzlichen Einschränkung unserer Erkenntnis auf die Dinge der Erfahrung, in Anspruch nimmt: „Es versteht sich von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich letztlich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, was dem Ideal gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetze, um von einer unbedingten Totalität der durchgängigen Bestimmung die bedingte, d. i. die des Eingeschränkten abzuleiten" (B 605 f). Es ist ganz offensichtlich, daß wir uns mit der Feststellung dieser „Selbstverständlichkeit" noch immer „auf dem Boden der aus Begriffen von Dingen überhaupt deduzierenden Metaphysik" befinden: immer ist hier von dem Begriff der möglichen Dinge und ihrer durchgängigen Bestimmung bzw. von der höchsten Realität als der Bedingung, uns die Möglichkeit der Dinge und ihrer durchgängigen Bestimmung zu denken die Rede, niemals von einer obersten Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, nirgends verweist Kant auf die Prinzipien des transzendentalen Idealismus, wo er betont, daß aus der Notwendigkeit die Itiee der Allrealität vorauszusetzen, um die durchgängige Bestimmung eingeschränkter Möglichkeit zu denken, selbstverständlich nicht auf die Existenz dieser Voraussetzung geschlossen werden könne. Man wird deshalb zugeben müssen, daß im Abschnitt II auch der Aufweis der Täuschung, die in einer Realisierung der Idee gegeben wäre, hier auf genau derselben Ebene erfolgt, wie die vorausgehende Ableitung des Vernunftideals selbst, und daß die entscheidende Zäsur in Abschnitt II, bei der nun eindeutig die kritizistische Betrachtung als Erklärung des transzendentalen Scheins einsetzt, sich erst in Β 609 findet. Reich hätte also zugeben müssen, daß auch schon „der sorgsamer gewordene Analyst", der bloß „aus Begriffen von Dingen überhaupt deduzierende" Metaphysiker 26 und nicht erst der kritische Philosoph diesen Schein in der Realisierung des Ideals entdek-

26

Vgl. Reich op. cit. 28, 31

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III. Teil

ken konnte, ohne dazu des Prinzips der kritizistischen Einschränkung zu bedürfen, weil die Vernunft „das Idealische und bloß Gedichtete einer solchen Voraussetzung viel zu leicht (bemerkt) als daß sie dadurch [ = durch das bloße Bedürfnis der Voraussetzung des Ideals] allein überredet werden sollte, ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen" (B 611 f). Damit aber hätte sich f ü r den Autor die Konsequenz ergeben, daß nicht nur die wesentlichen Gedanken der Gottesbeweiskritik der Abschnitte III—VI vorkritisches Gedankengut sind, was er ja auch durch seine Beurteilung der dritten Abteilung des Beweisgrundes : daß in ihr die drei traditionellen Argumente mit den nämlichen Gedankengängen widerlegt werden wie in der Dialektik der „ K r i t i k " , irgendwie einräumt, sondern auch der weitaus größte Teil des Abschnittes II mit der Ableitung des transzendentalen Ideals und der Ablehnung seiner Realgültigkeit, also, von jenen kritizistischen Schlußabsätzen des Abschnittes Β 609-10 abgesehen, praktisch das ganze theologische Hauptstück vorkritisches Gedankengut enthält, weil es nicht auf der spezifisch kritizistischen Begrifflichkeit beruht. Demgegenüber glaubte er sich offenbar durch den kritizistischen Schluß des 2. Abschnittes in seiner Auffassung bestätigt, daß die Entdeckung des transzendentalen Scheins in der Realisierung des Ideals tatsächlich durch die Prinzipien des transzendentalen Idealismus erfolgt sei, eine Auffassung, die sich aber vom Kantischen Text her m. E. keinesfalls aufrechterhalten läßt. D e n n dieser kritizistische Schluß erweist sich bei näherem Zusehen als ein Novum in dem ganzen bisherigen Gedankengang des 2. Abschnittes, und zwar von solcher Art, daß es im Grunde die ganze Lehre vom transzendentalen Ideal und seiner Bedeutung für die Rationaltheologie, wie Kant sie bisher in Abschnitt II entwickelt und dann in den letzten beiden Absätzen des Abschnittes VII (Β 668-70) bestätigt, aufheben würde: „ D a ß wir aber hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren, k o m m t daher, weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält, welches dann vermittelst der schon gedachten transzendentalen Subreption [daß nämlich Erscheinungen vom natürlichen Verstand für Dinge an sich gehalten werden] mit dem Begriffe eines Dinges verwechselt wird, was an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht, zu deren durchgängiger Bestimmung es die realen Bedingungen hergibt". Wenn das Vernunftideal nichts anderes ist als das Ergebnis einer zweifachen „dialektischen" Verwandlung, einmal, daß wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauches zu einem Erfahrungsganzen als einem einzelnen Ding (!) und dann dieses Erfahrungsding, das dem Bereich der Erscheinung zugehört, zu einem Ding an sich machen [was Kant die transzendentale Subreption nennt], dann ist dem Vernunft-Ideal in der Tat jeder objektive Erkenntniswert und jede objektive Geltung abgesprochen, was aber sowohl dem Abschntt VII (Β 668-70) wie vor allem auch dem unverzichtbaren Anspruch der Vernunft, das Absolute zu denken und vorauszusetzen, wie er in der Vorrede zur 2. Auflage der Kr. d. r. V. so kraftvoll behauptet wird, widerspricht. Daraus folgt, daß die einzige wirkliche Zäsur des 2. Abschnittes erst bei Β 609 liegt und daß diese kritizistische „ E r k l ä r u n g " des transzendentalen Ideals mit der auf ganz anderem G r u n d beruhenden Erkenntnis, daß es selbstverständlich keine Realgültigkeit bean-

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spruchen kann, nicht unmittelbar etwas zu tun hat, und daß hier das eigentliche Problem der Interpretation des 2. Abschnittes verborgen liegt 27 . Für Reich aber hat dieser letzte Teil des Abschnittes II, nämlich Β 609-10, noch eine weitere entscheidende Funktion für die Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes: sie erklärt nach ihm, wie Kant 1763 dazu kommen konnte, „den Satz, daß, wenn nichts existiert, auch nichts zu denken gegeben sei, der doch kein ontologischer ist, indem er sich auf das Denken als eine zur Möglichkeit der Dinge gar nicht erforderliche Bedingung bzieht, in der Ontologie zu verwenden". Auch dieser grundlegende Fehler Kants, der sich hinter seiner damaligen Fassung des Materialprinzips der Möglichkeit (als Gegebenheit eines Realen oder Existierenden) verberge, stamme aus jener Übertragung der Bedingungen des empirischen Denkens auf die Dinge überhaupt oder an sich, eine Übertragung, die wir natürlicherweise vollzögen und deren Täuschungscharakter erst durch die „Kritik" enthüllt werden konnte 28 . In der hier vertretenen Auffassung dürfte die eigentliche Wurzel jener Mißdeutung des Materialund Formalprinzips der Möglichkeit im Beweisgrund zu suchen sein, die Reich als Verzeichnung des genuinen dogmatischen Möglichkeitsbegriffs betrachtet. Gerade hierin aber zeigt sich auch gleichsam auf ihrem Gipfelpunkt die Verfänglichkeit der Methode, den Einzig möglichen Beweisgrund und damit auch die ganze vorkritische Entwicklung auf dem Gebiet der Rationaltheologie von der K r . d . r . V . her zu interpretieren. Denn Reichs Deutung des Möglichkeitsbegriffes des Beweisgrundes, nach der Kant in seiner Bestimmung des Materialprinzips der Möglichkeit eine reale Bedingung der Möglichkeit des Denkens (daß etwas existiere, damit Denken möglich sei) als ontologische Bedingung der Möglichkeit der Dinge interpretiert habe, widerspricht nicht nur völlig dem Baumgartenschen Begriff des possibile bzw. repraesentabile, den Kant ohne Zweifel übernommen hat, sondern auch der Grundauffassung Kants vom einzig möglichen Beweisgrund: daß es sich bei ihm nämlich um ein apriorisches Argument handle, das von der Existenz der Dinge völlig absehe und das sich deshalb gerade in diesem Punkt wesentlich vom Wölfischen Kontingenzbeweis unterscheide. Die Interpretation, die Kl. Reich in seiner ca. 25 Jahre späteren „Einleitung" zur Neuausgabe des Textes unserer theologischen Abhandlung Kants im Rahmen der philosophischen Bibliothek sowohl von dem einzig möglichen Beweisgrund selber wie von den ihm zugeordneten Abschnitten des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik gibt, unterscheidet sich in mehr als einer Hinsicht wesentlich von derjenigen seiner Abhandlung von 1937. Man könnte zunächst denken, das sei lediglich der Tatsache zu verdanken, daß Reich nun zu dem rein systematischen Gesichtspunkt, unter dem er 1937 den Beweisgrund im Verhältnis zum 2. Abschnitt des theologischen Hauptstücks analysiert hatte, nun den philosophiegeschichtlichen, den er dort als ungemäß zurückgewiesen, hinzufügt, wie schon im Titel der Einleitung zum Ausdruck kommt: „Der einzig mögliche Beweisgrund im Licht von Kants Entwicklung zur Kritik der reinen Vernunft." 27

28

Vgl. des Verf. Referat z. III. Intern. Kantkongreß: O n the development of Kants Transcendental Theology Reich, op. cit. 37

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III. Teil

Aber dieser Umstand kann die angedeuteten Unterschiede insofern nicht befriedigend erklären, als der Autor, trotz dieser Einbeziehung der philosophiegeschichtlichen Fragestellung, seine ehemalige systematische Betrachtungsweise und die daraus sich ergebende Methode der Untersuchung keineswegs aufgegeben hat, wie wir gleich in den ersten Absätzen der Einleitung erfahren: ,,Es ist keine Frage, daß die Bearbeitung dieses Kapitels der gesuchten Wissenschaft [nämlich der rationalen Theologie] im ,einzig möglichen Beweisgrund' in den Augen des kritischen Kant - des Kant der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft - das Zeichen des Dogmatismus aufweist... Unter diesen Umständen wird man heute leicht versucht sein, diesem Kantischen W e r k . . . eine historische Bedeutung für Kants späteren, kritischen, Begriff der dogmatisierenden Metaphysik zuzuschreiben. Wir werden dann zunächst erwarten, daß das Spezifische seines Gedankengangs in der Kritik der reinen Vernunft selbst einer Kritik unterworfen ist, und zwar einer solchen, die sich der eigentümlichen Mittel des „Kritizismus in der reinen theoretischen Philosophie" bedient. Ist das der Fall?" Darauf antwortet der Autor in dem nun folgenden kurzen Resumé der Gottesbeweiskritik Kants im dritten Hauptstück der transzendentalen Dialektik (wobei er wiederum im Vorübergehen darauf hinweist, daß die von Kant hier kritisierten Beweise sämtlich von ihm auch schon in der dritten Abteilung des Beweisgrundes geprüft und widerlegt worden sind und zwar mit wesentlich denselben Argumenten wie in der Kr. d. r. V.) wie folgt: „Wenn also die Kritik der reinen Vernunft recht hat, daß der ontologische Gottesbeweis der einzig mögliche Beweisgrund ist . . ., dann kann der in der Schrift von 1762 vorgetragene, von jenen dreien verschiedene, angebliche einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes in Wahrheit kein solcher Beweisgrund zu einer Demonstration sein, schon rein formell, unabhängig von der Frage seiner Beweiskräftigkeit oder Nichtbeweiskräftigkeit nach den Prinzipien der Kritik der reinen Vernunft" 2 9 . Und so sei es auch; denn was dieser vorgebliche einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes nach der Lehre der Kritik der reinen Vernunft allein sein könne, sei aus dem der Kritik der drei bekannten Beweise vorhergehenden Abschnitt „Von dem transzendentalen Ideal" des theologischen Kapitels zu entnehmen. Dieser Abschnitt enthalte die Analyse der Objektivierung und Hypostasierung der Vorstellung von einem „Musterding" als einer notwendigen Bedingung, wenn man sich von möglichen Dingen überhaupt einen Begriff machen wollte und könnte. Diese Vorstellung enthalte als solche natürlich nicht die Voraussetzung der Existenz eines solchen Dinges ; die Geltendmachung seiner Existenz beruhe nach Kant vielmehr darauf, daß man sich die „Möglichkeit der Dinge überhaupt und an sich" nach Analogie dessen vorstelle, was wir nach der Lehre der Kritik der reinen Vernunft von der „Möglichkeit der Dinge als Erscheinungen" wissen . . . eben die Notwendigkeit des vorherigen Gegebenseins der Materie, die nur zu den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände als Erscheinungen gehört, werde nun durch eine Subreption für eine Bedingung der „Möglichkeit von

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Reich, Einleitung, IX

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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Gegenständen überhaupt und an sich" gehalten, und diese Verwechslung sei es, die uns die Vorstellung eines logischen Ideals als apriorische Gewißheit einer Existenz verkaufe 30 . Daß wir es bei Reich trotz des erwähnten Unterschiedes auch 1963 noch mit der gleichen grundsätzlichen Problemsicht zu tun haben wie 1937, wird von ihm in der Anmerkung zu diesen Ausführungen auf Seite X ausdrücklich betont: „Eine ausführliche Darstellung und Begründung des oben dargestellten Verhältnisses der Grundidee des ,Einzig möglichen Beweisgrundes' und der .Kritik der reinen Vernunft' habe ich 1937 in einer bei Felix Meiner erschienenen Schrift,Kants einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Ein Beitrag zum Verständnis von Dogmatismus und Kritizismus in der Metaphysik' gegeben." Und er fügt hinzu: ,,Ιη der gegenwärtigen Einleitung versuche ich im folgenden mittels der Methode direkter Vergleichung Kantischer Texte aus dem Verhältnis beider Werke etwas für die Erhellung von Kants allgemeiner Entwicklung bis zum Jahre 1781 zu gewinnen." Hier wird man fragen müssen: ist eine genuin historische Untersuchung der allgemeinen Entwicklung Kants bis zur Kr. d. r. V. auf Grund einer solchen bereits fixierten Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem 2. Abschnitt des theologischen Hauptstücks und dem Einzig möglichen Beweisgrund überhaupt möglich? Wir meinen, sie ist unter dieser Voraussetzung nicht möglich, weil ja der Zielpunkt der Entwicklung und ein entscheidendes Stadium derselben schon durch die systematische Betrachtung fixiert sind, und damit auch die allgemeine Logik des Entwicklungsverlaufs zwischen beiden, so daß die herangezogenen historischen Dokumente nur mehr als Verifizierung bzw. Konkretisierung dieser allgemeinen Logik dienen können. Das eigentliche Instrument dieser „historischen" Untersuchung sind also nicht so sehr die Zeugnisse der vorkritischen Schriften und Reflexionen, sondern die „direkte Vergleichung Kantischer Texte". Reich formuliert hier unbestimmt „Vergleichung Kantischer Texte"; denn er hat hier nicht nur, und vermutlich nicht einmal in erster Linie, den Vergleich zwischen Abschnitt II des dritten Hauptstücks und dem einzig möglichen Beweisgrund im Auge, sondern vor allem den zwischen der Prop. VII der Nova Dilucidano und der ersten Abteilung des Beweisgrundes, wie sogleich deutlich werden wird; der Textvergleich zwischen dem Abschnitt II und dem einzig möglichen Beweisgrund ist für ihn ja implizit bereits im Abschnitt II selbst gegeben, wenn dieser, wie er annimmt, nichts anderes ist als eine Kritik des Grundgedankens seines ehemaligen Beweisgrundes, nämlich der Objektivierung und Hypostasierung eines Musterdinges als einer notwendigen Voraussetzung für unsere Begriffe von möglichen Dingen, mit den spezifischen Mitteln des Kritizismus. Für die von Reich intendiert Rekonstruktion der philosophischen Entwicklung Kants bis zur Kr. d. r. V. ist in der Tat der direkte Textvergleich zwischen der Prop. VII der Nova Dilucidatio und der ersten Abteilung des Beweisgrundes von ausschlaggebender Bedeutung, weil er gerade aus dem Gegensatz zur Nova Dilucidatio seine neue Deutung des einzig möglichen Beweisgrundes gewinnt, die sich von der der Abhandlung von 1937

30

Ebd. IX f.

156

III. Teil

wesentlich unterscheidet. Auf diese Weise ergeben sich ihm die drei grundlegenden Stadien des Kantischen Entwicklungsganges bis 1781: die Interpretation der Prop. VII der Nova Dilucidatio in dem bereits im ersten Teil dargelegten Sinn; dann von hier aus seine neue Deutung des ontotheologischen Arguments als vermittelnde Zwischenstation zu der abschließenden kritizistischen Beurteilung und Ablehnung dieses Gedankengangs des Beweisgrundes in Abschnitt II des theologischen Hauptstücks der Dialektik. Die hier von Reich gewählte Methode des direkten Textvergleichs, in der sich auf die bezeichnete Art der historische Gesichtspunkt mit dem systematischen verbindet, offenbart jedoch ihre ganze Problematik durch die Fragwürdigkeit der Ergebnisse, die der Autor damit gewinnt, nämlich die der drei von ihm durch diese Methode ermittelten Entwicklungsstadien des rationaltheologischen Standpunktes Kants. Mit seiner Interpretation der Prop. VII als eines wesentlich verschiedenen Arguments gegenüber dem des Beweisgrundes, haben wir uns bereits in den beiden vorausgehenden Teilen unserer Arbeit auseinandergesetzt, indem wir einerseits unsere Einwände gegen sie vorgebracht und andererseits durch eine durchgehende Analyse beider Quellen positiv die substantielle Identität ihrer Argumentation nachgewiesen haben. Damit wird aber eo ipso auch des Autors Interpretation des Beweisgrundes, soweit sie durch die „direkte Vergleichung" mit den Texten der Nova Dilucidatio bedingt ist, das Fundament entzogen. Und die Interpretation des Abschnitts II des dritten Hauptstücks als kritizistische Kritik des Gedankengangs des einzig möglichen Beweisgrundes und der drei traditionellen Gottesbeweise? Sie wird nach u.Ü. schon fragwürdig durch die von Reich selber sowohl in der Einleitung von 1963 wie in der Abhandlung von 1937 festgestellte erstaunliche Tatsache, daß Kant bereits in der dritten Abteilung des Beweisgrundes die drei traditionellen Beweise mit eben denselben Argumenten widerlegt wie dann in der Kr. d. r. V. Dieser Umstand ist in der Tat von solcher Art, daß er sich, wenn man ihn nur im Ernst reflektiert, als das entscheidende Problem des Entwicklungsweges Kants zur Kritik der Rationaltheologie in der Kr. d. r. V. darstellt, ein Problem, das gewiß nicht dadurch aus der Welt geschafft wird, daß man es bei der Feststellung des Faktums bewenden läßt und in dem weiteren Verfolg der Entwicklung Kants von ihm absieht. Verschließt man aber die Augen nicht vor dieser frappierenden Tatsache, dann wird man der Frage gar nicht ausweichen können: Wenn Kant 1762 die Rationaltheologie mit denselben Argumenten widerlegt wie in der transzendentalen Dialektik, wie soll man es dann verstehen, daß deren Widerlegung in der letzteren eine spezifisch kritizistische Widerlegung, d.h. eine solche mit den Mitteln des Kritizismus sein soll? Werden etwa dieselben Argumente mit ihrer Beweiskraft, die sie schon 1762 besessen haben, dadurch eo ipso zu kritizistischen, weil sie im Rahmen der transzendentalen Dialektik wiederholt werden? Schon dadurch also wird die Interpretation des dritten Hauptstücks als kritizistische Kritik der dogmatischen Rationaltheologie der vorkritischen Periode und damit unvermeidlich auch der 2. Abschnitt desselben als kritizistische Kritik des einzig möglichen Beweisgrundes höchst problematisch. Fragwürdig aber wird der von Reich mittels seiner Methode des direkten Textvergleichs gewonnene Rahmen der rationaltheologischen Entwicklung Kants mit den bezeichneten drei Stadien darüber hinaus auch durch die Tatsache, daß er nun in der Einlei-

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157

tung von 1963 zu einer wesentlich anderen Auffassung sowohl dieses 2. Abschnittes selbst wie auch der Ontotheologie des Beweisgrundes als in der Abhandlung von 193 7 gelangt. Denn das muß den Verdacht erwecken, daß mit dieser Methode des direkten Textvergleichs nicht nur das Verhältnis zwischen diesen beiden letzten Stadien der Entwicklung nicht sicher bestimmt werden kann, sondern daß diese selbst durch die Voraussetzung, von der der Autor ausgeht (daß nämlich der Abschnitt II des theologischen Hauptstücks die kritizistische Widerlegung des Beweisgrundes von 1762 darstelle), in ihrer Substanz verfehlt werden. Aber worin bestehen diese Unterschiede in der Deutung des Abschnittes II des dritten Hauptstücks und des einzig möglichen Beweisgrundes bei Reich in der Abhandlung von 1937 und in der Einleitung von 1963? Was zunächst die Interpretation des Abschnitts II selber betrifft, so liegt der bedeutendste Wandel gegenüber der Abhandlung von 1937 darin, daß Reich nun den ganzen Abschnitt II als Widerlegung des dogmatischen Gedankengangs von 1762 vom kritizistischen Standpunkt aus und mit den Mitteln des Kritizismus betrachtet, während er 1937 die Ableitung des transzendentalen Ideals zu Beginn des Abschnittes als genuine Form des dogmatischen Beweises aus den Möglichkeiten der Dinge und damit als Korrektur der verfehlten Formulierung desselben in der Schrift von 1762 aufgefaßt hatte. Jetzt dagegen zeigt nach ihm der ganze Abschnitt II, was jener vergebliche Beweisgrund vom Standpunkt der Kritik aus allein sein kann: die Objektivierung und Hypostasierung der Vorstellung von einem Musterding als einer notwendigen Bedingung, falls man sich von möglichen Dingen überhaupt einen Begriff machen wollte und könnte, wobei für den Autor nun jenes „Musterding" als Prinzip möglicher Dinge die spezifisch kritizistische Ebene selbst bezeichnet. Daß Kant in diesem 2. Abschnitt von Anfang an von dem spezifisch kritizistischen Standpunkt aus argumentiert bzw. bei seiner Darstellung sowohl wie bei seiner Beurteilung des Grundgedankens des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes sich wirklich der eigentümlichen Mittel des Kritizismus bedient hat, geht nach der Einleitung von 1963 noch deutlicher als aus dieser Kritik selber (hierin wi'rd man eine Reminiszenz an seine früheren Auffassung erblicken dürfen) hervor aus der Schlußanmerkung des kosmologischen Hauptstücks, die zum theologischen überleitet; denn hier werde klar ausgesprochen, daß der im folgenden zu entwickelnde Gottesbegriff von vornherein nur verstanden werden dürfe als Vorstellung eines Musterexemplars für alle möglichen intelligiblen Dinge im Gegensatz zu den Erscheinungen. Und nur infolge dieser Bestimmung konnten die Schlüsse auf seine Existenz kritisiert werden auf Grund des durch die Kr. d. r. V. etablierten Prinzips: daß die Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit nicht zur Erkenntnis intelligibler Gegenstände gebraucht werden können31. Damit kommt Reich einem möglichen Einwand zuvor, daß Kant nämlich hier, wie er 1937 selbst betont hatte, in Abschnitt II bei der Ableitung des Ideals keinerlei spezifische Prinzipien und Begriffe des Kritizismus in Anspruch nehme und folglich von den Voraussetzungen des Dogmatismus aus argumentiere. Durch den Überleitungsabsatz wird

31

Vgl. ebd. X I

158

III. Teil

nunmehr für Reich dieser Zweifel ausgeschaltet: der Gottesbegriff des ganzen Hauptstücks, nämlich das transzendentale Ideal, ist im strengen Sinn der des Kritizismus, so daß sich die ganze Widerlegung der Rationaltheologie im dritten Hauptstück auf dem Boden des Kritizismus bewegt. Im Grunde ist dieser Standpunkt in der Auffassung des Abschnittes II konsequenter als der von 1937, wo er die Ableitung des Ideals als den dogmatischen Beweis aus den Möglichkeiten, also als vorkritischen Gedankengang, der nichts mit den Begriffen des Kritizismus zu tun habe, gedeutet hatte, die Widerlegung der Objektivierung und Hypostasierung des Ideals aber als Leistung des Kritizismus ; denn in den Texten des 2. Abschnittes ist zwischen beiden absolut keine Zäsur festzustellen bis Β 609. Wenn also die Schlußabsätze 609-610 eine kritizistische Interpretation der Widerlegung der Objektivierung und Hypostasierung des Ideals notwendig machen, wie Reich damals offenbar angenommen hat, dann ist es völlig logisch, auch die Ableitung des Ideals selber kritizistisch zu deuten, was aber nach ihm eindeutig erst durch den überleitenden Schlußabsatz des 2. Hauptstücks feststeht. Aber auch in diesem Fall läuft die Sache keineswegs so glatt, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Denn fürs erste muß hier auf den Widerspruch hingewiesen werden, in den Reich sich mit seiner These von dem grundsätzlich kritizistischen Charakter der Gottesbeweiskritik Kants in der Kr. d. r. V. verwickelt: Wenn er in diesem Zusammenhang in aller Form die Auffassung vertritt, Kant habe nur auf Grund der kritizistischen Unterscheidung zwischen der Ebene der intelligiblen Dinge und der Dinge als Erscheinungen, nämlich mittels des dadurch etablierten Prinzips der Einschränkung der Gültigkeit der Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit auf mögliche Erfahrung, die Schlüsse der Vernunft auf das Dasein Gottes kritisieren können, wie kann er dann zugleich an der These festhalten, daß „eine Vergleichung der gegen diese Beweise vorgebrachten Argumente" zeige, daß sie im wesentlichen dieselben sind wie in der dritten Abteilung der Schrift von 1762? Dazu kommt aber ein weiterer entscheidender Einwand gegen die obige Position Reichs: wenn mit dem Uberleitungsabsatz des zweiten Hauptstücks zum dritten der Gottesbegriff des letzteren, d.h. das transzendentale Ideal, grundsätzlich als der des Kritizismus bestimmt wird, und sich eben dadurch das ganze dritte Hauptstück, das unter diesem Titelbegriff steht, auf dem Boden des Kritizismus bewegt, dann bedeutet das, daß nun auch die Entwicklung und Kritik der Gottesbeweise in den Abschnitten III bis VI grundsätzlich auf die Ebene des Kritizismus zu transponieren sind, d. h. kritizistisch verstanden werden müssen. Die Folge ist dann unvermeidlich die These W. Cramers in seinem Buch „Gottesbeweise und ihre Kritik" 32 : daß nämlich die ganze Gottesbeweislehre und -kritik Kants im dritten Hauptstück (wie auch das ausführliche Antinomiekapitel, d. h. das zweite Hauptstück) von Kant von den Voraussetzungen des transzendentalen Idealismus aus entwickelt werde, von denen aus aber Gottesbeweise im Sinn der alten Metaphysica specialis grundsätzlich sinnlos würden, so daß die von dem Philosophen hier dargelegten Gedankengänge in Wahrheit nur Analogien der alten metaphysischen Gottesbeweise auf kritizistischem Niveau darstellen

32

Wolfg. Cramer, Gottesbweise und ihre Kritik, Frankfurt 1967

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können, und Kant mit ihrer Widerlegung nichts anderes tue als Attacken gegen selbstgefertigte Windmühlen zu reiten. Diese These Cramers ist durchaus konsequent, wenn Kant sein drittes Hauptstück wirklich von den Voraussetzungen des transzendentalen Idealismus aus als dessen Konsequenz entwickelt hat. Aber gerade die Absurdität dieser Konsequenz, daß er im zweiten und umfangreichsten Teil seines Hauptwerkes riesige Scheinprobleme aufgetürmt hätte, die dann lediglich dadurch widerlegt würden, daß er eben an die Voraussetzung des transzendentalen Idealismus erinnert, durch die sie sich als gegenstandlose Konstruktionen erweisen würden, machen die These Reichs und Cramers, der Philosoph habe im dritten Hauptstück grundsätzlich von den Voraussetzungen des transzendentalen Idealismus aus argumentiert, bzw. ganz allgemein die Dialektik der reinen Vernunfterkenntnisse als Konsequenz des transzendentalen Idealismus der Analytik entwickelt, unannehmbar. Im übrigen ist gerade im theologischen Hauptstück, von einigen wenigen unwesentlichen Stellen, in denen sich Kant auf den transzendentalen Idealismus beruft, abgesehen33, der Tenor seiner Ausführungen so offensichtlich vorkritisch und seine Gedankenführung so eindeutig die des natürlichen Verstandes (d.h. des Verstandes, der von der absoluten Realität der Erfahrungswirklichkeit ausgeht), daß jeder Versuch, die hier entwickelten Argumente und ihre Widerlegung als Konsequenz des transzendentalen Idealismus zu deuten, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Mit anderen Worten: der Beweis Reichs aus dem überleitenden Schlußabsatz des zweiten Hauptstücks für den kritizistischen Charakter des Abschnittes II beweist zu viel. Aus all dem wird deutlich, daß der a priori bezogene Standpunkt Reichs, die Kritik der reinen Vernunft sei gegenüber allem bisher Dagewesenen ein schlechthinniges Novum von absolutem Rang, das aus dem transzendentalen Idealismus der Analytik in logischer Geschlossenheit entwickelt werde und das daher auch nur aus ihm selbst interpretiert werden könne und andererseits als letzte Norm der Beurteilung der ganzen vorausgegangenen vorkritischen Entwicklung dienen müsse, eine fragwürdige Entscheidung darstellt. Wir sind in der Tat völlig davon überzeugt, daß man nie zu einer wirklich kohärenten Interpretation des ganzen Dialektikteils kommen, sondern immer wieder bei allen Varianten der Interpretation sich in Widersprüche mit Kantischen Texten verwickeln wird, solange man nicht von der gegenteiligen Voraussetzung ausgeht, die im Grunde schon durch die dritte Abteilung des Beweisgrundes auferlegt wird: daß nicht nur die Entwicklung des transzendentalen Ideals und die Widerlegung seiner Objektivierung und Hypostasierung in Abschnitt II, sondern auch die übrigen Abschnitte III mit VI des theologischen Hauptstücks (ebenso wie das ganze kosmologische zweite Hauptstück) dem Wesen nach vorkritisches Gedankengut enthalten, oder was auf das gleiche hinausgeht, daß sich der Aufweis der natürlichen Dialektik der reinen Vernunftschlüsse auf dem Boden des natürlichen Verstandes, nämlich auf dem der Annahme der absoluten Realität der Erfahrungswelt bewegt, und daß hier der transzendentale Idealismus der Analytik keine andere Funktion hat, als jene Theorie unserer Verstandeserkenntnis zu liefern, die

33

Vgl. des Verf. Referat „On the development..." und seine Analyse des dritten Hauptstücks in: „Das Problem der Kontingenz der Welt."

160

III. Teil

das Rätsel der notwendigen Dialektik unserer Schlüsse der natürlichen Vernunft zu lösen vermag. Wir werden auf diese Zusammenhänge in einer späteren Veröffentlichung, die sich thematisch mit dieser Frage befassen wird, ausführlich zurückkommen 34 . Das überraschendste Ergebnis der „Einleitung" von 1963 aber ist Reichs neue Interpretation des Grundgedankens des einzig möglichen Beweisgrundes. Es ist nun nämlich nicht mehr die Rede von jener Verzeichnung des genuin dogmatischen Beweises aus den Möglichkeiten, mit der die Abhandlung von 1937 gerungen hatte in dem Bemühen, die verborgenen Ansätze der Schrift zu einer genuin dogmatischen, d.h. ontologischen, Formulierung des Beweises bzw. zu einem echten ontologischen Begriff der Möglichkeit zu entdecken. Die neue Interpretation des Beweisgrundes geht in ihrer konkreten Gestalt von zwei Ansätzen aus, die sich nach der Meinung des Verfassers ergänzen und gegenseitig bestärken: einmal von ihrer vermeintlichen wesentlichen Verschiedenheit von dem Gedankengang der Prop. VII der Nova DHu.cida.tio und fürs andere von dem ersten Absatz des Abschnittes III des theologischen Hauptstücks, das Reich nun offenbar ergiebiger für eine Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes erscheint als selbst der Abschnitt II, der angeblich die kritizistische Rezension und Widerlegung seines Grundgedankens enthält. Was den ersteren Ansatz betrifft, so haben wir bereits im 1. Teil unserer Arbeit gesehen, daß Reich den Gedankengang des Gottesbeweises aus den Möglichkeiten in der Nova Dilucidatio in einer überraschenden Gegensätzlichkeit zu dem des Beweisgrundes von 1762 konstruiert. Gegenüber der ontotheologischen Position der Habilitationsschrift bestehe der wesentliche Gedankengang der Beweisführung von 1762, an deren Anfang der 1755 noch nicht erkannte Satz „Dasein ist kein Prädikat" stehe, in folgendem: Zunächst werde die Unterscheidung zwischen dem Materialen und Formalen der Möglichkeit, die auch schon 1755 gegeben war, sogleich (sie!) in der Weise fruchtbar gemacht, daß zwei Fälle der Art des Gegebenseins des Materialen der Möglichkeit unterschieden würden: entweder als Bestimmung eines Dinges oder als Folge desselben. Die Unterscheidung dieser Fälle setze voraus die Einteilung der Bestimmungen von Objekten in Realitäten und Negationen (Privationen), die einen Rangunterschied unter den möglichen Dingen stifte, je nachdem sie „reines Sein (Realität)" oder, ,mit Andersheit behaftetes Sein" enthielten. Diese Unterscheidung der Art des Gegebenseins der Möglichkeitsmaterie sei zwar nach dem Vorhergehenden ganz willkürlich, aber sie enthalte die „Voraussetzung der,Sphäre des Möglichen' als eines durch objektive Begriffe -,reale Bestimmung eines Dinges' oder ,reale Folge von einem Dinge' - bestimmbaren Bereiches, womit einerseits eine Objektivierung und Hypostasierung der Begriffe von möglichen Dingen vollzogen, andererseits aber die Möglichkeit eröffnet werde, „die Bestimmung des Materialen der Möglichkeit als einen Prozeß der Angabe von Bedingungen für etwas Gegebenes . . . aufzufassen, der von Bedingung zu höherer Bedingung bis zum Unbedingten führt" 3 5 . Von jener ursprünglichen Deutung des Formal- und Materialprinzips des Mög-

34 35

Unter dem Titel „Der vorkritische Ursprung und Charakter der Gottesbeweiskritik Kants." Reich, Einleitung X V f .

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161

lichen in der Abhandlung von 1937 ist also nur mehr „die Geltendmachung der Notwendigkeit für all unser Erkennen - auch das von Möglichem - von etwas Gegebenem anzufangen und dann fortzuschreiten" geblieben, d. h. die Notwendigkeit, irgend etwas Wirkliches (irgend ein Dasein) vorauszusetzen, um sich von diesem aus fortschreitend zu dessen Bedingungen emporzuschwingen36. Damit erweise sich der Gedankengang des einzig möglichen Beweisgrundes als wesentlich verschieden von dem Argument der Nova Dilucidado. In der letzteren werde von der Möglichkeit aller Dinge selber, die ein Dasein voraussetze, gesagt, sie stelle ein documentum maxime primitivum, also ein allerelementarstes Zeugnis für unseren Verstand dar, womit (vielleicht ungewollt) der Standpunkt eines Intuitionismus bezüglich des Fundaments der Erkenntnis in der Erkenntnistheorie bezogen sei: Unsere Ideen des Möglichen als „des idées vues en Dieu". Demgegenüber sei die Stellung des Beweisgrundes in der Entwicklung Kants folgendermaßen zu kennzeichnen: Die geheime Mystik, die in der Auffassung der Möglichkeit aller Dinge selber als eines documentum maxime primitivum liege, sei über Bord geworfen. Sie werde jetzt im Sinn des eben Ausgeführten ersetzt durch eine vermeintliche rationale Wissenschaft von einem Stufenbau der Abhängigkeit der Dinge als möglicher Dinge voneinander bis hin zu einer höchsten Bedingung, an der sie alle hängen, vermittelst des Prinzips, daß jede beliebige Möglichkeit irgendein Dasein voraussetze, also durch eine Ontologie, die in einer rationalen Theologie gipfle. Damit sei die Zwischenstellung des „Einzig möglichen Beweisgrundes" zwischen der Habilitationsschrift von 1755 und der Phase der Erkenntnis des Irrtums desselben, wie sie in der Refi. 3907 klar zum Ausdruck komme, hinreichend charakterisiert37. Aus dieser Darstellung des Beweises aus den Möglichkeiten in der Schrift von 1762 geht hervor, daß der Autor ihn nun nicht mehr als Verzeichnung des eigentlichen dogmatischen Beweisganges von der Basis der Möglichkeiten aus auffaßt, sondern, wenn wir recht verstehen, als eine genuin dogmatische Argumentation, in der die Möglichkeit der Dinge nicht mehr abhängig gemacht wird von den logischen und realen Voraussetzungen ihres Gedachtwerdens, sondern als eine durch objektive Begriffe bestimmbare ontologische Dimension vorausgesetzt wird. Die eigentliche und ursprüngliche Quelle dieser Neuinterpretation des einzig möglichen Beweisgrundes aber scheint mir nicht in dem eben geschilderten angeblichen Gegensatz zur Propositio VII der Nova Dilucidatio zu liegen - aus diesem wäre auf Grund eines direkten Textvergleichs die konkrete Form des von Reich skizzierten Grundgedankens schwerlich zu gewinnen - , sondern aus seinem vermutlich von D.Hennch angeregten Verständnis des 1. Absatzes des Abschnitts III des theologischen Hauptstücks, den er nun nicht, wie es der Zusammenhang mit dem Folgenden verlangen würde38, als Einleitung der Analyse des argumentum a contingentia mundi Wolffs, sondern unmittelbar als Wiedergabe des Gedankengangs des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762 auffaßt: 36 37 38

Ebendort Ebd. X V I f. Vgl. des Verf. Analyse des dritten Hauptstücks der transz. Dialektik in: „ D a s Problem der Kontingenz der W e l t , " Frçiburg i. Br. 1969, 34-71

162

III. Teil

„ D a ß man mit einem solchen Ansatz eines Stufenbaus der Abhängigkeit der Möglichkeiten der Dinge zum Ansatz eines allgenugsamen, unbedingt notwendigen Wesens kommt, macht die ,Kritik der reinen Vernunft' zu Beginn der Behandlung der .Beweisgründe der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen' (B 611 f) folgendermaßen plausibel: .Ungeachtet dieses dringenden Bedürfnisses der Vernunft, etwas vorauszusetzen, was dem Verstände zu der durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vollständig zum Grunde liegen könne, so bemerkt sie doch das Idealische und bloß Gedichtete einer solchen Voraussetzung viel zu leicht, als daß sie dadurch allein überredet werden sollte, ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen, wenn sie nicht wodurch anders gedrungen würde, irgendwo ihren Ruhestand in dem Regressus vom Bedingten, das gegeben ist, zum Unbedingten zu suchen, d a s . . . allein die Reihe der zu ihren Gründen hinausgeführten Bedingungen vollenden kann' ", wobei er den nun anschließenden Gedankengang Kants, wie folgt, interpretiert: Bei dieser Suche des Unbedingten in der Reihe der zu ihren Gründen hinausgeführten Bedingungen fange sie natürlicherweise von der gemeinen Erfahrung an und lege also etwas Existierendes zugrunde. Dieser Boden lange aber natürlich nicht zu als Basis für die Erfüllung der spezifischen Aufgabe der Vernunft, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu liefern. Das könnte nur sein, wenn die zugrunde gelegte Existenz nicht bloß faktische Existenz wäre und wenn sie zwangsläufig auf alle mögliche Existenz führte. „Aber der Umstand, daß diese Bedingungen allein die faktische Anknüpfung der systematische Einheit suchenden Vernunft an ein Faktum zu der von ihr erstrebten Leistung befähigen würden, stellt keinen .Rechtsanspruch dar, ihre Gültigkeit anzunehmen und begründet also keine Erkenntnis". „Von dieser letzten Einsicht nun ist der Verfasser des ,Einzig möglichen Beweisgrundes' weit entfernt. Was soeben an Hand der Kritik der reinen Vernunft beschrieben ist, ist die Illusion, derer tatsächlich erlegen ist. Aber wiefern diese Illusion ein Fortschritt ist über den anmaßenden Intuitionismus oder verborgenen Mystizismus, der in der analogen Idee von Kants Habilitationsschrift steckt, das vermag das Beigebrachte doch wohl zu erkennen zu geben und ebenso die Motive, die zu der eigentümlichen Objektivierung und Hypostasierung des ,Einzig möglichen Beweisgrundes' geführt haben" 3 9 . Der einleitende Absatz des Abschnittes III wird so für Reich offenbar zu einem, wenn nicht zu dem eigentlichen Zugang zum Kern des ursprünglichen Gedankenganges des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762. Wenn aber der Autor hier abschließend betont, daß der Verfasser der Schrift von 1762 noch weit von der oben bezeichneten Einsicht entfernt gewesen sei, so ist zu fragen, ob es dazu für Kant des transzendentalen Idealismus bedurft hat, um diese Illusion zu entdecken, oder ob nicht schon der „sorgsamer gewordene Analyst" sie durchschauen konnte, wie er zu Beginn des Absatzes zum Ausdruck bringt. Der Verweis auf den vorausgehenden Abschnitt II, in dem die Illusion, der er damals erlegen sei, beschrieben werde, wirkt deshalb in diesem Zusammenhang nicht

39

Reich, Einleitung, XVII f. (kurs. Ver.)

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überzeugend, vielmehr als ein vergeblicher Versuch, den Gedankengang dieses einleitenden Absatzes des Abschnitts III mit der angeblich kritizistischen Widerlegung des einzig möglichen Beweisgrundes in Abschnitt II zu verbinden. Denn in Wirklichkeit, das geht sowohl aus dem Titel des Abschnittes III wie aus dem ganzen folgenden Gedankengang und seinen Parallelen in den übrigen Abschnitten des Hauptstücks eindeutig hervor, handelt es sich hier zu Beginn des 3. Abschnittes überhaupt nicht um den Gedankengang des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes, sondern um die erste und allgemeinste Formulierung des kosmologischen Arguments, des argumentum a contingentia mundi, wie wir an anderer Stelle dargetan haben 40 . Im übrigen wäre es außerordentlich merkwürdig, wenn Kant im vorausgehenden Abschnitt den Schluß des Beweisgrundes als von den Begriffen des bloß Möglichen ausgehend und damit als von aller Existenz absehend dargestellt hätte und nun eben denselben Schluß als von erfahrbaren Existenzen anhebend und zu ihren Bedingungen bis zur letzten unbedingten aufsteigend charakterisieren würde. Diese ganze Unsicherheit in der Bestimmung dessen, was sich nun eigentlich im dritten Hauptstück der Dialektik auf den ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund bezieht, die offensichtliche Unmöglichkeit, die verschiedenen diesbezüglichen Interpretationsansätze in einen überzeugenden logischen Gesamtzusammenhang zu bringen, ebenso wie der Wandel in der Auffassung des Beweisgrundes selber und die ganze Fragwürdigkeit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem letzteren und der Prop. VII der Nova Dilucidatici, all dies macht die Tücken einer Methode deutlich, die den Sinn der vorkritischen Schriften durch direkten Textvergleich unter sich und vor allem von der als kritizistisch interpretierten Kritik der Rationaltheologie in der Dialektik her erschließen und so die entscheidenden vorkritischen Entwicklungsschritte bestimmen will. Besonders deutlich tritt das konstruktive Moment dieser Methode sodann in der Art zutage, wie Reich nun den letzten vorkritischen Entwicklungsabschnitt zu erhellen sucht, d.h. die durch keine Veröffentlichung bezeugte Richtung, die sein rationaltheologisches Denken nach dem Zusammenbruch des einzig möglichen Beweisgrundes eingeschlagen hat. Der Grundgedanke der Rückschlüsse Reichs auf diese vorkritische Entwicklungsphase ist folgender: Der Gedankengang des Beweisgrundes von 1762 ist dogmatisch, deshalb kann sich auch der Gottesbegriff Kants damals nicht etwa auf bloß intelligible Gegenstände im Gegensatz zu den phänomenalen der sinnlichen Erfahrung bezogen haben, wie das bei dem des 2. Abschnitts bzw. überhaupt dem der „Dialektik" der Fall ist. Folglich kann auch die etwaige Selbstkritik Kants hinsichtlich seines Standpunkts von 1762, wenn sie schon vor 1769 erfolgte, sicher nicht mit der in der Kr. d.r. V. (B 609-611) implizit gegebenen identisch sein. Andererseits drängt sich die Annahme auf, daß sich Kant schon vor 1769 von seinem ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund distanziert hat, wie man sowohl aus dem allgemeinen Tenor der „Träume eines Geistersehers" wie auch aus seinen selbstbiographischen Rückblicken in den RR 5116 und 5015 schließen müsse; denn

40

in: „Das Problem der Kontingenz der Welt," 2. Kapitel (S. 34-71)

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III. Teil

diese letzteren bringen zum Ausdruck, daß er den Einfluß der subjektiven Bedingungen der Erkenntnisse auf Sätze, die wir als objektiv ansehen, schon vor der Dissertation von 1770 erkannt hat, womit bereits eine Kritik an der Realisierung und Hypostasierung eines Musterdinges als notwendiger Bedingung ausgesprochen sein dürfte, falls man sich von möglichen Dingen überhaupt einen Begriff machen wollte und könnte. Wie ist nun, das ist die Frage Reichs, diese spezifisch vorkritische Kritik der Objektivierung und Hypostasierung einer Idee zu denken, wenn die Erklärung der Kr. d. r. V. auf Grund der kritizistischen Unterscheidung zwischen den bloß intelligiblen Dingen und den phänomenalen Erfahrungsgegenständen für Kant damals noch nicht möglich war? Es gilt also m. a. W. für Reich, plausibel zu machen, auf welchem Weg Kant noch in der vorkritischen Zeit und also auch auf Grund vorkritischer Überlegungen zur Entdeckung der Täuschung bzw. des Scheins in dem 1762 als objektiv gültig betrachteten Schluß auf das Ideal gelangte. Diese entscheidende Wende in der ganzen vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung sucht Reich nun von der zweiten Abteilung des Beweisgundes her zu ergründen. Das eigentliche Anliegen Kants in dieser zweiten Abteilung sei es gewesen, ein aposteriorisches Pendant zum apriorischen Beweis seiner ersten Abteilung zu gewinnen. Allerdings interessiert Reich an diesem „Programm", das er „äußerst barock" findet, d. h. an dem Schluß von der notwendigen Harmonie in den Beziehungen des Raumes und von der aus dem notwendigen Naturwirken hervorgehenden erstaunlichen Harmonie, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönhit auf ein erstes und ursprüngliches Prinzip der Möglichkeiten, nur ein Doppeltes: einmal, daß nach seiner Sicht diese im Wesen Gottes selbst begründete Einheit und Harmonie des Raumes eine Raumauffassung verrät, die sozusagen in der Mitte steht zwischen der Raumlehre der Frühschriften, nach denen die wesentlichen Eigenschaften des Raumes als zufällig, weil von Gott willkürlich gestiftet, gedacht wurden, und seiner endgültigen Raumtheorie in der Dissertation von 1770 und in der Kr. d. r. V., wo diese Einheit und Notwendigkeit der Beziehungen des Raumes ausdrücklich zum Problem gemacht und dieses endgültig gelöst wurde41. Dann jene Bemerkung der 8. Betrachtung (der zweiten Abteilung), daß es für uns schlechthin unbegreiflich sei, wie ein Wesen den Grund der inneren Möglichkeit von anderen Dingen enthalten könne: es scheine daher, daß dieser Gedanke viel zu hoch steige, als daß ihn ein erschaffenes Wesen je erreichen könnte. Reich erblickt in diesen Sätzen Kants ein Element der Selbstkritik und der Selbstbesinnung hinsichtlich seines Versuchs des Gottesbeweises, das man als möglichen Ansatz einer Weiterentwicklung in der angedeuteten Richtung betrachten könnte. Denn: Könne man darin nicht ein Ferment zu einer künftigen Erkenntnis des bloß subjektiven Charakters des Grundgedankens des einzig möglichen Beweisgrundes erblicken? Unterstelle man Kant das Auftauchen eines solchen Argwohns, so könne man sich ihn unterstützt denken durch den Hinblick auf die Art und Weise, wie er an bestimmten Stellen des einzig möglichen Beweisgrundes mögliche Einwände gegenüber seiner Theorie abzuwenden

41

Reich, Einleitung X I X f f .

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165

suche. Mußte sich da nicht am Ende einmal der Verdacht aufdrängen, daß der nervus probandi des einzig möglichen Beweisgrundes lediglich eine Nominaldefinition ist? Was für eine Wandlung wird Kants Vorstellung von der Art und den Gründen des Fürwahrhaltens des Daseins Gottes erfahren, wenn dieser Verdacht rege geworden ist? Was also zunächst als eine bloße Vermutung ausgesprochen wurde, ist unter der H a n d zu einem, wie es scheint, recht handfesten Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Entwicklungsverlaufes geworden. D i e Antwort auf die so eindeutig gestellte Frage wird nun v o m Schlußsatz des Beweisgrundes aus konstruiert: daß es durchaus notwendig sei, sich vom Dasein Gottes zu überzeugen, aber nicht ebenso, daß man es demonstriere, indem dieser Satz als A u s g a n g s p u n k t einer Entwicklung angenommen wird, als deren Ergebnis der doktrinale Glaube anzusehen sei, wie er in der Kr. d. r. V in Β 854 von K a n t dargelegt und vertreten wird: , , D e r Schwerpunkt des Interesses des Kant der späteren sechziger Jahre liegt auf dieser Möglichkeit, sich ohne Demonstration zu überzeugen. Kant zieht z u dieser Zeit die Konsequenzen aus der Vorstellung dieser Möglichkeit, die sich ergeben, wenn man sie z u m G r u n d s a t z e r h e b t . " Dokumentiert wird diese These lediglich durch die zwei Reflexionen 3830 und 3854, die die Notwendigkeit der Voraussetzung des D a seins Gottes für eine optimistische Weltauffassung betonen. D i e Folgerungen Reichs werden nun immer bestimmter: „ D a m i t ist offenbar die Rolle der O n t o l o g i e zugunsten der Physikotheologie problematisch g e w o r d e n . " „ M i t der Ersetzung eines mit den Mitteln der O n t o l o g i e geführten Gottesbeweises . . . ist die Einsicht in die Idealität des angeblich einzig möglichen Beweisgrundes zu einer Demonstration des Daseins Gottes geg e b e n " , was durch die Reflexion 3888 positiv bestätigt werde. Eine F o l g e davon sei die A u f f a s s u n g der Vernunft als einer Instanz, die relativ auf das Gegebene die Totalität der Bedingungen d a z u fordere

oder

annehme*2.

D e r konstruktive Charakter dieser Ableitung zeigt sich nicht nur darin, daß aus ursprünglich bloßen Vermutungen unter der H a n d zuversichtliche Behauptungen werden: „ D a m i t ist offenbar die Rolle der Ontologie zugunsten der Physikotheologie problematisch g e w o r d e n . " U n d : „ M i t der Ersetzung eines mit den Mitteln der Ontologie geführten Gottesbeweises . . . ist die Einsicht in die Idealität des angeblich einzig möglichen Beweisgrundes zu einer Demonstration des Daseins Gottes g e g e b e n " , sondern er geht vor allem auch daraus hervor, daß diesen Thesen offensichtliche Gegebenheiten der vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants widersprechen. D i e beiden zitierten Schlußfolgerungen Reichs legen in der Art ihrer Formulierung die Interpretation nahe, als habe sich K a n t infolge des Zusammenbruchs des Beweisgrundes nunmehr der Physikotheologie als der entscheidenden Q u e l l e des Gottesglaubens zugewandt und verschrieben ( „ z u g u n s t e n der Physikotheologie") oder gar, daß diese Hinwendung zur Physikotheologie die Einsicht in die Idealität des einzig möglichen Beweisgrundes· bewirkt oder z u m mindesten gefördert habe. Aber wie auch diese Sätze und Thesen exakt gemeint sein mögen, schon ihr allgemeiner Inhalt steht in einem seltsamen Kontrast zur wirklichen entwicklungsgeschichtlichen Situation des Kant der sechziger Jahre.

42

Ebd. XXIII ff.

166

III. Teil

Denn fürs erste ist aus den Texten des Beweisgrundes von 1762 selbst hinreichend klar, daß für ihn auch damals, als er noch an der Schlüssigkeit seines ontotheologischen Arguments festhielt, die Physikotheologie in ihrer populären wie in ihrer verbesserten Form, jene „genugsam überführenden Beweistümer von dem Dasein und den Eigenschaften dieses Wesens", welche der Gebrauch der gesunden Vernunft, der noch innerhalb der Schranken gemeiner Einsichten ist, darbietet, die eigentliche Quelle der so entscheidenden Erkenntnis des Daseins Gottes blieb, eine Quelle und ein Grund, die nicht nur allen zugänglich sind, sondern die auch unversieglich bzw. unerschütterlich bleiben, selbst wenn die von dem „subtilen Forscher" angestrebte Demonstration sich als unmöglich erweisen sollte. Das wird zwar im Beweisgrund nicht ausdrücklich als These formuliert, weil diese Schrift ja den einzig möglichen Weg einer Demonstration aufweisen will, aber es ist doch einschlußweise in der Art enthalten, wie er das Verhältnis zwischen den beiden Beweisarten hier in der Vorrede und in der dritten Abteilung bestimmt, und es kommt noch einmal deutlich in eben den Schlußsätzen der Abhandlung, auf die Reich selbst sich beruft, zum Ausdruck, wenn man sie im Kontext liest. Wir haben hier in der Tat durchaus eine vorkritische Parallele zu seinen Ausführungen in der Vorrede der 2. Auflage der Kr. d. r. V., daß seine Kritik der spekulativen Demonstrationen des Daseins Gottes nur die Subtilitäten der Schulen treffe, aber das, worauf sich schon von jeher der Gottesglaube der Menschen wirklich gegründet hat, unangetastet lasse43. Es ist also sicher nicht so, daß für Kant erst mit der Einsicht in die bloß subjektive Gültigkeit des ontotheologischen Arguments die Physikotheologie in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und zur entscheidenden Quelle des Gottesglaubens geworden wäre, bzw. die Funktion der Begründung des Gottesglaubens übernommen hätte. Es gibt aber in der damaligen entwicklungsgeschichtlichen Situation um die Mitte des Jahrzehnts noch eine andere Gegebenheit auf dem Gebiet der Rationaltheologie, die Reich in diesem Zusammenhang unberücksichtigt läßt, obwohl sie ohne Zweifel das eigentlich revolutionäre Element der ganzen zukünftigen Entwicklung enthält, von dem man in Wirklichkeit sagen kann, daß es für den Philosophen den einzig möglichen spekulativen Beweisgrund ersetzt, ja sogar, daß es die bisher als grundlegend betrachtete Physikotheologie auf den zweiten Rang in der Begründung des Gottesglaubens verweist: es ist der praktische Vernunftglaube, dessen grundlegende Bedeutung zwar nur kurz, aber doch in markanter und programmatischer Weise im Schlußabsatz der Träume eines Geistersehers formuliert und unterstrichen wird. Denn es kann, wenn man die Dinge in ihrem ganzen historischen Kontext betrachtet, d. h. auf dem Hintergrund der Gedankenwelt Rousseaus, die soeben Kants Geist sozusagen überflutet hatte, sowie auf dem Hintergrund des frühen Reflexionenkomplexes der „Bemerkungen zu den Beobachtungen", in denen die elementare Wirkung Rousseaus auf Kant handgreiflich wird, gar keinen Zweifel geben, daß in dem Satz: „So ist auch (!) der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünfteins überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt", der moralische Gotiesglaube gemeint ist, 43

Kr. d. r. V. Β XXII-XXIV

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

167

wie er in einer Reflexion der „Bemerkungen zu den Beobachtungen" aller „Spekula ti vischen" Gotteserkenntnis gegenübergestellt wird 44 . Diese neue Möglichkeit der Begründung des Gottesglaubens ist, wie aus dieser Formulierung selbst deutlich wird, von da an das beherrschende Leitmotiv seiner theologischen Entwicklung, durch das alle Demonstrationsversuche der spekulativen Theologie einschließlich seines eigenen von 1762 überflüssig werden. Wenn daher Reich die rationaltheologische Entwicklung Kants in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in Richtung auf den doktrinalen Glauben, von dem dieser in Β 853 ff. handelt, erblickt, so geht das in einem doppelten Sinn am Kern der Sache vorbei: fürs erste liegt in der theologischen Entwicklung Kants das nunmehr bestimmende Motiv im Bereich einer praktischen Metaphysik auf Grund der moralischen Gesinnung, wodurch die Physikotheologie und mit ihr der doktrinale Glaube an das Dasein Gottes jene fundamentale theologische Bedeutung einbüßt, die ihm der Beweisgrund. noch uneingeschränkt zuerkannt hatte; ferner ist dieser doktrinale Glaube der Sache und Substanz nach bereits im Beweisgrund und den Schriften von 1755 enthalten, so daß von einer wesentlichen Weiterentwicklung bis zur Kritik d. r. V. nicht gesprochen werden kann. Abschließend läßt sich sagen, daß Reich eigentlich alle Ansätze in der Hand gehabt hätte, um zur echten Lösung seines Grundproblems, warum Kant im dritten Hauptstück der Dialektik nicht mehr ausdrücklich auf den einzig möglichen Beweisgrund eingegangen ist, bzw. um zur Erkenntnis des wahren Verhältnisses zwischen dem Abschnitt II und dem Argument von 1762 durchzustoßen : einmal die für ihn selbst allererstaunlichste Tatsache, daß der Philosoph bereits in der dritten Abteilung des Beweisgrundes die drei traditionellen Gottesbeweise mit denselben Argumenten widerlegt hat wie dann in der Dialektik, ferner seine ursprüngliche Deutung der Ableitung des transzendentalen Ideals in Abschnitt II als eines Stückes vorkritischer Metaphysik, und schließlich die Überlegung der Einleitung von 1963, daß Kant schon vor 1769 zu einer Selbstkritik hinsichtlich seines einzig möglichen Beweisgrundes gelangt sein muß, eine Kritik, die zwar nicht identisch sein könne mit der des Abschnittes II (B 609-611), die aber doch schon von der Voraussetzung des entscheidenden Einflusses unserer subjektiven Bedingungen auf Sätze, die wir für objektiv halten, ausging, womit bereits „eine Kritik an der Realisierung und Hypostasierung eines Musterdinges als notwendiger Bedingung bezeichnet sein dürfte, falls man sich von möglichen Dingen einen Begriff machen wollte und könnte". Hätte der Autor nicht nur die genannten, sondern alle vorkritischen oder sich auf die vorkritische Entwicklung beziehenden Zeugnisse, die für die Bestimmung seines diesbezüglichen Standpunktes in der 2. Hälfte der sechziger Jahre wichtig sind45 berücksich44

45

KGS X X , 57, Z. 17ff; Zur Interpretation der zitierten Stelle der „Träume", s. des Verf. Die Ursprünge der Ethik Kants, Meisenheim 1961, 159 f. So u. a. den Brief an Mendelssohn vom 8.4.66, den an Herz vom 11.5.81, den an Bernoulli vom 16.11.81, die Berliner LB129 u. 27 (RR 3716 u. 3717), den indirekten Beweis des transzendentalen Idealismus auf Grund des Experiments der reinen Vernunft mit ihr selbst in der Vorrede Β der Kr. d. r. V. und in Β 534 f, sowie die für unsere Frage entscheidend wichtigen Entwürfe zur späten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik in KGS X X , 259-351 (Vgl. dazu des Verf. Abhandlung „Was entzündete in Kant das große Licht von 1769") u.a.

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III. Teil

tigt, dann wäre er vermutlich auch zu dem Schluß gekommen, daß die Entdeckung der Dialektik der reinen Vernunft sowohl in der rationalen Kosmologie wie in der rationalen Theologie, einschließlich der bloß subjektiven Gültigkeit des Vernunftideals, prinzipiell vorkritischen Ursprungs und Charakters ist und daß folglich das Verhältnis zwischen der Erkenntnislehre der Analytik (dem transzendentalen Idealismus) und der Kritik der Metaphysica specialis in der Dialektik grundsätzlich nicht so zu bestimmen ist, daß die letztere aus der ersteren folgt bzw. von Kant aus ihr abgeleitet wird: vielmehr so, daß sie als vorkritisches Gedankengut in die „Kritik" aufgenommen wurde, während der transzendentale Idealismus der Analytik (im Sinne Kants) jene Theorie der Verstandeserkenntnis darstellt, die allein vermögend ist, das Rätsel der Dialektik der reinen (natürlichen) Vernunft zu lösen und damit zu überwinden. Damit aber wäre es möglich geworden, die Ableitung des transzendentalen Ideals in Abschnitt II mit jener vorkritischen Kritik des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes in der 2. Hälfte der sechziger Jahre zu identifizieren und auf diese Weise zu einer überzeugenden Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Abschnitt II des dritten Hauptstücks der Dialektik und der Ontotheologie des Beweisgrundes von 1762 zu gelangen, die einerseits den Zusammenhang zwischen ihnen wahrt, andererseits aber auch ihren wesentlichen Unterschied erklärt; das hätte dann auch die wirkliche Lösung des Grundproblems Reichs, warum Kant seinen ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund im dritten Hauptstück der „Kritik" nicht einer ausdrücklichen Kritik unterzogen habe, bedeutet: weil nämlich diese Kritik bereits grundlegend in der vorkritischen Entwicklung vollzogen worden war, und zwar genau in dem Sinn, daß der Schluß auf die omnitudo realitatis als die Bedingung der durchgängigen Bestimmung unserer Begriffe von möglichen Dingen nur subjektive Gültigkeit haben kann, d.h. wie wir sie dann auch im Abschnitt II des dritten Hauptstücks antreffen. Reich ist vermutlich deshalb nicht zu dieser Lösung gekommen, weil er die mit der apriorischen Festlegung des Verhältnisses zwischen „Kritik" und vorkritischer, dogmatischer Metaphysik errichtete Barriere nicht zu überwinden vermochte. Denn mit der Annahme dieses Verhältnisses war es von vornherein ausgeschlossen, daß die vorkritische Philosophie Kants mit ihrer großen Entdeckung des dialektischen Charakters der reinen Vernunfterkenntnis in so massiver Weise in das System der Kritik der reinen Vernunft einging und in ihm präsent war. Mit der besagten Annahme war aber zugleich auch dem Verlauf der vorkritischen Entwicklung a priori die Bahn vorgezeichnet, auf der sie sich allein auf das Ziel der „Kritik" hinbewegt haben konnte. Damit aber war eine genuin historische Erforschung dieser Entwicklung nicht mehr möglich. In der Tat kommen alle jene Zeugnisse der vorkritischen Epoche in Reichs Rekonstruktion der Entwicklung nicht zu Wort oder werden in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung nicht gewürdigt, die mit der bezeichneten apriorischen Festlegung und ihren Konsequenzen nicht in Einklang zu bringen sind, wie etwa die erstaunliche Tatsache, daß Kant in der dritten Abteilung des Beweisgrundes bereits die drei traditionellen Argumente für das Dasein Gottes aus denselben Gründen ablehnt wie dann im dritten Hauptstück der Kritik. So kann es bei ihm auch nicht zu einer genuin historischen Erforschung des Entwicklungsschrittes vom Beweisgrund von 1762 bis zu jener von ihm selbst vermuteten vorkri-

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

169

tischen Kritik der Objektivierung und Hypostasierung eines Musterdinges auf Grund der bloß subjektiven Gültigkeit unserer Erkenntnisprinzipien kommen, was u. E. das eigentliche Kernproblem der ganzen vorkritischen Entwicklung Kants auf dem Gebiet der Rationaltheologie darstellt46.

B. Dieter Henrichs Deutung des einzig mögichen Beweisgrundes in dem 1960 in erster Auflage erschienenen Werk „Der ontologische Gottesbeweis" 47 liegt zeitlich und im gewissen Sinn auch inhaltlich zwischen der Abhandlung Reichs von 1937 und der Einleitung von 1963: inhaltlich, insofern Henrich einesteils fundamentale Thesen des frühen Reich übernimmt und zur Grundlage der eigenen Interpretation macht, andernteils aber seinerseits dessen neue Sicht des Beweisgrundes in der Einleitung von 1963 angeregt haben dürfte. Es ist also von vornherein zu erwarten, daß grundlegende Gesichtspunkte der Interpretation Henrichs bei allem Unterschied in Einzelfragen sich mit den im vorausgehenden herausgearbeiteten des frühen bzw. des späten Reich decken. Zum Verständis der Ergebnisse seiner Analysen ist es zunächst wichtig, sich vor Augen zu halten, daß es dem Autor in dem „Kants Kritik der Ontotheologie" überschriebenen Kapitel II seines Werkes nicht in erster Linie um die Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes oder die vorkritische rationaltheologische Entwicklung Kants als solche geht, sondern um die Gottesbeweiskritik der Kr. d. r. V. als die entscheidende Widerlegung der neuzeitlichen Ontotheologie von Descartes bis Baumgarten. Allerdings spielt für ihn in diesem Zusammenhang auch der ehemalige einzig mögliche Beweisgrund und seine Interpretation eine nicht unbedeutende Rolle, aber eben nur in Hin- und Unterordnung unter die Deutung des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik in dem eben bezeichneten Sinn. Um den Zusammenhang von Kants Kritik der Rationaltheologie in der Kr. d. r. V. mit der Tradition des ontologischen Arguments sichtbar zu machen, muß man sich nach Henrich zunächst einen Uberblick über sein System der Rationaltheologie in der transzendentalen Dialektik verschaffen. Weil aber dieser Zusammenhang aus dem „eilig entworfenen Text" der Kr. d. r. V. nicht mit wünschenswerter Klarheit hervorgehe, müsse die Interpretation von einer Untersuchung der Kantischen Texte ausgehen. Erst dann werde sie dessen Theorie des ontologischen Arguments im Zusammenhang seiner Rationaltheologie darstellen. Zum Beschluß werde noch in einem 3. Abschnitt gezeigt werden, daß der Begriff des ens necessarium auch schon in seinen vorkritischen Schriften im Mittelpunkt des Interesses gestanden habe 48 . Der 3. Abschnitt dient also nur als eine Art Ergänzung und Bestätigung, insofern darin aufgewiesen wird, daß sich auch Kants rationaltheologische Entwicklung in der vorkritischen Zeit schon um den zentralen Begriff 46 47 48

Vgl. des Verf. Referat „ O n the development of Kants Transcendental Theology" D . Henrich, Der ontologische Gottesbeweis 2 , Stuttgart 1967 Henrich, op. cit. 138 f.

170

III. Teil

der Ontotheologie, nämlich den des ens necessarium, gedreht habe. Schon aus dieser Einteilung wird deutlich, daß es dem Autor nur sekundär und um der Interpretation des theologischen Hauptstücks willen um den einzig möglichen Beweisgrund von 1762 geht. Läge es bei dieser Situation, könnte man fragen, nicht nahe, im Rahmen einer monographischen Darstellung der vorkritischen Ontotheologie Kants von einer solchen mehr nebensächlichen und episodischen Behandlung des Beweisgrundes abzusehen, da zu erwarten ist, daß diese im Verhältnis zur eigentlichen Thematik des Autors nur summarisch verfahren kann und wird. Eine solche Entscheidung würde aber aus einem zweifachen Grund der Bedeutung dessen, was Henrich in seinem Kantkapitel über den Beweisgrund. und die vorkritische Entwicklung Kants ausführt, nicht gerecht werden. Fürs erste spielt der erstere in Wirklichkeit für Henrichs Interpretation des dritten Hauptstücks eine viel größere Rolle als man nach der eben skizzierten Einteilung seines Kantkapitels erwarten würde, und zwar deswegen, weil auch er ein Hauptproblem der Interpretation der Gottesbeweiskritik der Kr. d. r. V. darin sieht, plausibel zu machen, warum Kant in ihrem Rahmen nicht ausdrücklich auch auf den ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund eingegangen ist. Denn wenn der Philosoph 20 Jahre vor dem Erscheinen der Kr. d. r. V. nur mehr den Beweis aus den Möglichkeiten als die einzig mögliche Demonstration des Daseins Gottes anerkannt, die drei traditionellen Argumente aber schon damals abgelehnt hatte, wie soll man es dann verstehen, daß er in der grundsätzlichen und systematischen Auseinandersetzung der „Kritik" mit der Rationaltheologie der dogmatischen Metaphysik überhaupt gerade dieses Argument unerwähnt ließ, und, wie es scheint, völlig übergangen hat, während er die drei längst widerlegten mit aller Ausführlichkeit behandelte? Diese Frage steht auch bei Henrich, wenn auch nicht ausdrücklich formuliert, im Hintergrund seiner Analyse des dritten Hauptstücks im ersten Teil seines Kantkapitels. Seine Lösung besteht nun darin, daß er im 2. Abschnitt des theologishcen Hauptstücks, in dem Kant das Ideal der reinen Vernunft als den Gottesbegriff der transzendentalen Theologie ableitet, eine kritizistische Rezension seines ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes erblickt, womit naturgemäß das Verhältnis zwischen beiden und damit die Interpretation des Beweisgrundes von 1762 eine wesentliche Bedeutung selbst für die beiden ersten Abschnitte seines Kantkapitels erlangt, damit aber eo ipso auch für die Analyse der vorkritichen rationaltheologischen Entwicklung in ihrer oben bezeichneten Funktion. Das ist der eine Grund. Der zweite liegt darin, daß die von Henrich in seinem Kantkapitel gebotene Interpretation des dritten Hauptstücks wie auch die damit verbundene der vorkritischen Entwicklung und des Beweisgrundes von Seiten der Fachkritik höchste Anerkennung gefunden hat 49 und daß insbesondere die letztere auch großen Einfluß auf die neueren Arbeiten über den einzig möglichen Beweisgrund ausgeübt hat, wie gerade aus der 49

So u.a. Wolfgang Cramer in dem zitierten Werk: ,,D. Henrich ,Der ontologische Gottesbeweis . . . ' , in dem sich wohl die am gründlichsten durchdachte Darstellung des dritten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik findet, die wir haben." Und Pierre Laberge, in dem ebenfalls bereits zitierten Werk La Théologie Kantienne précritique: „ D a n s un ouvrage admirable (Anm. : Voir surtout le deuxième chapitre Kants Kritik der Ontotheologie p. 137-188) et dont on ne recommandera jamais trop la lecture . . . " Vgl. auch W. Jankes Rezension des Werkes in: Philosophische Rundschau (12) 1964, 197

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

171

Einleitung Reichs von 1963, vor allem aber aus dem bereits erwähnten Werk über die vorkritische Theologie Kants von Pierre Laberge hervorgeht. Eine Arbeit, die sich die Interpretation der Ontotheologie des vorkritischen Kant und damit vor allem die des einzig möglichen Beweisgrundes als Aufgabe stellt, kann daher von dem Beitrag Henrichs zu diesem Thema nicht absehen. Was nun dessen methodischen Standpunkt betrifft, so gleicht er insofern dem Reichs, als auch er, infolge seiner allgemeinen Themastellung, den einzig möglichen Beweisgrund entscheidend vom dritten Hauptstück der Dialektik her und damit nach dem Maßstab seiner Auffassung desselben interpretiert; nur wird auf Grund dieses letzteren Umstandes das konstruktive Element in seinem Vorgehen gegenüber dem Reichs noch gesteigert. Denn während von letzterem die Kr. d. r. V. vermöge ihres einzigartigen Ranges als absolute N o r m der Beurteilung aller Philosophie nur aus ihr allein interpretiert wird, steht bei Henrich die Interpretation zum wenigsten der Gottesbeweiskritik des dritten Hauptstücks unter einem übergeordneten methodischen Apriori: sie hat entscheidend als abschließende Kritik der neuzeitlichen Ontotheologie durch die endgültige Widerlegung ihres zentralen Begriffs ens necessarium zu fungieren. Und wie demgemäß der Autor seine erste Aufgabe darin erblickt, die nach seiner Meinung nicht immer Kants Absicht klar zum Ausdruck bringenden Darlegungen des dritten Hauptstücks auf diesen Generalnenner zu bringen, so interpretiert er gemäß dem bezeichneten methodischen Standpunkt nun auch den einzig möglichen Beweisgrund und die ganze vorkritische theologische Entwicklung Kants aus dieser Sicht seiner „kritizistischen" Gottesbeweiskritik in der Kr. d. r. V. Wir haben gesehen, wie bei Reich der Apriorismus seiner Methode eine genuin historische Untersuchung der vorkritischen theologischen Entwicklung Kants verhindert und damit auch den Zugang zur Bestimmung des wirklichen Verhältnisses zwischen dem dritten Hauptstück und dem einzig möglichen Beweisgrund blockiert hat. Wie wird sich in dieser Hinsicht der bezeichnete methodische Standpunkt Henrichs auswirken, der ohne Zweifel sowohl seine Interpretation des dritten Hauptstücks wie die der Abhandlung von 1762 von Grund auf bestimmt? Zunächst aber, wie will der Autor nachweisen, daß die abschließende Kritik der neuzeitlichen Ontotheologie durch die endgültige Widerlegung des Begriffs ens necessarium die eigentliche Substanz der Kantischen Kritik der Rationaltheologie in der Kr. d . r . V . bildet? In der Sicht Henrichs ist das Grundproblem der Texte des dritten Hauptstücks das seiner Einteilung, näherhin das des Zusammenhangs seiner großen Themengruppen, in die er dessen 7 Abschnitte zusammenfaßt: die erste, die die Abschnitte I und II enthält und den Begriff von Gott als dem vollkommensten Wesen entwickle, die zentrale zweite, die in den Abschnitten III mit VI die drei traditionellen Gottesbeweise analysiere und kritisiere, und schließlich die dritte, vom Abschnitt VII gebildete, die aus den vorausgegangenen Erörterungen die Konsequenzen ziehe. Der entscheidende Zugang zum Verständnis sowohl des Aufbaus dieses Hauptstücks wie auch seines wesentlichen Inhalts liegt nach dem Autor in dem Ubergang von der ersten zur zweiten Abteilung, näherhin von Abschnitt II zur Gruppe der Abschnitte III mit VI. Der erstere enthalte die kritizistische Interpretation seiner Schrift von 1763 über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes und zeige, warum der Schluß von der Vorstellung des

172

III. Teil

Inbegriffs aller Realität auf dessen wirkliches Dasein ein Fehlschluß sei. Nach Kant gehöre dieser Schluß nicht zu den drei klassischen Gottesbeweisen, die er im nächstfolgenden Teil zusammen behandle. Diese bilden nach seiner Meinung eine Einheit und in ihnen seien auch andere Voraussetzungen wirksam als in dem Beweis allein aus dem Ideal der reinen Vernunft. Wenn man den Ubergang vom ersten zum zweiten Teil des Hauptstücks wirklich verstehen wolle, müsse man über diesen Unterschied zur Klarheit kommen: der Beweis aus dem Vernunftideal sei nur der Beweis von Gottes Existenz, die klassischen Beweise, darunter vor allem der ontologische, aber seien zugleich von dem kosmologischen Problem des ens necessarium bestimmt. Die kritizistische Interpretation im 2. Abschnitt sei nicht mit einer Inhaltsangabe der vorkritischen Schrift über den Gottesbeweis zu verwechseln, der Beweis der Existenz eines Inbegriffs der Realität in der Kr. d. r. V. sei nicht der gleiche wie der des Jahres 1763 50 . Henrich stellt zwar die Frage Reichs, wie es komme, daß Kant in seiner systematischen Kritik der Gottesbeweise in der transzendentalen Dialektik seinen früheren einzig möglichen Beweisgrund nicht berücksichtigte, nicht ausdrücklich. Aber sie steht ohne Zweifel hinter dem hier formulierten Problem des dritten Hauptstücks; denn seine Lösung desselben enthält die Antwort auf die Frage Reichs, die dieser ja dann praktisch auch in der Einleitung von 1963 sich zu eigen gemacht hat: daß der Abschnitt II die kritizistische Interpretation und Kritik seines ehemaligen Beweisgrundes darstelle. In ihr ist nach Henrich nicht die Rede vom ens necessarium, darum habe Kant die Kritik dieses Beweises aus dem Vernunftideal in einem eigenen Abschnitt behandelt und von der Gruppe der drei traditionellen Argumente abgesondert. „Man hätte meinen können, Kant würde die klassischen Gottesbeweise im Abschnitt über das transzendentale Ideal behandeln. Dort wird der Gottesbegriff des ens realissimum entwickelt. Und dort wird auch der Schluß auf sein Dasein widerlegt. Warum sollte dieser Widerlegung nicht die Kritik der anderen Gottesbeweise folgen? Doch Kants berühmte Widerlegung des ontolögischen, des kosmologischen und des physikoteleologischen (sie) Gottesbeweises hat ihren Platz erst im folgenden Abschnitt gefunden, der von jenem „Anderen" handelt, das uns dazu drängt, das Dasein des höchsten Wesens anzunehmen, nämlich von der Idee des notwendigen Wesens. Kant habe es selber in aller Klarheit ausgesprochen: „Die drei Wege, das Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft zu beweisen, hat man ,in dieser Absicht eingeschlagen' (B 618), „die oberste Kausalität in das höchste Wesen zu verlegen". Auch der ontologische Beweis sei also ein Versuch „mit dem Begriff des notwendigen Wesens einen bestimmten Begriff zu verbinden" 51 . Die ganze Interpretation Henrichs nicht nur des dritten Hauptstücks selbst, sondern auch der von dieser normierten vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants und folglich auch des einzig möglichen Beweisgrundes ist entscheidend davon abhängig, ob sich diese seine These von der Einteilung des dritten Hauptstücks halten läßt. Das zweite grundlegende Element seiner Interpretation, das nun unmittelbar mit unserem Thema zu tun hat, ist seine Deutung des Abschnittes II als kritizistische Rezension 50 51

Henrich, op. cit. 140f. Ebd. 151 f.

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

173

des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes. Wie kommt Henrich zu dieser Auffassung? Er sagt es nicht ausdrücklich, aber aus dem, was er über das Verhältnis beider ausführt, lassen sich folgende Gründe vermuten: einmal die Tatsache, daß die letzten Absätze des 2. Abschnittes eindeutig kritizistisch sind, woraus der Autor wohl geschlossen hat, daß deshalb der ganze Abschnitt sich auf dem Niveau des Kritizismus bewege, worin, wie wir gesehen haben, ihm 1963 auch Reich gefolgt ist; zweitens der Umstand, daß der Gedankengang der Ableitung des transzendentalen Ideals in Abschnitt II trotz aller Unterschiede eine unverkennbare Verwandtschaft mit dem des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762 aufweist; denn beide schließen von den Begriffen der Möglichkeit aus. Dazu kommt schließlich drittens das sonst unlösbare Rätsel, daß Kant im theologischen Hauptstück der Dialektik gerade jenen Beweis, den er 1762 noch als die einzig mögliche Demonstration anerkannt hatte, mit völligem Stillschweigen übergehen würde, während er die drei traditionellen in aller Breite hier entwickelt und mit wesentlich den gleichen Argumenten widerlegt, wie bereits 1762. So scheint es, will man Kant nicht eines unverständlichen Versäumnisses zeihen, gar keinen anderen Ausweg zu geben als den von Henrich und in der Folge auch von Reich vorgeschlagenen. Und doch liegt hier n. u. Ü. ein Fehlschluß jener Methode vor, die versucht, durch unmittelbare Vergleichung Kantischer Texte den Verlauf seiner Entwicklung zu rekonstruieren. Diese Methode ist im Rahmen einer historischen Untersuchung gewiß zulässig, wenn es sich um Texte handelt, die in so geringem zeitlichen Abstand stehen, daß der zwischen ihnen liegende Entwicklungsschritt in seiner Besonderheit faßbar wird, wie etwa in der Entwicklung der Raumlehre Kants der Schritt zwischen der Abhandlung über die Gegenden im Räume von 1768 und der Dissertation von 1770, wobei aus den Briefen feststeht, daß die Entdeckung der Raumlehre der letzteren schon im Spätjahr 1769 erfolgte 5 2 . Zwischen dem einzig möglichen Beweisgrund von 1762 und der Niederschrift des dritten Hauptstücks der Dialektik aber liegen fast 20 Jahre. Was aber bedeuten 20 Jahre für einen so regen und unermüdlich forschenden Geist, wie Kant es war? Gibt es hier nicht die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß er innerhalb dieses langen Zeitraums noch innerhalb der vorkritischen Entwicklung zu einer ganz anderen Auffassung von diesem Argument gelangt ist und daß diese es ist, auf die er im 2. Abschnitt direkt Bezug genommen hat bzw. die in das dritte Hauptstück ebenso eingegangen ist wie seine vorkritische Kritik der drei traditionellen Argumente? Sprechen nicht schon die wenigen Zeugnisse, die Reich in der Einleitung von 1963 anführt, dafür, „daß Kant schon vor 1769 den Einfluß der subjektiven Bedingungen der Erkenntnisse auf Sätze, die wir für objektiv ansehen, erkannt hat, womit bereits eine Kritik an der Realisierung und Hypostasierung eines Musterdinges ausgesprochen sein dürfte, falls man sich von möglichen Dingen überhaupt einen Begriff machen wollte und könnte", wie Reich es formuliert? Tatsächlich läßt sich aus einer nicht geringen Zahl von Zeugnissen sowohl aus den vorkritischen Reflexionen wie aus den Briefen Kants mit einer Gewißheit, die keinen Zweifel mehr offen läßt, dartun, daß Kant bereits vor 1770 jenes Stadium der Kritik seines ehema52

Vgl. des Verf. Abhandlung „Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?", in: Archiv f. Gesch. d. Phil. 1976, 393-434

174

III. Teil

ligen einzig möglichen Beweisgrundes erreicht hatte, das im wesentlichen mit der Lehre von dem bloß subjektiv gültigen, objektiv aber problematischen Vernunftideal identisch ist, wie sie uns im Abschnitt II (B 599 bis 609) begegnet. Das bedeutet, daß sich Kant in Abschnitt II nicht unmittelbar auf den einzig möglichen Beweisgrund von 1762 bezieht, sondern auf dessen wesentlich gewandelte Gestalt der 2. Hälfte der sechziger Jahre, die gewiß implizite eine Kritik des ehemaligen Beweisgrundes enthält, ohne daß sie thematisch und ausdrücklich durchgeführt würde, und er referiert diese vorkritische

Lehre und

einschlußweise Kritik im Abschnitt II ebenso wie in den folgenden Abschnitten III mit V I seine bereits in der dritten Abteilung des Beweisgrundes

abgeschlossene Kritik der

drei traditionellen Argumente. D e r Grund aber, warum er diese,,vorkritische Kritik" seines ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes in einem eigenen Abschnitt der Kritik der anderen Beweise vorausschickt, ist zum Teil geschichtlicher, zum Teil systematischer Natur. Ersteres, weil dieses Argument einmal sein ureigenes Argument gewesen war, das er schon damals auf dem Höhepunkt seiner Bemühungen um die spekulative Metaphysik den traditionellen Gottesbeweisen gegenübergestellt und von ihnen abgesondert hatte; ferner weil die Weiterentwicklung des Grundgedankens desselben in der vorkritischen Epoche insofern eine entscheidende Rolle gespielt hatte, als sie zugleich mit der Erkenntnis des wesentlich antinomischen Charakters der kosmologischen Vernunftschlüsse schon in vorkritischer Zeit zur Erkenntnis der grundsätzlichen

Dialektik

der Schlüsse der natürlichen reinen

Vernunft geführt hatte, was 1762 trotz seiner Kritik der drei traditionellen Argumente sicher noch nicht der Fall gewesen war 5 3 . D e r systematische Grund aber, der hier eigentlich den Ausschlag gibt und der übrigens mit dem eben genannten geschichtlichen zusammenhängt, liegt darin, daß in diesem späteren Stadium der vorkritischen Entwicklung, in dem der Schluß auf die reale Existenz des Urwesens als des obersten Grundes aller Möglichkeiten problematisch wurde, von dem ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund doch so viel als unzerstörbar erhalten gebheben war, daß der Gedanke des Urwesens als ens realissimum das notwendige

Ideal der

reinen Vernunft bildet, den Gottesbegriff im transzendentalen Sinn (prototypon transcendentale) und damit die einzig mögliche Bestimmung des Gegenstandes einer transzendentalen Theologie, der als fehlerfreies Ideal der Vernunft die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt und als solches auch die Funktion eines notwendigen Kriteriums aller anderen Theologie, wenn es eine solche gibt (und es gibt nach Kant eine, nämlich die Moraltheologie), behalten muß 5 4 . Es war also aus systematischen Gründen, aus dem Grund, daß der Gottesbegriff der theoretischen Vernunft nur ontologisch oder transzendental bestimmt werden konnte im Sinn eines notwendigen Ideals der reinen Vernunft, sehr wohl begründet, daß Kant zuerst diesen Gottesbegriff der theoretischen Vernunft in seiner ganzen Strenge und Notwendigkeit entwickelte, um daraufhin, weil diese Entwicklung selber noch nicht den Erweis erbringen konnte, daß diesem Ideal der 53

54

Vgl. u. a. Brief an Mendelssohn v. 8.4.66, an Bernoulli ν. 16.11. 81, RR 3716, 3717, 3732, 5116; Entwürfe über die „Fortschritte der Metaphysik." Kr. d. r. V. Β 668 ff.

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

175

Vernunft auch ein wirklicher Gegenstand entsprach, die Wege zu untersuchen, die die Vernunft einschlagen kann und eingeschlagen hat, um die Realgültigkeit des Ideals zu beweisen: eben die drei traditionellen Argumente, die nunmehr allein diese Aufgabe übernehmen konnten, nachdem der einzig mögliche Beweisgrund in seiner Abwandlung zur Lehre vom transzendentalen Ideal dafür nicht mehr in Frage kam. Kant liegt daher überhaupt der Gedanke, den ihm Henrich unterstellt, fern, im Abschnitt II den Scheinbeweis aus dem transzendentalen Ideal widerlegen zu wollen oder ihn gar aus den Prinzipien des Kritizismus widerlegen zu wollen. Das Problem der Realisierung des Ideal durch die theoretische Vernunft kommt grundsätzlich erst in den folgenden Abschnitten III mit VI zur Sprache, und zwar so, daß dabei von Anfang an dem kosmologischen Beweis, d.h. dem Wölfischen argumentum a contingentia mundi, die Hauptrolle zufällt, so daß von seiner Möglichkeit und Gültigkeit letztlich alles abhängt, und nicht vom ontologischen Descartes', den er schon in der dritten Abteilung des Beweisgrundes als leicht durchschaubaren Trugschluß abgelehnt hatte und hier im Rahmen der Abschnitte III mit VI als „etwas ganz Unnatürliches und eine bloße Neuerung des Schulwitzes" bezeichnet, insofern man „aus einer ganz willkürlich entworfenen Idee das Dasein des ihr entsprechenden Gegenstandes selbst habe ausklauben wollen. In der Tat würde man es, fährt Kant weiter, nie auf diesem Wege versucht haben, wäre nicht das Bedürfnis unserer Vernunft, zur Existenz überhaupt irgend etwas Notwendiges (bei dem man im Aufsteigen stehen bleiben könne) anzunehmen, vorhergegangen, und wäre nicht die Vernunft, da diese Notwendigkeit unbedingt und a priori gewiß sein muß, gezwungen worden einen Begriff zu suchen, der womöglich einer solchen Forderung ein Genüge täte, und ein Dasein völlig a priori zu erkennen gäbe. Diesen glaubte man in der Idee eines allerrealsten Wesens zu finden, und so wurde diese nur zur bestimmteren Kenntnis desjenigen, wovon man schon anderweitig überzeugt oder überredet war, es müsse existieren, nämlich des notwendigen Wesens, gebraucht. Indes verheelete man diesen natürlichen Gang der Vernunft; und anstatt bei diesem Begriffe zu endigen, versuchte man von ihm anzufangen, um die Notwendigkeit des Daseins aus ihm abzuleiten, die er doch nur zu ergänzen bestimmt war. Hieraus entsprang nun der verunglückte ontologische Beweis, der weder für den natürlichen und gesunden Verstand, noch für die schulgerechte Prüfung etwas Genugtuendes bei sich führt". Demgegenüber bringt der kosmologische Beweis nach Kant alles in das Gleis e i n e r . . . wenigstens natürlichen Schlußart, welche nicht allein für den gemeinen, sondern auch für den spekulativen Verstand die meiste Überredung bei sich führt; wie sie denn auch sichtbarlich zu allen Beweisen der natürlichen Theologie die ersten Grundlinien zieht, man mag sie nun . . . durch noch so viel Laubwerk und Schnörkel verzieren und verstecken, als man immer will"54®. Das ist also der Grund, warum Kant die Lehre vom transzendentalen Ideal der Gruppe der traditionellen Beweise in den Abschnitten III mit VI gegenüberstellt. Der Irrtum Henrichs im Hinblick auf den Abschnitt II besteht demnach darin, daß er die dortige Entwicklung des transzendentalen Ideals als „Widerlegung des Scheinbeweises aus dem transzendentalen Ideal" direkt auf den einzig möglichen Beweisgrund von 1762 bezieht 54a

Kr. d. r. V. Β 631 f.

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III. Teil

und für eine kritizistische Rezension und Kritik dieses frühen theologischen Gedankengangs hält, während Kant hier lediglich ein weiter fortgeschrittenes, aber noch vorkritisches Entwicklungsstadium desselben referiert und dieses, was es in Wirklichkeit nur mehr sein konnte, als die Ableitung des Ideals der reinen Vernunft vorstellt. Dem Autor blieb diese Erkenntnis deswegen verschlossen, weil er an die Stelle einer historischen Untersuchung der Weiterentwicklung des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes in den sechziger Jahren, die aus den Quellen durchaus möglich gewesen wäre, eine durch seine Voraussetzungen bedingte konstruktive Theorie der Entwicklung Kants setzt, in der dessen frühe theologische Schrift, wie wir sehen werden, als eine Entwicklungsstufe seiner Theorie des Grundes in Richtung auf die kritizistische Lösung des Kausalproblems aufgefaßt wird, durch die sich das Problem des ens necessarium endgültig erledige. Dabei wird übersehen, daß diese Hinordnung auf die kritizistische Theorie des Grundes schon deswegen fragwürdig ist, weil der Ursprung derselben nicht unmittelbar aus der vorkritischen Entwicklung abgeleitet werden kann, insofern die beiden entscheidenden Entwicklungsschritte zum Kritizismus hin durch zwei revolutionierende Umbrüche bei Kant erfolgen, die sicherlich nicht in Zusammenhang stehen mit dem Gedankengut des einzig möglichen Beweisgrundes, ja sich nicht einmal direkt aus der vorausgehenden vorkritischen Entwicklung ableiten lassen: nämlich das große Licht des Jahres 69 und die Entdeckung des eigentlichen Geheimnisses der Metaphysik im Brief an Herz vom Februar 1772. Im Bann seiner speziellen Problemsicht übersieht der Autor jene ganze Dimension der vorkritischen Entwicklung auf dem Gebiet der traditionellen Metaphysica specialis, nämlich die noch in vorkritischer Zeit erfolgte Erkenntnis von dem grundsätzlich dialektischen Charakter unserer reinen Vernunftschlüsse in ihrem Bereich, wodurch deren conceptus terminatores notwendig problematisch werden; dazu gehört die bereits in der dritten Abteilung des Beweisgrundes enthaltene Kritik der Gottesbeweise, die aber im Lauf der sechziger Jahre ausgedehnt wird einerseits auf den Schluß auf das nur subjektiv gültige, objektiv aber problematische Vernunftideal, und vor allem auch auf die vier grundlegenden Vernunftschlüsse der rationalen Kosmologie, deren antinomischer Charakter nun bereits erkannt wird 55 . Dieser ganze Strom der Entwicklung des vorkritischen Kant, der für das Verständnis der Kritik der reinen Vernunft von entscheidender Bedeutung ist, mußte einer Methode entgehen, die die Entwicklung eines Zeitraums von 20 Jahren mittels des unmittelbaren Textvergleichs zeitlich so weit entfernter Quellen zu rekonstruieren versucht. Die ganze Unsicherheit des Autors in der Bestimmung dessen, was nun im dritten Hauptstück eigentlich dem einzig möglichen Beweisgrund entspricht, offenbart sich dann vor allem darin, daß er, wie in der Folge auch Reich, nun auch den Abschnitt III auf den einzig möglichen Beweisgrund bezieht. Nach ihm enthält nämlich der Abschnitt III eine teilweise Anerkennung des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes, und zwar in seiner spezifisch vorkritischen Form: zum Abschluß der kritizistischen Rezension und Kritik des Arguments habe Kant im folgenden Abschnitt III einige wesentliche Bemerkungen hinzugefügt, die den in Abschnitt II kritisierten Beweis näher an die historische 55

Vgl. des Verf. Abhandlung „Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?"

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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Gestalt des ehemaligen Beweisgrundes heranrückten 5 6 , was er dann weiter unten im 3. Teil sines Kantkapitels näherhin so präzisiert: Kant sei sich immer bewußt gewesen, daß alle seine Versuche in der rationalen Theologie dem Begriff des notwendigen Wesens galten. Die Kritik der reinen Vernunft bezeuge dies in aller Deutlichkeit; denn sie rechtfertige auch die Schrift von 1763, indem sie sie als einen Versuch erkläre, „unter allen Begriffen möglicher Dinge den aufzusuchen, der sich zu dem Begriffe eines notwendigen Wesens am meisten schickt". Diesen Versuch könne die Vernunft nur aufgeben, wenn sie zugleich die metaphysische Periode ihres Denkens verlasse. Solange das nicht der Fall ist, könne jenem Beweisversuch „eine gewisse Gründlichkeit nicht gestritten werden" 5 7 . Nach Henrich handelt also Kant in Abschnitt III von dem ursprünglichen Beweisgrund von 1762 und nicht mehr von einer kritizistischen Version desselben wie im vorausgehenden Abschnitt II, wobei er ausdrücklich Β 615 auf die frühe theologische Abhandlung des Philosophen bezieht. N u n , vergleicht man die Art und Weise, wie Kant den kosmologischen Beweis in seinem Verhältnis zum ontologischen im Abschnitt V einführt, dann kann es nach u . Ü . nicht den geringsten Zweifel geben, daß er in Abschnitt III vom ersten Absatz an bis zur Aufzählung und Kennzeichnung der drei Beweisarten (in Β 618) nichs anderes im Auge hat als den Wölfischen Kontingenzbeweis; denn er wiederholt dessen Gedankengang in immer neuen Ansätzen, und zwar genau im Sinn jener Einführung in Abschnitt V, bzw. wie er ihn ehemals schon in der dritten Abteilung des Beweisgrundes charakterisiert hatte: es geht dabei immer wieder u m die beiden entscheidenden Schritte: von irgend einem Dasein, gegebenenfalls von meinem eigenen allein, aus wird auf ein notwendiges Dasein geschlossen, und die große Frage dieser Beweisart ist, ob der Begriff dieses bereits bewiesenen oder als bewiesen angenommenen notwendig Daseienden logisch zwingend und damit demonstrativ als ens realissimum, d . h . im Sinn des transzendentalen Ideals, bestimmt werden kann, womit dieses realisiert, d. h. als real und existierend erwiesen wäre. Wenn das nicht möglich ist, und das ist Kants These, dann bleibt es grundsätzlich denkbar, daß dieses so erschlossene notwendig Daseiende auch endlichen Wesen zukommen könnte, und das bedeutet, daß der kosmologische Gottesbeweis gescheitert ist. Henrich übersieht (wie schon Reich) den doppelten Unterschied zwischen der Struktur des Wölfischen Kontingenzbeweises und der des einzig möglichen Beweisgrundes: fürs erste, daß der Beweis Wolffs an einer erfahrbaren Existenz ansetzt, während der einzig mögliche Beweisgrund von den „Verstandesbegriffen des bloß Möglichen" ausgeht und, wie Kant nicht müde wird zu betonen, keinerlei Existenz voraussetzt; ferner daß der einzig mögliche Beweisgrund aus ein und demselben G r u n d , nämlich aus der Unmöglichkeit der N e gierung aller Möglichkeit des Seins, per modum unius sowohl auf die Notwendigkeit des Daseins wie auf die Allrealität des Prinzips der Möglichkeiten schließt; und zwar deswegen, weil aus der Unmöglichkeit der Negierung aller Möglichkeit nur das Prinzip aller Möglichkeit als notwendig erwiesen werden kann: die Notwendigkeit der Existenz und die Allrealität des Prinzips der Möglichkeiten sind die zwei voneinander nicht trennbaren 56 57

Henrich, op. cit. 144 Ebd. 184

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III. Teil

Aspekte des Prinzips der Möglichkeiten: die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Beim Kontingenzbeweis wird der erste Schritt, der Beweis eines notwendig Existierenden, nicht als problematisch betrachtet, die ganze Problematik liegt im zweiten: kann strikte, d . h . logisch zwingend, bewiesen werden, daß ein notwendig Existierendes nur ein allerrealstes Wesen sein kann: eine Frage, die Kant negiert, worin seine entscheidende Kritik am kosmologischen Argument besteht. Es kann also, wenn man sich die spezifischen Unterschiede der beiden Beweisarten vor Augen hält, keinen Zweifel geben, daß Kant in Abschnitt III ausschließlich vom argumentum a contingentia mundi Wolffs spricht 58 . Es ist im übrigen nicht zu übersehen, wie unbedenklich Henrich hier zum Beweis seiner These mit dem vorliegenden Kantischen Text umgeht. So interpretiert er Β 615 wie folgt: Kant rechtfertige in Abschnitt III auch die Schrift von 1763, indem er sie hier als einen Versuch erkläre, unter allen Begriffen des Möglichen den aufzusuchen, der sich zu dem Begriff des Notwendigen am meisten schicke; diesen Versuch könne die Vernunft nur aufgeben, wenn sie die metaphysische Periode verlasse. Solange dies nicht der Fall sei, könne diesem Beweisversuch eine gewisse Gründlichkeit nicht gestritten werden. Demgegenüber sagt Kant hier in Wirklichkeit folgendes: „Diesem Begriff [nämlich dem im vorausgehenden skizzierten Gedankengang des Beweises der Realität des Ideals] kann eine gewisse Gründlichkeit nicht gestritten werden, wenn von Entschließungen die Rede ist, nämlich wenn einmal das Dasein irgend eines notwendigen Wesens zugegeben ist und man darüber übereinkommt, daß man seine Partei ergreifen müsse, worin man dasselbe setzen will..." Das kann im Zusammenhang betrachtet nur heißen: Wenn man sich, nachdem einmal das Dasein eines notwendigen Wesens zugegeben worden, nun entschließen muß, es näher zu bestimmen (und man muß sich, wie er im folgenden Absatz andeutet, mit Rücksicht auf den moralischen Imperativ dazu entschließen), dann hat man gar keine andere Wahl als die, es als ens realissimum und damit im Sinne des transzendentalen Gottesbegriffs zu bestimmen. Deshalb bleibe diesem Argument eine gewisse Wichtigkeit und ein Ansehen, obwohl es, rein objektiv betrachtet, abgesehen von der eben angedeuteten praktischen Notwendigkeit, sich entscheiden zu müssen, theoretisch nicht zwingend ist (und zwar deswegen, weil die Möglichkeit, daß auch endliche Dinge notwendig existieren, nicht zwingend ausgeschlossen werden kann). Wir meinen, man braucht den Kantischen Text nur im Zusammenhang zu lesen, um zu sehen, daß damit etwas völlig anderes gemeint ist, als was ihm Henrich hier unterstellt, um die Beziehung auf den einzig möglichen Beweisgrund herzustellen. Nicht besser steht es nach unserer Überzeugung mit Henrichs zweiter Grundthese der Interpretation des dritten Hauptstücks, obwohl gerade sie offenbar auf die Fachkritik Eindruck gemacht hat: wir meinen die Begründung für die besondere Art der Einteilung desselben, näherhin der getrennten Behandlung des „Scheinbeweises aus dem transzendentalen Ideal" im Abschnitt II gegenüber der der drei traditionellen Beweise in den Abschnitten III mit VI: Wenn man die Kantische Theorie der Rationaltheologie wirklich 58

Vgl. hierzu des Verf. Analyse des dritten Hauptstücks in Kap. II von: „Das Problem der Kontingenz der Welt."

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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verstehen wolle, müsse man über den eigentlichen Unterschied beider Abschnitte zur Klarheit kommen: der Scheinbeweis aus dem transzendentalen Ideal sei nur der Beweis von Gottes Existenz, die klassischen Beweise, darunter vor allem der ontologische, seien zugleich von dem kosmologischen Problem des ens necessarium b e s t i m m t . . . Kants berühmte Widerlegung des ontologischen, kosmologischen und physikoteleologischen habe ihren Platz erst im folgenden Abschnitt (nämlich Abschnitt III mit VI) gefunden, der von jenem anderen handelt, das uns dazu drängt, das Dasein des höchsten Wesens anzunehmen, nämlich von der Idee des notwendigen Wesens. Kant habe es selber in aller Klarheit ausgesprochen: „die drei Wege, das Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft zu beweisen, hat man ,in dieser Absicht eingeschlagen', die oberste Kausalität in das höchste Wesen zu verlegen" 59 . Wenn man den Kantischen Text, der hier zitiert wird, nicht kennt und sich auch nicht die Mühe macht, dieses „Zitat" an den Texten selbst nachzuprüfen, ist man vielleicht von der Argumentation des Autors beeindruckt. In Wirklichkeit aber handelt es sich hier gar nicht um ein echtes Zitat; denn seine beiden Teile stehen bei dem Philosophen an verschiedenen Stellen und beziehen sich auch auf Verschiedenes, während sie Henrich miteinander zu einer Behauptung verbindet, die seine Grundthese über die Abschnitte III mit VI zum Ausdruck bringt. Bei Kant steht nämlich der Schluß des angeblichen Zitats gegen Ende seiner Darlegungen über den kosmologischen Beweis, bei dem es, wie gesagt, vor allem um die Frage geht, ob man das notwendig Daseiende, das hier als oberste, weil unbedingte, Kausalität erscheint, mit dem höchsten Wesen, d.h. dem transzendentalen Ideal, identifizieren müsse, wozu allerdings die natürliche Vernunft ohne weiteres neigt: „Wohin sollen wir nun die oberste Kausalität billiger verlegen als dahin, wo auch die höchste Kausalität ist, d. i. in dasjenige Wesen, was zu jeder möglichen Wirkung die Zulänglichkeit in sich selber ursprünglich enthält?" Nachdem nun dieser erste Teil des Abschnittes III, der im Grunde nur den im ersten Absatz ausgeführten Gedanken der Überleitung entfaltet, abgeschlossen ist, kommt Kant auf das eigentliche Titelthema des ganzen Abschnittes „von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen" zurück und stellt folgende These auf: „Es sind nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich" und beweist bzw. erklärt diese These folgendermaßen: „Alle Wege, die man in dieser Absicht [nämlich das Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft zu beweisen] einigeschlagen hat, fangen entweder von der bestimmten Erfahrung a n . . . oder sie legen nur unbestimmte Erfahrung, d.i. irgendein Dasein empirisch zum Grunde, oder sie abstrahieren endlich von aller Erfahrung und schließen gänzlich a priori auf das Dasein einer höchsten Ursache" 6 0 . Henrich kombiniert nun die beiden Elemente, die im Text nicht nur verschiedenen, durch Formulierung der Titelthese als Zäsur voneinander getrennten Teilen des Abschnitts, sondern damit auch einer wesentlich verschiedenen Thematik zugehören, indem er sie aus ihrem Kontext löst, ihre Reihenfolge umstellt, und den zum zweiten Glied gehörenden Ausdruck „in dieser Absicht" herausnimmt und als Verbindungsglied ge59 60

Op. cit. 140f., 152 Kr. d. r. V. Β 618

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braucht, und zitiert das Ganze als Aussage Kants: „Die drei Wege, das Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft zu beweisen, hat man in dieser Absicht eingeschlagen, die oberste Kausalität in das höchste Wesen zu verlegen", um damit zu beweisen, daß Kant die drei Argumente unter der Rücksicht des Problems des ens necessarium behandelt habe. Durch solche Unbedenklichkeit im Umgang mit vorgegebenen Quellentexten, die für die genuin historische Forschung eine unantastbare, gewissermaßen „sakrosankte" Norm bilden, verrät sich wohl am deutlichsten die Methode konstruktiver Interpretation, die die Quellen der eigenen Konzeption unterordnet, eine Methode, die sich im übrigen vor allem auch, freilich weniger handgreiflich, durch einen selektiven Gebrauch der Quellen (d. h. durch das Ubergehen der nicht mit der eigenen Auffassung harmonierenden Zeugnisse) offenbart. Jedenfalls ist nach dem eben Ausgeführten mit dem obigen Kantischen „Zeugnis" für Henrichs Interpretation der Abschnitte III mit VI im Unterschied zum Abschnitt II nichts zu gewinnen. Desungeachtet könnte freilich das von ihm aufgestellte Einteilungsprinzip richtig sein: daß die traditionellen Argumente von Kant unter dem Gesichtspunkt des ens necessarium als eine Einheit behandelt und deshalb vom Abschnitt II, in dem dieser Gesichtspunkt fehle, abgesondert worden seien. Wird diese für die Interpretation Henrichs grundlegende These der Intention des Philosophen wirklich gerecht? Was den Abschnitt II betrifft, so ist es ein Irrtum, daß der in ihm entwickelte Gottesbegriff, das transzendentale Ideal, nichts enthalte von dem Gedanken des notwendigen Daseins. Ès stimmt zwar, daß der Philosoph dort die Notwendigkeit des Daseins nicht ausdrücklich als Eigenschaft des transzendentalen Gottesbegriffs anführt: „Wenn wir nun dieser unserer Idee, indem wir sie hypostasieren, so ferner nachgehen, so werden wir das Urwesen durch den bloßen Begriff der höchsten Realität als ein einiges, einfaches, allgenugsames ewiges u.s.w., mit einem Wort in seiner unbedingten Vollständigkeit durch alle (!) Prädikamente bestimmen können. Der Begriff eines solchen Wesens ist der von Gott, in transzendentalem Verstände gedacht, und so ist das Ideal der reinen Vernunft der Gegenstand einer transzendentalen Theologie, so wie ich es auch oben angeführt habe"ft 1 . Was aber steckt hinter diesem „u. s.w."? Kant charakterisiert in den beiden letzten Absätzen des Abschnittes VII, den Henrich mit Recht als 3. Teil des theologischen Hauptstücks ansetzt, eben dieses transzendentale Ideal als Gegenstand der transzendentalen Theologie in völlig eindeutiger Weise so, daß es das notwendige Dasein als wesentliches Prädikat enthält, wovon man sich durch die bloße Lektüre von Β 668 ff, besonders des Schlußabsatzes des ganzen Abschnittes VII, überzeugen kann: „Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann; und wenn es eine Moraltheologie geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so beweiset alsdann die vorher nur problematische transzendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Zensur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten, und mit ihren eigenen Ideen nicht immer ein61

Ebd. Β 608

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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stimmigen Vernunft. Die Notwendigkeit (!), die Unendlichkeit, die Einheit, das Dasein außer der Welt (nicht als Weltseele), die Ewigkeit ohne Bedingungen der Zeit, die Allgegenwart ohne Bedingungen des Raumes, die Allmacht u. s. w. sind lauter transzendentale Prädikate, und daher kann der gereinigte Begriff derselben, den eine jede Theologie so sehr nötig hat, bloß aus der transzendentalen gezogen werden" 62 . Durch diese wichtigen Texte, mit denen Kant das ganze theologische Hauptstück abschließt, werden grundlegende Voraussetzungen der Interpretation Henrichs wie auch wesentliche Thesen derselben korrigiert: einmal die schon erwähnte, daß es Kant in seinem Ringen und Bemühen um die Rationaltheologie nicht primär um das religiös-theologische Problem der Fundierung des Gottesglaubens, sondern um eine Frage der theoretischen Philosophie, nämlich um die Bestimmung des von der Kosmologie aufgegebenen Begriffes des ens necessarium gegangen sei. Denn das transzendentale Ideal wird hier von Kant ausdrücklich als entscheidendes Kritierium jeder Theologie, insbesondere auch der ihm vorschwebenden „Moraltheologie" anerkannt und gefordert. Ebenso die hier unmittelbar in Frage stehende, daß die Entwicklung des transzendentalen Ideals in Abschnitt II nichts enthalte von der Notwendigkeit des Daseins. Das ist so wenig der Fall, daß sie in dem zusammenfassenden Schlußabsatz sogar an erster Stelle unter den Eigenschaften des Ideals angeführt wird. Endlich aber wird durch diesen Text jene abschließende Erklärung des transzendentalen Scheins in der Realisierung eines Urwesens durch die Prinzipien des Kritizismus in Β 609-11 im Kantischen Kontext selbst problematisch, weil durch sie das transzendentale Ideal als reine Illusion und Täuschung erscheint, derart, daß es die wichtigen Funktionen, die ihm hier im Schlußabsatz zugeschrieben werden, schlechterdings nicht mehr erfüllen kann, geschweige denn die Rolle eines fehlerfreien Ideals, das die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt 63 . Durch diesen Schluß des theologischen Hauptstücks wird somit Henrichs Begründung hinfällig, warum Kant die Kritik der drei traditionellen Gottesbeweise von der „des Scheinbeweises aus dem transzendentalen Ideal" abgesondert habe: daß es sich nämlich bei dem letzteren nur um den Beweis des bloßen Daseins Gottes als ens realissimum handle, während bei seiner Kritik der drei traditionellen Beweise der kosmologische Begriff des ens necessarium den beherrschenden und einenden Gesichtspunkt darstelle. Mit dieser letzten Behauptung steht es aber, wenn man sich am Kantischen Text selber orientiert, nicht besser. Denn die Abschnitte III mit VI stehen keineswegs thematisch unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung des ens necessarium und ihres Scheiterns. Das wird schon aus dem Gesamttitel dieses zentralen Teiles des theologischen Hauptstücks zu Beginn des Abschnitts III deutlich. Dieser Titel lautet nämlich einfach und schlicht: „Von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen". Man wird es schwerlich mit der „Eile", mit der Kant angeblich den Text der Kr. d. r. V. entworfen hat 64 , glaubwürdig begründen können, daß er hier im Titel und auch in dem diesen Titel wieder aufnehmenden und ihn erklärenden Schlußteil des 62 63 64

Ebd. Β 669 f (kurs. Verf.) Siehe des Verf. Referat „On the development of Kants Transcendental Theology" Henrich, op. cit. 138

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III. Teil

Abschnitts III: „Es sind nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich", dieses Moment des notwendigen Daseins übersehen oder nicht ausdrücklich genannt hätte, wenn es ihm wirklich bei seiner Kritik der drei traditionellen Argumente entscheidend um die Frage des ens necessarium als eines Grundproblems der Kosmologie gegangen wäre. Daß in diesem zentralen Teil des theologischen Hauptstücks nicht das Problem des notwendigen Daseins der formale und spezifische Gesichtspunkt ist, geht im übrigen auch schon daraus hervor, daß der physikotheologische Beweis, der hier ähnlich wie in der Schrift von 1762 im ganzen sehr positiv beurteilt wird65, seinem Ansatz nach nur ein Beweis vom Dasein Gottes sein kann, in dem das Moment der Bestimmung des ens necessarium keine Rolle spielt. Aus diesen Gründen kann die von Henrich vorgeschlagene Lösung für das Problem der Einteilung des dritten Hauptstücks bzw. für seine Bestimmung des Verhältnisses des Abschnittes II zu der Gruppe der Abschnitte III mit VI nicht überzeugen. Wenn seine Theorie aber aus den Texten nicht aufweisbar ist, sondern im Gegenteil von ihnen her fragwürdig wird, dann läßt sie sich letztlich nur dadurch erklären, daß der Autor versucht hat, mit dieser Einteilung das dritte Hauptstück seiner Grundauffassung unterzuordnen: daß die Kantische Gottesbeweiskritik ihrer Intention nach im wesentlichen eine Widerlegung der neuzeitlichen Ontotheologie bedeute, deren Schlüsselbegriff das ens necessarium sei. So wie der Autor das Verhältnis des dritten Hauptstücks zum ontotheologischen Argument der Abhandlung von 1762 bestimmt, kann es nicht überraschen, daß er nun auch die ganze vorkritische rationaltheologische Entwicklung Kants nach jenen Grundsätzen deutet, die für ihn in seinen Analysen des dritten Hauptstücks maßgebend waren, und daß er dabei versucht, speziell den einzig möglichen Beweisgrund selbst dieser Sicht einund unterzuordnen. In der Tat ist es nach ihm dem Philosophen auch schon in der vorkritischen Zeit auf dem Gebiet der Rationaltheologie nicht so sehr um das theologische Problem einer rationalen Fundierung des Gottesglaubens gegangen, als vielmehr um das von der Kosmologie her sich stellende metaphysische Grundproblem des ens necessarium. Auch die vorkritische Lehre Kants sei schon entscheidend von diesem Problem beherrscht, so daß die zentrale Stellung des Begriffes des ens necessarium nicht erst das späte Resultat seiner Kritik der Metaphysik gewesen sei, die sich etwa auf anderen Wegen ans Licht gearbeitet hätte, vielmehr habe er schon sehr früh eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie darin gesehen, den Sinn dieses Begriffs zu klären; gerade deshalb aber habe sich für ihn von Anfang an ein unlösbarer Zusammenhang zwischen dem Problem der Gottesbeweise der Metaphysik, die alle auf diesem Begriff beruhten, und der Analyse des Satzes vom zureichenden Grund ergeben66, die schließlich zur kritischen Theorie der Kausalität geführt habe. Damit sind für Henrich die Weichen der Deutung der vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants gestellt: sie wird als das Ergebnis des gegenseitigen aufeinander Einwirkens und des sich gegenseitigen Vorantreibens der beiden Problemkreise in die Richtung des Kritizismus aufgefaßt und nach diesem Gesichtspunkt analysiert bzw. kon65

S. Kr. d. r. V. Β 650-653

66

Henrich, op. cit. 178 f.

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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struiert. Kants Ansichten vom Sinn des Satzes vom zureichenden Grund und von der Bedeutung der metaphysischen Gottesbeweise hätten sich deshalb stets zusammen entwickelt und gewandelt, und zwar in direkter und ausdrücklicher Beziehung aufeinander und nicht nur auf Grund des in der Sache selbst Hegenden Zusammenhangs. Das sei so sehr der Fall, daß der Stil seiner frühen metaphysischen Schriften zu einem guten Teil nur aus dieser Korrelativität der beiden Problemkreise verständlich werde. Auch die Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund, die 1763 als selbständige Veröffentlichung herausgekommen sei und die sich dem Anschein nach nur um das Problem der Gottesbeweise bemühe, gehöre in diesen größeren Zusammenhang und repräsentiere ebenfalls einen Schritt auf dem Weg zu Kants kritischer Theorie des Grundes. Denn auch in ihr stehe seine Auseinandersetzung mit dem Problem der Gottesbeweise ganz unter dem Gesichtspunkt der Sinnhaftigkeit des Begriffs von einem notwendigen Wesen. Für ihn sei bereits damals klar gewesen, daß weder der ontologische noch der kosmologische Beweis diesen Begriff näher bestimmen könne. Deshalb sei es für ihn die entscheidende Frage gewesen, einen anderen Weg, das notwendige Wesen zu bestimmen, zu finden, der die Fehler der beiden eben genannten vermied, der also einerseits nicht von einem Existierenden ausging (weil von diesem Ansatz aus dieses Ziel grundsätzlich nicht erreicht werden konnte), andererseits auch nicht versuchte, die notwendige Existenz durch eine bloße Analyse des Begriffs ens realissimum abzuleiten und zu verstehen (weil das ein Sophisma war); der neue Ansatz des Beweisgrundes bestehe in der Untersuchung des Begriffs der Möglichkeit als dem einzigen noch übrig bleibenden Weg einer Bestimmung des ens necessarium; sollte auch dieser in einer Sackgasse enden, so bleibe nichts mehr übrig, als den Begriff des ens necessarium als täuschenden und falschen überhaupt aufzugeben. Da nun Kant schon sehr bald zu dieser Uberzeugung gekommen sei, hätten sich für ihn weitreichende Konsequenzen auch im Hinblick auf das Prinzip des Grundes ergeben, die die folgende Entwicklung entscheidend bestimmen mußten. Denn Kant habe „in diesem Fall" nur mehr die Aufgabe zu lösen gehabt, den Grund dieser Täuschung zu erklären und, folgerichtig dazu, den Satz vom zureichenden Grund so zu formulieren, daß er nicht auf den Begriff absoluter Notwendigkeit hinausführte, was bei ihm endgültig in seiner kritizistischen Deutung des Kausalprinzips erfolgt sei. In der Tat, sagt Henrich, könne man Kants kritische Theorie des Grundes als das Ergebnis solcher Überlegungen ansehen. Gewiß sei er nicht allein durch seine Untersuchungen über den Gottesbegriff und Gottesbeweis zu seinem philosophischen Standpunkt [des Kritizismus] gekommen, vielmehr sei ihm seine Kritik der natürlichen Theologie, auch die seines eigenen letzten Versuchs erst möglich gewesen, nachdem er in der Erkenntniskritik auf festen Boden gekommen sei [nämlich den des Kritizismus]. Aber niemand vor ihm habe beide Probleme so eng miteinander verbunden, und tatsächlich sei seine Entscheidung für die kritische Theorie des Grundes dadurch gefördert worden, daß sie sich als geeignet erwies, die Schwierigkeiten der natürlichen Theologie zu erklären und eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der Verlegenheit der Metaphysik bei der Erkenntnis von etwas absolut Notwendigem zu geben 67 . 67

Ebd. 179 f.

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III. Teil

Was nun die konkrete Durchführung dieses allgemeinen Interpretationsschemas in den vorkritischen metaphysischen Schriften, die sich thematisch und zum Teil ausführlich mit den Gottesbeweisen und ihrer Kritik befassen, angeht, so wird die Sache allerdings für den Autor schwierig. Am einfachsten scheinen die Verhältnisse in der Nova Dilucidatici zu liegen, die ohne Zweifel auch gemeint war mit der Behauptung, der Stil der frühen metaphysischen Schriften sei zu einem guten Teil nur durch diese enge Verbindung zwischen dem Prinzip des Grundes und der Gottesbeweislehre überhaupt verständlich zu machen. Nach der dort gegebenen Verbindung zwischen beiden Problemen wird von Henrich offenbar die ganze vorkritische Entwicklung Kants konzipiert. Diese Schrift, die den später so genannten einzig möglichen Beweisgrund und das ontologische Arguments Descartes' in engstem Zusammenhang mit dem Prinzip des zureichenden bzw. bestimmenden Grundes betrachte, habe in der Behandlung des Problems des Notwendigen, des ens necessarium, schon viel mit den späteren Schriften gemeinsam. Allerdings unterscheide sie sich wesentlich von dem 8 Jahre später erschienenen Einzig möglichen Beweisgrund dadurch, daß sie den ontologischen Beweis Descartes' nur mit dem sogenannten „logischen" Einwand widerlege, der nicht als stichhaltige Widerlegung überzeugen könne. Trotzdem bleibe es bemerkenswert, daß die Nova Dilucidatio den logischen Einwand nicht nur dazu gebraucht, das ontologische Argument zu widerlegen, sondern auch und sogar in erster Linie, um die mit diesem Argument versuchte nähere Bestimmung des ens necessarium zu kritisieren. Diese Auseinandersetzung sei in dem Abschnitt über den bestimmenden Grund enthalten, näherhin in dem Absatz, der zeigen soll, daß der Begriff einer causa sui oder auch nur einer ratio sui nicht sinnvoll sei, und daß deshalb das Notwendige nur definiert werden könne als das, was so existiert, daß sein Dasein das Nichtsein schlechthin ausschließt. In diesem Zusammenhang werde die Begründung des absoluten Daseins durch den Wesensbegriff des ens realissimum, insofern er das Dasein einschließe, zurückgewiesen, und zwar, wie gesagt, auf Grund des logischen Einwands. Daraus folgere nun Kant, daß nur noch der Weg des Beweises aus dem Prinzip aller Möglichkeit übrig bleibe für den, der zeigen will, was eigentlich notwendiges Dasein sei 68 . Schwieriger wird es für den Verfasser, diese Perspektive der Zuordnung von Gottesbeweislehre und Prinzip des Grundes für die zweite hier in Frage kommende Schrift, den Beweisgrund von 1762, durchzuhalten, schon deswegen, weil diese Schrift bereits ihrem Titel, vor allem aber ihrem Inhalt nach, ausschließlich der Frage der Möglichkeit eines strikten Gottesbeweises gewidmet ist. Nach Henrich freilich geht es auch hier primär um jenes Grundproblem der theoretischen Philosophie, das schon in der Nova Dilucidatio das zentrale Anliegen bei der Frage der Gottesbeweise gebildet hatte: die Bestimmung des absolut Notwendigen, nachdem der Versuch mit dem ontologischen Argument, das er nun überzeugend mit dem „empiristischen" Einwand 69 zu widerlegen vermag, scheitern mußte. Wenn es einen Sinn haben soll, daß dem ens realissimum das Dasein notwendig zukomme, „so muß es unmittelbar zu der Art gehören, wie sein Begriff gesetzt wird, 68 69

Ebd. 181 f. Ebd. 182 f.

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

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denn in den Prädikaten selber wird es nicht gefunden". Eine Untersuchung über die Bedingungen der Möglichkeit lehre, daß das wirklich der Fall sei. Das sei der Inhalt des einzig möglichen Beweisgrundes. Dieser gehe aus von dem dogmatischen Begriff der Möglichkeit, nach welchem die Möglichkeit der Dinge als Möglichkeit unserer Gedanken von ihnen verstanden werde. Damit stelle sich der Beweisgrund auf den Boden der dogmatischen Metaphysik. In dieser Schrift fehle demgemäß noch die Erkenntnis, daß zwischen dem Materialen und Formalen der Möglichkeit ein anderer Unterschied bestehe als der, daß die eine die Bedingung der anderen ist, daß das Dasein nur eine Bedinung der Möglichkeit der Erkenntnis von ihm ist. Wenn aber von der Möglichkeit der Dinge im ontologischen Sinn die Rede sei, müse der Unterschied zwischen ihrem formalen und materialen Prinzip etwas anderes bedeuten als den zweier Momente an der logischen Möglichkeit der Erkenntnis. Kant habe also im Beweisgrund den inneren Unterschied zwischen der formalen und gegenständlichen Möglichkeit noch nicht erfaßt. Er habe damals in bezug auf die Möglichkeit denselben Fehler begangen, den er im gleichen Jahr in der Schrift über die negativen Größen hinsichtlich der Kategorie des Grundes dem Crusius ankreide. Dort habe er im Gegensatz zu letzterem den synthetischen Charakter des Satzes vom Grunde schon erkannt und damit einen ersten Schritt hin zum kritischen Standpunkt getan. Aber auch im Beweisgrund selbst sei er dem Problem des Synthetischen in der Realerkenntnis schon auf der Spur. Denn auch diese Schrift enthalte schon wichtige Elemente der Kantischen Philosophie des Zeitraums von 1764—69. So u. a. daß man niemals vom Begriff eines Dinges aus auf seine Existenz schließen könne, was der Sache nach bedeute, daß alle Existentialsätze synthetisch seien. Lediglich für den Begriff der Möglichkeit mache er noch nicht den Unterschied zwischen einer logischen und einer auch der inneren Struktur nach verschiedenen realen Bedeutung 70 . In der Spannung nun zwischen Elementen,''die bereits deutlich in die Richtung der kommenden empiristisch-kritischen Entwicklung weisen, und dem Festhalten am dogmatischen Standpunkt in der Auffassung der Möglichkeit liege der eigentliche theoretische Hintergrund dieser Schrift, eine Spannung, die auch ihre Stellung und Rolle als Übergang zur empiristischen Erkenntnistheorie der sechziger Jahre kennzeichne, obwohl sie in der Schrift selbst nicht ausdrücklich zur Sprache komme. Das bedeute, daß sie nicht nur irgendein metaphysisches Problem lösen wollte (etwa das Problem des Daseins Gottes), sondern das Problem der Metaphysik überhaupt, und daß sie es zu lösen versuchte mit Mitteln, die schon vieles enthielten von dem, was die spätere Auflösung der Metaphysik zur Folge gehabt habe; lediglich in einem entscheidenden Punkt sei sie noch dem dogmatischen Denken verhaftet geblieben, jenem, durch den sie das Beweisziel der rationalen Theologie noch erreichen zu können glaubte. Es sei Kant nicht ganz leicht gefallen, aus seiner bereits in dieser Schrift, vor allem aber in den folgenden dieses Jahres erreichten Einsicht in den synthetischen Charakter der Wirklichkeitserkenntnis die Konsequenzen auch für den Begriff der Möglichkeit zu ziehen und damit die analytisch-logische Möglichkeit des Gedankens von der synthetischen der Dinge zu unterscheiden. Die frühesten Reflexionen, die bezeugten, daß Kant an seinem einzig möglichen Beweisgrund 70

Ebd. 185 f.

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III. Teil

nicht mehr festgehalten, und ineins damit, daß er nun auch für die Möglichkeit die Konsequenz aus seiner Schrift über die negativen Größen gezogen habe, seien frühestens in das Jahr 1764 zu datieren 71 . Henrichs Analyse der vorkritischen Gottesbeweislehre Kants mündet ein in einen kurzen zusammenfassenden Vorblick auf die weitere Entwicklung: am Ende des Jahrzehnts sei seine neue Theorie über die Notwendigkeit soweit fortgeschritten, daß sie sich nicht mehr wesentlich von der der Kr. d.r. V. unterscheide: So in R 4033, wo er in einer Weise, die ihm 1763 noch fern gelegen habe, die Widerlegung des ontölogischen Beweises mit der Subjektivierung des Begriffs der absoluten Notwendigkeit verbinde: nur als Grenzbegriff der Erkenntnis, als conceptus terminator, nicht aber als einer ihrer Inhalte habe er einen bestimmten Sinn. Erst jetzt sei die Kritik der Ontologie und mit ihr die des kosmologischen Gottesbeweises abgeschlossen, und in dieser Zeit sei ihm auch die schärfste Formulierung des Problems gelungen, das der zweite ontologische Beweis Descartes' gestellt und das die Ontotheologie ein Jahrhundert lang beschäftigt hatte, nämlich in der R 3812 72 . Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung ist natürlich, wie Henrich nun im Rahmen dieser Konzeption der vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants von seiner Analyse des dritten Hauptstücks der Dialektik her den Grundgedanken des einzig möglichen Beweisgrundes auffaßt. Wie wir im vorausgehenden gesehen haben, hatte schon Reich 1937, vor allem auch auf Grund seiner Interpretation des 2. Abschnitts des dritten Hauptstücks, den Möglichkeitsbegriff des Beweisgrundes, und zwar näherhin den des materialen und formalen Prinzips desselben, im Sinn von Bedingungen der Möglichkeit des Gedankens von den Dingen bzw. des Denkens überhaupt gedeutet: das Materiale der Möglichkeit als die reale Bedingung der Wirklichkeit des Denkens, und das Formale der Möglichkeit, die Widerspruchslosigkeit des Gegebenen, als die unabdingbare logische Bedingung des Denkens. Aber während Reich diese Auffassung als Verzeichnung des genuinen dogmatischen d.h. ontologischen Begriffs der Möglichkeit und damit die Argumentation Kants, die darauf aufbaut, als Verfehlung des dogmatischen Beweises aus den Möglichkeiten verstanden hatte, gilt sie für Henrich als der eigentlich und spezifisch dogmatische Begriff dér Möglichkeit und das auf diesem aufbauende Argument als der genuin dogmatische Gottesbeweise aus dem Prinzip deif Möglichkeit. Aber auch bei ihm ist diese Auffassung entscheidend bestimmt dijrch seine Interpretation des 2. Abschnitts des dritten Hauptstücks über das transzendentale Idejtl. Denn er bringt sie unmittelbar in Zusammenhang mit der dortigen Kritik Kants ,,an dem Schèinbeweis aus dem transzendentalen Ideal" : dieser beruhe auf einer doppelten Illusion; einer natürlichen, durch die die VernuriftrdievGrenzen, die ihr durch die Beziehung auf den endlichen Verstand gesetzt seien, überschreite und die Grundsätze, die nur für die Erfahrungsdinge.gültig sind, als solche betrachte, die für Dinge überhaupt gelten. Daß unsere Vernunft dieser Illusion erliege, sei die Voraussetzung dafür, daß sie ihre Idee vom höchsten Wesen zum Ausgangspunkt eines Beweises für das Dasein Gottes mache; denn nun 71 72

Ebd. 186 Ebd. 187

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

187

geschehe es, daß sie dem transzendentalen Schein (!) erliege, einen subjektiven Grundsatz des Gebrauchs der Vernunft zum Prinzip der Möglichkeit der Dinge zu machen. Aber jene natürliche Illusion könne nicht für diese letztere verantwortlich gemacht werden; denn die Vernunft bemerke doch das Idealische und bloß Gedichtete einer solchen Vorstellung viel zu leicht. Henrich unterscheidet also zwischen einer natürlichen Illusion und einer transzendentalen Illusion, auf Grund welcher ein subjektivér Grundsatz des Gebrauchs der Vernunft zum Prinzips der Möglichkeit der Dinge gemacht wird. Einen analogen Fehler macht nach ihm nun auch der Beweisgrund von 1762 : Für die Kr. d. r. V. sei' deshalb dieser einzig mögliche Beweisgrund ein Fehlschluß der dogmatisch philosophierenden Vernunft. Sie müsse sich von ihm distanzieren; denn in ihm werde der Grund der Möglichkeit der Gedanken von den Dingen zum Grund der Möglichkeit von diesen Dingen selbst gemacht. Der Fehler des Beweises von 1763 sei deshalb dem analog, den die Kritik der reinen Vernunft aufdecke: was nur subjektive Gültigkeit für die Möglichkeit des Denkens hat, werde hypostasiert zum Prinzip aller Dinge. 1763 soll die Bedingung der Möglichkeit des Denkens die Bedingung der Möglichkeit der Dinge selbst sein. In der „Kritik" werde gezeigt, daß es nicht angehe, das Vernunftpostulat der durchgängigen Bestimmung zu einem Prinzip der Dinge selbst zu machen. Aber die beiden Schlüsse, die diesen Fehler enthielten, hätten nicht dasselbe Beweisziel 73 , und sie begingen auch den Fehler in verschiedener Weise. 1763 werde alles Sein unter die Bedingung des Denkens gestellt: „notwendig ist das, dessen Gegenteil unser Denken unmöglich macht". 1781 werde ein Grundsatz, den wir bei der Bestimmung des Seins voraussetzen, als Prinzip der Dinge selbst ausgegeben. Der Beweis in der Kr. d. r. V. beruhe also nicht auf dem dogmatischen Begriff der Möglichkeit, demzufolge all das möglich ist, was gedacht werden kann, und alles notwendig existiert, ohne das kein Denken wäre. Er stelle nicht die reale Möglichkeit unter die Bedingung der logischen. Aber er mache aus einer Regel des Gebrauchs unserer Vernunft einen objektiven Grundsatz und insofern mache auch er eine Hypothesis des Denkens zum Prinzip der Wirklichkeit 74 . Der dogmatische Begriff der Möglichkeit schließt also nach Henrich als Wesenselement des Materialprinzips ein, daß all das notwendig existiert, ohne das kein Denken ist. Reich hatte, wie gesagt, diesen Möglichkeitsbegriff als Verzeichnung des dogmatisch regelrechten Begriffs betrachtet, weil dieser letztere ohne Basierung auf bloß formale Logik und auf Wirklichkeitserkenntnis eine Wesensaussage über die Möglichkeit der Dinge an sich sein müsse. Und er hatte versucht, Kant diesen unkorrekten Möglichkeitsbegriff nicht anzulasten. Henrich, der gerade umgekehrt darin den genuinen dogmatischen Begriff der Möglichkeit der Dinge erblickt, muß Kant nun folgerichtig alle die paradoxen Konsequenzen, die sich aus ihm ergeben, zuschreiben: im Einzig möglichen Beweisgrund werde der Grund der Möglichkeit der Gedanken von den Dingen zum Grund der Möglichkeit der Dinge selbst gemacht. Wir hätten aber keinen Anlaß zu vermuten, daß 73

74

d.h. der Schluß des 2. Hauptstücks nur das des Daseins Gottes, nicht wie der einzig mögliche Beweisgrund das seines notwendigen Daseins. Henrich, op. cit. 147Í.

188

III. Teil

Dinge nur deshalb sind, weil sie einer in das Gegenständliche hinaus gesetzten an sich seienden Möglichkeit entsprängen, gedacht werden zu können (!). Das Materiale ihrer Möglichkeit sei nicht als die Bedingung dafür zu definieren, daß man eine formale Möglichkeit feststellen könne. Wir dürften nicht voraussetzen, daß alle Dinge in ihrer Möglichkeit auf mögliche Denkbarkeit bezogen seien. Kants Schluß aber laute: „Weil dann, wenn gar nichts wirklich wäre, auch keine Möglichkeit mehr gedacht werden könnte, ist es unmöglich, daß gar nichts ist." Kant überzeuge deshalb auch nicht, wenn er den Begriff der absoluten Notwendigkeit bestimme. Schlechterdings notwendig soll das sein, dessen Nichtsein das Materiale zu allem Denklichen aufhebe. Obwohl er zwischen logischer und realer Notwendigkeit unterscheide, werde von ihm doch die zweite unter die Bedingung der ersten gestellt. Real notwendig sei etwas dann, wenn sein Gegenteil alles Denken (!) unmöglich machen würde. Die reale Notwendigkeit sei die Voraussetzung dafür, daß die Regeln logischer Notwendigkeit gebraucht werden können. Deshalb sei sie aber in Wahrheit gar nicht absolute, sondern hypothetische Notwendigkeit. Wenn Denken möglich sein soll, so müsse etwas Denkbares dem Denken vorgegeben sein. Aber Kant kenne keinen Grund, aus dem folge, daß Denken notwendig sei. Ebenso fehlerhaft sei dann der andere Schluß, mit dem Kant aus der Notwendigkeit, daß etwas wirklich ist, ableiten will, dieses Wirkliche müsse die höchste Realität sein. Das könnte nur gelingen, wenn man die Bedingung der Möglichkeit des Denkens zur Bedingung aller Möglichkeit machen könnte. Denn dann läge in dem ersten Grund möglicher Gedanken alle Möglichkeit beschlossen. Sie käme ihm entweder selber zu oder ginge doch aus ihm hervor. Nun aber stehe das Sein nicht a priori unter der Bedingung des Denkens. Es gebe zwar kein Denken, wenn nicht Denkbares gegeben ist. Aber der Grad der Realität dessen, was zum Denken gegeben sein muß, lasse sich aus diesem Gedanken nicht bestimmen75. Henrich muß also Kant, der sich schon Jahre vorher auf das scharfsinnigste und mit größter Selbstsicherheit mit den bedeutendsten Autoritäten seines Zeitalters auseinandergesetzt hatte, allen Ernstes dieses ganze Bündel von Fehlschlüssen anlasten, was gewiß eine fatale Situation für einen Interpreten bedeutet. In Wirklichkeit liegt hier nach dem Ergebnis unserer Analyse eine fundamentale Fehldeutung des Grundbegriffs des einzig möglichen Beweisgrundes und damit notwendig des ganzen ontotheologischen Arguments vor, die sich schon durch die ständige Identifizierung von Denklichem und Denken bzw. Denkvollzug verrät und die, ähnlich wie bei Reich, auf die konstruktive Methode zurückzuführen ist, durch die elementare Forderungen einer echten historischen Untersuchung übersprungen werden. Diese sind fürs erste die durchgehende Analyse der Quellenschriften, eine Analyse, die die innere Logik der Gedankenfolge aus ihrem näheren und weiteren Kontext sorgfältig herausarbeitet; es ist dann ferner die Erforschung der vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants auf Grund aller zu Gebote stehenden Quellen und Dokumente, nicht nur der veröffentlichten Schriften, sondern auch der frühen Reflexionen und der Briefe. In der Tat fehlt bei Henrich sowohl eine durchgehende Analyse des Gedankengangs der vier Betrachtungen der ersten Abteilung des Beweisgrundes wie auch eine solche des ganzen Werkes, die die innere Beziehung der zwei75

Ebd. 145f.

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

189

ten wie der so wichtigen dritten zur ersten herausarbeitete; so entgeht ihm, daß Kant dort von einem ganz anderen Begriff der Möglichkeit ausgeht als dem von ihm als spezifisch dogmatisch charakterisierten, nämlich von dem des Metaphysikkompendiums Baumgartens, welches das repraesentabile als possibile esse und nicht als Möglichkeit des Gedachtwerdens definiert; es entgeht ihm ferner, daß die 3. Abteilung das für die ganze vorkritische rationaltheologische Entwicklung Kants schlechthin grundlegende Zeugnis enthält: nämlich jene vorkritische Kritik der drei traditionellen Gottesbeweise mit eben denselben Gegenargumenten, die uns dann in der transzendentalen Dialektik wiederbegegnen. Umgekehrt hätte in einer durchgehenden Analyse des Gedankengangs der Schrift von 1762 jene Stelle am Ende von n. 1 der 3. Betrachtung, in der Kant den Begriff einer realen Daseinsnotwendigkeit im Gegensatz zur absoluten logischen entwickelt und in diesem Zusammenhang sagt: entweder müsse die absolute Daseinsnotwendigkeit als jene des Realgrundes aller Möglichkeit definiert oder aber als ein falscher und täuschender Begriff betrachtet werden 76 , niemals jene Schlüsselrolle für die Interpretation des ganzen Werkes, ja der ganzen rationaltheologischen Entwicklung bekommen können, die ihr Henrich zuschreibt: daß es nämlich Kant schon in der vorkritischen Epoche bei den Gottesbeweisen nicht in erster Linie um das theologische Problem der Begründung des Gottesglaubens gegangen sei, sondern um die Bestimmung des ens necessarium als eines Grundproblems der rationalen Kosmologie. Nur eine konstruktive Methode kann auf diese Weise Sätze aus dem Zusammenhang herausnehmen und ihnen jene Bedeutung geben, durch die sie die Grundauffassung des Autors vom Sinn des Beweisgrundes bzw. der vorkritischen theologischen Entwicklung Kants bestätigen 77 , während sie umgekehrt eine Fülle von Zeugnissen, die die Inhalte und die Richtung dieser letzteren wie auch die Rolle der theologischen Schrift von 1762 in diesem Zusammenhang wesentlich anders bestimmen, unberücksichtigt läßt. Aus diesen Zeugnissen geht hervor - und dies zu zeigen wird eine Hauptaufgabe der angekündigten Arbeit des Verfassers über den vorkritischen Ursprung und Charakter der Kantischen Gottesbeweiskritik sein - , daß die metaphysische Entwicklung Kants in der Rationaltheologie wie in der rationalen Kosmologie schon um die Mitte der sechziger Jahre in die Lehre von der „Dialektik" der reinen Vernunftschlüsse bzw. von dem dialektischen und problematischen Charakter ihrer conceptus terminatores eingemündet ist, und daß darunter auch der Schluß auf das Vernunftideal als Bedingung des Denkens limitierter möglicher Dinge fällt, wie auch die schon vorher vertretene These des Scheiterns der drei traditionellen Gottesbeweise, zum wenigsten als Demonstrationen verstanden. Demgegenüber ist die kritizistische Theorie des Grundes, auf die hin der Autor die rationaltheologische Entwicklung Kants trimmen will, um aus ihr die Prinzipien ihrer endgültigen kritizistischen Kritik zu gewinnen, fürs erste zeitlich später und dann auch aus ganz anderen Problemzusammenhängen entsprungen als aus der Kritik der Rationaltheologie, nämlich aus zwei elementaren Umwälzungen, die erst zu jener Revolutierung der Den76

77

und zwar nach dem Kontext deswegen, weil für das Dasein eine logische Widerspruchsnotwendigkeit nicht in Frage kommen kann. so eben diese Stelle am Schluß von n. 1 der 3. Betrachtung (KGS II, 82)

190

III. Teil

kungsart in der Metaphysik geführt haben, von der in der Vorrede zur 2. Auflage der Kr. d. r. V. die Rede ist, nämlich die Entdeckung der Subjektivität von Raum und Zeit im Spätjahr 1769 und des subjektiven Ursprungs und Charakters der ontologischen Kategorien als konstitutiver Prinzipien der Erfahrungsgegenstände, für die in beiden Fällen der entscheidende Grund ihre apriorische Gültigkeit gewesen ist, nicht aber das Problem des ens necessarium als Kernproblem der Rationaltheologie. Im übrigen läßt sich von den Quellen her auch die andere Grundauffassung Henrichs überzeugend widerlegen, Kant sei es letztlich in seinen Bemühungen um die Rationaltheologie, und zwar schon in der vorkritischen Zeit, primär um das kosmologische Problem des ens necessarium, also um ein Problem der theoretischen Metaphysik, gegangen und nicht so sehr um das religiöse der Begründung des Gottesglaubens. Dagegen spricht schon der Umstand, daß der Philosoph von Anfang an gerade auch jenen Argumenten für das Dasein Gottes eine entscheidende Bedeutung beigemessen hat, für die das ens necessarium unmittelbar keine Rolle spielt: wie etwa dem verbesserten physikotheologischen Beweis in der Vorrede zur Naturgeschichte und Theorie des Himmels und dem Beweis ex commercio substantiarum in der Prop. XIII der Nova Diluddatio, den er dort als evidentissimum... summae causae, i. e. Dei, et quidem unius, testimonium bezeichnet. Man braucht ferner nur die Vorrede des Einzig möglichen Beweisgrundes, ferner das, was er in der umfangreichen zweiten Abteilung über die Funktion und Bedeutung der gewöhnlichen und seiner verbesserten Physikotheologie ausführt, und was er wiederum in der dritten Abteilung über den praktischen Nutzen und die Verwendbarkeit der verschiedenen Beweisarten sagt, zu lesen, um sich zu überzeugen, daß es Kant bei seinen vorkritischen Bemühungen um die Rationaltheologie in der Tat um die Fundierung des Gottesglaubens gegangen ist. Daß dasselbe auch für die kritische Periode gilt, läßt sich, wie schon angedeutet, ebenfalls überzeugend dartun78. Daraus erhellt, daß die These Henrichs, das ens necessarium stelle in der Gottesbeweislehre Kants in erster Linie ein Problem der theoretischen Metaphysik bzw. metaphysischen Kosmologie dar und nicht primär ein spezifisch theologisches im Sinne einer rationalen Begründung des Gottesglaubens, eine apriorische Festlegung ist, die nicht aus der Analyse der Quellen gewonnen wurde, sondern der Absicht entsprang, Kants „kritizistische" Gottesbeweiskritik als die entscheidende Widerlegung der neuzeitlichen Ontotheologie und ihres Grundbegriffs ens necessarium plausibel zu machen (insofern nämlich durch die Prinzipien des Kritizismus dieser Begriff seine objektive Gültigkeit verlieren mußte) und demgemäß auch schon die vorkritische theologische Entwicklung Kants auf dieses Ziel auszurichten. Richtig an der These Henrichs ist freilich, daß dem ens necessarium in der Rationaltheologie bzw. in der Frage des Gottesbeweises bei Kant eine wichtige, ja eine zentrale Bedeutung zukommt; aber es ist nach ihm ein immanent und spezifisch rationaltheologisches Problem und nicht ein solches der allgemeinen Metaphysik oder der rationalen Kosmologie. Das notwendige Dasein gehört wesentlich zum metaphysischen Gottesbegriff, weil die Existenz Gottes grundsätzlich nicht als bloß faktische oder zufällige, sondern nur als absolut notwendige gedacht werden kann, während dieser Daseinsmodus 78

vgl. II. Teil, Anm. 3

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

191

nach Kant die kosmologische Ebene bzw. Fragestellung prinzipiell transzendiert und daher auch von ihr aus nicht erreichbar ist. Auch wo vom Kosmos her in den verschiedenen Formen der Kosmotheologie, wie im Wölfischen Kontingenzbeweis oder dem eigenen ex commercio substantiarum, dieser Überstieg zum Absoluten angezielt wird, kann das Denken grundsätzlich nur bis zu einer causa prima gelangen, die an sich nur eine nécessitas hypothetica antecedentis impliziert und daher niemals die Natur einer absoluten Notwendigkeit des Daseins begreiflich machen kann 79 . Und wenn auch umgekehrt die Lösung dieses spezifisch theologischen Problems zugleich die der letzten Rätsel des Kosmos bedeutet, insofern gerade ihre Bestimmung der Daseinsnotwendigkeit einsichtig macht, wie und warum das notwendig Existierende eine erste Ursache sein kann 80 , so wird damit keineswegs das ens necessarium eo ipso zu einem spezifisch kosmologischen Problem. Das Problem des ens necessarium gehört also wesenhaft zur Rationaltheologie, weil das Dasein Gottes wesentlich notwendiges Dasein ist. Es ist aber darüber hinaus auch deswegen ein spezifisch rationaltheologisches Anliegen, weil es ein schlechthin zentrales Problem des Gottesbeweises selbst darstellt, nämlich insofern der Gottesbeweis als Demonstration im eigentlichen Sinn verstanden wird, wie das beim Cartesianischen Argument sowohl wie beim einzig möglichen Beweisgrund ohne Zweifel der Fall war. Denn eine Demonstration des Daseins Gottes kann im Sinne Kants grundsätzlich nur a priori geführt werden und sie muß deshalb eine begriffliche Notwendigkeit des Daseins ergeben, denn ein Gottesbeweis als Demonstration muß das Dasein Gottes zwingend aus dem Grund seiner Notwendigkeit ableiten und damit in seiner Notwendigkeit einsichtig mache. Deshalb gibt es für Kant keine Demonstration des Daseins Gottes, wenn dieses nicht als schlechthin notwendiges aus seinem Grunde bzw. seinem Wesen eingesehen wird 81 . Das Problem des ens necessarium ist also auch aus diesem Grunde dem Gottesbeweis als Gottesbeweis zuzuordnen, nämlich als ein unabdingbares Element der Demonstration. Deshalb finden wir bei Kant überall, daß das Problem des absolut notwendigen Daseins in der Rationaltheologie nur dort eine zentrale Rolle spielt, wo von eigentlichen Demonstrationen die Rede ist, nicht aber von anderen Argumenten, denen er jedoch gegebenenfalls eine größere praktische Bedeutung und Wirksamkeit für den Gottesglauben zuerkennt als den logisch vollkommenen Demonstrationen. Die Auffassung Henrichs von der vorkritischen rationaltheologischen Entwicklung Kants - daß das Aufgeben des einzig möglichen Beweisgrundes und damit die Erkenntnis der Unmöglichkeit, mit dem Begriff des ens necessarium einen bestimmten Sinn zu verbinden, den Philosophen bestimmt haben, das Prinzip des Grundes so zu definieren, daß es nicht mehr auf das ens necessarium hinausführte, wats'endgültig erst in der kritizistischen Theorie des Kausalprinzips geschehen sei, und daß ihm andererseits wiederum seine endgültige Kritik an der Rationaltheologie erst möglich geworden sei, nachdem er in der Erkenntnistheorie auf den festen Böden des Kritizismus gekommen war -j, diese 79 80 81

KGS II 91 Ebendort Ebd. 91, 155 und XVII, 301 (R 3812)

192

III. Teil

A u f f a s s u n g muß im G r u n d e schon an der unübersehbaren, v o m A u t o r jedoch mit Stillschweigen übergangenen Tatsache scheitern, daß Kant in der dritten Abteilung seines Beweisgrundes

die drei bekannten Gottesbeweise der Tradition mit eben denselben G e -

dankengängen und Argumenten kritisiert und widerlegt hat wie dann zwei Jahrzehnte später in der transzendentalen Dialektik der Kritik. D e n n das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, wie Verf. dieses in seinem Referat auf dem 3. Internationalen K a n t k o n g reß in Rochester dargetan hat 8 2 , als daß die klassische Kritik Kants an den Gottesbeweisen spätestens 1762 abgeschlossen war und also im wesentlichen das Ergebnis seiner vorkritischen Auseinandersetzung mit Leibniz und der Wolffschule und nicht das der Revolutionierung der Denkungsart des Kritizismus darstellt. Als einzige reale Entwicklung in der vorkritischen

Phase auf dem Gebiet der Rationaltheologie bleibt somit nach 1762 le-

diglich die v o m einzig möglichen Beweisgrund zur Lehre v o n dem subjektiv notwendigen, aber objektiv problematischen Vernunftideal im Rahmen der sich bei K a n t schon früh durchsetzenden Erkenntnis v o n dem dialektischen Charakter der gesamten Metaphysica specialis, wie sie uns durch die Briefe und die Reflexionen eindrucksvoll bezeugt w i r d 8 3 . D a m i t wird deutlich, daß die A u f f a s s u n g Henrichs von der vorkritischen rational theologischen Entwicklung, wie übrigens schon seine Interpretation des dritten H a u p t s t ü c k s im Sinne einer kritizistischen Rezension b z w . einer bedingten späten Anerkennung des einzig möglichen Beweisgrundes, in den Quellentexten nicht nur keine Stütze findet, sondern positiv von ihnen widerlegt wird. D e n n fürs erste geht K a n t im dritten H a u p t stück der „ D i a l e k t i k " überhaupt nicht mehr auf seinen ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund ein, weder in Abschnitt II noch in Abschnitt III, sondern nur mehr auf das, was schon in der vorkritischen Zeit aus dem Gedankengang desselben geworden war, nämlich die Lehre v o m bloß subjektiv gültigen Vernunftideal; zweitens ist die Gottesbeweiskritik, so wie sie uns in der transzendentalen Dialektik in Abschnitt III mit V I entgegentritt, durch die dritte Abteilung des Beweisgrundes als 1762 abgeschlossene erwiesen, und alle Liebesmühe der Interpreten, sie in eine kritizistische

Lehre unzumünzen, wird

letztlich an einem gründlichen Durchdenken dieser dritten Abteilung scheitern. Wenn auf diese Weise die methodischen G r u n d s ä t z e , mit denen Henrich an die Interpretation der rationaltheologischen Lehre Kants in der „ K r i t i k " und ihrer vorkritischen Entwicklung herangeht, mit den Kantischen Texten selbst in Konflikt geraten, dann ist es nicht z u verwundern, daß man auch in seinen eigenen Thesen auf Unstimmigkeiten stößt. Wir führen drei auffällige Beispiele an: So stellt er im dritten Abschnitt seines Kantkapitals die These auf, daß Kants neue Theorie über die Daseinsnotwendigkeit bereits Ende der sechziger Jahre soweit entwickelt gewesen sei, daß sie sich in der Kritik des Begriffs ens necessari um nicht mehr von jener der Kr. d. r. V. unterscheide. D a m i t sei aber im wesentlichen die Kritik der Ontotheologie und mit ihr die des kosmologischen Beweises abgeschlossen (also schon in der vorkritischen Zeit!) 8 4 . D e r A u t o r zitiert in diesem Zusam82 83 84

On the development of Kants Transcendental Theology s. Anm. 45 Henrich, op. cit. 187

Die Interpretation des ontotheol. Arguments bei Reich u. Henrich

193

menhang die R 4033, in der Kant in einer Weise, die ihm 1763 noch fern gelegen sei, die Widerlegung des ontologischen Beweises mit der Subjektivierung des Begriffs der absoluten Notwendigkeit verbinde: Weil wir niemals in einen Widerspruch k o m m e n , wenn wir das Dasein eines Wesens aufgehoben denken, sei der Begriff des notwendigen Daseins gar kein Begriff von einem Gegenstand, nur als Grenzbegriff der Erkenntnis, nicht aber als einer ihrer Inhalte habe er einen bestimmten Sinn. J e t z t erst sei die Kritik der Ontotheologie und mit ihr des kosmologischen Beweises abgeschlossen, und zu dieser Zeit sei ihm auch die schärfste Formulierung des Problems gelungen, das der zweite ontologische Beweis Descartes' gestellt und das die Ontotheologie ein Jahrhundert lang beschäftigt hatte, nämlich in R 3812. D a diese letztere aber, als der Phase ζ angehörend, schon in die Mitte der sechziger Jahre zu datieren ist, der Inhalt von R 4033 aber schon mit der R 3732 (ε 2 ) und den R R 3716 und 3717 gegeben ist, ganz abgesehen von der klassischen Widerlegung des kosmologischen Arguments in der 3. Abteilung des Beweisgrundes

von 1762,

gibt Henricht hier selbst zu, daß die Kritik der Ontotheologie und vor allem des k o s m o logischen Arguments schon in der vorkritischen Zeit abgeschlossen worden, also unabhängig von den Prinzipien des Kritizismus erfolgt ist. D a n n aber muß man sich fragen, wie das mit seiner These in Einklang zu bringen ist, daß dem Philosophen seine Kritik der Rationaltheologie als endgültige Widerlegung der Ontotheologie erst möglich wurde, nachdem er in der Erkenntniskritik auf festen B o d e n gekommen, worunter Henrich die Ebene des Kritizismus versteht. O d e r mit der anderen: K a n t habe das Problem des kosmologischen Beweises gelöst, indem er zeigte, daß die vermeintliche reale Notwendigkeit der ersten Ursache nur die subjektive Notwendigkeit ihrer Annahme in der Reihe der G r ü n d e sei, daß also der erste G r u n d alles Bedingten modal unbestimmt bleibe. N u r dies sei seine eigentümliche kritische Leistung, die von der ausgearbeiteten Kritik der reinen Vernunft abhängig sei. D i e hier im 2. zentralen Abschnitt seines Kantkapitels formulierten Thesen, daß die endgültige Kritik des ens necessarium und damit auch des kosmologischen Gottesbeweises erst von dem gesicherten erkenntniskritischen Standpunkt der ausgearbeiteten Kritik der reinen Vernunft erfolgen konnte, widerspricht somit seinen eignen Folgerungen, die er dann im dritten Abschnitt aus den oben angeführten Reflexionen zieht. Eine weitere Unstimmigkeit der Interpretation Henrichs sehen wir darin, daß er einerseits vertritt, Kant bringe im Abschnitt II des theologischen H a u p t s t ü c k s die kritizistische Interpretation und Rezension seines ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes, bei der es ihm um die Widerlegung des Scheinbeweises aus dem transzendentalen Ideal als eines Beweises des bloßen Daseins Gottes gehe, während er in die G r u p p e der Abschnitte III mit V I die drei traditionellen Gottesbeweise unter der Rücksicht der Bestimmung des ens necessarium zu einer Einheit zusammengefaßt habe; andererseits aber dann im Gegensatz z u dieser A u f f a s s u n g den Abschnitt III doch wieder auf den einzig möglichen Beweisgrund bezieht b z w . als eine Rekapitulation des letzteren versteht, die dessen historischen Gestalt näher stehe als die kritizistische Rezension des Abschnittes II! D a m i t aber hängt eine dritte Unstimmigkeit z u s a m m e n , die nach unserer U b e r z e u gung das größte handicap der Interpretation Henrichs b z w . dieses ganzen Interpretationstypus einschließt: D e r A u t o r vertritt hier einerseits die These, der eigentliche Sinn

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III. Teil

und der beherrschende Gesichtspunkt des Arguments aus den Möglichkeiten sei gewesen, den Begriff von einem notwendige Wesen als sinnvoll zu erweisen und in seinem Wesen zu bestimmen, weil für ihn damals schon klar gewesen sei, daß dies weder auf dem Weg des ontologischen noch des kosmologischen Beweises möglich sei. Daher sei es für ihn das Problem gewesen, einen anderen Weg zu finden, das notwendigen Wesen zu bestimmen, der die Fehler der beiden genannten vermeide, der also einerseits nicht von einem Existierenden ausgehe, weil von diesem Ansatz aus das Ziel grundsätzlich nicht erreicht werden konnte, andererseits aber auch nicht versuche, die notwendige Existenz durch eine bloße Analyse des Begriffs ens realissimum abzuleiten und zu verstehen, weil das ein Sophisma war. So weit, so gut. Nun aber interpretiert Henrich mit Kl. Reich den Begriff des Materiellen der Möglichkeit so, daß er die empirische Existenz der Dinge der Erfahrung einschließt bzw. voraussetzt, ja er identifiziert, wie dann auch Kl. Reich in seiner Einleitung 1963 den in Abschnitt III des dritten Hauptstücks in wiederholtem Anlauf skizzierten Schluß von der Existenz der Erfahrungsdinge auf die letzte absolute Bedingung derselben mit der historischen Gestalt des einzig möglichen Beweisgrundes von 1762. Die Folge ist, daß bei beiden Autoren auf diese Weise der Wesensunterschied zwischen dem apriorischen Argument aus den Möglichkeiten, von dem Kant ausdrücklich betont, daß es keinerlei empirische Existenz voraussetzt, und dem Kontingenzbeweis Wolffs aufgehoben ist.

2. Kapitel Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Pierre Laberge, Horst-Günter Redmann und Joseph Moreau In diesem Abschnitt sollen gewisse bedeutsame Varianten des bisher analysierten Interpretationstyps zur Sprache kommen, die von dem Grundprinzip der Deutung Reichs und Henrichs: daß Kant formell von der Möglichkeit des Denkens aus argumentiere, ausgehend zu sehr verschiedenen Auffassungen der Ontotheologie des Beweisgrundes gelangen. Wir behandeln unter diesem Gesichtspunkt zunächst ausführlicher die Positionen von Pierre Laberge und Horst-Günter Redmann, dann zum Abschluß in Kürze die von Joseph Moreau.

A. Für Laberges Interpretation der Ontotheologie des vorkritischen Kant spielt der Beweisgrund genaugenommen nur noch eine untergeordnete Rolle gegenüber der Prop. VII der Nova Dilucidatici, was schon darin zum Ausdruck kommt, daß er der Analyse der letzteren fast ebensoviel Raum widmet wie der ersten Abteilung des Beweisgrundes, obwohl die Kantischen Texte selbst ihrem Umfang nach etwa in dem Verhältnis 1 : 2 0 stehen. Der Grund dieser Verschiebung der Proportionen liegt natürlich darin, daß der Autor die frühere Fassung als jene beurteilt, die in ungebrochener Logik den Ansatz des ontotheologischen Arguments zu dem in seinem Wesen liegenden Ziel führt, nämlich zur notwendigen Existenz einer einzigen unendlichen Allsubstanz, der als inneres Attribut auch die Ausdehnung zukommt, während die Fassung des Beweisgrundes von dem Bestreben Kants geprägt sei, diese innere Logik des Arguments abzubiegen, um sie auf einen wesentlich anderen, nämlich den theistischen Gottesbegriff eines Schöpfers der Welt hinauszuführen, eine These, die der Autor gleich zu Beginn als die grundlegende seiner Interpretation aufstellt und die er dann mit verdächtiger Häufigkeit und Eindringlichkeit im Verlauf seiner Analysen immer wieder formuliert 85 . Eine der wesentlichsten Voraussetzungen dieses Interpretationsschemas ist die unbesehene Übernahme der Henrichschen bzw. Reichschen Auffassung des Prinzips der Möglichkeit als Möglichkeit des Denkens, die andere sein eigenes Verständnis des Datum simplex als einer uneingeschränkten, unendlichen (existenten) Realität. Mit der erstgenannten Voraussetzung aber fällt die Schlüssigkeit des Arguments als eines Beweises der Existenz eines absolut notwendig Seienden, wie schon Henrich betont 85

Laberge, op. cit. 89, 90, 96, 97, 102 etc.

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III. Teil

hatte. Auch Laberge tnuß zugeben, daß das ontotheologische Argument Kants, auch in seiner (angeblich) ursprünglichen Version als Schluß auf das notwendige Dasein eines spinozistischen Allgottes (omnitudo realitatum) unvermeidlich zum Scheitern verurteilt sei, weil sich für eine Existenz „dont la négation supprimerait la possibilité de toute pensée", grundsätzlich nur eine ,,nécessitas hypothetica consequentiae" ergeben könnte, nicht anders als für das von der Existenz der Welt ausgehende Argument Wolffs oder den an den ewigen Wahrheiten ansetzenden Schluß Leibniz' 86 . Aber von diesem grundsätzlichen Scheitern des Arguments redet der Autor nicht viel (er erwähnt es nur nebenbei, sozusagen in Klammern), dafür aber um so mehr und ausführlicher von jenem anderen, zu dem dessen spätere Fassung (im Beweisgrund) verurteilt sei, des Versuchs nämlich, das absolut Notwendige gegen die innere Logik des Arguments als ens realissimum im Sinne eines Realgrundes der Möglichkeiten zu bestimmen, statt als omnitudo realitatum und damit als „fond" derselben. Das ist es auch, worin Laberge über Henrich hinausgeht, es ist ein ureigenes Element seiner Interpretation. Was nun die Methode betrifft, nach der der Autor die obige These vom Sinn und Ziel der Abhandlung von 1762 nachzuweisen sucht, so bleiben für sie jene Merkmale kennzeichnend, auf die wir bereits in unserer Stellungnahme zu seinen Analysen der Nova Dilucidatio hingewiesen haben: der Mangel einer durchgehenden Analyse der ontotheologischen Argumentation Kants bzw. der ganzen Abhandlung, ferner die sich immer stärker durchsetzende Tendenz, die Grundgedanken des Beweisgrundes, statt aus dem eigenen näheren und weiteren Kontext, von ganze Jahrzehnte späteren Quellen der kritischen Epoche, wie der Kr. d. r. V. oder den Entwürfen zur Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, zu deuten, und schließlich die weitgehende Abhängigkeit von der Sekundärliteratur. So läßt sich Laberge sogleich auch die fundamentalen Interpretationsprobleme von dieser letzteren stellen: „Um den Text der Nova Dilucidatio zu verdeutlichen, genügte es an das Anliegen Kants zu appellieren, zwingend (rigoureusement) die absolut notwendige Existenz Gottes als eines unendlichen und einzigen Seienden (étant) zu beweisen. Im Lichte dieses Anliegens allein sah man nicht, was eine Konklusion spinozistischer Färbung Skandalöses an sich haben sollte. Das Studium des Beweisgrundes wird uns entdecken lassen, daß zwei andere Anliegen (soucis) das ontotheologische Argument beleben (animent). Das erste (auf das Henrich unsere Aufmerksamkeit hinlenkt), müßte (!) nach unserer Auffassung dringend eine spinozistische Folgerung empfehlen (recommander). Aber das zweite (mit Nachdruck von Redmann unterstrichene) macht im Gegenteil eine solche Konklusion völlig unmöglich" 87 . Damit nimmt der Autor seinen bereits eingangs formulierten Gedanken wieder auf: „Schließlich legen uns Henrich und Redmann richtige, aber unterschiedliche Interpretationen der tieferen Sicht (de la visée profonde) des Beweisgrundes vor. Jede dieser Interpretationen wird nach unserer Auffassung einem der entgegengesetzten Anliegen gerecht, die das ontotheologische Argument in Spannung halten (sous-tendent) 88 . 86 87 88

Ebd. 93f., 96 Ebd. 89 f. Ebd. 61

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Dabei fällt die Abhängigkeit des Autors von Henrich besonders ins Gewicht, weil er dessen Thesen praktisch alle ohne Einschränkung übernimmt: so soll es vor allem Kants „Sorge" im Beweisgrund sein, den Begriff des ens necessarium als des kosmologisch U n bedingten näher zu bestimmen; denn Henrich hat uns „dans un ouvrage admirable et dont on ne recommandera jamais trop la lecture" 8 9 auf diese Problematik der Abhandlung hingewiesen: A Henrich nous devons la découverte de la fonction cosmologique de Γ argument proposé par le Beweisgrund comme solution de rechange à 1' argument Cartésien" 9 0 . Weil Laberge sich nicht auf eine detaillierte Analyse des Beweisgrundes einläßt, hat er offenbar keine Möglichkeit zu dieser Interpretation Henrichs (ebensowenig wie zu dessen Deutung der Möglichkeit) kritisch Stellung zu nehmen. Das N e u e bei ihm gegenüber Henrich ist nun aber seine Auffassung, daß einzig der Gedankengang der Nova Dilucidatici, der das notwendig Existierende als omnitudo realitatum bestimme, geeignet sei, das Problem des kosmologisch Unbedingten zu lösen, also gerade nicht jener, den Kant im Beweisgrund durchsetzen will, um dadurch die absolut notwendige Existenz als ens realissimum bzw. als Realgrund der Möglichkeiten zu erweisen. N u n vertritt der Autor zu gleicher Zeit die These, und damit beginnen die inneren Unstimmigkeiten seiner Position, daß gerade in der ersten Fassung des Arguments dieses Anliegen, obwohl gerade sie geeignet gewesen wäre, ihm gerecht zu werden, noch keine Rolle gespielt habe, während Kant in der zweiten, in der er die Logik des Gedankenganges vergewaltigte zugunsten eines theistischen Gottesbegriffes und dadurch das Instrument der Bestimmung des absolut Notwendigen zerbrach, nun gerade die Lösung dieses Problems angestrebt haben soll. Man fragt sich unwillkürlich, was hat nun Kant eigentlich mit dem Beweisgrund gewollt, einen Beweis des theistischen Gottes mittels des Begriffs des ens realissimum oder die Bestimmung des kosmologisch Unbedingten mittels des spinozistischen Gottesbegriffs? Daß diese „Sorge", das ens necessarium-als das kosmologisch Unbedingte zu bestimmen, ein grundlegendes Anliegen Kants im Beweisgrund gewesen sei, beweist Laberge ganz im Sinne Henrichs, indem er Anleihen aus dem dritten H a u p t stück der Dialektik heranzieht, um einen Hintergrund zu gewinnen, auf dem dessen einzige Belegstelle am Ende der n. 1 der 3. Betrachtung 9 1 in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt wird. Aber abgesehen davon, daß die Argumentation des Autors von dem von ihm (in der Anmerkung) angeführten Zitat aus dem 3. Abschnitt des dritten Hauptstücks nicht gedeckt wird 9 2 , folgt aus dem hier konstruierten „ K o n t e x t " nicht im mindesten, daß Kant die Bestimmung des ens necessarium als eines Problems der Kosmologie im Beweisgrund als wesentliches Ziel neben oder gar in Uberordnung über den Gottesbeweis angestrebt habe. N u r infolge des Mangels einer durchgehenden Analyse der Texte kann man aus der bezeichneten Stelle des Beweisgrundes derartiges folgern. Kant geht es dort, wie wir sahen, einzig und allein darum, den Begriff einer absoluten Äea/notwendigkeit der Exi89 90 91 92

Ebd. 8 f. Ebd. 9 KGS II, 82 Laberge, op. cit. 90 (Anm. 30)

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Stenz im Unterschied zu einer logischen Widerspruchsnotwendigkeit derselben, wie sie im Cartesianischen Beweis angestrebt wurde, erstmals grundsätzlich zu entwickeln; nur um die fundamentale Bedeutung dieses Begriffes einer realen Daseinsnotwendigkeit zu unterstreichen, betont er, daß die absolute Notwendigkeit der Existenz entweder diese letztere bedeuten oder aber als ein falscher und täuschender Begriff betrachtet werden müsse. Von der angeblichen Absicht Kants, mittels seines ontotheologischen Beweises nicht nur oder nicht in erster Linie einen wesentlichen Beitrag für die letzten und höchsten Zwecke unseres Daseins oder für die wichtigste aller unserer Erkenntnisse zu liefern, sondern ebenso auch oder sogar primär ein Grundproblem der theoretischen Metaphysik zu lösen, enthält die obige Stelle, wie wir in unserer Analyse dargetan haben, keinen Anhaltspunkt. So bleibt Laberge (ebenso wie Henrich) den Beweis schuldig, daß es Kant im Beweisgrund um die Bestimmung des Begriffes des kosmologisch Unbedingten als eine eigene selbständige Thematik gegangen sei, d . h . um eine solche über die Funktion hinaus, die dem ens necessarium unabdingbar in einem apriorischen Gottesbeweis und damit in einer Demonstration des Daseins Gottes zukam. A fortiori aber muß Laberge den Beweis schuldig bleiben, daß Kant im Beweisgrund jenes Ziel mittels des Begriffes der omnitudo realitatum, d . h . mittels des spinozistischen Gottesbegriffes angestrebt oder zu erreichen versucht habe. Denn davon wird man nicht die leiseste Andeutung in den Texten der Abhandlung finden. So kann er lediglich sagen, was Kant von seinen (angeblichen) Voraussetzungen aus hätte tun müssen: ,,C' est en tant qu' idéal transcendental et donc en tant qu' omnitudo realitatum que le concept de Dieu permettrait (!) la détermination de ce concept de 1' existence absolument nécessaire" 93 , wobei sich Laberge auf Henrich beruft, der aber an der betreffenden Stelle nur davon spricht, daß Kant im Beweisgrund die kosmologische Idee der Vernunft so konstruiere, daß sie zugleich den Gedanken des transzendentalen Ideals einschließe, also ohne sich jene Bedeutung des transzendentalen Ideals zu eigen zu machen, die der Autor hier im Auge hat, nämlich als omnitudo realitatum. Aber im Grund enthält schon die Henrichsche Stelle, auf die sich Laberge hier beruft 9 4 , einen Anachronismus, weil das transzendentale Ideal bei Kant etwas anderes ist als die omnitudo reaütatis im einzig möglichen Beweisgrund, die von dessen'Ansatz her ebenso wesentlich mit dem Prinzip des Realen aller Möglichkeiten verbunden ist wie die N o t wendigkeit des Daseins selbst: das heißt, sie ist im Sinn des ontotheologischen Arguments nicht ein notwendiger Begriff, wie das transzendentale, Ideal, sondern eine von den Realgehalten des Möglichen her erschlossene Realität wie da¿ notwendige Dasein auch. Da Henrich das absolut notwendig Daseiende sowohl Vié seine Allrealität formell als Bedingung der Möglichkeit des Denkens auffaßt, ergibt sich für ihn, wie aus seinen Analysen des Abschnittes II des dritten Hauptstücks hervorgeht, eine vage Parallelität zum transzendentalen Ideal, insofern beide Bedingungen der Möglichkeit des Denkens enthalten. Bei Laberge wird nun die Ähnlichkeit der beiden Konzeptionen zu einer praktisch vollständigen Deckung weitergeführt, und zwar dadurch, daß er die Allrealität des Grundes 93 94

Ebd. 92 Henrich, op. cit. 151

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der Möglichkeiten, von der bei Kant die Rede ist und die auch Henrich im Auge hat, wenn er in diesem Zusammenhang vom Ideal spricht, als omnitudo realitatum, d. h. im Sinn des spinozistischen Gottesbegriffs, bestimmt, weil für ihn das „transzendentale Ideal" nur so ein geeignetes Instrument für die Bestimmung des absolut Notwendigen darstellt, und zugleich, weil es nur in diesem Sinn jene Funktion übernehmen kann, die Kant dem transzendentalen Ideal im 2. Abschnitt des dritten Hauptstücks der „Dialektik" zuschreibt, nämlich die der obersten Bedingung der Möglichkeit durchgängig bestimmter Begrìffe und damit des Denkens schlechthin: „Wenn Kant den Begriff des absolut notwendigen Seienden in der Weise konstruiert, daß er den des transzendentalen Ideals einschließen kann, dann nicht nur deshalb, um die absolut notwendige Existenz dieses Ideals zu etablieren, sondern ebenso, weil er in dem transzendentalen Ideal das privilegierte Instrument einer Bestimmung des Begriffs der notwendigen Existenz erblickt." Entscheidend aber ist, daß der Autor seinen Begriff des Ideals zugleich als die notwendige Bedingung des Denkens überhaupt bestimmt und ihn damit in Beziehung setzt zu seiner Auffassung vom Ansatz des ontotheologischen Arguments, nämlich der Möglichkeit als Möglichkeit des Denkens: „Der Begriff der omnitudo realitatum erscheint als der Grund (fond) und in diesem Sinn als die Grundlage - le fond-ement-, auf dem sich jedes Endliche ausschneidet (se . . . découpe). Es ist die conditio s. q. n. des bestimmten Gedankens von jedwedem O b j e k t . . . Wenn man mit dem Begriff der absolut notwendigen Existenz den dieser omnitudo realitatum verbindet, der die conditio s.q.n. ist, um ein Objekt in vollständig bestimmter Weise denken und damit überhaupt denken zu können, was gibt es dann Sinnreicheres (ingénieux) als die absolut notwendige Existenz als jene zu definieren, deren Negierung die Möglichkeit jedes Gedankens aufheben würde" 9 5 . „Es ist also der Grund der omnitudo realitatum, auf dem wir sich jeglichen selektiven oder limitierten Besitz von realitas abheben sehen. Also verdient es das transzendentale Ideal, insofern es omnitudo realitatum ist, jedem anderen Begriff vorgezogen zu werden, wenn wir daran gehen, das kosmologisch Unbedingte zu bestimmen" 9 6 , wobei sich Laberge ausdrücklich auf jene Stellen des Abschnittes II des dritten Hauptstücks der „Dialektik" beruft, in denen Kant das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Ideal und der limitierten Realität der Dinge mit dem zwischen dem unbegrenzten Raum und den begrenzten Raumgebilden gleichsetzte; denn nur wenn man es so verstehe, sehe man auch im Fall des Verhältnisses transzendentales Ideal-begrenzte Realität der Dinge das Wie ihrer Abhängigkeit vom Ideal ein 97 . Aber-womit, so fragt man sich, will Laberge die für seine Interpretation so grundlegende These plausibel machen, daß Kant im Beweisgrund über den apriorischen Gottesbeweis hinaus vor allem auch das Ziel verfolgte, das kosmologisch Unbedingte zu bestimmen, und daß er dies mit dem Instrument des so verstandenen transzendentalen Ideals erreichen wollte? Es sind zwei Stellen in der ganzen Abhandlung, mit denen der Autor offenbar seine im Kontext derselben so fremd anmutende These stützen zu können 95 96 97

Laberge, op. cit. 92 f. Ebd. 94 Ebd. 94 f.

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glaubt: einmal die im Sinne der visée profonde Henrichs gedeutete Stelle am Schluß der η. 1 der 3. Betrachtung über den Begriff der absoluten Realnotwendigkeit des Daseins, in der er mit Henrich die grundlegend kosmologische Zielsetzung des Arguments ausgesprochen sieht; dann die zweite Hälfte der n.4 der 2. Betrachtung, d . h . die Kantische Analyse des Begriffs des feurigen Körpers, mittels der er bereits für die Nova Dilucidano seine These von den einfachen Data der Möglichkeit als unbegrenzten, existierenden Realitäten beweisen zu können glaubte. Beide Stellen können jedoch, wie wir in unserer Analyse zeigten, im Kontext gelesen, nicht in dem bezeichneten Sinn interpretiert werden, womit die obige These Laberges ihr Fundament verliert. In der Tat kommt das auch in der Art, wie der Autor diese seine These vertritt und darbietet zum Ausdruck: daß er nämlich immer nur behauptet, Kant habe im Beweisgrund nicht nur das notwendige Dasein Gottes beweisen, sondern auch das Grundproblem der Kosmologie lösen wollen, daß er dies aber mit Erfolg nur hätte tun können, wenn er das notwendige Dasein als transzendentales Ideal im Sinne der omnitudo realitatum bestimmt hätte, was er aber gerade im Beweisgrund zugegebenermaßen nicht getan hat. Wir haben bereits auf die Problematik der Methode hingewiesen, die Ableitung des transzendentalen Ideals der Kr. d. r. V., eines Werkes, das 20 Jahre später geschrieben ist, als Prinzip der Interpretation des Gedankengangs des einzig möglichen Beweisgrundes in Anspruch zu nehmen. Was nun das spezielle Anliegen Laberges betrifft, dei im Unterschied zu Henrich das transzendentale Ideal als omnitudo realitatum aufgefaßt wissen will, so stößt er bei Kant selber im Abschnitt II des dritten Hauptstücks auf ein nicht geringes Hindernis, insofern dort das transzendentale Ideal zwar anfänglich als analog zum Raum eingeführt, dann aber über diese Analogie, der lediglich die Bedeutung einer ersten rohen Skizze zukomme, hinaus zum Begriff des ens realissimum, des höchsten Wesens oder Urwesens, weiterentwickelt wird, wodurch es nun als oberste ratio des Realen der Möglichkeiten und nicht als fond derselben erscheint, wie es die räumliche Analogie erfordert hätte. Laberge sucht sich dieser Schwierigkeit mit dem gleichen Schachzug zu entledigen, den er schon in der Deutung der Stelle über den feurigen Körper angewandt hatte, als er die „überraschende" Hinzufügung Kants: „oder durch eine Existenz gegeben wird", als Versuch deutete, die ursprüngliche und im ersten Glied („Wenn der Raum nicht existiert") sich ausdrückende, auf den spinozistischen Gottesbegriff hinauslaufende Folgerung zu verhindern und durch eine andere, auf den Begriff des Realgrundes der Möglichkeiten abzielende zu ersetzen; ebenso bezeichnet er nun in Abschnitt II des dritten Hauptstücks die Kantische Korrektur der räumlichen Analogie des transzendentalen Ideals im Sinne eines Grundes oder Prinzips aller Möglichkeiten als einen „virage brutal" 9 8 , durch den Kant versuche, die natürlicherweise auf den spinozistischen Gottesbegriff hinauslaufende Logik des ontotheologischen Arguments zu verhindern. Aber wenn es schon methodisch verfehlt ist, den wesentlich verschiedenen Begriff des transzendentalen Ideals in den Gedankengang des einzig möglichen Beweisgrundes hineinzulesen, dann gilt das a fortiori dafür, nun diese spätere Lehre nach dem, was der Au-

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Ebd. 95

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tor als „transzendentales Ideal" in der Prop. VII der Nova Dilucidano versteht, korrigieren zu wollen. Die Frage, ob der Übergang vom räumlichen Analogon zum Begriff des obersten Realprinzips der limitierten Möglichkeiten im Abschnitt II des dritten Hauptstücks der Dialektik einen „virage brutal" im Rahmen der Lehre Kants darstellt, kann sicher nicht durch einen direkten Vergleich mit dem Gedankengang des einzig möglichen Beweisgrundes bzw. der Prop. VII der Nova Dilucidatio entschieden werden, weil eben hier die Lehre vom transzendentalen Ideal in ihrer spezifischen Form noch nicht gegeben ist. Wenn aber aus der durchgehenden Analyse sowohl der Prop. VII wie auch der ersten Abteilung des Beweisgrundes mit aller Klarheit hervorgeht, daß in beiden die Allrealität des notwendig Daseienden als oberstes Realprinzip der Möglichkeiten und nicht als oranitudo realitatum im spinozistischen Sinn verstanden wird, dann spricht von diesen frühen Schriften her auf Grund der Analogität zwischen beiden Konzeptionen schon alles dafür, daß Kant auch im Abschnitt II mit dem räumlichen Analogon in der Tat nur eine erste Hinführung zum tieferen und komplizierteren Gedanken des transzendentalen Ideals als Prinzips der Möglichkeiten geben wollte. Eindeutig in diesem Sinn entschieden aber wird die Frage durch die Erforschung der Entwicklung Kants vom einzig möglichen Beweisgrund zur Lehre vom transzendentalen Ideal in Abschnitt II des dritten Hauptstücks. Dieser Entwicklungsgang ist erkennbar durch ein eingehendes Studium der frühen Reflexionen Kants zur Metaphysik Baumgartens. Dabei zeigt sich, daß der Philosoph während der ganzen sechziger Jahre das Verhältnis zwischen dem Urwesen und den limitierten Realgehalten der Möglichkeiten bzw. der Möglichkeitsbegriffe prinzipiell nicht nach Art der extensiven, sondern der intensiven Größen gedacht hat, d. h. nicht statisch, sondern dynamisch in dem Sinn, daß der höhere Intensitätsgrad einer Größe dadurch bestimmt ist, daß sie Ursache vieler Wirkungen von niedrigeren Intensitätsgraden sein kann, d. h. daß die höhere Einheit nicht additiv zu denken ist wie bei den extensiven Größen, sondern dynamisch als Ursache-Wirkungsverhältnis. Man nehme etwa die Reflexionen aus der Mitte des Jahrzehnts, in denen diese Lehre von den intensiven Größen ausdrücklich auf das summum ens und sein Verhältnis zu den limitierten Seinsgraden übertragen wird, wie RR 3727, 3775, 3776, 3889. Was in diesem Zusammenhang zusätzlich gegen die Labergesche Deutung des transzendentalen Ideals nach Analogie einer extensiven Größe spricht, ist, daß es, wie aus diesen Reflexionen hervorgeht, für Kant ein absolutes Maximum, also ein summum ens im absoluten Sinn, überhaupt nur für die intensive Größe in dem bezeichneten Sinn geben kann, nicht aber für die extensiv-additive des Räumlichen. Es widerspricht also den Grundprinzipien des Kantischen Philosophierens, das ens originari um und sein Verhältnis zu den limitierten Möglichkeiten des Seins nach Art des Raumes zu denken, woraus man sieht, wie fragwürdig der Versuch Laberges ist, die Kantische Konzeption vom transzendentalen Ideal im Abschnitt II des dritten Hauptstücks nach seiner speziellen Auffassung vom „transzendentalen Ideal" in der Prop. VII der Nova Dilucidatio korrigieren zu wollen. Als wesentlichster Mangel der Interpretation von Laberge erscheint uns wiederum das Fehlen einer durchgehenden Analyse der Logik des gesamten Gedankenganges, durch die allein das Verhältnis der einzelnen Gedankenschritte zueinander und damit das von

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Kant Gemeinte durch den Kontext eindeutig bestimmt und so jede willkürliche Deutung ausgeschlossen werden kann. Statt dessen geht der Autor nur auf jene Stellen näher ein, die ihm für seine Grundhypothese wichtig erscheinen, und erklärt sie demgemäß auch in erster Linie nach deren Erfordernissen: so, wie wir gesehen haben, seine Interpretation der Stelle am Ende der η. 1 der 3. Betrachtung über die Bedeutung des Begriffes einer absoluten Realnotwendigkeit des Daseins, dann vor allem die der beiden Sellen aus der n. 4 der vorausgehenden Betrachtung: der über den feurigen Körper und der am Anfang dieser n. 4 über die Unterscheidung der Möglichkeit als Bestimmung eines Existierenden und als Folge eines Existierenden; dann vor allem die n. 3 der 3. Betrachtung, in der der Autor in Kants Beweis der Einzigkeit des Grundes der Möglichkeiten eine durch seine neue Zielsetzung der Ontotheologie bedingte, aber höchst angreifbare Argumentation für die Einzigkeit des notwendig Seienden erblickt, und schließlich die n. 6 der selben Betrachtung, in der er glaubt, das Instrument entdeckt zu haben, mit dem Kant die an sich spinozistische Schlußfolgerung des ontotheologischen Arguments zu verhindern versuche. Alle diese Texte werden vom Autor nach seiner im wesentlichen von der Sekundärliteratur und durch Gedankengänge der kritischen Epoche angeregten und getragenen Auffassung des Gesamtkomplexes der vorkritischen Ontotheologie interpretiert, so daß in Wahrheit mehr die Hypothese die Interpretation der Quellen bestimmt und nicht, wie es sein müßte, umgekehrt die Interpretation der Quellentexte die (Arbeits-)Hypothese bestätigt oder als unbegründet erweist. Nachdem wir uns schon eingehend mit der Deutung der drei zuerst erwähnten Stellen bei Laberge auseinandergesetzt haben, genügt es in diesem Zusammenhang, näher auf die beiden zuletzt genannten einzugehen, zumal wir in ihnen zugleich die entscheidenden Ansatzpunkte seiner Kritik am Beweisgrund als Versuch einer Abbiegung und Umfunktionierung des ursprünglichen Arguments der Nova Dilucidano vor uns haben. Zunächst stellt er mit Recht einen wesentlichen Unterschied fest in der Art, wie Kant hier und dort die Einzigkeit des notwendig existierenden Wesens beweist. Den Grund dieses Unterschiedes sieht er darin, daß Kant im Beweisgrund den früheren Weg, diesen Beweis zu führen, nicht mehr einschlagen konnte, weil es der spezifische Weg gewesen sei, die Einzigkeit einer omnitudo realitatum, d.h. des spinozistischen Gottes, zu beweisen, während er jetzt, der veränderten Zielrichtung der Argumentation entsprechend, die Einzigkeit des notwendig Existierenden als des ens realissimum im Sinne eines Realgrundes der Möglichkeiten dartun mußte. Er habe deshalb das Argument der Nova Dilucidatio im Beweisgrund durch ein anderes ersetzen müssen,das seinem nunmehrigeii.neuen Wesensbegriff des notwendig Seienden angemessen war. In diesem Sinn argumentiere er nun: „Da die absolut notwendige Existenz jene ist, deren Aufhebung (suppression) alle Möglichkeit aufheben würde, muß auch alle Möglichkeit von ihr abhängig sçin. Werih nicht, könnte man die absolut notwendige Existenz aufheben, ohne damit alle Möglichkeit aufzuheben, was gegen die Definition der absolut notwendigen Existenz wäre. Keine Möglichkeit also, die von der absolut Notwendigen Existenz abhängig ist, kann notwendig existieren, da die Existenz, von der sie abhängt, nicht [wiederum] von ihr selbst abhängig ist, und folglich nicht alle Möglichkeit von ihr abhängen würde [wie es die Definition der absolut notwendigen Existenz verlangt]99.

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Weil der Autor die neue (theistische) Zielsetzung des Beweisgrundes als gegen die wesentliche innere Logik des ontotheologischen Arguments gerichtet und daher als einen zum Scheitern verurteilten Versuch betrachtet, muß er nun auch den sich aus dieser Neuorientierung ergebenden Beweis für die Einzigkeit des notwendig Daseienden als prinzipiell verfehlt kritisieren; seine Kritik lautet: „Mais qu' est-ce qui nous empêche alors de concevoir le système suivant. Il y a deux existences absolument nécessaires. Toutes les autres possibilités dependent et de 1' une et de 1' autre. Ces deux existences absolument nécessaires sont de plus interdépendantes. Si je supprime 1' une, je supprime toute possibilité y compris celle de 1' autre, et vice versa. Elles méritent toutes deux d'être considérées comme absolument nécessaires, puisque la suppression de chacune d'entre elles entraîne celle de toute possibilité. U n tel système ne peut être exclu que si c' est en tant qu' omnitudo realitatum que Γ existence absolument nécessaire conditionne toute possibilité"' 0 0 . Aber wie auch sonst, unterschätzt hier Laberge den Scharfsinn Kants. Er sieht fürs erste nicht, daß dieser hier nichts anderes tut, wie übrigens auch in den Argumenten der folgenden nn. 4—6, als die Konsequenzen zu ziehen aus seinem Begriff der absolut notwendigen Existenz: die absolut notwendige Existenz ist nach ihm ja eine solche von der alle Möglichkeit, d . h . nicht nur die Möglichkeit aller Dinge, sondern auch die eigene Möglichkeit abhängt bzw. durch die alle Möglichkeit einschließlich der eigenen bedingt ist, und zwar so, daß in dieser Bedingtheit aller Möglichkeit das formale Wesen dieser Realnotwendigkeit besteht. Laberge übersieht, daß dies bereits die Definition der absoluten Daseinsnotwendigkeit in der Nova Dilucidatio gewesen war, wie aus dem Tenor der Prop. VII und der Erklärung ihres Scholions hervorgeht. Die notwendige Existenz ist also nicht schon dadurch definiert, daß von ihr alle Möglichkeit der Dinge abhängt, sondern daß alle Möglichkeit schlechthin von ihr abhängt, so daß alle Möglichkeit nur durch sie gegeben ist und ohne sie alle Möglichkeit verschwände und das absolute und schlechthinige Nichts, das nihil negativum der Möglichkeit von Möglichkeiten entspränge. Es ist daher ein Irrtum, wenn der Autor meint, diese Definition sei auch in seinem „System"mit den zwei absolut existierenden Dingen erfüllt. Diese zwei notwendig existierenden Dinge sollen „interdépendantes", gegenseitig voneinander abhängig sein. Wie aber können sie voneinander abhängig sein, wenn sie absolut notwendig sind? Schließt nicht ihre absolute Notwendigkeit unabdingbar ihre Absolutheit ein und damit jegliche Abhängigkeit aus? Kant hat von Anfang an, und zwar schon in der Prop. XIII der Nova Dilucidatio und dann unentwegt durch die ganze vorkritische Entwicklung hindurch (wie aus nicht wenigen frühen Reflexionen deutlich wird), bis zur Sectio IV der Dissertation von 1770 daran festgehalten, daß jedes reale commercium von Substanzen, jede dynamische Gemeinschaft gegenseitiger Abhängigkeit von Substanzen der sicherste Beweis der Kontingenz ihres Daseins ist, daß also in dynamischer Gemeinschaft stehende Substanzen nur kontingent existieren können, weil die absolute Notwendigkeit ihrer Subsi-

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Ebd. 97

' 0 0 Ebd. 97f.

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Stenz jede Abhängigkeit voneinander ausschließt. In der Definition der absoluten Realnotwendigkeit wird, folgerichtig dazu, die absolute Notwendigkeit der Existenz dadurch bestimmt, daß ihr, im Unterschied zu den kontingent existierenden Dingen, ihre eigene Möglichkeit nicht vorausgeht, sondern nachfolgt bzw. mit ihr identisch ist. Denn nur dadurch schließt sie jede Abhängigkeit von einer anderen Existenz radikal aus, weil eine solche Abhängigkeit umgekehrt voraussetzt, daß ihre Möglichkeit nicht durch die eigene Existenz, sondern durch eine andere Existenz gegeben ist und sie folglich selbst nicht etwas Ursprüngliches und Absolutes bedeuten kann, sondern notwendig etwas Abhängiges, weil durch die abhängige Möglichkeit Bedingtes. Daraus wird klar, daß das von Laberge ins Auge gefaßte System zweier gegenseitig voneinander abhängiger absoluter Existenzen die Zerstörung des Wesens der absolut notwendigen Existenz im Sinn des Verfassers des Beweisgrundes wie der Nova Dilucidano bedeuten und diese angeblich absolut notwendigen Existenzen unvermeidlich auf das Niveau kontingenter Seiender herabsetzen würde. Die Beweise der Einfachheit (n. 4), der Ewigkeit und Unveränderlichkeit (n. 5), die alle aus dem gleichen Prinzip geführt werden wie der der Einzigkeit, referiert der Autor nur kurz; erst mit der n.6, in der Kant aus eben jener Definition des notwendig Daseienden die Folgerung ableitet, daß dieses omnitudo realitatis oder ens realissimum (weil das Reale aller Möglichkeiten, sei es formell als Bestimmung, sei es wenigstens als Prinzip von Folgen in sich enthaltend) sein müsse, befaßt er sich wieder angelegentlich und ausführlich. Denn hier glaubt er das Instrument zu entdecken, mit dem der Philosoph seinen an sich auf den Spinozismus hinauslaufenden ontotheologischen Gottesbeweis in einen solchen zugunsten des Theismus umzukrempeln versucht habe: dessen damals neu entdeckte Lehre von den negativen Größen und der damit gegebenen Realrepugnanz im Unterschied zur logischen des Widerspruchs. Ein ganz wesentlicher Teil der Begründung seiner Interpretation wird demgemäß im Rahmen einer eingehenden Analyse und Kritik gerade der Lehre dieser n . 6 der 3. Betrachtung gegeben, weswegen bei ihm dieser Punkt allein etwa ein Drittel des Raumes in Anspruch nimmt, den er dem ontotheologischen Argument im Beweisgrund von 1762 widmet. Gerade hier aber zeigen sich wiederum deutlich die Mängel einer Methode, diejenigen Punkte herauszugreifen, die für eine bestimmte Interpretation wichtig zu sein scheinen, ohne deren Bedeutung und Rolle im Gesamtkontext gebührend zu würdigen: so hat der Autor kein Auge für die Strenge und Geschlossenheit der Kantischen Deduktion aller grundlegenden ontologischen Prädikate Gottes aus der Definition der absoluten Realnotwendigkeit der Existenz des Grundes der Möglichkeiten, er sieht vielmehr die Sache so: ,,Le seul avantage que Kant peut trouver à la non-réédition de l'argument de 1755 [für die Einzigkeit des absolut Notwendigen] nous semble (!) être le suivant. Après avoir encore prouvé que l'existence absolument nécessaire est simple ( . . . ) , immuable et éternelle ( . . . ) , il lui sera permis d'intituler le paragraphe 6: 'L' étant nécessaire contient la plus haute realité' (ens realissimum contre omnitudo realitatum) . . . Ce paragraphe est pour Kant 1' occasion de chercher à justifier son refus du concept d' omnitudo realitatum. Nous devons donc nous y attarder particulièrment", wobei er dann seine Interpretation in folgende Thesen zusammenfaßt, die er eingehend in zwei großen Abschnitten behan-

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 0 5 deh: „ K a n t affirme donc 1) que l'étant absolument nécessaire ne peut être omnitudo realitatum parce qu' il y aurait alors oppostion réelle et donc manque 2) indigne de sa suprême réalité" 1 0 1 . Sehen wir zunächst, wie Laberge die beiden Punkte dieser Lehre entwickelt, und dann, wie er kritisch dazu Stellung nimmt. Nachdem er die Grundzüge der Lehre der Abhandlung über die negativen Größen bzw. über die Realopposition dargelegt hat, fragt er: „ Q u e l profit le Beweisgrund espère-t-il tirer de cette doctrine développée dans 1' Essai?" U n d er antwortet, und diese Antwort ist wiederum bezeichnend für seine Methode: Eine erste Lektüre lege folgende Hypothese nahe: Kant wollte mit seiner Lehre von der Realopposition jenen entgegenkommen, die gern im Hinblick auf die Bestimmung des absoluten Wesens einen ausschließenden Gegensatz zwischen Ausdehnung und Verstand annehmen würden, wenn ihnen nur der Begriff eines anderen ausschließenden Gegensatzes als der des logischen Widerspruchs, der zwischen positiven Realitäten nicht statthaben kann, zur Verfügung stünde: mit seinem Begriff einer Realopposition zwischen positiven entgegengesetzten Realitäten und dem eines aus ihrer Entgegensetzung resultierenden Mangels habe er ihnen in diesem Punkt die entscheidende Hilfe gebracht. Kant hätte hier allerdings den Obersatz des gedachten Syllogismus noch beweisen nüssen, nämlich daß zwischen Verstand und Ausdehnung tatsächlich eine Realopposition gegeben sei, was er zwar hier nicht getan habe, was er aber hätte leicht tun können, und zwar im Sinn seiner diesbezüglichen Lehre in der Naturgeschichte von 1755, w o er bekanntlich von dem Verhältnis zwischen der groben Materie u n d der dadurch gehemmten geistigen Aktivität in den vernünftigen Wesen der unteren Planeten handelt. Der Autor beschließt seine diesbezügliche Überlegung: " a la lumière de ce texte, ce sont tous les exemples d ' o p p o s i t i o n réelle de 1' Essai (...) qui apparaissent reconvoqués sous le titre général de Γ opposition étendue-entendement. La matière serait à 1* origine de là douleur, de l'erreur, des mauvais penchants" 1 0 2 . Dazu gebe es andere Anzeichen dafür, daß hier die Erinnerung an den „Essai" nicht nur das Ziel verfolgt, dem wohlmeinenden Leser die Unterscheidung zwischen realer und logischer Entgegensetzung an die H a n d zu geben, sondern ebenso die Rolle und Bedeutung der Entgegensetzung Ausdehnung - Verstand deutlich zu machen : so vor allem seine Betonung der Evidenz des realen Gegensatzes zwischen Materie und Geist durch die entschiedene Zurückweisung der Auffassung, daß die Materie keine echte Realität, sondern lediglich eine Privation sei, was daraufhindeute, daß für ihn die Negierung der wahren Realität der Materie zugleich die aller negativen Größen bzw. aller Realoppositionen überhaupt bedeuten würde. "Il nous semble done qu'en soulignant le danger d'une opposition réelle de la matière et de l'esprit, Kant souligne non pas le danger d'une opposition réelle parmi d'autres, mais le danger de toutes les oppositions reelles mentionnées par l'Essai, celles qu' implique le couple matière-esprit et celles qu' implique la matière elle-même (forces de direction opposée)". Das aber würde f ü r ihn, beschließt der Autor seine Überlegung, im übrigen den unermeßlichen Vorteil bedeuten, daß, wenn beide nicht zum Wesen des notwendig Seienden gehören können, die Materie disqualifi101 102

Ebd. 98 Ebd. 101

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ziert und von ihm ausgeschlossen werden muß : „ L' omnitudo realitatum se verra préférer un ens realissimum spirituel" 103 . Diese Ausführungen zielen offenbar darauf ab, die Lehre von den negativen Größen bzw. der Realopposition auf die spinozistischen Attribute Ausdehnung und Geist als ihr oberstes umfassendes Prinzip zurückzuführen, so daß diese als die Quelle aller anderen speziellen Formen von Realopposition bzw. negativen Größen erscheinen. Nach Laberge aber ist diese Lehre von der ursprünglichen und obersten Realopposition zwischen Materie und Geist, von Ausdehnung und Denken, das Instrument für Kant, um den spinozistischen Schluß des ontotheologischen Arguments auf eine omnitudo realitatum aus den Angeln zu heben und an ihre Stelle eine theistische zu setzen; denn wenn Materie und Geist im transzendentalen Ideal sich gegenseitig einschränken bzw. aufheben und durch ihr gleichzeitiges Vorhandensein die vielfältigsten Mängel erzeugen würden, dann folge daraus nicht nur, daß nicht beide zugleich im Absoluten gegeben sein können, sondern daß das hemmende und einschränkende Prinzip, das für diese Privationen verantwortlich ist, ihm nicht zukommen kann, daß jenes also nicht omnitudo realitatum, sondern nur ,,ens realissimum spirituel" sein kann. Nun bei einer nüchternen Beurteilung würde diese Art von Beweisführung auch dann nicht überzeugen können, wenn man von der Voraussetzung Laberges ausginge: (daß nämlich das ontotheologische Argument seiner Natur nach auf einen spinozistischen Gottesbegriff hinauslaufe und daß die erste Version des Arguments von Kant so gemeint gewesen sei) ; denn es stellen sich sofort eine Reihe gewichtiger Gegenargumente gegen sie ein: (1) Wenn der Autor sagt, und das ist ja bei ihm die Voraussetzung dieser ganzen Interpretation, im Licht der Ausführungen des dritten Teils der Naturgeschichte scheinen alle im „Essai" aufgeführten Beispiele von Realopposition zurückgeführt werden zu müssen auf den allgemeinen Titel des Gegensatzes von Ausdehnung und Denken, so übersieht er, daß Kant dort nicht die Ausdehnung bzw. die Materie als solche als der geistigen Tätigkeit entgegengesetzt vorstellt, sondern nur eine bestimmte Beschaffenheit derselben, nämlich die größeren Grade ihrer Trägheit und Grobfaserigkeit, wie aus seiner dortigen Schilderung der Bewohner der sonnenfernsten Planeten hervorgeht104. Für Kant sind also Materie und Ausdehnung als solche nicht dem geistigen Wirken entgegengesetzt, im Gegenteil sind nach seiner damaligen Überzeugung105 alle endlichen geistigen Wesen, auch die höchsten und vollkommensten, auf einen materiellen Körper angewiesen, um die Eindrücke des Universums aufnehmen und an diesen ihre geistigen Tätigkeiten entfalten zu können. Wir fragen: Hätte Kant im dritten Teil der Naturgeschichte die Bewohner der obersten Planeten so beschreiben können, wie er sie dort schildert, wenn er der Auffassung gewesen wäre, Ausdehnung und Körperlichkeit seien als solche dem Geist und seiner Aktivität real entgegengesetzt bzw. seien als solche das Prinzip aller Realoppositionen überhaupt?

'o·1 Ebd. 101 f. KGS I, 360 105 Ebd. 412 (n.3) 104

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(2) Für Kant ist weder der materielle Körper auf Ausdehnung, noch die geistige Substanz bzw. Aktivität auf das Denken rückführbar: diese Eindimensionalität finden wir bei Spinoza nach dem Vorgang Descartes. Kant vertritt demgegenüber einen mehrdimensionalen dynamischen Materie- und Geistbegriff, f ü r ihn ist die materielle Substanz als solche unausgedehnt, d. h. sie ist Monade. Die Ausdehnung resultiert grundsätzlich erst aus der gegenseitigen dynamischen Einwirkung mehrerer unausgedehnter Substanzen 1 0 6 : die Ausdehnung ist also etwas Sekundäres gegenüber den ursprünglichen Kräften bzw. Kraftwirkungen der Anziehung und Abstoßung der unausgedehnten Monaden. U n d es ist eine Mehrzahl von Kräften, die der materiellen Monade ursprünglich zukommt, ebenso wie der geistigen Substanz eine Mehrzahl von geistigen Kräften, von denen die eine nicht auf die andere rückführbar ist, nämlich Verstand und Wille. Wenn daher Kant an jener Stelle am Ende der 2. Betrachtung des Beweisgrundes als die vermutlichen letzten und unauflöslichen Data des Begriffs Körper Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Kraft und wer weiß was mehr anführt, so geht es keinesfalls an, Undurchdringlichkeit ( = Repulsionskraft) und Kraft etwa als nicht ursprüngliche , nicht einfache Q u a litäten stillschweigend zu streichen und nur die Ausdehnung oder die Räumlichkeit als das letzte einfache D a t u m der Körperlichkeit stehen zu lassen. Schon von hier aus ist der Versuch, die Kantischen Realgegensätze auf die spinozistischen Attribute als ihr Prinzip zurückzuführen zum Scheitern verurteilt. Dazu k o m m t aber (3), daß Kant das Prinzip der negativen Größen, d . h . die Einführung einer mathematischen Größe in den Bereich der Philosophie bzw. der Naturphilosophie, zunächst auf das Spiel der Kräfte im materiellen Bereich anwendet, das sich nach dem Gesetz der quantitativen Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung vollzieht, in dem also Wirkung und Gegenwirkung numerisch vergleichbar sind und folglich addiert werden können. Dieses Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung wird von ihm dann allerdings auch, aber mehr oder weniger versuchsweise, auf alles Geschehen des Universums, also auch auf die verschiedenen geistigen und seelischen Wirksamkeiten übertragen. D a ß diese Übertragung im Bewußtsein erfolgte, hier spekulativen Boden zu betreten, geht aus dem dritten Teil hervor, wo er die letzte Konsequenz daraus f ü r das Gesamtgeschehen des Universums zieht, daß nämlich, wenn man alle in ihm einander entgegengesetzten Kraftwirkungen z u m Ausgleich bringen könnte, sich notwendig Zero = 0 ergeben würde. Man sieht schon aus diesen Überlegungen, wie wenig überzeugend die Argumentation des Autors ist, daß im Licht der Ausführungen des dritten Teiles der Naturgeschichte und der des Beweisgrundes die Abhandlung über die negativen Größen in dem Sinn zu deuten sei, daß alle dort aufgeführten Realoppositionen als Spezifizierungen einer ursprünglichen Realopposition von Materie und Geist zu interpretieren seien. Dazu k o m m t aber noch ein grundsätzlicher Einwand gegen die Methode der Interpretation des Autors: daß er nämlich diese These im Grunde nur als eine vorläufige Hypothese aufstellt, an die eine erste Lektüre denken läßt: „ U n e première lecture suggère (!) Γ hypothèse suivante (s. oben!). Diese ganze Interpretation bleibt in der Tat bis zumSchluß hypothetisch: Ce qui présenterait ( !) pour lui d'ailleurs un immense avantage: nämlich die 106

Vgl. Monadologia physica Props I-VIII (ebd. 477ff.)

208

III. Teil

Materie grundsätzlich vom Absoluten auszuschließen und dieses als ein rein geistiges ens realissimum zu bestimmen. Wie kann man auf ein so ungesichertes Fundament, auf eine durch die erste Lektüre nahegelegte Vermutung, die im besten Fall für eine Arbeitshypothese zureicht und die gewiß nicht durch die zusätzlich angeführten Begründungen gesichert ist, die ganze wesentliche Interpretation der Ontotheologie des Beweisgrundes im Unterschied zu der der Nova Dilucidatio aufbauen? Hier zeigt sich die Fragwürdigkeit der konstruktiven Methode: Man geht aus von einer Vermutung, die die Texte dem Interpreten, der bereits mit bestimmten Vorstellungen an sie herantritt, nahelegen, und sucht sie durch passende Zeugnisse zu stützen, so daß sie zum Schluß wie handfeste Theorien aussehen, aber eben nur so aussehen. Die Frage, ob die Lehre von den negativen Größen die ihr vom Autor zugeschriebene Rolle im Beweisgrund wirklich spielt, kann allein von der Analyse der Kantischen Texte selbst her beantwortet werden. Nun wäre es aber im Rahmen des Gedankengangs der ontotheolegischen Argumentation der ersten Abteilung völlig unverständlich, daß der Philosoph diese Lehre erst ganz zum Schluß derselben - die eigentlich ontologische Beweisführung ist ja, wie gesagt, mit der 3. Betrachtung abgeschlossen - gebraucht hätte, wenn er der Uberzeugung gewesen wäre, daß das Argument in seiner ersten Fassung nur zu einem spinozistischen Gott führen konnte, und daß er 1755 diese Schlußfolgerung noch nicht habe vermeiden können, weil ihm damals die Lehre von der Realopposition noch nicht zur Verfügung stand. Mit anderen Worten: Wenn Kant wirklich von der bezeichneten Voraussetzung bzw. Auffassung des Arguments der Nova Dilucidatio ausgegangen wäre und im Beweisgrund das Ziel verfolgt hätte, die spinozistische Konsequenz desselben mit Hilfe der Lehre von der Realopposition zu verhindern, dann hätte er diese an zentraler Stelle der Beweisführung angeführt und als eine Grundthese derselben entwickelt. Aber auch wenn man von diesem weiteren Zusammenhang absieht und nur den näheren Kontext betrachtet, in dem diese Lehre im Beweisgrund steht, wird die These des Autors unmöglich. Denn Kant bringt sie nicht nur erst am Schluß des entscheidenden ontotheologischen Gedankengangs, sondern auch dort lediglich zum Zwecke der Widerlegung gewisser Einwände bzw. der Zurückweisung gewisser Mißverständnisse, auf die er hier am Schluß seiner Ableitung der Allrealität des Prinzips der Möglichkeiten noch eingeht: einmal, daß der höchste Grad der Realität, der den Grund aller Möglichkeiten zu dem realsten unter allen möglichen Wesen macht, so verstanden wird, daß alle denkbare Realität zu seinen Bestimmungen gehöre; und ferner, daß ihm als dem letzten Realgrund aller anderen Möglichkeiten außer ihren Realitäten auch ihre Mängel und Verneinungen zukommen müßten, er also auch Negationen unter seinen Prädikaten haben müßte und folglich nicht nur lautere Realität sein könnte. Kant führt nun im Zug der Widerlegung des erstgenannten Einwandes seine Lehre von der Realopposition an, aber bezeichnenderweise wiederum nicht in der grundlegenden Zurückweisung des Einwandes, sondern erst in einem zusätzlichen, sekundären Gedankengang. Die eigentliche Widerlegung erfolgt, wie wir gesehen haben, durch den Hinweis, daß es Prädikate gibt, die nicht als Bestimmungen in einem einzigen Subjekt nebeneinander stattfinden können" 107 . Kant stellt 107

Ebd. II, 85

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 0 9

hier als unmittelbar einsichtig hin, daß nicht alle beliebigen Prädikate, wie z . B . Undurchdringlichkeit und Ausdehnung auf der einen Seite, Verstand und Wille auf der anderen, als Bestimmungen ein und desselben (einfachen) Subjekts nebeneinander bestehen können, ohne daß er an dieser Stelle ihre Unvereinbarkeit mit einer Realopposition zwischen Materie und Geist, etwa im Sinn der Labergeschen Interpretation des dritten Teils der Naturgeschichte, begründen würde. Die Art seines Vorgehens an dieser Stelle läßt vielmehr an § 13 des Baumgartenschen Metaphysikkompendiums denken, der so lautet: Posito A et non-Α oritur contradictio. Posito A et B, quo posito ponitur non-Α, ponitur impossibile, hinc oritur contradictio. Prior patens (directa, immediata et explicita), posterior latens (indirecta, cryptica, mediata et implicita) vocatur 1 0 8 . Es ist die latente Widersprüchlichkeit zwischen postitiven Realitäten, von denen die eine in ihrem formalen Sein die Negierung der anderen enthält, wie Viereckigkeit und Kreisförmigkeit nicht zugleich Bestimmungen ein und derselben geometrischen Figur sein können. Die Berufung auf die Lehre von der Realopposition zwischen positiven Qualitäten erfolgt dagegen erst später und in einem anderen Zusammenhang: um die These zu beweisen, daß die Prädikate des Materiellen sowie die negativen geistigen Erlebnisse, wie Schmerz etc., nicht Bestimmungen Gottes oder des notwendigen Wesens sein können, habe man sich mit der Ausflucht zu helfen gesucht, daß diese keine wahren Realitäten, sondern, metaphysisch gesehen, lediglich Negationen seien und folglich als solche einem Wesen, das lautere Realität ist, nicht zukommen könnten, womit zugleich der Grundsatz, daß Realitäten und Realitäten, bzw. Positionen und Positionen einander nicht widersprechen können, unangetastet blieb. Erst gegen diese Argumentation führt Kant seine Lehre von den negativen Größen ein: nicht deswegen, weil sie keine wahren Realitäten sind, können sie dem ens realissimum nicht zukommen, sondern weil es neben dem logischen Widerspruch auch einen realen gibt, der nur zwischen positiven Realitäten, die sich gegenseitig vermindern oder aufheben, stattfindet, wodurch Privationen und Mängel entstehen, die einem ens realissimum nicht zukommen können 1 0 9 . Hier wird zugleich deutlich, warum sich Kant gerade in diesem konkreten Zusammenhang nicht einfach mit der im Fall des Gegensatzes zwischen Undurchdringlichkeit und Ausdehnung einerseits und Verstand und Wille andererseits angeführten Begründung (nämlich die eines impliziten logischen Widerspruchs) begnügen konnte, sondern auf die Lehre von der Realopposition auf Grund der negativen Größen zurückgreifen mußte; denn es geht hier bei der Frage, ob alle Realitäten, alle Positionen in einem realsten Wesen als Bestimmung gedacht werden müssen, vor allem auch um jene unserer materiellen und geistigen Erfahrungswelt, die nicht in einem (impliziten) logischen, sondern nur in einem realen Widerspruch zueinander stehen. So spielt also dieses Beweiselement der negativen Größen bzw. der Realrepugnanz im Gedankengang des ontotheologischen Arguments des Beweisgrundes durchaus nicht jene zentrale und grundlegende Rolle, die man erwarten müßte, wenn ihm darin jene Schlüsselposition zukäme, wie sie ihm in der Interpretation des Autors zugeschrieben wird. 108 109

Ebd. XVII, 26 f. Ebd. II, 86

210

III. Teil

Für Laberge jedoch wird die Schlußfolgerung Kants am Ende der n. 6 der 3. Betrachtung: daß die aus der Realopposition resultierenden Privationen einem Wesen, das die höchste Realität besitzt, widersprechen, zum Gipfel seiner Bemühungen im Beweisgrund, die dem ontotheologischen Argument immanente Konsequenz eines spinozistischen Gottes zu verhindern, aber so - und das ist für den Autor der evidente Beweis des unvermeidlichen Scheiterns dieser Bemühungen - , daß er, um die spinozistische omnitudo realitatum auszuschließen, gerade diesen Begriff implizit voraussetzen müsse; denn nach Kant selbst sei eine Negation und damit eine Limitierung nur denkbar auf Grund der entgegengesetzten Position 110 . Der eigentliche Grund, warum der Autor nur die omnitudo realitatum als Grundlage begrenzter Möglichkeiten des Seins überhaupt denken kann und ihm der Gedanke, diese Grundlage könnte auch ein ens realissimum im Sinn eines höchsten Grades der Realität sein, überhaupt nicht kommt, liegt in seiner Auffassung der Möglichkeit, von der die ontotheologische Argumentation ausgeht. Für Kant ist diese Möglichkeit nicht die Möglichkeit des Denkens eines endlich Existierenden, für dessen Limitierung ein Existierendes vorausgesetzt werden muß, das die den Negationen bzw. Privationen entsprechenden Positionen formal in sich enthält, sondern es ist die per se nicht existierende, vielmehr der Existenz ontologisch vorhergehende reine, in unseren Begriffen vergegenwärtigte Möglichkeit des Seins, die als limitierte durch die ihren negativen Bestimmungen entgegengesetzten positiven Prädikate bedingt ist. Diese ihre negativen Bestimmungen fundierenden Positionen sind ebensowenig als existierend zu denken, wie die die Möglichkeit selber konstituierenden positiven Prädikate, vielmehr gehören beide dem ontologischen Bereich des bloß Möglichen zu, der als Ganzes nur in einem ens necessarium fundiert sein kann, in dem sie alle notwendig entweder formell oder bloß virtuell, wie die Wirkung in der Ursache, existieren. Von diesen Voraussetzungen her fällt die Gegenargumentation des Autors dahin, weil sich die Kantische Widerlegung der omnitudo realitatum bzw. des Inbegriffs der Realitäten in der Tat nur von den unkantischen Voraussetzungen seiner Interpretation aus in den bezeichneten (angeblichen) Widerspruch verwickelt. Wäre Kant wirklich von den ihm von Laberge unterstellten Voraussetzungen ausgegangen, dann hätte er gewiß selber den ihm hier angekreideten logischen Fehler sofort bemerkt. Der Autor geht aber in seiner Kritik noch einen Schritt weiter: für ihn ist die Kantische Argumentation gegen die omnitudo realitatum nicht nur ein grober logischer Fehler, sondern im Grunde ein bloßer Vorwand, der nur seine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem spinozistischen Gottesbegriff tarnen soll (camoufler). Und der Beweis für diese These: Kant hat es auch in der Periode des Kritizismus immer noch abgelehnt, das transzendentale Ideal als omnitudo realitatum zu denken, obwohl er sich zu dieser Zeit nicht mehr auf den Grund berufen konnte, daß es zu einem Schauplatz realer Gegensätze würde, da ja nach seiner damaligen Auffassung diese letzteren auf die Phänomenwelt beschränkt waren. Nichtsdestoweniger lehne er weiterhin das Ideal als Inbegriff der Möglichkeiten ab, und zwar nun auf Grund eines neuen Einwandes, der aufs

110

Laberge, op. Vt. 102

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 1 1

höchste überraschen müsse: ,,qui apparaît on ne peut plus surprenante. L'Ideal η' est pas un Inbegriff, écrit-il, parce qu' alors l'étant originaire (Urwesen) ne serait qu' un aggrégat ( . . . ) d étants dérivés que par ailleurs le supposeraient en tant qu' originaire". Ich muß gestehen, daß ich nicht zu sehen vermag, worin das so Uberraschende dieses Gedankengangs Kants liegen bzw. das Unsinnige dieser seiner Argumentation bestehen soll, das Laberge in folgendem sieht:, ,Der Einwand Kants könnte nur furchtbar (fructueuse) sein, wenn wir sie [seil, das transzendentale Ideal und den Raum] zuerst als Totum, als ihren Teilen vorhergehend, betrachten könnten, um zu zeigen, daß jede Figur oder jedes Seiende davon abgeleitet ist, und danach als Compositum, als auf ihre Teile folgend, um dann einzuwenden, daß es keinen Sinn habe, von einem Compositum von abgeleiteten Teilen, die später sind als dieses, zu sprechen 111 . Der Gedanke Kants scheint mir sehr einfach und überzeugend zu sein: er will zeigen, daß das ens realissimum bzw. das Ideal als Bedingung und Prinzip der Teile, d. h. der Limitierung der Realität der Seienden, nicht zugleich das durch die Teile Bedingte sein kann, als was es aber gedacht werden müßte, wenn es ein Compositum aus den Teilen wäre, denn das Compositum aus Teilen ist seiner Natur nach später als die Teile: es müßte also der Sache nach sowohl früher wie später als die Teile sein, ähnlich wie eine causa sui zugleich früher und später als sie selbst sein müßte. Der Autor betont in diesem Zusammenhang, daß Kant aus dem gleichen Grund auch den Raum als einen Inbegriff der Teilräume hätte ablehnen müssen, was er aber nicht getan habe. Gewiß hätte Kant diese Argumentation auch auf den Raum anwenden können, um zu beweisen, daß dieser nicht ein Compositum und folglich nicht später als seine Teile sein könne, weil die letzteren als Limitierungen des einen Gesamtraumes diesen als ein Totum voraussetzen, der eine unendliche Raum also früher ist als die Teilräume. Trotzdem aber ist der Raum als Totum auch ein Inbegriff der Teile, weil eben hier ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem Raum als Einheit der Räume und dem ens realissimum bzw. dem transzendentalen Ideal als der Einheit der limitierten Realitäten. Die Teilräume sind Teile eines Homogenen und daher mit dem Ganzen völlig gleichartig: folglich ist das Ganze ein Inbegriff aller Teilräume, die lediglich durch die verschiedene Limitierung eben dieses Ganzen entspringen. Bei den Realgehalten der endlichen Seienden bzw. Möglichkeiten sind weder die Teilrealitäten, die sie zusammensetzen, noch die;, durch ihre Limitierung von ihnen ausgeschlossenen Positionen untereinander homogen. Ein Ganzes aus solch inhomogenen Teilen ist als Inbegriff daher nur in der Form eines Compositum denkbar, das der Natur nach später ist als die Teile, d. h. als Aggregat, was aber eine ursprüngliche Einheit als Totum, das die Teile erst möglich macht, ausschließt. Daher kann hier das ursprüngliche Totum nicht als Inbegriff bzw. als omnitudo realitatum gedacht werden nach Art einer extensiven Größe, sondern nur als höhere Einheit der Teile im Sinn einer intensiven Größe, die die limitierten Realitätsgrade als Folgen aus sich entläßt. Für Kant konnte infolgedessen das Beispiel des Raumes nur als erste, rohe Skizze fungieren, um überhaupt den Grundansatz für den Schluß auf die alle Limitierung

1,1

Ebd. 103 f.

212

III. Teil

des Realen in den endlichen Dingen bedingende, ursprüngliche Totalität deutlich zu machen, ein Analogon, das sich deshalb zu diesem Zweck besonders eignete, weil hier die ursprüngliche Totalität und Einheit intuitiv gegeben war. Um zu zeigen, daß das transzendentale Ideal, d. h. der Gottesbegriff der transzendentalen Theologie Kants, trotz der gegenteiligen Thesen sowohl des Beweisgrundes wie der Kr. d.r. V., in Wahrheit nichts anderes als der spinozistische Gott der omnitudo realitatum oder des Inbegrifs aller Möglichkeiten sei, beruft sich der Autor in diesem Zusammenhang schließlich auf eine Stelle der Entwürfe der Preisschrift über die „Fortschritte der Metaphysik" aus der ersten Hälfte der 90er Jahre, wo Kant im Rahmen des zweiten Entwurfs eingehender auf die transzendentale Theologie der Vernunft und damit auch auf den transzendentalen Gottesbegriff zu sprechen kommt und seine Überlegungen mit den Worten beschließt: „Bei welcher Zimmerung einer Welt dieser metaphysische Gott (das ens realissimum) gleichwohl sehr in den Verdacht kommt, daß er mit der Welt (unerachtet aller Protestationen wider den Spinozismus), als einem All existierender Wesen, einerlei sei" 1 1 2 . Nun gegen das Argumentieren mit dieser Stelle läßt sich Verschiedenes einwenden: fürs erste polemisiert Kant dort offensichtlich gegen den Welt- und Gottesbegriff des Leibniz, wie aus seiner Kennzeichnung der Welt als bestehend aus Licht und Schatten, aus Realitäten und deren Negierung, hervorgeht, die auch das Böse und Übel in der Welt lediglich als Limitierung der Realität und damit als bloße Negation oder Abwesenheit von Realität auffaßt. Von diesem Leibnizschen Gott und seinem Verhältnis zu der so „gezimmerten" Welt sagt er, daß er sehr in Verdacht komme, eins mit dieser Welt selber zu sein. Damit ist aber nicht gesagt, daß die nach ihm ganz anders gezimmerte reale Welt mit all ihren Übeln und all ihrem Bösen, die für ihn durchaus positive Realitäten darstellten, auch in diesen Verdacht kommen könnte, mit dem ens realissimum real identisch zu sein, zumal wenn dieses als das höchste metaphysische Gut gedacht werden muß. Das ist aber nicht der einzige Einwand. Ein weiterer besteht in dem Hinweis, daß es sich hier nur um vorläufige Entwürfe einer geplanten Ausarbeitung handelt, in denen Kant zunächst nur bestimmte, ihm besonders wichtig erscheinende Aspekte seiner Lehre hervorgehoben, andere dagegen mehr im Hintergrund gelassen haben kann. Letzteres könnte z.B. der Fall sein bei dem Element der positiven Funktion des transzendentalen Gottesbegriffs bzw. der transzendentalen Theologie, die er als das unentbehrliche oberste Kriterium aller anderen Theologie, einschließlich der „Moraltheologie", im 7. Abschnitt des dritten Hauptstücks der Dialektik bezeichnet hatte: um nämlich den Anthropomorphismus des Gottesbegriffs zu verhüten. Diese Funktion ist in den Fragmenten der späten Preisschrift gewiß nicht thematisch herausgearbeitet, aber sie kommt doch wiederholt in ihnen, wenn auch nur kurz, zur Sprache, und zwar gerade in dem Sinn, daß der transzendentale Gottesbegriff als Grund der limitierten Realitäten der Dinge zu denken ist, und also nicht als deren Inbegrif: „Das Urwesen, als das höchste Wesen (realissimum), kann entweder als ein solches gedacht werden, daß es alle Realität als Bestimmung in sich enthalte. - Dies ist für uns nicht wirklich, denn wir kennen nicht alle Realität rein,

112

KGSXX, 302

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 213 wenigstens können wir nicht einsehen, daß sie bei ihrer großen Verschiedenheit allein in einem Wesen angetroffen werden könne. Wir werden also annehmen, daß es ens realissimum als ein Grund sei, und dadurch kann es als Wesen, was uns gänzlich nach dem, was es enthält, unerkennbar ist, vorgestellt werden" 113 . Die eben erwähnte Kriteriumsfunktion im Zusammenhang mit der Entscheidung für das ens realissimum als Grund und nicht als Inbegriff kommt in den folgenden kurzen Bemerkungen deutlich zum Ausdruck: „Von Bestimmung des Begriffs von Gott nicht als Inbegriff, sondern Grund aller Realität, sonst ist es Anthropomorphismus" 114 . ,,Von der Einheit Gottes, daß er namenlos sei, denn seine Qualität und Quantität ist nur die einzige... Von dem Aggregat der Realitäten, woraus der Anthropomorphismus. Von der Vorstellung Gottes nach der Analogie.. , " " 5 ,,Vom Anthropomorphismus in der Vorstellung des realissimi als Aggregats. Ich brauche ihm alsdann nicht Verstand ( . . . ) und Willen zu erteilen, sondern es ist der Grund alles dessen, was wir nicht anders als durch Verstand möglich denken, und so auch vom Willen'" "'. Es ist also in diesen Entwürfen zur späten Preisschrift durchaus der Gedanke enthalten, daß der transzendentale Gottesbegriff des Ideals dazu erforderlich ist, um den Anthropomorphismus in der Gotteserkenntnis zu vermeiden, daß er aber diese Funktion nicht erfüllen kann, wenn das ens realissimum als Inbegriff und Aggregat der Weltrealitäten, sondern nur, wenn es als transzendenter Grund derselben gedacht wird, dessen Quantität und Qualität mit den letzteren, auch nicht mit deren höchsten, gleichartig, sondern nur analog ist. Aber über das hier Gesagte hinaus gibt es noch einen dritten Einwand gegen die Verwendung der obigen Stelle in dem vom Autor intendierten Sinn: die Interpretation früher vorkritischer Positionen Kants durch Dokumente seiner Spätzeit; denn das wäre nur möglich unter der Voraussetzung, daß Kant nach 30 Jahren in diesem bestimmten Punkt seiner Lehre noch dieselbe Auffassung vertreten habe wie 1762. Auf Anhieb aber lassen sich zwei grundlegende Entwicklungen in diesem langen Zeitraum anführen, die gegebenenfalls als Motive der Beurteilung des ens realissimum in dem von Laberge angenommenen Sinn in Frage kämen, d. h. die ihm den Gedanken des ens realissimum als Inbegriff diskutabler hätten erscheinen lassen können, als zur Zeit des Beweisgrundes. Das ist fürs erste die Tatsache, daß er seit der Zeit des Kritizismus die Lehre vom objektiven Seinscharakter von Raum und Zeit als zum Spinozismus führend betrachtet hat, wie sowohl aus der der 2. Auflage der Kr. d. r. V. zugehörigen Schlußanmerkung IV zur transzendentalen Ästhetik (B 71) hervorgeht wie aus den späten Reflexionen zur Metaphysik, besonders deutlich R 6317, wo betont wird, daß die transzendentale Theologie zur ästhetischen Kritik hinführe, weil ohne die letztere Raum und Zeit zu „so notwendigen Bestimmungen a priori der Existenz der Dinge" würden, „daß sie nicht allein samt allen ihnen anhängigen Folgen Bedingungen der Existenz der Gottheit, sondern wegen ihrer Unend-

113 114 1,5 116

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

330 342 348f. 350 f.

214

III. Teil

lichkeit, absoluten Notwendigkeit gar zu göttlichen Eigenschaften gemacht werden müßten" 117 . Der zweite Umstand aber, der grundlegend die spätere Deutung des ontolpgischen bzw. transzendentalen Gottesbegriffs bestimmt, ist der Fortschritt vom obersten Realgrund der Materialgehalte des Möglichen zur Lehre vom transzendentalen Vernunftideal, weil erst vom Standpunkt des letzteren überhaupt der Gedanke einer spinozistischen Auffassung des ens realissimum aufkommen konnte. In der Tat beruft sich Kant an der besagten Seile der späten Preisschrift, an der er den Verdacht einer spinozistischen Bedeutung des transzendentalen Gottesbegriffs ausspricht, als Grund der bezeichneten Leibnizschen Zimmerung der Welt auf die Notwendigkeit, daß unsere ontologischen Begriffe von Dingen den Begriff ν on einem allerrealsten Wesen zum Grunde legen müssen, weil man ihre negativen Bestimmungen nicht denken könne, ohne vorher die ihnen entgegengesetzten Realitäten gedacht zu haben, und beschließt diese Überlegung: , , . . . und so, wenn wir diese subjektive Bedingung des Denkens zur objektiven der Möglichkeit der Sachen selbst machen, alle Negationen bloß wie Schranken des Allinbegriffes der Realitäten, mithin alle Dinge, außer diesem einen ihrer Möglichkeit, nur als von diesem abgeleitet müssen angesehen werden" 118 . Der Gedanke einer spinozistischen Deutung des ens realissimum wird also hier ausdrücklich auf die Übertragung der Bedingung der Möglichkeit unserer Begriffe von den (endlichen) Dingen auf die der Möglichkeit dieser Dinge selbst zurückgeführt. Sie gilt demnach auch im Sinn dieser Kantischen Stelle selbst (in der bezeichneten Art eines Verdachts) nur vom transzendentalen Ideal im strengen Sinn, wie es in Abschnitt II des 3. Hauptstücks der Dialektik entwickelt wird, nicht aber für den Standpunkt der Ontotheologie des frühen vorkritischen Kant, d. h. des Kant der Nova Dilucidatio und des Beweisgrundes, der von den Realgehalten der möglichen Dinge im Sinn Baumgartens auf ein notwendig existierendes Prinzip derselben schließt. Von diesen letzteren Voraussetzungen aus behält offenbar der Gedankengang der Argumentation Kants in Abschnitt II des dritten Hauptstücks der Dialektik: daß nur ein einziges Urwesen, in dem alle Realitäten in höchster Einfachheit vereinigt sind und das deshalb nur als Grund der limitierten Möglichkeiten der endlichen Dinge denkbar ist, seine ursprüngliche und ungebrochene Durchschlagskraft, weil hier im Beweisgrund jene Homogeneität zwischen dem Begriff ens realissimum und den Begriffen der möglichen (endlichen) Dinge als limitierter Realitäten und damit sozusagen jene Einschmelzung der so verschiedenen Realgehalte der Möglichkeiten in den einförmigen Begriff von Realität noch nicht erfolgt war, der sich mit der Transponierung des ganzen Verhältnisses auf die bloß begriffliche Ebene notwendig ergeben mußte. Mit dem Gedanken einer Begründung der unendlich verschiedenen Inhalte des bloß Möglichen in einem ursprünglich und unbedingt Daseienden ist vielmehr natürlicherweise der Gedanke verbunden, daß diese verschiedenartigen Realgehalte im begründenden Prinzip in einer höheren Einheit verbunden sind, wie es im Begriff einer intensiven Größe im Unterschied zu einer extensiven ge-

117 118

Ebd. XVIÏI, 626 f. Ebd. X X , 302 (kurs. Verf.)

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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dacht wird. Damit wird eo ipso das ens realissimum zu einem Seienden, das nur nach Analogie mit den Realgehalten der möglichen Dinge verglichen werden kann" 9 . Ja diese ursprüngliche Konzeption der Ontotheologie des frühen vorkritischen Kant hat, wie mir scheint, auch auf der Entwicklungsstufe des transzendentalen Ideals so stark nachgewirkt, daß er dort nie das Verhältnis zwischen dem ens realissimum als Vernunftideal und den Begriffen der limitierten Realitäten im spinozistischen Sinn als bloß logisches Grund-Folgeverhältnis gedeutet bzw. als These vertreten hat. Nach Laberge hat Kant im Beweisgrund seine Ablehnung des transzendentalen Ideals im Sinne der omnitudo realitatum oder des Inbegriffs aller Realitäten mit den damit im Absoluten gegebenen Realoppositionen bzw. den daraus entspringenden Mängeln und Privationen begründet. In der Epoche des Kritizismus, in der dieser Grund nicht mehr verwendbar gewesen sei, sei an dessen Stelle ein anderer für eben jene Ablehnung getreten, nämlich die Notwendigkeit, das transzendentale Ideal als den Gottesbegriff der theoretischen Vernunft dem geistig-personalen der praktischen Vernunft anzugleichen, die für ihn nunmehr den entscheidenden Weg der Gotteserkenntnis darstellte. Diese Anpassung habe aber nur geschehen können um den Preis eines Gewaltstreichs ,,au prix du tour de force" l 2 0 , ein anderer Ausdruck für das, was er vorher als „virage brutal" bezeichnet hatte. Nun ist diese These von dem „tour de force" offensichtlich nur eine Konsequenz der Interpretation der Kantischen Ontotheologie als einer wesentlich auf den spinozistischen Gottesbegriff hinauslaufenden Argumentation. Aber soviel dürfte an dem hier entwickelten Gedanken des Autors richtig sein, daß auch das Motiv der Einheit des Gottesbegriffs der theoretischen und praktischen Vernunft neben den spekulativen Gründen, wie sie im Abschnitt II und VII des dritten Hauptstücks und in den Reflexionen des Nachlasses entwickelt werden, Kant bestimmt hat, nun auch das transzendentale Ideal nach dem Vorgang und Vorbild des ontotheologischen Schlusses des Beweisgrundes als Grund der limitierten Möglichkeiten der Dinge und nicht als deren Inbegriff zu denken. Damit haben wir uns mit der Grundthese Laberges in der Interpretation der Ontotheologie Kants zur Genüge auseinandergesetzt. Was er im folgenden noch zu diesem Thema bringt, in Abschnitt c) sowie in dem anschließenden Hauptteil B) unter dem Titel „Le souci créationniste de 1' argument ontothéologique. L' Allgenugsamkeit divine" ist demgegenüber nur mehr von untergeordneter Bedeutung. Denn das in c) über die vierte Betrachtung Kants Ausgeführte, ist aus zwei Gründen für die Beurteilung seiner Interpretation der Ontotheologie nicht mehr entscheidend: einmal weil diese 4. Betrachtung überhaupt nur mehr eine Ergänzung darstellt, die, wie wir gesehen haben, nicht mehr aus dem ontotheologischen Ansatz argumentiert, so daß folglich auch die Analyse dieser Beweisergänzung die grundlegende Interpretation der Ontotheologie des Beweisgrundes nicht mehr beeinflußt; ferner weil Laberge auf Grund seiner Interpretation der letzteren die Analyse der 4. Betrachtung vor allem darauf konzentriert, was Kant hier hätte eigentlich tun müssen, was seine eigentliche Aufgabe gewesen wäre: „Au total cependant, Kant

1,9 120

Vgl. Ebd. X V I I , 549:R 4444 Laberge, op. cit. 105 f.

216

III. Teil

n'eprouve aucune difficulté de parvenir a sa conclusion (nämlich die Geistnatur Gottes). La difficulté, en effet, η' est pas de prouver que 1' étant absolument nécessaire est esprit, mais de prouver qu' il ne possède pas 1 étendue . . . Kant ne dit cependant pas que l'entendue n' est pas susceptible du plus haut degré de realité" 121 . Das heißt im Klartext: Die eigentliche Aufgabe Kants der 4. Betrachtung wäre von seinem Ziel aus gewesen, nicht die Geistigkeit Gottes zu beweisen, was kein besonderes Problem darstellen konnte, sondern zu beweisen, daß das notwendig Seiende nicht ausgedehnt sein kann, etwa weil die Ausdehnung des höchsten Grades der Realität unfähig sei, wie Leibniz argumentierte. Vermutlich aber habe Kant auch hier den Gedanken im Kopf gehabt, daß die Materie als Feld der Realoppositionen als Bestimmung des absolut Notwendigen ausscheiden müsse. Der hier angedeutete Mangel der Darbietung tritt dann in der Interpretation Laberges noch stärker hervor in dem, was er im 2. Teil dieses Kapitels (B) über das kreatianistische Anliegen Kants ausführt: nach ihm entwickelt der Philosoph seinen kreatianistischen Standpunkt bzw. seinen Beweis des Kreatianismus im Beweisgrund in ausgesprochenem Gegensatz zur Position des Leibniz, also als Antileibnizianismus, und nicht, wie man erwarten müßte, im Gegensatz zur Position des Spinoza, also als Antispinozismus, ein Mangel, den die Interpretation supplieren müsse. ,,Le maleur est que Kant situe sa position par rapport à celle de Leibniz, alors que 1' opposition Grund-Inhegriff nous ferait préférer une confrontation avec Spinoza, à 1* absence de laquelle nous devrons suppléer'" 2 2 . Nun, das ist merkwürdig genug, wenn man mit dem Autor annimmt, Kants spezifisches Bestreben und Ziel im Beweisgrund sei es gewesen, den wesenhaft spinozistischen Charakter des Arguments der Nova Dilucidatio mit Hilfe der Lehre von dei} negativen Größen zu überwinden und es auf diese Art zu einem Argument für das Dasein eines welttranszendenten theistischen Gottes umzugestalten. Denn dann muß man ihm folgerichtig unterstellen, er habe dies ungeschickterweise dadurch erreichen wollen,\ daß er statt des Gegensatzes zu Spinoza den zu Leibniz herausarbeitete, der doch in puncto Welttranszendenz Gottes nicht sein Gegner war. Ist es denkbar, so fragen wir, daß Rant, wenn er im Beweisgrund wirklich das eben bezeichnete Ziel als Hauptanliegen verfolgt hätte, auf den Gegensatz zu Spinoza überhaupt nicht ausdrücklich eingegangen wäre? Kant, so meinen wir, müßte in der Tat nicht nur ein Philosoph von mäßigen Qualitäten gewesen sein, wenn die ihm von Laberge und anderen im Beweisgrund unterstellten Fehlschlüsse wirklich auf sein Konto gingen, sondern auch ein wenig befähigter Autor und Schriftsteller, wenn er in der Darstellung seines Standpunktes die entscheidende Gegenposition überhaupt nicht erwähnt und statt dessen sich von einer anderen distanziert hätte, die sich nur partiell von der eigenen unterschied. Im allgemeinen ist es so, daß die Interpreten gerade dieses Grundtyps, wenn überhaupt, dann nur summarisch auf die zweite Abteilung des Beweisgrundes eingehen, obwohl diese, wie gesagt, etwa 3/4 des Raumes der ganzen Abhandlung einnimmt, und zwar deswegen, weil sie ihr offenbar wenig Bedeutung für das eigentliche Anliegen der

121 122

Ebd. 106 Ebd. 109

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Schrift: die einzig mögliche Demonstration des Daseins Gottes, zuschreiben. Daher kommt es, daß sich ihnen ein fundamentales Interpretationsproblem der Schrift überhaupt nicht stellt, nämlich das der literarischen Einheit der Abhandlung als ganzer, d. h. das Problem, wie Kant überhaupt diese außerordentlich umfangreiche zweite Abteilung als wesentlichen Teil in die Thematik des einzig möglichen Beweisgrundes einbeziehen konnte bzw. einbezogen hat. Wenn der einzig mögliche Beweisgrund ein Argument ist, das von den Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, des Gedanken, auf die absolut notwendige Existenz eines Gegenstandes des Denkens schließt, wie Reich, Henrich, Laberge und, wie wir sehen werden, auch Redmann und Moreau die Ontotheologie Kants interpretieren, dann ist nicht mehr einzusehen, wie diese ganze Abteilung mit ihrem Gegenstand der verbesserten Physikotheologie, deren Grundansatz nicht die Möglichkeit des Denkens ist, sondern ganz offensichtlich die Wesenheiten bzw. Möglichkeiten der Dinge, einen integralen Teil der Titelthematik dieses Werkes bilden soll. Wenn die obige Interpretation des ontotheologischen Arguments richtig wäre, käme man nicht herum, Kant den Vorwurf zu machen, er habe hier zwei wesentlich verschiedene Beweisgänge auf einen Nenner zu bringen versucht, die sich schlechterdings nicht auf einen Nenner bringen lassen, m. a. W., er habe in dem weitaus größten Teil der Abhandlung über einen Gegenstand gehandelt, der in Wahrheit gar nicht zum Thema gehört. Aber während der frühe Reich, Henrich und Moreau sich überhaupt nicht einlassen auf diese zweite Abteilung (und damit einer der größten Schwierigkeiten gegen ihre Interpretation des ersten Teils aus dem Wege gehen), ist die Situation bei Laberge insofern wesentlich anders, als die umfassende Thematik seines Werkes eine ausführliche Behandlung der Physikotheologie des Philosophen und damit eo ipso auch dieser Abteilung des Beweisgrundes verlangte. Die Art und Weise nun, wie er von der Voraussetzung seiner Interpretation der ersten Abteilung aus das Problem der literarischen Einheit der Abhandlung bzw. des Verhältnisses der zweiten zur ersten Abteilung zu lösen versucht, ist nur verständlich, wenn man den größeren Rahmen ins Auge faßt, in dem diese zweite Abteilung des Beweisgrundes in seinem Werk steht, nämlich den der Gesamtthematik der Physikotheologie des vorkritischen Kant. Für den Autor geht es in diesem Zusammenhang vor allem darum, ob und wieweit Kant jeweils mit der Physikotheologie einen apodiktischen aposteriorischen Gottesbeweis angestrebt bzw. geliefert hat, wobei in seiner Sicht das entscheidende Kriterium eines solchen in dem von dieser Basis aus geführten apodiktischen Beweis des Optimismus: daß unsere Welt die beste aller möglichen ist, liegt, also in einer aposteriorischen Lösung des Theodizeeproblems, obwohl dieser Gesichtspunkt bei Kants selbst sehr im Hintergrund bleibt und nirgends thematisch herausgearbeitet wird. Das Verhältnis der verschiedenen Formen des physikotheologischen Arguments ist nach dem Autor bei Kant nun so, daß dieser zunächst in der Vorrede zur Naturgeschichte und in diesem Werk selbst einen apodiktischen aposteriorischen Gottesbeweis auf Grund der sich aus dem notwendigen, gesetzmäßigen Wirken der Natur ergebenden Nützlichkeiten und Zweckmäßigkeiten für den Menschen liefern zu können glaubte, und damit ineins den aposteriorischen Beweis des Optimismus im bezeichneten Sinn. Es ist nach Laberge ein Beweis par la finalité et pour la finalité und insofern mit jener Physikotheologie verwandt, die er dort als die ge-

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III. Teil

wohnliche der Verteidiger der Religion bekämpft. Denn sein Ausgangspunkt ist das notwendige Wirken der Natur nach den Wesensgesetzen der Materie und dessen grundsätzlich finale Abzweckung auf den Nutzen des Menschen bzw. des Vernunftwesens, das auf einen weisen und gütigen Schöpfer der Materie und nicht bloß auf einen weisen Ordner derselben schließen läßt, im Unterschied zur gewöhnlichen Physikotheologie, nach der das sich selbst überlassene Wirken der Materie nur Chaos und Unordnung bewirken kann und die daher alle Zweckmäßigkeit der Natur für den Menschen auf eine positive Veranstaltung der göttlichen Weisheit zurückführt. In ähnlicher Weise unterscheide Kant nun auch in der zweiten Abteilung des Beweisgrundes zwischen einer zweifachen Physikotheologie, einer gewöhnlichen in dem eben angedeuteten Sinn, die er hier mit den gleichen Argumenten bekämpft wie schon in der Vorrede zur Naturgeschichte, und einer verbesserten, die ausgehe von dem notwendigen Wirken der Natur nach den allgemeinen Gesetzen der Materie, vor allem im anorganischen Bereich. Aber der Autor erblickt, im Gegensatz zu wohl allen Interpreten der vorkritischen Theologie Kants, einen wesentlichen Unterschied zwischen dem in der Naturgeschichte skizzierten physikotheologischen Beweis aus dem notwendigen Wirken der Natur und dem im zweiten Teil des Beweisgrundes entwickelten verbesserten physikotheologischen Argument, wobei er darüber hinaus in den betreffenden Ausführungen dieser Abteilung eine doppelte Weise von verbesserter Physikotheologie gegeben sieht, die Kant selber nicht ausdrücklich unterschieden habe: einmal die des Philosophen, der bereits im Besitz der Ergebnisse des ontotheologischen Arguments ist und deshalb die physikotheologischen Untersuchungen im Licht derselben beurteilt, und eine verbesserte Physikotheologie des Bewußtseins, d.h. eine von den Resultaten der vorausgehenden Ontotheologie unabhängige Deutung der notwendigen Gesetzlichkeit der anorganischen Natur. Die erstere sei nicht eine Physikotheologie par la finalité, wie die gewöhnliche und die der Naturgeschichte, die von den feststellbaren Nützlichkeiten des Naturmechanismus ausgehe und von da unmittelbar auf einen weisen Urheber der Natur schließe, sondern eine Physikotheologie vers la finalité und pour la finalité, letzteres auf Grund der Ergebnisse der Ontotheologie: „nous chercherions, nous qui savons déjà que notre monde est le meilleur des mondes, comment notre monde est le meilleur des mondes". Demgegenüber ist die verbesserte des Bewußtseins eine Physikotheologie, die sich durch die Untersuchung der notwendigen Gesetzlichkeit der Natur und die damit gegebene, sich immer mehr verbreitende Erkenntnis der Harmonie der in ihr verwirklichten Wesenheiten einer Demonstration a posteriori des Optimismus bzw. der Existenz Gottes als des obersten Grundes aller Möglichkeiten mehr und mehr annähert, aber eben nur objektiv und der Sache nach, d. h. ohne ein Wissen davon zu haben und auch ohne dieses Ziel je erreichen zu können: es ist eine Physikotheologie weder par noch pour, sondern nur vers la finalité. Mit dieser Unterscheidung (zwischen der verbesserten Physikotheologie des Philosophen und der des Bewußtseins) glaubt Laberge nun auch eindeutig das Verhältnis zwischen dem argumentum ex commercio substantiarum der Nova Dilucidatio und der verbesserten Physikotheologie der zweiten Abteilung des Beweisgrundes bestimmen zu können: daß nämlich das erstere der Substanz nach identisch sei mit dem physikotheolo-

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 1 9

gischen Argument des Bewußtseins in der letzteren123. Ja wir vermuten, daß die Möglichkeit einer Identifizierung beider Gedankengänge der eigentliche Grund für Laberge gewesen ist, die Unterscheidung zwischen der Physikotheologie des Philosophen und der des Bewußtseins überhaupt in die Kantische Vorlage, die nichts von ihr weiß, einzuführen. Soviel über die Grundzüge der Labergeschen Interpretation der physikotheologischen Lehre Kants. Wir mußten uns deren wichtigste Thesen vergegenwärtigen, um die Problemsicht des Autors zu verstehen, unter der er die zweite Abteilung des Beweisgrundes bzw. die dortige Lehre von der verbesserten Physikotheologie betrachtet und analysiert. Es kann nun hier nicht unsere Aufgabe sein, im einzelnen Stellung zu nehmen zu dem Standpunkt des Autors, daß Kant in der Naturgeschichte die (verbesserte) Physikotheologie auf Grund der notwendigen Naturgesetzlichkeit als einen sich selbst genügenden aposteriorischen Gottesbeweis im Sinne einer apodiktischen Demonstration und damit auch eines stringenten Beweises des Optimismus intendiert und durchgeführt habe. Für uns geht es hier näherhin allein um seine Interpretation der verbesserten Physikotheologie der zweiten Abteilung des Beweisgrundes und das in ihr angenommene Verhältnis derselben zur Ontotheologie der ersten Abteilung. Unsere diesbezüglichen Thesen sind nun folgende: 1. Die Verbindung der zweiten Abteilung des Beweisgrundes mit der Ontotheologie der ersten kann in der Voraussetzung der Interpretation Laberges nur eine äußere sein, die lediglich aus der Personalunion des Physikotheologen und Ontotheologen resultiert; die Ontotheologie vermag aber unter diesen Umständen nicht mehr das für die Physikotheologie zu leisten, was ihr Laberge zuschreibt; 2. nach Kants eigenem Verständnis ist die Physikotheologie grundsätzlich nicht zureichend zu einem aposteriorischen Gottesbeweis im Sinn einer Demonstration des Daseins Gottes und des Optimismus, und zwar in dem radikalen Sinn, daß der Begriff einer aposteriorischen Demonstration in sich absurd ist, was die Grundvoraussetzung der Interpretation Laberges aufhebt; 3. das argumentum ex commercio substantiarum ist nach Kant ein wesentlich anderer Gedankengang als das physikotheologische Argument des Bewußtseins im Sinne von Laberge. Diese Thesen gilt es nun im einzelnen zu beweisen. Was zunächst unsere Behauptung betrifft, auf Grund der Interpretation Laberges könne es keine innere Einheit bzw. Verbindung zwischen der ersten und zweiten Abteilung geben, so erhellt dies daraus, daß nach dieser Deutung das ontotheologische Argument des ersten Teiles einen substantiell anderen Möglichkeitsbegriff zugrunde legt als die zweite Abteilung: die „innere Möglichkeit", von der nach Laberge (und Henrich) das ontotheologische Argument ausgeht, auf der es aufbaut und von der es getragen ist, ist die Möglichkeit des Denkens, des Gedankens, daß es Denken geben kann, wobei ein notwendig Seiendes als letzte Bedingung dieser Möglichkeit erschlossen wird. In der verbesserten Physikotheologie Kants geht es demgegenüber ausschließlich um die aus den notwendigen Wesensgesetzen der Natur erkennbaren ontologischen Wesenheiten und Möglichkeiten der Dinge und deren Einheit

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Ebd. 134 f.

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III. Teil

und Harmonie, bzw. um die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit dieser Einheit und Harmonie. Daraus ergibt sich, daß Kant nach dieser Interpretation seiner Ontotheologie in der ersten und zweiten Abteilung des Beweisgrundes von wesentlich verschiedenen Dingen, nämlich einmal von der letzten notwendigen Bedingung des Denkens, und das andere Mal von der letzten notwendigen Bedingung der ontologischen Möglichkeit der Dinge, handelt, und das bedeutet, daß der Abhandlung die literarische Einheit fehlt, daß die ganze umfangreiche, 3/4 ihres Raumes füllende zweite Abteilung über den verbesserten physikotheologischen Beweis aus dem Titelthema des einzig möglichen Beweisgrundes herausfällt. Man kann deshalb schwer verstehen, wie Laberge die abschließende Charakterisierung des ontotheologischen Arguments am Ende der ersten Abteilung und die von Kant bezeichneten Konsequenzen desselben hinsichtlich der Einheit und Harmonie der Wesenheiten der Dinge ohne weiteres für seine Interpretation der Ontotheologie Kants beanspruchen kann, ohne dabei ein Gefühl von „malaise" 124 zu haben; denn Kant spricht hier, wie übrigens auch in der ganzen Abteilung III, von seinem ontotheologischen Beweis mit größter Unbefangenheit so, als ob es sich um ein Argument handle, das von der ontologischen Möglichkeit der Dinge ausgehe, ebenso wie das verbesserte physikotheologische (was ja in der Tat auch der Fall ist). Auf diesem schwankenden Grund errichtet nun Laberge die Brücke von der ersten zur zweiten Abteilung, indem er diese abschließenden Ausführungen der ersteren über das ontotheologische Argument in dem Sinn interpretiert, das uns dieses offenbare, und zwar a priori, was eine aposteriorische Demonstration des Daseins Gottes bzw. eine aposteriorische Begründung des Optimismus und damit eine aposteriorische Theodizee zu leisten hätte und worin sie bestehen müßte. Aber es lasse sich daraus zugleich erkennen, daß es ein solches Argument im Grunde nicht geben kann, weil unsere Kenntnis der Welt notwendig unvollständig bleiben muß; folglich könne die verbesserte Physikotheologie sich nur immer mehr und mehr dem Ziel einer aposteriorischen Demonstration annähern, aber sie nie erreichen: ,,D' abord puisque telle devrait être une démonstration a posteriori de l'unique existence nécessaire et de l'optimisme, il faut y renoncer. On ne pourra que s' approcher d'une telle démonstration et s' approcher d'une démonstration, ce n' est pas démontrer 125 . Es ist klar, daß Laberge damit den Rahmen abstecken will für seine Interpretation der beiden Formen der verbesserten Physikotheologie Kants: für die des Philosophen und die des Bewußtseins. Nur daß man bei Kant nichts findet von einer derartigen Absicht, a priori das Wesen einer aposteriorischen Demonstration zu bestimmen, ebensowenig wie man etwas bei ihm findet von der eigenartigen Unterscheidung zwischen diesen zwei Arten von verbesserter Physikotheologie. Man kann aber leicht erraten, aus welchen Gründen der Autor sowohl den Rahmen seiner Interpretation der verbesserten Physikotheologie des Beweisgrundes so absteckt, wie auch, warum er zwischen diesen beiden Arten

124

Vgl. ebd. 102

125

Ebd. 121

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 2 1

derselben unterscheidet. Nach dem Autor hat Kant in der Naturgeschichte versucht, den Optimismus direkt und in stringenter Weise aus den für den Menschen günstigen Wirkungen des Naturmechanismus zu beweisen und so das Theodizeeproblem auf aposteriorischem Weg zu lösen, was er in der Folge als Fehlschlag erkannt habe: er habe eingesehen, daß die Physikotheologie, auch die von dem anorganischen Naturwirken ausgehende, als autonomes und selbständiges Argument nie das leisten kann, was eine aposteriorische Demonstration des Daseins Gottes und damit auch des Optimismus leisten müßte. Demgegenüber sehe Kant nun die Situation der Physikotheologie im Beweisgrund in einem günstigeren Licht: insofern nämlich durch das ontotheologische Argument sowohl das Dasein Gottes wie der Optimismus a priori bewiesen und das Theodizeeproblem a priori gelöst, zugleich aber von hier aus ein Doppeltes deutlich geworden sei: einmal, daß ein aposteriorischer Gottesbeweis als strikte Demonstration sowohl des notwendig existierenden Wesens wie auch des Optimismus von den Wesenheiten der Dinge aus an sich möglich wäre, dann aber auch, daß die Physikotheologie dieses Ziel de facto niemals erreichen, sondern sich ihm nur immer mehr annähern kann. Auf Grund der Ergebnisse des apriorischen Beweises könne der Philosoph seine physikotheologischen Untersuchungen auf dieses Ziel hinordnen, indem ihm in zunehmendem Maße offenbar werde, wie in concreto der Optimismus im Naturwirken verwirklicht ist. Er wisse aber zugleich auch, daß sich die von den Ergebnissen der Ontotheologie unabhängige Physikotheologie des Bewußtseins, ohne selbst darum zu wissen, objektiv auf dieses Ziel hinbewegt, ohne es ihrerseits jemals erreichen zu können. Was nun die allgemeine Voraussetzung dieser Interpretation der zweiten Abteilung des Beweisgrundes angeht, so wird man es dem Autor schwerlich abnehmen, daß Kant sich 1755 so wenig der Bedingtheit und des weithin hypothetischen Charakters seiner in der Naturgeschichte entwickelten Thesen bewußt gewesen sei, daß er glauben konnte, darauf einen apodiktischen aposteriorischen Gottesbeweis errichten und damit auch eine aposteriorische Demonstration des Optimismus ableiten zu können, nachdem er nicht lange vorher gegen den Optimismus des Leibniz eingewendet hatte: „Mich dünkt, ein Epikur würde... antworten: Wenn die Übereinstimmung, die ihr in der Welt wahrnehmt, euch eine anordnende Weisheit als die Urheberin zu beweisen scheinet, so müßt ihr gestehen, daß die Welt dem größten Teile nach von dieser nicht abhängt, weil sie allenthalben mehr als der Hälfte nach Ungereimtheiten und widerwärtige Abweichungen in sich enthält" >2(\ Konnte ein Mann, der das Negative der Welt in dieser Weise sah und kennzeichnete, überhaupt auf den Gedanken kommen, aus den feststellbaren, für den Menschen günstigen und zweckmäßigen Folgen des notwendigen Naturwirkens unmittelbar und stringent auf die durchgehende Finalität des Naturmechanismus im Hinblick auf das Vernunftwesen und damit auf die Welt als beste aller möglichen Welten schließen zu können, ohne zu merken, daß man ungezählte Folgen aus dem notwendigen Wirken der Natur als Gegenbeweise gegen diese unmittelbar finalistische Deutung des Naturmechanismus anführen kann?

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KGS XVII, 238 (R 3705)

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III. Teil

Was aber seine Interpretation der verbesserten Physikotheologie des Beweisgrundes betrifft, so scheitert sie an dem einen Punkt, den der Autor infolge des Mangels einer durchgehenden genauen Analyse des ersten Teils offenbar übersieht: daß nämlich nach den Prinzipien, mit denen Kant hier argumentiert, eine aposteriorische Demonstration des notwendigen Daseins ebenso grundsätzlich unmöglich ist wie der darin beschlossene aposteriorische apodiktische Beweis des Optimismus, m. a. W., daß sie nicht nur deswegen undurchführbar ist, weil unsere Erkenntnis der Welt immer beschränkt ist, sondern weil man von der Erkenntnis des Existierenden aus grundsätzlich keine Demonstration des notwendigen Wesens gewinnen kann. Auch die frühe R 3712 spricht das übrigens deutlich aus 127 . Für Kant ist es der entscheidende, ja einzig mögliche Grund, auf ein absolut notwendiges Dasein zu schließen, daß sein Nichtsein alle Möglichkeit des Seins aufheben würde und das absolute Nichts, das nihil negativum im Sinn der Aufhebung der Möglichkeit aller Möglichkeiten, zur Folge hätte. In der existierenden Welt sind aber nicht notwendig alle Möglichkeiten des Seins verwirklicht, ja Kant geht offensichtlich von der gegenteiligen Auffassung aus, wie wir sahen. Da nun das absolute Nichts als die Aufhebung aller Möglichkeit von Wesenheiten oder Möglichkeiten des Seins den ausschließlichen Hebel des Schlusses auf ein absolut notwendiges Dasein bildet, ist damit unmittelbar gegeben, daß ein aposteriorischer Ansatz (der nur von der tatsächlich existierenden Welt ausgehen kann) prinzipiell keinen Zugang zu einer Demonstration des absolut notwendigen Daseins eröffnet, so daß der Gedanke einer aposteriorischen Demonstration des Daseins Gottes im spezifischen Sinn von Demonstration eine innere Unmöglichkeit darstellt. Es ist also ein Irrtum zu glauben, Kant habe in der Uberleitung von der ersten zur zweiten Abteilung, speziell im Schlußabsatz der ersten, a priori dartun wollen, worin eine aposteriorische Demonstration des Daseins Gottes bzw. des Optimismus bestehen würde, und er habe nur deswegen ihre tatsächliche Unerreichbarkeit angenommen, weil wir immer nur eine beschränkte Erkenntnis der Welt haben können. Die dort ausgesprochene Parallelität zwischen dem gelieferten apriorischen Beweisgang und einem entsprechenden aposteriorischen, der dort endige, wo der erste ausgegangen sei, muß also etwas grundsätzlich anderes bedeuten als diese vermeintliche Kennzeichnung einer aposteriorischen Demonstration des notwendig Daseienden: sie hat in der Tat keinen anderen als den schlichten Sinn, daß die in der wissenschaftlichen Erfahrung erkennbare Wesensordnung der Dinge eine aposteriorische Bestätigung des apriorischen Weges bedeute, die aber in ihrem entscheidenden letzten Schritt sich im Rahmen einer vernünftigen Annahme halten muß, weil die Erkenntnis der notwendigen Harmonie nur der Weltwesen grundsätzlich keine hinreichende Grundlage für einen zwingenden demonstrativen Schluß auf das notwendige Dasein darstellen kann. Damit verliert aber die Konstruktion Laberges, wie wir sie in der Unterscheidung der beiden verbesserten Physikotheologien und ihrer Wesens- und Sinnbestimmung vor uns haben, ihre Grundlage. Es rächt sich also auch für die Interpretation der Physikotheologie des Beweisgrundes der Mangel einer

127

Ebd. 252

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 2 3

genauen und durchgehenden Analyse der ersten Abteilung, die allein es ermöglicht hätte, den Grundgedanken des ontotheologischen Arguments, d. h. den entscheidenden Punkt des Beweises eines absolut notwendig Existierenden, exakt zu erfassen. Mit dieser Verkennung des Angelpunktes im ontotheologischen Schluß Kants und der sich daraus ergebenden Mißdeutung der Stellung der verbesserten Physikotheologie im Rahmen des Ganzen der Abhandlung hängt nun auch ein weiteres Mißverständnis der Interpretation des Autors zusammen: Ein wesentliches Motiv für die Unterscheidung Laberges zwischen den beiden verbesserten Physikotheologien war offenbar seine Absicht, das Verhältnis zwischen dem Argument der Gemeinschaft, dem argumentum ex commercio der Nova Dilucidano und der verbesserten Physikotheologie des Beweisgrundes eindeutig zu bestimmen; er geht dabei von der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß das erstere einen spezifisch physikotheologischen Gedankengang darstelle und daß folglich die Frage gestellt werden muß, in welchem Verhältnis es zu den übrigen Formen der Physikotheologie Kants stehe. Dieses nach ihm bisher im Grunde unbewältigte Problem 128 glaubt er dadurch überzeugend lösen zu können, daß er aus dem verbesserten physikotheologischen Argument des Beweisgrundes jene sozusagen reine, weil unabhängige Form herausdestilliert, die er die verbesserte Physikotheologie des Bewußtseins nennt, und mit dem argumentum ex commercio substantiarum identifiziert. Aber dieser Versuch muß an der Tatsache scheitern, daß dieses Argument der Nova Dilucidano wesentlich verschieden ist von dem der verbesserten Physikotheologie: denn dieses letztere ist ein Argument, das von den Möglichkeiten der Dinge der Welt und ihrer harmonischen Ubereinstimmung, wie wir sie aus den notwendigen Naturgesetzen und ihrer Einheit erkennen, ausgeht und auf ihr letztes Prinzip zurückschließt, und gerade darin ist es ein paralleler Gedankengang in umgekehrter Richtung zum ontotheologischen Argument. Das argumentum ex commercio dagegen ist formal ein Kontingenzbeweis, den Kant an die Stelle des Wölfischen argumentum a contingentia gesetzt wissen will ' 2 9 , es ist jene Form des Kontingenzbeweises, die er nach dem Zeugnis zahlreicher früher Reflexionen die ganze vorkritische Periode hindurch bis einschließlich der Dissertation von 1770 vertreten hat' 30 . Er beruht auf dem Gedanken, daß aus dem ontologischen Charakter der Substanzen der Welt als selbständiger Subsistenzen nicht einsichtig oder intelligibel ist, daß sie in einer notwendigen Wirkgemeinschaft untereinander stehen in dem Sinn, daß sie nur durch gegenseitige kausale Beeinflussung überhaupt zum Wirken übergehen können. Wenn folglich diese ihre eigenständige Subsistenz eine absolut ursprüngliche und unbedingte wäre, dann wäre es schlechterdings unverständlich, daß sie in ihrem Wirken aufeinander bezogen wären oder auch nur bezogen sein könnten. Folglich lasse sich ihre in der Erfahrung gegebene durchgängie dynamische Wirkgemeinschaft nur intelligibel machen durch die gemeinsame Abhängigkeit ihrer Subsistenz selbst von einer einzigen Ursache, die nicht selber Teil dieser Gemeinschaft ist, zu der also das Kausalverhält-

128 129 130

Vgl. Laberge, op. cit. 134 f. Vgl. KGS I, 414 (n.3) Ebd. II, 407f.

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III. Teil

nis nur einseitig, nämlich das einer reinen Dependenz ist, worin eben das Wesen der Kontingenz besteht. Das ist der grundlegende Gedanke des Arguments, der es wesentlich zu einem Kontingenzargument macht. Gewiß hat Kant diesen Gedanken noch weiter spezifiziert, daß nämlich auch die Abhängigkeit der Substanzen von einer gemeinsamen schöpferischen Ursache als solche und allein die Möglichkeit des commercium, der Wirkgemeinschaft der Weltsubstanzen, noch nicht zureichend erklärt, weil Substanz als solche eine selbständige und von anderen innerweltlichen Substanzen unabhängige Subsistenz besagt und damit auch als von einer ersten Ursache abhängige nicht schon eo ipso eine wesentliche Bezogenheit und Hinordnung zu anderen innerweltlichen Substanzen beinhaltet. Darum setzt die Schöpfung von Weltsubstanzen, die wir als aufeinander bezogen und als aufeinander notwendig angewiesen erfahren, voraus, daß sie als aufeinander bezogene ins Dasein gerufen und schon im Plan der Schöpfung aufeinander bezogen konzipiert wurden. Aber das ist schon nicht mehr der eigentliche fundamentale Kontingenzschluß selbst, sondern ein diesen ergänzender Gedankengang, der notwendig ist, um das Aufeinanderwirkenkönnen der Substanzen intelligibel zu machen. Gewiß ist in dem letzteren Schluß auch implizit der Gedanke enthalten, daß diese Aufeinanderbeziehung von solcher Art ist, daß sich daraus eine Harmonie des Wirkens bzw. Zusammenwirkens der Weltsubstanzen ergibt, weswegen Kant von einer daraus resultierenden „rerum harmonía universalis" spricht 13 '. Aber das betrifft einerseits nicht mehr den Kontingenzschluß selbst, der nur auf die ursprünglichste und fundamentalste Bedingung der Möglichkeit einer gegenseitigen kausalen Beeinflussung der endlichen Substanzen geht, andererseits ist diese aus dem gegenseitigen Einwirken resultierende Harmonie - und das ist hier der entscheidende Gesichtspunkt - wesentlich verschieden von jener, von der die verbesserte Physikotheologie Kants ausgeht: sie bezieht sich nämlich nur auf das Verhältnis existierender und wirkender Substanzen, und zwar auf alle Substanzen der Welt gleicherweise, geistige und materielle, organische und anorganische. Jene, von der das verbesserte physikotheologische Argument aus schließt, ist dagegen nur jene, die aus den Wesensgesetzen, aus den notwendigen Naturgesetzen des Materiellen erschlossen werden kann, nämlich eine Harmonie und Einheit der Wesen bzw. der Möglichkeiten der Dinge selbst. Der ganze Kontingenzschluß Kants würde ohne Einschränkung gültig bleiben, auch wenn es keine Harmonie der notwendigen Gesetzlichkeit des Naturwirkens gäbe, d. h. wenn die Natur so beschaffen wäre, wie sie die gewöhnliche Physikotheologie bzw. die traditionellen Verteidiger der Religion nach der Naturgeschichte voraussetzen. Die mit der Zuordnung der Weltsubstanzen durch ihre Schöpfung und Erhaltung gegebene rerum harmonía universalis ist daher etwas anderes als jene, von der die verbesserte Physikotheologie Kants ausgeht. Darum ist das argumentum ex commercio substantiarum auch nicht ein Schluß auf Gott als den Grund aller Möglichkeiten der Dinge und darum auch kein Schluß, der dem apriorischen der Ontotheologie entsprechen würde und das notwendige Dasein dieses Grundes in seiner Notwendigkeit begreifen ließe 132 . 131 132

Ebd. I, 415 (n.6) Vgl. ebd. II, 91

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 225 Die Labergesche Interpretation der (verbesserten) Physikotheologie des Beweisgrundes führt folgerichtig zu einer Schlußfolgerung, die der Autor im letzten Absatz seines analytischen Teiles unter dem Titel „Conclusion" als seine Kritik an der Kantischen Konzeption eines apodiktischen aposteriorischen (physikotheologischen) Beweises vorstellt, in seinem synthetischen Teil aber als letzte unauflösbare Schwierigkeit der zweifachen verbesserten Physikotheologie der Abhandlung133: daß nämlich dieses verbesserte physikotheologische Argument, auch wenn es bis zum Ende durchgeführt werden könnte, d. h. sein immanentes Ziel, den Aufweis der durchgehenden Harmonie der Wesenheiten der Welt mit dem auf das Gute gerichteten Schöpferwillen Gottes, erreichen würde, grundsätzlich nicht das leisten könnte, was es als ein Argument, dessen Wesensgestalt a priori vom ontotheologischen her entworfen und bestimmt ist, vor allem leisten müßte, nämlich die Allgenugsamkeit Gottes zu beweisen, d. h. daß Gott selber das Fundament und Prinzip der Möglichkeiten oder Wesenheiten ist. „Aber die Wesenheiten könnten auch noch in harmonischer Ubereinstimmung mit dem göttlichen Willen stehen, ohne daß Gott ihr Fundament wäre. Gott wäre dann gegenüber den Wesenheiten der Dinge in derselben Situation wie ein Demiurg im Hinblick auf eine Materie, die sich [restlos] den besten Plänen fügt, oder wie Huyghens gegenüber der Möglichkeit der Pendeluhr. Die für den Kantischen Kreatianismus so wesentliche Allgenugsamkeit läge dann nicht in der Reichweite eines aposteriorischen Gedankengangs, auch wenn er bis zu seinem Ende durchgeführt würde134. Im zweiten (synthetischen) Teil des Werkes Laberges wird dieses Versagen des aposteriorischen Gedankenganges noch mehr betont: Abgesehen davon, daß das physikotheologische Argument als solches des Bewußtseins nach dem Autor nicht einmal das Wissen haben könnte, sich auf eine überweltliche Intelligenz hinzubewegen, sondern im Gegenteil sich als auf einen Pantheismus hinauslaufend erfahren müßte, würde es auch als solches des Philosophen weit hinter dem wesentlichen Ziel, das Kant ihm gesteckt hat, zurückbleiben: „Es scheint uns, daß eine verbesserte Physikotheologie des Philosophen, die an ihr Ende gelangte, nur beweisen würde, daß die inneren Möglichkeiten mit dem höchsten Verlangen Gottes in Harmonie stehen. Man könnte damit noch nicht wissen, ob diese Harmonie begründet ist durch eine Fundierung der Möglichkeiten in Gott selbst oder durch eine bloße Kongruenz (coincidence). Leibniz wäre dann noch nicht widerlegt. Und weiterhin: weil nach der Definition des Beweisgrundes die absolut notwendige Existenz aller inneren Möglichkeit zugrunde liegen muß, könnte man auch nicht mehr [mit diesem Argument] auf die absolute Notwendigkeit einer Existenz schließen135. Nun, diese Kritik Laberges ist in Wirklichkeit nichts anderes als das Offenbarwerden des Scheiterns seiner Interpretation der Physikotheologie des Beweisgrundes; denn sie ist lediglich die Folge des doppelten Mißverständnisses, von dem diese ausgeht: einmal daß der Ansatzpunkt des ontotheologischen Arguments die Möglichkeit des Denkens sei, dann daß Kant das Verhältnis zwischen der ersten und zweiten Abteilung so gesehen habe, daß durch den ontotheologischen Weg a priori bestimmt werde, worin ein apodik133 134 135

Laberge, op. cit. 138f., 164 Ebd. 138f. Ebd. 163 f.

226

III. Teil

tischer aposteriorischer Beweis des Daseins Gottes bestehen müßte und daß er diesen letzteren, soweit es unsere immer beschränkte Kenntnis der Weltwirklichkeit ermöglichte, in der zweiten Abteilung durchgeführt habe. Hier zeigt sich noch einmal in ihrer alles beherrschenden und alles tragenden Rolle die Negierung oder Aufhebung aller Möglichkeiten des Seins als des absoluten Nichts von Möglichkeit überhaupt (nicht nur der in der gegebenen Welt verwirklichten), aus der sich sowohl die Notwendigkeit der Existenz und ineins damit die Allgenugsamkeit des Wesens Gottes ergibt und durch die zugleich der Begriff oder die Idee einer Physikotheologie als eines aposteriorischen apodiktischen Arguments für das Dasein Gottes radikal aufgehoben wird. Kant erweist sich hier einmal mehr seinen Interpreten und Kritikern an Logik und Scharfsinn überlegen.

B. Laberge beruft sich, außer auf die Interpretation Henrichs, vor allem auch auf die Redmanns'3'' als eine solche de la visée profonde de l'argument [ontothéologique]. Diese visée profonde ist nach ihm die des theistischen Schöpfergottes, die Kant im Beweisgrund gegen die kosmologische, im Grunde auf einen Spinozismus hinauslaufende Henrichs durchsetzen will. Da nun die Interpretation Redmanns über diesen kreatianistisch-theistischen Standpunkt, wie ihn Laberge feststellt, hinaus eine besondere, nämlich eine radikal theologische Variante jenes allgemeinen Interpretationstypus darstellt, der den Ansatz des ontotheologischen Arguments, das Prinzip der Möglichkeit, formal als Möglichkeit des Denkens bzw. des Gedankens auffaßt, und als solche, wie das Beispiel zeigt, auch bereits auf die Forschung einzuwirken beginnt, müssen wir uns im Rahmen dieses Kapitels auch eingehender mit ihr befassen, nicht zuletzt auch deswegen, weil sie uns geradezu ein klassisches Beispiel von methodisch fragwürdiger Interpretation darzustellen scheint, an der deren typische Fehler besonders deutlich hervortreten. Nach Redmann sind die bedeutendsten vorkritischen Schriften Kants, so die Kosmogonie, die Nova Dilucidatio, der Versuch über die negativen Größen, und, last not least, der Beweisgrund primär als offenbarungs- oder geschichtstheologische Werke konzipiert, d.h. als Werke, die von ausgesprochen theologischen Voraussetzungen ausgehen und eine ausgesprochen theologische Zielsetzung in dem bezeichneten spezifischen Sinn verfolgen. Die naturwissenschaftliche bzw. physikotheologische Thematik bleibe in der Kosmogonie von 1755 im Prinzip diesem primären Anliegen ebenso unter- und nachgeordnet wie die ontologisch-metaphysische in der Nova Dilucidatio und im Beweisgrund von 1762: sie diene in jedem Fall lediglich als Mittel des Ausdrucks und als Bestätigung seines dogmatischen Glaubens an den allmächtigen und allgenugsamen Schöpfergott, den creator ex nihilo, eines Glaubens, der entscheidend geprägt gewesen sei vom Kalvinismus seines Lehrers Stapfer. Dieser kalvinistische Begriff der creatio ex nihilo besage, daß Gott in der Schöpfung nicht eine in ihm als Möglichkeit gegebene Welt ins Dasein gerufen, 136

Horst-Günter Redmann „Gott und die Weh. Die Schöpfungstheologie der vorkritischen Periode Kants", Göttingen 1962

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 2 7 sondern auch die Möglichkeiten der D i n g e selber aus dem Nichts erschaffen hat, woraus sich ergebe, daß es keinerlei Gemeinschaft der Ähnlichkeit zwischen G o t t und Welt geben kann, daß diese in einem völlig analogielosen Verhältnis zu G o t t als dem ganz

ande-

ren steht. D a s aber bedeute, daß die polemische Spitze der genannten Schriften des vorkritischen Kant gegen jede F o r m des Emanatismus

gerichtet ist, d. h. gegen alle panthei-

stischen, logisch die Welt aus G o t t ableitenden Systeme, wie das Spinozas,

aber auch ge-

gen alle pantheisierenden, an Piatons und Augustins Ideenlehre orientierten, wie vor allem das geschichtlich so einflußreiche System des Leibniz,

der die Schöpfung im diame-

tralen Gegensatz zu Kant als Verwirklichung ewiger Ideen im Geiste Gottes auffaßte, die für seinen schöpferischen Willen eine von diesem unabhängige Notwendigkeit darstellten. K a n t habe in den genannten Schriften diese Leibnizsche A u f f a s s u n g von der Schöpfung, die in ihrer Weise alle an der griechischen Philosophie orientierten Theologien, einschließlich der des hl. T h o m a s , vertreten hätten, auf das schärfste

bekämpft und ihr die

Schöpfungslehre der kalvinistischen D o g m a t i k entgegengesetzt. Wenn in der Naturgeschichte

der Eindruck entstehe, daß er in der entschlossenen me-

chanistischen Erklärung der Welt nicht nur die okkasionalistische

Naturoffenbarungs-

lehre 1 3 7 der damaligen Theologen sowie N e w t o n s zu widerlegen beabsichtigte, sondern positiv aus ihr eine natürliche O f f e n b a r u n g Gottes, nämlich einen physikotheologischen Gottesbeweis und damit den Glauben an den Schöpfergott aus der Naturerkenntnis gewinnen wollte, so liege darin eine Inkonsequenz,

die sich einerseits aus seiner Verhaftung

an die Zeitströmungen des 18. Jahrhunderts und andererseits aus dem U m s t a n d erkläre, daß er sich seiner offenbarungstheologischen Voraussetzung und Zielsetzung nicht oder und nur unvollkommen bewußt war. D e n n schon 1755 (in der Naturgeschichte)

war der

Schöpfergott im Sinn der kalvinistischen Theologie Stapfers die ihn bewegende theologische Intention, ohne daß er sich zunächst des Widerspruchs bewußt war, daß das Wesen dieses seines Gottesgedankens mit seinem Verständnis von einer Naturoffenbarung

nicht

in Einklang z u bringen war. Kants auf der Naturoffenbarung basierende, traditionsgebundene Widerlegung des Atheismus (in der Naturgeschichte

und im Beweisgrund)

sei

daher auch wenig bedeutsam und original. D o r t dagegen, w o er seiner eigentlichen und ursprünglichen theologischen Intention folge, diene die Naturbetrachtung, d . h . die naturwissenschaftliche Analyse seiner der Physikotheologie übergeordneten Fragestellung lediglich als Mittel, nie als eigentliche Q u e l l e . So ziehe er denn auch im Beweisgrund 1763 die K o n s e q u e n z seines in der Kosmogonie

von

beginnenden Fragens, indem er dort die

N a t u r schlechthin als Offenbarungsfeld des allmächtigen Schöpfergottes seines Glaubens mit Entschiedenheit ablehne. D i e F r a g e : mußte nicht die fortschreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis auch folgerichtig einen Fortschritt in der aposteriorischen Gotteserkenntnis bringen in dem Sinn, daß sie über das Formprinzip der Welt hinaus auch auf die S c h ö p f u n g der Weltmaterie selbst schließen konnte? U n d war das nicht gerade das, was K a n t v o n seiner verbes137

Unter okkasionalistischer Naturoffenbarungslehre versteht der Autor jede Physikotheologie, die die Naturordnung auf eine unmittelbare Einrichtung dèr Weisheit Gottes zurückführt, d.h. nicht auf die immanenten Kräfte bzw. Gesetze der Materie selbst.

228

III. Teil

serten Methode der Physikotheologie erwartete? Diese Frage, sagt der Autor, muß entschieden verneint werden, wenn man von der angedeuteten Unsicherheit Kants hinsichtlich seines (Natur-) Offenbarungsverständnisses absehe und sich seine nicht Gott von der Welt, sondern die Welt von Gott her verstehende Fragestellung ins Gedächtnis rufe. Nicht die Naturwissenschaft habe bei ihm zur Theologie geführt, sondern sie sei im Dienst der Theologie gestanden, indem sie durch ihre Ergebnisse annähernd bestätigte, was die Theologie gefordert habe. Anders könne die Physikotheologie nicht verstanden werden; denn für sich genommen, vermöge die Naturwissenschaft, auch mit ihrer Erkenntnis von der formwirkenden Kraft der Materie, die Welt nicht in jener Zufälligkeit zu bestimmen, die sie als Schöpfung erkennen lasse und durch die sie von Gott als dem allmächtigen Schöpfer zeugen würde. Denn mit der wesenhaften Bindung der Form an den Stoff (und damit der Negierung derselben als der Welt vorhergehender Möglichkeiten im Geiste Gottes) und mit der Bindung des Stoffes an die Form (und damit der Negierung eines dem schöpferischen Wirken Gottes vorliegenden, von ihm unabhängigen Stoffes) werde zwar sowohl die Endlichkeit der Weltordnung wie auch die Zufälligkeit der Materie nachgewiesen; denn eine Ordnung erzeugende Materie setze in jedem Fall einen intelligenten Urheber voraus. Dabei zeige sich aber, daß die Naturwissenschaft der theologischen Intention unseres Philosophen nur ein Hilfsmittel sein konnte, da auf diesem Wege weder die Materie noch die Ordnung des Universums in ihrer Totalität als endlich und zufällig dargetan wurde (weil wir die Natur nur zu einem Teil erkennen), noch auch aus der so aufgewiesenen Zufälligkeit der Welt folgte, daß diese nicht nur irgendwie aus Gott sei, sondern aus ihm hervorgegangen sein mußte, ohne in ihm irgendwie enthalten zu sein, d. h. daß Gott in seiner Erhabenheit in einem schlechthin analogielosen Verhältnis zur Welt steht, wie es der Schöpfungsglaube des an der Stapferschen Dogmatik orientierten Kant verlangte. So habe dieser aus der vom Wesen seines Gottesgedankens her bestimmten theologischen Intention alle aposteriorisch (und apriorisch) begründete Theologie und damit sein eigenes Offenbarungsverständnis radikal in Frage stellen müssen. Gewiß spreche Kant von einer verbesserten Physikotheologie und verurteile auch die von ihm paränetisch anerkannte traditionelle Physikotheologie an einigen Stellen nur deswegen, weil sie die Zufälligkeit des Naturgeschehens für höchst nötig zum Beweis eines weisen Urhebers hielt. Diese Toleranz aber sei, wie gesagt, eine aus Befangenheit geborene Inkonsequenz; denn da Kant das Verhältnis Gott-Welt für schlechthin analogielos ansah, konnte keine Brücke vom Dasein der Dinge zum Dasein Gottes führen, und so mußte denn auch für sein Gottesverständnis der physikotheologische Beweis und letztlich alle aposteriorische Theologie zu einem „feineren Atheismus" führen. Die Erfahrung bzw. Erfahrungswissenschaft konnte also für ihn in Wahrheit nicht die Möglichkeit einer aposteriorisch begründeten Theologie, d. h. die Möglichkeit, auf analogem Weg zur Gotteserkenntnis zu gelangen, bedeuten, sondern lediglich als Mittel des Ausdrucks seiner dogmatisch bestimmten Schöpfungslehre fungieren. Den Zusammenhang der Physikotheologie Kants und seiner Ontotheologie sieht der Autor zunächst darin, daß das Scheitern des Versuchs, auf dem Offenbarungsfeld der Natur, d.h. auf aposteriorischem Weg zum Gott seines kalvinischen Glaubens zu kommen, ihn sozusagen in die Arme einer Vernunfttheologie getrieben habe. Die Tatsache

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 2 9 nämlich, daß der Philosoph trotz einiger freundlicher Konzessionen eine N a t u r o f f e n b a rung im G r u n d e scharf ablehnte, habe naturgemäß eine Krisis für sein Offenbarungsverständnis heraufbeschworen: die N a t u r o f f e n b a r u n g ablehnend und die ihm gemäße biblische Geschichtsoffenbarung nicht ausdrücklich bekennend, habe er darnach getrachtet, in der Vernunft

das Offenbarungsfeld seines Gottesgedankens zu sehen, wie aus dem ein-

leitenden Satz des Beweisgrundes

hervorgehe, der deutlich die Schwierigkeit erkennen

lasse, in die K a n t durch seine den Rahmen einer N a t u r o f f e n b a r u n g sprengende A u f f a s sung v o m Wesen Gottes gebracht worden sei. D a ß K a n t dieses Offenbarungsfeld in der Vernunft gesucht habe, sei jedoch wiederum ein von vornherein z u m Scheitern verurteiltes Bemühen gewesen, da der ontologisch begründete Gottesbegriff nicht mit seinem dogmatisch bestimmten in Einklang z u bringen war, und so sei es denn auch beim bloßen Versuch geblieben: werde doch der Vernunft ihre Eigenschaft, O f f e n b a r u n g Gottes zu sein, von ihm oft bis zur A u f h e b u n g eingeschränkt. Ungeachtet der ihn treibenden D y namik der biblischen Geschichtsoffenbarung bleibe aber bestehen, daß Kant, in dem O f fenbarungsverständnis seines Jahrhunderts befangen, jene Gottesoffenbarung der Vernunft angestrebt habe, eine Inkonsequenz ähnlich derjenigen, der N a t u r o f f e n b a r u n g abzusagen und ihr dennoch einen gewissen R a u m der Geltung zuzuerkennen. D e r A u t o r sieht sodann die wahre Funktion auch des apriorischen Gottesbeweises, entsprechend der des aposteriorischen b z w . physikotheologischen, bei K a n t darin, nicht eigentlich Weg der Erkenntnis des göttlichen Wesens oder auch nur des Daseins Gottes zu sein, sondern als Mittel zu dienen, seinem kalvinisch bestimmten Gottes- und Schöpfungsglauben A u s d r u c k z u geben b z w . im Rahmen des Möglichen zu bestätigen und vor allem die diesem entgegengesetzten Gottes- und Schöpfungsvorstellungen zu bekämpfen. D a s Mittel aber, durch das dieses Ziel von ihm erreicht werde, sei dem im Fall der Physikotheologie analog: dort war es die wesentliche Bindung der F o r m der Welt (ihrer O r d n u n g , Zweckmäßigkeit, Schönheit) an die Materie und umgekehrt der Materie derselben an die F o r m , woraus sich ihm die Endlichkeit und Zufälligkeit der Welt auch ihrer materiellen G r u n d s u b s t a n z nach ergeben hatte; bei der Ontotheologie sei es die wesenhafte Bindung der menschlichen Vernunft an eine vorgebene Existenz, die sie gundsätzlich als endliche und geschöpfliche erweise, indem sie ihr radikal die Möglichkeit benehme, der Bedingungen der Möglichkeit

der Existenz der Welt und damit ihrer S c h ö p f u n g

habhaft zu werden und sie gerade dadurch zur Erkenntnis und Anerkenntnis der Schöpferherrlichkeit Gottes und des Geheimnisses der S c h ö p f u n g führe. D i e These also, daß die ganze Weltordnung allein in der doppelten K r a f t der Materie (Anziehung und Zurückstoßung) ihren U r s p u n g habe, stehe so in einem tiefen Zusammenhang mit der anderen, daß alle menschliche Vernunfterkenntnis auf Beobachtung von Existierendem angewiesen, d. h. als solche wirklichkeitsgebunden sei. Diese A u f f a s s u n g stehe in diametralem Gegensatz zu der These Leibnizens von der an der unendlichen göttlichen Vernunft teilhabenden endlichen Vernunft, die so des Reiches der Wesenheiten als der der S c h ö p f u n g der Welt vorgängigen Möglichkeiten im göttlichen Verstand teilhaftig wird, während die Art und Weise, wie Kant die Vernunft als endlich und zufällig erweise, mit seinem Verständnis von G o t t als dem schlechthin erhabenen und allgenugsamen Schöpfer vollk o m m e n harmoniere. Kants physikotheologische und ontotheologische Problematik

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III. Teil

seien also zutiefst miteinander verwandt, wie denn auch seine Polemik gegen die okkasionalistische Theologie einerseits und gegen Descartes, die Griechen und alle von ihnen abhängige Theologie, wie vor allem die von Leibniz, aber auch die von Thomas von Aquin andererseits in einer gewissen Einheit zu sehen sei. Kant habe durch die vom Wesen seines Gottesgedankens her bestimmte theologische Intention alle aposteriorisch und apriorisch begründete Theologie und damit sein eigenes Offenbarungsverständnis radikal in Frage gestellt und stellen müssen. Damit ist nun auch die wahre Funktion der Ontotheologie Kants im Sinn Redmanns umschrieben: nämlich dem geschiehtstheologischen Offenbarungsglauben kalvinistischer Prägung als Mittel des Ausdrucks und der Bestätigung zu dienen und zugleich die die Vernunft als das eigentliche Offenbarungsfeld Gottes betrachtende, apriorisch begründete Theologie, wie sie ihm in der geschichtlichen Gestalt des Leibnizschen Systems vorlag, als dessen Gegenpol zu kritisieren und zu verwerfen. Nach dem letzteren werde das Gott-Weltverhältnis gemäß dem logischen Grund-Folgeschema verstanden, nach welchem die Welt als Möglichkeit vorhanden sein mußte, um von ihm verwirklicht werden zu können, was letztlich bedeute, daß die Dinge nicht nur mit Gott wesensverwandt sind, sondern auch ihren Ermöglichungsgrund nach der Identitätsregel mit in sich selber tragen. Als das eigentliche Ausdrucksmittel seines dogmatisch bestimmten Schöpfungsglaubens und seiner Kritik und Widerlegung dieses pantheisierenden Leibnizschen Gottes- und Schöpfungsbegriffs habe er die Erfahrung der Geschöpflichkeit des Menschen angesichts des allmächtigen und schlechthin erhabenen Schöpfergottes gewertet. Diese Erfahrung der Geschöpflichkeit sei in erster Linie eine solche seiner Vernunft selber auf Grund der Erkenntnis ihrer wesenhaften Endlichkeit, die ihn immer schon daran habe zweifeln lassen, ob der Verstand die verborgenen Eigenschaften der Schöpfung, geschweige denn den Schöpfergott selbst, zu erkennen vermögend sei. Die von seinem Gottesgedanken her bestimmte Erkenntnis der Erfahrungsgebundenheit, d.h. Geschöpflichkeit der menschlichen Vernunft sei für ihn geradezu das Kriterium für eine gesunde Vernunft, die er gegen jede die Erfahrungsgrenzen überschreitende Metaphysik ausspiele. Der Beweisgrund bilde den Höhepunkt dieser Bestrebungen, wie aus dessen Einleitung hervorgehe. So gesehen erscheine der Versuch Kants, die schlechthin analogielose Existenz Gottes vollkommen a priori aus der Vernunft zu beweisen, äußerst merkwürdig; denn wie sollte bei einem solchen Vernunftverständnis ein ontologischer Gottesbeweis möglich sein? Der Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens sei sich der Philosoph allerdings erst sehr spät bewußt geworden. Aber der Gedanke habe (vornehmlich unbewußt) schon damals im Beweisgrund in ihm gearbeitet; denn nach seinen dortigen Ausführungen war für ihn das Dasein Gottes eine der gesunden Vernunft selbstverständliche, von der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse unabhängige Wirklichkeit, die infolgedessen auch nicht begründet zu werden brauchte, sondern nur in ihrer Gegebenheit von der Vernunft anerkannt werden konnte. Die Fragestellung jener ontologischen Gedankengänge sei schon in der Nova Dilucidado an seinem dogmatischen Gottesverständnis orientiert gewesen, und er stelle von da an Wesen und Geltungsbereich der Vernunft wachsend in Frage, bis er schließlich überhaupt bestreite, daß die menschliche Vernunft ein das Dasein Gottes bzw. das Dasein der Dinge „erklären und begründen könnendes Vermögen"

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 231 sei. Mit der Erkenntnis, daß alles geschöpfliche Denken notwendig daseinsgebunden sei, habe Kant seinem Verständnis von der Geschöpflichkeit der menschlichen Vernunft systematischen Ausdruck gegeben und darauf den Beweisgrund, der Gott als den allmächtigen und erhabenen Schöpfergott bezeugen soll, und im Ansatz die auf ihn hinführende Nova Dilucidatio aufzubauen versucht. Es verstehe sich von selbst, daß ein solcher von der Theologie von vornherein geprägter Vernunftbegriff die von Kant geforderte Apriorität des Beweisgundes völlig illusorisch mache. Die Aussage der Nova Dilucidatio und der Negativen Größen seien gekennzeichnet durch Kants Bemühen darum, wie die von ihm geglaubte Gotteswirklichkeit so prädiziert werden könne, daß sie nicht nur in ihrer schlechthinnigen Erhabenheit, sondern auch als dasjenige, durch welches alles andere ist, von der Vernunft bezeugt werden könne. Das werde möglich durch eine von dieser theologischen Intention her geprägte Infragestellung der menschlichen Vernunft: die Differenzierung von Realgrund und Erkenntnisgrund (in der Nova Dilucidatio) einerseits und die darüber hinausgehende von Realund logischem (Ideal-) Grund und damit von Realentgegensetzung und Widerspruchsprinzip (in den Negativen Größen) andererseits stehe in Zusammenhang mit Kants geschichtstheologischem Standpunkt bzw. seinem von der Stapferschen Dogmatik geprägten kalvinistischen Gottesverständnis und seiner darin gründenden Polemik gegen den das Dasein Gottes erkennenden und begründenden Rationalismus und dessen pantheisierende Theologie. Das Dasein Gottes habe nicht einen Seins-, sondern nur einen Erkenntnisgrund (Nova Dilucidatio), bedeute also lediglich: einen Grund, der es ermöglicht, die Wirklichkeit Gottes so zu prädizieren, daß sie von der Vernunft als Gott erkannt werden kann. Da nach Kant die Denklichkeit und Möglichkeit der Dinge nicht identisch ist, entscheide für ihn nicht die Vernunft, was innerlich möglich sei, sondern der Glaube an Gott. Von dieser Gotteswirklichkeit her bestimme und definiere er die menschliche Vernunft als ein nicht den Ursprung der Dinge einsehendes und begründendes Vermögen, d.h. die Vernunft hat für ihn sich ihrer Geschöpflichkeit bewußt zu werden, damit sie das ihren materialen Ermöglichungsgrund bildende Dasein in seiner logischen Unerfaßbarkeit als das große Mysterium der Schöpfung aus dem Nichts, d. h. Gott als das allein notwendige Subjekt der inneren Möglichkeit der Dinge, erkenne. Das theologische Ziel und Interesse der ontologischen Beweisführung Kants sei also nicht die Fixierung eines neuen Gottesbeweises, sondern das Zeugnis einer jeden Gottesbeweis widerlegenden, sich als kreatürlich wissenden Vernunft von dem erhabenen und allgenugsamen Wesen des allmächtigen Schöpfergottes. Gemäß der von seinem Gottesgedanken her orientierten Vernunftauffassung liege es weder im Bereich des Interesses noch der Möglichkeit der ontologischen Gedankengänge Kants, die Existenz Gottes zu beweisen, d.h. seine coram deo geprägte und sich so ihrer kreatürlichen Grenzen bewußte Vernunft bedürfe kraft dieses ihres Selbstverständnisses keiner das Wesen Gottes nachweisenden und versichernden Gründe, noch meint sie mit jener ihr eigenen Logik einer Möglichkeit mächtig und einsichtig zu sein, aus der sich als Grund das Dasein Gottes als Folge ableiten ließe. Kant wende sich vielmehr im Interesse dieser Gotteswirklichkeit gegen jedes Vernunftverständnis, das die Möglichkeit, das Dasein Gottes abzuleiten, inne zu haben meint. Darüber hinaus aber sei es aus dem Interesse an der Schöpferherrlichkeit

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III. Teil

Gottes das eigentliche und primäre Ziel seiner Polemik gegen Leibniz aufzuzeigen, daß sich Wirklichkeit überhaupt, also auch das Dasein der Welt aus dem, was der Vernunft zu denken möglich sei, nicht ableiten lasse. Damit werde eine Auffassung abgewehrt, die das Denken des Menschen (die denkbaren Wahrheiten) an einer ewigen göttlichen Vernunft teilhaben läßt, die als solche dem Dasein der Welt vorausgehende und ermöglichende Ideen als einen an sich notwendigen Gegenstand der göttlichen Weisheit enthält, eine Auffassung, die sowohl der göttlichen Aseität wie der göttlichen Allmacht widerspreche. Damit haben wir in einer gedrängten Zusammenfassung die bis zur Ermüdung sich ständig wiederholenden Formulierungen der Hauptpunkte der Interpretation Redmanns vorgestellt; nach ihnen waren also Kants ganze Bemühungen um den verbesserten physikotheologischen Gottesbeweis bzw. um ein apriorisches Argument für das Dasein Gottes eher ein MißVerständnis dessen, was er eigentlich wollte und anstrebte, als seine wirkliche Absicht bzw. sein wirkliches Ziel, das in Wahrheit geschichtstheologischer Natur gewesen sei. Man fragt sich nur, was es dann eigentlich zu bedeuten habe, daß das Problem der philosophischen Gotteserkenntnis in fast allen seinen Werken, angefangen von der Naturgeschichte und der Nova Dilucidano über die vorkritischen Schriften und Reflexionen, die Dissertation von 1770 bis zur Kr. d. r. V. (Vorrede B, zweites und drittes Hauptstück der Dialektik, Anm. Β 395, Β 854ff. etc.), der Kr. d . p r . V . mit ihrer Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft bzw. dem praktischen Vernunftglauben, der Kr. d. U. mit ihrer ausführlichen Diskussion der Ethikotheologie, den Entwürfen zur Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, den zahlreichen Reflexionen zur Metaphysik der 70er bis 90er Jahre, die sich auf die Rationaltheologie beziehen, bis schließlich zum Convolut I und VII des Opus Postumum, eine so zentrale Rolle spielt. Redmann behauptet, Kant habe erst sehr spät erkannt, daß ein apriorischer Gottesbeweis unmöglich sei' 3 8 . Soll das heißen, daß er sich zeitlebens über das eigentliche Ziel seiner Bemühung, das nicht philosophischer, sondern offenbarungstheologischer Natur gewesen sei, getäuscht habe? N u n ist es sicher ein Irrtum, daß der Philosoph die Unmöglichkeit eines ontologischen Gottesbeweises erst sehr spät eingesehen habe; denn er hat, wie die Reflexionen zur Metaphysik aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre ausweisen 139 , schon sehr bald nach dem Beweisgrund die Unmöglichkeit eines apriorischen Arguments bzw. einer Demonstration für das Dasein Gottes erkannt, was ihn aber nicht daran hinderte, sich zeitlebens als Philosoph mit dem Problem der Metaphysik, die nach seiner Uberzeugung nur die drei Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit und ihre Realität zum Gegenstand haben konnte, 140 bzw. speziell mit der Frage der philosophischen oder rationalen Gotteserkenntnis zu befassen, in dem gleichen Sinn und in der gleichen Absicht wie andere Philosophen auch, etwa Descartes, Leibniz, Wolff, Crusius oder schon Anselm und Thomas, die als an Gott glaubende Menschen trotzdem die Frage für wichtig und grundlegend gehalten haben, ob und wie weit die Vernunft aus eigener Kraft und ohne theologische Prämissen 138 139 140

Redmann, op. cit. 118 so RR 3716, 3717, 3732, 3795, 3812 etc. Kr. d. r. V. Β 395 (Anm.)

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 3 3

etwas über die Realität der Gottesidee auszumachen imstande ist. Daß Kant in diesem Punkt in der vorkritischen Zeit Auffassungen vertreten hat, die ihm später, vor allem in der kritischen Epoche, fragwürdig wurden, daß er in dieser letzteren den ethikotheologischen Weg als den entscheidenden zum Vernunft glauben (!), d.h. zum philosophischen Glauben an das Dasein Gottes betrachtete, ist nicht zu verwundern, obwohl auch dann noch der physikotheologische Weg seine Bedeutung behält. Richtig an der Position Redmanns ist, daß er in seiner rationaltheologischen Fragestellung ausgeht von dem Gottesbegriff der christlichen Offenbarung, von dem des religiösen Glaubens an Gott, der wie K.Fischer betont, in ihm während seiner ganzen philosophischen Lehr- und Forschungstätigkeit ungebrochen geblieben ist, und daß er die philosophische Gottesfrage, ebenso wie die Vorgenannten, in dem präzisen Sinn stellt, ob dieser personale, transzendente Schöpfergott philosophisch als Realität bewiesen werden, bzw. auf welchen Wegen dies geschehen kann. Ja, es ist sogar so, daß erst diese bestimmte Fragestellung Kants Bemühen um das Gottesproblem seine Eindeutigkeit und zugleich seinen letzten Ernst verleiht. Es geht hier in der Tat für ihn um die höchsten Zwecke unseres Daseins, um Fragen, für deren Auflösung, wie er im zweiten Hauptstück der transzendentalen Dialektik sagt, der Mathematiker bereitwillig seine ganze Wissenschaft dahin geben würde 14 '. Der grundsätzliche Standpunkt Kants hinsichtlich der natürlichen oder philosophischen Theologie ist also durchaus demjenigen der katholischen Fundamentaltheologie vergleichbar, die sich um die philosophischen Beweise des Daseins Gottes als praeambulum fidei bemüht bzw. dem des die Metaphysik ebenfalls „theologisch regulierenden" Crusius, oder überhaupt dem eines jeden gläubigen Menschen, der sich spontan die Frage stellt und n. u. Ü. gar nicht umhin kann sie zu stellen: läßt sich die Realität der Gottesvorstellung des Glaubens auch rational begründen bzw. beweisen? Als größter Mangel der Interpretation Redmanns muß wiederum das Fehlen einer durchgehenden sorgfältigen Analyse der grundlegenden Quellenschriften, vor allem der beiden metaphysischen Traktate der Nova Dilucidatici und des Beweisgrundes, bezeichnet werden. Seine Dissertation ist statt dessen in ihrem Aufbau so angelegt, daß zunächst auf Grund mehr historischer Betrachtungen über das grundsätzliche Verhältnis des vorkritischen Kant zum Gottesglauben und zur Offenbarungstheologie oder auch zu den geistesgeschichtlichen Strömungen seiner Epoche die tragenden Gesichtspunkte der Interpretation gewonnen werden und damit schon vor der Analyse der entscheidenden Quellenschriften feststehen, so daß diese, soweit sie überhaupt durchgeführt wird, eigentlich nur mehr dazu dient, den bereits bezogenen Standpunkt zu verifizieren. So vermißt man bei Redmann eine nähere Analyse des Aufbaus der Naturgeschichte, ohne die das wahre Verhältnis zwischen der naturwissenschaftlichen und theologischen Thematik in ihr und damit Kants grundsätzliche Einstellung zur Physikotheologie in den fünfziger Jahren nicht ausgemacht werden kann und die n.u.U. zu ganz anderen Ergebnissen führt, als es die Thesen des Autors beinhalten. Was aber die entscheidenden Quellenschriften seiner Ontotheologie: die Nova Dilucidatio und den Beweisgrund, angeht, so bringt Redmann deren Analyse erst gegen Ende seiner Dissertation und zwar auch nur 141

Ebd. Β 491

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III. Teil

summarisch, ohne Berücksichtigung der inneren Logik der Kantischen Argumentation selbst, geschweige denn des ganzen Werkes des Beweisgrundes: der geschlossene, folgerichtige Gedankengang der ersteren wird beim Autor gewissermaßen in seine Elemente aufgelöst und diese einzeln dann so interpretiert, daß sie die bereits gewonnene Überzeugung bzw. Theorie bestätigen, oder aber, wenn sie dieser entgegen sind, entweder überhaupt übergangen oder mittels des Grundsatzes, daß der Philosoph hier aus Befangenheit bzw. dem Verhaftetsein an die philosophischen Zeitströmungen seiner eigentlichen (theologischen) Intention widersprochen habe. So wird der Tenor der Prop. VII der Nova Dilucidatici, der zusammen mit den Erklärungen des Scholions den Schlüssel zur gesamten ontotheologischen Argumentation Kants enthält, überhaupt nicht berücksichtigt, das Triangelbeispiel des Scholions aber, mit dem dieser dartun will, daß die essentiae der Dinge an sich nicht notwendig sind, als der Beweis erklärt, daß Kant dem Denken angeblich die Möglichkeit abspreche, Dasein logisch zu begründen. Daß es für das notwendige Dasein nur einen Erkenntnisgrund, eine ratio cognoscendi geben könne, wird im Sinn der folgenden Deutung des Beweisgrundes so verstanden, daß es für die Vernunft grundsätzlich nicht darum gehen könne, das Dasein Gottes zu begründen oder zu beweisen, sondern lediglich darum, etwas Existierendes so zu prädizieren, daß es als Gott erkannt werden kann. Die Möglichkeit, von der die Kantische Argumentation ausgeht, wird als Möglichkeit des Denkens interpretiert und das Materiale der Möglichkeit als die existierenden Dinge. Zur Lösung der Frage, wie man von dieser Möglichkeit auf ein absolut notwendiges Dasein schließen könne, da es doch selbstverständlich sei, „daß das Dasein, das das Denken unmittelbar ermöglicht, nicht das Dasein Gottes, sondern das der existierenden Dinge ist" 142 , wird die Prop. VIII herangezogen, die von einer anderen Thematik als der des Gottesbeweises handelt, nämlich von der These, daß nichts kontingent Existierendes ohne vorausbestimmenden Grund sein könne, wobei vom Autor die Dinge der Erfahrung eo ipso als kontingent existierend vorausgesetzt werden, woraus sich ergibt, daß ohne Gott sowohl die Existenz der Dinge wie die Möglichkeit des Denkens aufgehoben würde. Auf die sich hier unabweislich stellende Frage, wie aus der so verstandenen Aufhebung der Möglichkeit des Denkens (durch Aufhebung der Existenz der Dinge) eine notwendige Existenz erschlossen werden könne, ferner, wieso dieser Gottesbeweis, der doch auf das notwendige Dasein letztlich nur aus der kontingenten Existenz der Welt schließt, sich wesentlich von den von Kant abgelehnten kosmologischen Schlüssen oder Gottesbeweisen unterscheiden soll, wird nicht eingegangen; der wichtige Satz des Scholions: Hinc patet: si Deum sustuleris non existentiam omnen rerum solam, sed et ipsam possibilitatem internam prorsus aboleri, wird ohne viel Federlesens von der Möglichkeit des Denkens und seiner Voraussetzung der existierenden Dinge als Materialien des Denkens interpretiert, obwohl sowohl der Wortlaut wie der Zusammenhang mit dem Vorausgehenden die Möglichkeit, von der hier die Rede ist, eindeutig als innere Möglichkeit der Dinge bestimmt. Auf Grund einer solchen mehr als fragwürdigen Analyse kann der Autor zu seiner von Anfang an immer und immer wieder eingeschärften These gelangen: Kant frage nicht 142

Redmann, op. cit. 127

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 3 5

nach dem, was die Existenz Gottes ermögliche, sondern nach dem, was die menschliche Vernunft ermögliche: „Die Vernunft soll (und kann) nicht ergründen, warum Gott ist, sondern soll selbst durch eine radikale Infragestellung dessen, was ihr zu denken möglich ist, zu der Erkenntnis kommen, daß sie ohne die Existenz Gottes überhaupt nicht zu denken vermag; d. h. sie soll zu der Erkenntnis ihrer Geschöpflichkeit gelangen, um als solche Gott als den allmächtigen Schöpfer bezeugen zu können. Daß diese Fragestellung sowohl als auch der sie ermöglichende Vernunftbegriff theologisch disponiert sind und damit die geforderte Apriorität der Kantischen Ontologie illusorisch machen, ist mehrfach nachgewiesen worden" 1 4 3 . Quod erat demonstrandum! Dem entspricht nun auch die Analyse des Beweisgrundes, in dem angeblich sowohl die in den vorausgehenden Schriften aufgezeigte theologisch bestimmte Infragestellung dessen, was der menschlichen Vernunft zu begründen und zu erklären möglich sei, wie auch die auf dieser Infragestellung aufbauende Ontotheologie und Theologie Kants ihren Höhepunkt und Abschluß findet' 4 4 . Damit ist bereits das Leitmotiv der Analyse angeschlagen; durch die mit dem Prinzip „Dasein ist kein Prädikat" begründete Widerlegung des ontologischen Arguments und die damit zusammenhängende Kritik des Satzes „Gott ist ein existierend Ding" werde nicht allein die Möglichkeit einer rationalen Daseinsbegründung, sondern das menschliche Denken überhaupt in Frage gestellt und die menschliche Vernunft über die Zielsetzung der Nova Dilucidano hinaus in ihrer Gesamtheit als eine geschöpflich struktuierte bestimmt, die als solche Gott in seiner schlechthinnigen Erhabenheit und Allmacht zu bezeugen vermöge' 45 . Die Bestimmung der Möglichkeit nach ihrem Formalen und Materialen erfolgt dann, wie nach der Analyse der Nova Dilucidado nicht anders zu erwarten ist, in dem Sinn, daß die Möglichkeit, auf die Kant seinen Beweis aufbaut, als Möglichkeit des Denkens interpretiert und als das Materiale derselben das Gegebene im Sinn des Existierenden verstanden wird, wobei der Autor den Satz „es ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiert", weil damit alle Möglichkeit aufgehoben werde, bereits als Beweis der alle Möglichkeit begründenden notwendigen Existenz versteht' 46 , so daß nun der in der 3. Betrachtung erfolgende Beweisschritt nicht mehr in seiner Funktion als Gipfelpunkt des ganzen Gedankengangs und als Prinzip der Ableitung der metaphysischen Attribute Gottes erkannt wird. Die Kantische Ableitung der ontologischen Attribute wird dementsprechend kommentarlos referiert, lediglich beim Attribut der höchsten Realität, „da die Data aller Möglichkeiten in ihm anzutreffen sein müssen", polemisiert er gegen die von Paulsen und K. Fischer und sonst ganz allgemein vertretene These, daß Kant diese höchste Realität im Sinn der Schulmetaphysik als ens realissimum oder perfectissimum verstanden habe. Diese These sei völlig falsch, „weil die schlechthin erhabene Existenz Gottes für unseren Philosophen in keinerlei Analogie zu der Realität und Vollkommenheit der Welt steht" l 4 ? . Auf diese Polemik des

143 144 145 146 147

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

126 135 136 137 139

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III. Teil

Autors, die mit seinem Verständnis von der Allgenugsamkeit Gottes, das für ihn den Schlüssel der ganzen Interpretation der Ontotheologie Kants bildet, zusammenhängt, werden wir weiter unten noch ausführlicher zurückkommen. Für „ein tieferes Verständnis dieses Gedankenganges des Kantischen Arguments" wird auf die ausführliche Untersuchung und Differenzierung dessen verwiesen, was Kant uner Möglichkeit verstanden habe. Diese Erörterung erfolgt nach einer eingehenderen Kritik der Positionen von Kuno Fischer und Bruno Bauch hinsichtlich der Rolle des Formalen und Materialen der Möglichkeit in der Beweisführung Kants 148 (wobei als der grundlegende Fehler beider angemerkt wird, daß sie Kant die Intention einer philosophisch begründenden Theologie unterstellen): „Die Frage lautet nämlich nicht, ob unser Philosoph das Denkliche formal oder material begründet hat, sondern ob ihm Möglich und Denklich ohne weiteres identisch waren? Lassen wir Kant die Antwort selbst geben, wenn er gleich zu Beginn des Beweisgrundes' sagt:,Entweder das Mögliche ist nur denklich, insofern es selber wirklich ist, und dann ist die Möglichkeit in dem Wirklichen als eine Bestimmung gegeben; oder es ist möglich darum, weil etwas anderes wirklich ist, d. i. seine innere Möglichkeit ist als eine Folge durch ein ander Dasein gegeben. Die erläuternden Beispiele können noch nicht füglich hier herbeigeschafft werden... Indessen bemerke ich nur noch, daß ich dasjenige Wirkliche, durch welches als einen Grund die innere Möglichkeit anderer gegeben ist, den ersten Realgrund dieser absoluten Möglichkeit nennen werde...' " 1 4 9 . Aber ganz abgesehen davon, daß Kant nicht gleich zu Beginn des Beweisgrundes diesen Gedanken entwickelt: er steht vielmehr im Zentrum der Argumentation unmittelbar vor dem entscheidenden Schritt zur Bestimmung des Begriffs und zum Beweis der Realität des absolut notwendigen Daseins (wohin er auch nach der Logik des Arguments gehört), interpretiert der Autor diese für die Entwicklung des Kantischen Gedankengangs grundlegende Stelle ohne Berücksichtigung des weiteren und näheren Kontextes nach den Erfordernissen seiner Theorie: „Mögliches ist also nur dann denklich, insofern es selber wirklich ist, das will sagen: sind z.B. .Ausdehnung, Undurchdringlichkeit.. .'etc. gegeben, so ist kraft dieser Gegebenheit der Begriff eines Körpers denkbar. Anders gesagt: in dem ,Realen der Möglichkeit' (, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit...' etc.) ist das ,Formale der Möglichkeit' (daß .Ausdehnung, Undurchdringlichkeit...' etc. dem Wesen eines Körpers nicht widersprechen) ,als eine Bestimmung gegeben'. Denklich ist somit allein das Dasein der existierenden Dinge, das als die materiale Bedingung des Denkens eine Möglichkeit darstellt, die als Wirklichkeit das Denkliche inhaltlich bestimmt. Etwas ganz anderes ist es nun, wenn etwas darum möglich ist, ,weil etwas anders wirklich ist, d.i. seine innere Möglichkeit ist als eine Folge durch ein ander Dasein gegeben'150. Die letztere Möglichkeit bestimmt der Autor richtig als die innere Möglichkeit der Dinge im ontologischen Sinn und das notwendig Daseiende als deren Realgrund, wobei er es sich allerdings auch hier nicht versagen kann, sogleich wieder sein theologisch disponiertes Gott-Weltverständnis einzubringen: diese innere Möglichkeit der Dinge, die ihren Grund in einem Dasein hat, sei inhaltlich in keinerlei Weise mit dem sie verursachenden 148 149 150

Ebd. 139ff. Ebd. 142 Ebd. 142 f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 3 7

Dasein identisch oder verwandt: „Die absolute Möglichkeit ist also die Folge einer qualitativ von ihr unterschiedenen Wirklichkeit (Realgrund) sowohl als auch das, was das Dasein der Dinge innerlich ermöglicht, so daß jene die ,absolute Möglichkeit' setzende Wirklichkeit ,den Grund der inneren Möglichkeit der Dinge' darstellt. Es sind somit .aller anderen Dinge Möglichkeit und Dasein von ihm ( . . . ) abhängend' und da jenes gesetzte Dasein ,die Data zu aller Möglichkeit (sc. Denklichkeit)' bildet, ist der Realgrund nicht nur der Grund der inneren Möglichkeit der Dinge, sondern zugleich auch der Grund von aller Denklichkeit" 151 . Schematisch dargestellt ergebe sich somit folgende Unterscheidung 1. Wirklichkeit (des Realgrundes) - Möglichkeit als Folge (= absolute Möglichkeit der Dinge [die ihrer Existenz vorangeht, also Möglichkeit im ontologischen Sinn]); 2. Wirklichkeit (der existierenden Dinge) - Möglichkeit als Bestimmung (Möglichkeit als Denklichkeit [der Dinge]). Auf Grund dieser Interpretation sieht der Verfasser das eigentliche Ziel des Beweisgrundes so: „Das will sagen: es ging Kant nicht darum, eine dem Denken notwendige Existenz für absolutnotwendig, d.i. Gott zu erklären, sondern es ging ihm um den Nachweis, daß jenes das Denkliche ermöglichende Reale in seinem innersten Wesen allein möglich aus Gott sei." „Was es nun um jene, eine sie setzende Wirklichkeit fordernde innere Möglichkeit des Realen ist", ergebe sich eindeutig aus dem Kapitel ,Von der göttlichen Allgenugsamkeit', das nicht nur das Ziel des .Beweisgrundes', sondern zugleich auch den ihn inhaltlich bestimmenden Ausgangspunkt darstelle'52. In dieser Gegenüberstellung der beiden Bedeutungen von Möglichkeit und in dieser These von der Allgenugsamkeit Gottes als dem Ziel des Beweisgrundes und als dessen inhaltlich bestimmendem Ausgangspunkt sind u. E. die grundlegenden Irrtümer der Interpretation des Autors auf die kürzeste Formel gebracht. Der erste erhellt daraus, daß die Möglichkeit als Bestimmung eines Wirklichen in der obigen Stelle der n. 4 der 2. Betrachtung im Rahmen der Entwicklung des Kantischen Gedankengangs etwas völlig anderes bedeutet als das, was der Autor darunter versteht: In Wahrheit nämlich geht es an dieser Stelle überhaupt nicht um das Verhältnis des Denklichen oder überhaupt des Denkens zu der Existenz der Dinge, sondern um das Verhältnis des notwendig Daseienden zu seiner eigenen inneren (ontologischen) Möglichkeit, insofern dem Dasein des Notwendigen keinerlei Möglichkeit des Seins vorausgehen, sondern ihm nur folgen kann als seine innere Bestimmung. Mit anderen Worten: Wir haben hier eine Parallele zu der Prop. VII der Nova Dilucidano und der entsprechenden Erklärung des Scholions, wo diese Möglichkeit als Bestimmung mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit als die eigene ontologische Möglichkeit eben dieses notwendig Daseienden gekennzeichnet wird. Daß hier nichts anderes gemeint ist, geht auch aus dem Zusammenhang mit dem unmittelbar Folgenden hervor: „Die erläuternden Beispiele können noch nicht füglich hier herbeigeschafft werden. Die Natur desjenigen Subjekts, welches das einzige ist, das zu einem Beispiele in dieser Betrachtung dienen kann, soll allererst erwogen werden", was in der nun folgenden 3. Betrachtung geschieht, wo der Begriff des notwendig Daseienden thema-

151 152

Ebd. 143 Ebd. 143 f.

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tisch entwickelt und von dem abschließend ausdrücklich gesagt wird: „Allein man richte nur sein Augenmerk auf den einmal festgesetzten Begriff desselben: in seinem Dasein ist seine eigene Möglichkeit ursprünglich gegeben" 153 . Die obige Auffassung von der Möglichkeit als Bestimmung eines Existierenden im Sinn von Denklichkeit desselben kann als einer der Grundpfeiler der Interpretation Redmanns betrachtet werden; denn die ganze theologische Deutung des Beweisgrundes als des Nachweises der radikalen Endlichkeit und Geschöpflichkeit der Vernunft beruht bei ihm auf der angeblichen These Kants von der absoluten Erfahrungsgebundenheit der menschlichen Vernunft im Sinne ihres schlechthinnigen Unvermögens auf die Möglichkeit des Gegebenen zurückschließen. Wir haben in unserer Analyse gezeigt, daß in Wahrheit das Denkliche, d. h. das mögliche Objekt unseres Gedankens, für Kant wie für Baumgarten und Crusius identisch ist mit der inneren absoluten Möglichkeit der Dinge. Nur wenn das Materiale der Möglichkeiten als das Inhaltliche der ontologischen Möglichkeit der Dinge verstanden wird, wie das alle einschlägigen Ausführungen über das Argument erfordern 154 , bewahrt der Gedankengang Kants seine Einheit und Geschlossenheit, während er nach der obigen Auffassung des Autors völlig seine Überzeugungskraft verliert, wie denn Redmann auch immer wieder betont, daß von den Voraussetzungen und der Zielsetzung Kants aus das Bemühen um einen apriorischen Beweis von vornherein zum Scheitern verurteilt oder illusorisch sei. Aber es verliert damit, wie wir sagten, auch die ganze Abhandlung als literarische Komposition ihre Einheit, da schlechterdings nicht mehr einsichtig gemacht werden kann, wie die ausführliche zweite Abteilung ein wesentlicher Bestandteil eines Traktates über den apriorischen Beweis sein könne. Der Autor glaubt sich diesen Konsequenzen dadurch entziehen zu können, daß er Kants Bemühen um den ontologischen Gottesbeweis als eine Verzeichnung seiner wahren Intention und Zielsetzung deutet, insofern die eigentliche Absicht seiner ontotheologischen Argumentation lediglich der Aufweis der Endlichkeit und Geschöpflichkeit der menschlichen Vernunft gewesen sei, die sich gerade aus jenem obigen Begriff der Möglichkeit und der darin implizierten wesenhaften Bindung alles Denkens an die Erfahrung ergab. Darin sieht der Autor nun eine Parallele zur verbesserten physikotheologischen Argumentation und darin offenbar auch einen plausiblen Grund für die Behandlung der letzteren in der zweiten Abteilung des Beweisgrundes'55. Nun ist freilich die von Redmann festgestellte Ähnlichkeit der beiden Beweisführungen in keiner Weise ausreichend, um das Auftreten der außerordentlich umfangreichen zweiten Abteilung in einem Werk über den einzig möglichen, d. h. den apriorischen Gottesbeweis zu rechtfertigen. Die Abhandlung Kants bleibt auch in der Voraussetzung der Interpretation des Autors, literarisch gesehen, ein monströses Gebilde. Die Ausflucht aber, daß ja Kant seine Ontotheologie in Wahrheit gar nicht als apriorische Demonstration verstanden haben kann und daß er in dem Streben darnach seiner eigentlichen Intention widersprochen habe, steigert eher noch zusätzlich den Charakter des Monströsen der Kantischen Abhandlung.

154 155

KGS II, 85f. Ebd. insbes. 78, Z. 4ff; 91, 157, 162f. Redmann, op. cit. 35f, 105ff. 109

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Mit dieser Verschiebung der eigentlichen Zielsetzung des ontologischen Arguments hängt nun aufs engste der Umstand zusammen, daß der Autor erst die 8. Betrachtung der zweiten Abteilung über die Allgenugsamkeit als das zentrale Kapitel des einzig möglichen Beweisgrundes betrachtet, weil in ihm am vollkommensten und eindeutigsten sowohl der Ausgangspunkt wie auch das Ziel der ganzen Abhandlung zum Ausdruck komme. Aber nirgendwo sonst enthüllt sich vielleicht so wie hier, wie sehr die Interpretation Redmanns von seinem von vornherein feststehenden Erklärungsschema geprägt ist. Denn jede einigermaßen ins Detail gehende und den Zusammenhang der Gedankenfolge ernst nehmende Analyse wird zu dem Schluß kommen, daß der zentrale Schlüsselbegriff der ontologischen Argumentation Kants nicht der der Allgenugsamkeit Gottes, sondern der des notwendigen Daseins ist, der im Mittelpunkt der ersten Abteilung steht und auf den alles Vorhergehende hinzielt und von dem alles Nachfolgende, soweit es zum streng ontologischen Ansatz gehört, abgeleitet wird, wie die ontologischen Attribute des göttlichen Wesens (unter denen als letztes eben die Allgenugsamkeit figuriert), jener Schlüsselbegriff, der zugleich, wie wir gesehen, die ganze zweite Abteilung unter die Thematik der ersten subsumiert. Aber für die Sicht Redmanns darf dieser erste Teil mit seiner Entwicklung des ontotheologischen Arguments gar nicht den Schwerpunkt des Ganzen bilden (da Kant ja eigentlich gar keinen Gottesbeweis intendierte), es können also nur jene Elemente daraus von wirklichem Gewicht sein, die die Endlichkeit und Geschöpflichkeit der menschlichen Vernunft betonen bzw. begründen als das Vermittelnde der Anerkennung der Erhabenheit des kalvinisch konzipierten Schöpfergottes, während in der 8. Betrachtung der zweiten Abteilung im Begriff der Allgenugsamkeit, wie ihn der Autor dann näher interpretiert, gerade die ursprüngliche und primäre Absicht und Zielsetzung Kants unmittelbar und unverstellt zum Ausdruck komme. Denn die Allgenugsamkeit bedeutet hier in der 8. Betrachtung nach dem Autor wesentlich mehr und anderes als das allerrealste Wesen der n. 6 der 3. Betrachtung der ersten Abteilung: Dieser Begriff führe nämlich in die tiefste und wesentlichste Dimension des göttlichen Seins: die Allmacht des creator ex nihilo, und zwar ex nihilo jedes dem schöpferischen Willen vorhergehenden Reiches der Möglichkeiten im Schöpfer selbst; das heißt, daß der Wille Gottes in der Schöpfung nicht ihm (dem schöpferischen Willen) vorausgehende, von ihm unabhängige Möglichkeiten ins Dasein ruft, sondern die Möglichkeiten oder Wesenheiten der Dinge selbst durch seinen allmächtigen Willen aus dem Nichts ursprünglich hervorbringt. In dieser Negierung jedes dem schöpferischen Willen ontologisch vorgängigen Reichs der Möglichkeiten in Gott erblickt der Autor jene Bestimmung seiner Allgenugsamkeit, die für die aus der kalvinischen Dogmatik übernommene Gottesvorstellung Kants charakteristisch ist und die die ontologische Argumentation als solche nicht ergeben konnte: sie bezeichnet deshalb für den Autor den wahren theologischen Ausgangs- und Zielpunkt der ganzen Abhandlung. Denn damit ist jene analogielose Erhabenheit Gottes über alles Geschöpfliche gegeben, die das kalvinische Gott-Weltverständnis kennzeichnet und die es zugleich wesentlich scheidet von aller von der griechischen Philosophie abhängigen, pantheisierenden Theologie, wie er sie vor allem in Leibniz, aber auch in der früh- und hochmittelalterlichen Scholastik, Thomas von Aquin nicht ausgenommen, verkörpert sieht, die gerade auf Grund dieses der Schöp-

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III. Teil

fung vorhergehenden Reichs der Wesenheiten in Gott zur Lehre von der Analogia entis einerseits und der Teilnahme der menschlichen Vernunft an der unendlichen göttlichen Vernunft andererseits gelangte, und damit zu einem pantheisierenden theologischen Standpunkt. Es hängt also für die Interpretation des Autors letztlich alles an dieser These der Negierung eines Reiches der Wesenheiten in Gott bzw. der Deutung seiner Allgenugsamkeit im Sinne einer die Möglichkeit der Dinge selbst hervorbringenden Allmacht. Diese Deutung sucht daher der Autor mit allen Mitteln durch Kantische Texte zu stützen. Aber keine der von ihm angeführten Stellen beweist, im Kontext gelesen, auch nur im entferntesten die hier von ihm vertretene Interpretation der Allgenugsamkeit Gottes. Kant polemisiert gewiß in eindeutiger Weise gegen die Position des Leibniz, der (nach seinem Verständnis) die ewigen Wahrheiten und das Reich der Möglichkeiten oder Wesenheiten der Dinge als eine von Gott unabhängige, selbständige Größe annimmt, der folglich auch die göttliche Weisheit unterworfen ist. Dies allein enthält jene Stelle der zweiten Abteilung, auf die sich der Autor als entscheidenden Schlüsseltext beruft 156 . Den Schluß, den er daraus zieht, daß Kant damit jedes in Gott enthaltene Reich der Möglichkeiten und damit die Schöpfung als Verwirklichung eines solchen aufs schärfste ablehne und bekämpfe, wird man bei dem Philosophen selbst vergeblich suchen. Im Gegenteil, Kant setzt diese Konzeption gerade im Beweisgrund, der nach dem Autor den Höhepunkt der Polemik gegen diese angeblich pantheisierende Theologie darstellen soll, mit größter Unbefangenheit voraus ; denn er spricht in der 1. Betrachtung von ganzen Welten möglicher Dinge, die Gott als bloß mögliche erkenne und über die er sein allmächtiges Werde sprechen und sie damit ins Dasein rufen könnte; er unterscheidet überdies zu Beginn der 2. Betrachtung der zweiten Abteilung zwischen einer moralischen und unmoralischen Abhängigkeit der Dinge von Gott, nämlich zwischen einer Abhängigkeit vom schöpferischen Willen Gottes und einer dem Willen Gottes vorausliegenden und von ihm unabhängigen, womit exakt die Möglichkeit der Dinge gemeint ist, die nach ihm nicht im Willen Gottes - in diesem Fall gäbe es dann überhaupt nur eine moralische Abhängigkeit - , sondern im "Wesen Gottes selber gründet" 7 . In diesem Sinn lehnt er auch an der bezeichneten Stelle der 8. Betrachtung in der Leibnizschen Konzeption der Möglichkeiten nur das Moment der Unabhängigkeit von Gott ab, keineswegs aber ihr vom göttlichen Willen unabhängiges und ihm vorausgehendes Gegründetsein im göttlichen Wesen. Redmann aber interpretiert völlig willkürlich das „in ihm Gegründetsein" als ,,aus nichts entworfen" 15s , womit die Möglichkeiten selbst dem allmächtigen Schöpferwillen als letztem Grund zugewiesen werden, damit man nicht annehmen muß, daß sie als Möglichkeiten irgendwie in Gott enthalten seien. Aber wie sollte eine in diesem Sinn in Gott enthaltene und durch das Wesen Gottes allein begründete Welt der Möglichkeiten ein Gott fremder Ermöglichungsgrund sein, so daß dadurch den Dingen eine Art Selbstbegründung zugeschrieben werden müßte, wie der Autor wiederholt behauptet?

156 157 158

K G S II, 112 (4. Betr. n.l) Ebd. 100 f. Redmann, op. cit. 101

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Damit wird deutlich, daß Kant nicht nur hier im Beweisgrund (vor allem in n. 6 der 3. Betrachtung), sondern, wie aus den Reflexionen der sechziger Jahre hervorgeht159, in der ganzen vorkritischen Zeit, ebenso wie auch in seiner Lehre vom transzendentalen Ideal im 2. Abschnitt des dritten Hauptstücks der „Dialektik" einen Gottesbegriff der theoretischen Vernunft vertreten hat, der sich prinzipiell deckt mit dem des ens realissimum et perfectissimum, des allerrealsten Wesens, das alle Realität und Vollkommenheit im höchsten Grade besitzt, wie Paulsen, K. Fischer und Br. Bauch und überhaupt die bisherige Kantforschung angenommen haben. „Da die Data zu aller Möglichkeit in ihm anzutreffen sein müssen, entweder als Bestimmungen derselben oder als Folgen, die durch ihn als den ersten Realgrund gegeben sind, so sieht man, daß alle Realität auf eine oder andere Art durch ihn begriffen sei. Allein eben dieselben Bestimmungen, durch die dieses Wesen der höchste Grad ist von aller möglichen Realität, setzen in ihm selber den größten Grad realer Eigenschaften, der nur immer einem Ding beiwohnen kann" 160 . Das einzige, was Kant in diesem Zusammenhang ausschließen will, ist „daß alle mögliche Realität zu seinen (Gottes) Bestimmungen gehöre", weil das die reale Entgegensetzung in Gott hineintragen würde und damit Mangel und Privationen, was seinem Begriff als dem „allerrealsten Wesen" und damit seiner höchsten Realität widerspricht. Redmann schüttet hier offenbar das Kind mit dem Bade aus, wenn er folgert: also ist nicht alles Reale in Gott, also nichts von dem Realen der Möglichkeiten in Gott, weil es nach dem kalvinischen Gottesund Weltverständnis keine Gemeinschaft zwischen Gott und Welt geben kann. Der zitierte Satz besagt im Kontext das gerade Gegenteil, daß alles Reale der Möglichkeiten entweder als Bestimmung (wie etwa Verstand und Wille) oder nur virtuell, wie eine Wirkung in ihrer Ursache, in Gott enthalten ist, in ihm enthalten sein muß. Daß im übrigen nach der Uberzeugung Kants „Realitäten" der möglichen Dinge dem notwendig Seienden auch als Bestimmungen zukommen können, ist die wesentliche Schlußfolgerungder Argumentation der 4. Betrachtung der ersten Abteilung, in der bewiesen wird, daß dem absoluten Sein die Attribute Verstand und Wille als Bestimmungen, scholastisch gesprochen, formaliter zukommen müssen, womit der Beweis als Beweis der Existenz eines personalen Gottes erst abgeschlossen wird. Wenn der Philosoph in dem genannten Abschnitt n. 6 der 3. Betrachtung das notwendig Seiende als das allerrealste Wesen und jeden Mangel als „seiner höchsten Realität" widersprechend bezeichnet, dann bedeutet dies im Prinzip nichts anderes als das ens realissimum, und nichts anderes will dann auch der Begriff des allgenugsamen Wesens besagen, den er im Abschnitt VIII der zweiten Abteilung an die Stelle des ens infinitum gesetzt wissen will, wie er ja selber die Eigenschaft der Allrealität in der Nova Dilucidado bezeichnet hatte. Schon aus der Gegenüberstellung der beiden Begriffe am Ende der 8. Betrachtung und der Begründung, warum der der Allgenugsamkeit dem der Unendlichkeit des Wesens vorzuziehen sei, macht deutlich, daß es in beiden Fällen um die Charakterisierung des Wesens Gottes und nicht seiner Allmacht geht, wie denn Kant auch den Be159

160

KGS XVII, 240f. (R 3706), 274, (R 3733), 275 (R 3734), 290 (R 3775); 299f. (R 3808), 301 (R 3813), 328 (R 3889), 331 (R 3893), 422 (R 4113), 425 (R 4123), 477ff. (R 4244-4264) Ebd. II, 85 f.

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III. Teil

griff der Unendlichkeit dort nicht schlechthin verwirft, sondern bedingt akzeptiert und ihm sogar einen gewissen Vorzug einräumt. Er hält ihn lediglich deswegen für weniger geeignet, weil der ihm zugrunde liegende quantitativ mathematische Charakter, im strengen Sinn auf Gott angewandt, die Gleichartigkeit der endlichen und unendlichen Realität ausdrücken würde. Beide Begriffe liegen also auf dem gleichen Niveau der Wesenheit Gottes und nicht seiner Eigenschaften, wie Allmacht und Weisheit. Daß für Kant das Attribut der Allgenugsamkeit nichts anderes bedeutet als eben den höchsten Grad der Realität seines Wesens, durch den er Realgrund alles möglichen Realen ist, geht eindeutig auch aus den Reflexionen der sechziger Jahre hervor: „Das notwendige Wesen ist allgenugsam (das allervollkommenste transcendentaliter) d. i. das allerrealste als ein Grund."' 6 1 Kant faßt in diesen frühen Reflexionen das ens realissimum stets als höchsten Grad der Realität, d. h. als intensive Größe, deren Quantität an ihrer möglichen Wirkung gemessen wird, d. h. an der Fülle der niedrigeren Grade, die sie zu begründen oder hervorzubringen vermag, wie aus der eben genannten Reflexion 3733, ferner den RR 3734, 3775, 3776, 3799 (das Ganze aller möglichen Dinge, die im Zusammenhang mit dem allgenugsamen Grund möglich sind), 3813, 3815, 3816, 3841, 3889 (die höchste Realität besteht nicht darin, daß alles in ihr sei, sondern durch ihr als einen Grund; denn das maximum der Realität ist nicht synthetisch möglich oder durch Koordination, sondern mindere Grade sind nur durch die Einschränkung des größesten möglich. Nun ist die höchste Realität die, welche nicht eingeschränkt werden kann; also ist diejenige, welche das Maß aller Dinge ist, und darin aller Dinge Realität liegt, nur die Folge von dem ente summo), 3909. Es ist also eine Fehlinterpretation, wenn der Autor die Allgenugsamkeit Gottes und damit die Erhabenheit Gottes völlig anders verstanden wissen will, d. h. wenn er sie nicht darin sieht, worin Kant selbst das unbegreifliche und keinem endlichen Verstand je erreichbare Geheimnis Gottes als unaufhebbaren Grund seiner Bewunderung erblickt: sondern darin, daß er die Möglichkeit der Dinge durch seinen allmächtigen Willen aus dem Nichts entwirft, oder anders ausgedrückt, daß er das Sein des Realen der Möglichkeiten in Gott verneint. Das ist eine Sicht, die offensichtlich nicht aus der Analyse der Kantischen Texte gewonnen, sondern par force in sie hineininterpretiert wird. Der eigentliche Grund, warum der Autor den Begriff der Allgenugamkeit als ens realissimum im bezeichneten Sinn ablehnt und damit auch das Enthaltensein der Möglichkeiten in Gott vorausgehend zu seinem schöpferischen Willen, liegt natürlich darin, daß dadurch eine Gemeinschaft oder Verwandtschaft zwischen dem Sein Gottes und dem der Geschöpfe und so die Analogie im Verhältnis Gott-Welt statuiert wird, was gerade diametral dem kalvinistischen Gottesbegriff entgegengesetzt ist, von dem Kant nach dem Autor angeblich ausgeht und der nach ihm das Ziel seiner ganzen Beweisführung sein soll. Darum sucht er diese seine These durch weitere Kantische Texte zu stützen. Aber es läßt sich leicht zeigen, daß auch diese, in ihrem Zusammenhang betrachtet, keinesfalls das hergeben, was der Autor aus ihnen herauslesen möchte. Es sind vor allem zwei Stellen aus den Negativen Größen, auf die Redmann in diesem Zusammenhang immer wieder zu161

Ebd. XVII, 274f. (R 3733)

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 4 3

rückkommt : , , Der göttliche Wille [als Grund der Welt] ist etwas, die existierende Welt ist etwas ganz anderes. " Redmann möchte das in dem Sinn verstehen, daß es zwischen Gott, dem Schöpfer, und der Welt als Geschöpf keinerlei Gemeinschaft oder Analogie geben könne. Aber was sagt Kant hier wirklich? Nichts anderes als: daß ganz allgemein das Kausalverhältnis von der Ursache zur Wirkung nicht nach dem logischen Schema von Grund-Folge und damit nicht als Widerspruchsnotwendigkeit begriffen werden kann. Denn das würde voraussetzen, daß die Realfolge (=Wirkung) ein Teilmerkmal des Begriffes des Realgrundes (=der Ursache) wäre. Die Ursache der Existenz der Welt ist der schöpferische Wille Gottes. Dieser, die Ursache, ist etwas, die existierende Welt, ihre Wirkung, ist etwas ganz anderes. Für Kant ist das ein Beispiel, das deutlich machen soll, daß das Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache nicht logisch begreiflich gemacht, d. h. nicht auf eine begriffliche Notwendigkeit zurückgeführt werden kann. Als andere Beispiele führt er an das Hören des Wortes Stagirit (als Ursache) und die Vorstellung eines Philosophen (als Wirkung), die Bewegung eines Körpers A, die die Bewegung eines anderen, ruhenden Körpers Β zur Folge hat: „die Bewegung von A ist etwas, die von Β ist etwas anders, und doch wird die eine durch die andre gesetzt." „Ihr möget nun den Begriff vom göttlichen Wollen zergliedern, so viel euch beliebt, so werdet ihr niemals eine existierende Welt darin antreffen, als wenn sie darin enthalten und um der Identität willen dadurch gesetzt sei, und so in den übrigen Fällen" 162 . Für Kant geht es hier also lediglich um ein Beispiel unter anderen. Das Mißverständnis des Autors liegt nun darin, daß mit dem hier bezeichneten Verhältnis zwischen dem schöpferischen Willen Gottes und der Existenz der Welt in Wirklichkeit überhaupt nichts ausgesagt wird über das Verhältnis zwischen dem Wesen Gottes und der Möglichkeit der Dinge, die nach der n. 2 der zweiten Abteilung als dem schöpferischen Willen vorausgehend gedacht werden muß. Mit anderen Worten: da die Dinge ihrer Möglichkeit nach im Wesen Gottes und nicht in seinem Willen gegründet sind, das Wesen Gottes aber alles Reale der Möglichkeiten der Dinge „auf die eine oder andere Art" in sich enthält und allgenugsam im Sinn der höchsten Realität als intensiver Größe ist, so ist die Welt als Verwirklichung dieser in Gottes Wesen enthaltenen Möglichkeiten nicht „etwas ganz anderes" dem göttlichen Wesen gegenüber, d . h . dieses Verhältnis schließt die Analogie, die Gemeinschaft zwischen Gott und dem Geschöpf bei aller Radikalität des Unterschiedes, auf den Kant selbst mit Nachdruck hinweist, nicht aus, sondern ein. Diese Analogie wird auch von dem anderen Text der Negativen Größen, der der allgemeinen Anmerkung über das Kausalverhältnis unmittelbar vorangeht und auf den sich der Autor ebenfalls beruft, keineswegs in Abrede gestellt. Hier geht es darum, wie sich das Prinzip der negativen Größen auf unsere Gotteserkenntnis auswirkt. Da die dieser Lehre entsprechenden Wirkgesetze einerseits alles geschöpfliche Wirken bestimmen, andererseits aber auf Gott und sein Wirken nicht zutreffen können (aus dem oben bezeichneten Grund), so habe der Umstand, daß wir die Begriffe, mit denen wir das göttliche Wesen denken, von uns selbst nehmen müssen, zur Folge, daß es,,in den mehrsten Fällen dunkel (bleibe), ob wir diese Idee eigentlich oder nur vermittelst einiger Analogie auf die162

Ebd. 202 f.

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sen unbegreiflichen Gegenstand übertragen sollen" 163 . Und er erläutert diesen Gedanken an dem Unterschied zwischen dem göttlichen und geschöpflichen Willen: während für den letzteren die Gegenstände bzw. die Güter, die er nicht besitzt, den Antrieb bilden, sie zu begehren und zu wollen, ist das beim göttlichen Willen völlig anders, denn er hänge nicht im mindesten von etwas anderem ab, und so wohne dem durch sich Seligen nicht deswegen diese reine Lust bei, weil das Gute außer ihm existiert, sondern es existiere dieses Gute, weil die ewige Vorstellung seiner Möglichkeit und die damit verbundene Lust ein Grund der vollzogenen Begierde sei. Wenn man die konkrete Vorstellung des Begehrens alles Geschaffenen damit vergleiche, so werde man gewahr, daß der Wille des Unerschaffenen damit wenig Ähnlichkeit haben könne. Aus dieser Erklärung geht hervor, daß gerade auch die höchsten geschöpflichen Tätigkeiten nur nach Analogie auf Gott übertragen werden können, weil der modus quo, dip spezifische Eigenart, eine völlig andere ist, wie er das schon für die Erkenntnis in der Nova Dil. betont hatte 164 . Gewiß bedeutet das einen unermeßlichen Unterschied in der Qualität, wie es von Dingen zu erwarten ist, von denen „die einen für sich selbst nichts sind, das andere aber dasjenige, durch das allein alles ist" 1 6 5 . Aber das ist nur die eine Seite des Verhältnisses, die die andere nicht aufhebt, daß eben das allgemeine, generische Wesen von Verstand und Wille Gott zugeschrieben werden kann und muß, sonst könnten wir Gott gar nicht als persönlichen Gott denken, und wenn wir den Beweisgrund betrachten, der ja thematisch vom Dasein und Wesen Gottes handelt, so sehen wir, wie Kant die letzte der vier Betrachtungen der ersten Abteilung ganz dem Beweis widmet, daß Verstand und Wille dem notwendig Daseienden zugeschrieben werden müssen, und zwar als Bestimmung oder, wie die Schule sagte, formaliter, da sonst, wenn sie ihm nur virtuell oder ursächlich zukämen, das Geschöpf in einer wesentlichen Hinsicht über dem Schöpfer stünde. Die Analogie ganz allgemein zwischen Schöpfer und Geschöpf ist aber prinzipiell schon dadurch gegeben, daß das Wesen Gottes das Reale aller Möglichkeit, wenn auch nicht unterschiedslos als Bestimmung, so doch wenigstens virtuell als es begründendes Prinzip in sich enthält. Es kann somit keinen Zweifel geben, daß der zentrale, der Schlüsselbegriff der Kantischen Argumentation nicht der der Allgenugsamkeit des 8. Abschnitts der zweiten Abteilung ist (ganz abgesehen davon, daß Kant selbst ihn dort anders versteht als ihn Redmann verstanden wissen will), sondern der des notwendigen Daseins, der im Zentrum der ersten Abteilung entwickelt wird und aus dem dann alle metaphysischen Attribute Gottes, einschließlich der Allgenugsamkeit im Sinn der Allrealität, abgeleitet werden. Dieses Prädikat der Allgenugsamkeit als omnitudo realitatis im Sinne des höchst möglichen Grades von Realität kann aber nur deswegen aus dem Begriff des notwendig Daseienden abgeleitet werden, weil dieser Begriff selbst per definitionem durch die absolute Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeit des Seins bestimmt ist und so überhaupt nur als oberster Realgrund aller Möglichkeiten als notwendiges Dasein gedacht werden kann. Dieser Zusammenhang ist allerdings nur einsichtig, wenn der Begriff des Möglichen, von 163 164 165

Ebd. 200 Ebd. I, 391 Ebd. II, 201

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 245 dem die Kantische Argumentation ausgeht, als Möglichkeit der Dinge verstanden wird, wie Kant es zu Beginn seiner Argumentation 1 6 6 und zum Beschluß derselben und dann vor allem auch in der Kennzeichnung des apriorischen Arguments in der dritten Abteilung unmißverständlich einschärft 1 6 7 . Für den Autor dagegen spielt dieser Begriff für die ontotheologische Argumentation überhaupt keine Rolle, da nach ihm der Schluß auf das notwendige Dasein als Grund aller Möglichkeit des Denkens aus der Kontingenz des Daseins der Dinge erfolgt, die die unmittelbare Bedingung der Möglichkeit des Denkens bilden und die ohne Gott nichts und nur in Abhängigkeit von ihm etwas sind. Es wäre also der entscheidende Schluß eigentlich ein Kontingenzargument aus dem Dasein der Dinge, den aber Kant sowohl zum Beschluß der ersten Abteilung 1 6 8 wie am Ende der ganzen Abhandlung ausdrücklich als Beweisgrund für das notwendige Dasein abgelehnt hat 1 6 9 . Der Autor übersieht, wie auch andere, die eigentliche Substanz des Kantischen Arguments, und deshalb ist es nicht zu verwundern, daß er von seinem Verständnis aus den apriorischen Charakter desselben überhaupt nicht ernst zu nehmen vermag. Wie sehr Redmann das Spezifische der Kantischen Argumentation verkennt, geht im übrigen auch daraus hervor, daß er das Nichts, von dem aus Kant im Argument auf das notwendige Dasein schließt, mit dem Nichts der Existenz der Dinge bzw. der Welt identifiziert, das Kant im dritten Teil der Negativen Größen aus dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung in allem Weltgeschehen ableitet, d. h. das nihil negativum der Aufhebung aller Möglichkeit des Seins mit der Aufhebung der Existenz der Welt, dem nihil = Zero 1 7 0 . N u r aus dem ersteren, dem absoluten Nichts läßt sich, so betont Kant in den letzten Sätzen der Abhandlung noch einmal, die Notwendigkeit des Daseins gewinnen, nicht aber aus der Zufälligkeit des Daseins der Welt. Man sieht, wie in der Interpretation des Autors der Gedankengang des Kantischen Arguments jede überzeugende Einheit als Entwurf aus einem Guß verliert und in mehr oder weniger beziehungslose Stücke zerfällt. Sie hat aber darüber hinaus, wie bereits betont, zur Folge, daß die ganze Abhandlung nicht mehr als literarische Einheit, als Behandlung eines einzigen Themas, ihres Titelthemas, verstehbar ist. Denn ihre ganze weitläufige zweite Abteilung fällt dann notwendig aus dieser Titelthematik heraus. Kant selber hat, wie wir gesehen haben, diesen Zusammenhang am Ende der ersten Abteilung hergestellt, und zwar so, daß der Begriff des notwendigen Daseins, also der zentrale Begriff des apriorischen, ontologischen Arguments, die verbindende Klammer darstellt 1 7 1 . Redmann vermag ebenso wenig, wie alle anderen Interpreten, die Kant von der Möglichkeit des Denkens aus argumentieren lassen, den von diesem selbst bezeichneten Zusammenhang in seiner fundamentalen Bedeutung für die Einheit der Abhandlung zu erfassen. Folglich sind sie gezwungen, zu anderen, von außen an die Abhandlung herangetragene Lösungen dieses wichtigen Problems zu grei166 167 168 169 170 171

Ebd. 78 Ebd. 91, 157 Ebd. 91, Z. 12 ff. Ebd. 162, vgl. dazu 157f. (n.3) Redmann, op. cit. 141 KGS II, 92

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fen. Für Redmann liegt der Zusammenhang zwischen den beiden Abteilungen darin, daß Kant von seinem angeblich dogmatisch theologischen Standpunkt aus einerseits durch die Rückführung der gesamten Ordnung des Kosmos auf die immanenten mechanischen Kräfte der Materie (Attraktions- und Repulsionskraft) die Endlichkeit der Form bzw. Ordnung der Welt und die Zufälligkeit der Weltmaterie dartun wollte, um dadurch auf den allmächtigen, welttranszendenten Schöpfergott hinzuweisen, und andererseits in seinem ontologischen Beweis die Endlichkeit und Geschöpflichkeit der menschlichen Vernunft auf Grund ihrer radikalen Bezogenheit auf die Erfahrung von Daseiendem aufweisen wollte, um sie dadurch zur Anerkenntnis des Geheimnisses der Schöpfung und des Schöpfers aus dem Nichts zu führen. Diese Analogität der beiden Konzeptionen sei der Grund, warum in dem naturwissenschaftlichen Traktat der Kosmogonie das theologische Thema einen so breiten Raum einnehme und umgekehrt im theologischen das naturwissenschaftliche und kosmogonische. Im Beweisgrund werde der theologische Gehalt der Kosmogonie völlig evident, weil er hier das inhaltliche Ziel der Kosmogonie präzis formuliere, indem er in dem über den ontologischen Gottesbeweis hinausgehenden Teil wesentliche Partien der Naturgeschichte übernehme und deren Gedankengang weiterführe und zum Abschluß bringe. Das erkläre den manchen befremdlichen Umstand, daß innerhalb der exklusiv theologischen Fragestellung des Beweisgrundes nicht weniger von Naturwissenschaft gesprochen wird als in der Naturgeschichte, und in dieser wiederum die theologischen Gedankengänge einen ähnlich breiten Raum einnehmen wie im Beweisgrund112. Nun, wenn man die Voraussetzungen des Autors und seine Interpretation sowohl der physikotheologischen wie der ontologischen Beweisführung Kants akzeptiert, kann man sich in der Tat keine andere Lösung des Problems dieser ganzen ausführlichen physikotheologischen Abteilung innerhalb der theologischen Thematik des Beweisgrundes denken. Aber es ist eine Lösung, die schwerlich jemand überzeugen kann, der den konkreten Gedankengang der Naturgeschichte und der zweiten Abteilung des Beweisgrundes vor Augen hat; m. a. W. nur wenn diese Überlegungen ganz vage und abstrakt gehalten und nicht mit der konkreten Gestalt des Textes verglichen werden, können sie über die unüberwindlichen Schwierigkeiten hinwegtäuschen, die ihnen aus der Textgestalt der beiden Werke unvermeidlich erwachsen. Schon die These Redmanns, Kant sei durch die Einsicht in das Scheitern einer Naturoffenbarung überhaupt, d. h. daß alle aposteriorische Theologie letzlich zu einem feineren Atheismus führen müsse, unter dem gedanklichen Zwang der Grundtendenzen seines Jahrhunderts, sozusagen der Vernunftoffenbarung in die Arme getrieben worden, scheitert allein an der Tatsache, daß er im gleichen Jahre 1755, indem er die Naturgeschichte abgeschlossen hat, auch seine Nova Dilucidado verteidigte, in der er in der Substanz seine ganze Ontotheologie entwickelt: also ist er nicht erst durch das lange Nachdenken im Zeitraum zwischen 1755 und 1762 zur Erkenntnis gelangt, daß alle Naturoffenbarung, auch die der verbesserten Physikotheologie, zum Scheitern verurteilt sei, so daß erst diese Erkenntnis ihn hätte Zuflucht suchen lassen bei einer Vernunftoffenbarung, vielmehr laufen beide von Anfang an parallel zu172

Redmann, op. cit. 35 f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 4 7

einander, ja sind beide, wie uns die Entwürfe zur frühen Preisschrift über den Optimismus zeigten, von Kant als aufs engste miteinander verbunden angesehen worden. Aber darüber hinaus sind auch die Voraussetzungen des bezeichneten Lösungsversuches Redmanns mehr als fragwürdig; denn Kant hat nie die gesamte Naturordnung mechanistisch erklärt, vielmehr immer die organische Natur weitgehend auf eine positive Anordnung der göttlichen Weisheit zurückgeführt, sie also als künstliche Naturordnung betrachtet d. h. im Sinn einer okkasionalistischen Physikotheologie nach der Terminologie Redmanns; dieses Moment tritt zwar in der Kosmogonie in den Hintergrund, weil er hier ausschließlich von der Entstehung des Weltalls auf Grund mechanischer Ursachen spricht und sie gegen jene Theologen verteidigt, die alle Ordnung der Natur auf eine künstliche Anordnung der göttlichen Weisheit zurückführen wollten. Aber andeutungsweise kommt auch die künstliche Ordnung des Organischen zum Ausdruck, dort, wo er die Erklärung des Universums mit derjenigen der Organismen vergleicht173. Außerdem hat Kant nie behauptet, daß auch nur die gewöhnliche Physikotheologie zu jenem Irrtum führe, den man den,,feineren Atheismus" nennt, geschweige denn die ganze aposteriorische Theologie, sondern lediglich, daß diejenigen, die sich der Methode der gewöhnlichen Physikotheologie allein bedienen wollen und sie also auch auf die aus der mechanischen Kausalität hervorgehende Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur anwenden, der Gefahr jenes „feineren Atheismus" ausgesetzt sind, der Gott nicht als Urheber der Materie, sondern nur der Form der Welt anerkennt174. Kant hat diese Gefahr überwunden durch seinen Entwurf der verbesserten Physikotheologie, und außerdem umfaßt sein kosmologischer Beweis ja auch zumindest ein vom Wölfischen unterschiedenes Kontingenzargument, das direkt auf eine causa prima der Materie der Welt schließt, nämlich das ex commercio substantiarum. So hat der Philosoph, das ist gegen den Autor zu betonen, stets, auch noch in der Kr. d. r. V.,denkosmologischenbzw. physikotheologischen Beweis als einen wertvollen und sachlich bedeutsamen Weg der Erkenntnis des Daseins Gottes anerkannt175. Mit der Tatsache aber, daß er einen wesentlichen Bereich der Naturordnung auf eine unmittelbare „künstliche" Einrichtung Gottes zurückführt176, ist einer Grundthese der Interpretation des Autors der Boden entzogen: daß der Philosoph mit der Begründung der gesamten Naturordnung auf die immanente mechanische Kausalität die Form der Welt durch deren wesentliche Bindung an die Materie verendlicht und damit jene Auffassung abgelehnt habe, die diese Form als im göttlichen Geist enthaltene Welt der Möglichkeiten vergöttliche und damit der Welt aufgrund dieser ihrer unerschaffenen Formdimension eine Mitursächlichkeit für die eigene Existenz zuschreibe. Diese Gedanken liegen Kant offensichtlich fern, da er, wie wir sahen, in der 2. Betrachtung der zweiten Abteilung ganz unbefangen von einer unmoralischen Abhängigkeit der Dinge von Gott auf Grund des Begründetseins ihrer Möglichkeiten im göttlichen Wesen spricht oder von 173 174 175 176

KGS I, 230 vgl. ebd. II, 122 f. vgl. Kr. d. r. V. Β 650-653 KGS II, 106 f.

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III. Teil

ganzen Welten möglicher Dinge, die dem schöpferischen Willen Gottes vorausgehen. Damit fällt aber auch schon die andere Voraussetzung seiner Lösung des Problems der zweiten Abteilung: daß Kant im ontologischen, apriorischen Beweis lediglich die Geschöpflichkeit und Endlichkeit der Vernunft habe dartun wollen, und zwar dadurch daß er ihr durch ihre strikte Bindung an die Erfahrung des Existierenden jedes Zurückgehen zu den Bedingungen der Möglichkeit der Existenz der Dinge abgeschnitten habe. Sie fällt aber grundlegender damit, daß die Möglichkeit, von der Kant ausgeht, die Möglichkeit der Dinge ist und nicht die Möglichkeit des Denkens, daß es also in seinem Argument gar nicht um die Bindung des Denkens an die gegebene Existenz der Welt (als Bedingung der Möglichkeit des Denkens) geht, sondern um das Verhältnis der Möglichkeit der Dinge, die wir in den Möglichkeitsbegriffen erfassen, zu ihrem obersten Realgrund und um dieses Verhältnis allein, womit Kant mit größter Selbstverständlichkeit das Gegenteil des Standpunktes Redmanns vertritt, daß nämlich die menschliche Vernunft einen wahren Zugang hat zu dem der Existenz der Dinge vorgängigen Bereich ihrer Möglichkeit. Nun könnte man im Sinne des Autors einwenden, daß, wenn nicht die einzelnen, den Beweisgängen selbst oder auch den Negativen Größen entnommenen Belegstellen dessen Auffassung beweisen könnten, doch Kants Bemerkungen über die Gefährlichkeit und Risiken metaphysischer Beweise im allgemeinen, seine Betonung der Uberflüssigkeit spitzfindiger Argumente bzw. Demonstrationen für den Gottesglauben, sein Hinweis auf die Unvollkommenheit und das Bruchstückhafte seines vorgelegten Beweisgrundes deutlich dafür sprächen, daß er sich nur unter dem Zwang der herrschenden Zeitströmung seines Jahrhunderts und mehr gegen seinen Willen und seine Überzeugung auf diesen Weg einer „Vernunftoffenbarung" eingelassen und sie in Wahrheit doch nur als Mittel des Ausdrucks seines für ihn als Gegebenheit feststehenden kalvinistisch-dogmatischen Gottesglaubens in Anspruch genommen habe. Aber auch aus den hier angedeuteten Bemerkungen über die Metaphysik etc. läßt sich für die Interpretation des Autors kein Kapital schlagen, vorausgesetzt, daß man sie im ganzen Kontext liest und nicht einzelne Ausdrücke oder Sätze aus dem Zusammenhang nimmt und verabsolutiert. Das gilt schon für die Ausführungen des ersten Absatzes der Vorrede 177 ; denn sie betonen nur, daß die Demonstration des Daseins Gottes, im strengen Sinn verstanden, nicht notwendig ist für die fundamental wichtige Uberzeugung: Es ist ein Gott. Trotzdem aber habe sie ihre Bedeutung einerseits für die persönliche Befriedigung eines nach Vollständigkeit der Begründung strebenden Forschers, andererseits auch in sachlicher Hinsicht, weil von einer derartigen Erkenntnis eine weitergehende Aufklärung des Gegenstandes selbst erwartet werden könne. Hier in der Vorrede wie auch im letzten Absatz der Abhandlung Kants drückt sich ohne Zweifel eine gewisse Reserve gegenüber seinem höchst metaphysischen Beweisgang aus, die sich zwar unmittelbar auf die Frage der Notwendigkeit einer solchen Demonstration für die zur Glückseligkeit höchst nötige Uberzeugung vom Dasein Gottes bezieht: sie ist nicht unbedingt nötig in dem Sinn, daß die wichtigste aller unserer Erkenntnisse wanke oder in Gefahr sei, nicht ebenso nötig wie daß man sich von ihr überzeuge, aber sie 177

Ebd. 65

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

ist trotzdem wünschenswert und von Nutzen. Warum aber ist sie nicht ebenso nötig? Weil es für den Gebrauch der gesunden Vernunft, der noch innerhalb der Grenzen gemeiner Einsichten ist, genugsam überführende Beweistümer von dem Dasein und den Eigenschaften dieses Wesens gibt, ein Gedanke, der uns in derVorredezur2. Auflage der Kr. d. r. V. wieder begegnet 178 . Es geht also hier nicht darum, wie Redmann unterstellt, daß die Wirklichkeit Gottes dem natürlichen Verstand oder der gesunden Vernunft eine selbstverständliche Gegebenheit sei, sondern er spricht hier von den überführenden Beweistümern, die der natürlichen gesunden Vernunft auch ohne die Subtilitäten der spekulativen Philosophie zugänglich sind. Woran Kant hierbei denkt, ist nicht schwer zu erraten: Es sind alle jene Argumente, die er in der dritten Abteilung unter dem Begriff des kosmologischen Beweises zusammenfaßt und die er abschließend dahin charakterisiert, daß sie, wenngleich in all diesen Schlüssen keine geometrische Strenge hervorblicke, doch unstreitig so viel Nachdruck enthalten, „daß sie einen jeden Vernünftigen nach Regeln, die der natürliche gesunde Verstand verfolgt, keinen Augenblick hierüber im Zweifel lassen" 179 , was der Sache nach genau der Anerkennung des physikotheologischen Beweises in der Dialektik der Kr. d. r. V. entspricht und den von Kants Kritik unberührt gelassenen Gründendes Gottesglaubens nach der Vorrede der 2. Auflage 180 . Kant geht also hier im Beweisgrund noch nicht so weit, daß er die Demonstration von geometrischer Strenge als überflüssig abtut, wie dann im Schlußabschnitt der Träume eines Geistersehers, sondern betont lediglich ihre Nichtnotwendigkeit für den Gottesglauben, zugleich aber auch die Nützlichkeit für diesen. Allerdings berührt die Reserviertheit Kants in diesen Bemerkungen in gewissem Sinn auch die Gültigkeit des apriorischen ontologischen Arguments selber. Denn das Wort vom finsteren Ozean der Metaphysik aus der Vorrede und auch das von dem ungebahnten Fußsteig des Schlußabsatzes weist unverkennbar in diese Richtung. Es zeigt, daß der Philosoph, obwohl er damals noch durchaus von der formalen Schlüssigkeit seiner Argumentation überzeugt war, sich seiner Sache doch nicht völlig sicher fühlte, daß er sich in der Tat, wie er selbst im Folgenden der Vorrede sagt, nur mit Furcht und Mißtrauen an ein derartiges Unternehmen wagte. Das aber bedeutet keineswegs, daß er nur durch das Mißverstehen seiner eigentlichen Intention Rationaltheologie betrieben hätte, genau so wenig wie seine Einschränkungen hinsichtlich des kosmologischen Arguments bedeuten, daß er dessen entscheidende Funktion für die Fundierung des Gottesglaubens in Abrede stellen wollte. Der Autor deutet, wie wir gesehen haben, die obigen Stellen so, daß Kant die „Vernunftoffenbarung" bzw. seinen apriorischen Beweis als Weg zu Gott überhaupt nicht im Ernst angestrebt habe, da ein solches Unterfangen für seine grundlegende Auffassung der menschlichen Vernunft von vornherein illusorisch gewesen sei und außerdem seiner eigentlichen offenbarungstheologischen Zielsetzung geradezu widersprochen hätte. Freilich stellt er das Verhältnis Kants zum apriorischen Argument mehr in dem Sinn dar, wie dieser sich dazu seiner Grundintention gemäß hätte verhalten müssen, nicht wie 178 179 180

Kr. d. r. V. Β XXXI-XXXIV KGS II, 159 Kr. d. r. V. Β 651 f.

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III. Teil

er sich tatsächlich verhalten hat, insofern er ja unbestreitbar den Weg des ontologischen Beweises gegangen ist, obwohl er ihm unsympathisch gewesen sei und er sich innerlich eher dagegen gesträubt habe' 8 1 . Aber ähnlich wie es dem Autor nicht gelingt, den wahren Zusammenhang sowohl in entwicklungsgeschichtlicher wie in systematischer Hinsicht zwischen dem ontotheologischen und verbesserten physikotheologischen Argument Kants zu erkennen, so scheint ihm auch der wahre Grund dieses irgendwie zwiespältigen Standpunktes Kants im Hinblick auf die Metaphysik zu entgehen. In Wirklichkeit nämlich treffen hier zwei verschiedene Entwicklungslinien des vorkritischen Philosophierens Kants zusammen: einmal, wie er in der autobiographischen Reflexion 5116 182 mitteilt, sein Bemühen, den gemeinschaftlichen Schatz der alten Metaphysik zu verbessern und in einigen Stücken etwas Eigenes dazu beizutragen, „doch jederzeit in der Absicht, dogmatische Einsichten dadurch zu erwerben." Dieses Bestreben finden wir schon mit bemerkenswertem Engagement in der Nova Dilicidatio und es erreicht auf dem entscheidenden Gebiet der Rationaltheologie seinen Höhepunkt in dem Beweisgrund von 1762. Die zweite, davon relativ unabhängige Entwicklung hat das Methodenproblem der Metaphysik zum Gegenstand, das bereits in seiner ersten Veröffentlichung Schätzung der lebendigen Kräfte, deutlich formuliert wird 183 und das in der Preisschrift vom Ende 1762 seine erste systematische Darstellung findet. Nun ist es bezeichnend sowohl für den Beweisgrund wie für die Preisschrift, daß in ihnen die vorwärts gerichtete und betont kritisch eingestellte Methodenlehre und das rückwärts blickende, an der traditionellen Metaphysik orientierte ontotheologische Argument auffallend unverbunden nebeneinander stehen, ein Gegensatz und eine Spannung, aus denen sich jene reservierten und mißtrauischen Bemerkungen hinsichtlich der Metaphysik im Beweisgrund auf der einen Seite und die doch wiederum recht entschiedene Behauptung der Schlüssigkeit und Stringenz des ontotheologischen Arguments (im Zug der Entwicklung desselben) auf der anderen sozusagen ganz natürlich erklären lassen. Die Analysen des ersten und zweiten Teils der vorliegenden Arbeit wie die vorausgehende Diskussion der Position Redmanns dürften dargetan haben, daß dessen Grundthesen von den Kantischen Texten nicht nur nicht gestützt werden, sondern daß alle einschlägigen Stellen, im Kontext gelesen und interpretiert, gegen sie sprechen. Wir wollen abschließend nur noch einmal kurz auf die entscheidenden Punkte hinweisen, in denen sich der Standpunkt Kants und der seines Interpreten in diametralem Gegensatz zu einander befinden. Nach Kant erreichen wir a) in unseren Möglichkeitsbegriffen die Strukturen und Realgehalte der Möglichkeiten der Dinge selbst und können von diesen letzteren aus zwingend auf die absolute Notwendigkeit ihres obersten Realgrundes schließen und sie in ihrem Wesen begreifen (auf Grund der aus seiner Negierung resultierenden absoluten Unmöglichkeit alles Möglichen), woraus sich ergibt, daß ein ontotheologisches Argument als eine von der existierenden Welt unabhängige und damit apriorische Schluß181 182 183

Redmann, op. cit. 118 f. KGS XVIII, 95 Ebd. I, 30f.

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 5 1

folgerung auf das Dasein Gottes möglich ist 184 ; sind b) die Möglichkeiten der Dinge im Wesen Gottes begründet und ihrem Realgehalt nach entweder formell als Bestimmungen oder wenigstens in ihrer Ursache im Wesen Gottes aktuelle Wirklichkeit; sie gehen deshalb einerseits dem schöpferischen göttlichen Willen voraus und sind von ihm unabhängig und bestimmen andererseits das Wesen Gottes als ens realissimum oder omnitudo realitatis und in diesem Sinn als allgenugsames Wesen, woraus folgt, daß zwischen dem göttlichen Sein und den geschöpflichen Dingen trotz alles unermeßlichen Abstandes und aller radikalen Verschiedenheit ein unaufhebbares Verhältnis der Analogie und damit der Verwandtschaft besteht. Nach Redmann, der in seiner Interpretation bei Kant das Gott-Weltverhältnis der kalvinischen Dogmatik aufweisen will, das besagt, daß zwischen Gott und den geschöpflichen Dingen keinerlei Analogie und Verwandtschaft bestehen kann, liegt a) der eigentliche Kern der Kantischen Ontotheologie in der These der radikalen Bindung der menschlichen Vernunft an die Erfahrung von existierenden Dingen, wodurch ihr jeglicher Zugang zu deren Ermöglichungsbedingungen grundsätzlich abgeschnitten ist, was in dem Grundsatz, daß die Möglichkeit des Denkens, von der seine ontotheologische Argumentation ausgehe, neben ihrem Formalprinzip (der logischen Widerspruchslosigkeit) ein Existierendes als Materialprinzip voraussetze, seinen systematischen Ausdruck gefunden habe. Damit werde eo ipso und von vornherein der Gedanke eines apriorischen ontologischen Arguments nicht nur völlig illusorisch, sondern der von Kant entwickelte Gedankengang selbst zu einer Ironie; b) nach seiner Interpretation gibt es nicht nur keinen der göttlichen und menschlichen Vernunft gemeinsamen Gegenstandsbereich in den der Existenz bzw. der Schöpfung vorgängigen Möglichkeiten der Dinge, sondern es gibt auch in Gott selbst kein dem allmächtigen Schöpferwillen vorgängiges und von ihm unabhängiges Reich der Möglichkeiten, sondern die Möglichkeiten oder Wesenheiten der Dinge werden ebenso wie ihre Existenz vom schöpferischen Willen selbst aus dem Nichts hervorgebracht, was allein den kalvinisch dogmatischen Begriff der creatio ex nihilo und zugleich den eigentlichen Kantischen Begriff der Allgenugsamkeit definiere, woraus sich dann die völlige Analogielosigkeit zwischen der alles Geschöpfliche unendlich übersteigernden Herrlichkeit des creator ex nihilo und der Welt der geschaffenen Dinge ergebe. Wir haben also hier in Wahrheit eine Interpretation der Texte vor uns, in der versucht wird, eine im voraus feststehende und aus anderen Quellen als der Analyse der Texte selbst gewonnene theologische Grundauffassung von der Ontotheologie (und Physikotheologie) Kants durchzusetzen. Die Folge ist, daß damit die naturwissenschaftlichen und metaphysischen Werke des frühen vorkritischen Kant zu seltsamen Mischformen aus Geschichtstheologie und Naturwissenschaft bzw. Ontologie werden, in denen einerseits das dogmatisch-theologische Prinzip formgebendes, die Voraussetzungen und das Ziel der Argumentation bestimmendes Element bleibt, durch das alle naturwissenschaftlichen und ontologischen Argumentationen ihren selbständigen Rang und Eigenwert einbüßen und als Mittel dem offenbarungstheologischen Prinzip untergeordnet werden, andererseits aber die naturwissenschaftlichen, physikotheologischen und ontotheologischen Ar184

Ebd. II, 91

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III. Teil

gumentationen mit solcher Ausführlichkeit, solchem Engagement und solcher Konsequenz durchgeführt werden, daß sie unvermeidlich als primär naturwissenschaftliche, naturphilosophische und metaphysische Traktate erscheinen, durch die eine Naturoffenbarung und Vernunftoffenbarung Gottes, d. h. ein physikotheologischer und ontotheologischer Weg zu Gott, intendiert wird. Diese seltsame Verbindung des formgebenden geschichtstheologischen Charakters und der dominierenden theologischen Zielsetzung mit dem unverkennbaren naturwissenschaftlichen und metaphysischen Engagement erklärt der Autor einerseits mit dem Verhaftetsein Kants an die philosophischen und geistesgeschichtlichen Strömungen seines Zeitalters, das dem Glauben an die Möglichkeit einer Natur- und Vernunftoffenbarung Gottes gehuldigt, und mit der Tatsache, daß sich Kant selbst seiner zutiefst geschichtstheologischen Voraussetzungen und Zielsetzungen nicht oder nur unvollkommen bewußt gewesen sei, so daß er immer wieder nolens volens in die Richtung der genannten herrschenden Zeitströmung gedrängt worden sei. So werden nach der Interpretation Redmanns die frühen vorkritischen Werke Kants, darunter nicht zuletzt der Beweisgrund von 1762, zu eigenartigen literarischen Produkten, die weder dem Denker noch dem philosophischen Autor Kant Ehre machen, die ihn im Gegenteil in beider Hinsicht deklassieren gegenüber den herausragenden Philosophen seiner Epoche, etwa Leibniz, Wolff, Crusius, oder auch Spinoza, Hobbes und andere, die genau wußten, was sie wollten, und es auch in unmißverständlicher Weise in ihren Werken darzutun vermochten. C. Die letzte Interpretation der Ontotheologie Kants, die wir in diesem Kapitel behandeln wollen: die Joseph Moreaus in „Le Dieu des philosophes" 185 , bewegt sich wieder auf der rein philosophischen Ebene; sie bildet beim Autor, wie schon der Titel seines Werkes vermuten läßt, ein Element der Diskussion des philosophischen Gottesproblems, näherhin der der Gotteslehre Kants und ihrer Kritik an den traditionellen Gottesbeweisen. Dabei vertritt Moreau die These, daß durch den von Leibniz erneuerten Augustinischen Beweis aus dem Wesen der Wahrheit bzw. der „Realität" der ewigen Wahrheiten und notwendigen Wesenheiten186 und mehr noch durch die die Reflexion über das Wesen der Wahrheit einschließende erste Form des ontologischen Beweises Descartes' (nämlich die der dritten Meditation), sowohl die Kantische Kritik am kosmologischen wie auch die am ontologischen Argument im voraus widerlegt seien, und überdies darin auch die Grenzen und das Ungenügen seines einzig möglichen Beweisgrundes offenbar werde. Soviel zu dem allgemeinen Rahmen, in welchem bei Moreau die Interpretation des ontotheologischen Arguments steht; wir müssen uns hier mit diesen kurzen Andeutungen begnügen und verweisen auf unsere ausführlichere Stellungnahme zu den Grundthesen des Moreauschen Werkes in Archiv für Geschichte der Philosophie'87. 185 186 187

Joseph Moreau, Le Dieu des philosophes, Paris 1969 vgl. Leibniz, Monadologie n.43 Archiv f. G. d. Phil. (1972) 37-88

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Für die Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes in diesem Rahmen ist schon die Tatsache bedeutsam, daß dieses Argument hier nicht als eine entwicklungsgeschichtliche Durchgangsstufe betrachtet wird, die durch die kritizistische Phase Kants überholt ist, sondern als wesentlicher Bestandteil der Kantischen Gotteslehre überhaupt vollberechtigt teilnimmt an dem großen Gespräch über das philosophische Gottesproblem mit den vom Autor als den größten Meistern auf diesem Gebiet betrachteten Leibniz und Descartes. Damit ist schon gegeben, daß es in seiner Bedeutung ganz anders gewürdigt wird als es üblicherweise gerade im Rahmen dieses Interpretationstypus geschieht: bei Moreau erscheint der einzig mögliche Beweisgrund geradezu als das spezifisch Kantische Gegenstück zu jenen Argumentationen des Leibniz und Descartes, die als die einzigen wirklich den Beweis des Daseins Gottes zu leisten vermögen 188 , wenn der Autor auch der Meinung ist, daß Kant auch und gerade hier das entscheidende Element der Reflexion über das Wesen der Wahrheit übergangen und daher sein Ziel nicht wirklich erreicht habe. Dazu kommt aber noch ein zweites, wodurch das ontotheologische Argument bei Moreau eine dem philosophischen Genie Kants gemäßere Würdigung findet als bei den übrigen Vertretern dieses Interpretationstyps. Der Autor faßt nämlich den einzig möglichen Beweisgrund auf als transzendentales Argument in dem Sinn, daß es von der schlechthinnigen Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeit des Denkens aus die Existenz Gottes als die letzte notwendige Bedingung dieser Möglichkeit beweise. Er interpretiert demgemäß seinerseits das tragende Grundprinzip Kants: wodurch alle Möglichkeit aufgehoben wird, das ist schlechterdings unmöglich, im Sinn dieses Interpretationstypus: wodurch alle Möglichkeit des Denkens aufgehoben wird, das ist schlechterdings unmöglich; aber er faßt die Aufhebung des Denkens als „impossibilité transcendentale", alseine „contradiction primordiale", die die radikalste Form der Unmöglichkeit darstelle, eine noch radikalere also als die des logischen Widerspruchs 189 . Die Aufhebung der Möglichkeit des Denkens ist so nach Moreau für Kant Unmöglichkeit im absoluten transzendentalen Sinn. Wie wir gesehen haben, kennt auch Kant in gewissem Sinn eine radikalere bzw. fundamentalere Form der Unmöglichkeit als die des logischen Widerspruchs, nämlich die des absoluten Nichts im Sinn der Aufhebung aller Möglichkeit des Seins. Aber das ist nicht die transzendentale Unmöglichkeit im Sinne des Autors, diese verfehlt ohne Zweifel den wirklichen Sinn des Kantischen Ansatzes, aber sie deklassiert Kant nicht in der Weise als Denker wie die vorausgehend besprochenen Vertreter dieses Interpretationstypus. Auf diesem Grund wird nun von Moreau das ganze Gebäude seiner Interpretation des Arguments errichtet, indem lediglich expliziert wird, was einschlußweise in diesem Prinzip der absoluten Unmöglichkeit der Aufhebung des Denkens enthalten ist. Wir haben hier zunächst die Rückführung des Begriffes der Möglichkeit des Denkens auf ein doppeltes Grundprinzip: ein formales, nämlich den Widerspruchssatz, in dem sich alles Denken notwendig vollzieht; denn Denken besteht zuerst und vor allem in der Anwen188 189

Moreao, op. cit. 70 ff. Ebd. 164

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dung der logischen Erfordernis der Nichtwidersprüchlichkeit auf eine gegebene Materie, einen gegebenen Gegenstand des Denkens, womit bereits gesagt ist, daß dieser formalen Bedingung der Denkmöglichkeit eine materiale korrespondieren muß : daß dem Denken eine Materie gegeben sein muß, auf die es seine logischen Gesetze anwenden kann. Dieses materiale Prinzip der Möglichkeit des Denkens sind nach Moreau entscheidend nicht etwa die idealen Gehalte mathemathischer Gegenstände, an denen auch Kant nach dem Vorbild Wolffs und anderer gern seine Thesen exemplifiziert, sondern die reale, existierende Welt. In diesem Sinn interpretiert er die Kantischen Thesen der n. 2 und 3 der zweiten Betrachtung: „Die innere Möglichkeit setzt irgendein Dasein voraus" und „Es ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiere" 190 . Der Standpunkt des Autors ist in diesem alles entscheidenden Punkt der Interpretation völlig unmißverständlich und eindeutig.,,... andererseits die materiale Bedingung, ohne die der Gedanke sich nicht voUziehen, seine Ansprüche nicht geltend machen, seine Logik nicht anwenden könnte. Die logische Forderung (exigence), die Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem setzt die gegebene Existenz voraus: unser Gedanke ist nicht reiner Akt, sondern eine Aktivität im Ringen mit einer kontingenten Erfahrung (aux prises avec une expérience contingente). Das Argument Kants geht bis hierher darauf hinaus zu beweisen, daß das Ich und sein absoluter Anspruch nicht abgelöst (délié) werden kann von der Gegenwart der Welt, ohne die es von seinen Kategorien keinen Gebrauch machen könnte. ,Die Welt und das Reale, von dem das Mögliche und das Notwendige nur Provinzen sind', in diese Formel eines zeitgenössischen Phänomenologen läßt sich die transzendentale Argumentation Kants zusammenfassen: Es ist unmöglich, daß nichts existiert; das denkende Subjekt könnte nichts behaupten ohne die Gegenwart der Welt; aber diese notwendige Gegenwart schließt nichts über die kontingente Existenz hinaus in sich 191 ". Mit diesem letzten Satz wird der Schluß von dem Materialprinzip der Möglichkeit des Denkens auf die notwendige Existenz als den letzten Grund alles Materialen dieser Möglichkeit vorbereitet. Aber warum, so könnte man fragen, genügt nicht die existierende Welt als solche schon für die Möglichkeit des Denkens, warum müssen wir von dieser Basis aus über die Welt hinaus auf ein transzendentes notwendig Seiendes schließen, um die Möglichkeit des Denkens zu salvieren? Moreau läßt Kant folgendermaßen antworten: „Diese Bedingung, insistiert Kant, genügt nicht; die Welt wird gedacht als kontingent (est conçu comme contingent); ich kann annehmen, daß sie aufgehoben ist, ohne daß damit alle Möglichkeit des Denkens oder alles Denkliche beseitigt wird. Sie ist folglich nicht das Fundament, das von der absoluten Forderung (exigence) des Gedankens erfordert wird. Das letzte Fundament der Möglichkeit kann nur in einer notwendigen Existenz enthalten sein (résider)" 192 . Mit dem Schluß auf das notwendig existierende Wesen ist nun das Argument noch keineswegs abgeschlossen; denn es bleibt noch zu beweisen, daß diesem letzten Grund des Materialen aller Möglichkeit des Denkens, ohne den alle 190 191 192

KGS II, 78 f. Moreau, op. cit. 65 s. ebd. 78

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau 2 5 5

Möglichkeit des Denkens letzlich aufgehoben wäre, die Attribute des göttlichen Seins notwendig zukommen. „ E s existiert also, schließt Kant, ein absolut notwendig Seiendes, und er befleißigt sich zu zeigen, daß diesem notwendig Seienden die metaphysischen Attribute der Gottheit (Einfachheit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit, höchste Seinsfülle) zukommen, und deren moralische Attribute, Intelligenz und Wille; das notwendig Seiende ist nicht nur das höchste Seiende (l'être suprême), sondern es ist ein Geist, es ist ein Gott. Dieser Beweis wird durchgeführt (s'effectue) mit den Schlüssen der traditionellen Theologie, die hier nicht dazu verwendet werden um die notwendige Existenz zu beweisen, sondern um darzutun, daß das Wesen, das notwendig existiert, Gott ist. Es ist die vorausgehende Demonstration der notwendigen Existenz, die den Begriffen der spekulativen Theologie ein Objekt verschafft" 1 9 3 . Damit haben wir die wesentlichsten Züge der Moreauschen Interpretation vorgestellt, mit denen der Autor den einzig möglichen Beweisgrund in den angedeuteten weiteren Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Kants Gotteslehre und derjenigen von Leibniz und Descartes einbezieht. Für uns geht es hier lediglich um eine Stellungnahme zu dieser Interpretation als solcher, insofern sie eine,besondere Spielart des in diesem und im vorausgehenden Kapitel behandelten Interpretationstypus darstellt, der als Ausgangspunkt der ontotheologischen Argumentation Kants formal die Möglichkeit des Denkens ansetzt. Gegen die spezifische Form dieser Variante erheben sich vom Standpunkt einer durchgehenden, geschlossenen Interpretation der Texte aus sozusagen auf Anhieb drei Einwände, die allein schon genügten, sie als mehr denn fragwürdig erscheinen zu lassen. Das ist 1. die Rolle der kontingent existierenden Dinge der Welt als Materialprinzip der unaufhebbaren Möglichkeit des Denkens. Wird nicht in dieser Konzeption des ontotheologischen Arguments die gegebene existierende Welt zu einer unabdingbaren Voraussetzung der Möglichkeit des Denkens? Ist Denken nach dieser Auffassung ohne eine existierende Welt, auf die die logischen Gesetze und Regeln angewandt werden können, überhaupt möglich? Und würde, wenn diese kontingente Welt nicht existierte, und sie kann als aufgehoben gedacht werden, wenn sie kontingent existiert, nicht notwendig die Möglichkeit des Denkens selbst verschwinden? Müßte man daher nicht geradezu umgekehrt schließen, daß, wenn die Möglichkeit des Denkens eine absolut unaufhebbare, eine transzendentale Notwendigkeit darstellt, die Welt selber absolut notwendig ist? 2. Der Gedankengang des Arguments ist nach der Interpretation des Autors so, daß von seiner Basis aus grundsätzlich nur die Existenz eines absolut notwendigen Prinzips bewiesen werden kann, nicht aber die metaphysischen und moralischen Eigenschaften, die dieses als Gottheit bestimmen. Das ist aber noch kein Gottesbeweis; denn es ist damit noch nicht eo ipso ausgeschlossen, daß dieses absolut notwendige Korrelat der Möglichkeit des Denkens nicht die Welt selbst bzw. eine Vielheit endlicher Wesen sein kann. Wenn, wie diese Interpretation annimmt, die metaphysischen und moralischen Eigenschaften der Gottheit nicht durch den ontotheologischen Ansatz selbst bewiesen werden können, dann bleibt der entscheidende Schritt des Gottesbeweises: der zwingende demonstrative Nachweis der Kontingenz der Welt, überhaupt noch zu tun, und das bedeu193

s. ebendort

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tet, daß das sogenannte transzendentale Argument vor grundsätzlich derselben Schwierigkeit steht wie das argumentum a contingentia mundi, von dem Kant schon damals überzeugt war, daß der Graben nur mittels des ontologischen Arguments übersprungen werden könnte, von dem feststeht, daß es einen Fehlschluß darstellt 194 . Wie soll dann dieser ontotheologische Gedankengang in den Augen Kants die einzig mögliche Demonstration des Daseins Gottes darstellen, wenn er genau an dem Punkt stecken bleibt, den auch die traditionellen Argumente nach ihm nicht mit logischer Stringenz, also demonstrativ, zu überwinden vermögen ? Es wäre doch höchst unlogisch gewesen, das argumentum a contingentia mundi der Wölfischen Philosophie als „falsch und gänzlich unmöglich" abzulehnen, eben weil er das als notwendig daseiend Erwiesene nicht durch die metaphysischen göttlichen Attribute (der Einzigkeit und Allrealität) bestimmen kann, den Beweis aus der Unaufhebbarkeit der Möglichkeit des Denkens aber als den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes gelten zu lassen und anzupreisen, obwohl er an eben demselben Unvermögen leidet, und deshalb diese zentrale Aufgabe des Gottesbeweises von den traditionellen Argumenten abhängig machen muß, die zugegebenermaßen diesen entscheidenden Schritt nicht demonstrativ vollziehen können. 3. Ist es im übrigen gar nicht richtig, daß Kant die metaphysischen göttlichen Attribute des notwendig Existierenden mit den Argumenten der traditionellen Theologie beweist oder beweisen will, was schon daraus hervorgeht, daß er diese Argumente in der dritten Abteilung verwirft bzw. ihnen den demonstrativen Charakter abspricht. Vor allem aber zeigte uns die genauere Analyse des Gesamtgedankengangs der Argumentation Kants, daß er in der 3. Betrachtung der ersten Abteilung die metaphysischen Eigenschaften des notwendig Existierenden, nämlich Einzigkeit Einfachheit, Ewigkeit, Unveränderlichkeit und Allrealität gerade nicht durch die Argumente der traditionellen Rationaltheologie beweist, sondern unmittelbar aus dem Begriff des absolut notwendig Existierenden selbst, so daß der Beweis der metaphysischen Attribute sich völlig im Rahmen der streng apriorischen, ontologischen Argumentation bewegt, im Unterschied zu dem der moralischen Attribute des göttlichen Wesens: Verstand und Wille, die in der Tat nur mehr mit den traditionellen Argumenten einer natürlichen Theologie bewiesen werden können, und daher in eine eigene, die vierte, Betrachtung verwiesen wurden, in der offenbar die Ebene der apriorischen demonstrativen Beweisführung verlassen ist. Diese andersartige Beweisführung im Hinblick auf die metaphysischen und die moralischen Attribute des notwendig Daseienden ist nur einsichtig, wenn die Kantische Argumentation ausgeht von dem Prinzip der absoluten Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeit des Seins, nicht aber von der absoluten Unmöglichkeit der Aufhebung der Möglichkeit des Denkens, oder anders ausgedrückt, wenn der einzig mögliche Beweisgrund eine ontotheologische Argumentation darstellt, nicht aber, wenn sie als transzendentale im Sinn Moreaus aufgefaßt wird. Schon diese Einwände machen deutlich, daß die Interpretation des Autors, so vorteilhaft sie sich in mancher Hinsicht von den übrigen Varianten dieses Grundtypus unterscheidet, mehr als fragwürdig bleiben muß. 194

Vgl. Κ GS II, 156 ff.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Laberge, Redmann u. Moreau

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Dazu kommen dann noch jene unüberwindlichen Schwierigkeiten, die wesentlich mit diesem Typus der Interpretation verbunden sind und denen die Interpretation Moreaus ebenso wenig entgehen kann wie die vorher behandelten. Wir wollen sie hier zum Abschluß dieses Kapitels nochmals kurz zusammenfassen: fürs erste steht jede Interpretation, die das Kantische Argument ausgehen läßt formal von der Möglichkeit des Denkens und diese zu ihrem tragenden Prinzip erhebt, in Widerspruch zu den klaren und eindeutigen Zeugnissen im Beweisgrund selber, vor allem jenen Stellen, in denen Kant das Argument im ganzen charakterisiert und anderen Argumenten gegenüberstellt195, 2. widerspricht dieser Interpretationstyp auf Grund seiner Bestimmung des Materialprinzips der Möglichkeiten als existierender Welt der ausdrücklichen These Kants im Beschluß der ersten Abteilung, daß es sich bei seinem einzig möglichen Beweisgrund um ein Argument handle, das völlig a priori geführt werden kann, weil es „weder meine Existenz noch die von anderen Geistern noch die von der körperlichen Welt voraussetzt". Wenn Kant das Argument so charakterisiert hat und wenn er darin trotzdem von der Möglichkeit des Denkens in dem bezeichneten Sinn ausgegangen wäre, für die die existierende Welt geradezu ein fundamentales Prinzip darstellt, dann müßte er, wie wir in dem genannten Artikel des Archivs gesagt haben, in der Tat von allen guten Geistern der Logik verlassen gewesen sein. Dazu kommt ferner, daß mit dieser Interpreation des ontotheologischen Arguments notwendig die innere Einheit zwischen der ersten und der den größten Raum der Abhandlung ausfüllenden zweiten Abteilung verloren geht, weil dann die Ausgangspunkte der Argumentation in beiden Abteilungen wesentlich verschieden sind und damit jene Verbindung unmöglich wird, die Kant im Schlußabsatz der ersten Abteilung ausdrücklich herstellt: daß nämlich das verbesserte physikotheologische Argument der zweiten Abteilung ein aposteriorisches Pendant zum apriorischen Beweis der ersten darstelle 196 . Damit fällt aber diese ganze zweite und damit die umfangreichste Abteilung der Abhandlung unvermeidlich aus deren Titelthematik heraus, womit das Werk seine innere Einheit verlieren müßte und zu einem monströsen literarischen Gebilde würde. Schließlich wird von dieser Interpretation her weder die vorausgehende Entwicklung von der Nova Dilucidatici zum Beweisgrund historisch verständlich noch vor allem die Weiterentwicklung vom Beweisgrund zur Lehre von dem bloß subjektiv notwendigen und gültigen Vernunftideal noch in der vorkritischen Zeit. Die Folge ist, daß das Verhältnis des ontotheologischen Arguments von 1762 zur Gottesbeweiskritik der transzendalen Dialektik zu einem Rätsel wird, das unauflösbar bleibt, weil alle Versuche, durch unmittelbaren Textvergleich eine direkte Beziehung zwischen beiden Konzeptionen herzustellen, wie am Beispiele Henrichs und Reichs deutlich wurde, zu keinem überzeugenden Ergebnis führen. Setzt man dagegen als Interpretationsprinzip die Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeit des Seins an, dann läßt sich auf Grund der vorkritischen Reflexionen, wie wir in unserer folgenden Arbeit dartun werden, die innere Logik der Weiterentwicklung des einzig möglichen Beweisgrundes zur Lehre von dem bloß subjektiv gültigen 1,5 196

so vor allem ebd. 78, Z. 4-6, 91, Z. 3 ff ; 157, Z. 4ff, 162, Z. 31ff. Ebd. 92

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Vernunftideal im Verlauf der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aufweisen, womit das sonst unlösbar scheinende Problem, warum Kant in seiner Kritik der Gottesbeweise in der Kr. d. r. V. seinen ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund nicht mehr berücksichtigt habe, entfällt; denn er hat dessen bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erfolgte Umformung zur Lehre vom subjektiv gültigen Ideal in Abschnitt II des dritten Hauptstücks ausführlich behandelt.

3. Kapitel Die Interpretation des „Beweisgrundes" bei Mariano Campo, Ada Lamacchia und Joachim Kopper Im folgenden wollen wir noch näher eingehen auf die Interpretation des Beweisgrundes bei einer Gruppe von Forschern, die gegenüber der im vorausgehenden vorgestellten einen prinzipiell anderen Grundtypus der Deutung repräsentiert, insofern sie den Gedankengang des Kantischen apriorischen Arguments grundsätzlich ontologisch auffaßt, d. h. die Möglichkeit, von der aus Kant argumentiert, als Möglichkeit nicht des Denkens, sondern des Seins versteht, so groß im übrigen die Unterschiede sonst zwischen den Interpretationen der einzelnen Forscher sein mögen. Aber auch hier bleibt für uns der entscheidende Gesichtspunkt der Beurteilung der der Methode, d. h. wie weit die Standpunkte den Erfordernissen einer detaillierten Analyse gerecht werden. Dabei wird sich zeigen, daß auch bei den Vertretern dieses Grundtyps in größerem oder geringerem Maße der Mangel einer systematisch durchgeführten Analyse der Quellen die ontologische Deutung entweder nicht voll zur Geltung kommen läßt, oder aber durch moderne Sichtweisen der Blick auf die ureigenen Voraussetzungen des ontotheologischen Arguments und seine innere Folgerichtigkeit in deren Rahmen verstellt wird.

A. M. Campos Interpretation des Beweisgrundes ist in ihren Grundzügen ebenfalls, wenn auch in anderer Weise als etwa bei Laberge, bereits durch seine Analyse der Nova Dilucidado präjudiziell, wie er ja auch dort schon, wie wir sahen, in einem Vorblick in dem späteren Werk analoge Schwierigkeiten und Konflikte angekündigt hat auf Grund der gleichen widersprüchlichen Positionen, wie er sie in der Dissertation von 1755 feststellen zu müssen glaubte. Seine grundlegende Voraussetzung und sein alles beherrschender Gesichtspunkt bleibt auch für die Interpretation des Beweisgrundes, daß Kant am Anfang und während der ersten Phase seiner Entwicklung im wesentlichen ein Rationalist Wölfischer Prägung gewesen sei, daß er sich letzlich trotz gewisser Versuche, die Schranken der rationalistischen Metaphysik zu durchbrechen, nicht von ihrem Bann und ihren Zwängen befreien konnte. Wiederholt findet man im Verlauf seiner Analysen den Hinweis auf diesen rationalistischen Hintergrund als Prinzip der Erklärung und Deutung Kantischer Begriffe und Thesen. So kommt er auch im Kapitel IV des zweiten Teils seines Werkes „La genesi del criticismo Kantiano" unter der Überschrift „Novità ontologiche. Esistenza e Possibilità" nach einer kurzen Aufzählung der von Kant in den ersten beiden Betrachtungen analysierten ontologischen Grundbegriffe wieder ausführlich auf dieses sein

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III. Teil

Lieblingsthema zurück, obwohl er es unmittelbar zuvor in dem einleitenden Abschnitt (Un preludio nei „Lose Blätter") schon hinreichend zur Sprache gebracht hat: es soll damit offenbar der entscheidende Verständnishorizont für die darauf folgende Beurteilung der neuen ontologischen Lehre Kants gewonnen werden. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von der Verflüchtigung des Seins im rationalistischen Klima, speziell in Deutschland, von der zentralen Rolle der Urteilstheorie in der rationalistischen Metaphysik, in der die Existenz zu einem Prädikat wurde und sich schließlich in die Kopula des Urteils zurückzog, und ganz allgemein von ihrer Vorliebe für die Logik, daß für sie die Begriffe nur possibilia und die Schlüsse nur rationes ausdrückten, die weder etwas von Existenz noch von Wirksamkeit enthielten, und daß sie schließlich auch dort, wo sie über die Logik hinausging, an jener „Farbenblindheit" litt, die die Metaphysik als Wissenschaft von den possibilia definierte, und für Wolff sei das possibile identisch gewesen mit dem „pensabile" oder „pensato" im Sinne des Nichtwidersprüchlichen. Die Welt sei für den Rationalismus zum mundus intelligibilis geworden, zu einer Welt der Ideen, der Wesenheiten als Ideen, der repraesentationes, der Wahrheit als catena veritatum, aber so, daß der Gegenstandsbereich der Reflexion nicht nur diese „enti mentali", sondern auch die „atti mentali" umfaß te: den Denkakt, die Methode, die Wissenschaft. Dabei weist er auf die inneren Spannungen und Schwierigkeiten dieser rationalistischen Welt hin, die nunmehr an die Stelle der alten realistischen getreten sei, sowie auf ihren eigentlichen Ursprung: „Tatsache ist, daß die rationalistische Mentalität eine solche epochè bewirkte: und es war der cartesianische Filter, der sie hervorbrachte oder grundlegte, das Prinzip, von dem man ausgehen mußte, war das cogito, der Gedanke oder das Ich 1 9 7 . Aber auch die empiristische Reaktion auf den Rationalismus stehe letztlich unter dem Gesetz dieser cartesianischen Logik, obwohl sie einiges wieder zur Geltung brachte, was dieser vergessen hatte, wie etwa die Wahrnehmung oder die Erfahrung. Aber ein ebenso seltsames wie durchaus logisches Schicksal mußte auch den Empirismus in die Wirkzone des cartesianischen Filters einbeziehen: auch er steht ganz in der Haltung der Reflexion auf Bewußtseinsgegebenheiten, auch er verschließt sich in ein Gefängnis, das zwar verschieden von dem des Rationalismus, ja ihm entgegengesetzt, aber ihm doch auch wieder analog war 198 . Wiederholt sagt Campo ausdrücklich, daß Kant auch zur Zeit des Beweisgrundes noch in der Substanz Rationalist und Wolffianer ist: „Die Bedeutung des Auftakts (attaco) des Beweisgrundes auf seinen ontologischen Seiten (pagine) liegt in der Tatsache, daß der Rationalist . . . der Kant noch immer ist, in einem bestimmten Moment gewahr wird, in einer logisch-idealen Welt eingeschlossen zu sein, der das Dasein fehlt" 1 9 9 . Und: „Er ist ein Wolffianer, der, aufgewachsen in der neuen Atmosphäre der wissenschaftlich-mathematischen Mentalität und bis dahin beinahe ohne jede Kenntnis der alten metaphysischen Welt, deren blutlose Vertreter ihn doch in Königsberg umgaben, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Lücken und Mängel im eigenen rationalistischen Horizont be197 198 199

M . Campo, La genesi del criticismo Kantiano, Varese, 1953, s. 281 s. ebd. 281 f. s. ebd. 282

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 6 1 m e r k t " , wobei C a m p o ausdrücklich betont, daß Rüdiger, H o f f m a n n und dessen Schüler C r u s i u s , als in einer ganz anderen Mentalität verwurzelt, im Unterschied zu ihm sich von A n f a n g an entschieden gegen „ d a s neue Phänomen der Wölfischen Philosophie" - al fen o m e n o n u o v o della filosofia wolffiana - gewendet hätten 2 0 0 . F ü r C a m p o wird so der Rationalismus des frühen K a n t , des dreißig- und noch des fast 40jährigen, zur hauptsächlichsten Q u e l l e des Verständnisses seiner ersten Entwicklungsphase auf dem Gebiet der Metaphysik und damit auch z u m Prinzip der Interpretation der bedeutendsten Veröffentlichung dieser Epoche, eben des Einzig möglichen Beweisgrundes. D a s heißt: das Apriori der M e t h o d e C a m p o s ist ein fertiges, aus der allgemeinen Philosophiegeschichte abstrahiertes Schema Rationalismus-Empirismus, in das die vorkritische Entwicklung des Philosophen eingeordnet und auf das seine Schriften aus dieser Zeit bezogen werden, so daß das entscheidende Prinzip ihrer Interpretation darin besteht, die einzelnen Elemente seiner metaphysischen Lehre auf dieses Koordinatensystem d. h. auf die damit bezeichneten geschichtlichen Strömungen zurückzuführen. D e r A u t o r hat sich zu diesem seinem methodischen Standpunkt in einer A n m e r k u n g des einleitenden A b schnitts z u m Kapitel IV seines Werkes in aller Offenheit bekannt: „ U n s e r e geschichtliche Darstellung studiert K a n t vorwiegend im Licht der französisch-englischen, rationalistisch-empiristischen Problematik, ohne gebührend die Tatsache in Betracht z u ziehen, daß ein guter Teil der Seele Kants ihre Wurzeln in Deutschland hat, in der Geschichte des deutschen Geistes von der Reformation an . . . 2 0 '. U n d wir würden hinzufügen, ohne gebührend das große und eigenwillige philosophische Genie Kants selbst in Rechnung z u stellen. In dieser für den A u t o r v o n vornherein feststehenden Betrachtungsweise liegt n. u. U . die Problematik der Methode C a m p o s . D e n n daß Kant in der ersten Phase seiner Entwicklung, also von 1750-1762, Rationalist und Wolffianer, und daß der vom A u t o r immer wieder beschworene rationalistische Geist der entscheidende F a k t o r seiner metaphysischen Entwicklung gewesen sei und insbesondere auch die Q u e l l e der ontologischen Lehren des Beweisgrundes, ist eine in ihrer Undifferenziertheit sehr anfechtbare Voraussetzung. D e n n der Philosoph erweist sich im Gegenteil bereits in seinen frühesten Veröffentlichungen als ein höchst eigenwilliger und unabhängiger Denker, der nicht nur von A n f a n g an mit Entschiedenheit seine Zweifel an der Methode der Metaphysik, wie sie damals betrieben wurde, anmeldet 2 0 2 , sondern sich im vollen Bewußtsein seiner Fähigkeiten mit fast arrogant zu nennender Selbstsicherheit mit den größten Autoritäten seiner E p o c h e kritisch anlegt. E r ist n. u. U . in seinen Veröffentlichungen der ersten Phase seiner Lehrtätigkeit weder Wolffianer noch Crusianer noch Humeianer etc., sondern hat von A n f a n g an, wie gerade auch seine Stellung z u r Methaphysik in dem Frühwerk bezeugt, allenthalben seine eigene Problemsicht, und so nimmt er aus allen Richtungen Elemente auf, die ihm für die L ö s u n g seiner Fragen fruchtbar und anregend zu sein scheinen, indem er sie in dieser oder jener F o r m in sein eigenes System einarbeitet. 200 201 202

s. ebd. 287 s. ebd. 276 (Anm. 10) K G S I, 30 (§ 19)

262

III. Teil

In der Tat zeigen die Grundthesen etwa der Nova Dilucidatio, der ersten Veröffentlichung Kants, die sich thematisch mit den Problemen der Metaphysik befaßt, obwohl sie formell den großen Prinzipien des Rationalismus, dem Widerspruchsprinzip und dem des zureichenden Grundes, gewidmet ist und in diesem Rahmen eine Grundthese des Crusius bekämpft (den Indeterminismus der freien Willensentscheidungen), den damals dreißigjährigen Kant viel eher als Antileibnizianer und Antiwolffianer, wobei im übrigen schon die Systeme von Leibniz und Wolff, des letzteren vor allem in seinen deutsch geschriebenen metaphysischen Werken, ungleich differenzierter und realistischer sind als das von Campo herausdestillierte abstrakte Schema des Rationalismus. Dies letztere aber nur nebenbei. Entscheidend ist, daß sich Kants metaphysischer Standpunkt in der Nova Dilucidatio so wesentlich von dem des Leibniz und Wolff unterscheidet, daß man ihn schon zu dieser frühen Zeit schwerlich als Rationalisten Leibnizscher oder Wölfischer Prägung bezeichnen kann. Man muß sich die gegen deren Standpunkt gerichteten Grundthesen des jungen Kant vergegenwärtigen, um sich von dieser unserer These zu überzeugen. Dazu gehört vor allem die scharfe Unterscheidung zwischen dem logischen Grund und dem Realgrund, d. h. dem Daseinsgrund oder der Ursache, eine Unterscheidung, mit der bereits implizit gegeben ist, daß er die ganze Ordnung des Daseins als etwas grundsätzlich anderes betrachtet als die des Wesens oder der Möglichkeit mit ihren Determinationen oder Prädikaten. Ferner lehnt er, was damit zusammenhängt, die Leibnizsche und Wölfische Definition des absolut Notwendigen als des auf Grund seines Wesens oder seiner Möglichkeit Existierenden als Absurdität ab und setzt an deren Stelle die der schlechthin absoluten Position, der keinerlei Möglichkeit ontologisch vorangeht, sondern die vielmehr selbst alle Möglichkeit, die eigene sowohl wie die aller anderen Dinge, ursprünglich begründet. Kant trennt sich also hier wiederum entschieden von den Rationalisten, die die Möglichkeit zum ursprünglichsten Prinzip des Seins erklärt und demgemäß auch das notwendig Daseiende als das durch die eigene Möglichkeit begründete definiert hatten. Folgerichtig lehnt er auch den ontologischen Beweis der 5. Meditation Descartes, der diesen Begriff voraussetzt, ebenso ab wie die von Leibniz und Wolff vertretene These von der schlechthinnigen Allgemeingültigkeit des Prinzips vom zureichenden Grund auch im Hinblick auf das Dasein: nur das Dasein des Kontingenten bedarf einer ratio antecedenter determinans und ist überhaupt einer solchen fähig, während das absolut notwendig Daseiende eine solche per definitionem ausschließt; dazu kommt seine entschiedene Ablehnung der Wölfischen Ableitung des Prinzips vom Grund aus dem Widerspruchssatz als einer offensichtlichen petitio principii und seine frühe Kritik am Wölfischen argumentum a contingentia mundi, seine Ablehnung des principium consequentiae Baumgartens, des principium indiscernibilium von Leibniz, dessen Systems der prästabilierten Harmonie, seiner Lehre von der Fensterlosigkeit der Monaden d. h. ihrer rein immanent bedingten Aktivität, seines Raumbegriffs als des Phänomens des Nebenund Nacheinander der Substanzen, seiner Lösung des Theodizeeproblems, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen 203 . Nimmt man diese von Kant in den Schriften der ersten 203

vgl. ebd. 394ff. (Nov. Dil. Props VI, VII, Vili, X I , XII, (usus) XIII (usus); 477ff. (Monadologia phys. Props I-VIII); KGS XVII 230-239 (RR 3704, 3705)

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 6 3 Hälfte der fünfziger Jahre mit Entschiedenheit vertretenen Positionen seiner Metaphysik ernst, dann wird man diese letztere nicht viel weniger realistisch

finden als etwa die des

Crusius. Wenn also Campo die frühen metaphysischen Schriften Kants, in denen unter anderem das ontotheologische Argument entwickelt wird, aus dem Prinzip des Rationalismus, zumal in jener realitätsfernen, stratosphärischen F o r m , wie er ihn versteht, interpretieren will, dann kann es nicht ausbleiben, daß die massiven Unterschiede gegenüber Leibniz und Wolff heruntergespielt und mehr oder weniger zu Episoden innerhalb der angeblich rationalistisch bestimmten Grundrichtung seiner Entwicklung erklärt werden, in dem Sinn, daß die von ihm z u einem bestimmten Zeitpunkt am Rationalismus vorgenommenen Korrekturen sich doch nicht wirklich durchsetzen konnten, sondern in die alte Ohnmächtigkeit zurückfallen mußten. So sagt er im Rahmen seiner Interpretation über diesen Punkt: „ S e i n e Kritik wird nicht bedeutungslos durch die Tatsache, daß es eine innere gegen sich selbst, gegen seine eigene Welt, gegen die Welt von Wolff und Baumgarten gerichtete Kritik ist; sie wird nicht uninteressant durch die Tatsache, daß sie ein Versuch, ein glänzender Versuch ist, der jedoch, nachdem er an die Grenzen der eigenen (ergänze: rationalistischen) Mentalität gestoßen ist, wieder in die alte Kraftlosigkeit zurückfallen w i r d " 2 0 4 . H i e r wird deutlich, daß für den A u t o r der Rationalismus, wie er ihn sieht, das entscheidende Erklärungsprinzip bleibt, das a priori feststeht und dem folglich alle Kantischen Texte untergeordnet werden. Im folgenden soll gezeigt werden, zu welchen Ergebnissen b z w . Campo

in seinen Analysen der drei Abteilungen des Beweisgrundes

Konsequenzen

auf G r u n d dieses In-

terpretationsschemas gelangt. D a b e i ist schon die Art der Disponierung der Materie, die sich ihm aus dieser Sicht ergibt, bezeichnend. E r behandelt den Stoff nach dem bereits erwähnten einleitenden Abschnitt ( U n preludio nei „ L o s e Blätter") in vier H a u p t a b schnitten unter folgenden Titeln: 1. „ N o v i t à ontologische. L ' E s i s t e n z a e la Possibilità", in welchem die ersten zwei Betrachtungen als ontologische Prolegomena z u m ontotheologischen Argument der ersten Abteilung interpretiert werden. 2. , , L e due V i e " , ein A b schnitt, in dem der A u t o r die beiden von Kant entwickelten Gottesbeweise, den apriorischen oder ontologischen und den aposteriorischen oder physikotheologischen, in ihren Ursprüngen und in ihrem Wesensverhältnis zueinander darstellen will. 3. „ L ' a r g o m e n t o a p r i o r i " , die Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes selbst; und schließlich 4. „ L ' a r g o m e n t o a p o s t e r i o r i " , die Interpretation des aposteriorischen, d. h. des verbesserten physikotheologischen Beweises. D e r A u t o r betrachtet die ersten beiden Betrachtungen der ersten Abteilung als einen bemerkenswerten neuen ontologischen Entwurf, als ein wahres Kapitel über Ontologie, das vielleicht die bedeutendste Neuheit seiner denkerischen Erfahrung in diesen Jahren und ein bedeutsames kritisches M o m e n t seiner ganzen Entwicklungskurve darstelle. Dieses N e u e bestehe im Kern darin, daß er in der Bestimmung des Daseins sowohl wie der Möglichkeit die Grenzen des Wölfischen Rationalismus durchbreche, weil er an einem bestimmten, nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt inne geworden sei, daß in seinem 204

La genesi del criticismo Kantiano s. 282

264

III. Teil

rationalistischen System etwas fehle, nämlich das Dasein als ein auf Wesensprädikate unrückführbares Element, und daß auch in der Möglichkeit mehr enthalten sei als das bloß Logische des Nichtwiderspruchs, wie die Möglichkeit im System Wolffs definiert worden sei. Aber wenn man Campos letzten Absatz dieses Titels, in dem er einen kurzen Vergleich mit der Position der Nova Dilucidatio im Hinblick auf diese beiden Begriffe durchführt, näher ins Auge faßt, dann wird einem schon auf Grund dieses vom Autor selbst durchgeführten Vergleichs die These von der angeblichen Neuheit der ontologischen Prolegomena in den ersten beiden Betrachtungen mehr als zweifelhaft. Mit Recht betont der Autor die Bedeutung gerade des Begriffs der Möglichkeit für den Kantischen Beweisgrund; denn: in ihr werde die Schlußfolgerung auf das notwendige Seiende entworfen 2 0 5 . Daß aber in der Auffassung des Begriffs der Möglichkeit zwischen der Nova Dilucidatio und dem Beweisgrund ein größerer Unterschied sein soll als der, daß die dort implizit und der Sache nach durchaus enthaltene Unterscheidung zwischen ihrem formalen und materialen Element hier im Beweisgrund ausdrücklich gemacht wird, wird schwerlich jemand überzeugen, der sich den Inhalt der dortigen Argumentation voll zur Gegebenheit gebracht hat. Die Meinung, Kant sei zur Klarheit seines diesbezüglichen Standpunktes auf Grund seiner Untersuchungen über die „Spitzfindigkeit" gekommen 2 0 6 , ist schon deswegen abwegig, weil das Materiale der Möglichkeit etwas anderes ist als die in der Wahr nehmung gegebenen konkreten Gegenstände der unerweislichen Urteile, auf die dort die urteilende Tätigkeit zurückverwiesen wird und die dann in der Preisschrift eine so große Rolle spielen. Wenn Campo meint, Wolff und die Rationalisten hätten dieses Inhaltlich-Materiale im Möglichen übersehen und nur das Formale der Widerspruchslosigkeit beachtet, dann fragt man sich, wie sie dann die Möglichkeitsbegriffe oder möglichen Begriffe voneinander unterscheiden konnten. Sicher hat Campo recht, daß die Termini, mit denen Kant dieses Inhaltlich-Materiale der Möglichkeit bezeichnet, wie Data, das Materiale, das Reale, das Denkliche etc. um das gravitieren, was die Alten die essentia genannt hatten, und daß dieser Begriff etwas zurückgewinne von der in Vergessenheit geratenen metaphysischen Geltung (valenza), und daß dies sowohl aus den Termini selbst (Reales, realia), insbesondere aber aus der Art und Weise hervorgehe, wie Kant sich des Begriffes Möglichkeit = essentia bediene, um daraus das Dasein Gottes zu beweisen 207 . In der Tat zeigt die genauere Analyse schon der Nova Dilucidatio, wie wir gesehen haben, daß es sich hierbei für Kant um die Möglichkeit der Dinge als ein ihrem Dasein vorausgehendes ontologisches Prinzip handelt, an dem dieser Beweis als einem documentum maxime primitivum ansetzt. Man muß eben das Ganze sehen und die Bedeutung der einzelnen Ausdrücke von daher bestimmen und darf sich nicht an einzelnen Ausdrücken festbeißen, die, außerhalb des Zusammenhanges betrachtet, eine andere Deutung zulassen oder sogar nahelegen würden. Daß der Terminus „ D a t a " nicht ein aposteriorisches Element bedeuten kann, wie Campo meint, geht ebenfalls aus diesem im Gesamtkontext eindeutig bestimmten 205 206 207

Ebd. 287: Ed è in essa che si abbozza l'illazione all' Essere necessario vgl. ebd. 289f. s. ebd. 288f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 6 5 Begriff der Möglichkeit hervor. A u s dem gleichen G r u n d kann man den Terminus des Denklichen (pensabile, bei Baumgarten: repraesentabile) nicht als ein nach dem Ausschlag in die Richtung des metaphysischen Realismus erfolgendes Zurückgetragenwerden z u m anderen Extrem, nämlich z u m rationalistischen Idealismus 2 0 8 interpretieren. G e r a d e im Beweisgrund selbst, w o dieser Terminus Denkliches

in den entscheidenden

Gedankengängen eine so zentrale Rolle spielt 2 0 9 , wird er im Rahmen des Ganzen, wie wir gesehen haben, eindeutig im Sinn der ontologischen Möglichkeit der D i n g e bestimmt, als die innere, absolute Möglichkeit der D i n g e im Gegensatz zur äußeren 2 1 0 . A b e r C a m p o ergreift offenbar bereitwillig jede Gelegenheit, u m seine These zu beweisen, daß Kants Versuch, die ehernen Gitter des rationalistischen Idealismus zu durchbrechen, wieder in die Kraftlosigkeit seiner allgemeinen rationalistischen Grundhaltung zurückfallen mußte. In die gleiche Richtung weist seine D e u t u n g des U m s t a n d e s , daß K a n t den Begriff der Vollkommenheit nicht verwenden wollte: das ist für ihn ohne weiteres ein Zeichen ,,del depotenziamento di questa sua metafisica del R e a l e s " , o b w o h l Kant diese Unterlassung durchaus nicht damit begründet, daß er diesen Begriff gerade auch im Hinblick auf den Gottesbweis nicht f ü r wichtig halten würde. Ein K a n t wohlwollend gesinnter Interpret würde vielmehr den gegenteiligen Schluß ziehen: daß das Reale der Möglichkeiten für ihn auch ohne ausdrücklichen B e z u g auf den umstrittenen Begriff der Vollkommenheit so seinsmächtig war, daß man nach seiner Ü b e r z e u g u n g daraus, und daraus allein, das absolut notwendige Dasein beweisen konnte. Was das andere Element, das Dasein

betrifft, so scheint auf den ersten Blick die These

C a m p o s von der Neuheit der ontologischen Position im Beweisgrund diert zu sein, weil K a n t in der Nova Dilucidatio

zwar besser fun-

noch nicht ausdrücklich das Prinzip : D a -

sein ist kein Prädikat, formuliert und auch das Cartesianische Argument dort nicht auf G r u n d desselben kritisiert. Allerdings ist damit nicht schon gegeben, daß er dort über das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Dasein noch wesentlich anders gedacht habe als im Beweisgrund,

oder gar, daß er damals das Dasein noch für ein Prädikat der Möglichkeits-

begriffe oder eines bestimmten Möglichkeitsbegriffes gehalten hätte. Wie wir in unserer Analyse der Nova Dilucidatio

gezeigt haben, würde seine Argumentation sowohl in der

Prop. V I , wie in den Propositionen V I I und VIII unverständlich werden, wenn man von dieser Voraussetzung ausginge. D e r Sache nach vertrat also der Philosoph auch damals schon grundsätzlich den Standpunkt, daß Dasein kein Prädikat ist, wenn er auch diese These noch nicht in dieser Ausdrücklichkeit formuliert hatte. Wir haben somit im Beweisgrund eigentlich nur eine Ausdrücklichmachung dessen, was in der Nova

Dilucida-

tio der Sache nach bereits gegeben war, eine Verdeutlichung, die die thematische Reflexion über die ontologischen Voraussetzungen seines ontotheologischen Arguments vielleicht erstmals mit sich brachte. V o n einer neuen Sicht des Daseins im Beweisgrund verm a g ich u m so weniger zu entdecken, als diese ontologischen Begriffsbestimmungen wie auch die entscheidenden Stufen des Beweisganges selber in der 2. und 3. Betrachtung des 208 209 210

s. ebd. 289 KGS II 78, 81 f. vgl. ebd. bes. 78 und 157

III. Teil

266

Beweisgrundes nur die logische Entfaltung der Definition des absolut notwendigen Daseins in der These der Prop. VII darstellen. Seinem allgemeinen Interpretationsschema entsprechend, erklärt Campo auch die kritischen Ausführungen der 1. Betrachtung über das Existenzialurteil und Kants Stellungnahme zum Begriff des Daseins bei Wolff, Baumgarten und Crusius, die nach ihm eine besonders glückliche und historisch interessante Seite der Abhandlung darstellt, in dem Sinn, daß der Philosoph hier lediglich den Rationalismus durch gewisse Elemente des Empirismus ergänze und damit im Grunde nicht über den subjektivistischen Standpunkt hinauskomme: „Um sich über das Existentialurteil Rechenschaft zu geben, muß man zu den ungenügenden Waffen des Rationalismus die der empiristischen Philosophie hinzunehmen: zur Logik der Begriffe die Psychologie und Gnoseologie der Wahrnehmungen" 211 , was im Sinne Campos bedeutet, daß Kant den Unterschied zwischen Möglichkeit und Dasein durch den zweier psychologischer Phänomene erklären wolle oder „noch schlimmer", daß nach ihm die Existenz überhaupt nicht Gegenstand des Intellekts, sondern nur der Sinnlichkeit sein könne, eine Überlegung, die er mit der dunklen Andeutung abschließt: equivoci futuri... künftige Zweideutigkeiten (in der Auffassung der Kategorien vermutlich). In Wirklichkeit will Kant nach dem ganzen Zusammenhang mit seiner Erklärung des gewöhnlichen Existentialurteils, in dem das Dasein als Prädikat erscheint, und mit der Rückführung auf seine strenge, rein logische Form nur sagen, daß hier die Existenz deswegen im Prädikat stehen kann, weil der Subjektbegriff eine Erfahrungsbegriff ist und als solcher formell als der Begriff eines existierenden Dinges gedacht wird, so daß von dem durch den Begriff repräsentierten Gegenstand auch die Existenz ausgesagt werden kann, aber nicht auf Grund des Begriffsinhaltes als solchen, der immer nur ein mögliches Ding bedeutet. Was aber Kants Kritik an dem Begriff des Daseins bei den genannten zeitgenössischen Philosophen betrifft, so geht der Autor beispielsweise gar nicht ein auf die wichtigen und entwicklungsgeschichtlich außerordentlich bedeutsamen Ausführungen und Einwände Kants gegen Baumgartens Definition, das Dasein sei die vollständige Bestimmung des möglichen Dinges, sondern interpretiert sie sogleich, indem er sie, wie folgt, ergänzt: „Aber diese [vollständige Bestimmtheit] findet sich schon in der sinnlichen Erkenntnis, die ihrerseits innerlich ist: so können wir, indem wir die Kritik Kants (an Baumgarten) vervollständigen, hinzufügen ; und wir können daran erinnern, daß Berkeley, indem er in seiner Kritik der abstrakten Begriffe diesen die Bestimmtheit unserer wirklichen Vergegenwärtigungen gegenüberstellte, trotzdem nicht die Absicht hatte, aus der subjektiven Welt auszubrechen" 2 ' 2 . Hier verrät sich deutlich die Tendenz des Verfassers, die Ontologie Kants seinem Interpretationsschema Rationalismus-Empirismus anzupassen und sie möglichst ihres genuin ontologischen Realitätscharakters zu entkleiden. Aber Kant meint ganz sicher mit der omnímoda determinatio der Möglichkeiten etwas gänzlich anderes als die Konkretheit der sinnlichen Wahrnehmung: nämlich jenes Reich der reinen Möglichkeiten, das als solches in sich völlig bestimmt ist und das, als unabhängig von der 2,1 212

Campo, op. cit. s. 284 s. ebd. 285

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 6 7

Existenz einer materiellen Welt und einer Welt von perzipierenden Geistern bestehend, den eigentlichen Ausgangspunkt seines apriorischen Arguments bildet: von dieser Sicht aus erfolgt hier seine Auseinandersetzung mit Baumgarten und Wolff, die Bestimmtheit und Konkretisierung der sinnlichen Wahrnehmungen stehen hier in keiner Weise zur Debatte. Alles in allem genommen, wird man abschließend zu diesem (zweiten) Abschnitt des Autors sagen müssen, daß seine These von den angeblichen „novità ontologiche" in den ersten beiden Betrachtungen des Beweisgrundes wenig überzeugend ist, ganz abgesehen von seiner Deutung einzelner Elemente des Kantischen Gedankengangs. Campo beginnt seinen 2. Abschnitt ,,Le due vie" mit den Worten: „Nach diesen ontologischen Prämissen geht Kant das Problem des Daseins Gottes an" 2 ' 3 , was ihm das Stich wort liefert, näher auf die beiden Wege des Gottesbeweises, die Kant im Beweisgrund anerkennt, und ihre Vorgeschichte in den Schriften von 1755 einzugehen. Dieses Vorgehen setzt voraus, daß Kant in den beiden ersten Betrachtungen wirklich die Grundzüge eines neuen ontologischen Systems entworfen und damit einen neuen Ausgangspunkt für das Problem des Gottesbeweises in seinen beiden spezifischen Formen gewonnen habe, wodurch vor allem auch der ontologische Beweis selber eine vollkommenere Gestalt erlangen konnte. Aber weder ersteres ist der Fall, wie wir im vorausgehenden gesehen haben, noch ist richtig, was Campo in diesem Zusammenhang behauptet, daß der ontologische Beweis von 1762 in dem Sinn eine Klärung und Verdeutlichung bringe, daß Gott nicht die Summe, sondern der Grund oder die Ursache „delle realitates diffuse nel mondo" sei, ein Standpunkt, „che contraddistingue il teismo Kantiano dal panteismo spinoziano", womit Campo eine ähnliche Auffassung vertritt wie Laberge: daß nämlich die Frühform des Arguments in der Nova Dilucidatio auch in spinozistischem Sinn als Summe der in der Welt zerstreuten Realitäten verstanden werden könnte, und daß erst der Beweisgrund die entscheidende Klärung gebracht habe. Wenn der Autor diese Klärung im Sinn des Theismus in n. 4 der 2. Betrachtung des Beweisgrundes gegeben sieht, wo Kant zwischen der Möglichkeit als Bestimmung eines Existierenden und als Folge eines Existierenden unterscheidet, so wird seine These schon dadurch hinfällig, daß wir bereits in der Definition des absolut notwendig Existierenden der Prop. VII der Nova Dilucidatio eben dieselbe Unterscheidung antreffen, die dann im Scholion weiterhin im Sinn dieser n. 4 erläutert wird. Der Grund der obigen irrigen Deutung des Arguments der Habilitationsschrift liegt einmal in dem Ubersehen dieser fundamentalen Tatsache; dann aber auch in der verfehlten Deutung des zweiten Beweisschrittes der Prop. VII, wo Campo glaubt, es sei dort von den begrenzten Seienden unserer Erfahrung und deren Kontingenz die Rede, von den „realitates diffuse nel mondo", was ihn dazu verleitet, das Argument dem 4. Weg des hl. Thomas anzunähern: während bei Kant die Rede ist von den realitates der reinen Möglichkeiten und von ihrer notwendigen und damit überempirischen Existenz in einem unendlichen Seienden oder in mehreren endlichen, aber ebenfalls notwendig Seienden. Wenn aber die ersten beiden Betrachtungen nicht die Grundzüge einer neuen Ontologie entwerfen, die für beide Beweisformen von grundlegender Bedeutung ist, sondern le213

s. ebd. 290

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III. Teil

diglich die Begriffe und Voraussetzungen des ontologischen Beweises ausführlicher entwickeln als es in der gedrängten syllogistischen Form der Nova Dilucidado geschehen konnte, dann bedeutet der Einschub dieses Abschnittes über die zwei Wege eine methodisch nicht zu rechtfertigende Unterbrechung des wesentlichen Gedankengangs des ontotheologischen Arguments, und das um so mehr, als ja die 2. Betrachtung in Wahrheit bereits den grundlegenden ersten Schritt des Beweisganges enthält; denn nn. 2 und 3 entwickeln, wie wir gesehen haben, das Grundprinzip desselben, während n. 4 (erster Absatz) die Uberleitung zum zweiten entscheidenden Beweisschritt bringt. Durch Campos Verfahren wird der durchgehende Gedankengang des Arguments zerstückelt, und es ist dann nicht mehr verwunderlich, daß der Autor dessen Einheit und streng geschlossene Logik nicht mehr zu sehen vermag. Die Behandlung der beiden Beweisarten an dieser Stelle ist methodisch aber auch insofern fragwürdig, als ja eine Charakterisierung derselben und die Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander überhaupt erst möglich wird durch die vollständige Analyse der ersten und der zweiten Abteilung, ja im Grunde aller drei Abteilungen des Beweisgrundes. Der Autor jedoch glaubt sich schon vor der Durchführung dieser Analyse zu einem abschließenden Urteil über ihren wesentlichen Gehalt und ihr Verhältnis zueinander autorisiert, vor allem auch zur Beurteilung der dritten Abteilung, in der der ontotheologische Beweis als die einzig mögliche Demonstration den drei traditionellen Wegen gegenübergestellt und diese letzteren als irrig zurückgewiesen bzw. als nicht demonstrativ charakterisiert werden. So ist es nicht zu verwundern, daß es bei ihm zu folgenschweren MißVerständnissen sowohl in der Beurteilung der beiden Beweisgänge selbst, wie auch in der Beurteilung des Systems der Gottesbeweise im dritten Teil kommt. Wir wollen in diesem Zusammenhang nur kurz auf die wichtigsten hinweisen: Hier ist es vor allem der Irrtum, das in der Allgemeinen Naturgeschichte skizzierte (verbesserte) physikotheologische Argument werde in der dritten Sektion der Nova Dilicidatio wieder aufgenommen und vervollkommnet, eine These, die, wie wir gesehen haben, in der Interpretation der zweiten Abteilung bei Laberge eine wichtige Rolle spielt, die sich aber, bei näherem Zusehen als ein fundamentales Miß Verständnis erwies, wie wir in der Auseinandersetzung mit dem genannten Autor dargetan haben 214 . Als unrichtig erweist sich ferner von der zu Ende geführten Analyse der Abhandlung aus die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Wegen des Gottesbeweises: Campo bezeichnet den einen als kosmologisch-aposteriorischen und den anderen als ontologisch-apriorischen und sieht den Unterschied zwischen beiden darin, daß der erstere ausgehe von der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und ihrer ,,leggi fenomeniche e sperimentali", der zweite aber sich auf den Boden der Ontologie und ihrer Grundbegriffe von essentia und existentia stelle, ohne jeden besonderen Bezug auf bestimmte empirische Begriffe. Dabei vervollständige der kosmologische Weg, um von seiner Basis aus zu Gott zu kommen, die wissenschaftliche Betrachtung aber nicht durch eine metaphysische, sondern durch eine gnoseologische Argumentation: „indem man nämlich zeigt, daß jene

2,4

s. oben S. 2 2 3 f .

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 6 9

Harmonie der Gesetze und die gegenseitige Verknüpfung der Phänomene einen originären Intellekt zur Bedingung hat" 215 . Diese Kennzeichnung der Argumente ist in mehr als einer Hinsicht problematisch: die des kosmologischen, zumal wenn man mit Kant den Terminus „kosmologisch" hier weiter faßt als im Sinn des physikotheologischen im engeren Sinn, so daß er auch die Kontingenzargumente, wie das aus der Gemeinschaft der Substanzen, mit umfaßt216; denn hier handelt es sich durchaus um einen metaphysischen Beweis, der nicht nur auf einen originären Intellekt, sondern auch auf eine erste unbedingte Ursache, ja von der verbesserten physikotheologischen Basis aus sogar (wenn auch nicht demonstrativ) auf das notwendige Dasein als Prinzip aller Möglichkeiten schließt217. Im übrigen, selbst wenn der Schluß formell auf einen ursprünglichen göttlichen Intellekt erfolgen würde, wäre das etwa kein metaphysischer Schluß? Dann müßte man schon auch den 5. Weg des hl. Thomas als eine gnoseologische Vervollständigung der in der Welt gegebenen feststellbaren Harmonie und Ordnung bezeichnen. Im übrigen wird hier auch die Basis, von der Kants Argumentation im physikotheologischen Argument ausgeht, m. E. nicht richtig gesehen, wenn sie als Erkenntnis der bloßen „leggi fenomeniche e sperimentali" gekennzeichnet wird. Das ist offenbar eine moderne Sicht der Naturerkenntnis, die selbst zu einem guten Teil durch den späteren Kritizismus Kants bedingt ist. Für Kant galten damals die allgemeinen Grundgesetze der Materie als notwendige Wesensgesetze der Dinge, die auf die Harmonie der ihnen zugrunde liegenden Möglichkeiten schließen ließen: also war auch der verbesserte physikotheologische Beweis in seiner damaligen Sicht ein metaphysischer Schluß im eigentlichen Sinn. Campos Kennzeichnung des zweiten Weges der Nova Dilucidatici als eines ontologisch apriorischen ist entscheidend bestimmt durch seine Deutung des zweiten Schrittes der Argumentation der Prop. VII, d. h. durch seine Voraussetzung, daß dort die Rede sei von den endlichen Seienden, den begrenzten Realitäten unserer Erfahrungswelt. Daher glaubt er ihn nur deshalb als ontologisch bzw. apriorisch bezeichnen zu können, weil er sich auf die ontologischen Grundbegriffe des Daseins und der Wesenheit ohne Berücksichtigung bestimmter empirischer Begriffe stütze und weil die Benützung dieser metaphysischen Ausgangsbegriffe eine abstrahierende Bearbeitung unserer konkreten Erkenntnisse über die Seienden und ihre Vollkommenheiten und deren Begrenzungen voraussetze. Nur von dieser Auffassung aus, die den Sinn der Argumentation der Prop. VII offenbar verfehlt, wird es verständlich, daß der Autor dieses Kantische Argument dem 4. Weg des hl. Thomas annähern kann. Aber es wird aus dieser Begründung weder einsichtig, warum es deshalb ein ontologisches, noch gar ein apriorisches sein soll ; denn für Kant bedeutet ontologisch sicher so viel wie vergleichbar mit dem ontologischen Argument Descartes, und apriorisch sicher so viel wie unabhängig von unserer Erfahrung der Welt. Was nun Campos Behandlung der beiden Wege speziell im Beweisgrund angeht, so ist vor allem von Bedeutung, daß er hier seine ganze Analyse der dritten Abteilung unter215 2,6 217

Campo, op. cit. s. 291 s. K G S II, 159 ebd. 92

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III. Teil

bringt, womit er sich der Möglichkeit begibt, die Ergebnisse derjenigen der beiden vorausgehenden Abteilungen, vor allem auch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen ihnen, für die Interpretation des in systematischer und entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht so wichtigen Schlußteiles des Beweisgrundes fruchtbar zu machen. So identifiziert er ohne weiteres die von Kant im letzten Absatz der ersten Abteilung als apriorisch und aposteriorisch bezeichneten Beweise mit den beiden in der dritten anerkannten Argumenten, dem eigenen ontologischen und dem kosmologischen, wobei er aber gestehen muß, daß ihm Kants Charakterisierung des Verhältnisses zwischen beiden im überleitenden Schlußabsatz der ersten Abteilung auch im Hinblick auf die Benennungen, etwas rätselhaft- un po' enigmatico anche a causa dei titoli-bleibe 2 1 8 . D e r Autor referiert nun umständlich über die schematische Einteilung in die 4 Typen, auf die Kant in der 3. Abteilung alle möglichen Gottesbeweise zurückführt: die zwei apriorischen, die von den Verstandesbegriffen des bloß Möglichen und die zwei aposteriorischen, die von den Erfahrungsbegriffen des Existierenden aus argumentieren. Seine Kritik dieser Systematisierung ist wiederum sehr deutlich von seinem methodischen Gesichtspunkt des Rationalismus-Empirismusschemas bestimmt: es handle sich bei dieser Stilisierung und Reduzierung aller Gottesbeweise auf diese 4 Typen um eine,, soverchieria", eine Vergewaltigung der philosophischen Gotteslehre in historischer und systematischer Hinsicht; denn einerseits werde deren immense historische Problematik, die uns auch bei Descartes und Wolff noch wesentlich reicher und komplexer entgegentrete, hier über die Maßen vereinfacht; dann sei das Prinzip, das Kants Klassifizierung und Diskussion hier bestimme: die Unterscheidung zwischen possibilità und esistenza, fragwürdig (discutibile), ganz abgesehen davon, daß sie nur eine Etappe in der Entwicklung Kants darstelle. Sie offenbare in Wahrheit das Unbehagen (disagio) Kants zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus, zwischen ,,il mondo dell' ontologia wolfiana e quello della scienza newtoniana". In der Tat werde diese Unterscheidung zu einer Quelle von Mehrdeutigkeiten oder Mißverständnissen (equivoci), da man sie identifiziere sowohl mit der metaphysischen

(oder

pseudometaphysischen) zwischen possibilità (contenuto ideale) und esistenza (mera ineffabile posizione) wie mit der gnoseologischen oder methodologischen

zwischen dem

Apriori (innatistico? on to logistico?) und dem Aposteriori (sensistico alla Locke, sperimentale alla Bacone o alla Newton?). U m zu Gott zu gelangen, gebe es nach Kant nur zwei Wege, die unvergleichlich und verschieden voneinander und im übrigen schlecht im einzelnen gekennzeichnet seien (oltre chè male individuate): den stratosphärischen der im Möglichen „beschlagnahmt e n " Begriffe (dei concetti sequestrati nel possibile) und den erdhaften der empirischen im Einzelhaften verschlossenen Begriffe (o quella terrestre delle nozioni empiriche chiuse nel particolare), während die von dem größten Teil der vorausgegangenen Denker beschrittene Straße von den zugleich wahrgenommenen und gedachten Dingen ausgegangen sei und an der Kontingenz als der Spannung von Essenz und Existenz angesetzt habe. Diese Kantische Perspektive aber hätte einen überraschenden symptomatischen Charakter: „ W e n n sie auch nur eine vorläufige Phase darstelle, bilde sie doch schon viele Dinge vor218

Campo, op. cit. 293

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 7 1

aus, die dann später ans Licht kommen werden" 219 . Der Kontrast zwischen kosmologischem und ontologischem Argument werde durchaus plausibel, da sich darunter die Unvergleichlichkeit des modernen naturwissenschaftlichen Erkennens und des philosophisch-metaphysischen Denkens offenbare. Freilich sei die Metaphysik des damaligen Kant von unsicherer Legierung (d'incerta lega), es werde die Zeit kommen, in der die ontologischen Kategorien selber die Funktion und Aufgabe übernehmen, die wissenschaftliche Welt zu informieren, da die esistenza-posizione vom transzendenten zum transzendentalen Akt der Objektivierung der phänomenalen Welt herabsinken werde, da es keine Kontingenz der Dinge mehr gebe und Gott zugleich mit der Behauptung des Seins der Dinge im theoretischen Bereich fallen werde. Dann werde von ihm nur mehr das schattenhafte transzendentale Ideal und als Ersatz der theoretischen Gotteserkenntnis der praktisch-moralische Glaube an Gott übrig bleiben. Überraschend in der Entwicklung Kants sei, daß die Risse und Sprünge und die anfänglichen Vorformungen auf den heterogenen Ebenen einer so langen und revolutionären Entwicklung sich durchhielten: wie das Jahr 1762 das von 1755 weiterführe, so werde das Jahr 1781 das von 1762 weiterentwikkeln 220 . Was Campos Charakterisierung der beiden Wege im Beweisgrund angeht, so ist vor allem zu betonen - wir haben bereits darauf hingewiesen - , daß das verbesserte physikotheologische Argument der zweiten Abteilung keineswegs identisch ist mit dem, was Kant in der dritten Abteilung den kosmologischen Beweis nennt. Der , .kosmologische" Beweis in der Terminologie des Beweisgrundes (und der ,,physikotheologische" im erweiterten Verstand des dritten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik, Abschnitt VI) umfaßt in Wahrheit viel mehr als nur den verbesserten physikotheologischen der zweiten Abteilung der Abhandlung, der einzig auf der Harmonie der in der Welt verwirklichten Möglichkeiten, wie sie sich aus der notwendigen Naturgesetzlichkeit erschließen läßt, aufbaut: er umfaßt nämlich als wesentliches Element ebenso den gewöhnlichen physikotheologischen Beweis, soweit er sich auf die zufällige und künstliche Gesetzlichkeit der Naturordnung stützt, die hauptsächlich im organischen Bereich anzutreffen ist, aber auch im anorganischen nicht fehlt, z. B. in der zweckmäßigen Verteilung der verschiedenen Stoffe und Materien in der Welt bzw. im Kosmos 221 . Er begreift in sich außerdem die Schlüsse aus den „deutlichen Merkmalen ihrer [der Dinge der Welt] Zufälligkeit" 222 ; denn der Plural in dem Ausdruck „Merkmale der Zufälligkeit" deutet darauf hin, daß er hierbei mehr als ein Kontingenzargument im Auge hat: allerdings nicht den von ihm strikt als „falsch und gänzlich unmöglich223 abgelehnten Wölfischen, gewiß aber seinen ex commercio substantiarum mundi; darüber hinaus aber erwähnt er in der 6. Betrachtung (n. 1) der zweiten Abteilung noch einen anderen Gedankengang dieser Art, der bezeichnenderweise auch in Abschnitt VI des 3. Haupt-

219 220 221 222 223

s. ebd. 295 s. ebendort vgl. K G S II, 106 Ebd. 159 Ebd. 162

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III. Teil

stücks der transzendentalen Dialektik wiederkehrt: „Nach den Urteilen der gemeinen Vernunft hat die Abfolge der Weltveränderungen oder diejenige Verknüpfung, an deren Stelle eine andere möglich war, ob sie gleich einen klaren Beweisgrund der Zufälligkeit an die Hand gibt, wenig Wirkung, dem Verstände die Vermutung eines Urhebers zu veranlassen" 224 , wobei der Hinweis auf die geringe praktische Uberzeugungskraft nicht die von Kant unterstrichene Gültigkeit dieses Ansatzes übersehen lassen darf. Der kosmologische Beweis nach der Terminologie des Beweisgrundes umfaßt also m. a. W. etwa das, was den Inhalt des ersten, zweiten, dritten und fünften Weges des hl. Thomas ausmacht. Aber alle diese Wege oder Gedankengänge vermögen nach Kants Überzeugung nicht das zu leisten, was ein Gottesbeweis im Sinne einer genuinen Demonstration leisten muß, wenn sie auch für den natürlichen Verstand eine für die Praxis hinreichende Uberzeugung begründen. Die Systematisierung aller Gottesbeweise in die 4 Typen der Argumente, zwei apriorische und zwei aposteriorische, erstere, die an den Verstandesbegriffen des bloß Möglichen [ = der reinen Möglichkeiten] letztere, die an dem Erfahrungsbegriffe des Existierenden ansetzen, betrachtet Campo, wie gesagt, alseine „soverchieria", eine Vergewaltigung der philosophischen Gottesbeweislehre sowohl in historischer wie in systematischer Hinsicht: letzteres vor allem, weil sein Kriterium der Unterscheidung: Verstandesbegriffe, Erfahrungsbegriffe, fragwürdig sei und unvermeidlich zu einer Quelle von Mehrdeutigkeiten und Mißverständnissen werden mußte, und zwar deswegen, weil es mit der Unterscheidung zwischen dem pseudometaphysischen Begriff der Möglichkeit (als „contenuto ideale') und der Existenz (als „mera ineffabile posizione"), sowie mit der gnoseologischen und methodologischen Unterscheidung zwischen dem apriorischen Verfahren (innatistico? ontologistico?) und dem aposteriorischen (sensistico? sperimentale?) in einen Topf geworfen werde. Nun diese equivoci gibt es in der Tat, freilich nicht so sehr bei Kant selbst als vielmehr bei seinen Interpreten, dann nämlich, wenn diese die Termini nicht so nehmen, wie sie jener intendiert hat, sondern ihre eigene Sichtweise in dessen Termini hineinlesen. Denn in Wahrheit meint Kant mit dem apriorischen Argument hier nicht nur, daß es bei dem Begriff des Möglichen um einen irgendwie ontologischen Begriff geht, sondern er meint die Möglichkeit als eine ontologische Dimension, die der Ordnung der Existenz der Welt und der denkenden Personen metaphysisch vorangeht und von ihr unabhängig ist; in diesem Sinn spricht er von den Begriffen des bloß Möglichen. Die meisten Irrtümer in der Interpretation des Kantischen Beweises aus den Möglichkeiten gehen darauf zurück, daß die Interpreten sich sozusagen taub stellen gegenüber der ausdrücklichen Erklärung des Philosophen, wie er seinen ontologischen Beweis als apriorischen verstanden wissen will: „Der Beweisgrund von dem Dasein Gotes, den wir geben, ist lediglich darauf erbauet, weil etwas möglich ist. Demnach ist er ein Beweis, der vollkommen a prion geführt werden kann. Es wird weder meine Existenz noch die von anderen Geistern noch die von der körperlichen Welt vorausgesetzt"225. Also überhaupt keine Existenz. Darum 224 225

Ebd. 124 (kurs. Verf.) Ebd. 91

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 7 3

also ist er ein Beweis, der vollkommen a priori geführt werden kann, und aus sonst keinem anderen Grund. Aber damit wird zugleich auch die falsche Deutung des Verstandesbegriffes des bloß Möglichen als „contenuto ideale" korrigiert; denn die Möglichkeit der Dinge, die unabhängig von der Existenz der materiellen Welt selbst als Ausgangspunkt dieses Gottesbeweises fungiert, kann nur als Welt der reinen Möglichkeiten der Dinge gedacht werden, wie sie vor Gott stand, als er die Welt schuf, wie es in der 2. Betrachtung der ersten Abteilung heißt. Das aber ist ein echter metaphysischer, und nicht ein pseudo-metaphysischer Begriff. Aber auch die andere Deutung der Möglichkeit, mit der der Autor spielt, erweist sich von hier aus als unhaltbar, nämlich, als handle es sich bei den Möglichkeiten des ontotheologischen Beweises um die in der Welt existierenden Vollkommenheiten im Sinn des 4. Weges von Thomas von Aquin, bzw. korrelativ dazu beim ens necessarium um die causa der Weltdinge, der in der Welt zerstreuten Vollkommenheiten, wie Campo den Fortschritt des Beweisgrundes gegenüber dem Argument der Nova Dilucidatici in der Zusammenfassung des letzten Absatzes der ,,Le due vie" versteht: „l'affermazione più esplicita che Dio è, non la somma, ma il principio o la causa (!) delle realitates diffuse nel mondo 2 2 6 . Obwohl die Sache auf den ersten Blick als Haarspalterei erscheinen könnte, wäre das ein völliges Mißverständnis des einzig möglichen Beweisgrundes; denn es ist das Wesen desselben, daß in ihm Gott erschlossen wird als Realgrund aller Möglichkeiten als reiner Möglichkeiten, weil nur damit überhaupt die absolute Notwendigkeit der Existenz erreicht werden kann, obwohl damit zugleich gegeben ist, daß er auf Grund dieses ursprünglichen Verhältnisses auch der Grund und die Ursache der existierenden Welt ist, bzw. überhaupt sein kann 2 2 7 . Die Möglichkeit, von der Kant ausgeht, als bloßen contenuto ideale unserer Begriffe zu interpretieren ist ebenso unmöglich, wie das Apriori als Innatismus bzw. als Ontologismus zu verstehen. Die Möglichkeiten, um die es geht, sind vielmehr, wie wir sagten, jene möglichen Welten, die auch Gott vor Augen hat, wenn er über eine oder mehrere von ihnen sein allmächtiges Werde spricht, und sonst nichts. Sie gehen der Existenz aller Welten ontologisch voraus, und sind etwas Ursprünglicheres als die ganze Existenzordnung, wie bereits im Scholion der Prop. VII angedeutet wurde. Es handelt sich also gewiß nicht um ein pseudometaphysisches Prinzip. Dementsprechend bedeutet der Erfahrungsbegriff des Existierenden weder die ,,mera ineffabile posizione" noch etwas bloß Sensitivistisches oder Experimentalwissenschaftliches, wie Campo den Begriff im Sinn seines Interpretationsschemas Rationalismus-Empirismus verstehen möchte, sondern schlicht die dem Verstände, und nicht bloß unserer sinnlichen Wahrnehmung, gegebene absolute Position der Dinge in sich, die der absoluten Position des notwendig Daseienden in diesem Punkt analog ist. Und das ist in der Tat ein conceptus ineffabilis, weil ein einfacher und nicht weiter auflösbarer Begriff, dessen Sinn und Inhalt wir unmittelbar aus der Erfahrung erkennen, allerdings nicht nur aus der sinnlichen, sondern vor allem auch aus der intellektuellen, wie der unserer eigenen Existenz, von dem Kant auch später in seiner Kritik des Wölfischen Arguments auszugehen 226 227

Campo, op cit. 295 (causa kurs. Verf.) vgl. K G S II, 91

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pflegt. Wenn der Begriff der Existenz als positio absoluta oder als positio in se bei Suarez ein echter metaphysischer Begriff ist, dann ist es auch der Kants, denn beide decken sich weitgehend. Der Ausdruck Beweise „aus dem Erfahrungsbegriffe des Existierenden" bedeutet also nichts anderes als die an der gegebenen Existenz der Welt und unseres Ichs oder auch anderer Personen ansetzenden Argumente, das apriorische nichts anderes als das von den reinen oder bloßen Möglichkeiten der Dinge ausgehende. Gewiß kann man das letztere einen stratosphärischen Weg nennen, nicht aber den aposteriorischen eine „via terrestre delle nozioni empiriche chiuse nel particolare". Denn Kant meint damit lediglich die von der Existenz der Welt ausgehenden Argumente, die auf eine erste Ursache der Welt zurückschließen. Kants aposteriorisches Argument d. h. sein Ansatz und Schluß ist prinzipiell nicht anders zu verstehen, als er von jeher von den Scholastikern verstanden wurde. Nur wenn man sich von vornherein darauf festgelegt hat, den vorkritischen Kant ausschließlich nach dem Schema Rationalismus-Empirismus zu interpretieren, wird man, um einen Ausdruck Kants selber zu gebrauchen, „alle Gelegenheit dazu benehmen" 228 , in seinen Darlegungen rationalistische bzw. empiristische Elemente zu suchen, und man wird sie dann auch finden. Was aber die vom Autor dem Philosophen angekreidete Verkürzung der historischen Problematik in der Gotteslehre betrifft, so müßte man zunächst darauf hinweisen, daß die Kantische Palette in Wirklichkeit viel reicher ist als die beiden Wege, auf die sie Campo seinerseits reduziert. Wir haben zunächst die beiden großen Beweise des Rationalismus, den ontologischen Descartes' und den kosmologischen Wolffs, die Kant kritisiert und ablehnt; dann seinen eigenen ontologischen oder ontotheologischen Weg, den er an die Stelle des Descartesschen gesetzt wissen will. Ferner die Vielzahl von Beweisansätzen, die er im Beweisgrund unter den Begriff des kosmologischen Arguments zusammenfaßt, wie wir gesehen haben. Aber unser Einwand gegen Campos Kritik an der Kantischen Reduktion der Beweise auf die 4 Typen der dritten Abteilung richtet sich nicht einmal primär gegen die Behauptung einer unzulässigen Vereinfachung und Verkürzung der geschichtlich vorliegenden Ansätze, sondern dagegen, daß der Autor die sich hinter dieser Reduzierung verbergende spezifisch Kantische Fragestellung bezüglich der Gottesbeweise verkennt: ob nämlich eine Demonstration des Daseins Gottes in der eigentlichen und strengen Bedeutung des Wortes möglich sei bzw. welcher von den angeführten Beweistypen, auf die sich die historisch gegebenen Formen zurückführen lassen, den Bedingungen einer solchen allein genügen kann. Anders ausgedrückt: die spezifische Thematik des Beweisgrundes, wie sie im Titel angekündigt und in ihren wesentlichen Aspekten in dem „Beschluß" der ersten Abteilung und im 1. Absatz der dritten gekennzeichnet wird, verlangte von ihrem einzigartigen Anspruch her als kritisches Pendant nach der positiven Darlegung des apriorischen Weges selbst den Nachweis, daß alle anderen entweder sich als Fehlschlüsse erweisen, oder mit den Worten Kants: „falsch und gänzlich unmöglich" sind, wie der Cartesianische und das argumentum a contingentia mundi Wolffs, oder aber wenigstens den Anforderungen einer genuinen Demonstration grundsätzlich nicht genügen können, wie die im Begriff des kosmologischen Beweises zusammengefaß228

Ebd. 67

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper

275

ten Argumente. Die hier von Kant skizzierte Systematik der Gottesbeweise ist folglich von seiner Problemsicht aus vollkommen logisch. Die in ihr enthaltene Kritk der drei großen Argumente der Tradition, des ontologischen Descartes, des Wölfischen Kontingenzbeweises und des eigenen kosmologischen (nach der Terminologie des Beweisgrundes) ist aber auch entwicklungsgeschichtlich von einzigartiger Bedeutung, und dies letztere ist ein weiterer Gesichtspunkt, dem Campos Analyse nicht gerecht wird: er betrachtet diese Gottesbeweiskritik nämlich lediglich als eine Etappe in der Entwicklung Kants zum transzendentalen Idealismus, in dem die Verstandesbegriffe dann zu Kategorien als objektkonstituierenden Prinzipien der phänomenalen Welt würden etc. Es ist jene irrige Vorstellung, die wir auch bei Henrich fanden, daß die vorkritische Kritik der Gottesbeweise Kants zunächst mit anderen Entwicklungen zum Kritizismus führe und aus diesem dann die „kritizistische" Kritik der Gottesbeweislehre erwachse. In Wirklichkeit ist die 3. Abteilung des Beweisgrundes einer der wichtigsten Belege, daß die metaphysische Entwicklung Kants in der vorkritischen Zeit sich unmittelbar auf die Lehre der transzendentalen Dialektik hinbewegt und in der Disziplin der Rationaltheologie dieses Niveau schon 1762 in fast allen Punkten erreicht hat, da nur noch die Entwicklung vom einzig möglichen Beweisgrund zur Lehre vom transzendentalen Ideal hinzukommen mußte, um die These des „dialektischen" Charakters der 3. Disziplin der „Metaphysica specialis" vollständig zu machen (was ebenfalls noch in der vorkritischen Zeit erfolgte). Daß diese Entwicklung nicht auf die Rationaltheologie beschränkt blieb, sondern sich auch auf die beiden anderen Disziplinen der Metaphysica specialis, insbesondere die rationale Kosmologie, erstreckte, daraufhaben wir bereits im vorausgehenden hingewiesen. Mit dieser Analyse der „beiden Wege" ist nun auch für die unter dem Titel „L'argomento a priori" folgende Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes die Beurteilung gegeben. Durch das Anlegen des rationalistisch-empiristischen Erklärungsschemas statt einer systematischen Analyse seines Gedankengangs bleibt nicht nur die logische Struktur des letzteren in ihrer Einheit verborgen, sondern der Autor glaubt in den verschiedenen und verschiedenartigen Elementen desselben widerstrebende Tendenzen, Methoden und Ziele feststellen zu können: die rund 20 Seiten der Akademieausgabe bieten im Spiegel seiner Interpretation in der Tat ein sehr merkwürdiges Bild von dem philosophischen Entwurf des damals fast 40jährigen Kant. Zwar sieht Campo dessen Mängel in anderen Elementen und auch die Unstimmigkeiten desselben anders als etwa Laberge oder Redmann, aber im ganzen ist das Bild, das er vom Beweisgrund entwirft, nicht weniger uneinheitlich und widersprüchlich als bei den Genannten. Der Philosoph behandle das apriorische Argument im ersten, dunkelsten und metaphysischsten Teil des Werkes, einem finsteren Ozean von Abstraktionen, die sich bis zu Abstrusitäten steigerten. Die grundlegende Frage für Kant sei die nach dem Übergang von dem Realen der Möglichkeiten im bezeichneten Sinn zum Existierenden, das Gott ist. Der entscheidende Punkt sei in der n. 2 der 2. Betrachtung zu finden. Er habe im Vorausgehenden unterschieden zwischen dem logisch-form alen und dem inhaltlich-materialen Element der Möglichkeit und im Blick auf dieses letztere wolle er beweisen, daß die innere Möglichkeit aller Dinge irgend eine Existenz voraussetze. Wenn alle Existenz aufgehoben und nichts schlechthin

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III. Teil

gesetzt sei, dann sei überhaupt nichts mehr gegeben, auch nicht irgend welches Materiale zu einem Denklichen, und dann sei auch jede Möglichkeit aufgehoben. Gewiß sei in der Negierung alles Daseins kein Widerspruch. Aber daß überhaupt nichts existiere und doch etwas möglich sei, das sei ein Widerspruch; denn wenn nichts existiere, dann sei auch nichts gegeben, das denklich sei, und man widerspreche sich selbst, wenn man trotzdem behauptet, etwas sei möglich 229 . Das ist nach Campo der wesentliche Text, mit dem das Argument steht und fällt. Kant gebe keine weiteren Erläuterungen zu diesem Text. Nun Campos Stellungsnahme zu dem bezeichneten grundlegenden Beweisschritt: „Confesso di non vedere la stringenza dell' argomentazione kantiana, per quanti sforzi faccia di frugarla e ponderarla: ich gestehe, daß ich die Stringenz der Kantischen Argumentation nicht zu sehen vermag, so viel ich mich auch anstrenge, um sie zu durchforschen und abzuwägen". Und es scheint uns nicht, fährt er fort, daß der Fehler auf der Seite dessen liege, der liest und nicht versteht, da man sich ja bemüht hat, die Bedeutung der Termini aufs schärfste einzustellen nach den von Kant selbst erklärten Absichten und auf dem Hintergrund der historischen Problematik und im Hinblick auf die zukünftigen Ergebnisse. Man könnte denken, daß Kant im Geiste etwas aufleuchte wie der Primat des Aktes vor der Potenz; aber hier gehe es ja um etwas anderes: seine Möglichkeit, die Möglichkeit im Wölfischen Sinn, sei nicht die potentia der Aristoteliker, sondern ,,il pensabile". Oder man könnte meinen, der Sinn der Kantischen Argumentation sei, daß das Denkliche die Existenz eines Geistes voraussetze; aber auch das treffe nicht zu, denn davon finde sich hier nicht die geringste Andeutung. Tatsache sei, daß der Punkt, von dem Kant ausgeht, die „possibilità" oder „pensabilita rationalista" sei, und daß er gerade seinen ersten Rationalismus selbst so gekennzeichnet und dessen Blindheit und Unvermögen hinsichtlich der Existenz selbst angeprangert habe. Aber sollte diese Setzungs-Existenz vielleicht nur das Setzen oder Denken des Denklichen sein? Auch das treffe nicht zu; denn jetzt seien (im Unterschied zur späteren idealistischen Entwicklung) die Intentionen Kants unbezweifelbar: er will zum Dasein Gottes als des notwendig Seienden gelangen. Der Sinn des Daseins, der ja im spontanen Denken jedes Menschen immer gegenwärtig ist, habe ihn gewiß getroffen, aber es fehlten ihm die Waffen, es im vollen Sinn zurückzuerobern und zu rechtfertigen, oder besser: er habe diese Waffen, deren sich alle bedienen, aus gnoseologischen Vorurteilen abgestumpft oder zerbrochen. „ U n d seine Argumentation muß im entscheidenden Punkt scheitern: man sieht nicht, wie man von der Möglichkeit aus auf eine Existenz schließen kann und muß. Der Kritiker des Cartesianischen Arguments vollzieht einen nicht weniger gravierenden logischen Sprung mit seinem eigenen erneuerten ontologischen Argument" 2 3 0 . Der darauffolgende Paragraph vervollkommne lediglich noch diesen vermeintlichen Beweis: es handle sich nicht um irgendein Seiendes, das irgendein Mögliches möglich mache, sondern um jenes, ohne das das Materiale zu allem Möglichen aufgehoben und damit alle Möglichkeit negiert würde. Der Beweis sei vollendet, denn er zeige, daß das Gegenteil unmöglich ist. Die Argumentation schreite dann fort mit einer langen Kette anderer 229 230

Campo, op. cit. s. 296 s. ebd. 297

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 7 7

gedanklicher Entwicklungen. Sie brauchten uns in gewisser Beziehung nicht mehr zu interessieren: denn: „Si può forse appendere un vestito reale a un chiodo dipinto? Kann man vielleicht ein wirkliches Gewand an einem gemalten Nagel aufhängen?" Wenn er (Campo) aber diese folgenden Beweisschritte noch weiter verfolge, darunter insbesondere die der vierten Betrachtung, dann geschehe das deshalb, weil mit ihnen sozusagen durchs Fenster herein viel von der traditionellen Metaphysik zurückgenommen werde, was nicht ordnungsgemäß durch die Türe (seiner ontologischen Voraussetzungen) hereingekommen sei: und mittels dieser weiteren Schritte gelange er zu einem notwendigen, einzigen, einfachen, ewigen, allerrealsten Sein, das ein unendlicher Geist, also Gott ist. Man müsse sagen, daß so die bloß abstrakten Schemen der ersten Betrachtungen mit ihrer farblosen Unentschiedenheit zwischen Idealität und Realität langsam immer mehr Blut und Leben bekommen, je weiter er seinen Weg zu Gott verfolge: „aber wenn es auch nicht der erste Ring ist, der die folgende Kette hält, so gewinnt diese doch mehr und mehr Festigkeit und Leben von der metaphysischen und christlichen Lymphe, die ihr aus der Tradition zufließt, trotz aller Scheidewände und Blenden der letzten Jahrhunderte" 231 . Wo das Blut in den folgenden Schritten wirklich zu zirkulieren beginne, lasse sich nicht genau bestimmen. Die 3. Betrachtung vermittle einen zwiespältigen Eindruck, daß man sie, wenigstens in den ersten drei Paragraphen in doppelter Weise lesen und interpretieren könne, entweder im realistischen oder im idealistischen Sinn, während im 4. schon Termini wie Substanz auftauchten, die realistische Absichten und Wertigkeiten hätten 232 . Für diese sich immer mehr verstärkende realistische Tendenz der Argumentation habe es aber bereits im letzten Paragraphen der 2. Betrachtung einige „battute preliminari", einige vorläufige Anschläge gegeben: dort werde gesagt, die Möglichkeiten bzw. die realitates (im Sinn der Wolffschule) seien entweder in einem Wirklichen als dessen Bestimmungen oder mittels und kraft eines anderen Daseins als dessen Folgen: wie das Widerspruchsprinzip das erste logische Prinzip des Formalen der Möglichkeit sei, so müsse es dafür auch ein erstes reales Prinzip, einen ersten Realgrund geben: „jenes Existierende, durch welches die innere Möglichkeit der anderen gegeben ist und das die denklichen Daten liefert" 233 . Das ist also nach dem Autor eine gewisse Vorwegnahme des realistischen Elements der späteren Beweisschritte bereits im Rahmen der 2. Betrachtung. Und hieran schließt er nun eine längere kritische Betrachtung dieser Data bzw. realitates an, von denen die Argumentation ausgeht. Der Haupteinwand, den der Autor gegen den Kantischen Ansatzpunkt vorbringt, ist, daß er jene gänzlich heterogenen Ebenen entnehme, die im Hinblick auf die Metaphysik von sehr unterschiedlichem Gewicht seien: der geometrischen Inhalte wie Dreieck, viereckig, rechtwinkelig etc., der physikalischen solche wie Körper, Feuer, Undurchdringlichkeit, Ausdehnung, Raum etc, dann der Ebene des Geistig-Personalen solche wie Intellekt und Wille, was Campo verwirrend findet: „Man muß bekennen, daß man sich etwas desorientiert fühlt angesichts so sonderbar verschiedenartiger Exemplifizierungen" 234 . Der Umstand, daß sie sich im Zu231 232 233 234

s. ebd. 298 und 300 s. ebd. 300f. s. ebd. 298 Ebendort

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sammenhang unterschiedlicher Problemstellungen bei Kant finden, erwecke noch zusätzlich den Eindruck „che le idee di Kant in merito al,materiale' pensabile e alle realitates siano rapsodiche e immature: daß die Ideen Kants bezüglich des denklichen Materialen und der realitates rhapsodisch und unreif sind" 235 . Bei den ersten, den geometrischen Beispielen sei Kant bemüht um das Problem der Struktur der logisch-idealen Welt. In jedem Fall seien die hier in Frage stehenden Data „solche von idealen Objekten, die man nur im uneigentlichen Sinn Wesenheiten oder gar Vollkommenheiten nennen könne. Bei den genannten physikalischen Eigenschaften stehe er unter dem Druck anderer Probleme und bewege er sich auf einer anderen Ebene: er wolle zu den einfachen, unauflöslichen Elementen gelangen, die noch vor der Anwendung des Widerspruchsprinzips an sich selbst möglich und überdies (anzi) existierend oder auf Existierendes gegründet seien, z. B. Raum und Ausdehnung: neben dem Raum oder der Räumlichkeit, die man als Form der Realität bezeichnen könne, stehen unauflösliche Merkmale völlig anderer Natur, wie das im eigentlichen Sinn physikalische der Undurchdringlichkeit. Wir befänden uns hier auf der Suche nach einem Katalog ontologischer Kategorien, und seien es auch nur der geometrische Raum und die physikalische Undurchdringlichkeit, sozusagen als Kategorien der Quantität und der Qualität oder der Wirkung (azione). Man verstehe, daß diese physikalischen Data in einer engeren Beziehung zur Existenz stehen als die zuerst genannten geometrischen, und daß man sie als realitates betrachten kann. Wenn Kant schließlich Wille und Verstand als Beispiele von Realitäten anführt, so ist der Zusammenhang mit den tiefsten Problemen der Metaphysik noch viel zwingender (impegnativo), etwa mit Fragen wie: welche Realitäten Gott zukommen bzw. welche ohne Negationen oder Mängel sein können. Es sei also evident, daß sich Kant in der Behandlung des Problems der Möglichkeit in bezug auf die Existenz im allgemeinen und auf die Existenz Gottes im besonderen auf drei verschiedene Ebenen versetzt hat, für die jeweils verschiedene Methoden erfordert werden, d. h. unterschiedliche gnoseologische Voraussetzungen gültig sind: einmal die mathematisierende Mentalität und dann die szientistische, die vielleicht hinreichend sind für die beiden erstgenannten Ebenen, aber es nicht mehr sind für die metaphysischen Probleme der dritten. Und auf dieser letzteren allein könne man im eigentlichen Sinn von Existenz und Sein sprechen, und folglich auch nur auf ihr das Problem der Existenz Gottes angehen. Campo sieht darin den eigentlichen Grund für das eingangs behauptete Scheitern des fundamentalen Beweisschrittes Kants: „Jetzt versteht man, warum jene kantischen Schlußfolgerung von der Möglichkeit auf die Existenz zu Beginn und im Raum jener abstrakten und vieldeutigen „Vorhalle" weit davon entfernt war, uns zu überzeugen" 236 . Die Mehrdeutigkeit verschwinde erst in der4. Betrachtung, die den Titel: Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, trägt. Man sei deshalb versucht anzunehmen, daß hier der eigentliche nervus probandi des Ganzen liege, zu dem die vorhergehenden Betrachtungen nur Vorbereitung gewesen seien, wenn nicht die Schlußfolgerungen der bereits vorweggenommenen dritten Abteilung eine andere Perspektive ergäben: 235 236

Ebendort s. ebd. 299 f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 7 9

daß nämlich der einzig mögliche Beweisgrund für das Dasein Gottes in den ersten drei Betrachtungen enthalten sei. Diese 4. Betrachtung verwende nämlich ausdrücklich die realistischen Voraussetzungen, die da und dort in den vorausgehenden hervorgelugt hätten, wenn auch eingehüllt in abstraktem ontologischen Nebel. Hier gehe es m. a. W. um Seiende oder Dinge oder Substanzen, die mit Eigenschaften und Aktivitäten begrenzten Grades ausgestattet sind, darunter die von Verstand und Willen, die einigen dieser Seienden zukämen. In dieser so verschiedenen und aktiven Welt herrschten Ordnung und Vollkommenheit, reale Beziehungen, die nur durch einen planenden Verstand und einen schöpferischen Willen verständlich seien. Diese Uberzeugungen, die die abstrakte Ontologie in Anführungszeichen gesetzt habe und die die Gnoseologie und der transzendentale Idealismus noch nicht aufgelöst hätten, würden hier von Kant in Anspruch genommen „come cose ovvie, non bisognose neanche die esplicita giustificazione: als Selbstverständlichkeiten, die nicht einmal einer ausdrücklichen Rechtfertigung bedürfen" 237 . Auf dieser Basis könne man freilich beweisen, daß das notwendig Existierende Geist ist, bzw. daß Gott existiert, und so zu einer echten natürlichen Theologie gelangen, die nicht naturalistisch sei und nicht an der Instabilität und Vieldeutigkeit und all den Nachteilen von gewissen ihrer Surrogate leide (wobei Campo natürlich vor allem an Kants ontotheologischen Beweis selbst denkt). Im letzten Abschnitt der 4. Betrachtung gebe es dann einen Passus, in dem der Philosoph ausdrücklich und mit Nachdruck sich auf die Kontingenz des Seins des Menschen und der Welt berufe, die in den vorausgehenden Ausführungen wenn nicht dem Namen, so doch der Sache nach schon enthalten und bestimmend gewesen sei: es ist der erste Abschnitt der n. 4 dieser 4. Betrachtung, den der Autor im Auge hat und wörtlich (in Ubersetzung) zitiert 238 , zu dessen Ausführungen er aber einschränkend bemerkt: einige dieser Schlußfolgerungen seien mehr angedeutet (indicate) als ausgeführt, wenn auch die vor-· hergehenden Seiten manche von ihnen bereits näher präzisiert hätten, wie der Passus über die Realopposition bzw. die Mängel und Begrenzungen der Dinge der Welt 239 . Seine abschließende Beurteilung dieser 4. Betrachtung faßt er, wie folgt, zusammen: die natürliche Theologie derselben sei leider nur eine Skizze geblieben. Nach der sogar zu breiten Darlegung der fragwürdigen ontologischen Neuheiten „hätten wir eine angemessene Behandlung desjenigen Teiles gewünscht, in dem er die Tradition zurückgewann". Tatsächlich aber laufe dieser sein Anschluß an die Tradition Gefahr, unverbindlich (senza impegno) zu bleiben, und man weiß nicht, welcher Komplex dieser Behauptungen tiefere Wurzeln habe. Außerdem sei diese Theologie (der 4. Betrachtung) vom Innern des Werkes selber her bedroht durch die Einwände, die in der 3. Abteilung gegen sie vorgebracht werden; hier werde als gültige Demonstration nur sein eigener neuer ontologischer Beweis anerkannt, der gerade nicht der der 4. Betrachtung sei; denn es werden dort alle Argumente, die von der Existenz oder den Eigenschaften der Welt ausgehen, als nicht hinreichend oder nicht streng schließend charakterisiert:, ,Eine Antwort auf diese Einwände 237 238 239

Ebd. 301 KGS II, 90 Campo, op. cit. 302

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III. Teil

würde eine abermalige Prüfung der Beziehung zwischen Ontologie und Kosmologie erfordert haben, eine Beziehung, die zurückverwiesen hätte auf die Behandlung und Vertiefung gnoseologischer Probleme, an erster Stelle desjenigen des Verhältnisses zwischen a priori und a posteriori" 240 . Diese Analyse des Autors ist von vornherein durch zwei Faktoren belastet: durch seine Interpretation der Prop. VII der Nova Dilucidatio und durch sein allgemeines Interpretationsschema der vorkritischen Entwicklung Kants, nämlich die rationalistisch-empiristische Problematik, aus deren Dialektik sozusagen er den Ursprung des Kantischen Kritizismus letzlich erklären will. In der Tat wirken sich diese beiden Faktoren so aus, daß in der Interpretation Campos die strenge Einheit der Kantischen Argumentation der 1. Abteilung des Beweisgrundes zerbricht und in verschiedene Elemente zerfällt: „nicht alles ist kohärent, nicht alles aus einem Guß und gleichen Datums", so daß der Leser, der ohne nähere Kenntnis der Kantischen Texte selbst sich auf diese Interpretation verläßt, den Eindruck gewinnen muß, es handle sich hier um ein recht dilettantisches Frühwerk des großen Philosophen. Das grundlegende MißVerständnis des Gedankengangs des Arguments in der Interpretation Campos betrifft n. u. O. dessen fundamentalen Schlußschritt vom „Realen" der Möglichkeiten zur Ebene der Existenz, d. h. das Prinzip, daß die Möglichkeit der Dinge als Grund ihres materialen Elements irgendeine Existenz voraussetze, bzw. daß mit der Aufhebung aller Existenz, „wenn gar nichts existierte", auch alle Möglichkeit verschwände, weil damit eo ipso auch kein Reales der Möglichkeit mehr gegeben sein könnte. Wenn der Autor die Stringenz dieses Schlusses, der die ganze folgende Argumentation trägt, in Abrede stellt und ihn als gemalten Nagel betrachtet, an dem Kant seine folgenden Argumente wie reale Kleider aufhängen wolle, so ist es natürlich ein schwacher Trost, daß diese letzteren trotzdem dadurch irgendwie reale Gültigkeit erlangen, daß ihnen „durch das Fenster" traditionelle Elemente zugeführt werden; denn dadurch wird die radikale Entwertung des ontotheologischen Grundgedankens nicht aufgehoben. Wenn dieser erste Schlußschritt, mit dem sich der Ubergang von der Dimension der Möglichkeit in die der Existenz vollzieht, wirklich nur ein gemalter Nagel ist, an dem man keine realen Kleider, d. h. ohne Bild, keine realgültigen Schlüsse aufhängen kann, dann ist das ontotheologische Argument, wie das Campo auch ausdrücklich behauptet, ein ebenso radikaler logischer Sprung von der gedanklichen zur realen Ebene wie das onto logische Argument Descartes' und damit ebenso „falsch und gänzlich unmöglich" wie dieses. Wenn der Autor sagt, daß er die Schlüssigkeit des genannten fundamentalen Beweisschrittes nicht einzusehen vermöge, so viel er sich auch bemühe, so muß man dem, wie angedeutet, den Gedanken entgegensetzen, daß der nun beinahe 40jährige Kant diesen Mangel an Schlüssigkeit wohl auch selbst eingesehen hätte, wenn er tatsächlich von jenen Voraussetzungen ausgegangen wäre, von denen aus ihn Campo diesen Schluß vollziehen läßt. Tatsächlich ist für Campo dieser Schluß deshalb nicht einsichtig, weil er die neuen metaphysischen Grundpositionen der Nova Dilucidatio, mit denen sich Kant schon weit von Leibniz und Wolff entfernt hatte, als solche nicht zu sehen bzw. zu würdigen vermag 240

s. ebd. 302 f.

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 8 1

und er so Kant damals im Prinzip noch als Wolffianer betrachtet. Daß dies wirklich der entscheidende Grund für Campo ist, kommt in seiner Ablehnung der ersten von ihm angeführten Deutungsmöglichkeit zum Ausdruck: „Man könnte denken: vielleicht leuchtet Kant im Gedanken etwas Ähnliches auf wie der Primat des Aktes über die Potenz. Aber hier handelt es sich um etwas anderes: seine Möglichkeit (Möglichkeit im Sinne Wolffs) ist nicht die potentia der Aristoteliker, sondern das Denkliche (il pensabile)" 241 . Nun ist gewiß die Möglichkeit, von der hier die Rede ist, nicht die potentia der Aristoteliker, wohl aber „qualcosa di simile", nämlich die objektive Möglichkeit der Dinge als eine ontologische Dimension, die ihrem kontingenten Dasein vorausgeht, das Reich der objektiven Möglichkeiten, das onto logisch nur verständlich und begründbar ist in einem Dasein. Es handelt sich also durchaus um etwas Ähnliches wie bei dem Grundsatz der Priorität des Aktes vor der Potenz, nur um etwas Radikaleres und im Grunde auch dem natürlichen Menschenverstand unmittelbar Einleuchtendes: nämlich um den Primat des Wirklichen vor dem Möglichen, des esse vor dem possibile esse. Daß es sich bei diesem Argument um die Möglichkeit der Dinge als Ausgangspunkt des Schlusses handelt und nicht um die Möglichkeit des Denkens, dafür lassen sich, wie wir sahen, eine Reihe von Gründen anführen, an denen die letztgenannte Deutung unvermeidlich scheitern muß. Wenn nun aber nicht das pensabile als solches, der mögliche Gedankengehalt als möglicher Gedankengehalt, sondern qua possibile esse und damit als mögliches Ding, das grundsätzlich existieren kann, als Ansatzpunkt des Arguments aufzufassen ist, dann steht hinter diesem grundlegenden Schluß von der Möglichkeit auf die Daseinsordnung nichts anderes als der urscholastische Gedanke, der auch dem sensus communis unmittelbar einleuchtet, daß nämlich die Möglichkeit als possibilitas essendi nicht dem Dasein absolut vorangehen kann, sondern daß umgekehrt Möglichkeit nur auf Grund eines Daseins denkbar ist, daß es ohne Existenz oder aktuelle Realität keine Möglichkeit geben kann, anders ausgedrückt, daß Möglichkeit im ontologischen Sinn nicht etwas Ursprüngliches und Primäres, sondern nur etwas Abkünftiges, Sekundäres gegenüber dem Dasein sein kann. Wir haben hier also bei Kant einen Standpunkt, der durchaus dem analog ist, den auch ausdrücklich heutige scholastische Philosophen, wie Steenberghen, vertreten. Nach diesem bekannten modernen Thomisten ist nur möglich, was existiert und was in den Wirkursachen eines Existierenden als möglicher Effekt enthalten ist. „Was ist, hat die Möglichkeit zu sein, sagt das bekannte Adagium: ab esse ad posse valet illatio. Und man könnte hinzufügen: et ab esse tantum. Die Möglichkeit der Seienden wird uns allein offenbar in ihrer wirklichen Existenz und in der aktuellen Existenz ihrer Ursachen. Die Ideenwelt Piatons, die ewigen Wahrheiten Augustins, die Ordnung der Wesenheiten und Möglichkeiten (nach Suarez und vielen neueren Scholastikern) haben Bestand und Halt nur dank des konkreten Realen und seiner Ordnung. Die Ontologie hat ihr Gebäude auf dem festen Boden des Existierenden aufzurichten, einen anderen tragfähigen Grund gibt es für sie nicht" 2 4 2 .

241 242

s. ebd. 297 F. Steenbergehn, Ontologie, Köln 1953

282

III. Teil

Aus der Auffassung Campos, daß der grundlegende Schluß Kants nicht überzeugend bzw. zwingend ist, ergeben sich nun für ihn weitere negative Konsequenzen in der Beurteilung des Arguments: 1. daß der folgende Beweisschritt, daß das die Möglichkeiten begründende Dasein ein notwendiges Dasein sein müsse, nur eine Vervollständigung des genannten Beweisschrittes sei, und 2. daß die ganze Kette der folgenden Argumentationen mit dem ersten in der Luft hänge, und damit ebenfalls formell seine Beweiskraft verliere. Was die erste Folgerung betrifft, so übersieht Campo, daß nicht schon in der 2. Betrachtung (in n. 2 und n. 3), sondern erst in den beiden ersten Paragraphen der dritten (nachdem er in n. 4 der zweiten kurz und in unbestimmter Weise darauf hingewiesen hat), der Schluß auf das notwendige Dasein erfolgt, und daß er auch hier zunächst in n. 1 das eigentliche Prinzip dieses entscheidenden und zentralen Schlußschrittes entwickelt: nämlich die Aufhebung des Realen aller Möglichkeit und damit grundsätzlich der Möglichkeit von Möglichkeiten der Dinge überhaupt als das schlechterdings Unmögliche, womit nicht nur das Bestehen der Möglichkeiten, sondern auch ihr Prinzip, das sie begründende Dasein, als absolut notwendig erschlossen werden: letzteres als absolut und unbedingt notwendiger Realgrund der Möglichkeiten, diese aber als die durch ihn notwendig gegebene Folge. Der Beweis geht also aus von der Unmöglichkeit der Aufhebung aller Möglichkeiten der Dinge und kommt von da zur Folgerung der absoluten Notwendigkeit des Realgrundes der Möglichkeiten, der nach der n. 3 dieser 3. Betrachtung nur ein einziger sein kann. Campo sieht offenbar nicht den entscheidenden Unterschied zwischen n. 2 und n. 3 der zweiten Betrachtung, die das oben behandelte Prinzip entwickelt, und n. 2 und n. 3 der dritten Betrachtung, die den eigentlichen Schluß auf das notwendige Dasein bringt mittels des Gedankens der absoluten Unmöglichkeit der Aufhebung der Möglichkeit aller möglichen Dinge. Neben dem Mißverständnis des in der 2. Betrachtung (n. 2 und n. 3) entwickelten allgemeinen Grundprinzips, daß irgend etwas existieren muß (logica necessitate), wenn etwas als möglich denkbar sein soll, ohne daß dieses schon ontologisch als notwendig existierend bestimmt würde, ist dann bei Campo vor allem kritisch anzumerken, daß er das Folgende überhaupt nicht mehr im einzelnen analysiert, d. h. die entscheidenden Gedankenschritte und damit den Fortgang der Kantischen Argumentation nicht herausarbeitet. Wie er zunächst den von ihm als grundlegend bezeichneten Beweisschritt des Arguments (auf irgend eine Existenz als Bedingung von Möglichkeiten) in jenen Abschnitten feststellt, die er zuvor zu den ontologischen Prolegomena gerechnet hatte, so unterscheidet er jetzt nicht nur nicht genügend zwischen der Entwicklung des Grundprinzips (2. Betrachtung) und der Schlußfolgerung der 3. Betrachtung, daß dieser Realgrund der Möglichkeiten als Realgrund aller Möglichkeit ein absolut notwendig Existierendes sein muß, und daß dieses nur ein einziges sein kann (womit die ontotheologische Argumentation ihren Höhepunkt erreicht), sondern übersieht in seiner Interpretation, was die Ableitung der Attribute des notwendig Existierenden betrifft, auch den wesentlichen Unterschied zwischen der 3. Betrachtung, in dernun in den nn. 4 bis 6 die ontologischen Eigenschaften desselben aus seinem Begriff abgeleitet werden, und der vierten, in der zusätzlich aus anderen Ansätzen (aus denen der natürlichen Theologie) dessen Geistigkeit bewiesen wird; denn er begreift den Inhalt beider einfach unter jener langen Kette von

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 8 3

Schlußfolgerungen, die, obwohl nur an einem gemalten Nagel aufgehängt, doch durch die Hintertür Elemente der traditionellen Metaphysik in sich aufnehme und so zu einem ''essere necessario, unico, semplice, eterno, realissimo, spirito infinito führe. Das heißt: das für ihn einzig entscheidende Kriterium der Beurteilung aller dieser Ableitungen ist, ob und wie weit sie an der wirklichen Welt ansetzen, ein Element, das sich nach dem Schwebezustand und der Doppeldeutigkeit der 3. Betrachtung endgültig erst in der vierten durchsetze, wo er ausdrücklich von den realistischen Voraussetzungen der traditionellen natürlichen Theologie ausgehe. Abschließend ist noch auf zwei Aussetzungen allgemeinerer Art Campos am Argument Kants näher einzugehen: das ist einmal sein Einwand, daß dieser seine Beispiele der „Realitäten", von denen er ausgehe, den verschiedensten Gegenstandsbereichen entnehme, die in einem jeweils ganz anderen Verhältnis zum Dasein im allgemeinen und zum Dasein Gottes im besonderen stünden. Gegen dieses Bedenken ist zunächst (und vorläufig) einzuwenden, daß es aus einer Sichtweite hervorgeht, die nicht die Kants war: so wenn er die mathematischen Gegenstände als ideale Objekte charakterisiert oder betont, daß die verschiedenen Gegenstandsbereiche, denen Kant seine Beispiele für die „Realitäten" entnimmt, nur mit spezifisch verschiedenen Erkenntnismethoden angegangen werden könnten. Das ist ein moderner Standpunkt; man muß aber, wenn man methodisch richtig vorgehen will, den Gedankengang Kants von seinen eigenen damaligen Voraussetzungen aus zu verstehen suchen. Für ihn aber waren zu Beginn der sechziger Jahre die geometrischen Figuren Raumgestalten und der Raum eine physikalische Größe und eine existierende Wirklichkeit; denn er war als Anhänger der neuen Naturwissenschaft gewiß der Auffassung Galileis, daß das Buch der Natur mit geometrischen Figuren geschrieben ist, und daß man ohne diese überhaupt nichts von ihr verstehen kann. Das Mathematische hatte sich in der Sicht Kants noch nicht in der Weise verselbständigt, wie wir heute ihren Gegenstandsbereich im Unterschied zu dem der Physik betrachten: die mathematischen Wesenheiten waren von entscheidender Bedeutung für die physikalischen, vor allem für die die Einzelindividuen übergreifenden universalen Größen der materiellen Welt, wie Trägheit und Gravitation, Bewegung oder Wirken, wie sie in den großen Erhaltungsgesetzen zum Ausdruck kommen. Das ist das eine, was gegen den Einwand Campos betont werden muß, und dies betrifft vor allem seinen Ausgangspunkt von den „Realitäten" der mathematischen Gegenstände im Verhältnis zu denen der physikalischen Ebene, wobei im übrigen auch die Vermutung ohne jedes Fundament ist, Kant habe mit der Wahl seiner Beispiele von Raum und Undurchdringlichkeit so etwas wie eine Kategorientafel (Quantität und Qualität) im Auge gehabt. Es ist an der betreffenden Stelle (der 1. Betrachtung) m. E. nichts von einer solchen Absicht zu entdecken, zumal wenn man sie auf dem Hintergrund der Entwicklung der Raumproblematik Kants in dem ganzen Zeitraum von 1748-1762 liest 243 . Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang ein anderes: Campo hätte mit seinem Einwand in einem gewissen Sinne recht, wenn Kants Ausgangspunkt die Realitäten und Qualitäten der existierenden Welt als solcher gewesen wären, d. h. wenn er von diesen aus auf die 243

Vgl. bes. die Raumlehre der Monadologia physica, 1759, Prop. I mit VII

284

III. Teil

Existenz und die Eigenschaften des Wesens Gottes geschlossen hätte. Nun ist es zwar Campos Auffassung, daß er dies hätte tun müssen, um genuine Metaphysik (und nicht Pseudometaphysik) zu betreiben und sein Ziel: den wirklichen Gott, zu erreichen. Aber Kant war überzeugt, daß alle Gottesbeweise, die von der existierenden Welt und ihren Eigenschaften ausgehen, grundsätzlich unzureichend für einen Gottesbeweis im Sinn einer Demonstration waren, weil nach seiner Auffassung diese Basis zu schmal für dieses Ziel war. Um es per demonstrationem erreichen zu können, mußte man nach seiner Uberzeugung grundsätzlich über die existierende Welt, die ja vielleicht nur eine unter vielen möglichen war, wie Kant in der 1. Betrachtung andeutet, hinausgehen und zu einem allumfassenden Ansatz vorstoßen, der der schöpferischen Allmacht und überhaupt der Seinsweise Gottes irgendwie kommensurabel war, d. h. von dem aus die göttliche Realität in ihrem spezifischen Sein als solchem erreichbar war, wenn sie damit auch längst nicht für den endlichen Verstand in ihrem Wie begreiflich wurde, wie Kant ausdrücklich in der letzten Betrachtung der zweiten Abteilung betont 244 . Und dieser Ausgangspunkt ist für ihn das universale Reich der Möglichkeiten, wie es der Schöpfergott vor sich hatte, als er über die Welt sein allmächtiges „Werde" sprach. Wenn aber das Reich der Möglichkeiten bzw. die Realgehalte desselben, bei denen, wie Kant sagt, alles nur beziehungsweise auf dieses Ganze gesetzt ist, der Ausgangspunkt war und für einen strikten Gottesbeweis nur sein konnte, dann waren für diesen Ausgangspunkt die spezifischen Unterschiede der Realitäten der Möglichkeiten der verschiedenen Seinsstufen etwas Sekundäres, das für den Beweis nicht in Anspruch genommen wurde und nicht in Anspruch genommen werden konnte. Das ontologische Argument Kants abstrahierte also grundsätzlich, wie er auch ausdrücklich in der dritten Abteilung betont 245 , von den Verschiedenheiten des Realen der Möglichkeiten, es ging nur aus von den Realgehalten derselben als solchen und Schloß zurück auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, und zwar aller Möglichkeiten insgesamt, womit nochmals die Abstraktion von der jeweiligen Besonderheit derselben unterstrichen wird. Die Realitäten, von denen Kant ausgeht, sind die Realgehalte der möglichen Dinge als möglicher und zwar aller möglichen Dinge überhaupt. Das hat er selber im Beweisgrund oft genug gesagt, und überdies ist sowohl der Gedankengang des ontotheologischen Arguments selbst wie auch die Einheit des ganzen Werkes unter dem Titelthema des „einzig möglichen Beweisgrundes", insbesondere die Einbeziehung der umfangreichen zweiten Abteilung, überhaupt nur unter dieser Voraussetzung verständlich. Wenn Campo schließlich zur Bestätigung seiner Auffassung, daß die Beweiskette Kants immer mehr, und zumal in der 4. Betrachtung, aus der Lymphe der traditionellen christlichen Metaphysik Leben und Festigkeit gewinne, auf die Tatsache hinweist, daß er in seinem Schluß abschnitt ausdrücklich sich auf die Kontingenz des denkenden Ich und der Welt berufe, so liegt darin eine Verkennung der für das richtige Verständnis dieser Stelle entscheidenden Tatsache, daß Kant hier die Kontingenz des denkenden Ich und der Welt aus dem vorausgehenden ontotheologischen Beweis folgert, aber keineswegs als 244 245

KGS II, 152 f. Ebd. 157

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 8 5

Ausgangspunkt des Gottesbweises in Anspruch nimmt. Wenn der Autor aber implizit die Sache so darstellt, als werde dadurch der Gottesbeweis selbst auf eine solidere, der traditionellen Metaphysik verwandte Basis gestellt, so zeigt das nur, wie wenig seine Analyse der Grundstruktur des Kantischen ontotheologischen Arguments gerecht wird. Im letzten Abschnitt seiner Interpretation behandelt Campo den aposteriorischen Beweis Kants als seinen zweiten Weg zu Gott, wobei er die allgemeine Charakterisierung desselben gegenüber dem apriorischen in dem Abschnitt „Le due vie" jetzt mehr im einzelnen durchführt. Gleich zu Beginn stellt er den Gegensatz zum apriorischen Argument heraus: nunmehr herrsche eine völlig andere Atmosphäre als in der ersten Abteilung, und Kant fühle sich offensichtlich hier wohler als in den dortigen abstrakten metaphysischen Regionen: von der 1. Betrachtung über die Einheit der notwendigen Gesetze bis zu den Untersuchungen, die der Verbesserung der geläufigen Physikotheologie gewidmet sind, bewege er sich in der Welt der Wissenschaft, der neuen mathematischen Naturwissenschaft, die seinen Geist mit Bewunderung und Enthusiasmus erfülle. Er setze ausdrücklich die wissenschaftliche Intuition, das konkrete moderne Denken dem abstrakt metaphysischen des Mittelalters entgegen, das noch an den ostdeutschen Universitäten (im Unterschied zu den westdeutschen und der Berliner Akademie) beherrschend war. Dem entspreche auch der offensichtliche Wandel des Stils: nach den metaphysischen Gedankengängen des ersten Teils mit seinen Mäandern, in denen man das Echo der Vorlesungen eines Wolff oder Knutzen heraushöre, nehme die Schrift nun eine Gangart an, die an die gewandte essaiistische Form Humes oderMaupertuis' denken lasse, eine Art, über philosophische Probleme ohne Schwerfälligkeit zu handeln, die die Lektüre zu einem Genuß mache 246 . Damit ist das Stichwort gefallen, das Campo veranlaßt, auf die Bedeutung Maupertuis' für diesen zweiten Teil der Abhandlung Kants näher einzugehen: In dessen Essai de cosmologie (1751) und dessen Examen philosophique de la preuve de l'existence de Dieu dans l'Essai de cosmologie (1758) könne man den Anstoß zu seinem 2. Teil des Beweisgrundes entdecken, wobei Campo eine Zusammenfassung der Gedanken des Avant-Propos des erstgenannten Werkes (S. I - X X X I V ) einfügt, über deren Inhalt er abschließend im Hinblick auf den zweiten Teil der Abhandlung Kants sagt: diese Einleitung stelle uns in lebendiger Konkretheit die im Umlauf befindlichen Ideen und Diskussionen der Zeit (über die Physikotheologie) vor Augen. Der kritische Teil des französischen Gelehrten sei sicherlich nicht zu vergleichen mit der Komplexheit und dem Scharfsinn der Analysen Kants, die mit unerbittlicher systematischer Strenge durchgeführt seien. Was die zentrale Idee des konstruktiven Teiles der Abhandlung von Maupertuis angehe, so sei klar, daß sein kosmologisches Argument eine gewisse faszinierende Wirkung auf Kant ausgeübt habe, da er es sich mit gebührender Hervorhebung des Gelehrten in der 1. Betrachtung seines zweiten Teiles zu eigen gemacht habe. Schwach sei bei Maupertuis die eigentlich metaphysische oder philosophische Ausführung des Arguments, da bei ihm die kritische Prüfung der zu Gott und seiner Natur führenden Schlüsse ausfalle, auf deren Ausdrücklichmachung und Diskussion Kant die größte Sorgfalt verwendet habe. Der entschei246

Campo, op. cit. 303 f.

286

III. Teil

dende Punkt in dieser ganzen Sache aber sei folgendes: daß das Interesse Kants, was den Gegenstand seines zweiten Teiles betreffe, sich wesentlich auf das beziehe, was auch Maupertuis als Ausgangspunkt seines Gottesbeweises in Anspruch genommen habe, nämlich das Notwendige in der Ordnung der Natur: die fundamentalen universalen mathematischen und mechanischen Gesetze: „proprio nel senso delle proposte del Maupertuis, a prescindere da qualche dettaglio, come quello della caratterizzazione teleologica (e quindi di contingente eligibilità) che questi dava alle leggi del moto: wirklich im Sinne der Vorschläge des Maupertuis, wenn man von einigen Details absieht, wie dem der teleologischen Charakterisierung (und folglich der zufälligen Ausgewähltheit), die dieser den Gesetzen der Bewegung gab" 2 4 7 . Das gelte aber nur für das wesentliche und vorherrschende Interesse Kants; denn die langen Diskussionen des 2.Teiles beschränkten sich nicht auf die Behandlung dieses Aspekts der Natur allein, sondern erstreckten sich darüber hinaus auf viele andere Probleme, in deren Lösung sich ein solider und erleuchteter Theismus offenbare, wie etwa in dem Kapitel über die Wunder in ihrem Verhältnis zur Naturordnung und zur Freiheit des Menschen, u . a . m . In diesem Zusammenhang fänden sich nun auch die in der wissenschaftlichen Erforschung der Natur zu befolgenden Regeln, die kritischen Auseinandersetzungen mit den Methoden der damals geläufigen Physikotheologie und die Anforderungen an eine verbesserte Methode derselben. Wenn man nun jene Abschnitte der 6. Betrachtung, wo er über die verschiedenen Grade der philosophischen Erklärung der Natur, über die fortschrittlichen Weisen der Beurteilung ihrer Vollkommenheit als Argument für das Dasein Gottes handelt, ins Auge fasse, dann merke man deutlich das subtile Spiel einer methodischen Forderung, die das Objekt entscheidend beschränke: „Eine Art abträglicher (pregiudiziale) Epochè setzt all das in Anführungszeichen, was nicht notwendig und nicht auf den physiko-mathematischen Formalismus zurückführbar ist" 2 4 8 . Das Interesse Kants gehöre vorwiegend der geometrischen und mechanischen Ordnung, der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen und der Fruchtbarkeit der Entwicklungen, die sich aus den fundamentalen Eigenschaften und den allgemeinen Gesetzen des Raums und der Bewegung ergäben. Hier ist nach ihm der beste Beweis für das Dasein Gottes, die philosophischste Weise desselben, zu finden. Aber uns scheint, entgegnet Campo, daß man auf diese Weise nicht zu einem wahren Gott kommt, und zwar gerade deswegen, weil man nicht von einer wahren Welt ausgehe. Auch jene Welt, die am meisten die mathematische und mechanistische Intelligibilität verkörpere, die materielle, sei immer schon eine Konkretisierung derselben durch Existenz und Individuation, durch ihre Wirksamkeit und Geschichtlichkeit, wie auch die Seele in ihren sublimsten Gedanken immer eine Konkretisierung der reinen Ideen und der psychologischen Aktivität darstelle. Man halte sich die so verschiedenartige reale physikalische, chemische und biologische Welt vor Augen! Aber auch ohne noch an den Bereich des Lebens zu denken, könnten etwa die tatsächlichen Bestimmungen der irdischen physikalischen Verhältnisse aus der bloßen Formalität der allgemeinen Begriffe und Gesetze erklärt werden? So wie etwa, worauf Celesia hinweise, die wunderbare Teleologie 247 248

Ebd. 3 0 7 f . s. ebd. 308 f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 8 7

des Wechsels des Windes vom Festland zum Meer und umgekehrt nicht notwendig hervorgehe aus den allgemeinen Gesetzen und ihrem abstrakten Gehalt, wie er von unserem Geist wahrgenommen werde. „Wie jene Fruchtbarkeit der allgemeinen Gesetze die Welt nicht erklärt, so hat eine bloß ideale Fruchtbarkeit und Teleologie nicht die Kraft, den lebendigen Gott zu beweisen. Und es hat keinen Sinn mehr, von der Kontingenz solcher Gesetze zu sprechen" 249 . Die methodologische Intention und Perspektive Kants bedeute die Begrenzung auf einen apriorischen Horizont. Und das in dem Augenblick, „da der Rationlist Kant, nachdem er die Verdünnung seiner logisch-idealen Welt bemerkt hat, sich der Erfahrung, der Betrachtung des Universums zuwendet, um sein ontologisches Argument auf dem kosmologischen Weg zu vervollständigen" 250 . Er sehe nur die Gesetzgebung des Raumes und der Bewegung und darin die eigentliche Vollkommenheit des Universums und zugleich die Betrachtungsweise, die der wahren Weltweisheit angemessen ist. Und das sei der Grund, warum der Kant des Beweisgrundes vollständig in den Gewässern des Naturalismus verbleibe, auch wenn er von Gott spreche. Um zum Gott der Gerechtigkeit und Liebe zu gelangen, müsse man wach sein für die Probleme der Pflicht, des Schmerzes, des Übels und außerdem der Existenz. Allerdings sei der Beweisgrund nicht nur dieses neue ontologische und dieses verbesserte kosmologische Argument. Er sei darüber hinaus auch noch durchströmt von der Lymphe der traditionellen Metaphysik. Aber es sei gerade nicht dieser traditionelle Restbestand, in dem der Geist Kants mit existentieller Präsenz gegenwärtig sei. Die traditionellen Elemente wirkten den genannten beiden Argumenten gegenüber blaß, sie blieben außerhalb seines lebendigen Denkens, nicht weil er sie kritisiere oder abtue, sondern weil er sein Interesse von ihnen abgewandt bzw. sie in Anführungszeichen gesetzt habe. „Die rationalistische und kritizistische Revolution wird mehr durch eine Tendenz herbeigeführt als durch Argumente: und es sind jene Reduktionen (der Existenz selbst, der Erfahrung selbst), die sich darbieten für die transzendentale Umwertung." Jedoch habe auf diese Weise das so reduzierte kosmologische Argument in Einklang gebracht werden können mit dem erneuerten ontologischen: „dal pensabile all' esistente, dalle leggi necessarie del mondo all' intelligenza divina" 251 . Naturgemäß ist diese Interpretation der zweiten Abteilung bei Campo wesentlich abhängig von seiner Auffassung der ersten, wie wir sie im vorausgehenden gekennzeichnet haben. Aber gerade von dieser Auffassung her läßt sich das Verhältnis zwischen den beiden Abteilungen nicht überzeugend klären, es muß im Grunde rätselhaft bleiben, was Campo selbst zugibt, wie wir sahen. Um das Problem des Verhältnisses der beiden so grundverschiedenen Abteilungen wirklich zu lösen, genügt es nämlich nicht zu sagen, daß auch das kosmologische Argument der zweiten Abteilung (wegen seiner Reduktion der Natur auf die mathematisch-mechanische Intelligibilität und Rationalität) eine innere Verwandtschaft mit dem abstrakten ontologischen Argument der ersten habe, weil beide zutiefst von den Prinzipien des Rationalismus geprägt seien; denn damit ist noch lange 249 250 251

s. ebd. 309 s. ebd. 310 Ebendon

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III. Teil

nicht einsichtig, wieso diese zweite Abteilung nicht nur als irgendein beliebiges, sondern als das weitaus ausführlichste und umfangreichste Kapitel in einem Werk figuriert, das „der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" überschrieben ist und das also zu seinem ausschließlichen Thema den ontotheologischen Beweis hat. Die Frage: ist diese zweite Abteilung überhaupt ein organischer Teil der Abhandlung, bzw. wie läßt sich seine anscheinend einem anderen Gegenstand gewidmete Untersuchung als Teilthematik des einzig möglichen Beweisgrundes bzw. des ontotheologischen Arguments begreifen, ist ohne Zweifel eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme der Interpretation dieser frühen theologischen Abhandlung Kants, weil es deren formale Struktur und Einheit als eines literarischen Produkts selbst betrifft. Nun dieses fundamentale Problem wird von Campo überhaupt nicht gesehen, geschweige denn zu lösen versucht. Statt dessen gibt er mit seinem vorgezogenen Kapitel über „die zwei Wege Kants" dem Werk sozusagen einen neuen Titel, der ihn der schwierigen Aufgabe enthebt, zu erklären, wieso für Kant der zweite, der kosmologische Weg, einen Teilaspekt des apriorischen ontotheologischen Beweises bilden könne. Der Ersatztitel: die „zwei Wege Kants", als Inhaltsangabe des Werkes erlauben eine materiale Behandlung beider in relativer Unabhängigkeit voneinander, ohne sich auf den formalen Aspekt der Beziehung der zweiten Thematik zur ersten, wie es der Kantische Titel verlangt, einlassen zu müssen. Damit hängt aber ein Zweites zusammen: Campo betrachtet es nun auch nicht als wesentliche Aufgabe der Interpretation, die innere logische Einheit dieser Abteilung selbst in ihrer Funktion als Teilthematik der ersten Abteilung deutlich zu machen. Er begnügt sich vielmehr mit einer materialen Aufzählung der von Kant behandelten Gegenstände, ohne sich die nicht zu umgehende Frage zu stellen : wie hängen die hier etwa in den ersten 5 Betrachtungen behandelten, so verschiedenen und verschiedenartigen Themen logisch zusammen und wie gehören sie innerlich notwendig zum Titelthema der ganzen zweiten Abteilung? Auch das ist ohne Zweifel ein grundlegendes und schwieriges Interpretationsproblem, das wichtiger ist als eine materiale Inhaltsangabe, mit der im Grunde nichts für das tiefere Verständnis der Konzeption Kants gewonnen ist. Wir sind der Uberzeugung, daß von einer echten Interpretation des Beweisgrundes nicht gesprochen werden kann, wenn nicht diese grundlegenden formalen Probleme der literarischen Einheit des Werkes gestellt und gelöst werden. Aber bei Campo werden sie, wie gesagt, überspielt durch den für ihn schlechthin beherrschenden Gesichtspunkt: Kantischer Rationalismus und Realismus der traditionellen Metaphysik, wobei der letztere als absolute Norm der Beurteilung des Wertes und der Gültigkeit aller Gedankengänge Kants betrachtet wird. Demgegenüber ist für den Autor ein genaueres Verständnis der originären Konzeption seiner Abhandlung im ganzen offenbar nur von untergeordneter Bedeutung. Mit dieser Sichtweise hängt aber noch ein weiterer Mangel der Interpretation des Autors zusammen, der u. E. eine wesentliche Verkennung des von Kant Beabsichtigten darstellt. Campo geht mit einer gewissen Vorliebe und mit großer Ausführlichkeit auf die naturwissenschaftlichen Hintergründe des Kantischen kosmologischen Arguments ein und betont, daß Maupertuis' Essai de cosmologie entscheidende Anregungen für seine zweite Abteilung gegeben habe. Aber dabei ist ein Zweifaches zu beachten. Einmal gehen Kants

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 8 9

Themen dort weit über das hinaus, was die Schriften Maupertuis an Theologie enthalten, und zwar sowohl in materialer wie in formaler Hnsicht, worauf ja auch Campo selber hinweist. Entscheidender aber ist der Unterschied, wie Kant und Maupertuis die Erkenntnisse der allgemeinsten Naturgesetze, z. B. des Gesetzes der kleinsten Wirkung, als Ansatzpunkt des Schlusses auf die Existenz Gottes gebrauchen. Campo meint, Kant habe sich die Vorschläge des Maupertuis in seiner zweiten Abteilung zu eigen gemacht, wenn man von einigen Details absehe, wie dem der teleologischen Charakterisierung und damit der Zufälligkeit der Wahl der Naturgesetze, womit er den Unterschied zwischen Maupertuis und Kant in der Auffassung der Basis des kosmologischen Gottesbeweises als mehr oder weniger nebensächlich hinstellt. In Wirklichkeit aber verbirgt sich dahinter die ganz andere Art, wie Kant die allgemeinen Gesetze der Natur, wie etwa gerade das der kleinsten Wirkung, als Ansatzpunkt des Gottesbeweises auffaßt, so daß gerade an diesem Punkt das Eigentliche und Eigenständige der Kantischen Konzeption sich mit aller Deutlichkeit zeigt. Für den Standpunkt Kants ist es ebenso wesentlich von dem teleologischen und damit auch dem kontingenten Moment dieser allgemeinen Bewegungsgesetze abzusehen, wie es umgekehrt für die Argumentation von Maupertuis von entscheidender Bedeutung ist, weil bei ihm gerade an diesem der Schluß auf das Dasein eines weisen und gütigen Prinzips der Natur ansetzt. Für Kant aber geht es bei den allgemeinsten Gesetzen der Materie, um etwas völlig anderes: er schließt von den allgemeinen und notwendigen Gesetzen der Natur und ihrer Einheit zurück auf die Harmonie der die Natur konstituierenden Wesenheiten und Möglichkeiten der anorganischen Welt. Diese Harmonie der in der materiellen Welt verwirklichten Möglichkeiten, und nicht die Kontingenz bzw. der teleologische Charakter der Naturgesetze als eine Wahl des Besten, ist bei Kant der Ansatzpunkt des Schlusses auf das Dasein Gottes als eines letzten Grundes der Möglichkeiten. Kant glaubt in der notwendigen Einheit der allgemeinen Naturgesetze, wie sie sich in der Harmonie, Zweckmäßigkeit und Schönheit des notwendigen Naturwirkens offenbare, eine Bestätigung zu finden für die aus der Allgenugsamkeit Gottes a priori erschlossene Harmonie aller Möglichkeiten der Dinge. Das ist also der Ansatzpunkt des verbesserten physikotheologischen Schlusses Kants, und auf Grund dieses Ansatzes und dieses Ansatzes allein, bildet dieser aposteriorische Beweis ein Pendant seines apriorisch-ontologischen: die verbesserte Physikotheologie Kants ist genau jene Erkenntnis der Welt, die dem apriorischen Beweis aus den Möglichkeiten, also dem ontotheologischen, parallel ist, die als selbständiger Beweis freilich nur durch Extrapolation der Harmonie der in der Welt verwirklichten Möglichkeiten auf die Harmonie aller Möglichkeiten, und also nur in dieser nicht mehr demonstrativen Weise, zum Ziel der Erkenntnis des notwendigen und allgenugsamen Wesens gelangen kann. Was Campo hier Kant als eine Verdünnung und Reduzierung der uns in der Erfahrung gegebenen Wirklichkeit ankreidet, daß er die Komplexheit, Konkretheit, Geschichtlichkeit der wirklich gegebenen Welt vernachlässige und so nicht von der wirklichen Welt ausgehe, ist in Wirklichkeit jene Abstraktion, die seine verbesserte Physikotheologie als solche spezifiziert und ihren Rang als Gottesbeweis bestimmt, insofern sie Gott als Grund der Möglichkeiten erschließt und damit als Schöpfer (und nicht bloß als Ordner) der Materie erreicht, womit sie sich zugleich als aposteriorisches Pendant des apriori-

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III. Teil

sehen A r g u m e n t s qualifiziert. D a s h e r v o r r a g e n d e Interesse, das K a n t an d e m A n s a t z p u n k t d e r allgemeinen u n d n o t w e n d i g e n G e s e t z e d e r N a t u r im Beweisgrund

hat, beruht

v o r allem auf diesem G e s i c h t s p u n k t , aber auch auf d e m f ü r ihn als gläubigen A n h ä n g e r d e r n e u e n m a t h e m a t i s c h e n N a t u r w i s s e n s c h a f t so wichtigen Anliegen, diese mit d e m G o t tesglauben in ü b e r z e u g e n d e r Weise in E i n k l a n g z u bringen. D e s h a l b k o m m t nach i h m d e m verbesserten p h y s i k o t h e o l o g i s c h e n A r g u m e n t auch eine b e s o n d e r e Rolle u n d Bed e u t u n g z u f ü r d e n G o t t e s b e w e i s , d e n er in d e r dritten A b t e i l u n g den

kosmologischen

n e n n t u n d dessen V o r z ü g e er d u r c h a u s z u schätzen weiß. Andererseits freilich darf m a n es nicht wie C a m p o m i t diesem letzteren einfach identifizieren; d e n n das k o s m o l o g i s c h e A r g u m e n t ist in Wirklichkeit wesentlich u m f a s s e n d e r , wie w i r gesehen h a b e n . N i m m t m a n es aber in diesem Sinn u n d versteht m a n d a r u n t e r d e n z w e i t e n Kantischen W e g des G o t t e s b e w e i s e s , wie es die dritte A b t e i l u n g des Beweisgrundes

verlangt, d a n n erledigen

sich die diesbezüglichen E i n w ä n d e C a m p o s w e i t g e h e n d v o n selbst, w ä h r e n d andererseits die grundsätzliche eigene Kritik K a n t s bleibt, d a ß alle diese v o n d e r existierenden W e l t ausgehenden A r g u m e n t e , einschließlich desjenigen d e r verbesserten P h y s i k o t h e o l o g i e , ihrer N a t u r nach niemals das N i v e a u einer D e m o n s t r a t i o n im eigentlichen Sinn erreichen können. Z u s a m m e n f a s s e n d k a n n m a n also sagen: D i e I n t e r p r e t a t i o n C a m p o s vermag, v o r allem infolge ihres a p r i o r i a n g e n o m m e n e n E r k l ä r u n g s p r i n z i p s : K a n t s grundsätzlicher R a t i o nalismus gegenüber d e m m e t a p h y s i s c h e n Realismus d e r T r a d i t i o n , w e d e r d e m spezifisch systematischen Anliegen der Kantischen A b h a n d l u n g gerecht z u w e r d e n , n o c h die entwicklungsgeschichtliche u n d systematische B e d e u t u n g ihrer Kritik d e r drei traditionellen G o t t e s b e w e i s e z u e r k e n n e n u n d z u w ü r d i g e n , n o c h auch die schwierigen f o r m a l e n Strukt u r p r o b l e m e des Beweisgrundes

ü b e r z e u g e n d z u lösen.

B. D i e kritische Stellungnahme v o n A. Lamacchia

z u d e m einzig möglichen Beweis-

g r u n d 2 5 2 geht im allgemeinen aus v o n d e n V o r a u s s e t z u n g e n Campos u n d v o n seiner Sicht d e r vorkritischen E n t w i c k l u n g K a n t s : die Analyse des A r g u m e n t s soll seine B e d e u t u n g zeigen „ n e l l a genesi della C r i t i c a " 2 5 3 , ein A u s d r u c k , in d e m geradezu die Titelthematik des C a m p o s c h e n W e r k e s anklingt. K o n k r e t w i r d diese B e d e u t u n g f ü r die E n t w i c k l u n g z u m K r i t i z i s m u s v o n d e r Verfasserin d a r i n gesehen, daß das A r g u m e n t im G r u n d e n u r beweist „ d i e logisch reale N o t w e n d i g k e i t des ens realissimum als Totalität des Realen, w a s das t r a n s z e n d e n t a l e Ideal d e r kritischen P h i l o s o p h i e im v o r a u s a n k ü n d i g t " , w o b e i aber schon damals n o c h die Existenz des ens realissimum zu beweisen gewesen w ä r e 2 5 4 . N a c h d e r A u t o r i n n i m m t also K a n t bereits in d e m B e w e i s g r u n d in d e m , was das apriorische A r g u m e n t wirklich leistet, die L e h r e v o m t r a n s z e n d e n t a l e n Ideal v o r w e g . D i e z w e i 252 253 254

Ada Lamacchia, La filosofia della religione in Kant, 181-224 Ebd. 199 s. ebd. 202 f.

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 9 1

fundamentalen Motive, die bis zur „Kritik" durchgehalten würden, nämlich daß die Existenz kein Prädikat, sondern Erfahrungsbegriff und absolute Setzung ist, sowie die ausdrückliche Erklärung seines theistischen Standpunktes, „daß Gott nicht allein die Summe der Prädikate einer Substanz, sondern das erste transzendente Prinzip des Realen der Substanzen der Welt ist" 255 , markieren auch nach A. Lamacchia „l'uscita dalla prospettiva razionalistico-Dogmatica" der Nova Dilucidatici: das Herausgehen aus der rationalistisch-dogmatischen Perspektive der Nova Dilucidario256. Das sind alles, etwas abgewandelt, Grundpositionen Campos. Und ebenso sieht die Autorin auch die Grundproblematik des Kantischen Arguments in durchaus analoger Weise wie der letztere: „l'ambiguità dei termini tra il logico e il reale",,,l'uso equivoco del reale della possibilità, o dei data, o re alitate s"257, d. h. das Schwanken zwischen dem logisch-realen Sinn von Denkinhalt und dem platonisch-metaphysischen der inneren Möglichkeit der Dinge oder der objektiven idealen Wesenheiten, und deshalb ist auch für sie der grundlegende Schluß Kants von der Ebene des Logisch-Realen der Gedankeninhalte, von der er ausgehe, zur absolut notwendigen Existenz oder überhaupt zur metaphysischen Behauptung der Existenz das Fragwürdige an der ganzen Argumentation: „in welcher Weise Kant, ausgehend von der Nichtwidersprüchlichkeit oder inneren Möglichkeit der Dinge, den Übergang zur notwendigen Existenz vollziehen . . . oder wie er von der logisch-idealen Ebene aus die metaphysische Behauptung der Existenz gewinnen könne" 258 . Daß sich A. Lamacchia in ihrer Kritik des einzig möglichen Beweisgrundes wesentliche Gesichtspunkte derjenigen Campos zu eigen macht, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, daß sie diesem bereits weitgehend in der Interpretation der Prop. VII der Nova Dilucidatio gefolgt war; denn die der letzteren bestimmt fast zwangsläufig auch die des einzig möglichen Beweisgrundes. Trotzdem aber enthält die Kritik A. Lamacchias auch Elemente, die man nicht bei Campo, sondern eher bei anderen Autoren findet: so spielt bei ihr das Moment der logischen Notwendigkeit gemäß dem Widerspruchsprinzip eine entscheidende Rolle, diese aber nicht im Leibnizschen Sinn als Widerspruchsnotwendigkeit analytischer Sätze, sondern als non-repugnantia der möglichen Wesenheiten, wie Tonelli sie in der Nova Dilucidatio als necessitas logica ihrer Selbstidentität interpretiert hat. Damit verbinden sich in der kritischen Stellungnahme der Autorin zum Kantischen Argument schließlich noch gewisse Motive der Interpretation J. Koppers, wie wir sehen werden. Unsere Gegenargumentation ergibt sich aus der vorausgehenden Kritik an Campos resp. Toneiiis Position: was das formale Prinzip der Möglichkeit und damit die von A. Lamacchia so verstandene logische Notwendigkeit der Möglichkeit betrifft, so spielt sie für die Kantische Argumentation direkt überhaupt keine Rolle, wie wir in unserer Stellungnahme zu Tonelli dargetan haben259. Kant hat nicht nur ausdrücklich den Wesenheiten den Charakter der (logischen) Notwendigkeit abgesprochen, sondern das Prinzip, 255 256 257 259 259

s. ebd. 203 Ebendort Ebd. 203, 200 s. ebd. 199 vgl. S. 65

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III. Teil

aus dem er in seinem Argument alle Notwendigkeit, sowohl die des „Seins" der Möglichkeiten selbst wie vor allem auch die der absoluten Position ihres Realgrundes ableitet, ist die Unmöglichkeit des absoluten Nichts, die Unmöglichkeit der grundsätzlichen Aufhebung aller Möglichkeit des Seins. Die logische Unmöglichkeit des Widersprüchlichen bekommt nur insofern in dem Kantischen Gedankengang eine Bedeutung, als dieses die Aufhebung des Widerspruchprinzips, d. h. des Formalprinzips aller Möglichkeit impliziert und so nicht nur die betreffende „Möglichkeit" vernichtet, sondern alle Möglichkeit schlechthin, und damit jener allgemeine Begriff der absoluten Unmöglichkeit gewonnen ist, den auch, und sogar noch grundlegender, die Aufhebung des Prinzips aller Realgehalte des Möglichen erfüllt. Das andere problematische Element der Kritik der Verfasserin ist die von Campo übernommene These von der ambiguità oder dem equivoco des Realen der Möglichkeit. Für Kant ist, wenn man alle entscheidenden Stellen und den ganzen Aufbau der Abhandlung in Betracht zieht, das Mögliche, von dem aus er auf die Existenz schließt die innere Möglichkeit der Dinge, und zwar nicht im Sinn von idealen metaphysischen Wesenheiten, sondern von ontologischen Möglichkeiten des Seins, von possibilia esse. Entscheidend aber ist, daß für ihn damals das Denkliche ebenso ein possibile esse wie das Denkunmögliche bzw. Widersprüchliche ein impossibile esse darstellte, wie wir in unserer Analyse gezeigt haben. Das Denkliche ist also für ihn das objektiv Mögliche und das objektiv Mögliche ist nicht eine ideale Wesenheit, die irgendwie „subsistiert", sondern das possibile esse. Nur, wenn man der Möglichkeit diesen ontologischen Sinn gibt, kann man von ihr aus auf ein Daseiendes als Grund schließen, wie es Kant tut, und zwar offensichtlich deswegen, weil die Möglichkeit im ontologischen Sinn als possibilitas essendi nicht das ontologisch ursprüngliche Prinzip, das auch das Dasein selbst begründen würde, sein kann. Die ganze Kompliziertheit der Kantischen Argumentation, wie sie von A. Lamacchia unterstellt wird, und die ganze Vertracktheit ihrer Kritik verschwindet mit einem Schlag, wenn man diese Gleichstellung vollzieht, die ja nur eine moderne Form des parmenideischen Grundsatzes ist: daß es dasselbe ist, was man denken und was sein kann. Daß die Voraussetzung der Autorin fragwürdig ist, geht, um nur auf eines hinzuweisen, u. a. daraus hervor, daß sie das doppelte Verhältnis der Möglichkeit zum Dasein, von dem Kant in n. 4 der 2. Betrachtung spricht, unter dem Zwang ihrer Grundauffassung mit Sicherheit falsch interpretiert, wenn sie die erste Beziehung: die Möglichkeit als Bestimmung der Realität selbst, auf die logisch-reale Struktur der Möglichkeit bezieht, im Gegensatz zur Beziehung derselben auf eine Existenz als deren Folge: o la possibilità è solo pensabile, ed è data nel reale come una determinazione, oppure il possibile è tale in quanto dipende da qualcos' altro, da un' altra esistenza 260 . Hier rächt sich der Mangel einer genauen Analyse der Prop. VII der Nova Dilucidatio: denn diese beiden Formen der Beziehung der Möglichkeit auf das Dasein sind dort in der Definition der absolut notwendigen Existenz völlig eindeutig bestimmt, und der ganze Kontext diesem. 4 der 2. Betrachtung beweist ebenso eindeutig, daß es sich hier um gar nichts anderes handeln kann als um das in der These der Prop. VII Gesagte: nämlich die Möglichkeit als Bestimmung der ab260

A. Lamacchia, op. cit. 200

Die Interpretation des einzig mogi. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 2 9 3

solut notwendigen Existenz nach dem Prinzip: ab esse ad posse valet illatio, eine Beziehung, die hier wie dort als nur in einem Fall verwirklicht bezeichnet wird (dort ausdrücklich im Scholion, hier im unmittelbar Folgenden der n. 4), und die Möglichkeit als eine Folge der absolut notwendigen Existenz, nämlich die Möglichkeit der Dinge, die ihrer kontingenten Existenz ontologisch vorausgeht. Wir haben hier in der Tat eine jener Stellen des Beweisgrundes, aus denen unmißverständlich hervorgeht, daß für Kant die Möglichkeit, von der aus er auf das absolut notwendige Dasein schließt, nicht formal die Denkmöglichkeit, sondern die Möglichkeit der Dinge als possibilitas essendi ist. Damit erledigt sich aber im Grunde auch der zweite Einwand der Verfasserin : daß man von der inneren und logischen Möglichkeit der realitates aus nicht zwingend die Ebene des Daseins erreichen kann und damit auch nicht die absolut notwendige Existenz als den Realgrund aller Möglichkeiten. Denn das von ihr aufgestellte Dilemma: entweder der Realgrund als absolute Position oder notwendige Existenz ist der Möglichkeit selber innerlich: dann führe die Argumentation nicht zu einer absoluten Existenz als ein die Möglichkeiten begründendes und sie transzendierendes Prinzip, sondern lediglich zu dem „Sein" der Möglichkeiten als einem absolut unaufhebbaren und damit absolut notwendigen, oder aber dieser Realgrund wird als ein den Möglichkeiten äußeres und sie transzendierendes Prinzip von den Möglichkeiten aus erschlossen, dann kann er nicht als existentia necessaria bestimmt werden; denn aus der Tatsache, daß etwas möglich ist, folge nicht, daß etwas notwendig existiert, weil es ja auch nicht existieren könnte. Es müßte vielmehr dazu schon vorausgesetzt werden, daß die Möglichkeiten selber notwendig existieren, etwa als platonische ideale Wesenheiten. Dieses Dilemma erledigt sich dadurch, daß Kant der Gedanke, daß den Möglichkeiten der Dinge als solchen die notwendige Setzung oder absolute Existenz innerlich sei, fremd ist: die Existenz wird von den Möglichkeiten als possibilia esse her erschlossen, weil diese nicht das ontologisch Primäre sein können, und die notwendige Existenz wird von den Möglichkeiten her erschlossen, weil die Aufhebung der Möglichkeit von Möglichkeiten des Seins schlechthin unmöglich ist. Damit ist aber auch schon das zweite Glied des Dilemmas widerlegt: der Schluß auf eine notwendige Existenz als Grund der Möglichkeiten erfolgt nicht primär daraus, daß die Möglichkeiten selber per se unaufhebbar und notwendig sind, sondern lediglich, daß die Aufhebung aller Möglichkeit und damit die schlechthinnige Unmöglichkeit von Möglichkeiten unmöglich ist. Darin erst gründet die Unaufhebbarkeit der Möglichkeiten und die Unaufhebbarkeit des Grundes aller Möglichkeiten, die ja in Wahrheit voneinander untrennbar sind. Was schließlich den dritten Einwand A. Lamacchias angeht: daß die Kantische Argumentation, weil sie die Einzelexistenzen unberücksichtigt lasse, nur zur „necessità logico-reale dell' ens realissimum come totalità del reale" führen könne und damit, wie schon angedeutet, zu einer Vorwegnahme des transzendentalen Ideals der kritischen Philosophie, das die Frage seiner Existenz unbeantwortet lasse (weil die Existenz grundsätzlich nicht von einem logisch-realen Gedankengang als solchem gewonnen werden könne), so erledigt sich dieser Einwand ebenfalls durch den Hinweis, daß die Möglichkeiten, von denen Kant spricht, die Möglichkeiten der Dinge als possibilia esse sind. Diese

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III. Teil

sind fürs erste durchaus als bis zum letzten bestimmt zu denken 2 6 1 ; das Entscheidende aber ist, daß wir nach der (damaligen) Auffassung Kants mit unseren Begriffen von den Dingen die Dimension ihrer ontologischen Möglichkeit als eine ontologisch ursprünglichere erreichen, als es die ihres kontingenten Daseins ist, und von dieser Dimension aus schließen wir, daß die Aufhebung aller Möglichkeiten schlechterdings unmöglich ist und andererseits jene Existenz, die als der ontologischen Möglichkeit der Dinge vorausgehend und sie begründend gedacht werden muß, absolut notwendige Existenz und zugleich ens realissimum, d. h. allgenugsames Wesen, sein muß. Das ontotheologische Argument ist m. a. W. seinerformalen Struktur nach so gebaut, daß das ens realissimum nur als existentia absolute necessaria, und die absolut notwendige Existenz nur als ens realissimum, als allgenugsames Wesen, erschlossen werden kann. Und darin liegt der große Unterschied zur späteren Konzeption des transzendentalen Ideals. Diesen notwendigen Zusammenhang beider in der formalen Struktur des Arguments übersieht der Einwand der Autorin, und so kommt sie zu der These, daß das ontotheologische Argument Kants in dem, was es wirklich leistet, nur zu einer dem transzendentalen Ideal analogen Konzeption eines ens realissimum gelangt, für das die Frage der Existenz offen bleiben muß. Der letztgenannte Einwand A. Lamacchias lautet in seiner konkreten Durchführung: , ,Kant geht von der Negierung aller logischen Möglichkeit über zur Negierung der realen Möglichkeit oder des Realgrundes, und von der Negierung einer M o d a l i t ä t - dem möglichen Sein - über zur Unmöglichkeit des Prinzips des modalen Verstandes selbst, während er nur hätte schließen können, daß die Negierung eines Realgrundes des Widerspruchsprinzips die logische Möglichkeit der Setzung oder Existenz aufhebt" 2 6 2 . Dieser Gedankengang scheint mir weder von der Begrifflichkeit der Kantischen Argumentation selbst noch von der der Interpretation Campos oder Toneiiis, an der die Kritik der Autorin im vorhergehenden orientiert ist, verständlich zu sein. In der Tat weist die Anmerkung 51 auf die Quelle hin, aus der diese hier irgendwie fremd wirkende Begrifflichkeit stammt: es ist die Analyse und Kritik des Kantischen ontotheologischen Arguments in der Abhandlung/. Koppers „Kants Gotteslehre" in Bd. 47der „Kantstudien" 2 6 3 , über deren Grundgedanken die Autorin in dieser Anmerkung in einer so kurzen Zusammenfassung referiert, daß daraus die Logik der Argumentation Koppers freilich kaum verständlich wird. Mit der in dieser Abhandlung enthaltenen Deutung des einzig möglichen Beweisgrundes und unserer Stellungnahme zu ihr aus der Sicht unserer Textanalysen wollen wir denn auch unsere Arbeit über die Ontotheologie des vorkritischen Kant beschließen.

C. /. Koppers Interpretation des einzig möglichen Beweisgrundes ist für unser Anliegen deshalb von besonderem Interesse, weil sie bei all ihrer Gedrängtheit und Kürze unter 261 262 263

KGS I, 395 (omnímoda determinano); II, 72, 74, 76 A. Lamacchia, op. cit. 202 Kantstudien 47 (1955/56) 31-63

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 295 den bisher diskutierten Deutungen im ganzen noch am ehesten dem großen Kantischen Beweisentwurf gerecht wird, obwohl auch sie nicht auf einer durchgehenden Analyse seines Gedankengangs f u ß t (die ja auch den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde). In seinem Bemühen, den metaphysischen Gehalt des Arguments dem modernen Leser zugänglich zu machen, k o m m t der Autor vor allem zu einer wesentlich positiveren und richtigeren Beurteilung der ontologischen Grundsätze, auf denen das Kantische Argument aufbaut: im Unterschied zur Deutung Campos, in der sie mehr oder weniger als Pseudometapkysik abgestempelt werden, nimmt sie Kopper durchaus ernst und akzeptiert sie weitgehend als gültige ontologische Positionen. Im übrigen gibt er auch die Schlüssigkeit der Kantischen Argmentation in einem bestimmten Sinn zu, wenn er auch, was deren Methodik betrifft, grundsätzliche Bedenken erhebt und in diesem Zusammenhang den entscheidenden Beweisschritt des Arguments, formal gesehen, als Fehlschluß kritisiert, wie wir sehen werden. Kopper faßt den substantiellen Beweisgang desselben so zusammen: Kant erweist Gott in dieser Frühschrift im Ausgang von der Möglichkeit der Dinge. Er ist der Auffassung, die Möglichkeit der Dinge könne nur durch einen Realgrund ermöglicht sein, dieser Realgrund aber sei Gott. D e r Unterschied zu den herkömmlichen Beweisen bestehe also darin, daß er gerade nicht von der Ermöglichung des Daseins der Dinge seinen Ausgang nimmt, d . h . G o t t als Bedingung der Möglichkeit ihres Daseins erschließt. Der Autor akzeptiert damit ohne alle Wenn und Aber, ohne alle Berufung auf Ambiguitäten und Äquivokationen als Ausgangspunkt Kants die Möglichkeiten oder Wesenheiten der Dinge, d. h. eine ontologische Dimension der uns in der Erfahrungswelt gegebenen Wirklichkeit, wie vor allem in eindrucksvoller Weise in seiner Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen dem Einzeldasein der Dinge und ihrer Möglichkeit deutlich wird, etwa in den Thesen: das Dasein wird uns nur unter der F o r m der Möglichkeit bekannt; die Möglichkeit enthält das Dasein nicht, es muß hinzukommen, damit die Möglichkeit des Dinges existierende Wirklichkeit werde; die Dinge der Erfahrung haben ihre Existenz nur als die einer bestimmten Möglichkeit; die Existenz ist gänzlich an diese Möglichkeit gebunden, die als solche ihr Dasein nicht an sich trägt; die Existenz ist gänzlich von der Möglichkeit abhängig, in ihr gehalten; sie ist immer die Existenz ihrer Möglichkeit, ohne ihre Möglichkeit ist sie nichts. Alle möglichen Dinge könnten nicht sein, ohne daß dadurch die Möglichkeit aufgehoben würde ; die Existenz dieser Dinge ist von der Möglichkeit abhängig . . . , bestimmt sie aber nicht; die Aufhebung des von der Möglichkeit her gefaßten besonderen Daseins läßt das Mögliche als solches bestehen; das Dasein der einzelnen Dinge wird von der Möglichkeit her als etwas erfahren, was diese Möglichkeit übersteigt; das Dasein ist kein Prädikat, d . h . es ist von dem real-logisch erfaßbaren Wesen abgetrennt, besteht in einer besonderen Sphäre f ü r sich. So sieht der Autor n. u. U . den Ausgangspunkt der Kantischen Argumentation durchaus richtig: die Möglichkeiten oder die Wesenheiten der Dinge, und er bestimmt auch das Verhältnis zwischen der Möglichkeit und dem Dasein bis auf einen, allerdings entscheidenden Punkt so, wie Kant es voraussetzt. Ganz in dessen Sinne versteht er das, was dieser das Logische der Möglichkeit nennt, als zur realen Möglichkeit der Dinge gehörend: Reallogisches Denken, das seinen Ausgang von der inhaltlichen Gegebenheit der schon

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III. Teil

konstituierten Seienden nehme, was Kant einfach das logische Denken nenne, reallogisches Denken bedeute essentiales Denken, das die einzelnen Merkmale der Dinge als solche auffaßt, um sie gemäß dem Widerspruchssatz aufeinander zu beziehen. Das „Logische" des Denkens ist also nach dem Autor bei Kant in besonderer Weise mit jener ontologischen Dimension der Wirklichkeit verbunden, die wir als die der Möglichkeiten der Dinge oder die des Essentiellen der Dinge bezeichnen; aber auch umgekehrt sei diese ontologische Dimension in besonderer Weise auf das Denken bezogen, es sei der eigentliche Gegenstand des Denkens: da die Möglichkeit die Existenz nicht in sich beschließe, könnten alle Dinge nicht sein, ohne daß dadurch auch ihre Möglichkeit aufgehoben würde, deshalb könne sie auch ohne die Existenz vorgestellt werden: so werde die Möglichkeit zu dem für sich bestehenden Inhalt unseres Denkens, ja zu dessen eigentlichem und ausschließlichem Gegenstand; „denn begreifen läßt sich nur die Ordnung des Möglichen"; und: „Dieses reallogische Begreifen der Möglichkeit ist die Form, unter der allein uns Weltverständnis möglich ist. Dergestalt wird uns das der für sich bestehende Inhalt unseres Denkens, was doch über das Dasein gar keine Macht hat" 264 . Freilich deckt sich diese letztere These des Autors in ihrem exklusiven Sinn, wie wir sehen werden, nicht mehr mit dem ontologischen Standpunkt Kants. Noch in einem dritten Punkt trifft nach unserer Uberzeugung die Interpretation Koppers eine Grundvoraussetzung der Kantischen Argumentation: daß die Möglichkeit als solche, von der das Einzeldasein, wie wir gehört haben, völlig abhängig ist, sich nicht selbst begründen kann, sondern einer Begründung aus dem Sein bedarf, und zwar aus dem absoluten Sein, das selbst über aller Abhängigkeit, Einschränkung und Bestimmung durch eine Möglichkeit steht, also eines Grundes, der sowohl die Möglichkeiten der Dinge selbst wie ihr von diesen abhängiges Einzeldasein begründet: „die Seinsbegründung kann nicht in ihr (der Existenz der Dinge) liegen, dieser Grund muß vielmehr die Möglichkeit selbst und damit auch die Existenz dieser Möglichkeit ermöglichen" 265 . Und dann ein sehr wichtiger Satz, der wohl die tiefste Intention des Kantischen Arguments zum Ausdruck bringt und zugleich auch den Rang dieses Gottesbeweises bestimmt: „Die Frage nach dem Realgrunde der Gegenwart der Welt kann so (= von ihrem Dasein aus) überhaupt nicht gestellt werden, dazu bedarf es der Frage nach dem Grund der Möglichkeit . . . Die Frage nach dem Grund des Seienden ist dergestalt in dieser Schrift in der Frage nach dem Grund der Möglichkeit einbeschlossen"266. Obwohl der Autor überzeugt ist, daß die Frage nach dem Grund der Möglichkeit für jene Weise des Erkennens, das er das reallogische nennt, von der Möglichkeit ausgehend, nicht zu beantworten ist, ist es doch nach ihm für das metaphysische Denken evident, daß diese im Sein gegründet sein muß, um überhaupt Möglichkeit sein zu können, daß sie also selbst schon einen Realgrund voraussetzt, der zwar im reallogischen Denken nicht ergriffen werden kann, gleichwohl aber der Vernunft ursprünglich offenbar ist. Dieser ermö glichende Grund der Möglichkeit, der sich einer anderen Einsicht als der reallogischen erschließt, kann uns al264 265 266

Ebd. 32 Ebd. 32 f. Ebd. 33 (Anm. 6)

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 297 lein Zugang zum Wissen um Gott geben, da er der Einschränkung durch die Möglichkeit entzogen ist. „Der Gottesbeweis kann allein aus der Erkenntnis geführt werden, daß es einen Realgrund aller Möglichkeit gibt, der sich in seinem Sein anders kundgibt als alle dingliche Gegenwart, deren wir durch Erfahrung unter dem Gewände der Möglichkeit teilhaftig werden" 267 . Das metaphysische Denken verlange, „die Möglichkeit unabhängig davon, ob s i e . . . verwirklicht wird, selbst aus dem Sein zu begreifen" 268 . Die Aufhebung d e s . . . besonderen Daseins lasse das Mögliche als solches bestehen, die Leugnung des Realgrundes dagegen hebe alles Mögliche als solches auf, weil er alle Möglichkeit als solche ermögliche. „Das metaphysische Denken hat ein Wissen darum, daß der Realgrund der Möglichkeit, der von aller Möglichkeit und allem besonderen Dasein unabhängig ist und ihnen sich durch sich selbst begründend vorangeht, in sich selbst das notwendige Sein ist" 269 . „Das metaphysische Denken faßt das Aufheben der Möglichkeit als das Aufheben des Begründetseins des Möglichen in seinem Prinzip. Das Aufheben des Möglichen wäre zugleich auch die Aufhebung des Grundes, in dem es gehalten ist und über den es von sich aus nichts vermag; der daher auch durch eine Aufhebung des Mögüchen gar nicht getroffen werden kann, sich vielmehr durch seine Unaufhebbarkeit der Aufhebung selbst des Möglichen, das aus ihm herkommt, widersetzt. So ist zugleich die Unmöglichkeit der Aufhebung des Möglichen und das Erhobensein des Realgrundes über Bejahung oder Leugnung in der Sphäre der Möglichkeiten eingesehen. Erhobensein aber über Setzung und Aufhebung bedeutet innere Notwendigkeit des Seins.. ." 2 7 0 . Durch diese Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Möglichkeit und Dasein sowie desjenigen zwischen den Möglichkeiten als solchen (gleichviel ob sie verwirklicht sind oder nicht) und ihrem Ermöglichungsgrund als dem allein möglichen Ansatz einer wirklichen Erklärung der Welt einerseits und dem allein möglichen Weg eines Gottesbeweises, der das Sein Gottes zu erreichen vermag, andererseits, sowie durch die sich daraus ergebende Charakterisierung des Grundes der Möglichkeiten als des absoluten Seins wird in der Tat die metaphysische Substanz des Kantischen Gottesbeweises in der Sicht und der Sprache eines zeitgenössischen Philosophen enthüllt. Bisher können wir in der Sache, von der erwähnten These abgesehen, keinen wesentlichen Unterschied zur ursprünglichen Kantischen Konzeption des einzig möglichen Beweisgrundes feststellen. Trotzdem aber gibt es Unterschiede in der Auffassung und Beurteilung gewisser Elemente desselben, und zwar zunächst der Methode, ein Unterschied, den der Autor selber klar herausarbeitet: wir meinen dessen radikale Trennung von reallogischem und metaphysischem Denken. Das reallogische Denken, von dem Kant nach Kopper ausgeht und mit dessen Mitteln er seinen Beweis durchführen zu können glaubt, ist das essentielle Denken, das der Philosoph einfach als logisches bezeichnet, dessen Objekt aber die essentielle Dimension der Wirklichkeit ist. Dieses auf die Dimension der Wesensordnung gerichtete Denken kann aber grundsätzlich seinem Wesen nach nicht über die Erkenntnis essentieller Zusammenhänge hinausgelangen, vor allem nicht die Rätsel des Seins ergrün267 26e 269 270

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

33 35 35 f. 36 f.

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den noch auch das Verhältnis der Möglichkeit zum Sein erhellen. Das ist vielmehr der spezifische Gegenstand des metaphysischen Denkens als des eigentlichen Seinsdenkens. Das reallogische Denken gibt allein gegenständliche Inhalte des Erkennens, es ist die alleinige Form, unter der unser Weltverständnis möglich ist: es hat die Möglichkeit, die doch keine Macht über das Dasein hat, zu dem für sich bestehenden Inhalt unseres Denkens. Daraus erhellt die Grenze des kosmologischen Beweises, der an der gegebenen Welt bzw. an unserem Weltverständnis ansetzt: er kann das Absolute nur erreichen als die vollkommenste aller Möglichkeiten, die das All der Realität in sich begreift, d. h. wir erreichen auf diesem Weg unvermeidlich das absolute Sein als ein Seiendes, also als Dasein einer Möglichkeit, der dieses nicht in Identität und darum nicht notwendig zukommt, sondern nur tatsächlich. Hier zeige sich die Unzulänglichkeit des reallogischen oder essentiellen Denkens vor dem Anliegen der Vernunft: wir werden von der Möglichkeit her nie zu Gott gelangen können, das reallogische Denken als solches führt uns nicht zum Seinsgrund. Unser logisches Denken, das von der Möglichkeit bzw. von der schon konstituierten Welt ausgeht, gibt uns keinen Zugang zum Seinsgrund, das bloße Verfahren im Seienden läßt uns den Seinsgrund als solchen nicht erblicken. Diesem reallogischen Denken stellt der Autor nun als wesentlich verschiedene Erkenntnismethode das metaphysische entgegen, das thematisch auf das Sein gerichtet ist. Es ist ein grundsätzlich anderes Erkennen als das gegenständliche, das reallogische. Diesem metaphysischen Denken sei die Begründung des Seienden im Sein immer schon gegenwärtig, und zwar nicht als Begründung aus der Einzelexistenz, die ja ganz von der Möglichkeit abhängig und ohne sie nichts ist, aber auch nicht von der Möglichkeit der Dinge her, denn das Begreifen von ihr her führe nicht zum Sein. Das metaphysische Denken sei also weder eines von dem Dasein der Welt her, weil dieses Denken und Erkennen im Rückschritt auf den Daseinsgrund nur ein in Möglichkeitsbegriffen voranschreitendes Denken sein und daher die Sphäre der Möglichkeitsbegriffe nicht überwinden könne, noch eines von der Möglichkeit her, denn das Begreifen von ihr aus führe nicht zu Sein als einem in sich selbst gründenden Realgrund, ohne den sie andererseits selbst freilich nicht Möglichkeit sein könnte. Dieser ermöglichende Grund der Möglichkeiten muß sich einer anderen Einsicht als der reallogischen bieten: „Der Beweis des Realgrundes ergibt sich unmittelbar, ... wenn wir uns in das rechte Verständnis des Realgrundes stellen. Denn diese ursprüngliche Wirklichkeit, die sich [dem metaphysischen Denken] als das Begründende gibt, wenn überhaupt irgendein Mögliches sich zeigt, ist selbst durch keine Prädikate der Möglichkeit eingeschränkt. Daher ist sie auch dem unter dem Satz des Widerspruchs begreifenden reallogischen Denkens entzogen" 271 . Die Besinnung auf die unvergleichliche Eigenart des Seins des Realgrundes gegenüber dem Sein der Dinge gebe uns in der Einheit eines Wissens das Verständnis des göttlichen Seins und des göttlichen Wesens: aus seiner Erhabenheit über alle reallogische Bestimmung ergebe sich „seine überlogisch gewußte Einzigkeit, Einfachheit, Unveränderlichkeit, Allrealität" 272 .

271 272

Ebd. 33 Ebd. 34

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 299 Das Charakteristische der Kantischen Methode in dem einzig möglichen Beweisgrund ist nun nach Kopper, daß diese beiden Methoden, die zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten des Seinsverständnisses darstellen, nicht deutlich unterschieden werden, daß beide zugleich betätigt werden, daß die Wendung des Denkens (von der reallogischen zur metaphysischen) unbefragt vollzogen wird, ohne daß sie begrifflich begründet würde. Das bedeutet konkret, daß beide Arten des Denkens bei ihm von einem reallogisch faßbaren Moment ihren Ausgang nehmen und daß die reallogische Form des Begreifens noch dem ganzen Gedankengang anhaftet bzw. in ihm vollzogen wird, auch dann, wenn das metaphysische Denken ein Hinausgehen über diese Form verlange. Diese Verbindung der beiden Erkenntnisarten im Beweisgrund in dem Sinn, daß sich auch das metaphysische Denken in der Form des reallogischen vollziehe, habe nun eine merkwürdige Folge: daß Kant in der Tat nun doch dem Anschein nach mittels der reallogischen Methode zum Seinsgrund der Möglichkeiten kommt, freilich auf eine „kuriose" Weise, wie Kopper sagt: nämlich „vermittelst einer Äquivokation von grammatisch-logischer Aussage und einer Einsicht über die Modalität des Seins" 273 . „Das Raisonnement beginnt" so der A u t o r - „mit der Betrachtung der logischen Möglichkeit. Die Verneinung aller logischen Möglichkeit ergibt die logische Unmöglichkeit. Die Verneinung aller logischen Möglichkeit aber kann auf zweierlei Weise erreicht werden: entweder wird der Satz des Widerspruchs aufgehoben oder der Realgrund aller Möglichkeit fällt dahin." Hinsichtlich des letzteren laufe das Argument so: „Die Aufhebung des Realgrundes hebt alle Möglichkeit a u f . . . Aufhebung aller Möglichkeit aber ist Unmöglichkeit. Also ist die Aufhebung aller Möglichkeit, d. h. aber die Aufhebung des Realgrundes, unmöglich, der Realgrund existiert mithin notwendig." Mit anderen Worten: „Von der der Modalität nach bloß kategorischen Leugnung eines bestimmten Etwas, nämlich der Wesensmöglichkeit, wird, weil dieses Etwas den Namen Möglichkeit trägt, zur Behauptung der Unmöglichkeit im rein modalen Verstände übergangen. Es hätte, so scheint es, nur geschlossen werden dürfen, daß die Aufhebung des Realgrundes gleichwie die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch das logisch Mögliche der Setzung nach, d. h. assertorisch, aufhebt, es zu einem im Sinne des Nichtgesetztseins Nicht-Möglichen oder Un-Möglichen macht. Es wird jedoch geschlossen, daß dem Realgrund die Aufhebung nicht zukommen könne, daß sie nicht ermöglicht werden könne und in diesem Sinne unmöglich sei. Dies scheint aus dem Raisonnement nicht zu folgen, wie denn Kant auch aus der Aufhebung des Satzes vom Widerspruch nicht schließt, dieser Satz könne unmöglich aufgehoben werden, sondern nur folgert, er könne nicht aufgehoben werden, so lange immer Möglichkeit b e s t e h e . . . Dagegen aber wird geschlossen, daß der Realgrund nicht sein kann" 2 7 4 . Formell liegt also hier auch nach Kopper ein Fehler in der Argumentation. Sachlich dagegen sei der Schluß insofern richtig, als hier das metaphysische Denken, das von sich aus das Begründetsein der Möglichkeit in einem der Möglichkeit enthobenen absoluten Sein fordert, hier das reallogische Denken trägt und ergänzt. „ D e r Gottesbeweis dieser Schrift ist", - schließt Kopper seine Analyse - „ s o ein Beweis aus der Wahrheit des Seienden, der vom Seienden ausgehen muß, um geführt werden 273 274

Ebd. 36 Ebd. 36

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III. Teil

zu können. In der reallogischen Bindung an das Seiende aber sieht das Denken sich befähigt, das Seiende aus dem zu verstehen, was über alles Seiende ist. Die metaphysische Einsicht ist dergestalt wohl gewonnen, aber die Methode des Denkens geht nicht aus von dem Seinsgrunde, um den es dem Denken geht, sondern von den sinnlich gegebenen Folgen dieses Grundes. Daher muß es sich für das begreifende Denken . . . herausstellen, daß der Ubergang von der reallogischen zur metaphysischen Unmöglichkeit doch nicht wahrhaft einsichtig gemacht werden kann. Es versteht die logische Unmöglichkeit und stellt auch gemäß solchem Begreifen die Unmöglichkeit, den Realgrund aufzuheben, fest, dennoch aber kann es sich von dieser metaphysischen Unmöglichkeit in seinem reallogischen Gang letzlich keine Rechenschaft ablegen. Der Beweis erscheint damit als ungenügend...275. Was ist zu diesen Einwänden des Autors von einer detaillierten Analyse der Texte, wie wir sie in unserem ersten Teil zu liefern bemüht waren, zu sagen? Bestätigt sie die von Kopper hier festgestellten Mängel? Es waren alles in allem zwei, die der Autor feststellen zu können glaubte, die aber innerlich zusammenhängen: einmal, daß Kant nicht unterscheide zwischen der reallogischen und der eigentlich metaphysischen Erkenntnismethode und beide in der Weise in seinem Gedankengang vermenge, daß er formell reallogisch argumentiert, aber dann gerade jene entscheidenden Probleme, die er auf diesem Weg nicht mehr zu bewältigen vermag, durch einen als solchen nicht reflektierten Sprung auf die metaphysischen Ebene löse. Damit komme er zwar zu einer im Prinzip richtigen Lösung, aber sozusagen mittels einer unsauberen Methode. Das andere hängt damit zusammen: daß durch die Verkennung der wirklich und letzlich tragenden metaphysischen Schlüsse die reallogische Argumentation vorgibt, das Beweisziel auf ihrem eigenen Weg zu ereichen, was sich aber bei näherem Zusehen in formaler Hinsicht als Fehlschluß erweise, da sie mit einer Äquivokation ihres zentralen Begriffes arbeite: aus der der Modalität nach bloß kategorischen Leugnug der Wesensmöglichkeit schließe sie auf die Unmöglichkeit im rein modalen Verstand. Kopper ist bekanntlich nicht der erste, der diesen Einwand gegen die Kantische Argumentation erhoben hat. Trifft er zu? Läßt er sich von einer detaillierten, sorgfältigen Analyse des Kantischen Gedankenganges aufrecht erhalten? Hier ist die entscheidende Frage, ob die Trennung zwischen Ontologie und Metaphysik, zwischen Ordnung der Essenz und der Existenz, zwischen reallogischem Denken und metaphysischem Denken berechtigt bzw. notwendig, oder ob sie künstlich ist. Ja, es ist die Frage, ob Kants Argumentation, wenn wir einmal von der Terminologie Koppers ausgehen, nicht etwa primär ein metaphysischer und nur sekundär ein reallogischer Gedankengang ist. Das entscheidet sich aber grundlegend daran, wie er überhaupt das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Dasein ontologisch bestimmt. Und hier, meinen wir, hat Kopper zwar das Verhältnis zwischen dem Dasein, dem Einzeldasein der Dinge und ihrer Möglichkeit genau und vollständig beschrieben, nicht aber umgekehrt das Verhältnis zwischen der Möglichkeit und dem Dasein: dieses Verhältnis ist n. u. U. bei ihm keineswegs erschöpfend analysiert. Denn jede Möglichkeit im ontologischen Sinn, d. h. jede 275

Ebd. 37

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper

301

Dingmöglichkeit ist wie jede Wesenheit, jede essentia, Möglichkeit und Wesenheit in Bezug auf das esse, jedes possibile im on to logischen Sinn hat, scholastisch gesprochen, ein transzendentales Verhältnis zum Dasein, d. h. es wird schlechterdings inintelligibel ohne diese totale Beziehung auf Dasein. Hier zeigt sich, daß Kant in seinem Argument zwar in Wahrheit ausgeht von den objektiven Realgehalten, den Sachgehalten der möglichen Dinge oder der Wesenheiten der Dinge, aber implizit doch das als selbstverständlich voraussetzt, was Leibniz das Reale in den Möglichkeiten genannt hat, nämlich ihre Bezogenheit auf Existenz, gewiß nicht im Leibnizschen Sinn einer tendentia ad existendum, aber wohl im Sinn der genannten transzendentalen Beziehung auf Existenz, ohne die Möglichkeit im ontologischen Sinn oder Wesenheit ihren Sinn verlieren würde. Damit aber ist gesagt, daß man bei der Betrachtung der Möglichkeit nicht von der metaphysischen Dimension der Existenz absehen kann, und daß man insbesondere auch bei der Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Möglichkeiten auch und vor allem metaphysisch argumentieren muß, weil ja der Ansatz selbst, die Möglichkeit, in einer metaphysischen Dimension, der des (möglichen) Daseins, steht. Und es folgt daraus ferner, daß das auf das Verstehen des Seins gerichtete metaphysische Denken nicht allein ein Denken von der Absolutheit des Seinsgrundes her sein muß, sondern daß es zumindest auch von der Möglichkeit her auf Grund ihrer metaphysischen Dimension ein metaphysisches Rückschließen gibt. Und genau das, meinen wir, hat Kant in seinem einzig möglichen Beweisgrund getan. Denn nur jene Hinordnung der Wesenheiten oder Möglichkeiten auf das esse, jene existentielle Dimension der ontologischen Möglichkeit kann zunächst den Schluß auf ein oberstes Realprinzip der Möglichkeiten tragen: jenen Schluß, daß die Möglichkeit nicht das ursprüngliche Prinzip des Seins sein kann, sondern umgekehrt nur ein esse, ein Daseiendes, das ursprüngliche Prinzip der Möglichkeit. Aus der Kritik des Leibnizschen Standpunktes, in dem die Möglichkeit zum Prinzip des Daseins gemacht wird, ergab sich, daß Möglichkeit als possibilitas essendi nur denkbar ist auf Grund eines Daseins, daß Seinkönnen nur in einem aktuell Daseienden gründen kann; und damit implizit letztlich nur in einem Daseienden, dem selber keine Möglichkeit zu sein vorausgeht, da ein solches als kontingentes wiederum alle Fragen der Seinsbegründung aufwerfen würde, folglich nur in einem Dasein, dem die eigene Möglichkeit (logisch) folgt, und damit in einem unbedingten und notwendigen Dasein. Freilich hat Kant im einzig möglichen Beweisgrund nicht auf diese Weise unmittelbar auf das notwendig Seiende geschlossen, und zwar nach all dem, was man aus seinem Vorgehen in der 3. Betrachtung und schon in der Prop. VII der Nova Dilucidatio schließen kann, weil aus diesem Begriff weder die Einzigkeit des absolut Notwendigen noch auch seine Allrealität oder Allgenugsamkeit schlüssig hätte abgeleitet werden können, was aber zur ontologischen Bestimmung des Gottesbegriffes unerläßlich war. Er geht also einen anderen Weg des Beweises, der zugleich und ebenso evident wie zur Notwendigkeit der Existenz auch zur Einzigkeit und Unendlichkeit des Wesens Gottes führte:den Weg über das absolut Unmögliche. Dieser Beweis ist nun gerade jenes Element, worin Kopper, A. Lamacchia und andere einen Fehlschluß auf Grund einer Äquivokation im Begriff des Möglichen bzw. Unmöglichen erblicken: wenn der Realgrund der Möglichkeiten aufgehoben gedacht werde, dann folge Unmöglichkeit bloß im Sinn des Nichtgesetzt-

III. Teil

302

• seins, d. h. im Sinn einer bloß kategorischen oder assertorischen Aufhebung aller Möglichkeit, während Kant diese Un-Möglichkeit als solche im modalen (und metaphysischen) Sinn miß verstehe und daraus auf eine absolute Unmöglichkeit der Nichtexistenz des Realgrundes schließe, legitim aber nur auf eine bedingte Notwendigkeit, eine nécessitas hypothetica consequentiae, hätte schließen können: wenn Möglichkeiten gegeben sind, dann muß auch ein Grund der Möglichkeiten existieren. Kant schließt nun in der Tat von der Aufhebung des Realgrundes der Möglichkeiten auf eine Aufhebung der Möglichkeiten im modalen und metaphysischen Sinn oder, um mit Kopper zu sprechen, auf eine Aufhebung der Ermöglichung von Möglichkeiten, d.h. auf eine Aufhebung der Möglichkeit von Möglichkeiten, auf eine absolute metaphysische Unmöglichkeit von Möglichkeiten des Seins, und da er die Möglichkeit im Ausgang seiner Argumentation als solche versteht, von der die metaphysische Dimension des possibile esse nicht abtrennbar ist, wie uns scheint, auch durchaus zurecht. Es ist das absolute Nichts im Sinn des nihil negativum, nicht nur als positive Aufhebung von bestimmten Möglichkeiten oder auch aller Möglichkeiten, die nichts darüber aussagt, ob damit auch grundsätzlich die Ermöglichung von Möglichkeiten überhaupt aufgehoben oder ausgeschlossen ist, sondern eben dieses letztere ist es, worauf Kant zunächst aus der Aufhebung des Realgrundes als den Angelpunkt seiner ganzen ontotheologischen Argumentation schließt, wie man dem letzten Absatz der Abhandlung und auch dem ersten Teil der 4. Betrachtung der Preisschrift über die Deutlichkeit vom Ende des Jahres 1762 entnehmen kann 276 . Daß aber die Möglichkeit von Möglichkeiten des Seins und damit von Sein überhaupt grundsätzlich aufgehoben sei, ist absolut unmöglich, nicht nur im logischen, sondern auch und in erster Linie im metaphysischen Sinn: es ist Unmöglichkeit im radikalsten Sinn und darum auch im radikalsten Sinn unmöglich. In demselben Sinn aber ist die Existenz des Realgrundes absolut notwendig, d. h. ein absolut unaufhebbares Sein. Diesen Schluß von der absoluten Unmöglichkeit der prinzipiellen Aufhebung der Möglichkeit oder der Ermöglichung des Seins auf die absolute Notwendigkeit oder Unaufhebbarkeit des Realgrundes der Möglichkeiten betrachtete Kant damals, allerdings nur noch für kurze Zeit, als ein a priori genetisches Argument für die absolut notwendige Existenz, das diese aus dem innersten Wesen der absoluten Daseinsnotwendigkeit selber begreifen lasse277. A. Lamacchia hat die Kritik Koppers in der Anmerkung 51 ihres Werkes (zustimmend) zusammengefaßt, wie folgt: „Das Argument, das nur hätte schließen dürfen, daß die Negierung des Realgrundes, ebenso wie die des Prinzips des Widerspruchs, die logische Möglichkeit der Setzung aufhebe und dadurch zur Unmöglichkeit des logisch-realen Gedankens führe, bedeutet letzlich, daß, ebenso wie das Prinzip des Widerspruchs nicht aufgehoben ist, solange es Möglichkeit gibt, so auch der Realgrund alle Bedeutung verlieren müsse, wenn man von jeder Möglichkeit absehe. Statt dessen habe Kant die Negation der Möglichkeit im metaphysischen und absoluten Sinn als Aufhebung des Seins der Möglichkeit und damit des Prinzips der Möglichkeit aufgefaßt, woraus die Bestätigung 276 277

KGS II, 296f. Ebd. 91 „also recht genetisch."

Die Interpretation des einzig mögl. Beweisgrundes bei Campo, Lamacchia u. Kopper 303 (la riconferma) dieses letzteren abgeleitet wurde, weil die Aufhebung desselben, die nicht in Kontrast stehe zur Aufhebung des Möglichen, sich mit seiner Unaufhebbarkeit der Aufhebung der Möglichkeit selbst, die von ihm ausgehe, entgegensetze. Auf diese Weise werde zu gleicher Zeit die Unmöglichkeit der Aufhebung des Möglichen wie das über alle Behauptung und Negierung erhabene Sein des Realgrundes anerkannt" 2 7 8 . N u n das, was hier dem Argument abgesprochen wird (von A. Lamacchia) bzw. nur dem geheimen metaphysischen Denken, und nicht dem Argument selbst, von Kopper zugeschrieben wird, ist gerade das, was es nach unserer Überzeugung leistet, wenn man die Möglichkeit der Dinge im entschieden metaphysischen Sinn versteht, wie sie Kant trotz aller gelegentlichen mißverständlichen Formulierungen ohne Zweifel verstanden hat, wie aus der Analyse des ganzen Gedankengangs des Arguments und vor allem auch des ganzen Werkes als thematischer Einheit hervorgeht.

278

A. Lamacchia, op. cit. s. 202.

Zum Beschluß

Die Auseinandersetzungen unseres dritten Teiles mit verschiedenen neueren Deutungen des Einzig möglichen Beweisgrundes haben uns bereits mitten hineingeführt in die Probleme des dritten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik der Kr. d. r. V., ein Beweis, wie eng im Grunde diese vorkritische Lehre Kants mit seinem späteren theologischen Standpunkt in der Phase des Kritizismus zusammenhängt. Zwar konnten unsere Analysen die These nicht bestätigen, daß der Philosoph in diesem dritten Hauptstück der Dialektik sich unmittelbar auf sein ursprüngliches ontotheologisches Argument bezogen und im 2. Abschnitt desselben eine kritizistische Rezension dieses Arguments gegeben habe ; und noch weniger jene andere, daß er bereits in der Nova Dilucidano im Prinzip die genuine Lehre vom transzendentalen Ideal im spinozistischen Sinn einer omnitudo realitatum entwickelt habe, von der er dann sowohl im Beweisgrund wie auch im 2. Abschnitt des dritten Hauptstücks aus Gründen, die außerhalb der Logik des Arguments lagen, abgewichen sei. Trotzdem ist es unbestreitbar, daß die ganze rationaltheologische Entwicklung und Lehre Kants bestimmt bleibt durch das, was man die beiden Angelpunkte der Gesamtkonzeption des Einzig möglichen Beweisgrundes nennen kann: das ontotheologische Argument seiner ersten Entwicklungsphase und seine frühe, in Zukunft nicht mehr sich wandelnde Kritik der drei traditionellen Gottesbeweise. Von diesen beiden systematischen Hauptthemen der Abhandlung haben wir im vorausgehenden das erste ausführlich analysiert und diskutiert und damit den Ausgangspunkt gewonnen für die weitere Entwicklung Kants zu dem das ganze rationaltheologische Denken seiner kritizistischen Epoche bis hinein in das Opus Postumum beherrschenden transzendentalen Ideal als Gottesbegriff der transzendentalen Theologie, wobei aber der einzig mögliche Beweisgrund, d.h. das ontotheologische Argument, nicht nur den Ausgangspunkt der Entwicklung darstellt, sondern, genauer betrachtet, in aller Umformung für die spätere Konzeption des Vernunftideals formprägend bleibt. Die andere zukunftsweisende Thematik des Beweisgrundes, die der Kritik der Gottesbweise der Tradition, haben wir in der vorliegenden Arbeit im einzelnen noch nicht analysiert und diskutiert, weder ihre Gedankengänge an sich, noch ihr Verhältnis zu der parallelen Gottesbeweiskritik des dritten Hauptstücks der Dialektik der Kr. d. r. V. Insofern stellt also dieses unser Werk keine erschöpfende Interpretation der frühen theologischen Abhandlung Kants dar; denn seine Detailanalysen beschränken sich in Wahrheit auf die erste und zweite Abteilung derselben. Das vorliegende Werk verlangt deshalb nach einer Ergänzung und Vervollständigung, die das Thema der vorkritischen Rationaltheologie als die Enthüllung des „dialektischen" Charakters dieser Disziplin in ihrer tradierten Form zum Abschluß bringen soll. Wir werden versuchen, diese Aufgabe in der geplanten weiteren Arbeit über den vorkritischen Ursprung und Charakter der Kanti-

Zum Beschluß

305

sehen Gottesbeweiskritik zu lösen, in der neben der ausführlichen Analyse der dritten Abteilung des Beweisgrundes und der Weiterentwicklung der Ontotheologie des frühen Kant zur Lehre vom transzendentalen Ideal auch der ausführliche Vergleich zwischen dieser vorkritischen Dialektik der Rationaltheologie und jener im Dialektikteil der Kr. d. r. V. durchgeführt werden soll.

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