Menschenwürde: Kant und die Aufklärung 9783787343430

Stefanie Buchenau befasst sich in diesem Buch mit den historischen Wurzeln des Begriffs Menschenwürde. Indem sie diesen

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German Pages 372 [373] Year 2023

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Menschenwürde heute. Zentralität und Mehrdeutigkeit unserer Begriffe
Zurück zu deren aufklärerischen Wurzeln
Kants rätselhafte Anthropologia transcendentalis. Über die notwendige Umkehrung unserer Perspektiven
Facetten des Würdebegriffs
Seine aufklärerische Deutung
Gliederung und kurze Zusammenfassung
TEIL I: Vor Kant
Kapitel 1
Homoiosis theo: Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen
Spalding: Erhebung, Progression, Gottverähnlichung
Abbts Zweifel: Adel und Ehre des Weltbürgers
Mendelssohn im Dialog mit Spalding und Abbt
Die Veredlung der Menschheit
Schutz der Würde
Würde und Toleranz
Verlust der Menschenwürde, Verbrechen und Strafe
Schluss
Kapitel 2
Herders Humanität: der Mensch in der Kette der Wesen
Progression, Seelenwanderung, Reminiszenz. Herder vs. Mendelssohn
Humanität am Leitfaden der Naturgeschichte: die Kette der Wesen
Mischwesen und Metamorphosen
Schwellen und Übergänge
Herders pragmatische Geschichte der Menschheit
Schluss
Kapitel 3
Garves Cicero. Selbstschätzung und »Teilnehmung«
Garves Rezension von Mendelssohns Phaedon
Garves Cicerokommentar
Selbstschätzung als Grund der Freiheit
Die Naturgeschichte der Stoa
Gott als Oberherr ?
Würde, Wert und Preis
Menschenehre und »Teilnehmung«. Garves Bildungsprogramm
Schluss
Kapitel 4
Philoktet oder: über die Humanität der Literatur
Philoktet am Rande der Menschheit
Der ästhetische Unwert des Philoktet. Smith über Anstand und Schmerz
Sein Griechentum. Winckelmann über edle Einfalt und stille Größe
Seine Erhabenheit. Mendelssohns Bewunderung
Seine Schönheit. Lessing mit und gegen Smith
Seine Humanität. Herder über Einfühlung, Ästhetik und Anthropologie
Sein »Interesse«. Garve über ästhetische »Teilnehmung«
Schluss
TEIL II: Kant über Würde, Welten und Weltbürger
Kapitel 5
Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen
Kant und der Platonismus Mendelssohns
Kant über Herders »analogische Sagazität«
Kants »Anti-Garve«
Schluss
Kapitel 6
Erdbewohner und Erdbürger. Kants Kosmopolitismus
Antike und moderne Vorlagen. Wolffs teleologisches Weltbürgertum
Weltgebäude, Ruinen und Erdbeben: der frühe Kant
Kants Korrekturen: die Welt als Spiegel Gottes ?
Kants Kritik an Wolffs Dogmatik
Der κόσμος als πόλις
Schluss
Kapitel 7
Rassen und Menschenwürde. Die Kontroverse zwischen Kant und Forster
Forsters Weltbürgertum
Das Prinzip Angemessenheit
Forsters Kritik
Kants Korrekturen
Schluss
Kapitel 8
Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft
Der Mensch als Haushälter. Kant und Blumenbach über Stufenleitern
Zweierlei Zweckmäßigkeiten
Das Erhabene und schlechthin Große als Maß menschlicher Würde
Kants Humaniora
Schluss und Zwischenbilanz: Die allmähliche Transformation von Kants früher Anthropologia transcendentalis
TEIL III: Würde, Ehre, Humanität
Kapitel 9
Die Menschheit selbst ist eine Würde !
Einführung. Kants Verhältnis zu Cicero
Jeder Bürger sein eigener Herr ? Ehrbarkeit in der Ständegesellschaft
Geschichte und Naturrecht
Kants Bruch mit Ciceros Tugendethik und Eudämonismus
Kants Demontage des Würdebegriffs
Schluss
Kapitel 10
Kants Kasuistik der Menschenwürde
Nichtswürdigkeit
Selbstmord, Autonomie und Heiligkeit des Lebens
Lüge und Ehrlosigkeit
Verbrechen, Mord und Bestialität
Fehler im Recht
Würde und Humanität
Schluss
Kapitel 11
Schillers Humanität: Anmut und Würde, Liebe und Achtung
Kant: »das herrliche Bild der Menschheit«
Schiller über Kants rechtliche persona: »falsche Dignität« !
Die ästhetische persona. Der Mensch als Schauspieler
Schillers alternativer Humanismus
Selbstbestimmung
Würde im Leiden
Schiller über die Polarität der Geschlechter
Schluss
Schluss
Dank
Literaturverzeichnis
Primärquellen
Sekundärliteratur
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Menschenwürde: Kant und die Aufklärung
 9783787343430

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Stefanie Buchenau

Menschenwürde

Meiner

Buchenau   Menschenwürde

Stefanie Buchenau

Menschenwürde Kant und die Aufklärung

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte biblio­g raphische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4342-3 ISBN eBook 978-3-7873-4343-0

Ouvrage publié avec le soutien de l’Université Paris 8 (Laboratoire Les mondes allemands : histoire des idées et des représentations) ainsi que publié avec le concours de l’Université Paris Nanterre. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung.

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver­a rbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich g­ estatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. G ­ edruckt auf ­a lterungs­beständigem Werk­d ruck­papier. Printed in Germany

Meinem Vater Uli Buchenau ( 1937 – 2023 ) •

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Menschenwürde heute. Zentralität und Mehrdeutigkeit unserer Begriffe Zurück zu deren aufklärerischen Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants rätselhafte Anthropologia transcendentalis. Über die notwendige ­Umkehrung unserer Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Facetten des Würdebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seine aufklärerische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung und kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 15 19 23 27 31

TEIL I · Vor Kant Kapitel 1 Homoiosis theo: Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen . 39

Spalding: Erhebung, Progression, Gottverähnlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbts Zweifel: Adel und Ehre des Weltbürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mendelssohn im Dialog mit Spalding und Abbt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Veredlung der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Würde und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlust der Menschenwürde, Verbrechen und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 47 52 61 64 67 68 70

Kapitel 2 Herders Humanität: der Mensch in der Kette der Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Progression, Seelenwanderung, Reminiszenz. Herder vs. Mendelssohn . Humanität am Leitfaden der Naturgeschichte: die Kette der Wesen . . . . Mischwesen und Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwellen und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herders pragmatische Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 77 83 87 89 91



8 Inhalt

Kapitel 3 Garves Cicero. Selbstschätzung und »Teilnehmung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Garves Rezension von Mendelssohns Phaedon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Garves Cicerokommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstschätzung als Grund der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Naturgeschichte der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als Oberherr ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Würde, Wert und Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenehre und »Teilnehmung«. Garves Bildungsprogramm . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94 97 100 102 104 106 113 115

Kapitel 4 Philoktet oder: über die Humanität der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Philoktet am Rande der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Der ästhetische Unwert des Philoktet. Smith über Anstand und Schmerz 121 Sein Griechentum. Winckelmann über edle Einfalt und stille Größe . . . 125 Seine Erhabenheit. Mendelssohns Bewunderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Seine Schönheit. Lessing mit und gegen Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Seine Humanität. Herder über Einfühlung, Ästhetik und Anthropologie 137 Sein »Interesse«. Garve über ästhetische »Teilnehmung« . . . . . . . . . . . . . . 143 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 TEIL II · Kant über Würde, Welten und Weltbürger Kapitel 5 Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Kant und der Platonismus Mendelssohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kant über Herders »analogische Sagazität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Kants »Anti-Garve« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Kapitel 6 Erdbewohner und Erdbürger. Kants Kosmopolitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Antike und moderne Vorlagen. Wolffs teleologisches Weltbürgertum . . . 182 Weltgebäude, Ruinen und Erdbeben: der frühe Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Inhalt 9

Kants Korrekturen: die Welt als Spiegel Gottes ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Kritik an Wolffs Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der κόσμος als πόλις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 203 207 209

Kapitel 7 Rassen und Menschenwürde. Die Kontroverse zwischen Kant und Forster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Forsters Weltbürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forsters Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214 218 221 229 231

Kapitel 8 Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Der Mensch als Haushälter. Kant und Blumenbach über Stufenleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweierlei Zweckmäßigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erhabene und schlechthin Große als Maß menschlicher Würde . . . Kants Humaniora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss und Zwischenbilanz:Die allmähliche Transformation von Kants früher Anthropologia transcendentalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234 243 245 248 252

TEIL III · Würde, Ehre, Humanität Kapitel 9 Die Menschheit selbst ist eine Würde ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Einführung. Kants Verhältnis zu Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jeder Bürger sein eigener Herr ? Ehrbarkeit in der Ständegesellschaft . . . Geschichte und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Bruch mit Ciceros Tugendethik und Eudämonismus . . . . . . . . . . . . Kants Demontage des Würdebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 266 274 281 283 286



10 Inhalt

Kapitel 10 Kants Kasuistik der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Nichtswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Selbstmord, Autonomie und Heiligkeit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Lüge und Ehrlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Verbrechen, Mord und Bestialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Fehler im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Würde und Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Kapitel 11 Schillers Humanität: Anmut und Würde, Liebe und Achtung . . . . . . . . . . . . . 307

Kant: »das herrliche Bild der Menschheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiller über Kants rechtliche persona: »falsche Dignität« ! . . . . . . . . . . . . Die ästhetische persona. Der Mensch als Schauspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . Schillers alternativer Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Würde im Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiller über die Polarität der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 314 316 318 320 321 324 328

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Einleitung

I 

m 18. Jahrhundert ist noch alles im Fluss. Die Wörter »Mensch« und »Würde« gehen eine ganz neue lexikalische Verknüpfung ein – das Kompositum »Menschenwürde« entsteht. Manche Philosophen sprechen von »Menschenwürde«, »menschlicher Würde«, von der »Würde« des »Menschen« oder der »Menschheit«. Andere bedienen sich lieber verwandter Begriffe: Sie favorisieren »Bestimmung« oder »Humanität« ; sie diskutieren über den »Beruf«, den »Adel« und die »Ehre« des Menschen oder der »Menschheit«. Als fester Begriff beginnt »Menschenwürde« erst ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herum in einschlägigen Lexika wie dem Grimm zu erscheinen.1 Im 18. Jahrhundert ist das Wort in aller Munde, aber von größerer semantischer Variabilität. So fordert man, der Mensch »müsse seine Menschenwürde empfinden«2 lernen. Herder vertritt die Ansicht, »das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wie es wahrscheinlich lange noch sein wird«, habe »seinem größten Teil nach keine Würde, […] solle »aber zum Charakter seines Geschlechtes, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden«.3 In einem sich wandelnden anthropologischen Wortfeld bildet sich ein neuer Kollektivbegriff »Menschheit« aus.4 Man spricht in diesem Zusammen1 Schon in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache von 1809 (Bd. 3, S. 270) wird »Menschenwürde« bestimmt als »die Würde des Menschen als eines vernünftigen, über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens ; besonders die sittliche Würde des Menschen«. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm von 1852 (Bd. 12, Sp. 2076) definiert den Begriff ähnlich als die »sittliche und geistige Würde des Menschen« und belegt diese Definition mit zahlreichen Zitaten von Aloys Blumauer, Friedrich Schiller, Johann Georg Schlosser, Johann Gottfried Seume und Johann Heinrich Voss. 2 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, 1748, 11. Ausgabe, 1794, in: Kritische Ausgabe Bd. 1.1, hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski u. a., Tübingen, Mohr Siebeck, 2006, S. 37: »Es kann, wie es mir scheinet, für einen Menschen von richtigem Gefühl so leicht keine Vorstellung ein größeres Interesse haben, als die von einem Volke, das zum Glücklichsein weise wird, das Menschenwürde empfinden lernt […]«. Johann Gottlieb Fichte schreibt: »Begeistre uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühl unserer Würde, und zeige uns dieselbe wenigstens in unsern Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht.« Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publicums über die französische Revolution, 1793, Werke. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart, Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1962 ff., Bd. I, 1, S. 255. 3 Siehe Johann Gottfried von Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität [1793–1797], in: Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1991, III. 27, S. 147. 4 Vgl. Ansgar Lyssy, »Der Begriff der Menschheit zwischen Aufklärung und Globali-



12 Einleitung

hang auch von der »Würde« oder dem »Charakter« der »Menschheit« oder des »Menschengeschlechts« und kleidet den alten Begriff in eine neue Sprache der Zwecke. So fordert Kant, man dürfe einen Menschen niemals bloß als »Mittel«, sondern müsse ihn immer auch als »Zweck« und Selbstzweck behandeln. In den semantischen Veränderungen und in der neuen engen lexikalischen Verknüpfung von »Mensch« und »Würde« kommt zum Ausdruck, dass die Aufklärung eine alte Idee der Philosophiegeschichte, die dignitas hominis, ganz neu zu deuten scheint. Im Ausgang von einem neuen anthropologischen Standpunkt bestimmt man nun den Menschen, sein Selbst, nicht so sehr über eine (vom Körper abgetrennte) Seele und alleinige Zugehörigkeit zu einer höheren geistigen und göttlichen Welt als über eine Würde, die er als sinnlich-geistiger Mensch und Erdbewohner besitzt. Diese Würde offenbart sich dem Menschen in größter Klarheit über die Betrachtung und Empfindung der irdischen Welt und Natur und über den Vergleich mit dem Tier. Sie zeigt sich nach außen hin in einer Reihe von empirischen Besonderheiten und in einem besonderen Vermögen der Perfektibilität, Vervollkommnung, Angemessenheit und Weltoffenheit: »Alles kann die Menschheit entbehren ; alles kann man ihr rauben, ohne ihrer wahren Würde zu nahe zu treten ; alles nur nicht die Möglichkeit ihrer Vervollkommnung«, schreibt Fichte.5 Diese anthropologische Dimension von Menschenwürde als Zugehörigkeit zu einem Menschengeschlecht besitzt auch eine praktische, ethische und politische Bedeutung. So hängen mit diesem anthropologischen Würdebegriff insofern neue politische Forderungen zusammen, als dass man beginnt, allen Menschen oder zumindest allen Bürgern eine gleiche Würde und einen gleichen politischen Status zuzuschreiben.6 Diese Würde ist ein Titel, den der Mensch als Welt- und Erdbürger besitzt und der seinem politischen Selbstsierung«, in: Philosophische Aspekte der Globalisierung, hg. v. Hubertus Busche, Würzburg 2009, S. 121–152. 5 Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 4. Vorlesung, in: ders., Werke. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart, Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, Bd. 3, 1966, S. 54. 6 Man beachte, dass dieser praktische Begriff im 18. Jahrhundert noch nicht die gleiche verfassungsrechtliche Bedeutung besaß wie heute. So enthält die französische Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1792 den Begriff »dignité« ihrer innovativen Forderungen ungeachtet eher in der alten und herkömmlichen Bedeutung, als Amt, Vorrecht, Privileg. Sie betrachtet den Menschen – den Bürger – nicht als an sich würdig, »digne«, sondern als »zu allen öffentlichen Würden zugelassen«: In Artikel 6 heißt es: »Tous les Citoyens étant égaux [aux yeux de la loi] sont également admissibles à toutes dignités, places et emplois publics, selon leur capacité, et sans autre distinction que celle de leurs vertus et de leurs talents«. Diese »dignités« wurden in der Fassung von 1793 durch »emplois« ersetzt.

Einleitung

verständnis als Staatsbürger zugrunde liegen muss. Die Reflexion auf die eigene Position in der Welt und Zugehörigkeit zu einer weiteren ideellen (vernünftigen) Menschheit erhält damit eine ganz neue praktische Relevanz; und deshalb scheinen obige Entwicklungen auch schon eine konstitutive Umkehrung des alten hierarchischen Konzepts von Bürgerwürde zu beinhalten. Würde dient nun der Begründung einer politischen Gleichheit. Sie scheint in der Tat, wie Jeremy Waldron treffend feststellt, einen gewissen universellen Adel zu bezeichnen, insofern wir heute allen Menschen einen Titel und jenes Anrecht auf Achtung zusprechen, das früher dem Adel vorbehalten war.7 Jeder Mensch ist eine persona oder Person und aufgerufen, seine gesellschaftliche Rolle wahrzunehmen. Jeder ist so etwas wie ein Graf, ein Ritter, ein hoher Würdenträger, schreibt Waldron.8 Schon als Naturwesen qua biologischer Gattungszugehörigkeit oder schon als »Tier« besitzt der Mensch einen solchen »Geburtstitel«, ohne dass er sich diesen erst durch seinen Verdienst erwerben müsse oder jemals verlieren könne. Genauer gesagt, kann er in bestimmten Lebensumständen seine Würde einbüßen oder seine Selbstachtung verlieren, aber er bewahrt seinen »Titel« und seinen Anspruch auf Achtung durch Andere und auf den kollektiven und staatlichen Schutz seiner Würde. Und gerade im Namen seiner Würde und einer allgemeinen Menschenehre muss er sich unmittelbar ehren und achten können, ganz als ob mit diesem Titel auch die der anderen – die »Würde der Menschheit« – mit auf dem Spiel stehe und ihre Achtung eine »Sache der Menschheit« sei. Menschenwürde heute. Zentralität und Mehrdeutigkeit unserer Begriffe

Diese Sprache der Aufklärung sprechen wir noch heute. Wir bedienen uns sowohl ihrer Leitbegriffe als auch einiger prägnanter Formeln. Die Menschenwürde hat ihren Aufstieg als ein vorrechtlicher und rechtlicher Begriff erlebt, seitdem man nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen hat, sie in alle zentralen Rechtsquellen und insbesondere in die Allgemeinen Erklärung der 7 Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren gleich von mehreren Autoren entwickelt worden. Vgl. beispielsweise Jeremy Waldron, Dignity, Right and Rank, hg. v. Meir DanCohen, Oxford, Oxford University Press, 2012, S. 33: »The modern notion of human dignity involves an upward equalization of rank, so that we now try to accord to every human being something of the dignity, rank and expectation of respect that was formerly accorded to nobility.« 8 Ebd., S. 59: »The standard status for people now is more like an earldom than like the status of a peasant ; more like a knight than a squire […] it is more like the status of a person who is sui iuris that the status of a subject who needs someone to speak for him […].«

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14 Einleitung

Menschenrechte von 1948 und im Grundgesetz von 1949 aufzunehmen. Man erhoffte sich durch die Aufnahme dieses Prinzips eine Fundamentierung unseres Rechts und einen wirksamen Schutz vor zukünftigen Menschenwürdeverletzungen, vor Folter, Gewalt, Ausbeutung und offenen und versteckten Formen von Demütigung und Menschenverachtung. Die »Objektformel« oder auch »Zweckformel« hat bekanntlich sogar Eingang in den Kommentar unseres Grundgesetzes gefunden. Ab den 50er Jahren wird diese Formel von Günter Dürig für die Kommentierung des Artikels 1 des GG (»Die Würde des Menschen ist unantastbar«) verwandt. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde liege demzufolge dann vor, wenn ein Menschenrecht so verletzt wird, dass »dadurch der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.«9 Diese Formel ist mehr oder weniger direkt von Kant übernommen. Die Menschenwürde wird hier offensichtlich sowohl als ein rechtlicher als auch als ein ethischer und politischer Begriff gesehen,10 und sie wird aktuell in all diesen Dimensionen lebhaft diskutiert. Im Ausgang von Avishai Margalits11 Einsicht, dass man am meisten über die Bedeutung von Menschenwürde erfährt, indem man diese negativ und indirekt zu erfassen versucht, beschäftigen sich eine Vielzahl von zeitgenössischen Arbeiten mit der phänomenologischen Beschreibung verschiedener Formen von Entwürdigung, Demütigung und Dehumanisierung.12 Doch zugleich werden sowohl in der rechtlichen als auch in der ethischen Debatte Stimmen laut, die die Unschärfe und konstitutive Mehrdeutigkeit des Begriffs hervorheben. Während man nach dem Kriege die Überzeugung vertrat, die Bedeutung dieses Begriffs sei unmittelbar einsichtig, stellt man nun diese Einsichtigkeit und Eindeutigkeit in Frage. Es besteht Uneinigkeit darü­ ber, welche Überzeugungen es im Namen der Menschenwürde genau aus9 Günter Dürig, »Kommentar zu Art. 1, Abs. 1«, in: Maunz, Theodor/Dürig Günter et. al., Grundgesetz. Kommentar, München, Beck, 1958, Rn. 28. Eine ausführliche Darstellung der deutschen Diskussion liefert Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zur Menschenwürde, Münster, Mentis, 2016. 10 Zu den moralischen und rechtlichen Dimensionen von Menschenwürde vgl. auch Jürgen Habermas, »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie n° 58.3, 2010, S. 343–357. 11 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge Mass., Harvard University Press, 1996. 12 Vgl. aus der geradezu uferlosen Literatur zu dem Thema, insbesondere die detaillierten Analysen von Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München, Hanser, 2013 ; Paulus Kaufmann, Hannes Kuch, Christian Neuhaeuser und Elaine Webster, Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated, Dordrecht, Springer, 2011 ; Christopher McCrudden (Hg.), Understanding Human Dignity, The British Academy/Oxford University Press, 2013.

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zudrücken gilt, ob es sich nun um einen ethischen, anthropologischen oder rechtlichen Begriff handelt, und ob er aufgrund seiner Abstraktion nicht auch gefährliche politische Instrumentalisierungen zulasse.13 Im Recht und insbesondere in der amerikanischen Jurisprudenz des US Supreme Court herrscht ein äußerst verwirrendes Begriffschaos.14 In der medizinischen Ethik stößt man auf ähnliche Schwierigkeiten. Hier wird der Einwand erhoben, der Begriff kaschiere eigentlich unvereinbare Auffassungen, anstatt sie offen zu artikulieren, und setze folglich aller vernünftigen, auf Argumente und Begründungen fundierten Diskussion vorschnell ein Ende. Gleich mehrere Autoren haben dafür plädiert, diesen Begriff ganz aus der Diskussion zu verbannen.15 Ruth Macklin schlägt vor, in der medizinischen Debatte »Würde« durch »Autonomie« zu ersetzen16. Andere stellen heraus, dass man einen so massiven philosophiehistorischen Begriff nicht ablege »wie ein abgetragenes Kleidungsstück«.17

Zurück zu deren aufklärerischen Wurzeln

Vielleicht rühren unsere Schwierigkeiten daher, dass uns die philosophische Unbefangenheit und Kreativität der Aufklärung verloren gegangen ist ; und dass uns die Würde auch gedanklich »unantastbar« geworden ist. Vielleicht nehmen wir deshalb bestimmte Facetten des alten Gedankens gar nicht mehr 13

Eine gute Übersicht über diese Debatten bietet Christopher McCrudden: »In Pursuit of Human Dignity: An Introduction to Current Debates«, in: ders. (Hg.), Understanding Human Dignity, S. 1–58. 14 »[A] cacophony of uses so confusing that some critics argue the word should be abandoned altogether«, Leslie Meltzer Henry, »The Jurisprudence of Dignity«, in: University of Pennsylvania Law Review n° 160, 2011, S. 169–233. Angesichts der verwirrenden Vielfalt der Verwendungen geht Henry von einer Pluralität und Typologie von Würdebegriffen aus. Sie folgt einer von Wittgenstein inspirierten Methode, die »Familienähnlichkeiten« zwischen den Verwendungen eines Begriffs annimmt. 15 Vgl. Rüdiger Bittner, »Abschied von der Menschenwürde«, in: Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, hg. v. Mario Brandhorst u. Eva Weber-Guskar, Frankfurt, Suhrkamp, 2017, S. 91–112 ; vgl. auch Stephen Pinker, »The Stupidity of Dignity«, in: The New Republic, May 28, 2008. 16 Ruth Macklin, »Dignity is a Useless concept«, in: British Medical Journal n° 327, 2003, S. 1419–1420. 17 Kurt Bayertz, Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrecht, Springer, 1996, S. 88: »it would of course be easy to do away with the term of dignity. But that would not help us in the slightest. Whether this term is used or another one: the concept of dignity is – as I have attempted to demonstrate – much too deeply embedded in Modern Age thinking for us to dispose of it like a piece of clothing which we no longer like or which no longer fits us«. Vgl. auch wiederum Bittner, »Abschied von der Menschenwürde«, S. 99.

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wahr. Es soll hier deshalb zunächst versucht werden, eine Sprache wieder zu verstehen, die wir offenbar in Formeln und Bruchstücken noch sprechen, deren Sinn und Gehalt wir aber vergessen haben. Dazu kann es sich lohnen, einmal etwas tiefer in den historischen Kontext einzutauchen, sich die aufklärerische Problemkonstellation überhaupt wieder zu vergegenwärtigen und anhand des Begriffs »Menschenwürde« einen bestimmten Humanismus der deutschen Aufklärung vor und um Kant zu rekonstruieren.18 Dieser Humanismus weist offenbar die Besonderheit auf, dass hier direkter und expliziter auf ältere metaphysisch-theologische Traditionen und die alten Begrifflichkeiten zurückgegriffen wird als in anderen europäischen Kontexten. In der französisch- und englischsprachigen Debatte verteidigt man zwar ebenfalls »die Sache der Menschheit«. Man benutzt manchmal auch die Würdemetapher, so im englischen Kontext bei Shaftesbury, David Hume, Adam Smith und im französischsprachigen Kontext bei Denis Diderot19 und Jean-Jacques Rousseau.20 Diese Einflüsse und Kulturtransfers dürfen nicht unterschätzt werden ; aber die französischen Philosophen bringen der metaphysisch-theologischen »dignité« keine große Sympathie entgegen. Wenn auch Rousseau beispielsweise das Schlagwort von der perfectibilité 21 zur Charakterisierung des Menschen einführt, die Freiheit und Gleichheit aller Menschen proklamiert und einen gewaltigen Einfluss auf die Erklärungen der Menschenrechte ausübt, bleibt er willentlich auf Distanz gegenüber der älteren philosophischen Traditionen und deren appareil métaphysique.22 18

Vgl. auch Steven Pinker, Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism and Progress, New York, Penguin, 2019, S. 4. 19 Diderot stellt hier eine Ausnahme dar. Unter dem Einfluss Shaftesburys beschäftigt er sich in einem Essai sur le mérite et la vertu auch mit der Würde. Vgl. auch Remy Debres, »Human Dignity Before Kant: Denis Diderot’s Passionate Person«, in: ders., Dignity. A History, S. 203–236. 20 Zu Rousseaus Politik gleicher Würde (»politics of equal dignity«) vgl. auch Charles Taylor, »The Politics of Recognition«, in: Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition, hg. v. Amy Gutmann, Princeton: Princeton University Press, 1994, S. 25–73, besonders S. 35 ff. ; Theo Verbeek, »Rousseau and human dignity«, in: The Cambridge Handbook on Human Dignity. Interdisciplinary Perspectives, hg. v. Marcus Düwell, Jens Braarvig, Roger Brownsword u. Dietmar Mieth, Cambridge, Cambridge University Press, 2014, S. 117–125. 21 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, Genf 1755. Deutsche Übersetzung durch Moses Mendelssohn, Berlin 1756, S. 61. 22 Rousseau setzt sich zwar in verschiedenen Stellen seines Werkes ausführlich mit der moralischen Ehre auseinander und flicht auch im vierten Teil des Emile, in der Profession de foi du vicaire savoyard, längere Ausführungen über die Würde des Menschen ein, ohne aber das Verhältnis zwischen diesem Text und den restlichen Teilen des Emile völlig zu klären. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emile, Œuvres complètes, Bd. IV, hg. v. Ber-

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Ein gewisser französischer Materialismus und Epikureismus, dem Rousseau23 nahesteht, lässt sich sogar dadurch charakterisieren, dass er den Gedanken einer göttlichen Rangordnung und eines menschlichen Ranges im Prinzip verneint. Fest steht: Die Philosophen in den anderen europäischen Ländern erheben die Menschenwürde nicht im gleichen Sinne zu einem Leitbegriff wie die deutschen. Hier scheint »Menschenwürde«, ganz wie »Anthropologie« oder »Bestimmung«, zu einem Schlüsselbegriff zu avancieren, der dessen besonderen Humanismus überhaupt besser zu charakterisieren erlaubt. In einer ersten Phase begreift man hier Menschenwürde direkt als Bestimmung24, als das aufklärerische Äquivalent oder als bessere Übersetzung dessen, was in früheren Zeiten als »dignitas« bezeichnet wurde25, bevor man in einer zweiten Phase (ab Kant) dem Begriff »Menschenwürde« eine größere Bedeutung einräumt. Dieser deutsche Kontext hat in den letzten Jahren bereits einige Beachtung gefunden. In der Tat hat die Unschärfe des Begriffs schon mehrere Autonard Gagnebin u. a., Paris, Gallimard, 1969, S. 418 f.: »[…] si j’avois à choisir ma place dans l’ordre des êtres, que pourrais-je choisir de plus que d’être homme ? Cette réflexion m’enorgueillit moins qu’elle ne me touche ; car cet état n’est point de mon choix et il n’étoit pas dû au mérite d’un être qui n’existoit pas encore. Puis-je me voir ainsi distingué sans me féliciter de remplir ce poste honorable et sans bénir la main qui m’y a placé ? […] Mais quand pour connoitre ensuite ma place individuelle dans mon espèce, j’en considère les divers rangs, et les hommes qui les remplissent, que deviens-je ? Quel spectacle ! Où est l’ordre que j’avais observé ?« Diesen lexikalischen Aspekten wird in den oben zitieren Artikeln zu Rousseau keine größere Bedeutung beigemessen: Man stellt sich nicht die Frage, warum Rousseau den Begriff selbst umgeht. 23 So betrachtet Mendelssohn Rousseaus perfectibilité als eine »siegreiche Waffe« und Vokabel, die sich gerade gegen Rousseau einsetzen lasse. In dem seiner eigenen Rousseau-Übersetzung angefügten Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing bemerkt er, Rousseau könne sich »nicht überwinden, dem natürlichen Menschen die Bemühung, sich vollkommener zu machen, (la perfectibilité) abzustreiten. O ! was für siegreiche Waffen hat er durch dieses Eingeständnis seinen Gegnern in die Hände gegeben !« Aber durch die eigene platonische Auslegung dieses Begriffes verbindet Mendelssohn die perfectibilité mit einer gewissen ontologischen Rangordnung und Gedanken von der Bestimmung und Würde des Menschen. Damit rückt Mendelssohn zugleich zurecht und kehrt um, was in seinen Augen in Rousseaus Philosophie der Korrektur, Klärung Vervollständigung und Vertiefung bedarf. Vgl. Mendelssohn, Jubiläumsausgabe, Bd. 2, S. 81–109, hier S. 88. 24 Vgl. zum allgemeinen Kontext dieser Debatte und ihrer Bedeutung für Kant, die hellsichtigen Analysen von Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg, Meiner, 2007. 25 Norbert Hinske stellt bereits eine Verbindung zwischen einer solchen Bestimmung und der alten Frage nach der »excellentia et dignitas« des Menschen her. Er hebt die aufklärerische Tendenz hervor, »dignitas« mit »Bestimmung« zu übersetzen. Vgl. Norbert Hinske, »Einleitung« zu: Die Bestimmung des Menschen, in: Aufklärung, n° 11.1, 1999, S. 3–6, hier S. 4.

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ren dazu bewogen, sich seinen philosophiegeschichtlichen Wurzeln zuzuwenden.26 Autoren wie Waldron und Michael Rosen 27 haben diese Tendenz eingeleitet. Waldron glaubt, irgendwann in der Geschichte der Philosophie müsse sich die Umwertung der Werte und Umkehrung des ursprünglich hierarchisch ausgerichteten Begriffs vollzogen haben ; der alte Begriff sei nicht in Vergessenheit geraten, aber von der höheren Sicht auf die Sonderstellung des Menschen zwischen Tier und Gott grundsätzlich umgedeutet worden.28 Meist beruft man sich zur Erklärung dieser Entwicklung auf eine in der Aufklärung stattfindende Säkularisierung: Die eigenartige […] Vermischung von mehr oder weniger freier Religiosität [gestattete] eine Überleitung traditioneller Inhalte in den neuen Würdebegriff, die ihn zunächst stützte, bis er selbstständig genug wurde, um die Säkularisierung jener Inhalte zu tragen und sich darüber hinaus sogar mit zeitgenössischen emanzipatorischen Forderungen zu verbinden.29

Der alte, religiöse Gedanke von Würde als Gottebenbildlichkeit werde allmählich über die Renaissance und Pico della Mirandola von einem neuen und säkularen Gedanken von Würde als Autonomie abgelöst, der sich von den alten theologischen Begrifflichkeiten befreit hätte. Gleich mehrere Autoren heben die Bedeutung der deutschsprachigen Debatte für diese Entwicklung hervor. Rosen vertritt die Ansicht, diese Entwicklung gehe auf ein Zusammentreffen mehrerer Elemente, nämlich Kants Moralphilosophie, Schillers moralischer Ästhetik und der Abschaffung von Standesprivilegien in der französischen Revolution zurück, und bietet in einigen Kapiteln seines Buches Dignity. Its History and its Meaning erste Elemente zur Ausführung dieser These.30 Aber diese Erklärungen bleiben merkwürdig 26 Repräsentativ für diese Tendenz seien hier nur aus den Publikationen der letzten Jahre zitiert: Markus Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015 ; Hans-Jörg Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte: Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen, Freiburg, Karl Alber, 2015, und Dieter van der Pfordten, Menschenwürde, München, Beck, 2016. 27 Michael Rosen, Dignity. Its History and its Meaning. Cambridge Mass., Harvard University Press, 2012. Diese Gedanken sind auch im deutschen Sprachraum auf große Resonanz gestoßen. Vgl. zur philosophiehistorischen Genese des Begriffs und der genealogischen Methode, Mario Brandhorst, »Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde«, in: ders., Menschenwürde, S. 112–153. 28 Waldron, Dignity, Rank and Rights, S. 31 ff. 29 Panajotis Kondolys, »Würde«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 7, 1992, S. 645–677, hier S. 666 f. ; zitiert auch bei Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte. S. 108. 30 Rosen, in: Waldron, Dignity, Rank and Rights, Antwort auf Waldron, S. 88.

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ungenau. Oft bleibt man solchen alten Denkmustern (Kant gegen die Bibel !) verhaftet, die sich gerade in dieser Debatte als steril erweisen. Wie Michael Quante herausstellt, ist es die Annahme einer unvereinbaren Dualität zwischen theologischem Würdebegriff und Autonomiebegriff, die in der aktuellen Debatte zu einer »schlechten Dialektik« und einer »Pattsituation« geführt habe, »in der es um alles oder nichts geht und die keinen begrifflichen Raum für Kompromisse oder Vermittlungen lässt«.31

Kants rätselhafte Anthropologia transcendentalis. Über die notwendige Umkehrung unserer Perspektiven

Auch bei der Auslegung Kants stößt man auf Schwierigkeiten. Zwar besteht ein Konsens über dessen zentrale Bedeutung für die aktuellen Begriffe. Wie Georg Mohr treffend beobachtet, habe Kant unser Denken und unsere Sprache so nachhaltig geprägt, dass wir »beim Thema ›Menschenwürde‹ plötzlich alle Kantianer, quasi ›natürliche Kantianer‹« zu sein scheinen.32 Aufgrund dieser großen Bedeutung Kants bringt die Kantforschung dem Thema deshalb schon seit einigen Jahren ein reges Interesse entgegen. Vor allem Oliver Sensens Kant on Human Dignity hat neue Diskussionen entfacht. Dieses Buch stellt erstmals eine Verbindung zwischen Kant und älteren Würdebegriffen und insbesondere Ciceros römischem Würdebegriff her.33

31 Michael Quante, Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg, Meiner, 2010, S. 32. Quante geht in seinem Lösungsvorschlag vom Begriff der »Person« und der »personalen Autonomie« aus. Mein eigener Lösungsvorschlag geht von der »Würde« selbst aus. 32 Vgl. Georg Mohr, »Ein ›Wert, der keinen Preis hat‹ – Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte«, in: Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, hg. v. Hansjörg Sandkühler, Frankfurt, Lang, 2007, S. 16. Hier das vollständige Zitat: »Beim Thema ›Menschenwürde und Menschenrechte‹ befinden wir uns auf Kantischem Terrain. Diesen Eindruck gewinnt man sehr schnell, wenn man sich anschaut, wie omnipräsent der Name Kants in den Feuilletons, in höchstrichterlichen Urteilsbegründungen, in Grundgesetz-Kommentaren, in der rechtswissenschaftlichen und natürlich auch in der rechtsphilosophischen Literatur ist. Es sieht so aus, als seien wir beim Thema ›Menschenwürde‹ plötzlich alle Kantianer, sozusagen ›natürliche Kantianer‹. Das sollte uns stutzig machen. Umso mehr als dass das Unisono der Berufung auf Kant einhergeht mit einer erstaunlichen Divergenz der Schlussfolgerungen, die man aus Kant ziehen zu können meint.« 33 Oliver Sensen, Kant on Human Dignity, Berlin, De Gruyter, 2011. Vgl. auch ders., »Human Dignity in Historical Perspective: the Contemporary and the Traditional Paradigms«, European Journal of Political Theory 10, n° 1, 2011, S. 71–91.

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Man hebt vor allem die praktische und moralische Dimension von Kants in der Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft ausführlich erläuterten Gedanken hervor. Hier bestimmt Kant bekanntlich Würde als Pflicht und als (inneren) Wert, der einem Zweck entspreche, den sich der Mensch als vernünftiges und autonomes Wesen selbst gebe. Diese Würde betrifft eine allgemeine Vorstellung von Pflicht, die dem Menschen gebietet, sich selbst und die vernünftige Menschheit als Selbstzweck zu ehren. Diese moralischen Erwägungen stehen in enger Verbindung mit den rechtlichen und politischen Überlegungen zum Kosmopolitismus. Diese enthalten die Forderungen nach eben jener rechtlichen Gleichheit aller Menschen und staatlichen Schutz ihrer Würde, von denen schon eingangs die Rede war. Aber bisher beschränkt man den Blick fast ausnahmslos auf diese praktische Dimension von Würde, ohne die theoretische Philosophie überhaupt mit in den Blick zu nehmen. Obschon man auch parallel begonnen hat, Kant direkter in seinen historischen Kontext einzubetten und auch den anthropologischen Schriften Beachtung zu schenken, favorisiert man immer noch werkimmanente Herangehensweisen und hat außerdem zu diesem Thema kaum versucht, direkte Verbindungslinien zwischen Kant und seinen Zeitgenossen herzustellen. So haben beispielsweise die Herausgeber des The Cambridge Handbook on Human Dignity beschlossen, Kant aus dem historischen Teil herauszunehmen und in den systematischen zu verfrachten, als ob man im Falle Kants ganz und gar auf historische Kontextualisierung verzichten könne oder müsse.34 Offenbar kämpft man hier mit dem grundlegenden Problem, dass Kant zumindest auf den ersten Blick jeglichen anthropologischen Zugriff auf das Thema radikal zu verurteilen scheint. In der Tat ist Einsicht in Würde in Kants Augen eher eine Angelegenheit innerer Reflexion als äußerer Wahrnehmung. Sie beruht weder auf Weltkenntnis noch auf physischen Besonderheiten, noch kann sie durch wissenschaftliche Beobachtung und Klassifikation ermittelt werden. Diese wissenschaftlichen Verfahren bringen nicht nur ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich, sondern können sogar dem eigentlichen Prinzip von Würde, nämlich Achtung, widersprechen. Allgemeiner noch kann Würde gerade nicht dem Menschen als Naturwesen beigelegt werden. Denn sie kennzeichnet den Menschen nicht in seiner natürlichen, sondern in seiner moralischen Dimension. Würde ist ein innerer und absoluter Wert, den dieser gerade als sittliches Wesen und Mitglied einer geistigen, moralischen oder noumenalen Welt besitzt. Ganz zweifellos unterscheidet 34 Vgl. The Cambridge Handbook on Human Dignity. Interdisciplinary Perspectives, insbesondere S. XXI.

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sich Würde aufgrund dieser Relativierung der anthropologischen Dimension ganz grundsätzlich von den Modellen von Kants Zeitgenossen und begründet einen neuen Vorrang des Praktischen. Dem Widerstand Kants gegen anthropologische Bestimmungen ungeachtet stellt sich aber die Frage nach der Genese, philosophiegeschichtlichen Einordnung und »weiteren« anthropologischen Dimension von Kants Menschenwürdebegriff. Hat Kant seinen Würdebegriff tatsächlich »out of a whole cloth« (Debes)35, aus dem Nichts heraus erdacht ? Ist er nicht vielmehr ein Kind seiner Zeit und Teil der oben dargestellten Aufklärung ? Und muss es nicht möglich sein, den Bogen zu spannen von deren Würdemodellen hin zu Kant ? Erste Anhaltspunkte für ein alternatives, komplexeres und vielleicht spannenderes Szenarium liefert ein genauerer Blick auf Kants Schriften. Denn der Bruch Kants mit der Anthropologie seiner Zeitgenossen und Akzentuierung der praktischen Dimension des Würdebegriffs scheint allmählich, über mehrere Etappen hin zu erfolgen. Er ist offensichtlich das Ergebnis einer intensiven Debatte und bleibt überdies partiell. So beginnt Kants Nachdenken über Würde schon mit seinen frühen Aufsätzen und insbesondere in den Frühschriften Allgemeine Naturgeschichte des Himmels und Beobachtungen über das Schöne und Erhabene. Dieses Nachdenken führt er in über zwanzig jährlichen Vorlesungszyklen über Anthropologie und Physische Geographie fort. Kant scheint außerdem auch bestimmte anthropologische und antidualistische Gedanken seiner Zeitgenossen weiterzuführen. Auch seine Überlegungen kreisen um Themen wie: die Bestimmung und Stellung des Menschen in der Welt, seine Perfektibilität, das Verhältnis zwischen Würde, Ehre und Anmut. Wie seine Zeitgenossen befasst Kant sich zudem mit Disziplinen wie Anthro­ pologie, Kosmologie, Geologie, Naturgeschichte, Geschichts- und Gesellschaftstheorien. Auffällig ist daneben das ähnliche Vokabular. So spricht Kant vom Menschen oder der Menschheit als »Charakter«, »Zweck«, »Selbstzweck« und von seiner »Bestimmung«. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht schreibt er, der Mensch erreiche seine Naturbestimmung »nur in der Gattung, nicht im Individuum.«36 In manchen Passagen verwendet Kant »Würde« und »Charakter« zudem synonym, etwa wenn er in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt, der Charakter habe 35 Vgl. auch Remy Debes (Hg.), Dignity, a History, Oxford, Oxford University Press, 2017, Introduction, S. 3 f.: »But did Kant really construct his argument for dignity out of whole cloth ? Or were there earlier innovators of the modern concept ? If so, how did these various early modern ideas about dignity connect up to the moralized notion we use today ?« 36 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. VIII, S. 18.

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»einen inneren Wert« und sei »über allen Preis erhaben.«37 Diese Überlegungen über die Würde werden in den kritischen und praktischen Schriften, der Grundlegung, der Metaphysik der Sitten fortgesetzt. In der Kritik der Urteilskraft stellt Kant schließlich eine enge Verbindung zwischen der Würde und dem »Erhabenen« her38 und kommt unter neuen kritischen Vorzeichen auf das von manchen Zeitgenossen favorisierte Modell einer Kette der Wesen und auf die Stellung des Menschen als Zweck der Natur und der Schöpfung zurück. Die Würdethematik zieht sich somit wie ein roter Faden durch das ganze Werk. Es sei in diesem Zusammenhang auch daran erinnert, dass Kant offensichtlich eine Vielfalt von Anthropologiebegriffen ausbildet und seine Verurteilung von Anthropologie nicht alle Formen von Anthropologie zu betreffen scheint. Außer den empirischen, praktischen und pragmatischen Formen umfasst diese auch eine transzendentale Variante, ja: Einer berühmten Reflexion zur Anthropologie zufolge kann man die Kritik selbst als Selbsterkenntnis des eigenen Verstandes auch als eine solche Form von »Anthropologie« begreifen, nämlich als eine anthropologia transcendentalis: »es ist auch nicht gnug, viel andre Wissenschaften zu wissen, sondern die Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft. Anthropologia transcendentalis.«39 Diese Reflexion legt nahe, dass die Gegenüberstellung von Kritik und Anthropologie als sekundär begriffen werden kann. Sie ergibt sich offensichtlich erst aus bestimmten Konsequenzen von Kants eigener und besonderer »Anthropologie« als kritischer Selbsterkenntnis. Angesichts der manifesten Komplexität der Fragestellung stellt sich deshalb hier die Frage, ob die herkömmliche, ausschließlich praktische Perspektive auf die Würde nicht allzu unvollständig und einseitig ist, und ob man diese nicht erweitern und umkehren könnte. Könnte man nicht Kants Philosophie als eine ganz besondere Anthropologie und einen ganz besonderen Humanismus 37

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA Bd. VII, S. 292. Vgl. auch schon Sensen, »Kants erhabene Würde«, in: Brandhorst/Weber-Guskar, Menschenwürde, S. 154–177. 39 Kant, Reflexionen zur Anthropologie, M 326, AA Bd. XV, S. 395. Diese Reflexion wurde von Adickes auf das Jahr 1776, von Erdmann auf 1762–69 datiert. Norbert Hinske meint, sie stamme aus der Zeit nach 1772, und erklärt, schon 1775 sei eine pragmatische Anthropologie bezeugt. Eine ähnliche weite Auffassung findet sich in einer Nachschrift der kantischen Metaphysikvorlesung, in der Kant das »Feld der Philosophie in sensu cosmo­politico« auf »folgende Fragen zurückbringt: 1) Was kann ich wissen ? Das zeigt die Metaphysik. 2) Was soll ich thun ? Das zeigt die Moral. 3) Was darf ich hoffen ? Das lehrt die Religion. 4) Was ist der Mensch ? Das lehrt die Anthropologie. Man könnte alles Anthro­pologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen. »Kant AA Bd. XXVIII, S. 533 f., ähnlich in AA Bd. IX, S. 25. Vgl. auch den Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793, AA Bd. XI, S. 429. 38

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und Kosmopolitismus lesen, der dem praktischen und moralischen Würdebegriff und dem kritischen Unternehmen Selbsterkenntnis als Grundlage dient ? Und wäre es nicht möglich, im Ausgang von der Anthropologie der frühen Jahre und über eine kontextuelle und genealogische Erklärung von Kants Philosophie die tieferen »systematischen« Zusammenhänge besser zu fassen ? Ist dieser Umweg über die Anthropologie und Philosophie seiner Zeitgenossen nicht sogar notwendig, wenn es doch auch für Kant um die Würde und Selbsterkenntnis des Menschen als eines Vernunftwesens, Erdbewohners und Teil einer größeren Menschheit geht, und nicht einfach um die Würde eines Staatsbürgers ? Diese Umkehrung der gängigen Perspektiven könnte sicherlich helfen, den alten und vielbeschworenen Formeln der rationalistischen Ethik40 einmal etwas Neues entgegenzusetzen und den Humanismus der Aufklärung besser in seiner Besonderheit und Tiefe zu fassen. Aber sie hätte auch einen methodologischen Wert. Wenn es gelingen könnte, über die Menschenwürde als Leitbegriff den Blick auf die großen denkerischen Zusammenhänge zu öffnen, könnte man vielleicht auch das Argument selbst besser verstehen, die disparaten Denkstränge zusammenführen und diese gleichzeitig in eine unmittelbar verständliche Sprache zurückübersetzen. Und dieser Zusammenhang ließe sich vielleicht gerade deshalb herstellen, weil der Begriff Menschenwürde so grundlegend ist, dass er schon alle Bereiche der Philosophie betrifft. Facetten des Würdebegriffs

Um der besseren Rekonstruktion dieses weiteren Zusammenhangs halber sollen hier zunächst einige relevante Facetten des Würdebegriffs entwickelt werden.41 Die erste und eigentliche Bedeutung des Begriffes ist dabei – trotz seiner anthropologischen Dimension – eine gesellschaftliche. Würde bezeichnet zunächst, vor aller Übertragung dieses Modells auf das Ganze der Welt und die »Gesellschaft« aller Wesen, den sozialen Rang oder Adel, der dem Individuum und Bürger42 in seiner Gesellschaft zukommt, der ihm einen Status, 40

Debes, Dignity, a History, S. 14: »The stale rationalist mantra of philosophical ethics«. Vgl. zu diesen Facetten auch bereits Sensen, »Kant on Human Dignity reconsidered«, S. 127. 42 Der Begriff muss sich nicht unbedingt auf einen Menschen beziehen. Im weiteren Sinne kann auch eine Disziplin wie die Mathematik usw., die in der Gesamtheit des Systems einen besonderen Wert besitzt, Würde besitzen. Z. B. nennt Francis Bacon eines seiner Hauptwerke auf Lateinisch De dignitate et augmentis scientiarum, ins Deutsche übersetzt mit: Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften und spricht Kant von der »Würde« der Philosophie. 41

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eine Stellung und einen Wert verleiht und durch den er auf eine bestimmte Wertschätzung, auf Achtung und Anerkennung seitens seiner Mitbürger Anspruch erheben kann. Man erinnere sich, dass »Würde« etymologisch von althochdeutsch »Wert« abgeleitet ist43. Ihm entsprechen (mehr oder weniger) die griechischen und lateinischen Begriffe ἀξίωμα44 (Geltung, Ansehen, Wert) und dignitas und die englischen und französischen äquivalenten Formen dignity, dignité. Obiger Rang kann auch räumlich als Platz, Stellung, Standort in einer größeren Ordnung und Topik verstanden werden. Dabei enthält der Begriff, wie David Hume in seinem kurzen Aufsatz zu dem Thema Of the Dignity and the Meanness of Human Nature45 richtig herausstellt, auch ein relationales und dynamisches Element. Wenn von Würde oder aber Unwürde oder Nichtswürdigkeit die Rede ist, dann geht es um ein Verhältnis und darum, jemanden zu erheben oder aber auf seinen Platz verweisen. Diese Idee einer Überhöhung oder herausragenden Position kommt auch in den lateinischen Begriffen eminentia und excellentia zum Ausdruck, die manchmal synonym mit dignitas gebraucht werden. Würde oder einen Rang in einer Rangordnung erhält ein Individuum aufgrund seiner Geburt, seines Verdienstes, seiner Leistungen oder seines Charakters. In diesem Sinne heißt es in Zedlers Universallexikon von 1732: Dignitaet, die Ehre, Würde, Hoheit, Respect, Veneration, ist eine Qualität der Person, so von der höchsten Gewalt wegen der Verdienste zugeeignet worden, und welche eine Veneration und Ansehen zuwegen bringet, auch die gewürdigste Person von dem andern gemeinen Volcke durch verschiedene Freiheiten distinguieret.46 43 Siehe Josef Fellsches, »Würde«, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Band 3, Hamburg, Meiner, 2010, S. 3077: »Dass Würde (W.) als hoher oder höchster und unantastbarer Wert betrachtet werden kann, erhält im Blick auf die Etymologie der Wörter »Wert« und »Würde« eine aufschlussreiche Pointe. Beide stammen aus derselben Sprachwurzel, nämlich der von »werden« und »wärts«, »wert« im Sinne von »wohin, gegen etwas gewendet, zugewandt« entwickelt sich weiter zu »Wert« und »Gegenwert«. In anderer Linie wird »wert« mhd. zu »wirde« oder »wierde«, md. zu »werde«, im Sinne von »Wert, Ansehen, Ehrerweis und im 16. Jahrhundert schließlich zu Würde für den Wert eines Menschen, der in seinem Wesen, seinen Eigenschaften, einem Amt und in seinen Leistungen beruht.« 44 Vgl. die ausgezeichnete Studie von Viktor Pöschl: Würde im antiken Rom und später, Heidelberg, 1989 ; vgl. auch Kondylis, Panajotis/Pöschl, Viktor: Artikel »Würde«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 637–677. 45 Vgl. insbesondere David Hume, Of the Dignity and the Meanness of Human Nature [1757], David Hume, in: Essays: Moral, Political and Literary, hg. v. Eugene F. Miller, Indianapolis, Liberty Fund, 1985, S. 80–86. 46 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde. und 4 Suppl. Bände, Halle, 1732–54, hier Bd. VII, S. 476.

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Mit diesem Rang einher geht, zweitens, eine Pflicht (officium) und Verpflichtung, und zwar eine Pflicht, dem eigenen Selbst und genauer dem eigenen gesellschaftlichen Status gegenüber, der den Rang in einer Gesellschaft bestimmt. Somit ist Würde ein Amt oder eine Aufgabe. Es ist zum Beispiel die (zukünftige) Aufgabe eines Prinzen, seine Untertanen zu regieren. Drittens bezeichnet Würde einen Titel. Der Titel – der dem englischen »entitlement« entspricht – ist nicht mit einer Eigenschaft gleichzusetzen. Er kann zwar auf dem Individuum zugeschriebenen Eigenschaften, Vermögen, Mitteln, Talenten, auf Geburt oder auf Verdiensten beruhen, ist aber im Grunde das, wozu die Würde und Verpflichtung ein Recht verleiht. Im obigen Beispiel bietet ein Geburtstitel dem Prinzen ein Recht auf ein bestimmtes Verhalten seiner Untertanen, nämlich auf Achtung, Ehrung und Gehorsam. Der Titel sichert ihm von Anfang an eine gewisse Anerkennung und »Veneration«. Auch in einer Situation, in der er noch unvermögend ist, sein Amt vollständig auszuüben, genießt er einen Vertrauensbonus, weil angenommen wird, dass er im Laufe der Zeit in sein Amt »hineinwachsen« wird, indem er es ausübt. Insofern ist auch ein Geburtstitel nicht völlig »kontingent«, da im Prinzip mit einem moralischen Anspruch verbunden.47 Wer seine Würde einbüßt, trägt an diesem Verlust selbst die Schuld. Das Recht und Anrecht, das im Titel enthalten ist, ist ein Vorrecht, Prärogativ und Privilegium, wenn es nicht allen Mitgliedern dieser Gesellschaft gleichermaßen zukommt. Dann bedeutet es einen Rang in einer gesellschaftlichen Stufen- oder Rangordnung. Ein Titel verleiht aber nicht unbedingt nur gesellschaftliche Vorrechte ; er kann auch allgemeiner die Bedingungen formulieren, unter denen ein Individuum seine Aufgabe erfüllen kann. Im Deutschen kann das Adjektiv »würdig« auch, wie das Substantiv »Würdigkeit«, entweder durch ein Genitivobjekt oder durch die Präposition »zu« eine Ergänzung erhalten und spezifischere Verdienste anzeigen. Viertens kann Würde auch ein nach außen hin sichtbares distinktives Merkmal und »Unterscheidendes«, ein Erscheinungsbild oder Verhalten bedeuten, von dem sich die Würde nach außen hin und »im Voraus«48 zu erkennen gibt. Diese phänomenale und ästhetische Dimension von Würde ist

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Vgl. wiederum Brandhorst/Weber-Guskar, Menschenwürde und Kato/Schönring, Kant’s Concept of Dignity. 48 Der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zufolge ist ein solcher Charakter über eine »allgemeine, natürliche (nicht bürgerliche) Zeichenlehre (semiotica universalis)« zu entziffern. AA Bd. VII, S. 285.

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in den Begriffen Charakter49, dignitas50 oder decorum (griechisch: πρέπων) enthalten. Ein Charakter ist ein Prägestempel, der etymologischen Bedeutung von Charakter, griechisch χαρακτήρ, gemäß. Solche distinktiven äußerlichen Merkmale sind beispielsweise der Lorbeerkranz oder Krönungsinsignien, Krone, Zepter, Reichsschwert und Kleinodien. Auch die Mitra des Bischofs, die Amtskette des Bürgermeisters sind Insignien, die ein Amt symbolisieren. Während der Lorbeerkranz der militärischen Sieger im alten Rom eine Auszeichnung oder Belohnung für erbrachte Leistungen ist, so weisen letztere Insignien – die der Herrscher bei Amtsantritt erhielt – auf noch zu erbringende Leistungen. Die symbolische Funktion kann mit einer politischen einhergehen und der Affirmation und Sicherung der eigenen Macht dienen. Aber sie besitzt auch eine moralische Dimension. Man kann annehmen, dass dem äußerlichen Erscheinungsbild als Ganzem, über die äußeren Zeichen und Prädikate hinaus, schon ein gewisser Wert, eine gewisse Ehrenhaftigkeit (honestas), ein Anstand (dignitas, decorum) und ein moralischer Charakter innewohnt, insofern eine gewisse angemessene oder schickliche innere Haltung und Denkungsart in ihr ihren Ausdruck findet. Damit erhält der Begriff seine moralische Konnotation von Charakter und Anstand. Die Gegenbegriffe zu einer solchen »Ehrenhaftigkeit« und Anständigkeit sind »Schande« (turpitudo) und »Scham«. In Adelungs Wörterbuch heißt es in diesem Sinne: Die Eigenschaft, da etwas den Vorzügen der obern Classen in der bürgerlichen Gesellschaft gemäß ist, hoher Grad der Anständigkeit ; ohne Plural. Ernst und Würde herrschet in seinem ganzen Betragen. Die Würde des Styles, die Eigenschaft, da der Ausdruck dem verfeinerten Empfindungsvermögen der obern Classen angemessen ist.51 49 Vgl. Johann Georg Sulzer, Eintrag »Charakter (Schöne Künste)«, in: Allgemeine Theo­ rie der Schönen Künste. Bd. 1, Leipzig, 1771, S. 206–212: »Das eigenthümliche oder unterscheidende in einer Sache, wodurch sie sich von andern ihrer Art auszeichnet.« ; vgl. auch Thomas Bremer, »Charakter, charakteristisch«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Stuttgart, Metzler, 2000, Bd. 1. S. 772–798 ; Marcia Homiak, »Moral character«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 1, zuletzt abgerufen am 30. 10. 2023: »The English word »character« is derived from the Greek charaktêr, which was originally used of a mark impressed upon a coin. Later and more generally, »character« came to mean a distinctive mark by which one thing was distinguished from others, and then primarily to mean the assemblage of qualities that distinguish one individual from another.« 50 »Dignitas« leitet sich von »decet« und »decorum« her, und besitzt zunächst die neutralere Bedeutung »Angemessenheit« und »Schicklichkeit« ; diese Bedeutung findet, wie Christian Gnilka herausstellt, auch in ästhetisch-rhetorischen Kontexten Anwendung: Christian Gnilka, »Dignitas«, in: Hermes. Zeitschrift für Klassische Philologie n° 137. 2, 2009, S. 190–201. 51 Johann Christoph Adelung, »Die Würde«, in: ders., Grammatisch-kritisches Wör­

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Es ist wichtig, zuerst einmal diese Facetten der Würdemetapher und Wortgebräuche zu differenzieren, um bestimmte Missverständnisse zu vermeiden und zu einem besseren Verständnis der »übertragenen« und metaphorischen Bedeutung dieser gesellschaftlichen Würde als Menschenwürde zu gelangen. Zwar scheinen beide Bedeutungen, die eigentliche und die übertragene, einem doppelten Postulat zu entsprechen, insofern sie sowohl eine politische Stellung des Individuums als auch eine anthropologische Stellung der kollektiven Menschheit in der Welt und dem Rest der Natur gegenüber beinhaltet – wir Menschen scheinen unmittelbar dahin zu tendieren, eine besondere Stellung in beiden Bereichen, in der Welt überhaupt und in einer gegebenen politischen Gesellschaft, behaupten zu wollen. Aber zugleich wohnt dem Begriff »Menschenwürde« insofern ein metaphorisches Element inne, als dass ein gesellschaftliches Modell auf die Welt überhaupt und/oder die Gesamtheit der Wesen übertragen wird. Man könnte Menschenwürde deshalb als eine absolute Metapher im Sinne Hans Blumenbergs52 betrachten, da absolut notwendig, um sich die Welt und die eigene Stellung in ihr überhaupt vorzustellen. Denn diese Übertragung des gesellschaftlichen und politischen Modells auf die Welt macht es möglich, die Welt im Verhältnis auf das eigene Ich und/ oder die Wesen in ihrer Differenzierung, Hierarchisierung und Gleichheit zu denken und auf die Bedingungen der menschlichen Handlung in der Welt zu reflektieren.

Seine aufklärerische Deutung

Im Laufe einer langen Philosophiegeschichte haben sich vielfältige Auslegungen dieser Idee von Menschenwürde herausgebildet. Eine Originalität ihrer aufklärerischen Deutung und der Debatte um die Bestimmung des Menschen und um Kant, die im Mittelpunkt dieses Buchs stehen soll, besteht wohl darin, dass hier im direkten Rückgang auf die Idee oder Metapher diese selbst in ihren vielfältigen Facetten kreativ und neu ausgelegt werden. Versuchen wir einmal, eine grobe Skizze dieser Deutung zu zeichnen. terbuch der hochdeutschen Mundart, 4 Bde. Bd. IV, Seb-Z, Leipzig, 1793–1801, S. 1625– 1626. 52 Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1960, S. 9. Vgl. auch schon Guido Löhrer, Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants, Freiburg/München Karl Alber, 1993. Löhrer bestimmt auch schon die Menschenwürde als eine absolute Metapher im Sinne Blumenbergs, ohne aber den Versuch zu unternehmen, ihre vielfältigen Facetten zu entwickeln, vgl. insbesondere S. 27 und 227.

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Diese aufklärerische Würde betrifft einen Rang des Vernunftwesens Mensch in der Welt.53 Dieser Rang wird weder als ein statisches Sein noch als eine Stellung des Menschen als Substanz oder Wesen in einer ontologischen Stufenreihe oder »Ständegesellschaft« betrachtet, wie das in früheren Traditionen und einer bestimmten platonisch-christlichen Auslegung von Würde als Gottebenbildlichkeit als Wesen der Fall war. Statt einer festen Stellung bezeichnet Würde hier vielmehr eine dynamische Erhebung. Diese Erhebung erfolgt von der eigenen Stelle innerhalb eines größeren Weltganzen aus, und sie setzt die Begegnung mit diesem Weltganzen und dessen theoretische Betrachtung voraus. Offensichtlich befindet sich die Aufklärung deshalb auch in einem gewissen Abstand von den Auslegungen des 17. Jahrhunderts.54 Sie entwickelt den neuen Gedanken, dass die Welt selbst eine »göttliche«, erhabene und erhebende Dimension besitzt und dass der Mensch sich gerade insofern als Vernunftwesen über diese Welt hinaus erheben kann, als dass er den Platz und Standort eines sinnlichen oder ästhetischen Betrachters der Welt einnimmt. Über eine besondere ästhetische Form von Vernunft und Empfindung kann er eine höhere, über diese Welt hinausgehende Ordnung, ein Zweckganzes begreifen oder diese Ordnung zwar nicht deutlich einsehen, aber doch in ihrer Schönheit und Erhabenheit genießen. Im Allgemeinen schließt dabei der Begriff von Würde und Erhebung die klare Trennung und Gegenüberstellung von zweierlei Welten aus, wenn er auch die Ableitung von und den Schluss auf den Begriff eines Gottes und Schöpfers einer höheren Ordnung erlauben mag. Denn die Würde als Vermögen einer Erhebung über die sinnliche Welt hinaus ist hier durch die Sinnlichkeit selbst bedingt. Sie ist eine intrinsisch menschliche, eine Menschenwürde. Diese Erhebung vermittelt dem Menschen das Bewusstsein eines Amtes, einer Aufgabe, die in einer besonderen Verantwortung und Herrschaft über den Rest der Schöpfung liegt. Dieses Amt, das von den Aufklärern auch als eine 53

Vgl. Pöschl, »Würde«, S. 643: »Weil [der Begriff] eine herausgehobene Stellung innerhalb des römischen Gemeinwesens bezeichnet, kann er auf die herausgehobene Stellung des Menschen im Kosmos übertragen werden.« 54 Insbesondere gibt sie die cartesianische These auf, dass man die eigene Gottesähnlichkeit, Seelensubstanz und Würde durch den Blick nach innen und Ausklammerung des Weltbezugs etablieren könnte. Bei Descartes wird »Gotteswürde«, sprich die inkommensurable Größe, Erhabenheit und Vollkommenheit Gottes über die eigene Unvollkommenheit denkend erkannt. René Descartes, Méditations métaphysiques, III: »Il faut à la fin parvenir à une première idée dont la cause soit comme un patron ou un original dans lequel toute la réalité ou perfection soit contenue formellement […] de cela seul que Dieu m’ait créé il est fort croyable qu’il m’ait en quelque façon produit à son image et semblance et que je conçois cette ressemblance dans laquelle l’idée de Dieu se trouve contenue par la même faculté par laquelle je me conçois moi-même.«

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Bestimmung bezeichnet wird, ist ein konstitutiv unbestimmtes. Der Mensch muss sich um seinen Vorzug und Sonderstatus in der Schöpfung in einer beständigen Anstrengung selbst verdient machen. Damit ist seine Aufgabe sowie seine Entwicklung eine unabgeschlossene und nicht abschließbare.55 Seine Bestimmung kann der Mensch nie vollständig erreichen. Denn diese ist per definitionem ein beständiger Aufschwung hin zu einem höheren Ziel und einer höheren Vernunftordnung. Als Vermögen betrifft sie statt einer schon bestehenden Wirklichkeit immer bis zu einem gewissen Grad bloße Möglichkeiten.56 Diese Bestimmung ist mit der Aussicht auf eine höhere und künftige moralische Weltordnung verbunden, die eine Fortsetzung der irdischen darstellt. Sie ist eine Hoffnung auf oder ein Vernunftglaube an einen künftigen Fortschritt, der eigentlich vor allem einer denkerischen Voraussetzung entspricht. Gleichzeitig gibt sie der eigenen Würde in dieser Welt ihr höheres Maß und ihre Richtung. Diese Aussicht auf eine höhere, über diese Welt hinausgehende Weltordnung eröffnet sich dem Menschen zum einen über die Begegnung mit der Welt in ihrer erhabenen Göttlichkeit ; zum anderen aber zeigt sie sich auch über die Sicht auf den eigenen empirischen und innerweltlichen Charakter und den Vergleich des eigenen empirischen Selbst mit anderen empirischen Wesen, Pflanzen und Tieren. Im Vergleich mit letzteren verfügt der Mensch offensichtlich mit dem grundlegenden Vermögen, neue Vermögen zu ent­ wickeln, auch über einen bestimmten Reichtum an Mitteln, die neue Zwecke 55

Man kann sich nun natürlich auch vorstellen, dass ein Individuum die ihm aufgetragene Leistung gar nicht zu erbringen und das ihm aufgetragene Amt nicht zu erfüllen versucht. In diesem Falle erweist sich die Rede von Würde in der Tat insofern als Leerformel und »hohle Hyperbel«, als dass der eigene Wert verneint wird. Schopenhauer prägt bekanntlich den Ausdruck von der Würde als »hohler Hyperbel«. An anderer Stelle bezeichnet er sie als »Schibboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten«: »Allein dieser Ausdruck ›Würde des Menschen‹, einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schibboleth [= Erkennungszeichen] aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck ›Würde des Menschen‹ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehn und demnach damit zufriedengestellt sein würde«, Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke (Grisebachsche Ausgabe in sechs Bänden), Bd. III, Leipzig, Reclam, 1920, S. 523 u. 546. 56 Charles Taylor stellt die moderne Aufwertung dieses Vermögens in Politics of Recognition (S. 41 f.) richtig heraus: »Thus, what is picked out as worth here, is a universal human potential. This potential, rather than anything a person may have made out of it, is what ensures that each person deserves respect. Indeed, our sense of the importance of potentiality reaches so far that we extend this protection even to people who through some circumstance that have befallen them are incapable of realizing their potential in the normal way – handicapped people, or those in a coma, for instance.«

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bestimmen. Er weist eine besondere Tauglichkeit zu allerlei Zwecken auf, die ihn dazu befähigt, sich eigene Zwecke zu setzen. Dieser Charakter ist ein sich durch und über die Betrachtung der Welt enthüllendes Zeichen. Er ist aber weniger als Auszeichnung und Distinktion für vollbrachte Leistungen zu deuten, denn als eine noch selbst vom Menschengeschlecht als Klasse betrachtete, hervorzubringende Distinktion: ein äußeres Erscheinungsbild und Betragen, das dem eigenen Selbstverständnis und »Klassenbewusstsein« entspricht. Durch diesen Charakter hebt sich die Menschheit von der Tierheit ab, affirmiert und sichert die eigene Überlegenheit über den Rest der Schöpfung. In diesem Sinne sind gewisse materielle Bedingungen wie angemessene Wohnverhältnisse, Kleidung, ausreichend Nahrung usw. menschenwürdig. Menschenunwürdig hingegen sind Bedingungen, die dem eigenen Selbstverständnis nicht entsprechen und auch die eigene Herrschaft über die Schöpfung gefährden. Dieser Charakter entspricht hier einem Zeichen, der dem Menschen ein Zweckganzes, den eigenen Zweck und seine Bestimmung »im Voraus« bedeutet – weshalb Würde auch nicht eine Differenz zwischen Mensch und Tier ist, die empirisch belegt und bewiesen werden oder überhaupt Gegenstand einer empirischen Unterscheidung oder Klassifikation sein könnte.57 Das Zeichen ist ein Titel und ein Wert, der unmittelbar nach Ehre und Anerkennung verlangt und Rechte begründet. Würde ist eine äußere allgemeine Ehrbarkeit, die es im Namen eines neuen aufklärerischen Humanismus, Toleranz- und Rechtsgedanken vor aller vollbrachter Leistung staatlich zu respektieren und zu schützen gilt – ohne dass man dafür ein von diesem Titel unterschiedenes wahres inneres Selbst erkennen oder beurteilen dürfte, könnte oder müsste. In gewisser Hinsicht gebührt einfach schon dem äußeren Erscheinungsbild Ehre und Respekt. Wer äußerlich sichtbare menschliche Züge trägt, muss auch schon wie ein Mensch behandelt werden, ob und in welchem Maße nun seine Vernunft ausgebildet sein mag und er diesem menschlichen Ideal tatsächlich entspricht. Mit dem Titel und der Pflicht gehen Rechte einher. Die ersteren Menschenpflichten sind in dieser Menschenwürde viel stärker präsent als in unserem heutigen Begriff, der Menschenwürde vor allem mit Menschenrechten assoziiert. Diese aufklärerischen Begriffe von Menschenwürde entwickeln sich aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den großen philosophiegeschichtlichen Traditionen, und insbesondere dem Platonismus, der Stoa und Ciceros Variante dieser Stoa heraus, wie im Folgenden nachgezeichnet werden soll. 57 Diese Unterscheidung zwischen Titel und vollbrachter Leistung entspricht in etwa der von Stephen Darwall vorgeschlagenen Differenzierung zwischen »recognition respect« und »appraisal respect« ; Stephen L. Darwall, »Two Kinds of Respect«, in: Ethics, Oktober 1977, n° 88, 1, S. 36–49.

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Aber dieser alte Gegensatz tritt hier zunächst zurück. Obgleich die Aufklärer auf diese Traditionen Bezug nehmen, deuten sie diese nicht von Anfang an als disjunktiv oder einander ausschließend. Ein genauerer Blick zeigt vielmehr die große Offenheit und ursprüngliche Verbindung dieser Traditionen, Schulen und Systeme, in der Aufklärung im Allgemeinen und auch bei Kant im Besonderen. Innerhalb eines neuen gemeinsamen anthropologischen Rahmens werden zunächst neue Deutungen und Synthesen dieser Traditionen vorgeschlagen, die nicht unbedingt dem entsprechen, was wir damit verbinden. Es wurde bereits angedeutet, dass die Aufklärer jene ältere Variante des Platonismus, die den Menschen über seine Teilhabe am göttlichen Intellekt und eine bestimmte Gottebenbildlichkeit und Würde in einer metaphysischen Stufenordnung und Ständegesellschaft, einer Abfolge und Kette der Wesen58, definiert, radikal umdeuten. Indem sie Würde im Ausgang von der Stellung des Menschen in der Welt, als Selbstbestimmung und Autonomie und im Rahmen eines weiteren Weltbürgertums deuten, betonen sie die Kontinuität zwischen Platonismus und Stoa. Im Grunde geht es darum, in Rückkehr auf einen Grundgedanken der Stoa das Modell Kosmopolitismus als eine Fortführung und Vertiefung des Platonismus zu denken. Der Menschenwürdebegriff erhält seine moderne Bedeutung in diesem neuen kosmopolitischen Rahmen.

Gliederung und kurze Zusammenfassung

Der Aufbau dieses Buches ergibt sich aus dieser allgemeinen Problemstellung: In der Folge gliedert es sich in drei Teile und elf Kapitel. Der erste Teil ist der Debatte um die Würde und die »Bestimmung« des Menschen vor Kant gewidmet bzw. befasst sich mit mehreren Repräsentanten vorkantischer Positionen. Er enthält vier Kapitel über Mendelssohn (1), Herder (2), Garve (3) und deren Diskussion über ästhetischen Humanismus (4) und zeigt, inwiefern diese Autoren innerhalb einer gewissen wolffianischen Schulphilosophie die anthropologischen und kosmologischen Grundlagen für neue Weltbürger- und Würdemodelle schaffen und zugleich das praktische und ästhetische Programm zur Bildung des Menschen und Weltbürgers neu denken. Dabei richten sich Mendelssohn und Herder noch stärker an der platonischen als 58 Vgl. insbesondere die klassische Studie von Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea, Cambridge, Harvard University Press, 1936. Lovejoy stellt die Bedeutung des Kette-der-Wesen-Modells für das aufklärerische Denken klar heraus: »It was in the Eighteenth century that the conception of the universe as a Chain of Being, and the principles which underlay this conception – plenitude, continuity, gradation – attained their widest diffusion and acceptance« (S. 183).

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an der stoischen Tradition aus. Das »neuplatonische« Würdemodell Mendelssohns, des »Berliner Sokrates« und Autoren eines neuen Phaedon, erinnert an die philosophische und platonische Bedeutung, die dem theologischen Würdebegriff als Gottebenbildlichkeit oder Gottverähnlichung ursprünglich anhing (1). Es trägt aber eine Reihe von besonderen Zügen und leitet eine praktische und politische Umdeutung ein: Hier wird der eigene Adel und das aufgetragene Amt als Vernunftwesen aus der theoretischen Erkenntnis der Welt erkannt. Das kosmo-politische Novum, das die weitere Debatte prägen soll, besteht außerdem in der Verlagerung der Perspektive auf die irdische Welt als Ausgang und Horizont für die Vorstellung einer höheren, aber in Kontinuität mit der irdischen stehenden Welt und moralischen Weltordnung. Die Würde des Menschen bietet dem Menschen Maßstab und Orientierung für sein Leben in dieser irdischen Welt. Herder (2) entwickelt seinerseits im engen Dialog mit Mendelssohn eine Variante, die nicht mehr direkt vom Vergleich zwischen Mensch und Gott und von menschlicher Gottebenbildlichkeit, sondern – unter Aufnahme von Impulsen der aufklärerischen Naturgeschichte – von dem Vergleich des Menschen mit dem Tier ausgeht und zu heuristischen Zwecken das Modell einer Kette der Wesen rehabilitiert: Herder zufolge deutet der Charakter des Menschen auf eine besondere Bestimmung. Dieser ist nicht nur Weltbürger und Entdecker, sondern auch ein Wanderer zwischen den Welten. Garve (3) schließlich leitet innerhalb der gleichen naturhistorischen und praktischen Debatte die direkte Rückkehr zu einer eher stoisch und ciceronisch gefärbten Weltbürger- und Würdedoktrin ein. Die Besonderheiten dieses praktischen und ästhetischen Humanismus und seines Bildungsprogramms offenbaren sich in der von Lessing initiierten ästhetischen Debatte um Sophokles’ Tragödie Philoktet (4), die mehrere Prota­ gonisten der Bestimmungsdebatte involviert. Damit sind einige vorkantische Positionen und Entwicklungen benannt, die für Kant von großer Relevanz sind. Der zweite Teil ist Kants Entwicklung dieses Menschenwürde- und Weltbürgermodells in seiner weiteren anthropologischen Dimension gewidmet. Dieser Teil kann auch separat gelesen werden. Wie in Kapitel 5 gezeigt wird, ergibt sich Kants »sonderbare Unzufriedenheit« (Reinhold) mit seinen Vorgängern, denen er zugleich philosophisch tief verpflichtet ist, aus seiner Vorliebe für ein alternatives, eher stoisch geprägtes Weltbürger- und Würde­ modell. Diesem widersetzen sich Mendelssohn und Herder offensichtlich nicht nur auf der kritischen, sondern auch auf der anthropologischen Ebene. Während diese noch den Begriff der »Bestimmung« und eine bestimmte Vorstellung von Gottebenbildlichkeit favorisieren, räumt Kant dem Begriff »Würde« Vorrang vor dem Begriff der »Bestimmung« ein. In seinen Augen

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kann der Mensch die Zwecke der Welt nicht ganz erkennen. Trotzdem hat er aber in ihr eine Würde. Genauer: Gerade indem er darauf verzichtet, sich zu einer göttlichen und anschaulichen Einsicht in sein Wesen und Sein oder in seine Gottebenbildlichkeit zu erheben, eröffnet sich ihm die Einsicht in seinen Titel und Anspruch auf Achtung in diesem unseren irdischen Weltgebäude. Kants Mensch und Weltbürger ist somit kein Betrachter und Wanderer zwischen den Welten, wie Herder postulierte. Er ist ein Betrachter und ein rechtmäßiger Bewohner, Bürger und Gesetzgeber in dieser irdischen Welt. Im sechsten Kapitel wird dieses alternative Weltbürgermodell in größerem Detail und in seiner kosmo-geologischen Dimension dargestellt, das entgegen der gängigen Deutungsmuster schon den Hintergrund der vorkritischen und kritischen Schriften bildet, bevor Kant es in den späten praktischen und politischen Schriften explizit thematisiert. Direkter als seine Vorgänger kommt Kant auf den antiken stoischen und ciceronischen Kosmopolitismus zurück, der die Welt mit einem zweckmäßigen Gebäude und Wohnsitz, einem Gemein- und Gesetzeswesen gleichsetzt. Offenbar führt er den Versuch seines Lehrers Christian Wolff weiter, dieses alte Modell für einen neuen naturwissenschaftlichen und philosophischen Kontext fruchtbar zu machen. Kants kritische Wende ist deshalb keine plötzliche Eingebung. Sie entspricht vielmehr einer Akzentuierung der heuristischen, politischen oder praktischen Dimension dieses Kosmopolitismus-Modells. Indem Kant dem Modell die allzu theologischen Züge abstreift, die es in Wolffs Kosmopolitismus noch besaß, und indem er in dem von Wolff vorgezeichneten modernen wissenschaftlichen Rahmen zu Ciceros kosmopolitischen Grundintentionen zurückkehrt, gelangt er zu neuen kritischen und transzendentalen Einsichten. Dieses anthropologische Weltbürgermodell besitzt vielfältige Dimensionen, die Kant in den Folgejahren weiterentwickelt. Seine in zwei frühen Aufsätzen entwickelten Gedanken über menschliche Menschenrassen verstricken ihn im Jahre 1786 in eine tiefe Kontroverse mit Georg Forster. Forster, der Weltumsegler und Revolutionär, der die Menschenwürde zu einem Leitbegriff seines Denkens erhebt und in Kant einen Mitstreiter im Kampfe für Recht und Gleichheit sieht, formuliert hellsichtige und tiefgreifende Einwände gegen Kants anthropologische Menschenwürde, dessen Anwendung des Prinzips Angemessenheit auf die Menschenrassen, dessen Auslegung des Kette-der-Wesen-Modells und Vermengung moralischer und wissenschaftlicher Perspektiven. Diese Einwände stoßen nicht auf taube Ohren. Wie hier argumentiert werden soll, bewegen sie Kant offensichtlich zur Relativierung bestimmter früherer rassistischer Thesen und Aufgabe seiner genealogischen Perspektive zugunsten einer bescheideneren, reflexiven.

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In der Kritik der Urteilskraft führt Kant diese Gedanken im Sinne einer besseren anthropologia transcendentalis oder eines weiteren, ästhetisch zu fassenden Humanismus aus. Zwar spiegelt die »reflexive« Zweckmäßigkeit der Welt und das, was ich in ihr als eigene Bestimmung, als Würde und Charakter zu erkennen glaube, eine Quelle in der eigenen Vernunft ; aber dennoch setzt eine solche Spiegelung zunächst die Betrachtung der Welt und einen ganz besonderen Weltbegriff voraus. Wie Kant mit Blumenbach argumentiert, muss man sich eine Welt- und Stufenordnung vorstellen können, die der Menschheit einen besonderen Charakter und eine Stellung als Haushälter zuweist. Weil ihm aufgegeben ist, die Natur zu vollenden, darf er auch über Tiere und Pflanzen als »Sachen« und »Mittel« zu den eigenen Zwecken verfügen. Diese menschliche Würde besitzt außerdem eine ästhetische Komponente. Sie ist eine Empfindung oder ein Gefühl des eigenen Selbst, das in der Erhabenheit des Weltgebäudes einen höheren und absoluten Maßstab findet. Der dritte Teil betrifft die praktischen Dimensionen dieses Menschenwürdebegriffs. So befasst sich das neunte Kapitel mit Kants ambivalenter Einstellung dem alten römischen Würdebegriff gegenüber. Einerseits nimmt Kant, der mit dem alten hierarchischen Ständemodell, mit Ungleichheiten und Ciceros Tugendethik abschließt und die personale Menschenwürde in eine Vernunftwürde verwandelt, eine Zerlegung und Demontage des alten Würdebegriffs vor. Andererseits aber erreicht er durch eine neue Art der Systematisierung, die die Reflexion auf die Menschheit als einen abstrakten und ideellen Vernunft- und Gesetzesstaat voraussetzt, eine Klärung des alten kosmopolitischen Gedankens und seiner naturrechtlichen Begründung. In Kapitel 10 geht es um die methodologischen systematisch-populären Besonderheiten von Kants Philosophie der Menschenwürde und um konkretere Fragen, die er in diesem Zusammenhang berührt. Es zeigt eine neue moralische Stufenordnung und besondere Dynamik auf, in der die negative Einsicht in die Nichtswürdigkeit des Verbrechers und Lügners eine positive Einsicht in die eigene Würde als rechtlicher Bürger und jene Vorstellung und Erhebung des Gemütes bedingt, die für die moralische Bildung, Tugend und Humanität eigentlich relevant ist. Kapitel 11 befasst sich mit der Debatte zwischen Kant und Schiller. Letzterer teilt zwar zentrale Grundansichten mit Kant, kehrt aber auch einige Schwierigkeiten hervor, die sich aus der Abweichung vom Wortgebrauch und von dem alten römischen Würdebegriff ergeben. In Schillers Augen bedeutet Kants Menschenwürde »falsche Dignität«, da sie auf Zwang statt auf innerer Stimmigkeit gründet. Schiller stößt sich wie sein Lehrer Garve am Mangel an Popularität, der Kants Würdebegriff anhafte, an dessen Abweichung vom Wortgebrauch und von dem alten römischen Würdebegriff. Er hebt hervor,

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dass Kants Begriff die eigenen Ansprüche nicht einlöst. Kants Dignität setzt Schiller eine alternative Auslegung Ciceros und einen alternativen holistischen Humanitätsbegriff entgegen, der Würde mit Anmut verbindet. Diese historische Rekonstruktion versteht sich als eine Skizze einer bestimmten Problemkonstellation, eines aufklärerischen Humanismus und eines dialogischen Netzwerks um Kant, die präzisiert und ausgeführt werden könnte. Es wäre durchaus möglich und fruchtbar, Figuren wie Bonnet, Lavater, Reimarus, Tetens, Goethe oder auch späteren Autoren wie Fichte, die Kants weltbürgerliche und naturrechtliche Deutung fortsetzen59, mehr Raum zu geben. Dasselbe gilt für den weiteren europäischen Kontext und Ideentransfer, insbesondere Rousseau, die britischen und schottischen Philosophen (Shaftesbury, Burke, Smith …) betreffend und für die popularphilosophische Ausrichtung dieser aufklärerischen Debatte. Der direkte Ausgangspunkt der Popularphilosophen sind oft die konkreten Fragen hinsichtlich der Würde, die Diskriminierung, Rassen, Frauenwürde, Anfang und Ende des menschlichen Lebens, Selbstmord und würdevolles Sterben, Strafe, Folter und Todesstrafe und Tierwürde umfassen. Diese eröffnen zahlreiche thematische Per­ spektiven, die man ebenfalls vertiefen könnte.

59 Vgl. u. a. Pöschl/Kondylis, »Würde« ; Brandhorst, »Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde« ; van der Pfordten, »Menschenwürde« ; Sandkühler »Menschenwürde und Menschenrechte«.

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TEIL I VOR K ANT

Kapitel 1 Homoiosis theo: Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen Es wäre falsch zu glauben, dass die deutsche Aufklärung einen modernen Würdebegriff hervorbringt, indem sie sich von dem alten religiösen Modell der Würde als Gottebenbildlichkeit verabschiedet. Vielmehr zeugt die vorkantische Debatte der 1760er Jahre von einer Hinwendung zu und einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem alten Modell. Im Zuge dieser Ausein­ andersetzung kommt es offenbar zu einer Überwindung von bestimmten früheren rationalistischen Perspektiven, sowie zu einer Vertiefung und charakteristischen Wandlung der Problemstellung. Man stellt den philosophischen Kern der Imago-dei-Doktrin heraus und legt die alte Unterscheidung zwischen Abbild (εἰκών, imago) und Verähnlichung (ὁμοίωσις, similitudo) neu aus. Man verlagert die Debatte von der Theologie zurück in die Philosophie. Parallel dazu wird eine neue Verbindung von Platonismus und stoischem Weltbürgertum angestrebt. Diese Entwicklung bahnt sich schon in der vorkantischen Debatte an. In den 1760er Jahren rückt das Thema Menschenwürde in den Mittelpunkt der Berliner Aufklärung. In der Diskussion zwischen dem jungen Thomas Abbt (1738–1767) und Moses Mendelssohn (1729–1786) ist von der »Menschenwürde« oder »Würde des Menschen«1 die Rede, von der »Anordnung des Weltgebäudes«, vom »Rang, vom »Posten«, den der Mensch als »Schild­ wache« auf Erden zu bekleiden habe, und ganz besonders von seiner »Bestimmung«2 . Diese Bestimmung des Menschen betrifft nicht einfach den Weg zur Glückseligkeit, sondern den »bestimmten Platz für den Menschen in der Beziehung auf das ganze angeordnete Weltgebäude«. Es scheint notwendig, die »schwere«, aber auch »erhebliche« Frage nach der Stellung, dem Platz, der Bestimmung des Menschen im Kosmos ganz neu zu stellen. Die Bestimmung des Menschen ! Soll dis so viel heißen: wie sich der Mensch zu diesem oder jenem Verhalten, um glücklich zu werden, bestimmen soll ? oder 1 Vgl. beispielsweise Mendelssohn, Phaedon, Jubiläumsausgabe, Bd. 3.1, S. 80. Im Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing spricht Mendelssohn des Weiteren von der »wahren Würde der Menschlichkeit«, die es gelte, nicht mit Füßen zu treten (Jubiläumsausgabe, Bd. 2, S. 98). 2 Zum Gesamtkontext dieser Debatte und Mendelssohns Position vgl. insbesondere die Studien, Sammelbände und Aufsätze von Booher, Brandt, D’Alessandro, Jannidis, Macor, Pollok, Printy, Schwaiger.



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Vor Kant · Kapitel 1

soll es heißen: der bestimmte Platz für den Menschen in der Beziehung auf das ganze angeordnete Weltgebäude ? Nach der letzten Bedeutung wird die Beantwortung der Frage schwerer. Doch dieses schadet nichts, meine Frage ist auch erheblicher.3

Mit dem Begriff der Bestimmung greift Abbt auch auf ein theologisches Vokabular zurück.4 Auslöser der Diskussion zwischen den beiden Freunden ist die Schrift des protestantischen Theologen Johann Joachim Spalding von 1748 über Die Bestimmung des Menschen.5 In dieser Schrift, die im 18. Jahrhundert auf ungeheure Resonanz stößt6, knüpft Spalding an den biblischen Gedanken von Würde als progressio, Gottebenbildlichkeit und Gottverähnlichung, an. Der biblischen Imago-dei-Doktrin gemäß scheint er im Menschen ein »Ebenbild Gottes« zu sehen. Während Spalding aber die Frage nach der Bestimmung noch in einem religiösen Sinne deutet, tragen Mendelssohn und Abbt sie auf einem neuen philosophischen Terrain aus. Abbt äußert gewisse philosophische »Zweifel« gegenüber dem Ansatz Spaldings, die er in mehreren Rezensionen, Briefen und in einem Aufsatz mit dem Titel Zweifel über die Bestimmung des Menschen niederlegt. Er merkt an, dass Spaldings Antwort auf diese Frage und denkerische Konsequenz und Redlichkeit noch einer genaueren Prüfung bedürfen: Meine Bestimmung ! Diese erforschen, den Rang des Menschen in der Welt ausfinden, seine Berührung der Räder an der großen Maschine ausspähen, die Verbindung seiner Auftritte mit dem Inhalte des großen Schauspieles und besonders mit dem fünften Akte ergründen: dis sollte, deucht mir, der wahre und eigentliche Inhalt dieser Schrift sein.7

Diesem Zweifel Abbts versucht Mendelssohn im gleichen Jahr in einer Schrift mit dem Titel Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend zu begegnen. Beide Aufsätze erscheinen 1764 zunächst anonym in den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Im Jahre 1767 folgt Mendelssohns Dialog Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Mit dieser Neufassung des platonischen Dialogs scheint Mendelssohn uns daran erinnern zu wollen, dass wir zur Einsicht in die Würde oder die Bestimmung des Menschen des Christentums nicht unbe3 Thomas Abbt, Zweifel über die Bestimmung des Menschen, abgedruckt in: Moses Mendelssohn, Jubiläumsausgabe, Bd. 6.1, S. 9–19, hier S. 11. 4 Vgl. insbesondere Laura Anna Macor, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt, 2013. 5 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski, Dennis Prause. Kritische Ausgabe, Tübingen, Mohr Siebeck, 2007. 6 Zwischen 1748 und 1784 wurde das Werk dreizehn Mal aufgelegt. 7 Abbt, Zweifel, S. 9.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

dingt bedürfen und dass Spalding selbst auf ein Modell zurückzugreift, das seine Wurzeln in der Philosophie hat. Tatsächlich geht die Idee von Würde als Gottebenbildlichkeit, als Abbild (εἰκών, imago) und Verähnlichung (ὁμοίωσις, similitudo) ursprünglich auf die Antike und auf Platon zurück, bevor sie in die Bibel und in die Offenbarungsreligionen Eingang fand. Platon zufolge besteht diese Gottebenbildlichkeit eigentlich in einer »Gottverähnlichung«, in einem »Gott so gleich werden wie möglich«: ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν8. Aber dieser Platonismus scheint zugleich moderne Züge zu tragen, mit denen Mendelssohn auf die philosophischen und kosmopolitischen Impulse seinen Freundes Abbt reagiert. Im Ausgang von wolffianischen Ansätzen entwickelt er einen ästhetischen Platonismus und Kosmopolitismus: durch die genießende Betrachtung der Zweckmäßigkeit und Schönheit der Welt erhebe sich der Mensch zur praktischen Einsicht in sein Amt. Diesen ästhetischen Kosmopolitismus veranschaulicht der von Mendelssohn im Phaedon inszenierte Sokrates. Gerade als Mensch und sinnliches Wesen besitzt dieser ein Vermögen der Vervollkommnung, der Gottverähnlichung und Erhebung und eine Würde. Er ist ein Weltbürger in und für diese Welt. Diese für die Problemkonstellation der Aufklärung bedeutende Synthese von Platonismus und Kosmopolitismus soll im Mittelpunkt dieses ersten Kapitels stehen. Zunächst sollen kurz der Kontext dieses Dialogs und die Ansätze Spaldings und Abbts nachgezeichnet werden. Im zweiten Teil soll Mendelssohns Versuch einer Klärung und Synthese diskutiert werden, wie sie Mendelssohn in seinem ersten Aufsatz Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend und dann detaillierter im Phaedon darlegt. Im dritten Teil sollen einige mit der Würde verbundene konkrete Implikationen dieser Doktrin angesprochen werden, die in Mendelssohns popularphilosophischem Ansatz eine besondere Bedeutung besitzen.

Spalding: Erhebung, Progression, Gottverähnlichung

Mit seiner Bestimmung des Menschen bezweckt Spalding die Vermittlung des rechten Geistes des Protestantismus.9 Ihm geht es um eine Erhebung des Menschen und um ein Heil, das dieser in einer richtig verstandenen Religion finden könne. Von einer solchen apologetischen Zielsetzung zeugt Spaldings 8 Platon,

Theaitet 176ab. Vgl. insbesondere Michael Printy, »The Determination of Mankind: Johann Joachim Spalding and the Protestant Enlightenment«, in: Journal of the History of Ideas, n° 74.2, 2013, S. 189–212. Über die Theologie der Aufklärung immer noch Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, insbesondere Kapitel 2: »Die führenden Neologen«, S. 61–143. 9

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Rede von der »Unsterblichkeit« als Progression, Fortdauer und Wachstum ins Unendliche, hin zu einem Leben in einer anderen Welt: »Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind.«10 Allmählich beginnt das narrative Ich in Spaldings Erzählung, eine Ordnung, Erhabenheit und Schönheit der Welt wahrzunehmen, die in der irdischen Existenz beginnt und sich in der diesseitigen fortsetzen muss. Dieser Blick führt es in einer Reihe von Stationen vom sinnlichen und geistigen Vergnügen zur Begegnung mit Gott und Einsicht in wahre Tugend, Religion, Unsterblichkeit. Das Individuum entdeckt »Triebe und Fähigkeiten« in sich, »zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmütig und billig ist«11 ; Triebe, die sich lediglich auf andere Wesen und deren Bestes beziehen und die ihm bedeuten, »die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, die [ihn] so angenehm rühret, solle »unveränderlich ein Gegenstand seiner ernstlichen Bestrebungen und [seiner] […] eigenen Glückseligkeit« sein.12 Es erkennt nun, dass es »zu einer ganz anderen Klasse von Dingen« gehört als jene sichtbaren Dinge, die vor seinen Augen entstehen, sich wandeln und vergehen ; und dass diese nicht die Absicht seines Daseins erschöpfen können. Da es »für ein anderes Leben gemacht« ist, kann die gegenwärtige Zeit »nur der Anfang«13 seiner Dauer sein. Die Aussicht in seine Unsterblichkeit ist eine beständige »Progression«. In diesem Gedanken von Progression ist ein gewisser Gedanke von Gottebenbildlichkeit enthalten, der im Christentum aufgenommen wurde. Dem Genesisbericht zufolge hat Gott den Menschen »in seinem Bilde, nach seinem Gleichnisse« geschaffen. In dieser Ebenbildlichkeit besteht die besondere Würde des Menschen in der Schöpfung und aus ihr lassen sich Verantwortung und Herrschaftsanspruch des Menschen über die Schöpfung ableiten. Lasset uns Menschen machen in unserem Bilde, nach unserem Gleichnis ; und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über das Gevögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das sich auf der Erde regt ! Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn ; Mann und Weib schuf er sie.14

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Siehe Spalding, Die Bestimmung des Menschen, 1748, S. 20. Ebd., S. 8. 12 Ebd., S. 11 f. 13 Ebd., S. 22. 14 Vgl. Genesis I, 26 und 27. Als Einstieg zu der umfassenden theologischen Literatur zum Thema Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit u. a. Ulrich H. J. Körtner, »Über Menschenwürde im Christentum aus evangelischer Sicht«, in: Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Jan C. Joerden, Eric Hilgendorf und Felix Thiele, Berlin, Duncker & Humblot, 2013, S. 321–349. 11



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

In der christlichen Tradition wurde ab Irenäus von Lyon zwischen Gottähnlichkeit oder Gottverähnlichung, ὁμοίωσις, und dem Ebenbild oder Abbild, εἰκών, imago, unterschieden. Dieser theologischen Differenzierung zufolge bezeichnet Abbild die bleibende und unverlierbare Größe ; die Ähnlichkeit hingegen kann verloren gehen und ist in der Tat verloren gegangen. Adam sei zwar zum Abbild und zur Ähnlichkeit Gottes erschaffen, habe aber durch den Sündenfall diese Ähnlichkeit verloren und sich von göttlicher Unvergänglichkeit und Vollkommenheit entfernt. Die Angleichung an Gott wird daher in einer langen platonisch-christlichen Tradition, die von Irenäus von Lyon über Clemens von Alexandria zu Origenes und Augustinus reicht, zu einem hohen menschlichen Ziel. Gottverähnlichung kann über die Nachahmung oder »Nachfolge« Christi, dem »Bild des unsichtbaren Gottes«15 erfolgen. Weil ihre Möglichkeit aber zugleich durch die göttliche Gnade und den Glauben bedingt ist, wird sie im lutheranischen Protestantismus radikal in Frage gestellt. Luther vertritt bekanntlich die These, der Mensch habe mit der Erbsünde seine Würde und Gottähnlichkeit verloren16 und könne sie nicht aus eigener Kraft wieder herstellen. Ihm sei deshalb die Möglichkeit der Gottverähnlichung (ὁμοίωσις) und Vervollkommnung aus eigenen Kräften versagt.17 Spalding scheint nun richtungsweisend für die Folgezeit diese Absage zurückzunehmen und zu dem Gedanken der ὁμοίωσις und Progression des Menschen zurückzukehren.18 Sein Progressionsgedanke beruht auf der Annahme, 15

Brief des Paulus an die Kolosser, 1, 15. Anselm Schubert, Das Ende der Sünde: Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2002. Schubert zeichnet im Detail nach, wie Luthers Doktrin in der protestantischen Anthropologie des 17. und 18. Jahrhunderts in eine Krise gerät, die die Thesen von der Natürlichkeit und Akzidentialität der Gottebenbildlichkeit einerseits und die Imputation der Erbsünde andererseits betreffen. Er zeigt, wie in den 1740er Jahren im Umkreis der Halle’schen Theologie, bei Johann Franz Budde und Siegmund Jakob Baumgarten verschiedene Traditionsstränge »der dynamisch-föderalen Gottebenbildlichkeit und der Erbsündekritik« zusammentreffen (S. 227) ; so entstehe eine »Anthropologie, in der der Mensch zwar aufgrund der Vererbung moralisch und erkenntnismäßig geschwächt, aber in der Lage« sei, »sich durch eigene Anstrengung selbst zu vervollkommnen und so seine Gottebenbildlichkeit sukzessive zu erwerben« ( ebd.). 17 Zur Begründung seiner Rechtfertigungslehre (hominem iustificare fidem) stützt sich Luther insbesondere auf den Brief an die Römer, III, 28: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« Im gleichen Brief beruft er sich weiterhin auf III, 23: »Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen«. Vgl. insbesondere Martin Luther, Disputatio de homine, 1536. Vgl. auch Oswald Bayer, »Martin Luther’s Conception of Human Dignity«, in: Cambridge Handbook on Human Dignity, S. 101–107. 18 Georg Raatz hat die Originalität und Fruchtbarkeit von Spaldings Würdegedanken innerhalb des Protestantismus richtig herausgestellt. In einer genauen Analyse 16

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der Mensch könne und solle seine natürlichen Vermögen selbst entwickeln ; er könne und müsse sich in einem unendlichen Prozess zu Gott aufschwingen, Einsicht in die Ordnung der Dinge und seinen eigenen Rang innerhalb dieser Ordnung erlangen. Der Glaube selbst und seine Umsetzung in heilige Werke setzen eine bestimmte praktische und lebhafte Form von Erkenntnis und Gewissheit voraus, die wiederum auf persönlicher Erfahrung und Empfindung gründet, die dem Menschen  – jedem Menschen  – eine Begegnung mit Gott und zugleich die Erfahrung eigener Progression und Unsterblichkeit gewährt. Und diese Begegnung mit Gott und die eigene Gottverähnlichung erfolgt Spalding zufolge über die Betrachtung der Welt. Mit dieser These positioniert sich Spalding nicht nur auf dem Terrain der Theologie, sondern auch in der Philosophie. Er übt scharfe Kritik an den herkömmlichen philosophischen Gottesbeweisen, da diese noch nicht leisten, was sie vorgeben, wenn sie nur philosophisches Räsonnement sind. Aufgrund ihrer fehlenden Anschaulichkeit oder ihrer »Abstraktion«, wie das neue aufklärerische Schlagwort lautet, können diese ihren eigentlichen, sprich apologetischen Zweck verfehlen.19 Anders ausgedrückt: Sie ermangeln der Bildlichkeit, der es zur Gottverähnlichung bedarf. Wenn alleine geführt, mögen diese Beweise wohl eine bestimmte symbolische Gewissheit erzeugen. Sie bringen aber noch nicht jene anschauliche Gewissheit hervor, die zur eigentlich relevanten lebhaften und praktischen Vernunfterkenntnis Gottes führt. Im »Schlußgedanken« der Ausgabe von 1794 erinnert sich Spalding rückblickend, wie sein christlichen Unterricht »zum Teil mit ebenso unverständlichen Gedächtnisformeln als unfruchtbaren Spitzfindigkeiten vermengt und überladen« gewesen sei.20 Diese Abwertung der metaphysischen Beweise bedeutet eine klare Absage an eine gewisse »statische« Substanzmetaphysik, die von der Annahme ausgeht, dass das Vernunftvermögen selbst, ohne die Sinnlichkeit, dem Menschen schon ein Maß und eine methodische Richtung zur Erkenntnis seiner Bestimmung geben könne. Sie betrifft zunächst beschreibt er, wie Spalding in Abkehr von Luther an den Platonismus und seinen Gottebenbildlichkeitsgedanken anknüpft. Vgl. Georg Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung: eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen«, Tübingen, Mohr Siebeck, 2014, VI, 4. Anthropologie der Menschenwürde, S. 469–481, insbesondere S. 479: Spalding habe über Shaftesbury »den Gottebenbildlichkeitsgedanken indirekt integriert. […] Insofern die Gottverähnlichung sich als Prozess der Moralität und Religion resp. Unsterblichkeit vollzieht, steht sie auch bei Spalding in einem systematischen Zusammenhang mit seinem Wert- und Würdekonzept.« 19 Brandt stellt richtig die lebenspraktische, gegen die gelehrte Schulphilosophie gerichtete Stoßrichtung des Arguments heraus, siehe Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Einleitung und Kapitel 1, S. 63. 20 Spalding, Die Bestimmung des Menschen, S. 219.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

den ontologischen, eigentlich »metaphysischen« Beweis oder »preuve par les effets«21 des Cartesianismus, der annimmt, das eigene Selbst könne sich durch Abwendung von der Welt und Ausklammerung des Weltbezugs als eine denkerische und göttliche Substanz, als eine Vernunftseele und als ein Wesen erkennen, dessen Platz und Stellung in der Welt bestimmten göttlichen Absichten entspräche. Außerdem scheint aber Spalding auch Wolffs kosmologischen Beweis, der die Notwendigkeit der Welt aus ihrem Zufall ableitet, in seiner demonstrativen Beweiskraft relativieren zu wollen. Spalding stützt sich auf den neuen Gedanken, dass sich die Erkenntnis Gottes zunächst auf einer Rezeptivität und Empfänglichkeit für das Wahre und Gute gründet, das sich in der Erhabenheit und Schönheit der Welt dem Einzelnen für den Verstand fasslich und für den moralischen Sinn anschaulich und eindringlich darbietet. Diese Erkenntnis beginnt mit einer persönlichen Erfahrung, die für alle Menschen, einschließlich der Philosophen, möglich und notwendig ist. Die Begegnung mit Gott kann nur über das Ich, über eine persönliche Suche und persönliche Zweifel, eine Erschütterung und den individuellen Aufstieg, die individuelle Gottverähnlichung erfolgen. Die Eingangsfrage lautet nicht und darf nicht lauten, ob und warum es Gott gibt, sondern: »warum ich da bin und was ich vernünftigerweise werden soll«.22 Sie betrifft den richtigen Weg, der mich selbst über die Betrachtung der Welt und gleichzeitige Einsicht in meine eigene göttliche Würde zum rechten Geiste des Christentums führt. Die Abwertung der allzu »abstrakten« ontologischen und kosmologischen Gottesbeweise geht deshalb hier mit der Aufwertung des physikotheologischen Gottesbeweises einher. Der physikotheologische Beweis setzt sich bekanntlich zunächst die Demonstration der Existenz oder Attribute Gottes aus der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur zum Ziel. Seit dem 17. Jahr21 Descartes »ontologischer« Beweis ist im Vergleich zum physikalischen und physikotheologischen Beweis metaphysischer Natur: Indem ich mich durch Abwendung von der Welt und Einkehr in das eigene Ich, als eine denkerische Substanz erkenne, werde ich auf die Existenz eines ens perfectissimum geleitet, einer Substanz, die dieses Attribut in größerer und größter Vollkommenheit besitzt. Dadurch weiß ich auch, dass ich den Stempel dieses göttlichen Schöpfers und Handwerkers (»la marque de l’ouvrier«) in mir trage. Dieser Beweis, den Descartes in seiner dritten Meditation métaphysique ausführt, trägt zugleich die Spuren eines alten Musters: in dem Proslogion von Anselm von Canterbury aus dem 11. Jahrhundert heißt es schon: Gott ist etwas, woüber nichts Größeres gedacht werden kann (aliquid quo nihil majus cogitari possit). Hier schon wird »Gotteswürde«, sprich die inkommensurable Größe, Erhabenheit und Vollkommenheit Gottes über die eigene Unvollkommenheit denkend erkannt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, nimmt dieses alte Muster in der Aufklärung neue Formen an. 22 Spalding, Die Bestimmung des Menschen, Einleitung, S. 3.

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hundert erlebte er mit den Fortschritten in der Naturphilosophie einen gewaltigen Aufschwung. Zu den englischen Adepten von Physikotheologie zählten Figuren wie Robert Boyle, Henry More, Shaftesbury, David Hume und John Ray.23 Charletons Abhandlung The Darkness of Atheism dispelled by the Light of Nature von 1652 trug erstmals den Untertitel A Physico-Theological Treatise. Man sah in diesem Beweis eine notwendige Ergänzung der restlichen Beweise, denn die physikotheologische und teleologische Betrachtung der materiellen Welt in ihrer zweckmäßigen Einrichtung, Vollkommenheit, Vielfalt und Schönheit weise im Vergleich zu den letzteren den Vorteil größerer Anschaulichkeit, Allgemeinverständlichkeit und Popularität auf. Man stellte auch die praktischen und moralischen Vorzüge dieses physikotheologischen Beweises heraus, insofern er nicht nur die Existenz Gottes sicherstellte, sondern auch dessen Eigenschaften, seine Weisheit und Allmacht veranschaulichen und schließlich im Betrachter Gefühle wie Liebe und Bewunderung erregen könne, die einen praktisch motivierenden Wert besitzen. Aber man hielt meist an der Idee fest, dass der physikotheologischen Beweis einer rhetorisch-praktischen und populären Veranschaulichung von etwas diente, was im Prinzip und von jenen, die zu wahrhaft philosophischer Einsicht in der Lage seien, auch vernünftig eingesehen werden könne. Diese Überzeugung kennzeichnet auch noch die Philosophie Wolffs, wenn auch Wolff signifikante Neuerungen einführt und insbesondere stipuliert, die Seele erreiche Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis über die Erkenntnis der Welt. Diese Welt ist ein Spiegel Gottes und eine Leiter zu Gott, behauptet Wolff (in Abwandlung von Leibniz, für den die Seele ein Spiegel der Welt und Gottes ist).24 Sie stelle Gottes Vollkommenheit in einem Spiegel vor »[…], so daß man demnach sagen kan: Gott habe die Erde gemacht, um seine Herrlichkeit zu offenbaren […].«25 23 Vgl. auch den Artikel »Physikotheologie« von Stephan Lorenz in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Basel, Schwabe, S. 948–955 ; vgl. auch Philippe Hamou, »Robert Boyle et la valeur de la science«, in: La philosophie naturelle de Robert Boyle, hg. v. Myriam Dennehy, Charles Ramond, Paris, Vrin, 2009, S. 157–174. 24 Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la Nature et de la grâce fondés en raison, § 14: »[L’esprit] n’est pas seulement un miroir de l’univers des créatures mais aussi une image de la divinité.« Vgl. auch Jean-Paul Paccioni, Cet esprit de profondeur. Christian Wolf, l’ontologie et la métaphysique, Paris, Vrin, 2006, besonders Kap. 6. 25 Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [Deutsche Metaphysik], in: Gesammelte Werke, I.2., Hildesheim, Olms 1997 [1751], § 1045. Die gleiche These vertritt Wolff auch in der Vorrede und in den Endparagraphen der Deutschen Teleologie: Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge, Frankfurt u. Leipzig, 2te Aufl., 1726.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

Im Vergleich zu diesen früheren Ansichten räumt Spalding nun dem physikotheologischen Beweis einen neuen Vorrang ein. Er vertritt eindeutiger die innovative These, dass dieser eine grundlegende Funktion für die restlichen Beweise besitzt. Diese erhalten nur über ihn ihren demonstrativen Wert  – und weisen dem Menschen den Weg zur Gottverähnlichung. Eine solche Physikotheologie birgt neue Möglichkeiten. Zwar bezweckt Spalding mit seiner Bestimmungsschrift in erster Linie eine neue Form der protestantischen Apologetik.26 Es geht ihm um die Beschränkung und Zurückweisung der überzogenen Prätentionen der Schulphilosophie und um die Wiedereinsetzung der Religion in ihre Rechte. In diesem Sinne wird er auch von seinen pietistischen Zeitgenossen wie Johann Salomo Semler rezipiert. Aber indem er auf ein philosophisches Argument zurückgreift und selbst aus Wolff und Shaftesbury schöpft, gibt Spalding sozusagen malgré lui den Deisten und den Philosophen neue Waffen in die Hand.

Abbts Zweifel: Adel und Ehre des Weltbürgers

Diese philosophische Fruchtbarkeit von Spaldings Ansatz wird von den Berliner Aufklärern der 1760er Jahre herausgekehrt. Abbt fühlt sich von Spaldings Bestimmungsschrift wohl angesprochen. Er beschwört aber »Bayles Schattengestalt« herbei, um sie – gemeinsam mit Mendelssohn – einer genaueren denkerischen Prüfung zu unterziehen. Die Zweifel, die Abbt seinem Freund Mendelssohn unterbreitet, enthalten einen neuen skeptischen, patriotischen und weltbürgerlichen Impuls, der auf Abbts Ausnahmestatus in der langen Reihe der deutschen Philosophen und Universitätsprofessoren weist. Abbt ist ein Existentialist avant la lettre, ein Popularphilosoph, Weltweiser und Weltbürger in der praktischen Bedeutung des Wortes, der an sich selbst den Anspruch stellt, seine Philosophie zu leben. Obwohl ihn seine frühe Krankheit zu einer akademischen Tätigkeit und der Übernahme von Lehraufträgen in Frankfurt und in Rinteln verdammt, kann Abbt keinen Gefallen an dem »langweiligen Handwerke des Professors«27 und dem »Grübeln in den Studierstuben«28 finden und versucht, dem akademischen Alltag mit allen Mitteln zu entfliehen. 26 Zur Untermauerung dieses Arguments weist Printy vor allem auf Spaldings kurz nach Erscheinen der Bestimmungsschrift verfassten Vorwort seiner Übersetzung von James Fosters’ Discourses on the Principle Branches of Natural Religion and Social Virtue (1749–52) hin. 27 Vermischte Werke, III, S. 176, VI, S. 65. 28 Literaturbrief  XV, S. 70.

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So unternimmt er mehrere Reisen, bevor er im Alter von 28 Jahren den Folgen einer Krankheit erliegt.29 In seinen Zweifeln über die Bestimmung des Menschen drückt Abbt zunächst seine Skepsis und seine dringlichen existentiellen Sinnfragen angesichts der in dieser Welt herrschenden Unordnung und offensichtlichen Sinnlosigkeit aus, die dem Menschen gerade nicht Einblick in ein Wozu ?, in eine Bestimmung und göttliche Vorsehung gewährt. Diese Situation des Menschen deutet Abbt durch den Vergleich mit der Lage eines Soldatenheers an, den er seinem eigenen Bekenntnis nach aus einer Schrift von 1586, Beschreibung von dem Marsche einiger Kriegsvölker, und was für lustige Begebenheiten sich dabei zugetragen, schöpft. In Unkenntnis der Absichten, die der Fürst mit ihnen verfolgt, begnügen sich die Soldaten, einschließlich des Obersten, damit, dessen geheime Befehle auszuführen. So verschwinden plötzlich einige von ihnen: »man sagte, dass sie auf geheime Befehle zur Nachtzeit wären weggeschafft worden – aber wohin ?« Diese Vorfälle geben zu allerlei Mutmaßungen Anlass. Ob es sich hier um eine Maßnahme zur Bestrafung handelt und zu welchen Kriegsverrichtungen der Fürst sie bestimmt hat, bleibt unklar. In seinen Zweifeln deutet Abbt schon einen Ausweg aus diesem Dilemma an. Dieser kann zunächst nicht darin bestehen, akademische Philosophie zu betreiben. Die Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen – und Unerklärlichkeit der göttlichen Absichten mit den Werkzeugen der theoretischen und mathematischen Vernunft – verbieten es mir in der Tat, »meine Schulkenntnisse unter mir ausgebreitet, mich ruhig und unbekümmert um alles, was vorher in der Welt geschehen ist, ins Gras niederzusetzen, und da etwa zu überlegen, welches von den philosophischen Systemen der Glückseligkeit ich mir allenfalls wählen wollte«.30 Die Bestimmung des Menschen kann auch nicht in einem »andächtigen Grübeln« bestehen, wie Spalding es nahelegte. Denn wie Abbt es in einer

29 Vgl. insbesondere Hans Erich Bödeker, »Thomas Abbt: Bürger, Patriot und bürgerliches Bewusstsein«, in: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. Rudolf Vierhaus, Heidelberg, Schneider, 1981, S. 221–254, hier 234: »[Abbts] Patriotismus bedeutete […] über die bewusste Zustimmung zu seinem ›Vaterland‹ hinaus überlegtes, zukunftsorientiertes gesellschaftliches Handeln. Solches Handeln hatte seinen Wert in sich und war dem allgemeinen Wohl dienlich.« ; vgl. ders., »Kurzbiographie Thomas Abbts«, in: Aufklärung n° 4/2, 1989, S. 103–105. Vgl. auch Benjamin Redekop, Enlightenment and Community. Lessing, Abbt, Herder, and the Quest for a German Public, Montréal, McGillQueen’s University Press, 2000. Eine detaillierte Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Abbt und Mendelssohn liefert Anne Pollok in Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns, Hamburg, Meiner, 2010, insbesondere S. 79–116. 30 Abbt, Zweifel über die Bestimmung des Menschen, S. 10.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

zeitgleich verfassten Rezension in den Literaturbriefen erklärt31, berühren wir angesichts der Absurdität und Tragik bestimmter Ereignisse wie Kriegen, Krankheiten, Epidemien, Hungersnöten und dem tragischen Sterben von Säuglingen die Grenzen dessen, was wir über die Vernunft erklären können ; und: »unsre Schwäzer über die Würde und Hoheit des Menschen […] haben nicht einmal einen richtigen Begriff davon«.32 Die Vernunft versetzt uns zwar in die Lage, »die Ordnung zu bewundern, darüber zu erstaunen, Verbindungen und Gesetze zu entdecken, denen diese Ordnung folget.«33 Sie gewährt uns aber dadurch noch keine Einsicht in das »Warum« und »Wozu« derselben, den Sinn, die Bestimmung der eigenen Existenz. »Selbst die Offenbarung lehrt uns letztere nicht: wenn nämlich die Bestimmung des Menschen »nicht seine Vollkommenheit überhaupt« bedeuten soll, sondern das Quantum, welches er zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen soll, woraus sich auch seine Würde bestimmen lässt, sofern er seinen Beytrag seiner Freyheit gemäß errichtet.«34 In diesen Äußerungen deutet sich ein radikaler weltbürgerlicher Perspektivenwechsel an. Abbt bricht mit der langen Tradition des cartesianischen Rationalismus, die in der mathematischen Vernunft ein Vermögen sieht, das eigene Selbst aus der Welt herauszuheben und sich selbst (über die Erkenntnis Gottes) ein Maß und eine Richtung in der Suche des Wahren und des Guten zu geben. Abbt ist zwar selbst – ganz wie seine philosophischen Leitautoren Wolff und Shaftesbury und andere Protagonisten der Bestimmungsdebatte – ein Rationalist im weiteren Sinne. Auch für ihn ist die Ordnung der Welt zunächst durch die Vernunft und nicht durch ein Gefühl, das Spalding nach Hutcheson ein »moralisches« nennt, zugänglich. Wie Abbt in der zeitlich verzögerten publizierten Rezension seiner Neuauflage Spaldings aus dem Jahre 1764 schreibt, muss in der Tat angenommen werden, dass »die Empfindungen 31 Vgl. Abbts 1762 publizierte Rezension von Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes aus der Geburt, dem Tod und der Fortpflanzung desselben (1741/42), 2. Aufl. Berlin, Realschule 1762, in: Briefe, die neueste Literatur betreffend Nr. 245–50, 29. Juli – 19. August 1762, S. 63–128. Abbt zeigt hier überzeugend, dass Süßmilchs Bevölkerungsstatistik und die mathematische Vernunft allgemein letztendlich unzulänglich sind, eine göttliche Vorhersehung in einem Sinne zu beweisen, dass sie Antworten auf existentielle Sinnfragen bereitstelle. Die Natalitäts- und Mortalitätstabellen Süßmilchs, die die Ordnung der Sterbenden nach den Krankheiten, den Jahreszeiten und dem Alter erläutert, stellen wohl eine »schöne« Ordnung, Regeln und Verbindungen vor Augen. Sie bieten aber weder eine »Vorsorge« noch eine Antwort auf die dringliche Frage nach dem Sinn von Kriegen, Krankheiten, Pestepidemien und Hungersnöten. 32 Abbt, 250. Literaturbrief, S. 127. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 126.

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des Recht und Unrecht, des Anständigen und Unanständigen nicht ursprünglich eingeprägte Triebe sind, sondern sich allezeit auf vorhergehende Urteile gründen«. Moralisch-schöne und gute Empfindungen sind immer erst Folgen des Urtheils, das unsere Vernunft von der Wahrheit und Übereinstimmung der Dinge, von unserer eigenen Würde und von der Würde der Dinge, die uns umringen, gefällt hat ; und je richtiger, bestimmter & reicher unsere Vernunft in dieser Beurtheilung ist, desto feiner und edler werden auch unsere moralischen Empfindungen.35

Aber innerhalb der wolffianischen Schulphilosophie vertritt Abbt zugleich einen besonderen, ästhetischen Rationalismus.36 Dieser beinhaltet eine bedeutende Einschränkung der Ambitionen der im engeren Sinne philosophischen, sprich: symbolischen, auf mathematische Deutlichkeit hin ausgerichteten Vernunft. In Abbts Augen kann diese enge mathematische Vernunft den eigenen im weiteren Sinne »methodischen« Ansprüchen nicht entsprechen. Sie ist nur ein Vermögen der Verknüpfung von Wahrheiten und weist in einer unermesslichen und unbekannten Welt nicht selbst den Weg. Nicht die enge mathematische Vernunft, sondern die im weiteren Sinne vernünftige und ästhetische Vernunft und Betrachtung der Welt eröffnet Perspektiven auf die eigene Bestimmung. Sie gewährt zwar keine deutliche Einsicht in einen göttlichen Zweck oder eine Bestimmung als Wesen und determinatio37, wohl aber eine ästhetische, lustvolle und lebhafte Empfindung eines Zweckganzen,

35 Abbt, »Anpreisung der mit einigen Zugaben vermehrten Auflage des Hrn. Spaldings von der Bestimmung des Menschen […]«, in: Briefe, die neueste Literatur betreffend, Nr. 277, 29. März, 1764. 36 Diese Deutung Abbts entspricht einer Präzisierung der Thesen Bödekers, Polloks und Lorenz’, die in Abbt einen Patrioten, Weltbürger, Skeptiker oder den Verteidiger einer provisorischen und innerweltlichen Ethik (Pollok) sehen, ohne aber auf die Eigenarten seiner Vernunftkritik und seinen ästhetischen Rationalismus eingehen. Abbt und Mendelssohn sind beide aufmerksame Leser Baumgartens. Dessen Ästhetik ist eine erste Anfechtung der Ambitionen des cartesianischen Rationalismus, die mathematische Vernunft mit einem Vermögen der Dichtung und Schönheit gleichzusetzen. Diese Kritik führen Abbt und Mendelssohn fort. Zu diesem Thema bei Baumgarten, siehe auch meine Studie The Founding of Aesthetics in the German Enlightenment. The Art of Invention and the Invention of Art. Cambridge University Press, 2013. 37 Vgl. zu dieser Doppelbedeutung von »Bestimmung« Mendelssohns Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz. Anmerkung K: »Die Zweydeutigkeit liegt hier in der Sprache. Das Wort Bestimmung bedeutet sowohl die Festsetzung eines Prädikats, unter mancherley derselben, die dem Subjekt zukommen können, Determination ; als die Festsetzung des Endzwecks, zu welchem etwas als Mittel gebraucht werden soll, Destination.« Jubiläumsausgabe, Bd. 6.1, S. 35 f.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

das eine Perspektive auf das eigene tätige Amt als ein Bürger und Weltbürger im Dienste des Vaterlands und der Menschheit eröffnet. Diesen weltbürgerlichen Gedanken wiederum hatte Abbt auch schon ansatzweise in seinem Traktat von 1761 Vom Tode für das Vaterland38 entwickelt. Dort hatte er schon, wie Mendelssohn hellsichtig erkannt zu haben scheint, einer ganz neuen und folgenreichen kosmopolitischen und politischen39 Deutung der Würdefrage den Weg bereitet. Abbt nimmt hier eine neue »patriotische« oder auch weltbürgerliche Sicht auf die menschliche Tugend ein, die er als Ehre kennzeichnet.40 Diese bestehe nicht einfach in der Ehrung des Schöpfers, sondern auch in der Ehrung der Menschheit und finde ihren Ausdruck in dem eigenen Beitrag zum Wohle der Menschheit. In Abbts Augen sind Patriotismus und Weltbürgertum wohl vereinbar, ja entgegen den nationalistischen Perspektiven des 19. Jahrhunderts setzt ein recht verstandener Patriotismus schon weitere weltbürgerliche Perspektiven voraus. Der Mensch sei nicht nur ein Staatsbürger ; er müsse sich »zu einem Bürger des Weltgebäudes« wandeln und dem Wohle der Menschheit dienen. Dazu aber muss er notwendig eine höhere Perspektive einnehmen und sich zugleich als Endzweck, aber auch als Mittel zu höheren Zwecken der Menschheit begreifen.41 Diese Aufgabe kann in manchen Fällen verlangen, dass er sein Los (im Namen der Ehre !) demütig trägt ; oder aber, dass er sich über die individuelle Tendenz zur Selbsterhaltung hinwegsetzt und sein Leben für diese aufopfert. Jedenfalls bestehe in einer solchen Vereinigung von Liebe für das Vaterland und »Ehre«42 nicht nur in der alten Republik, sondern auch in der Monarchie der Neueren die eigentliche Tugend des Menschen.43 Diese »hebe auch die Seele eine jeden insbesondere zu edleren Gesinnungen empor«. Sie erhebe uns »aus verächtlichen Geschöpfen zu einer höheren Art, stellt uns gerade«.44 38 Vgl. Thomas, Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 1761, vgl. auch Vom Verdienste, Berlin/Stettin, 1765. Nachdruck in: ders., Vermischte Werke, hg. v. Friedrich Nicolai, 6 Teile in 3 Bänden, Hildesheim, Olms 1978. 39 Abbt, 243. Literaturbrief, S. 71. 40 Zu dieser Auffassung von Tugend als Ehre und Verdienst vgl. auch Shaftesburys Characteristics, IV. An Inquiry concerning virtue or merit, S. 252: »And in this case alone it is we call any creature worthy or virtuous, when it can have the notion of a public interest, and can attain the speculation or science of what is morally good or ill, admirable or blamable, right or wrong.« 41 Abbt, Vom Tod für das Vaterland, viertes Hauptstück, S. 42. 42 Ebd., S. 43. 43 Ebd. 44 Abbts weltbürgerlicher Patriotismus geht mit einer großen Begeisterung für Friedrich II. einher. In dessen monarchische Staatserfassung herrscht Abbt zufolge eine politische Tugend, die alle auszeichnet: »Alles vereinigt sich und stellt sich unter dem Namen des Bürgers dar. Dann ist jeder Bürger ein Soldat, jeder Soldat, ein Bürger, und jeder

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Mendelssohn im Dialog mit Spalding und Abbt

Als Freund und Menschenfreund versucht Mendelssohn auf diese Zweifel zu antworten und Trost zu spenden.45 Er positioniert sich zunächst in der Auseinandersetzung mit Spalding. Mendelssohn argumentiert zwar seinerseits auch in einem modernen und religiösen Kontext ; er ist ein gläubiger Jude, wirkt jedoch zweispurig zugleich als maskil oder Reformer des Judentums und als Aufklärer.46 In seiner Pentateuch-Übersetzung Netivot ha-Shalom liefert er eine eigene Übersetzung von Genesis 1.27: »Da erschuf Gott den Mensch in seinem Ebenbilde, in dem Ebenbilde Gottes erschuf er Ihn, Manßen und Weibßen erschuf er sie.«47 Der die deutsche, in hebräischen Buchstaben aufgezeichnete Übersetzung begleitende Kommentar zu Gottebenbildlichkeit auf Hebräisch speist aus jüdischen und kabbalistischen Quellen und zeugt von einer höchst eigentümlichen Anthropologie oder wie Paul Franks es nennt, von einem »kabbalistischen Humanismus«.48 Hier bildet sich der Mensch mit seinem Wissen [daat] und seiner Vernunft [sikhlo] aus dem Nichts selbst heran. Dem Sohar nach vereinigt er in sich ein männliches und weibliches Prinzip, die sich »einer durch den anderen vervollkommnen, so dass er einzig sei in der Welt, Herrscher über alles.« In »seiner Form und separaten Seele«49 ist er Gott, dem Höchsten gleich. Einige Jahre vor Abfassung des Phaedon trägt Mendelssohn sich außerdem zeitweise mit dem Gedanken, eine Abhandlung Edelmann Soldat und Bürger, wie man will. Man erblickt nicht mehr den Bürger, den Edelmann, den Soldaten besonders. Alles ist Bürger.« Vom Tod für das Vaterland, II, 16. 45 Zu dieser Absicht und Mendelssohns argumentativen Strategien vgl. auch Pollok, »How to dry our tears ? Abbt, Mendelssohn and Herder on the Immortality of the Soul«, in: Aufklärung, Bd. 29, hg. v. Martin Mulsow, Gideon Stiening u. Friedrich Vollhardt, Hamburg, Felix Meiner, 2018, S. 67–81. 46 Zu Mendelssohn vgl. vor allem die Studien von Albrecht, Altmann, Berghahn, Bourel, Franks, Freudenthal, Goetschel, Pollok, Sorkins, Schulte, u. a. 47 Mendelssohn, Übersetzung des 1. Buch Moses, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 9. 1, S. 102. 48 Vgl. Paul Franks, »Two Souls in One Breast: The Berlin Maskil, the Aufklärer and the Tribulations of Translation«, im Druck. Zu jüdischen Vorstellungen von Gottebenbildlichkeit allgemein vgl. auch Yair Lorberbaum, »Human dignity in the Jewish tradition«, in: Cambridge Handbook on Human Dignity, S. 135–146. 49 Mendelssohn, Pentateuch-Kommentare, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 9. 3, S. 24. Hier das vollständige Zitat: »Nachdem […] [die Schrift] gesagt hatte: in seinem Ebenbilde, sagte sie abermals: in dem Ebenbilde Gottes erschuf sie ihn, um auf die Stärke dieses Vorzugs aufmerksam zu machen, welchen der Mensch hat, daß er nämlich vermöge seiner Form und seiner separaten Seele den Höchsten gleicht. Das ihm verfertigte Ebenbild ist ein Abbild seines Schöpfers, Gott ist im Himmel, und er allein wandelt vor ihm, wie der Dichter sagt. Und im Sohar: in unserem Ebenbilde, in Ähnlichkeit mit uns (V. 26) – so dass sie sich einer durch den anderen vervollkommnen, so dass er einzig sei in der Welt, Herrscher über alles.«



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

über die Unsterblichkeit auf Hebräisch, »in der heiligen Sprache zu verfassen, denn was haben wir, die Bekenner der wahren Religion, mit dem Sohn des Sophroniskus zu schaffen ?«50 Ungeachtet seiner tiefen Gläubigkeit aber geht es Mendelssohn in erster Linie um die Beschränkung der Belange der Religion und Klärung des Verhältnisses von Vernunft und Religion. Dass er letztendlich seine Gründe »dem Socrates in den Mund« legt, begründet er gerade aus seiner Absicht heraus, sich von den Offenbarungsreligionen fernzuhalten und sich auf die natürliche Religion zu beschränken: »Ich muß einen Heyden haben, um mich auf die Offenbarung nicht einlassen zu dürfen.«51 Diese Anknüpfung an die heidnische und philosophische Antike dient offenbar der Herausschälung eines allen Religionen gemeinsamen säkularen und ursprünglich philosophischen Kerngedankens von der menschlichen Bestimmung als einer vernünftigen Form von Erhebung und Transzendenz. Damit wendet Mendelssohn Spaldings Argument gegen die Religion – und trägt damit auch den Argumenten seines Freundes Abbt Rechnung. Denn in Mendelssohns Augen kann die Religion nicht erstere, praktisch relevante Art von Vernunft oder Empfindung von Ordnung für die eigenen Zwecke beanspruchen. Aus seiner Sicht spricht Spaldings Argument eigentlich zugunsten der Philosophie und der Ausdehnung ihrer herkömmlichen Grenzen. Aufgezeigt wird einfach die Möglichkeit der Aufsplitterung der Vernunft in ein sinnliches und populäres und in ein gelehrtes Vermögen. Erstere, die sinnliche Vernunft oder der »gesunde Menschenverstand«, muss Grundlage des letzteren, der philosophischen und demonstrativen Vernunft, sein, und sie muss als ein allgemein menschliches Vermögen betrachtet werden können. Zumindest ist sie nicht ein Vermögen, das die Philosophen besonders für sich selbst in Anspruch nehmen könnten. Diese Einsicht ist in der neueren Schulphilosophie verloren gegangen. Aber daraus lässt sich in Mendelssohns Augen nur die Notwendigkeit folgern, die Philosophie weiter zu fassen als bisher und sie neu in eine populäre und eine schulphilosophische aufzugliedern. Denn 50 »Ich wollte von dem Wege Platons ganz und gar abrücken und ein eigenes Buch über die Natur der Seele und ihre Unsterblichkeit verfassen. Meine Lehre wollte ich auf die Aussprüche unserer Lehrer gesegneten Angedenkens gründen, wie sie in dem [rabbinischen] Haggadot und Midrashim niedergelegt sind, denn sie stimmen in der Mehrzahl weitgehend mit dem überein, was ich auf philosophischem Wege erläutert habe«, Mendelssohn, Brief an den Dichter Hartwig Wessely aus dem Jahre 1768, Jubiläumsausgabe Bd. 19, S. 119, auf hebräisch. Übersetzt und zitiert von Alexander Altmann, »Die Entstehung von Moses Mendelssohns Phaedon«, in: Die Trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns, Stuttgart – Bad Cannstatt, Frommann Holzboog, 1982, S. 88. 51 Mendelssohn, Brief an Thomas Abbt, 22. Juli 1766, Jubiläumsausgabe, Bd. 12. 1., S. 118.

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die Möglichkeit einer Erhebung zu Gott, die den Menschen hier als göttliches oder gottähnliches Wesen kennzeichnet, erfolgt einfach aus der populären und vernünftigen Betrachtung der Welt.52 Anders gesagt: Man hat der Philosophie und Vernunft zu Unrecht das ihr innewohnende Moment der Transzendenz aberkannt und der Religion zugeordnet. Platon selbst, auf den Mendelssohn hier zurückgreift, ist, wie Mendelssohn hervorhebt, ein »Heyde«. Er entwickelt sein Modell von Progression in einem nichtreligiösen, vorchristlichen und paganen Kontext und nimmt eine dezidiert philosophische Perspektive ein, um die philosophische Vernunft als ein Vermögen von Erhebung und Unsterblichkeit zu kennzeichnen: als ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν, ein Aufschwung zu einer höheren und ordnenden Vernunft, die den Menschen zugleich als ein göttliches Vernunftwesen charakterisiert.53 Diese Rückwendung zu Platon erfolgt nun mit und gegen den zeitgenössischen wolffianischen Rationalismus. Es handle sich bei seinem eigenen Phaedon nur um ein »Mittelding zwischen einer Uebersetzung und eigenen Ausarbeitung«54, schreibt Mendelssohn. Er habe sich »die Einkleidung, Anordnung, und Beredsamkeit desselben zu Nutze gemacht, und nur die metaphysischen Beweisthümer nach dem Geschmacke unserer Zeiten einzurichten gesucht.« Einem Brief aus dem Jahre 1763 zufolge wolle er von Platon »nichts als die Anlage borgen, welche in der That vortreflich ist. Seine Raisonnements hingegen überzeugen nicht, und ein jetziger Lehrer findet nichts als Dunkelheit und Sophisterey, wo die Freunde Sokrates’ Licht und Überzeugung fanden.«55 Mendelssohn beschränkt sich auf bestimmte »wesentliche« Grundgedanken und schöpft hier aus den Ideen der neueren Physikotheologen Wolff, Shaftesbury, Spalding und vor allem Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), die er unter seinen Einflüssen zitiert und offenbar als »Schüler Platons« betrachtet. Ein solcher Grundgedanke Platons besagt, dass Ordnung nicht aus Zufall und blinder Materie entstehen kann, wie in dem neueren französischen Epikurismus eines La Mettrie behauptet wird, gegen den sowohl Mendelssohn als auch alle gerade genannten Physikotheologen einschließlich Spalding56 52 Zu den vielfältigen Varianten von Populärphilosophie vgl. auch Johan van der Zande, »What was Popular Philosophy ?«, in: Oxford Handbook of German Philosophy in the Eighteenth Century, hg. v. Frederick Beiser u. Corey Dyck, im Druck. 53 Zu Platos Würde vgl. auch Ulrich Volp, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche, Leiden, Boston 2006. 54 Phaedon, S. 9. 55 Brief an Iselin vom 5. Juli 1763, Jubiläumsausgabe, Bd. 12.1, S. 15. 56 Vgl. hierzu besonders Clemens Schwaiger, »Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung«, in: Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg, Felix Meiner, 1999, S. 7–20.



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anschreiben.57 Es muss einen höheren und »göttlichen« Verstand geben, der für eine solche Ordnung verantwortlich ist und den der Mensch nachahmen kann, um sich durch eine solche Einsicht zu wahrer Unsterblichkeit zu erheben. Dieser Schluss ergibt sich im Phaedon aus dem Gespräch zwischen Platon und seinem Schüler Simmias über den Ursprung unseres Empfindungs- und Denkungsvermögens: Erwäge es mit mir, mein lieber Simmias ! wenn unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen, sondern eine Eigenschaft des Zusammengesetzten seyn soll: muß es nicht entweder, wie Harmonie und Ebenmaß, aus einer gewissen Lage und Ordnung der Theile erfolgen, oder, wie die Kraft des Zusammengesetzten, seinen Ursprung in der Wirksamkeit der Bestandtheile haben ?

Aus der »undenkenden« und materiellen Natur könne ein solches Denkvermögen nicht entspringen, denn hier herrsche nur Zufall. Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit setzen folglich das Hinzukommen eines denkenden Wesens voraus, »das die mannigfaltigen Theile zusammennimmt, gegeneinander hält, und in dieser Vergleichung eine Uebereinstimmung wahrnimmt.« Aus dieser Einsicht kann die Existenz wenigstens einer einfachen, nicht ausgedehnten und nicht zusammengesetzten Substanz gefolgert werden, »die eine Vorstellungskraft hat, und alle unsere Begriffe, Begierden und Neigungen in sich vereiniget« und die man Seele nennen kann.58 Platonisch ist des Weiteren auch der Grundgedanke der Vervollkommnung, Erhebung, Progression oder Emanation.59 »Alle endlichen Geister haben anerschaffene Fähigkeiten, die sie durch Uebung entwickeln und voll57 Vgl. auch Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. v. Günter Gawlick. 2 Bde., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985. Eine Besonderheit von Reimarus gegenüber seinen deutschen Kollegen, die ab den 1750er Jahren neue Beweise von der Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele führen, liegt darin, dass er in seiner Argumentation seinen Gegner – La Mettrie – beim Namen nennt. Vgl. auch meinen Aufsatz »La Mettrie en Allemagne. Matérialisme et Anthropologie«, dans La Mettrie: médecine, philosophie, littérature, hg. v. Adrien Pashoud und François Pépin, Paris, Ed. Matériologiques, 2017, S. 213–230. 58 Um dieses Argument zu untermauern, führt Mendelssohn selbst im Anhang zur 2. Auflage des Phaedon den Beweis des Plotinus an: »Einer jeden Seele, schließt Plotinus (Ennead, 4,1,7) wohnet ein Leben (ein inneres Bewusstsein bei). Wenn nun die Seele ein körperliches Wesen seyn sollte, so müßten die Theile, aus welchen dieses körperliche Wesen bestehet, entweder ein jeder, oder nur einige, oder gar keine derselben ein Leben (inneres Bewußtseyn) haben. Hat nur ein einziger Theil Leben, so ist dieser Theil die Seele. Mehrere sind überflüßig.« 59 Wie schon manche Neuplatoniker zieht Mendelssohn den Begriff »Progression« oder »Hervorgehen« (griechisch πρόοδος) der Metapher der »Emanation« und des »Aus-

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kommener machen60, heißt es im Phaedon. Dieser für die Menschheit charakteristische Fortschritt ist nun nicht technischer, moralischer oder intellektueller Art.61 Er betrifft vielmehr eine denkerische Aussicht in Unsterblichkeit und eine Erhebung zum Göttlichen. Platonisch scheint außerdem der Gedanke, dass in einer solchen Progression die Gottebenbildlichkeit oder Gottähnlichkeit des Menschen und der Menschheit besteht. Wie schon oben erwähnt, führt Platon diesen Begriff im Theaitet ein. Dort bezeichnet er das Leben des Philosophen als Gottverähnlichung (ὁμοίωσις θεῷ).62 Ähnliche Gedanken finden sich aber auch in anderen Dialogen und im Phaedon.63 Bis dahin befindet sich Mendelssohn im Einklang mit Platon selbst. Neu aber ist, dass Mendelssohn offenbar bewusst auf die klassische platonische Zweiweltenlehre Verzicht leistet. Diese Lehre postuliert eine doppelte Staatsangehörigkeit des Menschen in einem intelligiblen Reich der unvergänglichen Ideen und in einem Reich der sinnlich wahrnehmbaren und vergänglichen Dinge und stellt beide einander gegenüber.64 Der Mensch besitzt eine Würde in diesem zweiten unvergänglichen Reich der Formen, insofern er fließens« vor. Er bedient sich des Weiteren auch des aufklärerischen Vokabulars von »Fortschritt« oder »Perfektibilität«. 60 Mendelssohn, Phaedon, Bd. 3.1, S. 106. 61 Ein Fortschritt in der Menschheit, wie sie ihn Lessing oder auch andere Philosophen der Aufklärung wie Condorcet postulieren, ist Mendelssohn zufolge empirisch nicht festzustellen: »Vielmehr sehen wir das Menschengeschlecht im Ganzen kleine Schwingungen machen, aber es that nie einige Schritte vorwärts, ohne bald nachher, in gedoppelter Geschwindigkeit, in seinen vorigen Stand zurückzugleiten […]. Der Mensch gehet weiter, aber die Menschheit schwankt beständig zwischen festgesetzten Schranken, auf und nieder.« Jerusalem, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 163. 62 Vgl. Platon, Theaitet, 176a-b. 63 Im Phaedon wird auf die Verwandtschaft zwischen Sein der Seele und erinnerten Ideen hingedeutet. Wenn die Seele die Ideen allein aus sich selbst heraus betrachtet und in diesem Betrachten Herrschaft über den Leib erringt, ist sie dem Göttlichen ähnlich (ὅμοιον τῷ θείῳ, 80 a), ja das allerähnlichste (ὁμοιότατον, 80 b). Vgl. auch Phaidros, 249 c. Erkenntnis ist Erinnerung an ein früher Gesehenes, durch die die Seele Gott nachwandelt. Vgl. auch Plotin, der die Seele in den Enneaden (V, 1) als εἰκών und als gottesähnlich kennzeichnet. Zu diesem platonischen Kontext lese man auch Ulrich Barth, »Gott ähnlich werden. Platons ethisch-religiöse Telosbestimmung der Dialektik«, in: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen, Mohr, Siebeck, 2005. Barth weist darauf hin, dass der christliche Platonismus in der Gottverähnlichung die umfassende Telosdefinition des Menschen erblickt – und dass Gottverähnlichung bei Platon ein genuin philosophisches Dasein bezeichnet. 64 Platon, Politeia, in: Sämtliche Werke, hg. v. K. Hülser, Frankfurt/M./Leipzig 1991, Bd.  V, 5. Buch ; Augustinus, Vom Gottesstaat. (De civitate dei), 2 Bände, München 1997. ­Joachim Ritter, Mundus intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Verwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus, Frankfurt/M. 1937.



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imstande ist, sich zu diesem zu erheben und seine immaterielle Seele vom materiellen Körper zu lösen. Mit diesem Weltendualismus verbunden sind wiederum andere platonische Motive wie Anamnese, Reminiszenz und Seelenwanderung. Dieser Weltendualismus, der sowohl bestimmte christliche Heilslehren, so bei Augustinus und Luther65, als auch die nachantike Philosophie nachhaltig prägt, fehlt in Mendelssohns Phaedon ganz und gar, denn: Platons »Beweise für die Immaterialität der Seele scheinen, uns wenigstens, so seichte und grillenhaft, daß sie kaum eine ernsthafte Widerlegung verdienen.«66 In Mendelssohns Augen entspricht die Gegenüberstellung und Trennung zweierlei Welten gerade nicht der ursprünglichen dynamischen Idee von Menschenwürde als einer ständigen und unabschließbaren Erhebung. Deshalb wohl vollzieht Mendelssohn eine merkwürdige Umkehrung des klassischen Platonismus und Aufwertung der Sinnlichkeit. Nicht die methodisch-mathematische Vernunft und Einsicht in logische Verknüpfung, sondern die ästhetische Sinnlichkeit, Rezeptivität für die Erhabenheit und Schönheit der Welt muss die erste und eigentliche Quelle der Vernunft sein, wenn diese, wie Platon fordert, in einem Vermögen der Erhebung, Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen bestehen soll. Sie und nicht die eng mathematische Vernunft muss die Teilhabe des Menschen an einem göttlichen Intellekt begründen. Sie ist deshalb auch die wahrhaft methodische, insofern sie allein ihm eine Orientierung in der Welt bietet und ihm seine Bestimmung als »Maaß und Ziel aller seiner Bestrebungen« vor Augen führt.67 Diese Thesen sind nun nicht so sehr gegen Platon selbst als gegen die neueren Platoniker und insbesondere Wolff gerichtet, der in Mendelssohns Augen allzu ambivalent geblieben war. Zwar formuliert bereits Wolff eine perfektionistische Ethik und Weltweisheit, ohne aber die Vernunfterkenntnis 65 Die Ideen werden hier als Gedanken eines göttlichen Schöpfers betrachtet, nach denen dieser die sinnliche Welt geschaffen hat. So trifft Augustinus eine Unterscheidung zwischen einem göttlichen oder himmlischen Reich der Gläubigen (lateinisch civitas Dei oder civitas caelestis, unter der Herrschaft Gottes) und einem teuflischen oder irdischen Reich der Ungläubigen (lat. civitas terrena bzw. diaboli). Zwar kommt dem weltlichen Staate schon die Aufgabe zu, Frieden, Gerechtigkeit und die materielle Wohlfahrt seiner Mitglieder zu sichern ; er kann aber nicht die Glückseligkeit und Erlösung gewähren, die nur durch die »zweite Staatsangehörigkeit« der Gläubigen – durch den Glauben an die Möglichkeit der Aufnahme in einen Gottesstaat – zu finden ist. 66 Mendelssohn, Phaedon, Bd. 3.1, S. 9. 67 »Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.« Ueber die Frage: was heißt aufklären ?, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 6.1, S. 116.

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ausreichend auf das Tun und Lassen in dieser Welt hinzudenken. Das höchste Gut, so Wolff, liegt in einem ungehinderten Fortschreiten zu größerer Vollkommenheit.68 Auch Wolff begreift dabei die Seele als eine immaterielle und göttliche Vorstellungskraft und Vernunft, deren Vollkommenheit in einer mit einer fortschreitenden Glückseligkeit verbundenen Welterkenntnis und Weisheit besteht. Der Prozess einer solcher Vervollkommnung ist ein konstitutiv offener, unabschließbarer. Er bezweckt lediglich eine Zusammenstimmung69 und Übereinstimmung (consensus)70, den Menschen als Ganzen, seinen Leib, seine Seele, und seinen äußeren Zustand zusammengenommen, betreffend und eine »solche Einrichtung seines Thuns und Lassens, dass immer eine besondere Absicht ein Mittel zur Vollkommenheit unsers innern und äußerlichen Zustands ist.« Auch Wolff verleiht der Vernunft eine neue methodische und heuristische Dimension, als ein Vermögen der Entdeckung unbekannter Wahrheiten, das in sich selbst über die Kriterien zur Wahrheitsfindung verfügt und sein Maß und seine Richtung in sich trägt. Aber Wolff setzt zu Unrecht die Erhebung durch die ästhetische Vernunft mit der Verdeutlichung durch die logische Vernunft in eins bzw. kennzeichnet die Vernunft ausschließlich durch ihre Deutlichkeit.71 Mit Baumgarten und Abbt stellt Mendelssohn die Notwendigkeit heraus, zwischen zweierlei Zwecksetzungen und Vermögen, nämlich einer ästhetisch-erhebenden, populären Vernunft und einer demonstrativ-metaphysischen Vernunft, zu differenzieren. Die erste, der gesunde Menschenverstand, »hat den höchsten Grad der Augenscheinlichkeit für sich«.72 Sie liefert dem Menschen einen Zugriff auf ein Ganzes und ein Maß. Die letztere ist zwar ein Vermögen der Demon­ stration und Verdeutlichung, gibt aber alleine keine anschauliche Aussicht in eine Welt intelligibler Formen und ist durch die Natur sprachlicher Zeichen konstitutiv beschränkt. Diese Einsichten gehen in das neue Modell von Vervollkommnung ein, wie es zunächst im Orakel skizziert und später im Phaedon ausgeführt wird. Der Mensch ist in diesem Modell zwischen den Polen von Tierheit und Gott68 Christian Wolff, »Summum bonum consistat in non impedito progressu ad majores continuo perfectiones«, Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertracta, pars 1 (1738–39), Nachdruck in: ders., Gesammelte Werke, II. 10–11, hier Bd. 10, hg. V. Winfried Lenders, Hildesheim, Olms, 1971, Part. 1, § 374. 69 Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit [Deutsche Ethik], (1720), in: ders., Gesammelte Schriften, I, 4, Hildesheim, Olms, 1976, § 2. 70 Wolff, Philosophia practica universalis, § 6. 71 Wolff, Deutsche Metaphysik, § 892. Vgl. auch Buchenau, The Founding of Aesthetics, Kapitel 8: »Aesthetics and Anthropology«, S. 152–177. 72 Mendelssohn, Morgenstunden, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 3.2, 40.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

heit eingespannt. Er erhebt sich durch seine Vernunft über das Tier und hin zu Gott. Sein besonderer Rang als Vernunftwesen, als »Selbstzweck« und »Endzweck der Schöpfung« besteht darin, dass er sich zur ästhetischen Betrachtung und Bewunderung der Welt aufschwingen kann. Das bedeutet nun nicht, dass er deren Zweck-Mittel-Verknüpfung deutlich einsehen könne oder er sich als Herr über die Schöpfung aufwerfen dürfe. Der Mensch ist nicht der Nabel der Welt. Die Demut und Anerkennung der eigenen dezentra­ len Stellung, Abhängigkeit und Beschränktheit ist aber zugleich, was ihm Einblick in die Ordnung des kosmischen Ganzen eröffnet. Indem der Mensch die Ordnung des Kosmos in seiner Größe, Erhabenheit und seinem unendlichen Abstand vom eigenen Sein erfasst, kann er sich zugleich dem Göttlichen angleichen oder seine eigene Teilhabe am Göttlichen anschaulich erkennen oder zumindest empfinden. So ist es ihm allein unter allen Geschöpfen gegeben, die kosmische Ordnung zu betrachten und sie, wie Mendelssohn es formuliert, zu »genießen«. Trotz der »Unermesslichkeit« des Weltgebäudes, der »Erhabenheit« und der Undurchdringlichkeit göttlicher Absichten kann er sich zu der Überzeugung aufschwingen, dass er hervorgebracht sei, damit es vernünftige Wesen wie ihn gebe, denen es gegeben ist, die Welt zu betrachten und zu bewundern. Innerhalb der von Gott erzeugten Ordnung gehört er zu jenen Vernunftwesen, jenen Geistern und »Selbstzwecken«, die sich selbst über ihre ästhetische Lust als denkerische Voraussetzung dieser Ordnung erkennen und die »begreifen und begriffen werden können«.73 In dieser Hinsicht nimmt der Mensch in dem Weltall die höchste oder »vornehmste« Stelle ein. Sokrates bezeichnet ihn in Mendelssohns Phaedon auch als einen »Unterherren« der Schöpfung. Die Natur stellt ihm nicht nur Mittel zu seiner Erhaltung bereit, sondern sie offenbart sich ihm in ihrer »jungfräulichen Schönheit«. In ihrer Erhabenheit stellt sie seine Verbindung 73 In bestimmten Zügen erinnert diese Vorstellung an das neuplatonische Modell einer ontologischen und theologisch-politischen Stufenordnung aller Wesen, als Kette, stetige Abfolge und Ständegesellschaft, wie es in der Hierarchia celestia des Neuplatonikers Dionysius Areopagita beschrieben wird. An der Spitze der Gesellschaftspyramide steht hier ein göttlicher »Oberherr«, der zugleich Intellekt, Schöpfer der Welt und Schöpfer einer gesellschaftlichen Ordnung ist. Allmächtig, ist er ohne Bedürfnisse, ist reines Wohlwollen und väterliche Fürsorge. Er bedarf nicht unserer, wir aber seiner und seiner Großzügigkeit. Dieser »Oberherr« ist im höchsten Sinne würdig, und ihm gebührt die größte Achtung und Ehre. Es folgen diejenigen Geschöpfe, die ihm am ähnlichsten sind. Daraus ergibt sich eine heilige Stufenleiter der Geschöpfe, in der diejenigen, die näher am Sein stehen, Verantwortung für die weiter entfernten, übernehmen, aber jeder und alles einen Rang oder eine Würde besitzt. Dionysius Areopagita, De Caelesti hirarchia [Über die himmlische Hierarchie ; Über die kirchliche Hierarchie], übers. und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil, Stuttgart, Hiersemann, 1986.

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zum Göttlichen her. In ihrer Schönheit stellt sie ihm eine Ordnung und Harmonie, eine Bestimmung und Menschenwürde vor Augen, die er innehat, weil er ein sinnlich-vernünftiges Wesen, ein Mensch ist. Sie erhebt ihn nicht über diese Welt hinaus in eine Welt der Formen, sondern nur zur Einsicht in sein Amt in dieser Welt und im Dienste der Menschheit. »Ihm dient das Leblose, nicht nur zum Nutzen und zur Bequemlichkeit, nicht nur zur Nahrung, Kleidung, Wohnung und zum sichern Aufenthalt, sondern vornehmlich zur Ergetzung und zum Unterrichte.«74 Dieser Gedanke wird in Mendelssohns Portrait des Sokrates im Eingangskapitel des Phaedon weiter ausgeführt. Dieser ist nicht nur ein Weltweiser, sondern als Weltweiser zugleich ein Patriot, Menschenfreund und Weltbürger: Er gelangt zu den »höheren Aussichten des Weltbürgers«75 und richtet (im Gegensatz zu den Naturphilosophen seiner Zeit) diese Weisheit auf die Welt aus. Er sei »der erste, der wie Cicero sagt, die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, in die Städte eingesetzt, in die Wohnungen der Menschen geführt und über ihr Thun und Lassen Betrachtungen anzustellen genöthigt hat. Die metaphysischen Spekulationen hielten ihn »nicht ab, die gemeineren Pflichten gegen sein Vaterland zu erfüllen«.76 Selbst an seinem anfangs unverträglichen Eheweibe habe er »seine Kunst, mit Menschen umzugehen, nicht vergebens bemüht«. »Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts war sein einziges Studium«.77 Und genau diese Menschenfreundschaft ist es, die ihn letztendlich zur Anerkennung der ihm auferlegten Strafe und in den Tod leitet: Macht, Bequemlichkeit, Leumund, Ruhe und zuletzt das Leben selbst gab er auf die liebreichste Art für das Wohl seiner Mitmenschen hin. So mächtig wirkte in ihm die Liebe zur Tugend und Rechtschaffenheit und die Unverletzlichkeit der Pflichten gegen den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das reine Licht der Vernunft auf die lebendigste Art erkannte.78

Sokrates bedeutet den Menschen eine Vereinigung von Ehre und Glückseligkeit, die er für sich erreicht hat, und die zugleich dem Menschengeschlecht zu erreichen aufgegeben ist. Nach und nach entfaltet der Mensch ein Vermögen zur Empfindung, Erkenntnis und Gotteserkenntnis. Schon die Empfindung geht mit der Ausbildung gewisser geselliger Vermögen einher. Indem er »aus der Gemeinschaft mit dem Nebengeschöpfe« in eine »Gemeinschaft mit 74

Mendelssohn, Phaedon, S. 111. Ebd., S. 16. 76 Ebd., S. 14. 77 Ebd., S. 26. 78 Ebd., S. 16. 75



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

dem Schöpfer« tritt, »erkennet er das Verhältnis, in welchem er, das ganze menschliche Geschlecht, alles Lebendige und alles Leblose, mit diesem Urheber und Erhalter des Ganzen stehen« und inwiefern er selbst ihm als Mittel zu einer höheren Absicht dient: »die große Ordnung von Ursachen und Wirkungen in der Natur wird ihm nunmehr auch zu einer Ordnung von Mitteln und Absichten.«79 Durch den Aufschwung hin zur Position des Allerhöchsten erfasst der Mensch diesen in seinen Eigenschaften als »liebreichen Vater und Erzieher, als gnädigen Regenten der Welt«:80 In anderen Worten erkennt er auch, dass die eigenen Zwecke, für die er instrumentalisiert wird, gute Zwecke sind, und dass er selbst positiv zum Guten beiträgt. Er beginnt, sich seinerseits als »wohlgesinnter Bürger« im Staate Gottes zu verhalten, strebt danach, diesem Gott wohlzugefallen, ihn zu verherrlichen und ihn durch die harmonische Ausbildung seiner eigenen Kräfte nachzuahmen. Gott ist ihm Gesetzgeber, Regent, fürsorglicher oder »zärtlicher« Vater und insbesondere Erzieher, was gewisse religiöse Vorstellungen von Gott als zornigem, belohnendem und strafendem Despoten rigoros ausschließt. Diese Auffassung von Bestimmung als Progression und von Würde als eine durch das eigene ästhetische, anschauliche oder sinnliche Vermögen bedingte Menschenwürde beinhaltet nun für Mendelssohn, dass die Unsterblichkeit des Menschen in dieser Welt beginnt. Der Mensch weiß sich unsterblich, insofern er lebendig und Teil einer Natur ist, in der es kein Vergehen gibt.81 Gerade seine Natürlichkeit bedingt seine Aussicht auf eine übernatürliche Welt. Diese ist immer nur im Entwurf gegeben, kann ihm aber zugleich Maß und Anleitung für sein Betragen in der natürlichen Welt liefern. Dazu aber muss man unvoreingenommen an die Menschheit in ihrer Gesamtheit herangehen.

Die Veredlung der Menschheit

Das klassische (neu)platonische Schema, auf das Mendelssohn hier zurückgreift, beinhaltet nun eine bestimmte moralische Differenzierung und Hierarchisierung zwischen den Menschen. Diese Ungleichheit der Menschen wird 79

Ebd., S. 112–113. Ebd. 81 Der Beweis der Unverweslichkeit der Seele aus einem modernen Kraftbegriff muss hier dem Beweis der Unsterblichkeit im zweiten Gespräch zur Grundlage dienen. Vgl. Daniel Krochmalnik, »Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in der Religionsphilosophie der Aufklärung«, in: Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistes­ geschichte, hg. v. Eveline Goodman-Thau, Berlin 1997, S. 79–107. 80

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als Ausdruck göttlichen Überflusses gedeutet. Mendelssohn schreibt: »Einförmigkeit in den Bestimmungen würde Einförmigkeit der Kräfte voraussetzen und die Aufhebung aller Übereinstimmung, Ordnung Schönheit und Vollkommenheit bedeuten.« Folglich »müssen die Seelenfähigkeiten verschiedentlich entwickelt werden und die Reihe wird von dem bloßen Vermögen bis auf Engelsfähigkeiten fortgehen«. Die Gesamtheit des Menschengeschlechts fächert sich notwendig in unzählige Zwischenstufen auf und formiert eine Vernunfthierarchie, in der die »Edleren« den »Niedrigeren« vorangehen.82 Weil sich diese Göttlichkeit in Stufen aufgliedert, gibt es auch nicht ein einziges Ideal von Schönheit: »Es gibt kein absolutes Ideal der Schönheit ; sondern jedes Subject erfordert, nach dem Maaße seiner Kräfte und Fähigkeiten ein anderes Ideal, das demselben entspricht.«83 Zugleich aber folgt aus dieser moralisch-ontologischen Stufenordnung für Mendelssohn noch kein Recht, über den (moralischen) Wert eines Menschen zu urteilen oder sich über ihn aufzuwerfen. Stattdessen gilt es, sich des moralischen Urteils über Menschen zu enthalten und deren individuelle Göttlichkeit zu ehren. Diese ist eine Würde oder ein Titel, der einen Anspruch auf Entfaltung und auf Ehre enthält. Je niedriger und nichtswürdiger sich die Menschen seinem Blicke darstellen, umso dringlicher stellt sich sogar die Aufgabe ihrer »Veredlung«.84 So argumentiert Mendelssohn schon in seinem 82 Ein analoges Schema findet sich auch bei Mendelssohns Zeitgenossen Johann Caspar Lavater (1741–1801). Dieser verfasst eine Physiognomik, die Göttlichkeit nicht einfach in der Welt, sondern in ihren Bewohnern, den Menschen, offenbart sieht. Gerade aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit trage die Menschheit auch nach dem Sündenfall noch Spuren der Göttlichkeit, die es dem Leser nahezubringen gilt. Diese theologische Zielsetzung von Lavaters Physiognomik kommt im folgenden Passus über die »Würde der menschlichen Natur« zum Ausdruck: »Gott schuf den Menschen, Sein Bild ! Er schuf ihn zum Gleichniß Gottes. Einfältig, edel und aufschließend für die Natur des Menschen ! Siehe da seinen Körper ! die aufgerichtete, schöne, erhabne Gestalt — Nur Hülle und Bild der Seele ! Schleyer und Werkzeug der abgebildeten Gottheit ! wie spricht sie von diesem menschlichen Antlitz in tausend Sprachen herunter ! […]«, Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig u. Wintherthur, 1775–76, Einleitung: »Würde der menschlichen Natur«, S. 4. 83 Vgl. Mendelssohn, »Zum Streit um Lavaters Physiognomik«, in: Jubiläumsausgabe, 3.1, S. 319–333, hier S. 323. 84 Dieser Gedanke scheint auch bei Mendelssohns langjährigem Freund Karl Phi­l ipp Moritz auf eine gewisse Resonanz zu stoßen. Eine bestimmte ästhetische Variante davon liegt offenbar auch dessen Magazin für Erfahrungsseelenkunde zugrunde. Dieses kollektive Unternehmen setzt sich zum Ziel, um der Selbsterkenntnis des Menschen willen neue menschliche Fakten und Berichte über die Menschen in ihrer Mannigfaltigkeit zusammenzutragen. Moritz’ Aufmerksamkeit gilt dabei gerade gesellschaftlichen Randgruppen und -figuren wie den Kranken, den Armen, den Waisen, den Verbrechern. Eben weil diese von der Norm abweichen, wecken sie im Betrachter ein »Gefühl für die Würde



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. Dieses eröffnet er mit den Worten: Deinen Standort hienieden suchst du, o Mensch ! und deine Bestimmung ? Befrage beydes, Vernunft und Erfahrung. Erforsche dein Geschlecht, die Menschen, und was sie seyn sollten, was sie sind. Betrachte den Wilden und den Gesitteten, den König, den Bettler, den Weltweisen, den Hofschranzen, Abauzit, Voltairen, dich und den Grönländer in seiner schmutzigen Hütte. Alle machen Anspruch auf dieselbe Bestimmung. Wenn du die Stimmen gesammelt hast, so setze dich in den Schatten des socratischen Ahorns und vergleiche !

Dieser Appell hält den Leser dazu an, die Menschen zunächst so zu nehmen, wie sie sind: Sobald sie Empfindung besitzen, ob nun mit oder ohne philosophische Denkfähigkeit, »Unterrichtung« und Religion, sind sie schon Menschen »und bleiben ihrer menschlichen Bestimmung treu, ohne darüber zu grübeln.85 Das mehr oder weniger macht dabei nur einen relativen Unterschied aus. »[I]n dem weisesten Plane der Schöpfung [haben] ähnliche Wesen auch eine ähnliche Bestimmung«. Dem ganzen menschlichen Geschlechte müsse »nach diesem Leben ein ähnliches Schicksal bevorstehen.« Alle erschaffenen Wesen, die denken und wollen, seien »einander ähnlich, […], erheben sich in unmerklichen Graden übereinander und machen ein einziges Geschlecht aus […].86»Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maße erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten.«87 Die gleiche Feststellung gilt in Bezug auf den sterbenden Säugling88, den der Menschheit«, erklärt Moritz in dem »Vorschlag«, den er seinem Magazin voranstellt: »Was im Einzelnen hässlich sein mag, ist im Ganzen schön. Im Einzelnen, auch im Niedrigen, Verächtlichen zeigt sich das Ganze und das Große, und es erheischt Achtung. […] Indem das Mannigfaltige in der Schöpfung immer anschaulicher ward, erhebt sich oft mein ganzes Herz […] Der Allerunterste auf der Staffel der Menschheit bliebe doch immer noch ein Meisterstück, auf Erden, wenn er der einzige seiner Art wäre. […] die Würde der Menschheit ganz zu fühlen, das hat mir oft Mut und Stärke gegeben, Hass und Verachtung gegen Manchen in meiner Brust zu unterdrücken.« 85 Orakel, S. 24. 86 Phaedon, S. 105. 87 Orakel, S. 21. 88 Diese Frage besitzt für Mendelssohn eine besondere Relevanz: Zeitgleich mit der Niederschrift des Orakels die Bestimmung des Menschen betreffend verliert er seine Tochter Sarah. Der Tod habe an seine »Hütte gepocht und [ihm] ein Kind geraubt, dass nur elf unschuldige Monate gelebt hat«. Vgl. Mendelssohn an Abbt, 1. Mai 1764, Jubiläumsausgabe, Bd. 12. 1, S. 43. Vgl. auch Abbt, 8. Juli 1764, ebd., S. 48: »Ich bedaure Sie, daß ihnen das Denken hierüber zu einer schmerzhaften Empfindung geworden ist« Mendelssohn schließt, seine kleine Tochter habe »in den elf Monaten nicht vergebens gelebt. Ihr Geist

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Wilden89 und das eigene Selbst90. Für alle diese gilt, dass sie nicht vergebens gelebt haben oder leben. Wie »dumm, thörigt, gefühllos, niederträchtig und grausam« ein Mensch uns91 erscheinen mag, so bleibt er doch ein Mensch, insofern ihn nur ein relativer Unterschied vom »edleren« Menschen trennt. Noch hat kein Dummkopf gelebt, der nicht einige Merkmale des Verstandes von sich gegeben hätte, und noch kein Tyrann, in dessen Busen nicht noch ein Funken von Menschenliebe geglimmt hätte«92 »Auch dem Gottlosesten«, so Mendelssohn, sei es »nie gelungen, seiner Bestimmung schnurstracks zu­ wider­zuhandeln.«93

Schutz der Würde

Diese moralische Forderung nach dem Schutz der eigenen Würde ist zugleich eine politische. Zwar will sich Mendelssohns politische Philosophie nur schwerlich in die moderne, Rousseau’sche Sprache vom Gesellschaftsvertrag fügen. Denn der Eintritt des Menschen in die Gesellschaft erfolgt nicht aus einer Bedürftigkeit oder aus einem Vernunftkalkül heraus, sondern aufgrund seiner Göttlichkeit, weil er ohne Wohltun nicht glücklich sein kann. Aber im Namen seiner platonisch ausgelegten »Perfektibilität« erhebt Mendelssohn durchaus moderne Forderungen nach Freiheit, Toleranz und hat in dieser kurzen Zeit ganz erstaunliche Progressen gemacht von einem Tierchen, das weint und schläft, ist sie der Keim eines vernünftigen Geschöpfes geworden«. Diese »erschütternden häusliche Zufälle« finden Eingang in das Orakel: »Du magst als Säugling oder als Greis sterben, so gehst du allezeit gebildeter von hinnen, als du hergekommen bist. Und der Weg vom Embryo zum lallenden Kind ist vielleicht größer, als der vom Schulknaben zum Newton. Sobald »die Geburt [der Fötus] im Mutterleibe sein Vermögen zu fühlen« übet, sobald es in »seiner neuen Bildung Hunger, Wärme und Nässe fühlen lernet«, wird aus einem »Samenthierlein« ein Mensch. 89 Der »Wilde« (»bon sauvage«) rückt im Jahre 1764 in den Mittelpunkt der Korrespondenz zwischen Mendelssohn und Abbt. Vgl. insbesondere Abbts Antworten vom 21. 5. und 8. 7. 1764 (Jubiläumsausgabe, Bd. 12. 1, S. 46). 90 So ist der Mensch auch gehalten, das eigene Selbst zu ehren, was den Selbstmord ausschließt. Mendelssohn widmet dieser Frage ab den Briefen über die Empfindungen von 1755 einigen Raum in seinen Schriften. Im Phaedon lehnt es Sokrates bekanntlich trotz der staatlichen Ungerechtigkeiten ab, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. In diesem Zusammenhang weist er auf seine Pflichten gegenüber einem höheren »Eigenthumsherrn« hin: »Gott ist unser Eigenthumsherr, wir sind sein Eigenthum, und seine Vorsehung besorgt unser Bestes.« Phaedon, S. 46 f. 91 Phaedon, S. 106 f. 92 Ebd. 93 Ebd.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

nach einer gewissen Beschränkung der staatlichen und kirchlichen Institutionen.94 Mendelssohn stellt zum einen neue Ansprüche an die Institutionen, denen es obliegt, das gemeinsame Beste zu befördern, nämlich Kirche und Staat. Unter Kirche versteht Mendelssohn hier in einem sehr allgemeinen und überkonfessionellen Sinne solche »öffentlichen Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen«95, und unter Religion eine allgemeine Religion der Menschheit. Umgekehrt bezieht sich die öffentliche Bildungsanstalt Staat auf die Verhältnisse der Menschen untereinander. In Mendelssohns Augen verfolgen beide Institutionen im Grunde das gleiche positive Ziel: Beide zeichnen für das zeitige und das überzeitige Wohl des Menschen, aller Menschen verantwortlich. Und wenn der Mensch sich gerade als in dieser Welt handelndes Wesen zur wahren Unsterblichkeit empor schwingt, wenn er mit einem Fuß im Zeitlichen und mit der anderen im Ewigen steht, dann darf man das Zeitliche und das Ewige nicht allzu scharf »voneinander abschneiden.«96 Dann muss das himmlische Reich in diesem irdischen Reich beginnen und der Staat auch über die »zeitliche Wohlfahrt« hinaus Verantwortung für seine himmlische Glückseligkeit übernehmen: »man verwirret die Begriffe, wenn man seine zeitliche Wohlfahrt der ewigen Glückseligkeit entgegensetzet.«97 Aber mit diesem gemeinsamen positiven Ziel gehen auch gemeinsame Beschränkungen einher: Kirche und Staat müssen dem Menschen Freiheit der Gesinnung gewähren. Der Staat verfügt zwar über ein Zwangsrecht, das sich aus seiner Zielsetzung ergibt, aber dieses kann sich nur auf die äußere Legalität von Handlungen erstrecken. Diese Thesen werden im Phaedon skizziert und in Jerusalem ausgeführt. Gegen das Zwangsrecht und vollkommene Recht der Kirche argumentiert Mendelssohn, an den Urheber des Seins binden mich kein Vertrag und keine Pflicht im engeren Verstande. Wenn aber Gott keine Rechte mir gegenüber beansprucht, dann kann auch die Kirche keine »vollkommenen« Rechte auf Zwang, Belohnung und Strafe in Anspruch nehmen, sondern nur ein »unvoll94 Zu Mendelssohn und den Menschenrechten vgl. auch Cord-Friedrich Berghahn, Moses Mendelssohns Jerusalem. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft in der deutschen Aufklärung. Tübingen, Niemeyer, 2001, insbesondere Kapitel V, S. 206–255. 95 Jerusalem, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 110. 96 Ebd., S. 109. 97 »Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewigkeit zu Theile werden: Sein Ewiges ist blos ein unaufhörliches Zeitliches.« Diese Verwirrung zwischen zeitlichem und ewigem Glück besitzt konkrete praktische Konsequenzen, denn man »verrückt den Wirkungskreis der menschlichen Fähigkeiten« und »spannet seine Kräfte über das Ziel heraus das ihm von der Vorsehung mit soviel Weisheit gesetzt worden.« Ebd.

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kommenes« Recht: »Alle Rechte der Kirche sind, vermahnen, belehren, stärken und trösten«: Die Religion »treibet nicht mit dem eisernen Staab, sondern leitet am Seil der Liebe«. Mendelssohn formuliert diesen Punkt und seine Kritik an den überzogenen Ansprüchen der Kirche noch deutlicher: »Ihr ergreift die unrechten Mittel, wenn ihr die Menschen durch Furcht und Hoffnung zur Annahme und Verwerfung gewisser Lehrsätze führen wollt.« Überhaupt dürfe sich auch die Kirche kein Urteil über Gesinnungen anmaßen. Diese Kritik betrifft insbesondere die gewöhnlichen Eidschwüre beim Amtseintritt. Kaum wird es nöthig sein, noch die Frage zu berühren: ob es erlaubt sey, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubensartikel zu beeidigen ? Auf welche sollte dieses geschehen ? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorher gesprochen worden, können durch keine Eidschwüre bekräftigt werden.98

Wenn religiöse Zeremonielle eine Legitimität besitzen, dann müssen diese anders begründet werden. In der jüdischen Religion sind sie Handlungen, die der Bekräftigung der Überzeugung und der lebendigen Erkenntnis dienen. Auch der Staat besitze kein Recht über Gesinnungen. »Oh ihr Menschen mit beschworener illusorischer Übereinstimmung von Wort und Gedanken verbindet ihr Amt und Würden, Macht und Einfluss« weder Staat noch Kirche [haben] ein Recht, mit dem Glauben und Schwören auf gewisse Sätze Amt, Ehren und Würden zu verbinden.«99 Insbesondere darf der Staat dem Einzelnen keine Geständnisse durch Folter abzwingen. »Was hat der Staat für ein Recht in das Innerste der Menschen so zu wühlen und sie zu Geständnissen zu zwingen, die der Gesellschaft weder Trost noch Frommen bringen ?«, heißt es schon im Jerusalem. Denn man »bringet […] ihr Gewissen auf eine grausame Folter, wenn man sie über Dinge befragt, die nur für den inneren Sinn gehören«. Der Staat verfügt nur über ein relatives Zwangsrecht: nicht als Bestimmung, sondern als Handlung genommen, als ein Ding, das in die äußeren Sinne fällt100, darf ein Amt erzwungen werden. Handlung darf der Staat deshalb erzwingen, da sie auch erzwungen gemeinnützig bleibt und ihren Zweck erfüllt. Diese staatliche Macht über Handlungen reicht hin, um die gesellschaftliche Ordnung zu festigen und Ämter und Würden in dieser Gesellschaft zu bestätigen. Damit aber kommt dem Staat gerade in seiner positiven Verantwortung für die himmlische Glückseligkeit des Menschen die negative Pflicht zu, den Bürger, dem Unterschied in Stand und Beruf ungeachtet, in dieser Angelegenheit 98

Ebd., S. 132. Ebd. 100 Ebd., S. 133. 99



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

nicht zu behindern und nicht in seine Belange einzugreifen. »Unglücklich ist der Staat, der sich gestehen muss, dass in ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen des Bürgers nicht harmoniren […].«101 Seine Verfassung muss so ausgerichtet sein, dass sie diese Freiheit und eine gewisse Würde und Opazität des Einzelnen in seiner Differenz schützt und respektiert. Das erfordert nicht nur Duldung, sondern Toleranz.

Würde und Toleranz

Dieser im Phaedon präsente Gedanke betrifft Mendelssohn sehr direkt, in seinem Alltag als Jude im Berlin des 18. Jahrhunderts und in seinem Kampf um die Freiheit, seinen eigenen jüdischen Glauben zu leben: Denn nach dem Toleranzpatent des österreichischen Kaisers Joseph II. für die böhmischen Juden 1782 hält die Benachteiligung und Diskriminierung der Juden in Preußen unter Friedrich dem Großen an.102 Mendelssohn erfährt diese Benachteiligung am eigenen Leibe. Ihm wird nicht nur die Aufnahme in die Akademie verweigert, sondern auch in der berühmten Lavater-Affäre dringend der Übertritt zum Christentum nahegelegt.103 Mendelssohn stellt sich hier auf die Seite des preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm (1751–1820), der im Jahre 1781 sein Traktat Über die bürgerliche Verbesserung der Juden verfasst. Dohm engagiert sich im Kampf gegen die judenfeindlichen Vorurteile und für ihre rechtliche, berufliche und religiöse Gleichstellung. Die elenden Lebensumstände der Juden in Europa führt er auf deren jahrhundertelange Diskriminierung und Rechtlosigkeit zurück. In seiner Vorrede zu diesem Werk von 1782 rühmt Mendelssohn die Leistungen dieses »Menschenfreunds«. Dohm habe »wie auch Lessing die Bestimmung des Menschen und die Gerechtsame der Menschheit im Zusammenhang 101

Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären ? Jubiläumsausgabe, Bd. 6. 1, S. 118. Vgl. Dominique Bourel, Moses Mendelssohn. La naissance du judaïsme moderne, Paris, Gallimard, 2004. Chapitre 8: »Vers l’émancipation«, S. 255–304 ; Gerda Heinrich, »man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie in haleine halten«. Die Debatte um die »bürgerliche Verbesserung der Juden 1781–1786, in: Ursula Goldenbaum (Hg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin, de Gruyter, 2004, S. 813–895. 103 Im Jahre 1769 fordert Lavater Mendelssohn öffentlich dazu auf, seine Ablehnung der christlichen Doktrin philosophisch zu begründen oder aber zum Christentum überzutreten. Auf einen solchen Glaubensstreit möchte sich Mendelssohn nicht einlassen. In seiner Antwort begnügt er sich damit, seine grundsätzliche Ablehnung einer Diskussion über Glaubensfragen zu begründen. Vgl. wiederum Bourel, Moses Mendelssohn. La naissance du judaïsme moderne, S. 224–254. 102

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gedacht«104. Er habe sich »über den Unterschied der Ehren und Meinungen hinweggesetzt«, habe bloß die »Sache der Menschheit« geführt und habe »in dem Menschen bloß den Menschen betrachtet.«105 Mendelssohn verfasst seinerseits, als Anhang zu Dohms Traktat, seine Vorrede zu der deutschen Übersetzung von Manasseh Ben Israels Rettung der Juden. Diese sind der Ausgangspunkt für seine große Toleranzschrift Jerusalem. In dieser letzteren Schrift formuliert er die Prämissen seines Toleranzprinzips in noch größerer Deutlichkeit: »Brüder ! ist es euch um wahre Gottseligkeit zu thun, so lasset uns keine Übereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist«.106 »Um eurer und unserer aller Glückseligkeit willen, Glaubensvereinigung ist nicht Toleranz ; ist der wahren Duldung gerade entgegen !« Damit stellt sich Mendelssohn offen gegen alle diejenigen, die die Überwindung aller Religionen hin zu einem universellen Vernunftglauben fordern. Man darf Juden und Anhänger anderer Religionen nicht zur Konversion zwingen wollen. Zudem, und das wäre eine zweite Forderung, die Mendelssohn in den Folgejahren formuliert, muss der Staat auch auf deren bürgerliche Verbesserung hinarbeiten. Ihm obliegt es deshalb im Namen der Menschlichkeit und Menschenwürde, auch Juden die Gelegenheit zu verschaffen, ihren Beitrag zum Wohle der Menschheit zu leisten, und sie mit den gleichen Pflichten und Rechten auszustatten wie die Christen. In dieser Forderung kommt die grundlegende Verbindung von Würde und Toleranz zum Ausdruck, der diesem ganz besonderen Platonismus innewohnt, in dem mit der deutlichen Einsicht in Zwecke und Bestimmungen auch auf ein moralisches Urteil über Menschen verzichtet werden muss.

Verlust der Menschenwürde, Verbrechen und Strafe

Die Möglichkeit des Verlusts der Menschenwürde oder des Abfalls von der Menschheit zur Seins- und Gottesvergessenheit bleibt in diesem Schema formell bestehen, wenn er in dieser Anthropologie auch nicht wie in früheren Würdephilosophien im Abfall zur Tierheit und Bestialität bestehen kann.107 104 Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden. Aus dem Englischen übersetzt. Als ein Anhang zu des Hrn. Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai. 1782. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S.1–71, hier S. 3–4. 105 Ebd., S. 5. 106 Mendelssohn, Jerusalem, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 203. 107 Vgl. beispielsweise Blaise Pascal, Pensées diverses III – Fragment n° 31/85: »L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête.«



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

Er ist durch die Idee der Differenzierung alles Seienden gegeben, wird aber als Maßstab für die Bewertung der Würde und Unwürde der anderen irrele­ vant. Denn angesichts der konstitutiven Beschränkung der menschlichen Vernunfteinsicht wäre es anmaßend, sich selbst zum göttlichen Richter aufzuwerfen, der göttliche Richtsprüche und Strafen vollzieht. Mendelssohn bleibt zwar ambivalent und formuliert noch kein unbedingtes Nein zu Folter108 und Todesstrafe109. In seinen Augen können diese Formen von Strafen nicht an sich als die Menschheit entehrend110 verurteilt werden, weil sie der Abschreckung und Verbesserung dienen können. Aber er lehnt die klassische Idee ab, diese Formen von Strafe könne der Vergeltung und Wiederherstellung von Würde dienen. So äußert er in seiner Vorrede zu Manasseh Ben Israels Rettung der Juden scharfe Kritik an den »barbarischen Gesetzen« und der unmenschlichen Rechtsordnung Karls V., die zu den grausamsten Folterungen unschuldiger Juden geführt habe111. Im Phaedon eröffnet sich ihm mit dem Tode des Sokrates die Gelegenheit, zum Thema Todesstrafe Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme führt er im Anhang zur dritten Auflage des Phaedon112 und in seinem Aufsatz Die Seele113 aus. Es zeigt sich hier zunächst, dass Mendelssohn zu den ganz frühen Lesern des italieni108 Mendelssohn spricht sich nicht klar gegen Folter aus: »in einigen Fällen sei es erlaubt, jemanden zur Strafe zu peinigen ; so muss es auch Fälle geben, in welchen es erlaubt ist, zur Strafe zu tödten, weil von Marter zum Tode ein almäliger Übergang ist, der nirgend durch bestimmte Grenzen unterbrochen wird.« Anhang zur 3. Auflage des Phaedon, Jubiläumsausgabe, 3.1, S. 158. 109 Ebd., S. 155 ff. 110 In der Tat waren die Strafrituale, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert statthatten, von einem Grundwiderspruch geprägt ; sie sollten die Achtung vor dem Bürger im Verbrecher ausdrücken und der Wiederherstellung seiner Würde dienen und waren doch im höchsten Maße entehrend. Vgl. aus der umfassenden Literatur zur Geschichte der Todesstrafe, insbesondere Richard J. Evans, Rituals of Retribution. Capital punishment in Germany, 1600–1987. Oxford University Press, 1996, insbesondere Part I.d: »Honour and dishonour«, S. 53–56 ; Mario A. Cattaneo, »Die Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung«, in: Aufklärung, Bd. 5, n° 1. Die deutsche Aufklärung im Spiegel der neueren italienischen Forschung, 1991, S. 25–55. Vgl. auch Kapitel 10. 111 Mendelssohn widmet dem Fall des unschuldigen, zu Unrecht der Vergiftung seines Kurfürsten angeklagten Juden Lippolds eine längere Erzählung. Er hebt hervor, wie der Gehorsam den »Buchstaben des Gesetzes« gegenüber die barbarischsten Taten rechtfertigt. Die mit der Ausführung der peinlichen Verhörung beauftragten »rechtsverständigen Räthe glaubten nach den Gesetzen zu verfahren, wenn sie die Buchstaben des Gesetzes erfüllten«. Vorrede zu Manasseh Ben Israel, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 8–10. 112 Phaedon, S. 156–159: »Ich kenne kein Recht der bloßen Vergeltung, oder der Rache, in der menschlichen Natur, das Böses thut, weil Böses geschehen ist, wodurch das physische Übel vermehret wird, ohne moralisch Gutes zu befördern.« 113 Mendelssohn, »Die Seele«, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 3.1, S. 232–233.

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schen Marchese Cesare Beccaria (1735–1793) und dessen Traktats gegen die Rechtlichkeit der Todesstrafe Dei delitti et delle pene von 1764 gehört. Er besaß sowohl eine frühe deutsche als auch eine französische Übersetzung von 1766 und 1767.114 In seinen Phaedon fügt er eine ausführliche Diskussion von dessen Thesen ein. Beccaria stelle die Frage, woher »doch jenes Recht entstehen [kann], welches sich die Menschen zueignen, ihres gleichen zu töten ?« Mendelssohn folgt insoweit Beccarias Einsicht, dass sich die Todesstrafe nicht aus Vernunftgründen in engerer Bedeutung rechtfertigen lasse. Strafe kann im Prinzip gar nicht dazu dienen, ein Unrecht wiedergutzumachen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die kosmische Ordnung wiederherzustellen. Diese herkömmliche Rechtfertigung ist in seinen Augen nicht haltbar und »wahrlich sehr weit von der Meinung der Thora und der Gottesfurcht entfernt«. Auch »im Lichte der Vernunft« sei sie »im höchsten Grade seltsam«. Aus der beschränkten Sicht des Menschen muss Strafe notwendig darin bestehen, »Übel zu Übel hinzufügen: »die Strafe, die ein Übel des Schmerzes und der Leiden ist«, zu der »Sünde, die ein sittliches Übel ist«. Denn die Einsicht in das Warum der Verknüpfung von Gutem und Schlechtem in dieser Welt ist Gott vorbehalten und dem Menschen verwehrt.

Schluss

Mendelssohn erinnert uns daran, dass der Gedanke einer »Erhebung« oder Transzendenz des Menschen nicht unbedingt das proklamierte Eigentum der positiven Religionen ist. In der Debatte um die Bestimmung des Menschen greift er jenes platonische Motiv von »progressio« und Gottebenbildlichkeit oder Gottverähnlichung auf, das Spalding neu in die protestantische Theologie eingeführt hatte, und wendet Spaldings Waffen gegen die Religion. Damit zeigt er, dass dieser Begriff von Würde eigentlich keine Christenwürde, sondern eine Vernunftwürde und, da sie den Menschen als ein sinnlich-vernünftiges Wesen betrifft, eine Menschenwürde ist. Die religiöse Sprache ist eine unter mehreren möglichen. Aber eigentlich stammt sie aus der Philosophie und muss von der Philosophie her neu gedacht werden können. Der Debatte um die Bestimmung des Menschen muss deshalb eine noch größere Bedeutung zugemessen werden als Raatz nahelegt. Dieser plädiert für die Berücksichtigung von Spaldings Begriff in der heutigen Würdedebatte im Protestantismus.115 Aber die Fruchtbarkeit von Spaldings und Mendels114

115

Vgl. Mendelssohn, Phaedon, S. 419. Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, Kapitel 6, S. 434–496.



Mendelssohn, Platon und die Bestimmung des Menschen

sohns Ideen reichen über den Protestantismus in den Kantismus und bis in die Philosophie der Gegenwart hinaus. Sie liefern der deutschen Aufklärung mehr als ein Schlagwort: »a catch-phrase that others would exploit to greater effect«, wie wiederum Printy schreibt ;116 sie regen ein größeres philosophisches Projekt an, in dem es darum geht, den Platz des Menschen in der Welt neu zu bestimmen und seine Gottebenbildlichkeit und Würde neu zu denken. In diesem Projekt gründet die Vernunft des Menschen und Teilhabe am göttlichen Intellekt nicht auf einer mathematisch-logischen Einsicht in Verknüpfungen, die, da sie selbst kein anschauliches und bildliches Vermögen ist, auch keine Gottverähnlichung des Menschen erlaubt. Gottverähnlichung gründet stattdessen in dem ästhetischen göttlichen und anschaulichen Vermögen, die Zweckmäßigkeit, Schönheit und Erhabenheit der Welt zu empfinden und zu genießen. Die Würde des Menschen ist somit keine abgeschlossene Aufgabe und kein schon erreichter Zweck. Vielmehr ist sie ein immerwährendes Amt und eine ständige Erhebung. Sie reicht aber aus, um dem eigenen Sein ein Maß und eine Richtung zu geben, um eine tätige, praktisch motivierende oder lebhafte Erkenntnis zu begründen, Gott und zugleich die Menschen zu ehren und als Weltbürger zu handeln. Die Einsicht in die konstitutive Beschränkung der Vernunft begründet neue Gedanken von der Opazität der Würde als allgemeine Ehrbarkeit und neue Forderungen nach Toleranz.

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Printy, The Determination of Mankind, S. 208.

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Kapitel 2 Herders Humanität: der Mensch in der Kette der Wesen Herders besondere Vorliebe gilt dem Begriff »Humanität«. Ihm räumt er einen klaren Vorrang vor allen verwandten Begriffen, einschließlich der »Menschenwürde«, ein. In seinen Briefen über die Beförderung der Humanität widmet Herder dem anthropologischen Wortfeld seiner Zeit einen eigenen Brief1 und kommentiert ausführlich die historischen Konnotationen verschiedener Wörter wie »Menschlichkeit«, »Menschenliebe« und auch »Menschenwürde«: Dem »barmherzigen Wort Menschlichkeit« habe man »in unserer Sprache so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwäche und falschem Mitleid angehängt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist.« Das »schöne Wort Menschenliebe« sei seinerseits »so trivial geworden, daß man meistens die Menschen liebt, um keinen der Menschen wirksam zu lieben.« Der Begriff »Menschenwürde« bleibe schließlich ein Teilbegriff, weil er »mehr Verehrung« als »Mitleid« ausdrücke und diese Haltung gegenüber der Menschheit in ihrem gegenwärtigen Zustand unangebracht sei. Deshalb spricht Herder, wie schon in der Einleitung erwähnt, einem Großteil der Menschen die »Würde« ab: Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch bleiben wird, hat seinem größesten Teil nach keine Würde ; man darf es eher bemitleiden, als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden.

Herder, der einem gewissen affektiven und empathischen Vermögen (Mitleid) in der Moral einen hohen Stellenwert einräumt, beschließt deshalb, bei dem Wort »Humanität« zu bleiben: »Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts ; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit ; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein.« In mancherlei Hinsicht erinnert diese »Humanität« an Mendelssohns eigenes Modell.2 Herder spinnt insofern Mendelssohns 1 Herder, Briefe über die Beförderung der Humanität, III, 27. Über Herders auf dem Gebrauch von Wörtern (»word-usage«) basierende philosophische Methode vgl. Michael N. Forster, After Herder, insbesondere Kapitel 1–3, S. 9–130. 2 Zu der großen Nähe zwischen den beiden Philosophen vgl. auch Frederick Beiser, »Mendelssohn versus Herder on the Vocation of Man«, in: Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, hg. v. Reinier Munk, Dordrecht, Springer, 2011, 235–244.



Herders Humanität

Gedanken weiter, als dass er die Würde des Menschen als ein Amt und als eine Aufgabe begreift, die dieser als Mensch und Weltbürger in dieser Welt besitzt und deren er sich von seinem individuellen Standort aus durch die Betrachtung der Welt und durch die Durchwanderung der Menschheit in allen Zeiten und Räumen gewahr werden kann. Diese Einsicht entspricht zugleich einer Empfindung, Erhebung und Vervollkommnung. In anderer Hinsicht erscheinen die beiden Positionen unvereinbar. In Herders Korrespondenz mit Mendelssohn von 17693 sind die Diskrepanzen bereits offenbar. Herder nimmt hier direkt zu Mendelssohns Thesen über die Bestimmung Stellung und formuliert eine Reihe von tiefen Einwürfen, entspringend »aus dem Herzen gleichsam und als eine Sache der Menschheit«.4 Diese betreffen offenbar sowohl Mendelssohns Platonismus im Allgemeinen als auch seine Thesen zur Gottebenbildlichkeit im Besonderen. Herder nimmt offenbar an Mendelssohns Anspruch Anstoß, die Humanität des Menschen direkt über seine Göttlichkeit etablieren zu wollen und eine Vollkommenheit zu postulieren, die ihn über diese Welt hinausführen könne. Herder selbst begnügt sich damit, im Menschen zunächst ein besonderes Tier und ein »Mittelgeschöpf« zu sehen. »Er ist ( ?) nichts als das Mittelding zwischen !«5, ein »Mittelgeschöpf« und »wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweener Welten«6, auf das »höhere Wesen verächtlich herabblicken« mögen. Die Vernunft des Menschen besteht in einem praktischen Handlungsvermögen und zeugt von seiner Bestimmung in und für diese Welt, die in seinen eigenen praktischen Handlungsmöglichkeiten als Mensch liegen. Von diesem Standpunkt betrachtet, hebe man selbst Sokrates nicht »über die Sphäre empor, in welche ihn die Vorsehung selbst stellte.«7 3 Vgl. Herder an Mendelssohn, 2. Hälfte des April 1769 und 1. Dezember 1769, in: Mendelssohn, Jubiläumsausgabe, Bd. 12.1, S. 174–181 und S. 197–201 und Mendelssohn an Herder, 2. Mai 1769, S. 182–187. Vgl. zu dieser Debatte außerdem auch Nigel DeSouza, »The Soul-Body relationship and the foundation of morality: Herder contra Mendelssohn«, Herder Jahrbuch, Bd. 21, September 2014, S. 145–161 ; C. Richard Booher, Perfection, Harmony and Harmonious Individuality, Dissertation. Syracuse University, 2015 (unveröffentlicht) ; Marion Heinz, »Die Bestimmung des Menschen. Herder contra Mendelssohn«, in: Philosophie der Endlichkeit, Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, hg. v. Beate Niemeyer und Dirk Schürze, Würzburg, Könighausen & Neumann, 1992, S. 263–85. Vgl. auch wiederum Pollok, »How to dry our tears ?«. 4 Mendelssohn begegnet seinerseits Herders Argumenten mit einem ganz ähnlichen Widerstand: Er »habe hier beinahe wider jedes Wort etwas zu erinnern.« Vgl. Mendelssohn an Herder, 2. Mai 1769, S. 182–187, hier S. 185. 5 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 4, S. 81. 6 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, I, 5, 6, S. 193. 7 Ebd., III 13, V, S. 551. Vgl. auch ebd., S. 552: »Es wäre zwar zu wünschen gewesen, daß durch Sokrates’ Schüler sein Geist in alle Gesetze und Staatsverfassungen Griechenlands

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Vor Kant · Kapitel 2

Diese Gedanken entwickelt Herder in intensiver Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte und Geschichtsschreibung der Menschheit. Sie sollen im Folgenden – nach einer kurzen Diskussion von Herders Korrekturen von Mendelssohns Platonismus in der Korrespondenz – genauer dargestellt ­werden.

Progression, Seelenwanderung, Reminiszenz. Herder vs. Mendelssohn

In seiner Korrespondenz von 1769 übt Herder scharfe Kritik an Mendelssohn. Er stößt sich insbesondere an dessen Lehren von Progression, Seelenwanderung und Reminiszenz: Progression: Mendelssohn habe die Schranken dessen, was Natur und Erfahrung dem Auge darbieten, nicht ausreichend beachtet. Im Ausgang von seinen eigenen Prämissen8 ist eine von sinnlichen Begriffen befreite Seele ein Unding ; wir seien dazu geschaffen, ein »vermischtes Wesen zu sein und zu bleiben.9 »[M]eine Menschliche Substanz wird wieder ein menschliches Phänomen, oder, wenn wir platonisch reden wollen, meine Seele bauet sich wieder einen Körper […] ich werde, was ich bin.«10 Nichts in der Natur deute auf die Existenz rein geistiger Naturen und auf die Absichten Gottes, bei dem Tode des Menschen eine rein geistige Natur aus einer menschlichen umzuschaffen, der Zusammenhang beider Arten von Substanz bleibt unbewiesen. Wo Mendelssohn ein Aufstreben und eine Stufenfolge in der Natur erkennt, sieht Herder nur ein »Fortstreben«, ein Wechseln, einen Kreislauf, der in sich selbst zurückfließt. »Alles dauert in demselben Wesen fort, entwikelt sich in verschiedenen Zwecken der Bestimmung, die seine Lebensalter ausmachen.«11 In jedem Zustand sei »ein jedes thätig und vollkommen«, aber »vollkommen auf einen zukünftigen Zustand« sei nichts in der Welt.12 »Alles in der Welt« sei gut und »in seiner Eßenz das beste und ist, was es ist. Alle Kreise und Sphären in der Welt werden verrückt, wenn eine in die andere rückt, wenn der Mensch ein Engel, und der Engel ein Gott, u. das Thier ein Mensch, u. der Stein ein Thier werden soll, alles kommt aus seinem Gleise u. aus seifortan eingedrungen wäre, daß dies aber nicht geschehen sei, bezeugt die griechische Geschichte.« 8 Herder an Mendelssohn, 2. Hälfte des Aprils 1769, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 12. 1, S. 174–181. 9 Ebd., S. 175 f. 10 Ebd., S. 176. 11 Ebd., S. 178. 12 Ebd.



Herders Humanität

nem Wesen.«13 Die Welt oder der Zusammenhang in der Natur der Dinge ist geknüpft durch Raum und Zeit und den Grundstoff der Kräfte«: Diese hält Herder für die »Bande des Universums und die Kette unserer Zustände.«14 Die Annahme einer solchen Rangordnung beinhaltet, »dass jedes in seinem Grundstoffe bleibe, was es ist, daß also die Dinge, als Realitäten des Universum, weder fort noch weiter rücken, daß also, um kühn zu reden, so wie Gott Gott bleibt, der Mensch ein Mensch, der Löwe ein Löwe und der Baum ein Baum bleibe.«15 Dies bedeute zugleich, dass alle Vervollkommnung nicht auf ein künftiges, sondern nur auf das gegenwärtige Leben gerichtet ist, und nicht darauf, die Welt vollkommener zu verlassen, als man sie betrat: »[…] Diese Ausbildung und Entwiklung auf dieses Leben, sie ist Zweck, sie ist Bestimmung ; aber das ein unrechter Gesichtspunkt, zu leben, damit man die Welt vollkommner verlaße, als man sie betrat. Wir betraten sie, um hier vollkommener zu werden, zuzunehmen und abzunehmen, zu lernen und anzuwenden, und immer uns und die Welt zu genießen: das war Absicht der Natur.«16 »Die fünf Akte« spielen sich in diesem Leben ab: »was braucht’s, hinter der Decke, die noch kein Auge durchschauet, Aufschlüße über das nehmen zu wollen, was schon an sich ein Ganzes ausmachen muß.«17 Es bedarf lediglich einer gegenseitigen kollektiven Erziehung der Generationen, in jedem Lebensalter: »Erziehe dich u. andre für dieses Leben ! Sey mit deiner Natur, mit deinen Kräften, in jedem deiner Lebensalter, was du seyn kanst und sollst ! So u. nicht auf andre Art hast du gelebt u. kanst dann sterben.«18 Vollkommenheit sei im Übrigen, wie Herder in seinem zweiten Brief an Mendelssohn vom 1. Dezember 1769 ausführt, kein absoluter, sondern nur ein »relationeller« Begriff, eine Position und ein phaenomenon substantiatum19, wie die genetische Zergliederung des Begriffes zeigt. Sie sei »nichts neu hinzutretendes, keine Veränderung in der Masse innerer Kräfte, sondern nur eine Modifikation dessen, was besteht und schon völlig da war«, »nichts als eine Veränderung des Formellen unserer Vorstellungen, was wir uns geben, der dunkle Begriff wird klar, der klare deutlich, der sinnliche unvollkommene sinnlich vollkommen«, eine Veränderung der Beschaffenheit, der Lage und Position der Kräfte und Bestandteile, aber »immer für diesen und jenen 13

Ebd. Herder an Mendelssohn, Brief vom 1. Dezember 1769, S. 200. 15 Ebd. 16 Herder an Mendelssohn, Brief 2. Hälfte des Aprils 1769, S. 176. 17 Ebd., S. 180. 18 Ebd. 19 Herder an Mendelssohn, Brief vom 1. Dezember 1769, S. 199. 14

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Zustand«.20 Da es sich um einen abstrakten Begriff handelt, verwende Mendelssohn ihn einem verbreiteten Irrtum nach für eine individuelle Existenz.21 »Nichts in der Welt, glaube ich, hat mehr Meinungen und vielleicht auch mehr Irrthümer erzeugt, als daß man abstrakte Begriffe als individuelle Existenzen betrachtet und realisirt hat. So realisieren wir das Wort Natur, Tugend, Realität, Vollkommenheit. Ursprünglich waren diese Begriffe nichts als Abstraktionen, Verhältnisse von dem auf dies, gleichsam Schatten und Farben von Dingen ; wir machen sie zu Dingen selbst …«22 Seelenwanderung: Auch das platonische Motiv der Seelenwanderung (griechisch: μετεμψύχωσις, παλιγγενεσία, »Wieder-Werden«) wird von Herder wieder eingeführt. In Platons Original war diese Lehre in Form eines Mythos präsent. Während Mendelssohn diese nicht als solche übernimmt, sondern lediglich auf die Stetigkeit der Natur hinweist, bezieht sich Herder in seinem ersten Brief explizit auf diesen Gedanken, der eine gewisse, durch das Verhalten im irdischen Leben bedingte Unsterblichkeit und ein gewisses ewiges Sein der Seelen dem Vergehen entgegengesetzt: »Zernichtung ist nicht ; unter Gott bleibe ich: von mir hängt vom Augenblick der Veränderung nichts mehr ab: zum Guten, zum Genuß, zur Glückseligkeit werde ich wiedergeboren.«23 Reminiszenz: Platons Doktrin der Reminiszenz, die in Mendelssohns Phaedon eher in den Hintergrund gerückt war24, bewahrt eine gewisse Gültigkeit. Denn alles Lernen, sprich: aller Erwerb von Fertigkeiten, ist situations­ bedingt, ein »Lernen, Ausbilden, Entwickeln in und für diesen Zustand«. Jedes akquirierte Accidens ist Beziehung auf Lage, Modifikation nach dem vorigen positu. »Nach diesem [Zustand] richtet sich die Beschaffenheit, das Maas und die Proportion im Entwickeln, für diesen ist auch der Nutzen und Zweck. Nehmen Sie eine jede kleine einzelne Fertigkeit: sie will ihre Situation haben, in der sie gebildet worden, für die sie gilt.«25 Mit Änderung der Situation verschwindet auch die Fertigkeit, wie es das Beispiel des lernenden Kindes zeigt.26 20

Ebd., S. 198. Ebd. Vgl. auch Nigel DeSouza, »The Soul-Body relationship and the foundation of morality: Herder contra Mendelssohn«, besonders S. 155: »Lage is to be understood as the sensuously, spatiotemporally, culturally, historically determined situation of the individual human soul.« 22 Ebd., S. 199. 23 Vgl. auch S. 180 unten über die Metempsychose des Pythagoras. 24 Mendelssohn lehnt Herders Doktrin in seinem Brief vom 2. Mai 1769 ausdrücklich ab: »Zu lernen und anzuwenden ? Diesen Unterschied finde ich in der Natur nicht. Unser Lernen ist zugleich Anwenden, und unser Anwenden niemals ohne Lernen. […]«, S. 185. 25 Herder an Mendelssohn, Brief vom 1. Dezember 1769, S. 198. 26 Ebd., S. 199: »[D]as Kind hat gelernt, die Augen nach dem Lichte hin zu kehren, und 21



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Humanität am Leitfaden der Naturgeschichte: die Kette der Wesen

Diese platonischen Gedanken führt Herder in späteren Aufsätzen und Notizen 27 weiter aus. In gewisser Hinsicht scheint er hier einfach eine neue Variante innerhalb der gleichen »neuplatonischen« Tradition auszuführen. So betrachtet er in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit den Menschen als eine »Krone« der Schöpfung, einen »Mikrokosmus«28. Die Differenz zum instinktgeleiteten Tier liege in seiner Freiheit und unendlichen Plastizität.29 Diese Gedanken wecken Reminiszenzen an eine alte These aus dem Platonismus der Renaissance, wie sie sich im berühmten Traktat De hominis dignitate von Giovanni Pico della Mirandola findet. Dieser schon betrachtet den Menschen nicht einfach als ein kontemplatives, sondern als ein praktisches und tätiges Wesen, das, da zum Handeln bestimmt, nicht nur seinen eigenen Rang, sondern den aller angrenzenden Wesen erkennen können muss.30 Ihm als einzigem unter den Geschöpfen habe Gott keinen festen die Stimme seiner Amme zu unterscheiden: Auge und Ohr sind nicht mehr: das Organ der Vorstellungen ist weg: mithin das Habituelle dieser Vorstellungen auch weg, und nichts als das Habituelle hatte es sich ja erworben. Die Vorstellung selbst hatte es dunkel immer gehabt: das Organum entwickelte sich. Das Organum ist nicht mehr, und die erworbene Fähigkeit was wäre sie ohne diese ? was kann sie ohne diese seyn ?« 27 Vgl. insbesondere später Palingenesie, Zerstreute Blätter, 4. Sammlung Unsterblichkeit ; Über die Seelenwanderung. Drei Gespräche, 1782, Bd. 4, 425–473 und der frühe Aufsatz: Plato sagte: daß unser Lernen nur Erinnerung sei (1766–68), abgedruckt in Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763– 1778), S. 175–182, vgl. besonders 6, S. 178: »aus [dem] dunklen, ewigen lebhaften Traum [der Seele] wird immer mehr Anerinnerung, wie in der Morgenröthe, wenn wir zu uns selbst kommen.« 28 Herder, Ideen, I, 1, III, 31: »[…] nach allem [trat] die Krone der Organisation unrer Erde, der Mensch, auf […], Mikrokosmus. Er, der Sohn aller Elemente und Wesen, ihr erlesenster Inbegriff und gleichsam die Blüte der Erdenschöpfung, konnte nicht anders, als das letzte Schoßkind der Natur sein, zu dessen Bildung und Empfang viele Entwicklungen und Revolutionen vorhergegangen sein mußten.« Man beachte aber, dass auch das Tier für Herder schon Mikrokosmus oder eine »kleine Welt« ist – was von grundlegenden Veränderungen zeugt, von denen in diesem Kapitel noch die Rede sein wird. 29 Vgl. zu Herders Bestimmung der Vernunft oder Freiheit in Abgrenzung zum In­ stinkt, Über den Ursprung der Sprache, in: Werke Bd. I, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt, Deutscher Klassiker Verlag, 1985, S. 717. 30 In diesem neuplatonischen Rahmen könnte diese These gelesen werden, wenn sie Sinn machen soll. Pico verteidigt noch keine kantische Autonomie avant la lettre, wie in der Literatur zur Menschenwürde gerne behauptet wird. Vgl. auch Paul Millers Einleitung zur englischen Ausgabe, Pico della Mirandola, Giovanni, On the Dignity of Man, Hackett, 1998 ; Brian Copenhaver, »Dignity, Vile bodies and Nakedness: Giovanni Pico und Giannozzo Manetti«, in: Debes, Dignity, S. 127–175. Zu Picos Platonismus und Quellen vgl. auch Paul Oskar Kristeller, Eight Philosophers of the Italian Renaissance, Stanford, 1964,

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Rang gegeben. Während die Tiere »bei ihrer Geburt aus dem Mutterleib […] alles mit sich [bringen], was sie besitzen werden, hat er dem Menschen bei der Geburt »Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben« gegeben.31 Er hat ihn dazu bestimmt, »von keinen Schranken eingeengt« seine eigene Natur selbst zu bestimmen und sich seinen Ort, sein Aussehen und seine Vorzüge selbst zu erwerben, »nach [s]einem Willen«, dessen Macht er ihm überlassen habe. Aber gleichzeitig leistet Herder offenbar auf andere Elemente aus dem Renaissance-Humanismus ausdrücklich Verzicht. So gibt er die alte These auf, dass der Mensch als gottähnliches Wesen seine eigene Welt und sein eigenes Maß in sich trage.32 Überhaupt darf man die Gottähnlichkeit des Menschen, wie auch Mendelssohn noch annimmt, nicht einfach voraussetzen. Stattdessen muss man sich dem Menschen über seine Ähnlichkeit mit den Tieren nähern. Die Anerkennung des eigenen »göttlichen« Ranges und Zweckes muss immer von der Einsicht in die niedrigsten, die tierischen Zwecke ansetzen. Um diese These zu entwickeln, schöpft Herder aus der älteren und neueren Naturgeschichte und vollzieht zugleich eine Relativierung des eigenen philosophischen Anspruchs oder eine »Einziehung der Philosophie auf Anthropologie«.33 In seinen Augen könne nur eine »wahrhaft philosophischen Naturgeschichte« jenen methodischen Leitfaden bieten, die den Menschen »durchs große Labyrinth der lebendigen Schöpfung« begleite: Die Naturgeschichte für Jünglinge und Kinder muß sich, um dem Auge und Gedächtnis zu Hülfe zu kommen, an einzelnen Unterscheidungen der äußern Gestalt begnügen, die männliche und philosophische Naturgeschichte suchet den Bau des Tieres von innen und außen, um ihn mit seiner Lebensweise zu vergleichen und den Charakter und Standort des Geschöpfes zu finden. Bei den Pflanzen hat man diese Methode die natürliche genannt und auch bei den Tieren muss die vergleichende Anatomie Schritt für Schritt zu ihr führen. Mit ihr bekommt der Mensch natürlicherweise einen Leitfaden, der ihn durchs große Kapitel 4, S. 54–71 ; Charles Trinkaus, In our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., London, Constable, 1970, insbesondere Bd. 2, S. 505–529 ; Eckard Keßler, »Menschenwürde in der Renaissance«, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, hg. v. Anne Siegetsleitner u. Nicolaus Knoepffler, Freiburg, Alber, 2005. 31 Pico della Mirandola, Giovanni, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, hg. u. übers. v. Gerd von der Gönna, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart, Reclam, 1997. 32 Vgl. beispielsweise Gianozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen (De dignitate et excellentia hominis (1532), hg. v. August Buck, übers. von Hartmut Leppin, Hamburg, Felix Meiner, 1990, insbesondere 68, 3 und 69, 7. 33 Vgl. Herder, Wie die Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann, 1765, Werke, Bd. 1, S. 132.



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Labyrinth der lebendigen Schöpfung begleite und wenn man bei irgendeiner Methode sagen kann, dass unser Geist dem durchdenkenden vielumfassenden Verstande Gottes nachzudenken wage, so ist’s bei dieser.34

Die männliche und philosophische Naturgeschichte, wie Herder sie entwirft, bleibt nicht, wie die ältere Naturgeschichte und -beschreibung bei Aristoteles35 und Plinius dem Älteren36, am Äußeren haften: Sie dringt stattdessen ins Innere und findet »Charakter« und »Standort« des Geschöpfes. Dabei entlehnt sie bestimmte methodologische Vorgaben von der neueren Naturgeschichte und insbesondere Leibniz, Bacon, Buffon 37, Réaumur, Bonnet. Wie auch schon Buffon fordert, muss sich der Mensch selbst in die Klasse der Tiere einordnen. Denn das Tier offenbart ihm gerade in seinem Werden immer schon ein Zweckganzes, das auch höhere Zwecke beleuchten kann.38 In gewisser Hinsicht war dieser Gedanke auch schon in der komparativen Anatomie, Physiologie und Zoologie, die ab dem 17. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt, präsent. Die Pioniere dieser neuen Richtung wie Claude Perrault, Thomas Willis, Peter Camper und Henri-August Wrisberg erkennen, dass Tiere aufgrund ihrer Artenvielfalt und ihrer einfacheren Struktur das Verhältnis zwischen Organen und Zwecken im komplexeren Organismus Mensch beleuchten können. Was als ein konstitutiver Mangel betrachtet werden mag, kann zugleich bedeutende neue Aufschlüsse über den Menschen eröffnen. Tiere legen den »Mechanismus« und das Verhältnis zwischen Organen (auf 34

Herder, Ideen, I, 2, IV, S. 75. Schon Aristoteles befasst sich in seiner Historia animalium mit der Beschreibung eines Teilbereichs dieser Natur, nämlich der Tiere: »Die Lebewesen unterscheiden sich in ihren Lebensweisen, ihren Handlungen, ihren Charakteren und ihren Körperteilen, darüber wollen wir zunächst im Umriss sprechen, später jedoch, indem wir jede einzelne Gattung betrachten.« Aristoteles, Historia animalium, Buch I, Kapitel 1, 487a11–14. 36 Plinius übernimmt Elemente dieses deskriptiven Verfahrens in seiner breiter angelegten, in über 30 Büchern ausgeführten Historia Naturalis. In dieser im 18. Jahrhundert intensiv rezipierten und zitierten Materialsammlung behandelt Plinius zunächst die Kosmologie und Geographie. Er wendet sich in Buch Sieben dem Menschen zu. Die verbleibenden Bücher widmet er der Tier- und Pflanzenwelt, den aus diesen gewonnenen Heilmitteln aus dem Pflanzen- und Tierreich und der unbelebten Welt. Plinius der Ältere, Naturkunde Bd. 1, hg. und übersetzt von Gerhard Winkler und Roderich König, Düsseldorf, Artemis und Winkler Verlag, 2008. 37 Vgl. Buffon, Œuvres, mit einem Vorwort v. Michel Delon, hg. v. Stéphane Schmitt, Paris, Gallimard, 2007, notice, S. 1383. 38 Buffon, Histoire naturelle, générale et particulière. Premier discours. De la manière d’étudier et de traiter l’histoire naturelle (1749), Œuvres, S. 35: »Il doit se ranger lui-même dans la classe des animaux, auxquels il ressemble par tout ce qu’il a de matériel, et même leur instinct lui paraîtra peut-être plus sûr que sa raison, et leur industrie plus admirable que ses arts«. 35

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Griechisch »Werkzeug«) und Funktionen, die im komplexeren menschlichen Organismus verborgen bleiben, klar vor Augen und spiegeln somit indirekt über die Homologien zwischen tierischen und menschlichen Organismen die Strukturen und Zwecke des Menschen. Wie Claude Perrault schreibt, werden »die bewundernswerten Funktionen der Tiere von Werkzeugen erzeugt, die wir sehen können.«39 Der gleiche Gedanke wird auch von Reimarus (und später, aller Differenzen ungeachtet, von Mendelssohn) aufgenommen. Dieser bestimmt bereits das Tier durch seine relative Vollkommenheit und Fortdauer«40 und stellt dessen Werden und endlichen Streben nach Vollkommenheit das unendliche Streben nach Vollkommenheit im Menschen gegenüber. In der füglichen Einrichtung der Tiere und insbesondere ihren Kunsttrieben offenbare sich ein Zweck: »ein unendlicher Verstand und »eine ewige Vorsehung«, welche das, was jedem Thiere, nach seinen wesentlichen Schranken, an Leib und Seelenkräften zu seiner Erhaltung mangelte, durch angeborene Fähigkeiten so weit ersetzet, dass alle Arten dadurch in einer gewissen Proportion erhalten werden«. »Nichts in der Welt, zumal im Thierreiche, legt die Absichten des Schöpfers, und die darinn liegende Weisheit und Güte klärer vor Augen als die Triebe, Fertigkeiten oder Künste der unvernünftigen Tiere.«41 Die Tiere zeigen in ihrem Werden eine zweckmäßige Einrichtung, »[w]enn wir die Welt nicht nur dem Raum und der Zeit nach, sondern auch nach den Arten und Stufen der Dinge, als voll und stets in einem fortgehend betrachten, so erscheint sie uns in ihrer wahren Vollkommenheit, als ein Werk, das des unendlichen Schöpfers würdig ist.« Und »wenn wir sie außerdem nicht nach dieser Absicht und mit diesem teleologischen Leitfaden betrachten ; so muss notwendig alle innere und äußere Vollkommenheit der Welt, alle Ordnung und Schönheit der Theile, alle Weisheit und Kunst des Werkmeisters in unseren Gedanken verschwinden«.42 Diese Zweckbetrachtung erweist sich aber deshalb auch in Anwendung auf den Menschen als fruchtbar. Gerade weil das Tier sich in seinem Werden zeigt und zugleich als Zweck betrachtet werden möchte, spiegelt es über die Analogie zwischen tierischem und menschlichem Leibe Zweck und Bestimmung des Menschen. In seinem Leib, 39 Claude Perrault, Essais de Physique, Paris, 1680, S. 7: »Les fonctions admirables des animaux sont produites par des instruments que nous pouvons voir«. Vgl. auch Raphaële Andrault, Stefanie Buchenau, Claire Crignon et Anne-Lise Rey, Médecine et philosophie de la nature humaine, de l’Age classique aux Lumières. Anthologie, Paris, Classiques Garnier, 2014, Kapitel 2, S. 91–95. 40 Mendelssohn, Phaedon, S. 413. 41 Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. v Günter Gawlick. 2 Bde., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, S. 311 ff. 42 Ebd., S. 305.



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»unserer kleinen Welt«, bildet sich über die Analogie mit dem tierischen »die ganze große Welt, nach ihren Theilen, Veränderungen und Eigenschaften« ab.43 Diese grundsätzliche Gegenüberstellung von Tier und Mensch44 nimmt auch Herder in der Ursprungsschrift und später in den Ideen auf. Schon im Traktat Über den Ursprung der Sprache dient ihm diese Doktrin als überzeugendere Alternative zu der alten Doktrin von der immateriellen Seele, wie sie bei Platon und Aristoteles bestand. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei »nicht in Stufen, oder Zugabe von Kräften«. Die Vernunft könne deshalb nicht als eine »abgetrennte Kraft in der Seele« und die »vierte Stufe einer Leiter nach den drei untersten, allein betrachtet werden«.45 Sie bestehe stattdessen: in einer »ganzen Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden und wollenden Natur«, der »Einzigen positiven Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfertigkeit wird ; die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird« ; ein seiner Gattung eigener »Charakter« und eine eigene »Richtung der Kräfte.« Während das Tier sich sein Leben lang in einer bestimmten »Sphäre« bewegt und in ihr verbleibt, steht dem Menschen eine offene Welt zur Verfügung. In den Ideen bettet Herder denselben Gedanken einer Analogie zwischen tierischen und menschlichen Zwecken in einen weiteren kosmogonischen Kontext ein. Wie die geologischen Funde des 18. Jahrhunderts gezeigt haben, ist die Welt eine Werdende, ein Chaos, bevölkert von Wesen, die ihrerseits werden und vergehen. Unendlich alt und unendlich jung46 ist sie in einem 43 Ebd., S. 481: »Endlich wird unserer Seele auch der Körper, und durch denselben die körperliche Welt, zum Spiegel der Gottheit, weil sie nun mit ihrem Verstande in den sichtbaren leblosen Dingen die erste lebendige Ursache ; in der Mannigfaltigkeit, Ordnung und Übereinstimmung der Dinge, den unendlichen Verstand und die Weisheit derselben ; in dem Nutzen der leblosen Dinge, zur Lust und Glückseligkeit der Lebendigen, die beste und gütigste Absicht dieses höchsten Wesens erblicket. Auf solche Weise dienet auch der Leib unserer Seele zum Werkzeuge, nicht allein der sinnlichen Lust, sondern auch eines vernünftigen höheren Vergnügens, das sein Verlangen auch ins Geistliche und Unendliche erstrecket.« 44 Herder erwähnt in den Ideen das »vortreffliche« Buch des »seligen« Reimarus über die Triebe der Tiere und fügt an, dass dieses »so wie sein andres über die natürliche Religion ein bleibendes Denkmal seines forschenden Geistes und seiner gründlichen Wahrheitsliebe sein wird«. Er verwahrt sich nur gegen die Annahme besonders determinierter Naturkräfte und angeborener Fertigkeiten (Ideen, I, 3, IV, S. 100). Vgl. auch schon Mendelssohn, Literaturbriefe, VIII, S. 250–279. 45 Herder, Über den Ursprung der Sprache, S. 717. 46 Während in der Astronomie der frühen Neuzeit der Kopernikanismus die räumliche Unendlichkeit unseres Universums – oder die unendliche Entfernung der nicht die Sonne umkreisenden Planeten – nahelegt, eröffnen im 18. Jahrhundert neue geologische

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ständigen Wechsel begriffen. Zufall, Verwandlung, Überschwemmungen, Austrocknungen47 prägen den Lebenslauf des Menschen und der Menschheit: »[D]er ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung, alle seine Lebens­a lter sind Fabeln derselben und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden Metamorphose.«48 Die Menschengeschichte selbst ist von Revolutionen und Kriegen geprägt ; sie wird »zuletzt ein Schauplatz von Verwandlungen, den nur der übersieht, der selbst alle diese Bilder durchhaucht und sich in ihnen allen freuet und fühlet:49 Nichts ist schon, was es sein soll, alles ist im Werden begriffen. In dieser Welt nun bieten die Zwecke des Tieres, die sich dem Auge schon darlegen, zumindest einen relativen Halt.« Herder nimmt aber nicht nur diese methodische Vorgabe aus der Naturgeschichte auf, die vom Tier ausgehend bottom up statt top down verfährt. Er teilt auch die bloß deskriptive Ambition der Naturgeschichte und kommt in diesem Rahmen auf das Modell einer Kette der Wesen zurück. Wiederum in Anlehnung an Leibniz50 und Buffon51 postuliert er, man müsse, um der besseren Beschreibung des Seienden willen, ein Kontinuum annehmen, in der die Wesen eine zusammenhängende Kette bilden.52 Weil sich Sprünge und absolute Unterschiede in der Natur nie feststellen lassen, kenne die Natur keiFunde Einsichten in ihre zeitliche Unendlichkeit. Um die Mitte des 18. Jahrhundert herum beginnt man, auch im Zusammenhang mit dem zerstörerischen Erdbeben von Lissabon von 1755, aufgrund von neuen Enthüllungen über Gebirgsschichten, Flussströmungen und unterirdische Wölbungen und neuen Zeitberechnungen des Alters der Vulkane auch das Alter der Erde neu zu berechnen. Diese Themen stehen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und philosophischen Debatten and prägen sowohl Herder als auch Kant. Stephen Gaukroger, The Natural and the Human. Science and the Shaping of Modernity, 1739– 1841, Oxford University Press, 2016, S. 222. Vgl. auch Martin J. S. Rudwick, Bursting the Limits of time: The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution, Chicago 2005, S. 119 ff. 47 Herder, Ideen, I, 1, 3, S. 29. 48 Ebd., II, 7, I, S. 252. 49 Ebd., S. 253. 50 Leibniz’ Auslegung des alten platonischen Modells der Kette der Wesen besitzt für Herder und die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts allgemein eine wichtige Bedeutung. Denn Leibniz formuliert das alte Modell in der neuen Sprache der Mittel und Zwecke. Hier liegt die Existenz aller Wesen und Zustände der Welt in der göttlichen Weisheit begründet. Gott, der die beste aller Welten gewählt und geschaffen hat, hat sie auch nach den Regeln der logischen Notwendigkeit und einem Prinzip der Vollkommenheit zu einem Zusammenhang von Zwecken und Mitteln verknüpft, der den göttlichen Absichten entspricht. Im Ausgang von dieser besonderen Metaphysik versucht Leibniz seinerseits, das Prinzip der Kontinuität für die Naturphilosophie fruchtbar zu machen. Vgl. dazu insbesondere: »Lettre à Varignon sur le principe de continuité« (2. Februar 1702) und das Vorwort der Nouveaux Essais sur l’entendement humain. 51 Buffon, Premier discours, Œuvres, S. 3–66. 52 Vgl. wiederum Lovejoy, The Great Chain of Being.



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nen Sprung und deshalb auch keine Stufen- oder Rangordnung. »Der Naturforscher setzt keine Rangordnung unter den Geschöpfen voraus, die er betrachtet ; alle sind ihm gleich lieb und wert.«53 Er muss sich selbst aller affirmativer ontologischer Urteile enthalten. Was auch immer die im göttlichen Verstande liegenden verborgenen Zwecke und die wahre Abstufung des Seins sein mögen, so darf er selbst niemals direkt einen göttlichen Standpunkt einnehmen wollen. Stattdessen muss er die Relativität der eigenen Perspektiven anerkennen. Sein Kettenmodell beansprucht weder einen ontologischen noch einen hierarchischen Wert. Der direkte Nutzen ist rein epistemologisch. Man gründet seine Klassifikationen auf äußere und dem Auge zugängliche Merkmale, um versteckte Differenzen und Merkmale aufdecken zu können. Je ernster der naturaliste seine deskriptive Aufgabe nimmt, desto besser. Denn ein rein deskriptives Selbstverständnis der eigenen Disziplin dient am besten den heuristischen Zwecken.

Mischwesen und Metamorphosen

Herders Methode entlehnt in der Tat ihre Grundsätze der teleologischen Naturgeschichte der neueren Insektenforscher. Insbesondere rühmt er den treuen Fleiß eines Swammerdam, Réaumur, Lyonet, Rösel, die uns die Insekten »aufs schönste vor Augen gemalt haben.«54 Diese empfehlen, sich eines vorschnellen Urteils über Zwecke und Klassenzugehörigkeit zu enthalten. In seinen Mémoires pour servir à l’histoire des insectes argumentiert Réaumur, sicherlich gäbe es uns bekannte Zweckursachen, aber »vielleicht weniger als wir denken oder zumindest kennen wir diese nicht vollständig.« Dass das Auge gemacht sei, um zu sehen, der Mund, um Nahrung aufzunehmen, die Zähne, um diese zu zerkauen, der Magen, um sie zu verdauen, daran ist kein Zweifel. Dass die Flügel den meisten Insekten gegeben sind, um zu fliegen, daran ist auch kein Zweifel, aber sie sind ihnen nicht nur zum Fliegen gegeben. Es gibt sogar Schmetterlinge, denen sie ganz und gar nicht zum Fliegen gegeben wurden. Manche sind mit sehr großen und sehr schönen Flügeln ausgestattet und scheinen nicht zu wissen, dass sie Flügel haben.55 53

Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, X, S. 116. Herder, Ideen, I, 3, IV, S. 102. 55 René-Antoine Ferchault de Réaumur, Mémoires pour servir à l’histoire des insectes, Band I: »Sur les chenilles et les papillons«, Paris, 1734, S. 24 f.: »Il y a assurément des causes finales particulières qui nous sont connues, mais peut-être y en a-t-il moins que nous ne croyons, ou au moins ne les connaissons-nous pas dans toute leur étendue. Que l’œil a été fait pour voir, la bouche pour recevoir les aliments, les dents pour les broyer, 54

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Die gleiche Beobachtung gilt für die Beine. Aus diesen Gründen ist eine große Zurückhaltung in der Verwendung teleologischer Erklärungsmuster angebracht. Da die Zwecke des Schöpfers nicht unmittelbar vor Augen liegen und da sie die Schranken unserer Erkenntnis überschreiten, sind unsere Lobsprüche oft deplatziert. »Beschreiben wir seine Werke deshalb so genau wie es uns möglich ist ; das ist die Art und Weise, ihn zu preisen, die für uns am besten angemessen ist.«56 Man kann die tierischen Zwecke nicht erschöpfend beschreiben. Aber das schließt für Réaumur nicht aus, dass der tierische Organismus als ganzer einem Zweckprinzip gehorcht, ohne dass dessen »Mechanismus« notwendig vollständig sichtbar ist. Die Annahme eines Zwecks entspricht einfach einem höheren Prinzip der »Haushaltung«. Diese neue Teleologie der Haushaltung folgt aus neuen Einsichten in die Entwicklungsfähigkeit und Hybridität des Tieres. Die Metamorphose der Raupe – die bereits bei Reimarus und auch in der Korrespondenz zwischen Mendelssohn und Herder Erwähnung fand – stellt ein Beispiel für eine solche Entwicklung dar. Swammerdams Studien weisen darauf hin, dass der Schmetterling schon in der Form der Raupe besteht und dass der Seiden­ kokon, in den er sich zu verwandeln scheint, nur der Schmetterling selbst ist, von einigen ihn einwickelnden Hüllen umgeben.57 Andere Tiere deuten sogar auf die Entwicklung einer Art aus der anderen. Diese »Zwischenwesen« erwecken im 18. Jahrhundert vermehrt die Aufmerksamkeit der naturalistes. Am 25. November 1744 zerschneidet Abraham Trembley einen Süßwasserpolypen und stellt fest, dass den separaten Teilen immer noch eine Kontraktionskraft innewohnt. Damit findet er seine Hypothese bestätigt, dass der Polyp in der Tat eine Mittelstellung zwischen der Klasse der Tiere und der Pflanzen einnehme. Die Gestalt, Farbe und Unbel’estomac pour les digérer, nous n’en scaurions douter, que les ailes ayent été données au commun des insectes pour voler, nous n’en scaurions douter encore, cependant ce n’est pas uniquement pour voler qu’elles ont été données. Il y a même des papillons à qui elles n’ont pas du tout été accordées pour voler, nous en verrons qui les ont très grandes et très belles qui ne semblent pas savoir qu’ils ont des ailes.« 56 Ebd., S. 25: »tout ce que nous voulons en conclure ce que nous devons être extrême­ ment retenus dans l’explication des fins que s’est proposées celui dont les secrets sont si impénétrables, que nous louons souvent mal une sagesse qui est si fort au-dessus de nos éloges. Décrivons le plus exactement qu’il nous est possible ses productions, c’est la manière de la louer qui nous convient le mieux.« 57 Charles Bonnet, Traité d’insectologie ou Observations sur les pucerons, 1745, préface, S. IV: »Swammerdam nous a dévoilé le vrai de ces prétendues métamorphoses si chères à l’imagination & consacrées par les comparaisons les plus relevées. Il nous a appris que le Papillon existoit déjà sous la forme de Chenille, & que la Chrysalide dans laquelle celle-ci semble se transformer n’est que le papillon lui-même revêtu de certaines enveloppes qui le tiennent comme emmaillottés.«



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weglichkeit lasse an eine Pflanze denken, die Bewegung, Kontraktionskraft und Art der Fortpflanzung hingegen an ein Tier, wie die Schnecke. Der Süßwasserpolyp gehört damit zu den »animaux-plantes« und zu jenen hybriden Wesen, die traditionell aus den Klassifikationsrastern hinausfielen. Aristoteles erwähnt sie zwar in seinen naturphilosophischen Schriften58, steht ihnen aber eher ratlos gegenüber. Die Neueren hingegen sehen in diesen Zwischenwesen gerade ein Zeichen der Erhabenheit und Größe der Welt und der göttlichen Absichten. Trembley notiert, er »empfände auf Lebhafteste, dass die Natur allzu weit und unbekannt sei, als dass man ein für alle Mal feststellen dürfe, diese oder jene Eigenschaft finde sich nicht in dieser oder jener Klasse organisierter Körper.«59 Er betont den heuristischen Wert dieser Zwischenstellung, die seine Neugier geweckt und ihn zu weiteren Studien und Experimenten angetrieben habe, um dessen Funktionen in ihrer Gesamtheit besser zu erkennen. Der Schweizer naturaliste und Metaphysiker Charles Bonnet (1720–1793) verfolgt und kommentiert seinerseits diese Studien Trembleys aus nächster Nähe und skizziert im Ausgang vom Süßwasserpolypen und anderen Mittelwesen und -gliedern wie dem zugleich terrestrische und aquatische Lebensräume bewohnenden Amphibium eine neue Kette [gradation] zwischen allen Teilen des Universums, die diese Bindeglieder [points de passage et liaisons] in den Vordergrund stellt.60 Bonnet unternimmt es als Erster, von dieser Insectologie her eine neue Doktrin der Unsterblichkeit, Simplizität und Personalität des Menschen und der Palingenesie der Seelen herzuleiten. Noch vor Herder befasst er sich mit Palingenesie61 und der Ableitung einer »Psychologie« aus der Physiologie. Diese Ableitung erhebt die von seinem langjährigen Korrespondenten Albrecht von Haller isolierten Eigenschaften bestimmter Organe, nämlich die Reizbarkeit des Muskels und die Sinnlichkeit des Nervs, zu neuen grundlegenden Vermö58 Siehe Aristoteles, De Partibus Animalium IV 13 697a15–b26. De Generatione animalium I 23 731b8–14, De Incessu Animalium 19 714b10–19. 59 Abraham Trembley, Mémoires pour servir à l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce à bras en forme de cornes, 1744, S. 18: »Je sentois vivement que la Nature étoit trop vaste, & trop peu connue, pour qu’on pût décider sans témérité que telle ou telle propriété ne se trouvoit pas dans telle ou telle classe de corps organisés«. 60 Bonnet, Traité d’Insectologie, S. XXVII f.: »[…] un des usages de la nouvelle découverte est de nous montrer qu’il y a une gradation entre toutes les parties de cet univers. Vérité sublime, et bien digne de devenir l’objet de nos méditations ! En effet, si nous parcourons les principales productions de la Nature, nous croirons aisément remarquer qu’entre celles de différentes classes & même entre celles de différents genres il en est qui semblent tenir le milieu et former ainsi comme autant de points de passage ou de liaisons. C’est ce qui se voit surtout dans les polypes«. 61 Bonnet, La Palingénésie philosophique, ou Idées sur l’État passé et sur l’Etat futur des Êtres vivants, Génève, 1770.

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gen. Von diesen primitiven, im Insekt schon sichtbaren Organen und Kräften gilt es in einer neuen auf Physik und Physiologie gründenden Metaphysik die Unsterblichkeit des Menschen herzuleiten. Bestimmte Einsichten des insectologue lassen sich Bonnet zufolge auf Tier und Mensch übertragen. Was sich dem Auge als sein Organ darstellt, mag in Wahrheit nur Hülle sein, wie der Kokon der Raupe, den der Schmetterling ablegt: »Nehmt dieses Wort ›Hülle‹ in seinem eigentlichen physiologischen Sinne, denn meinen Ideen gemäß ist all dies noch keineswegs das Tier. Es ist nicht mehr das Tier, als die Raupe der Schmetterling ist.«62 Diese Wahrheit kann auch für den Tiger gelten. Auch er ist perfectible, und vielleicht nicht zu einer solchen Grausamkeit bestimmt, wie er sie in der gegenwärtigen Welt an den Tag legt. Er kann stattdessen seinerseits auch ein höheres, noch nicht sichtbares Ziel in der göttlichen Rangordnung anstreben. Und auch der Mensch mag sich seiner gegenwärtigen Organe nur als temporäre Werkzeuge bedienen und irgendwann alle äußeren Hüllen ablegen. Er mag in einem zukünftigen Zustand unseres Planeten, der seinerseits auch in ständiger Entwicklung begriffen ist, seinen ersten Rang an den Affen oder Elefanten abgeben und eine neue Wohnstätte beziehen, die der Vortrefflichkeit seiner Vermögen angemessen ist.63 Herder übernimmt diesen teleologischen Grundgedanken in seinen Grundzügen.64 In gewisser Hinsicht zeichnet sich der Mensch durch eine 62 Bonnet, Palingénésie, XII, S. 2: »Prenez ce mot d’enveloppe dans son sens propre & physiologique, car, suivant mes idées, tout cela ne seroit point l’Animal. Il ne seroit pas plus l’Animal, que la Chenille n’est le Papillon«. Vgl. auch ders., Essai analytique, §§ 714 ff. 63 Vgl. Bonnet, Palingénésie, III, S. 203 f.: »La même Progression que nous découvrons aujourd’hui entre les différents ordres d’Etres organisés, s’observera, sans doute, dans l’Etat Futur de notre Globe ; mais elle suivra d’autres Proportions, qui seront déterminés par le degré de Perfectibilité de chaque espèce. L’Homme, transporté alors dans un autre séjour plus assorti à l’éminence de ses Facultés, laissera au Singe ou à l’Eléphant […] cette première place qu’il occupait parmi les Animaux de notre Planète. Dans cette Restitution universelle des Animaux, il pourra donc se trouver chez les Singes ou les Eléphans des Newtons & des Leibnitz ; chez les Castors, des Perrault & des Vaubans, etc.« Zu Bonnets Auslegung der perfectibilité vgl. auch die Auseinandersetzung mit Rousseau: Lettre de M. Charles Bonnet, au sujet du discours de M. J. J. Rousseau de Genève, sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les Hommes, Mercure de France, octobre 1755. 64 Ideen: »Der unsterbliche Haller hat die verschiednen Kräfte, die sich im Tierkörper physiologisch äußern, nehmlich die Elastizität der Faser, die Reizbarkeit des Muskels, endlich die Empfindung des Nervengebäudes mit einer Genauigkeit unterschieden, die im Ganzen nicht nur unwiderlegbar bleiben, sondern noch die reichste Anwendung, auch bei andern als menschlichen Körpern, zur physiologischen Seelenlehre gewähren dürfen«. Vgl. auch Vom Sinnen und Erkennen. Vgl. auch mein Aufsatz: »Herder. Physiology and Anthropology«, in: Herder. Philosophy and Anthropology, hg. v. Nigel DeSouza u. Anik Waldow, Oxford, Oxford University Press, 2017, S. 72–93.



Herders Humanität

ganz besondere physiologische Reizbarkeit und Sinnlichkeit aus, die er auch aufgrund seiner weiteren anatomischen und physiologischen Besonderheiten – seine aufrechte Statur und seine Fähigkeit zur Sprache – entwickelt hat.65 Der Mensch ist das vernünftigste, da das reizbarste und empfindsamste Wesen. Das bedeutet zwar, dass er Krankheiten in höherem Maße als das Tier ausgesetzt ist und dass er in nichts, was er kann und tut, vortrefflich ist. Herder bezeichnet den Menschen als ein »Mittelgeschöpf«, insofern er manche Vermögen im Vergleich mit dem Tiere nur in einem geringeren und durchschnittlichen Maße besitze – er sei dem Elefanten an Feinheit des Sinnes, dem Löwen an Muskelkraft, dem Faultier an Elastizität der Fibern unterlegen.66 Zugleich aber spiegelt sich in diesen Vorzügen der Tiere der eigene besondere Rang des Menschen. Er ist mittelmäßig, insofern sich in ihm »die meisten und feinsten Strahlen ihm ähnlicher Gestalten sammeln« und »sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln«. Seine Mittelmäßigkeit deutet gerade auf eine Haushaltung und Ökonomie der Kräfte und eine Gradation der Wesen, in der er »wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweener Welten« ist.67

Schwellen und Übergänge

Aus seiner besonderen Stellung lässt sich nun wie bei Bonnet die »Unsterblichkeit« als Progression und Übergang herleiten: Der Mensch steht an der Schwelle einer zweiten Welt ; er ähnelt solchen Zwischenwesen und Mittelgattungen, »mit denen die Natur aus einem Element ins andere übergeht. Der Strauß schwingt matt seine Flügel nur zum Lauf, nicht zum Fluge, sein schwerer Körper zieht ihn zu Boden. Indessen auch für ihn und für jedes Mittelgeschöpf hat die Natur gesorgt.«68 Der Mensch ist ein Strauß, ein Amphibium, ein Süßwasserpolyp. Er ist sowohl Mittelwesen als auch göttlich, ja er ist göttlich, da Mittelwesen, da er verschiedene Zwecke in sich versammelt. Denn wie der Strauß besitzt auch der Mensch Organe, die auf ein höheres Prinzip der Haushaltung, auf eine höhere Bestimmung deuten und auf die Zugehörigkeit zu einer höheren Welt. So steht der Mensch Herder zufolge in einem »sonderbaren Widerspruch« mit sich selbst: Das »ausgebildetste 65 Zu Haller und dem Kontext der Physiologie im 18. Jahrhundert vgl. François Du­ches­­neau, La physiologie des Lumières: empirisme, modèles et théories, The Hague/Boston/ London, Martinus Nijhoff, 1982. 66 Herder, Ideen, I, 3, III, S. 95–98. 67 Ebd., I, 5, 6, S. 193. 68 Ebd.

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Geschöpf ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage«69 und steht zwischen zwei Wohnstätten, ohne je in der zweiten sein Lager aufzuschlagen. Der Mensch ist ein Wandernder, der in der Welt statt eine Wohnstätte eine »Herberge« findet. Weil die Welt fragmentarisch, unabgeschlossen bleibt und das Systemganze immer nur Projektion des Menschen ist, ist die hiesige Welt nur ein »Stückwerk«, nur eine »Übungs- und Prüfstätte«, »eine Herberge für Wanderer, ein Irrstern, auf dem Zugvögel ankommen und Zugvögel wegeilen.«70 Dass der Mensch eine Mittelstellung zwischen Tier und Mensch und zwischen der materiellen und der immateriellen ideellen Welt einnimmt, bedeutet, dass er eigentlich nicht weiß, ob sich das, was er selbst als Vervollkommnung empfindet, auch aus der Sicht höherer Wesen ebenso darstellt. Er hat streng genommen keine Einsicht in, sondern nur ein Gefühl von seiner Selbsttätigkeit, das sich als eine Illusion erweisen mag: »kein nachahmender Affe höherer Wesen sollte der zur Freiheit erschaffene Mensch sein: sondern auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn stehen, dass er selbst handle.«71 Herder erklärt, dass ihm gerade »zu seinem edlen Stolze auf dem seine Bestimmung legt, […] ihm der Anblick edler Wesen entzogen [sei]: denn wahrscheinlich würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese kennten.« Es gibt zwar eine zweite, von dieser materiellen unbedingt geschiedene und zukünftige Welt, die eine absolute Differenz zwischen Mensch und Tier herstellt und Sprossen und Stufen in dem bezeugt, was sich in seinen Augen als Kontinuum darstellt. Sie ist es, die dem Menschen seine Würde verleiht, durch die er sich der gleichen Menschengattung zugehörig72 und unbedingt vom Affen geschieden weiß.73 Eigentlich kann sich der Mensch aber in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern nur »hineinglauben«, und zwar nur durch den Analogieschluss über den Blick auf das Tier und seine Metamorphosen. Da die Verwandlungen in den niedrigeren Reihen Vervollkommnungen sind, können wir annehmen, dass auch unsere Verwandlung eine solche ist – eine Ahnung, dass die hässliche Raupengestalt nicht nur das »Gespinst zu ihrem Totengewande«, sondern auch manche Organe zu ihrem neuen Dasein als Schmetter69

Herder, Ideen, I, 5, VI, S. 194. Ebd., S. 194. 71 Ebd., S. 197. 72 Ideen, 7: »In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint: so ists doch überall ein und dieselbe Menschengattung.« 73 Ideen, II, 7, 1, S. 254: »Auch die Angrenzung der Menschen an die Affen wünschte ich nie so weit getrieben, dass indem man eine Leiter der Dinge sucht, man die wirklichen Sprossen und Zwischenräume verkenne, ohne die keine Leiter stattfindet.« 70



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ling schon in sich trägt, »mit elastischer Kraft und allem Glanz der Strahlen begabt, der unter dieser Sonne nur statt fand.«74 Aber Herder begründet im Unterschied zu Bonnet diese Zwischenstellung auf einen Glauben, der nicht auf Offenbarung, sondern auf Vernunft beruht und auf der Möglichkeit der Vernunfteinsicht in das eigene Amt und in die eigene Unsterblichkeit.75 Die Naturgeschichte offenbart uns noch nicht Zweck und Bestimmung. Was sie uns aber eröffnet, ist die uns eigene Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Gerade im Namen der eigenen Selbsterkenntnis, sprich: Erkenntnis der menschlichen Organe und Möglichkeiten, ist nun aber Menschenkenntnis, d. h. die Kenntnis der Menschheit in ihrer Vielfalt unbedingtes Gebot. Denn nur diese können dem Menschen seine eigenen menschlichen und individuellen Möglichkeiten vor Augen stellen. Es kann nicht darum gehen, die Differenzen und die Opazität des einzelnen lediglich zu tolerieren. Human wird der Mensch dann, wenn er danach strebt, Gotteserkenntnis über Selbsterkenntnis zu erhalten, als ein wahrer Weltbürger die Welt in ihren Zeiten und Räumen zu durchwandern und das eigene Selbst im Andern zu erkennen. Denn diese Selbsterkenntnis im Andern ist die Voraussetzung für die Ausübung des eigenen Amtes im Dienste der Menschheit und der Schöpfung.

Herders pragmatische Geschichte der Menschheit

Dieser Humanismus76 bildet den Ausgangspunkt für Herders pragmatische Geschichtsphilosophie, die er in Auch eine Geschichte skizziert und in Buch Zwei der Ideen in größerem Detail ausführt. Zwar ist das Verhältnis des Menschen zu anderen historischen Zeiten und geographischen Räumen von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Es ist zugleich Verachtung und »beneidende« 74

Ebd., I, 5, V, S. 191 f. Herder distanziert sich von der christlichen Wendung, die Bonnet dem platonischen Gedanken der Palingenesie gibt und der die Offenbarung des eigene Amts von der Vernunfteinsicht in das Sein der Dinge trennt. Er übt zudem Kritik an dessen Keimtheorie, vgl. Ideen, I, 3, II: »Die Theorie der Keime, die man zur Erklärung der Vegetation angenommen hat, erklärt eigentlich nichts, denn der Keim ist schon ein Gebilde und wo dieses ist, muß eine organische Kraft sein, die es bildet. Im ersten Samenkorn der Schöpfung hat kein Zergliederer alle künftigen Keime entdeckt.« 76 Zu diesem besonderen politischen Universalismus und Humanismus Herders gibt es eine reiche Literatur. Es soll hier reichen, einige ausgewählte Titel der letzten Jahre zu nennen: Sankar Muthu, Enlightenment against Empire, Princeton, New Jersey, Princeton University Press, 2003, besonders Kapitel 6, S. 210–258 ; Sonia Sikka, Herder on Humanity and Cultural Difference. Enlightened Relativism, Cambridge University Press, 2011, John K. Noyes, Herder: Aesthetics against Imperialism, University of Toronto Press, 2015 ; Michael N. Forster, Herder’s Philosophy, Oxford, Oxford University Press, 2018, Kap. 7–9, S. 210–285. 75

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Aneignung77, Abstoßung und Assimilation. Indem die Natur »einen Teil der Mannigfaltigkeit im Kreise um uns legt«, stellt sie den Menschen auf seine Stufe, bildet sie ihm seine Welt, die »den menschlichen Blick [mäßigt], daß nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis, Horizont wurde.« Alles, was innerhalb dieses Kreises assimiliert werden kann, beneide ich, strebs an, mache mirs zu eigen ; darüber hinaus hat mich die Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet, sie kann gar Verachtung und Ekel werden – hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurückzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Genüge zu geben, der mich trägt.78

Der Grieche baut auf die Leistungen der Ägypter und Orientalen, aber sobald der Grieche sich das vom Ägypter angeeignet hat, was seinen Bedürfnissen entspricht, fällt »alles übrige zu Boden«.79 Je größer der Abstand zwischen den Nationalneigungen, desto größer deshalb auch Verachtung und Hass. Aber zugleich bieten verschiedene Lebensalter verschiedene Möglichkeiten, die es aus einer pragmatischen Perspektive gilt, als solche festzuhalten, weil die eigene Perspektive einseitig und beschränkt sein kann und diese Möglichkeiten von späteren Generationen in einer von Revolution und Zerrüttungen geprägten Welt neu entdeckt werden können. Jedes Alter hat seinen eigenen Handlungsspielraum und seine eigenen ungenutzten Möglichkeiten und Träume. Je jünger die Kultur, desto charakteristischer die Züge, und desto einsichtiger die Möglichkeiten. Die Griechen besitzen für Herder wie für seine Zeitgenossen deshalb einen besonderen Platz in diesem Modell. Um der Fassung dieser vielfältigen Möglichkeiten und der Ausbildung eines Gefühls der Menschheit willen bedarf es daher zugleich der Zurücknahme der Tendenz zur Verachtung und der größtmöglichen Einfühlung in die Welt eines jeden Wesens und einer jeden Nation, in der diese den Mittelpunkt einer Glückseligkeit in sich trägt und sich notwendig als Selbstzweck betrachtet.80 Wie Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität schreibt, muss der Naturhistoriker der Menschheit gegenüber unparteiisch sein und davon 77

Auch eine Geschichte, S. 39. Ebd. 79 Ebd. 80 Herder, Ideen, II, 6, S. 191: »Auf dieses Principium ist die menschliche Natur gebauet, so daß kein Individuum eines andern oder der Nachkommenschaft wegen dazusein glauben darf. Befolget der niedrigste in der Reihe der Menschen das Gesetz der Vernunft und Billligkeit, das in ihm liegt: so hat er Konsistenz, d. i. er genießet Wohlsein und Dauer: er ist vernünftig, billig, glücklich. Dies ist er nicht vermöge der Willkür anderer Geschöpfe oder des Schöpfers, sondern nach den Gesetzen einer allgemeinen, in sich selbst gegründeten Naturordnung.« 78



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absehen, »verachtend eine Völkerschaft zu beleidigen, die uns nie beleidigt hat.«81 Diese Perspektive nun kennzeichnet jene wahrhaft pragmatische Geschichte82, die Herder (unter Berücksichtigung von Anregungen Abbts83 und Johann Christoph Gatterers) den konkurrierenden Geschichtsmodellen seiner Zeit und insbesondere der christlichen Universal- und Heilsgeschichte, wie exemplarisch von Bossuet ausgeführt84, entgegenhält. Diese pragmatische Geschichte gebietet, nichts von dem auszulassen, was gewesen ist, den Geist der Vergangenheit durch tätige Erinnerung lebendig zu bewahren, ja unsterblich zu machen,85 alle Möglichkeiten der Menschheit in einen weiteren teleologischen Zusammenhang von Mitteln und Zwecken einzugliedern. Dieser weite Blick ist im Namen der Selbsterkenntnis oder Reflexion auf die Bedingungen der eigenen praktischen Tätigkeit und auf die Erfüllung des eigenen Amtes geboten und ist zugleich eine relative Progression innerhalb der zugedachten Stufe. Sie ist »Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben«.86

Schluss

Unter dem Namen »Humanität« stellt Herder Mendelssohn eine neue Variante seines neuplatonischen Würdemodells gegenüber, das das Modell einer Kette der Wesen seines heuristischen Wertes wegen aufgreift und zugleich dessen praktischen und weltbürgerlichen Impetus entwickelt: Herder fragt nach den Möglichkeiten und Organen, die die eigene einsichtsvolle Tätigkeit bedingen, und glaubt, dass der Weg zu einer solchen Selbsterkenntnis notwendig über Weltkenntnis und Menschenkenntnis führt: In den ihn umge81

Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, 10. Sammlung, 116. Brief, Werke, S. 698. In einer frühen anlässlich einer Rezension zu Voltaire verfassten Notiz von 1766 skizziert Herder bereits dieses historiographische Programm: »Philosophie als Historie könnte seyn/Historie als Wißenschaft formell philosophisch beurtheilt. (ihre Gewißheit, Wahrheit, Methode, Abänderung des Vortrags, Genie p.)/ Philos. Philosophie ? (Philosophisch ?) beurtheilt: / Pragmatisch die Begebenheiten selbst:/ Ursachen p, Folgen p, Faden/ Politisch ihren Einfluß p/ Menschlich: das Menschliche Herz zu sehen, Charakter zu beurtheilen, das menschliche Herz zu bilden«, Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernard Suphan, Berlin, Weidmann, 33 Bde., Bd. 14, 1877–1913, S. 667. 83 Herder, Älteres kritisches Wäldchen, Werke, II, S. 15: »da ich nicht Gedächtnis gnug habe, alle historische Regeln von Lucian bis auf Abbt und Gatterer mir gegenwärtig machen […].« 84 Jacques-Benigne Bossuet, Discours sur l’histoire universelle, Paris, 1681. 85 Vgl. Herder, Ueber Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grab errichtet. Vgl. im gleichen Sinne Pollok, »How to dry our tears«, S. 14. 86 Herder, Auch eine Geschichte, Bd. 4, S. 42. 82

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benden Wesen spiegeln sich die eigenen Möglichkeiten, die es gilt über eine genealogische Methode und über Naturgeschichte und die Geschichte der Menschheit zu studieren. Die Naturgeschichte eröffnet dem Menschen über den Vergleich mit dem Tier neue naturalistische und anti-dualistische Perspektiven auf die eigene Göttlichkeit. Herder bedient sich gegen Buffon der Einsichten neuerer Naturund Insektenforscher wie Réaumur, Trembley und Bonnet, die ein bestimmtes höheres Zweckprinzip der Haushaltung im Tier annehmen, aus dem heraus auch dessen Werdeprozesse, bestimmte Zwischenformen und Verwandlungen verständlich werden. Wie das Amphibium ist der Mensch nicht so sehr eine Krone der Schöpfung, als zunächst ein mit vielfältigen Organen ausgestattetes und deshalb zweierlei Welten gleichzeitig bewohnendes Mittel­ wesen. Wie der Strauß, der matt die Flügel zum Laufe schwingt, ist er mit den Organen für den Aufschwung in eine höhere Welt ausgestattet. Um diese Organe und Möglichkeiten der Menschheit zu studieren, gilt es nun, die Zeiten und Räume der Menschheit zu durchwandern und das Alphabet menschlicher Charaktere zu lesen. Dem Vermögen der Aneignung dieser Möglichkeiten sind zwar Grenzen gesetzt ; was das Individuum nicht aneignen kann, verachtet es und stößt es ab. Aber es ist zugleich im Namen der eigenen höheren Selbst- und Menschenkenntnis und eines ganz besonderen Kosmopolitismus angehalten, den eigenen Standpunkt zu relativieren, die Perspektive des anderen einzunehmen und diesen als Selbstzweck zu betrachten.

Kapitel 3 Garves Cicero. Selbstschätzung und »Teilnehmung« Der aufklärerische Kosmopolitismus nährt sich aus vielfältigen antiken Quellen. Christian Garve (1712–1798) ist seinerseits ein großer Kenner der Philosophie des Altertums überhaupt – und ein aufmerksamer Leser und Rezensent von Mendelssohns Phaedon.1 Aber Garves Hauptaugenmerk gilt einem neuen Leitautoren, nämlich Cicero. Im Jahre 1783 übersetzt und kommentiert er auf über 800 Seiten Ciceros klassisches Würdetraktat De officiis [Von den Pflichten] und entwickelt am Leitfaden seines Cicerokommentars eine neue Popularphilosophie. Dieser Kommentar, der den Titel Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceros Büchern von den Pflichten trägt,2 stellt einen ersten und sehr konkreten Versuch dar, die alten Begrifflichkeiten von honestas, dignitas und officium von der römischen Republik in die moderne politische und auch wirtschaftliche Gegenwart und bürgerliche Gesellschaft zu übertragen. Hier nimmt Garve Abstand von einigen früheren platonischen Perspektiven. Insbesondere gibt er die allzu metaphysische Ambition auf, jene populären Ideen philosophisch zu beweisen, die der öffentlichen Meinung schon als gewiss und ausgemacht gelten können. Einer theoretischen und deutlichen Einsicht in das eigene Sein über die Angleichung an Gott als Quelle des Seins bedarf es nicht, um auf Menschenwürde Anspruch zu erheben. Man kann zwar Gottes Vollkommenheit symbolisch einsehen ; relevanter ist aber die anschauliche und lebhafte Erkenntnis der eigenen Vollkommenheit, das eigene Selbstgefühl von der eigenen Tätigkeit und Kraftäußerung, die den eigenen moralischen Wert und die moralische Größe bestimmt. Dieser Wert oder diese Würde wiederum muss als eine moralische Gesinnung auf einer vernünftigen Selbstschätzung, auf Menschenliebe und auf einer allgemeinen und gleichen Achtung aller Menschen oder auf einer allgemeinen Menschenehre gründen. Schon aufgrund dieser originellen Position und tiefen Reflexion auf den Würdebegriff innerhalb des aufklärerischen Humanismus gebührt Garve ein Platz in diesem Buch. Seine Bedeutung liegt aber außerdem in seiner Rolle als Vordenker von Kants (und Schillers) praktischem, populärem und 1 Christian Garve, »Mendelssohn’s Phädon«, in: Neue Bibliothek der Schönen Wissenschaften und freyen Künste, n° 6. 1, (1768), S. 80–107 ; n° 6. 2 (1768), S. 313–339. 2 Zu Garve, siehe auch insbesondere die Studien von Claus Altmayer, Doris Bachmann-Medick, Zwi Batscha, Rudolf Vierhaus, Johan van der Zande, Norbert Waszek.



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weltbürgerlichem 3 Würdebegriff und ästhetischem Programm.4 In der Tat scheint Garve Kants eigenen systematischen und kritischen Ansatz schon von der ersten Kritik an zu prägen (die Garve zusammen mit Johann Georg Heinrich Feder rezensiert). Die Denkanstöße aus dem Cicerokommentar von 1783 finden später direkt in Kants Grundlegung von 1785 ihren Niederschlag, die Kant bekanntlich als einen »Anti-Garve« konzipiert. Der philosophische Dialog wird in der Folgezeit und bis ans Lebensende fortgesetzt. Der Blick auf Garves Kommentar kann deshalb helfen, die großen Denkzusammenhänge, die Affinitäten und Differenzen zu klären. Er kann gleichzeitig einen Schlüssel zu Kants manchmal kryptischen Thesen liefern und diese in einem neuen Licht zeigen: Es zeigt, dass Kant an einer größeren Debatte teilhat, die die alten Begrifflichkeiten Würde, Ehre (honestas) und Schicklichkeit (dignitas) im Lichte einer neuen gesellschaftlichen, ökonomischen und ästhetischen Debatte aktualisiert, und dass Kant diese Deutung radikalisiert.

Garves Rezension von Mendelssohns Phaedon

Inhalt und Form von Mendelssohns Phaedon scheinen Garve gleichermaßen zu faszinieren, weshalb er der Schrift im Jahre 1768 eine lange Rezension in zwei Teilen widmet. Insbesondere zweierlei »Merkwürdigkeiten« von Mendelssohns Phaedon hebt Garve hervor, nämlich »einmal in Ansehung der Materie, als ein wichtiges Fragment von Philosophie. Zum andern in Ansehung der Form, als eine Ausübung der sokratischen Methode, oder als Dialog.«5 Beide Aspekte – philosophischer Inhalt und dialogische Form – sind offenbar sowohl in Platons Original als auch in Mendelssohns Übersetzung untrennbar. Wenn der erste Teil der Rezension mit den formellen Aspekten ansetzt, so geschieht dies, um die sokratische »Kunst zu dialogiren«6 und weil die dramatischen Charaktere und Menschen den Hintergrund bilden, vor dem die philosophische Beweisführung und der sokratische Versuch der phi3 Garves Fokus liegt noch eher auf Ciceros Popularphilosophie als auf seinem Kosmopolitismus. Siehe aber seine Ausführungen über den Weltmann, Über die Moden, 1792, in: Garve, Gesammelte Werke, hg. v. Kurt Wölfel, Bd. 1, S. 117–294, insbesondere S. 238, 274. 4 Das vorliegende Kapitel sowie die Abschnitte zu Garve in Kapitel 5 entsprechen den beiden Artikeln: »Menschenwürde. Kant, Cicero und Garve«, in: Natur und Freiheit, Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, éd. par Violetta L. Waibel, Margit Ruffing et David Wagner, Berlin/Boston, 2018, p. 2643–2650 ; »Menschenwürde. Die Kontro­ verse zwischen Garve und Kant«, in: Udo Roth und Gideon Stiening, Christian Garve (1742–1798): Philosoph und Philologe der Aufklärung, Walter de Gruyter, 2021, S. 101–126. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 82.



Garves Cicero

losophischen »Aufklärung« seiner Zeitgenossen gelesen werden muss. Wie Garve hervorhebt, treibt nur »das Bewusstsein seiner Kräfte und eine alles überwiegende Menschenliebe« Sokrates dazu an, »mit einem jeden die philosophischen Ideen, die als gewiss und ausgemacht in Grundsätze des Betragens und der Sitten vorwandelt worden, von neuem zu untersuchen«.7 Aber wenn auch Form und Inhalt verwebt sind, so erfordert doch ein neuer historischer und philosophischer Kontext eine neue Form und Übertragung der alten Ideen. Garve hebt die Freiheiten Mendelssohns in seiner Übersetzung hervor, die »oft blos die Idee, nicht ihre Wendung« übertrage. »Sind es Uebersetzungen des Plato, oder sind es Originale im platonischen Geist ?«8 Diese Freiheiten scheinen durch neuzeitliche philosophische und wissenschaftliche Prämissen gerechtfertigt, die Garve kurz erwähnt. Im Unterschied zur alten Philosophie habe die neue die Einbildungskraft »nicht mehr zur Führerin, nicht einmal mehr zur Begleiterin.«9 Diese philosophische Materie steht im Mittelpunkt des zweiten Teils der Rezension. Hier rekon­ struiert, unterscheidet und kommentiert Garve mit großer philologischer Kenntnis und analytischer Finesse Mendelssohns Deutungen und Beweise in ihrer Vielfalt.10 Manches verwirft er.11 Anderes hebt er im Sinne einer gelungenen Aktualisierung lobend hervor: »Die Beweise sind neu, aber sie sind wie schöne in voller Blüte stehende Bäume, die aus dem Saaamen der Alten hervorgewachsen sind.«12 So erkennt Garve (ähnlich wie Herder) Mendelssohns neue im Ausgang von einem modernen Naturbegriff vorgenommene Auslegung der Seelenwanderung an. Die Natur selbst, deren Kräfte uns als »Wahrsager« den Willen Gottes verkünden,13sei in einem stetigen Kreislauf zwischen Auflösung und Zusammensetzung, Tod und Leben, über den »Rückweg der Hervorbringung« begriffen. In dieser Stetigkeit der Natur bestehe die wahre Seelenwanderung. Diese eröffne aber auch einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Denn weil zwischen Sein und Nichtsein keine solchen »Mittelzustände, keine Stufen, kein Übergang« angenommen werden können, kann auch diese Veränderung nicht durch die Natur bewirkt werden. Durch Gott auch nicht, denn die Vernichtung eines Geistes wäre die Vernichtung sei7

Ebd., S. 83, vgl. zum Charakter des Sokrates auch S. 94 ff. Ebd., S. 83. 9 Ebd., S. 88. 10 Vgl. auch ebd., S. 336. 11 Ebd., S. 331. 12 Ebd., S. 86. 13 Ebd., S. 318. 8

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nes letzten Endzwecks. Also wird die Seele nicht vernichtet: Also handelt sie, also hat sie Begriffe, und also ist sie der Glückseligkeit fähig.14

Zudem schenkt Garve auch dem Begriff von Vollkommenheit große Aufmerksamkeit: nicht deshalb, weil er als Grundlage einer Ideenlehre dienen könne, wie noch Platon es annahm. Diese Ideenlehre lehnt Garve (ganz wie Herder) zusammen mit der Lehre von der Wiedererinnerung ab. Eigentlich kommt der Vollkommenheit deshalb Bedeutung zu, weil sie einerseits zum Gottesbegriff und anderseits zum richtigen Begriff des eigenen Selbst führe. Bei (Plato) sind diese (wesentlichen, selbstständigen) Vollkommenheiten (Schönheit, Güte) nichts anders als die Abstracta, die er, wie bekannt ist, zu existierenden Dingen macht, und Ideen nennt. Herr Mendelssohn hat darauf eine andere, aber richtige Vorstellung erbaut. Bey ihm ist diese selbstständige Vollkommenheit Gott. Die Folge bleibt dieselbe, aber der Grund ist fester.15

In dem Kommentar zum dritten Teil präzisiert Garve, dass dieser Gottesbegriff zwar nicht anschauend sei, nicht aber »bloss verneinend«, da nur eine »Unvollkommenheit und eine Einschränkung von Gott« verneint würde, »welches eben so viel ist, als ihm eine wirkliche Vollkommenheit beylegen«. Über diesen obzwar symbolisch erkannten, dennoch gewissen Begriff der göttlichen Eigenschaften hinaus verfüge der Mensch wohl durch ein Selbstgefühl über anschauende Begriffe der eigenen Vollkommenheit. Diese metaphysischen Beweise und Reflexionen liefern nun Bausteine zu einem größeren Ganzen. Sie fließen in den dritten Beweis mit ein, der im Mittelpunkt des zweiten und Garve zufolge »schönsten« Gespräches des Phaedons steht, »wegen der Bündigkeit der Gründe, ihrer Deutlichkeit und ihrer Anordnung, und wegen des glücklichen Gebrauchs einiger von Platon nur hingeworfenen Gedanken.« Als eine »Vereinigung vieler für sich selbst unzureichender Gründe«16 gehört er zu den nur wahrscheinlichen Beweisen. Seine metaphysischen Bausteine erheben wohl einen Anspruch auf demonstrative Schärfe, diese Beweise dürfen aber Garve zufolge nicht allzu »dogmatisch« geführt werden. Kants eigene Kritikpunkte vorwegnehmend, kritisiert Garve, dass Mendelssohn zwar vollkommen im Geiste der Sokratischen Methode argumentiere, aber bisweilen einen allzu dogmatischen Ton anschlage. Statt mit uneinlösbaren demonstrativen Ansprüchen an die Materie heranzugehen, kommt es Garve zufolge vielmehr darauf an, die verschiedenen Wege  – demonstrative Schärfe und rhetorische oder populäre Beredsam14

Ebd., S. 321. Ebd., S. 320. 16 Ebd., S. 326. 15



Garves Cicero

keit – zusammenzuführen: zum einen geht es darum, gegen die Materialisten aufzuzeigen, dass die Zusammenfassung der einzelnen Theile nur durch die Vorstellung eines vernünftigen Geistes möglich sei17 und die Seele als ein Vermögen der Erkenntnis, des Vergleichs und der Verbindung zu begreifen.18 Zum anderen darum, »Enthusiasmus«, »Affect«, »Interesse«19 zu wecken. Nur diese Verbindung demonstrativer und rhetorischer Dimensionen, die die vorgenommene Trennung von Sinnes- und Verstandesdingen wiederum relativiert,20 verleiht dem Beweis seine Beweiskraft. Die gleiche doppelte sowohl demonstrative als auch rhetorische Zielsetzung charakterisiert auch den Beweis des dritten Gesprächs, der auf dem Postulat einer dynamischen Vervollkommnung beruht, die von der obigen symbolisch erkannten göttlichen Vollkommenheit zu unterscheiden ist. Ihn hält Garve für den stärksten unter allen wahrscheinlichen Beweisen für die Unsterblichkeit, und er stellt Mendelssohns demonstrative Schärfe und fortreißende Beredsamkeit heraus.21 Bestimmte Elemente dieser Rezension, so die Kommentare zu Reminiszenz, Seelenwanderung und Vervollkommnung, erinnern an Herder und nehmen Kritikpunkte Kants vorweg. Sie zeichnen zugleich die Konturen von Garves eigener Popularphilosophie.22 Um diese vollständiger zu entwickeln, sucht Garve in der Folgezeit nach neuen Leitautoren.

Garves Cicerokommentar

In gewisser Hinsicht übernimmt Garve in der Folgezeit die von Mendelssohn gewählte philosophische Textgattung als ein Modell für das eigene Schreiben. Zeit seines Lebens betreibt er Philosophie als Übersetzung und Kommentar. Diese Form erlaubt ihm, an frühere Denktraditionen anzuknüpfen und alte Ideen für neue Debatten fruchtbar zu machen. Sie schließt Originalität nicht 17

Ebd., S. 328. Ebd., S. 329. 19 Ebd., S. 326, vgl. auch S. 90 und S. 101. 20 Garve zufolge sei die Hauptvorstellung des Plato, dass der Körper uns in der Untersuchung der Wahrheit störe, »einmal indem er uns eine Menge Beschäftigungen auflegt, zum andern, indem er durch die Sinne wirkliche Irrthümer veranlasst«. Und er merkt an: »Die letzte Idee berichtigt Herr M.« Ebd., S. 319. 21 Ebd., S. 331. 22 Vgl. auch Garve, »Von der Popularität des Vortrags«, 1793, in: Gesammelte Werke, IV, 1 wiederum von der Zande, What is Popular Philosophy, Oxford Handbook of German Philosophy in the Eighteenth Century, hg. v. Frederick Beiser u. Corey Dyck, im Druck. 18

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aus. Der fremde Text bietet ihm die Gelegenheit und den notwendigen Anreiz für die Entwicklung eigener Gedanken: Es ist wahr, dass ich zu allen meinen Ideen Veranlassungen brauche, und dass die Gedanken andrer, die ich prüfe, mir am öftesten diese Veranlassung geben. So weit ich mich zurück erinnere, hat mein vornehmstes Nachdenken darinn bestanden, den Unterricht, den ich von anderen empfing, auszulegen, zu bestreiten, zu bestätigen.23

Gerade die Fremdheit, der Unterschied und Vergleich ermögliche die Klärung der eigenen Begriffe. »Alles was uns veranlasst zu vergleichen, befördert das Nachdenken«, schreibt Garve. Insbesondere nimmt Garve an dem, was von der Zande die Cicero-Renaissance des 18. Jahrhunderts nennt, aktiv teil.24 Bevor er sich im Jahre 1783 seinem Cicero-Kommentar zuwendet, legt er die »stoischen« Grundgedanken zu diesem Kommentar schon 1772 in dem Kommentar zu seiner Übersetzung von Adam Fergusons Grundsätzen der Moraltheorie dar. Die Cicero-Übersetzung von 1783 ist nun zwar eine Auftragsarbeit ; sie erfüllt einen im Gespräch geäußerten Wunsch Friedrichs des Großen und wird vom König mit 300 Reichtalern belohnt. Der angehängte und unter dem Titel Philosophische Anmerkungen in zwei dicken Bänden publizierte Kommentar aber ist es nicht. Es handelt sich hier um eine eigenständige philosophische Arbeit, die bei seinen Zeitgenossen auf lebhaftes Interesse stieß, bevor sich die Nachwelt verächtlich von Garves »Anmerkungsphilosophie« (Schlegel) und »Unphilosophie« (Schleiermacher25) abwand. Offensichtlich waren nur Garves Zeitgenossen noch bereit und noch imstande, die impliziten Thesen und Garves subtile, da indirekte Positionierung zu den aufklärerischen Debatten via seinen Kommentar zu verstehen.26 Nicht das »römische Kleid«, sondern die Ideen, Argu23 Garve, Anhang einiger Betrachtungen über Johann Macfarlands Untersuchungen die Armuth betreffend […], Leipzig, 1785. Vorrede, S. 4. Vgl. auch Kurt Wölffel, »Vorrede zu Garves Übersetzungen«, in: Garve, Gesammelte Werke, Bd. 9, S. I-XLIX ; Norbert Waszek: »Übersetzungspraxis und Popularphilosophie am Beispiel Christian Garves«, in: Das Achtzehnte Jahrhundert n° 31/1, 2007, S. 42–64. 24 Vgl. Johan van der Zande, »In the Image of Cicero: German Philosophy between Wolff and Kant«, in: Journal of the History of Ideas, n° 56, 1995, S.419–42 u. ders.: »The Microscope of Experience: Christian Garve’s Translation of Cicero’s De officiis«, in: Journal of the History of Ideas, n° 59, 1998, S. 75–94. 25 Vgl. Friedrich Schleiermacher, »Garves letzte von ihm selbst herausgegebene Schriften«, in: Athenaeum, 3.1, 1800, S. 136. 26 Offenbar hat Mendelssohn ihn zu der Übersetzung Ciceros ermutigt. Vgl. den Brief von Mendelssohn an Garve vom 22. April 1783. Garve zitiert auch schon in seinem Ferguson-Kommentar von 1772 direkt fast alle Protagonisten der Debatte um die Bestimmung, wie Abbt, Sulzer und Mendelssohn. Er erwähnt ausdrücklich den Phaedon.



Garves Cicero

mente und Begriffe, und zwar insbesondere die griechischen und stoischen, auf die sich Cicero erklärterweise stützt, sind es, die Garve interessieren. So formuliert es Garve in der Einleitung seines Kommentars: Insbesondere aber enthält gegenwärtige Schrift des Cicero, da sie von den Pflichten handelt, gerade diejenigen Ideen, welche in dem ganzen Gebiete menschlicher Erkenntnisse, am wenigsten das ausschließende Eigenthum irgend eines Menschen oder Zeitalters sind, am wenigsten das Kleid desselben tragen dürfen.27

Wie Cicero im Jahre 44 vor Christus die griechische Philosophie und ihre Begrifflichkeiten in die Realität der römischen Republik übersetzte, so möchte Garve sie in die gesellschaftliche Realität des Jahres 1783 übersetzen. Diese Übersetzungsleistung erfordert aber zunächst die Rückkehr zu und Reflexion auf den stoischen Kern. Sie erfordert des Weiteren eine vertiefte Auseinandersetzung mit Ferguson und die Entwicklung von Gedanken aus dem Traktat selbst und Garves Kommentar von 1772. Denn schon Ferguson ist dem späten Garve zufolge im Grunde stoisch.28 Und in Garves Kommentar zu Ferguson waren durch die Gegenüberstellung von Epikureismus und Stoa auch schon Cicero und zumindest De finibus präsent. Es gilt deshalb, den Ideen das römische Kleid abzustreifen, sie so vorzutragen, dass sie »auf den deutschen Leser eine gleiche Wirkung tun als die lateinisch ausgedrückten der Urschrift auf den Römer getan haben«.29 Seine Anmerkungen seien »zum Verstehen des Cicero, nur an wenig Orten notwendig. Oft erklären sie gerade das, was nur demjenigen Schwierigkeiten machen kann, der den Cicero am besten versteht.«30

27

Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. Breslau, 1783, unpaginiert. Ich beziehe mich im Folgenden auf diese erste Auflage, die nicht der in den Gesammelten Werken abgedruckten zweiten Auflage von 1787/88 entspricht. 28 Garve, Übersicht, S. 158: »Fergusons System ist im Grunde das ächt-Stoische, von Spitzfindigkeiten, Uebertreibungen und Paradoxien gereinigt, und auf seinen wesentlichen Inhalt zurückgebracht, der darin besteht: daß der Mensch seine Glückseligkeit nur in der stets zunehmenden Vollkommenheit seiner ganzen Natur finden, – und daß er diese Vollkommenheit nur durch eine ununterbrochene Reihe wohlthätiger und patriotischer Handlungen, mit Klugheit und Muth ausgeführt, durchs ganze Leben vermehren kann.« 29 Garve, Philosophische Anmerkungen, Vorrede, unpaginiert. 30 Ebd .

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Selbstschätzung als Grund der Freiheit

Wie für seine aufklärerischen Zeitgenossen (Spalding, Mendelssohn, Herder) geht es auch Garve darum, das Gefühl der eigenen Würde oder »dieser Erhabenheit der Seele, vermöge dessen er jeden Menschen als seines Gleichen, und Glück, Stand, Reichtum, als unbeträchtliche Vorzüge ansieht«, philosophisch zu denken. Garves Originalität besteht hier zunächst in einer radikaleren Rückwendung zu diesem alternativen, von Cicero und der mittleren Stoa angeregten Würde- und Weltbürgermodell. Schon für Cicero spielt der Mensch zweierlei Rollen und besitzt zweierlei Würden: zum einen eine Würde als Bürger und zum anderen eine Würde als Mensch, durch die er sich vor den Tieren auszeichnet. Diesen Gedanken entwickelt Cicero insbesondere in dem Eingangskapitel von De officiis. Auch muss man einsehen, dass wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen [personis] ausgestattet sind ; die eine davon ist eine gemeinsame daher, weil wir alle teilhaftig sind der Vernunft und des Vorzugs, durch den wir uns auszeichnen vor den Tieren [quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis], von der alles Ehrenhafte und Schickliche hergeleitet [a qua honestum decorumque trahitur] und von der aus der Weg zur Auffindung des pflichtgemäßen Handelns [officii] gesucht wird ; die andere aber eine, die in besonderem Sinne den Einzelnen zugeteilt ist.31

Menschenwürde entspricht einer bestimmten Rolle und persona des Menschen. Entgegen platonischer Annahmen erfordert diese aber weder eine theoretische Erhebung noch Gottes- und Selbsterkenntnis im strengen Sinne, noch auch Vernunfteinsicht in eine notwendige Zweckordnung. Eine solche Vernunfteinsicht wurde noch in der älteren Stoa postuliert. Sie galt als Bedingung einer Einsicht in ein Selbst, das sich durch eine völlige Unabhängigkeit von der irdischen Welt und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung bestimmt und Freiheit oder Autonomie mit Autarkie gleichsetzt. Alle diese Forderungen an die Menschenwürde werden nun aufgegeben. Es reicht, so Garve, dass die eigene Tugend auf einer subjektiven Selbstschätzung oder dem Gefühl des eigenen Wertes gründet, weil dieses Gefühl die praktische Bedingung der eigenen Kraftäußerung ist. »[J]edem Wesen, das sich selbst fühlt, das sich seiner bewusst ist, muss es am meisten darauf ankommen, was es selbst sey« ; der Mensch »muss sich selbst für Etwas halten«.32 31

32

Cicero, De officiis, I, 107. Philosophische Anmerkungen, Bd. 1, S. 56.



Garves Cicero

Ohne ein Bewusstsein seiner Würde, ist ihm weder die Erhabenheit über die äußern Dinge, noch eine sehr lebhafte Kraftäußerung, möglich. Vielleicht ist jenes nöthig, ihn der Anstrengung fähig zu machen, die Selbstschätzung ist alsdann ein Motiv, das seine Kräfte aufbietet, sich seiner Würde gemäß zu beweisen. Vielleicht sind Stolz und Muth nur Folgen einer und eben derselben Ursache ; beydes mag aus einem Gefühl der Kraft entstehen, welches insofern der Mensch sich mit andern vergleicht, ihn begierig macht, sich über sie zu erheben und abgeneigt, sich ihnen zu unterwerfen, und insofern er mit den äußern Dingen zu thun hat, ihn dreister gegen die Gefahr und gleichgültiger gegen die äußern Vortheile macht.33

Diese Perspektive wiederum wirft ein neues Licht auf den Zusammenhang von Würde, Freiheits- und Gottesbegriff und nimmt grundlegende Perspektiven Kants vorweg. Garves erste Skizze dieses Problemzusammenhangs findet sich bereits in den Eingangspassagen des Kommentars zu Ferguson von 1772. Sie wird im Cicerokommentar von 1783/84 aufgenommen und entwickelt. 1772 schon wendet Garve seine Aufmerksamkeit dem philosophischen Begriff der Freiheit zu. Dessen Möglichkeit könne nicht philosophisch eingesehen werden. »Die Unergründlichkeit dieser Materie sei erwiesen ; sie macht eine von den Gränzen unseres Verstandes aus.«34 Trotzdem aber könne sie deshalb praktische Geltung beanspruchen, weil dem Menschen eine Empfindung von Verdienst und Schuld eigen sei. […] wir haben bey den Handlungen des Menschen, außer der Empfindung von Nützlichkeit und Schädlichkeit, noch die Empfindung von Verdienst und Schuld: die erste Empfindung haben wir sonst noch bey vielen Dingen außer dem Menschen ; die letzte Empfindung haben wir bey keinem: Was hat also der Mensch eignes, was weder die Maschine noch das Thier hat, warum er allein gelobt und getadelt werden kann ? Den Unterschied zwischen der Maschine und dem lebendigen Wesen, soll in den Schulen das Wort Spontaneität, und den Unterschied zwischen dem Thier und dem Menschen soll das Wort Freiheit ausdrücken.35

Garve erläutert diesen Gedanken, indem er ein Programm skizziert, das Kant später im Detail ausführen soll. Anstatt weiterhin vergeblich die Möglichkeit der Freiheit demonstrieren zu wollen, müsse man vielmehr deutlicher zeigen, inwiefern die Freiheit eine solche »Gränze« der Erkenntnis sei. Zu diesem Zwecke müsste man »die beyden Systeme die von der Freiheit mög33

Ebd., Bd. 1, S. 57 f. Garve, Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt und mit einigen Kommentaren versehen von Christian Garve, Leipzig, 1772, S. 289 f. 35 Ebd. 34

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lich und herrschend sind, so ehrlich und unpartheisch wie möglich vorstellen« ; statt die Schwierigkeiten überwinden zu wollen, müsste man vielmehr »zeigen, dass in beiden Schwierigkeiten wirklich vorhanden sind, dass diese Schwierigkeiten sich nicht heben lassen ; und dass alle Versuche, die man dazu gemacht hat, entweder bloß diese Schwierigkeiten verbergen oder sie weiter hinausschieben«.36 Man müsse aber auch zeigen, dass ungeachtet der Unmöglichkeit, die Freiheit theoretisch zu beweisen, die Empfindungen des Menschen von Recht und Unrecht unwandelbar und gewiss, und von keinem Systeme abhängig sind ; und dass, wir mögen die Freiheit des Menschen erklären können oder nicht, wir immer Glück von Verdienst, und die Empfindung der Lust an einer Sache, von der Empfindung des Beyfalls den wir einer Handlung geben, unterschieden werden.37

Zwischen dem System der Fatalisten und der »Freiheit der Gleichgültigkeit« gäbe es »einen Punkt der Vereinigung, der gewiss unschätzbar ist. Wir alle glauben an das Dasein der Tugend. Dieser Glaube ist früher als alle Systeme, er hat sie erst hervorgebracht, um ihn zu rechtfertigen haben wir sie erfunden.«38 Im Cicerokommentar heißt es elf Jahre später, man muss sich vorstellen können, dass die Natur den Menschen in die Lage versetze, über die Güte seiner Handlung selbst zu urteilen ; dass der Mensch aller Unerklärlichkeit der Freiheit zum Trotz über gemeine Begriffe verfüge, nach denen diese Freiheit »völlig ausgemacht und begreiflich sei«39. Denn das Ziel des Vernunftwesens Mensch: Das, was um sich selbst willen (propter se) oder an sich erstrebenswert ist, muss er aus eigener Kraft und aus sich selbst heraus (sponte) erzeugen können.

Die Naturgeschichte der Stoa

Garve hebt heraus, dass sich schon Cicero und »die Alten« einer naturhistorischen Methode bedienen, die auf dieser praktischen Fragestellung nach den Bedingungen der eigenen Tätigkeit und Tugend gründe.40 Wie die naturalistes des 18. Jahrhunderts stützen diese ihre Methode auf Beobachtung und Vergleich und setzen von den äußeren, anatomischen und anderen Kennzeichen her an: 36

Ebd. Ebd., S. 290 f. 38 Ebd., S. 297. 39 Garve, Philosophische Anmerkungen, Bd. 1, S. 68. 40 Vgl. insbesondere Cicero, De officiis, I, 11–15 und De finibus, V. 37



Garves Cicero

Die Methode, welche die Alten erwählt haben, ist die natürlichste und beste. Sie fangen mit der Naturgeschichte des Menschen an, nehmen ihn gleichsam bei seiner Geburth auf, betrachten den Bau seines Körpers, die Bewegungen seiner Glieder, die ersten Bestrebungen der Seele, welche durch diese ausgedrückt werden, Sie führen ihn durch die verschiedenen Stufen des Alters hindurch und bemerken, welches Wachsthum, welche veränderte Gestalt, welche Ausbildung zugleich mit seinem Körper und den Fähigkeiten seines Verstandes jene erste Triebe bekommen. Auf diese Weise unterscheiden sie, was Kunst und was Natur im Menschen hervorgebracht hat, was er nach seiner ersten Anlage, und was er in seiner vollständigsten Reife ist. Diesem fügen sie noch den Weg der Vergleichung hinzu. Sie glauben das Eigenthümliche der menschlichen Natur am besten kennen zu lernen, wenn sie den Unterschied derselben von denjenigen Naturen bemerken, die ihr am ähnlichsten aber doch unter ihr sind.41

Diese Fragestellung und Methode, die den Stoikern eigen ist, liefert ihrerseits offensichtlich neue Elemente zur Abwendung des Epikureismus. Sie besteht darin, den Blick zunächst auf die ersten Antriebe der Natur (prima invitamenta naturae)42 zu richten. Aus dieser praktischen Perspektive erweist sich die epikureische These, dass die Naturbestimmung des Menschen in der Erreichung von Lust und der Vermeidung von Schmerz bestehen, als unhaltbar. Es erscheint plausibler, diese Naturbestimmung in einem allen Menschen gemeinsamen Trieb zur Selbstliebe, Selbsterhaltung und Vervollkommnung zu setzen. Denn die Beobachtung enthüllt, dass sich jedes Lebewesen von Natur aus teuer und sich niemand selbst ein Feind ist. Dieses Selbstwertgefühl zeigt sich in der allgemeinen Furcht vor dem Tode und in dem allgemeinen Trieb nach Selbsterhaltung: einem Verlangen der Wesen nach Dingen, die ihm nützen, einem Wunsche nach Anerkennung, einem Trieb zur Differenzierung. Dieser Trieb kennzeichnet, wie oben erwähnt, in einem gewissen Sinne nicht nur den Menschen, sondern alle Naturwesen überhaupt: [es] gibt bei allen einen gemeinsamen Bestand, und zwar nicht nur bei Lebewesen, sondern auch bei all den Dingen, die die Natur ernährt, vermehrt und erhält. Dabei bringt, wie wir sehen, das, was aus der Erde entsteht, vieles gewissermaßen aus eigener Kraft selbst aus sich hervor, was für das Leben und das Wachstum wichtig ist, so dass es in seiner Art zum höchsten Ziel gelangt.43

41

Garve, Philosophische Anmerkungen, S. 11. Cicero, De finibus, V, 17. 43 Cicero, De finibus, V, 26. 42

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Aber im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist der Mensch ein Wesen, dass über diese Naturbestimmung hinausgeht und in der Tugend aus eigener Kraft seine Vollkommenheit erreicht. Diese Naturgeschichte führt somit zur Selbsterkenntnis als einer Erkenntnis der eigenen Tugend und Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die dem Menschen eigentümlich ist, weil sie ihm »selbst gehört« und nicht auf äußere Dinge geht.

Gott als Oberherr ?

Das Christentum kann Garve zufolge einerseits helfen, diese allgemeine und gleiche Würde und Vervollkommnung aller Menschen durch die Annahme eines göttlichen Weltenschöpfers und unparteilichen Richters besser zu denken. Aber sobald es allzu große Demut und Gehorsam gegen einen Oberherrn predigt, der Belohnungen und Strafen verteilt, erweist es sich mit obiger Idee von Selbstachtung unvereinbar. Garve hebt hervor, man habe »über der Tugend der Demut, welche die Religion predigt und welche eine wahre Tugend ist, wenn man sie entweder in die richtige Schätzung unsrer Selbst, oder in die Empfindung der Gleichheit aller Menschen mit uns, und des Vorzugs vieler über uns setzet«, »das edle Gefühl seines Werths anzuempfehlen vergessen«, das »mit jener Demuth bestehen« kann und »ohne welches wenig andre Tugenden bestehen können.«44 Garve knüpft hier direkt an die Frage nach der Vereinbarkeit von Demut und Ehre an, die im Mittelpunkt von Abbts Denken stand. Aus Garves Perspektive kann die Stoa neue Einsichten bieten, insofern sie erlaubt, durch Übertragung gewisser Attribute und Funktionen der antiken Götter auch den christlichen Gott neu zu denken. Mit diesen Fragen setzt sich Garve in den religionssoziologischen Abschnitten des zweiten Bandes seines Kommentares auseinander. Da sie [die Alten] die Tugend als den natürlichen Zustand eines unverdorbnen und genugsam entwickelten menschlichen Geists ansahen, so konnten sie den Grund, warum dieselbe gut, und die aus ihr fließenden Handlungen pflichtmäßig seyen, nicht in dem Gehorsam gegen einen Oberherrn aufsuchen. Sie konnten nicht positive Belohnungen als Bewegungsgründe zu dem nöthig finden, was sie für die Glückseligkeit selbst hielten, noch Strafen als Abschreckungsmittel von demjenigen, was an sich das Elend des Menschen ausmacht. Die Tugend war, nach ihren Begriffen, dem Willen Gottes allerdings gemäß, und wurde dadurch ehrwürdiger, der in ihr selbst liegenden Belohnung gewis44

Garve, Philosophische Anmerkungen, Bd. 1, S. 66.



Garves Cicero

ser. Aber das, was sie zur Tugend, d. h. gut machte, lag in unserem Wesen, nicht in unserm Verhältnisse zu irgend einer Sache außer uns, selbst nicht zu dem höchsten Wesen.45

Die Natur oder Gott wird hier bereits nicht platonisch als Intellekt, sondern neu als ein Gesetzgeber und Richter im Reiche aller Vernunftwesen gedeutet. Dieser Gesetzgeber muss wollen können, dass ich mich selbst schätzen kann und dass ich mir meine Handlungen als eigenen Verdienst anrechnen können muss. Unter diesen Umständen muss man sich denken können, dass die Natur den Menschen zur Ausbildung eines moralischen Charakters anhält, der sich im Widerstand gegen die Natur zu sehen gibt. Zu diesem Ergebnis waren Cicero und die Stoa in gewissem Sinne schon selbst gelangt. Garve aber trifft in einer neuen, christlichen Problemkonstellation eine klarere Unterscheidung zwischen dem Blick des göttlichen Gesetzgebers und Weisen und dem des menschlichen Richters und Gläubigers, und zwar im Hinblick auf die Betrachtungsweisen und die zugrundeliegenden Prinzipien. Während der menschliche Richter die einzelne Handlung mit Blick auf die Konsequenzen beurteile, gehe der Blick Gottes auf das Ganze des Charakters oder der Gesinnung, die Tugend in ihrem ersten Sitz, auf den Zustand einer vollkommenen Seele und die wahre moralische Pflicht. »Er sieht, was ich bin, und wie ich es wurde, und davon lässt er mein Schicksal auf die gerechteste Weise abhangen, die alsdann zugleich die gütigste ist.«46 Sein Urteil über die Moralität, den Charakter, die Gesinnung oder den »Willen« des Menschen setzt den Bezug auf den »ganzen Menschen« voraus, »wie er sich nach und nach ausgebildet habe«47, auf ein Ganzes der Aufführung und Schicklichkeit. Dieses Schema eines göttlichen und menschlichen Gesichtspunkts ersetzt hier das alte Schema von den vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, das Garve als eine bloße »Schul-Subtilität« aufgibt.48 »Der Glaube an einen Gott schafft nicht die Idee der Tugend, aber er fixiert sie, weil er uns das Daseyn einer absoluten Güte versichert.«49 Im Grunde ist eine solche Tugend immer schon »Ehrliebe« (honestas), sprich: mit dem Anspruch auf Anerkennung und öffentliche Anerkennung verknüpft, wenn sie auch zunächst die eigene Selbstachtung voraussetzt: »Kraft, wo sie vorhanden ist, bringt das Gefühl von Würde hervor, so wie sie 45

Ebd., Bd. 2, S. 18. Ebd., Bd. 1, S. 38. 47 Ebd., S. 34. 48 Ebd., S. 39. 49 Ebd., Bd. 2, S. 28. Zu dieser Debatte vgl. auch Maltke van Spankeren, »Der Unsterblichkeitsdiskurs der Neologie als Instrument theologischer Modernisierung (1748–1766)«, in: Aufklärung n° 29, 2017, S. 309–322. 46

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gegenseitig von demselben geweckt wird: – sie bringt also auch die Begierde hervor, von andern in dieser Würde erkannt, das heißt, von ihnen geehrt, oder über sie erhoben zu werden.«50 Auf diese Weise führt der dem Menschen eigene Drang nach Tätigkeit und Kraftäußerung den Menschen immer schon in die Gesellschaft. Sie ist der eigentliche Ort menschlicher Tätigkeit, Interaktion, Selbstbehauptung und Vervollkommnung.51 Der Mensch wird »nur durch die Gesellschaft gebildet und [findet] auch nur in ihr die Gegenstände seiner Tugenden.«52 Aber Garve aktualisiert hier Cicero, indem er dessen eher statischen53 Begriff der Rangordnung in einen dynamischen verwandelt und dazu neue gesellschaftskritische, soziologische und staatsökonomische Perspektiven in die deutsche Philosophie einführt, deren Einfluss bis auf Hegel und über Hegel hinausreicht.54 Er bedient sich in diesem Zusammenhang vor allem der Einsichten der englischen und schottischen Philosophen, die seiner Meinung nach »in ihrem Lande mehr Zugang zu gewissen Gegenständen haben, welche die Regierungsgeschäfte« und »Materien der Politik und Staatswirtschaft« betreffen.55

Würde, Wert und Preis

Cicero hatte Recht mit seiner Beobachtung, dass der Mensch in der Gesellschaft nach Ehre und Anerkennung, nach Rang, Distinktion und Differenzierung strebt. In den Augen der Philosophen des 18. Jahrhunderts ist diese Ehrliebe sogar die Bedingung für die Vervollkommnung des Menschen. Denn wie Garve mit Ferguson und anderen schottischen Staatsökonomen herausstellt, sind es die Ehrliebe und das Bedürfnis nach Anerkennung in der Gesell50

Ebd., Bd. 1, S. 59. Hier schreibt Garve gegen Rousseaus Thesen im Discours sur l’Origine et les Fondements de l’Inégalité parmi les Hommes an. Vgl. auch Norbert Waszek, »La tendance à la sociabilité« (Trieb der Geselligkeit) chez Christian Garve, Revue germanique internationale n° 18, 2002, S. 71–85. 52 Garve, Fergusonkommentar, S. 301. 53 Pöschl hebt schon eine gewisse dynamische Dimension von Ciceros eigenem Würdebegriff hervor, insofern öffentliche Ämter in der römischen Republik im Prinzip jedem Mann zugänglich waren. Aber große Differenzen zur bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bleiben nichtsdestotrotz bestehen. 54 Vgl. Norbert Waszek, The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of Civil Society, Dordrecht/ Boston/ London/ Kluwer, 1988. 55 Garve, Vorrede zum Anhang der Macfarlan Übersetzung, zitiert in Einleitung, IX, XI. Garve trägt zur Verbreitung dieser Schriften im deutschsprachigen Raum bei, indem er mehrere englischsprachige Philosophen wie Adam Ferguson und Edmund Burke übersetzt. 51



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schaft, die bestimmte Bedürfnisse des Menschen und bestimmte Triebe erst hervorbringen. Sobald der Mensch sich in Umgang mit seinesgleichen einlässt, nicht nur um in der Vereinigung mit ihnen Schutz zu suchen, sondern auch um in geselligen Zusammenkünften die Freuden des Lebens zu genießen, sobald und erst alsdann wird sein Kreis von Bedürfnissen größer. Er will nunmehr Nahrungsmittel, nicht bloß für sich, sondern für die, welche mit ihm in Gesellschaft leben und bessere Nahrungsmittel um sie zu reitzen gerne bey ihm zu sein. […] [Er will] Kleider die ihn nicht nur bedecken sondern zieren, ihm ein Ansehen geben. […] immer mehr um anderer willen, als für sich selbst. […]56

Weil die Ehrliebe des Menschen in der Gesellschaft immer neue Bedürfnisse hervorbringt, führt sie nun zu einer Vermehrung des Fleißes und des Reichtums. Indem sie neue Mittel schafft, erlaubt sie es den Menschen, sich neue Zwecke zu setzen. Der Wert, den seine Arbeit besitzt, ist somit nicht absolut, sondern relativ im Hinblick auf Bedürfnisse und Nachfrage zu bestimmen. Zugleich trägt gerade die Mehrung der Bedürfnisse zur technischen Vervollkommnung der Menschheit und Ausbildung neuer Fähigkeiten bei. Dennoch birgt die Ehrliebe auch eigene Gefahren. Dass »die öffentliche Hochachtung einen Wert erlangt«, ist sogar in gewisser Hinsicht, wie Rousseau schreibt, der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster. Der erste Vorrang, den man einigen einräumte, erzeugte hier Stolz und Verachtung, dort Scham und Neid […]«. Garve gesteht Rousseau indirekt zu, dass die Sozialisierung der Menschen zu einer gewissen Entfremdung führen und den Abstand zwischen ihnen vergrößern und verfestigen kann. Diese Gefahr hebt Garve bereits in seinem frühen Aufsatz Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neueren Schriftsteller, besonders der Dichter von 1770 hervor. Hier beobachtet er, dass die Stände sich in seinen Zeiten »voneinander abgesondert« haben. »Jeder entfernt sich von denen, die unter ihm sind, und zu denen, die über ihm sind, darf er sich nicht nahen.«57 Es geschieht zwar ab und zu, dass diese Entfernungen und Gren56

Garve, Philosophische Anmerkungen, Bd. 1, S. 47. Garve, Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neueren Schriftsteller, besonders der Dichter. Neudruck in Gesammelte Werke, Bd. V, 1985, S. 99 ff. Vgl. auch ders., Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältniß gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung, Breslau, 1786. Nachdruck in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IV, S. 1–228, hier S. 5: »[W]eit auffallender [als die Unterschiede in den Provinzen] sind diejenigen Unterschiede, und weit wenigern Ausnahmen unterworfen, welche in jeder Nation die verschiedenen Stände von einander absondern, seitdem die Ungleichheit dieser Stände 57

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zen zwischen den Ständen überwunden werden ; die Motive zu einer solchen sozialen Mobilität sind entweder Ehrgeiz (»Eigennutz«) der Niedrigeren, Neugierde (»die Begierde belustigt zu werden«) der Höhergestellten oder wahre Offenheit und eine »edlere minder eingeschränkte Denkungsart auf beiden Seiten«. Aber in all diesen Fällen »bleibt doch der Umgang frostig, ohne diejenige Offenherzigkeit und Vertraulichkeit, die uns alleine die Kenntnis fremder Herzen gewähren und uns in dem Umgange mit ihnen eine Quelle zu Beobachtungen eröffnen kann.« Die Absonderung der Stände lässt sich auf ökonomische Faktoren zurückführen: »Einen weit größern Unterschied unter den Menschen macht der Reichthum, als der Rang«, beobachtet Garve treffend, und fügt dem hinzu: »und nur dadurch, daß beide gemeinglich bey uns vereinigt zu seyn pflegen, ist die Absonderung der Stände aufs Höchste gestiegen«.58 Denn der Rangunterschied ist im Gegensatz zum Unterschied im Besitz59 temporär: Das Verhältnis, das der befehlende gegen den Gehorchenden hat, kann er nur unter gewissen Umständen zeigen, und so lange, als die Art von Handlungen vorkömmt, die er anzuordnen versteht. Hingegen der Unterschied, den der Reichtum macht, ist beständig, erstreckt sich auf alles. Wohnung, Hausgeräthe, Kleidung, Aufwand der Tafel, Kostbarkeit der Ergötzungen, alles, was der Reiche hat und thut, ist anders als bey dem Armen.60

Unterschiede im Besitz vertiefen und verfestigen aber Standesunterschiede deshalb, weil sie ständig vor Augen stehen: »Der eine kann also seine Erhabenheit, und der andere seine Niedrigkeit niemals aus den Augen verlieren.« Aus diesen beiden Unterschieden in Rang und Besitz und aus der »langen Absonderung« entsteht schließlich ein Unterschied in »Anstand und Sitten, in der Art sich zu betragen und auszudrücken.« Diese Manieren sind wiederum »das erste, wornach wir den Vorzug und die Verdienste des Menschen messen«, so »willkürlich auch diese Begriffe bald an die eine, bald an die entdurch eine Reihe von Generationen befestigt, jedem seine eigne Beschäftigung angewiesen, jedem mehr in sich selbst verbunden, und von den übrigen getrennt hat. Zwischen den Sitten der großen Welt in allen Europäischen Hauptstädten, ist eine Aehnlichkeit, welche machen könnte, daß, wenn man aus den Gesellschaften der einen in die der andern plötzlich versetzt würde, man nur aus einem Haufe desselben Orts in das andre gekommen zu seyn glaubte. Zwischen den Sitten des Adelichen, des Bürgers, des Bauern ist, in Frankreich sowohl als in Schlesien, ein Abstand, der jedem in die Augen fällt, sobald er von der einen Classe zu der andern übergeht.« 58 Ebd. 59 Vgl. zur Genese des Unterschieds im Besitz: Garve, Johann MacFarlans Untersuchungen über die Armuth, die Ursachen derselben und die Mittel ihr abzuhelfen. 60 Betrachtung einiger Verschiedenheiten, S. 101.



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gegengesetzte Art, etwas zu thun und zu sagen verknüpft werden«. Aus der Unverständlichkeit der Begriffe des einen für den anderen Stand ergibt sich wiederum, dass alle Bande der Mittheilung abreißen und dass alle Möglichkeit zur Wiedervereinigung aufgehoben wird.61 Wenn also die Mittheilung der Ideen das einzige Band der Gesellschaft seyn kann, sobald der Eigennutz schweigt und die Bedürfnisse befriedigt sind ; so giebt es kein solches mehr unter Gliedern einer Nation, die eine sich fremde Sprache reden, und vonein­ ander weder geliebt noch hochgeschätzt werden können.«62 Diese Gefahr sieht Cicero noch nicht. Davon zeugt auch seine Sprache. In Garves Augen erlaubt diese es nicht, diese gesellschaftlichen Mechanismen ausreichend begrifflich voneinander zu trennen. Während sich im 18. Jahrhundert die Stände so voneinander »abgesondert« haben, dass die Abstände unüberbrückbar wurden und das »allgemeine Band der Mitteilung abgerissen« ist, herrschte in der römischen Republik trotz der festen Rangordnung und Unterordnung in der Ausführung öffentlicher Geschäfte eine Art von Gleichheit, gegenseitigem Umgang und allseitiger Tätigkeit. Garve stellt heraus, dass in den alten Zeiten fast alle Glieder eines Standes, einer Republik miteinander bekannt gewesen sind. Sie »hatten alle ein gewisses gemeinschaftliches Interesse, Geschäfte, die sie oft zusammenbrachten, öffentliche Zusammenkünfte, wo sie sich durchaus kennen lernten ; Feyerlichkeiten, an denen sie alle Theil nahmen.« Dass zugleich eine Rangordnung herrschte, konnte diese auf Gleichheit der Interessen begründete Nähe nicht mindern. Denn der jeweilige Rang bestimmte nicht das eigentliche Sein, sondern nur die Aufgabe, Ordnung und Unterordnung bei der »Ausführung öffentlicher Geschäfte«. »Das Befehlen und Gehorchen war bey denen Gelegenheiten, wo es eigentlich darauf ankam, die Pflichten seines Standes zu erfüllen, sehr strenge. Aber sobald diese Gelegenheiten vorüber waren, so stellte sich eine Art von Gleichheit wieder her.«63 Wohl auch weil sich das Problem der Absonderung der Stände nicht mit der gleichen Brisanz stellte, verspürte Cicero nicht das Bedürfnis, zwischen Trieb zur Vervollkommnung und Geselligkeitstrieb zu unterscheiden. Er dachte noch, dass die Menschheit und Menschenehre eines Menschen in der gesellschaftlichen Interaktion ständig vor Augen liegt und zur Knüpfung empathischer Bande einlädt, statt seine Geselligkeit oder seinen Umgang, wie Garve selbst, als Zweck und zugleich als Trieb, Mittel, Bedingung zu stetiger Vervollkommnung zu begreifen. Deshalb wohl habe er sich vor allem mit der 61

Ebd., S. 99 f. Ebd. 63 Ebd., S. 101. 62

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Würde und den Pflichten und Ämtern (officii) des Adels befasst. Er habe vor allem »für die höheren Klassen« geschrieben und die übrigen geschäftigen Stände der Gesellschaft vernachlässigt. Die übrigen geschäftigen Stände der Gesellschaft, welche die Bedürfnisse derselben hervorbringen, oder herbeyschaffen, dieser so ausgebreitete, so unentbehrliche und so schätzbare Theil der Menschen findet zwar allerdings die allgemeinen Vorschriften der Tugend, die wegen der gleichen Natur der Menschen allen Ständen gemeinsam sind, aber er vermisst grosstentheils die Anwendung dieser Vorschriften auf seine Umstände und Verhältnisse.64

Allgemeiner noch habe Cicero »den besonderen Pflichten des Menschen einen allzu großen Stellenwert eingeräumt« und habe es versäumt, »die allgemeinen gehörig auszuführen«. Pflichten, diejenige, durch welche der Mensch seinen eigenen innern oder äußern Zustand verbessert, sind nur kurz angezeigt. Das häusliche Leben kommt in keine andere Betrachtung, als insofern es der Übergang zum bürgerlichen, und der Grund derselben ist. Die Pflichten der Religion sind völlig weggelassen.65

In der aufklärerischen Gesellschaft hingegen ist es Garve zufolge notwendig, diese überkommenen Begriffe zu revidieren. Dieser Kommentar zeigt, dass die Menschenwürde auch Garve ein philosophisches Anliegen ist. Diese begreift er, wie vor ihm Abbt, als eine Form von Humanität und allgemeiner Menschenehre. In der modernen bürgerlichen Gesellschaft könne Ehre »nicht einfach ein Standesattribut des Adels« sein, wie Garve in einem späteren Kapitel seiner Abhandlung über die »Lebensart« (genus vitae) ausführt. Die Betrachtung von Ehre als Standesattribut des Adels entspräche dem »Vorurteil des Stolzes, das sich in dieser Klasse selbst nebst den dazu gehörigen Ritualen, den blutigen Fehden und Ehrenduellen«66, noch gehalten habe. Dieses habe »diese Begriffe welche an sich allgemein sind, auf einen gewissen Stand eingeschränkt, und eben deshalb haben sie sich tiefer eingewurzelt, sind sie heiliger gehalten worden, weil sie zugleich Unterscheidungszeichen desselben geworden sind.67 Dieses Vorurteil könne und müsse durch eine allgemeine Convention aller Staaten oder aber eine fortgehende Aufklärung bekämpft und ausgelöscht werden. Denn: 64

Garve, Philosophische Anmerkungen, Bd. 1, S. 8. Ebd., Bd. 1, S. 9. 66 Ebd., Bd. 1, S. 249. 67 Ebd., Bd. 1, S. 250 f. 65



Garves Cicero

So lange das Wort Ehre noch etwas ausdrückt, welches das Eigenthum eines Standes, nicht das Vorrecht des Menschen ist, so lange es eine Ehre giebt, von welcher man gar nicht sagen an, auf welchem Theil des Wesens, auf welcher Eigenschaft, auf welcher Handlung des Menschen sie beruhe, die lediglich einen Namen und die öffentliche Meinung zum Grunde hat (und gerade ist die Ehre des Edelmanns, die mit dem Degen verteidigt wird, von dieser Art) so wird dieselbe nothwendig durch jeden Angriff zerstört werden, und sie wird nicht anders gerettet werden können als durch den Untergang dessen, der sie angegriffen hat.«68

Kurz: Ehre sei eigentlich nicht einem bestimmten Stande vorbehalten, sondern ein Vorrecht aller Menschen. Genauer gesagt hat jeder Stand nur dann seine eigene Ehre, wenn es ihm gelingt, seine Empfindungen von Menschenliebe und Teilnehmung zu bewahren und zu pflegen und sich zuerst auf die eigene allgemeine Menschenehre oder Würde zurückzubesinnen. Wie Garve in seinem Aufsatz Ueber den Stolz69 anhand einer soziologisch feinen Analyse der verschiedenen Formen des Stolzes, seiner Eigenschaften, Moralität, Ursachen und Heilmittel ausführt, ist eine gewisse Form von Stolz, ein gewisses Selbstgefühl oder ein Gefühl seiner Vorzüge »unstreitig nützlich«. »Es ist eine Schutzwehr gegen Versuchungen ; es ist ein Sporn zu Anstrengungen ; es dient zur Belebung des Muthes in Gefahren«.70 Wenn Stolz der Affekt ist, »welcher entsteht, wenn der Mensch sich mit anderen vergleicht, und sich über dieselben erhaben oder sie weit unter sich findet«71, so wird er dann schädlich, wenn er sich in eine Leidenschaft verkehrt, mag dieser Stolz nun auf Rang, Geburt, Amt oder Reichtum, auf Fähigkeiten oder Wissenschaft beruhen. Aufgrund der möglichen Einseitigkeit der Denkart72, übertriebenen Erhebung und Verachtung anderer birgt er eine Gefahr für die eigene Vervollkommnung, Geselligkeit und Moralität. Ein übertriebener Stolz »schwächt nicht bloß die Sympathie, die den Grund der Menschenliebe bildet,73 sondern er »verunstaltet selbst die moralischen Grundsätze ; indem er diejenige Gleichheit der Menschen, worauf ihre ersten Rechte gegründet sind, nicht anerkennt.«74 Eigentlich sollten jegliche wirkliche Vorzüge des Menschen diesen gerade demütig und bescheiden stimmen. Seine Menschenliebe sollte 68

Ebd. Christian Garve, Ueber den Stolz, in: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. V, Breslau, 1802, S. 409–515. 70 Ebd., S. 473. 71 Ebd., S. 409. 72 Ebd., S. 462. 73 Ebd., S. 477. 74 Ebd. 69

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»ihn desto mehr bewegen, bescheiden zu seyn, und den Ton der Gleichheit mit Andern anzunehmen, je mehr er, in gewisser Rücksicht, wirklich über sie erhaben ist.«75 Das eigene Streben muss, auch durch die richtige Form von Gottesverehrung76, immer dahin gehen, die eigene Einseitigkeit zu relativieren, seinen Standpunkt zu erweitern und sich auf die konstitutive Gleichheit aller Menschen (»Kinder eines Vaters, arbeitend an einerlei großem Werke, unter gemeinschaftlichen Gesetzen von einer gleichen Vorsehung geleitet«77) und auf die ihnen gebührenden Ehre zurückzubesinnen. Man muss versuchen, »richtig den Werth der menschlichen Natur zu fassen«78 oder jeder Kraft, jedem Vermögen im Menschen, mag deren Erhabenheit auch anderer Art sein79, den Werth beizumessen, denen ihnen zur Erreichung unserer edelsten Endzwecke zukommen mag.«80 Menschenwürde ist deshalb, wie es Cicero ausdrückt, ein der Bürgerwürde übergeordnetes und ein sowohl politisches als auch moralisches Prinzip. Im Grunde zeigt sich diese Würde als dem eigenen Selbst beizulegenden Wert in der Größe der von einem Menschen vollbrachten äußeren Handlungen, Werke und Wirkungen. Nur ist die Bestimmung dieser Größe mit gewissen Schwierigkeiten behaftet, wie Garve in einem Brief an Karl von Dalberg dar75 Ebd., S. 483. Vgl. auch S. 486: »Um Liebe und brüderliche Eintracht in einer Gesellschaft von Menschen auszubreiten, müssen die Höhern unter ihnen, die Weisern und die Mächtigern sich zu den übrigen herablassen, ohne sich die Herablassung merken zu lassen.« 76 Ebd., S. 514: »[…] so wie der Begriff von Gott alle Begriffe von den Dingen der Welt erst vollständig macht und in ein System bringt, so bringt er auch in die verschiednen Abstufungen des Werths und der Schätzung der Dinge die gehörige Unterordnung. Unter einem höchsten Wesen sind, als dessen Mitarbeiter und Werkzeuge, alle moralischen Geschöpfe einander gleich. Alle werden erhoben durch den höhern Zweck, den sie alsdann haben ; alle werden in ihre Schranken gewiesen durch den weiten Abstand, in welchem sie von dem vollkommensten Wesen stehen.« Man bemerke, dass dieser Deutung zufolge das Postulat der Gleichheit aller Menschen nicht eine Leistung des Christentums ist, sondern schon in früheren Zeiten bestand. Gott hilft lediglich, diese besser zu denken. Als Modell eines unparteilichen Richters dient er der besseren Vorstellung einer höheren Ordnung und der Erinnerung an die eigenen Schranken, zur Eindämmung des eigenen Stolzes. 77 Ebd., S. 515. 78 Ebd., S. 502. 79 Ebd., S. 464. 80 Ebd., S. 501 f.: »Eben der, welcher durchdrungen von dem Adel eines vernünftigen und der Moralität fähigen Geistes, in jedem Menschen ein Wesen erkennt, das zum letzten Endzwecke der Welt gehöret, und das, unter gewissen Umständen, zu allem fähig ist, was die grösten Männer zu Gegenständen der Bewunderung und Verehrung gemacht hat: der wird den Umfang dieser allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten erweitern.«



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legt.81 Eigentlich handelt es sich gar nicht um eine messbare Größe, sondern lediglich um einen schätzbaren Wert. Denn das Vorhaben einer in Analogie mit der mathesis extensorum konzipierten moralischen Arithmetik82, die sich zum Ziel setzen würde, den Wert moralischer Handlungen zu messen, wirft große und sogar unüberwindliche Schwierigkeiten auf.83 Über die Frage der Anwendbarkeit der Analogie der Gegenstände, Werkzeuge, Gesetze, Sprache und Nomenklatur84 dieser beiden Wissenschaften hinaus kämpft sie mit dem Problem, dass sie zwei inkommensurable Unitäten, nämlich den äußeren Nutzen einer Handlung und die zu ihr notwendige innere Kraftausübung, verbindet.85 Aber diese Schwierigkeit verhindert nicht, dass der Mensch, jeder Mensch, wohl selbst zu einer individuellen Schätzung seiner eigenen inneren Moralität in der Lage ist.

Menschenehre und »Teilnehmung«. Garves Bildungsprogramm

Für die Ausbildung einer solchen dem Recht zugrundeliegenden Empfindung von Menschenwürde und moralischen Gesinnung bedarf es aber zunächst der Ausbildung von Anstand, Teilnahme, Freundlichkeit, Bescheidenheit und Höflichkeit oder Politesse. Deren Formeln und Gebräuche sind »im Grunde nichts anders als Zeichen, wodurch Menschen, die miteinander umgehen, sich wechselweise die Gesinnungen allgemeiner Liebe oder einer besondern 81

Vgl. Garve, Von Bestimmung des moralischen Werthes. Schreiben von Christian Garve an Karl von Dalberg, in: Dioptische Beiträge, 1813, S. 65–89. Der Mainzer Erzbischof, Kurfürst und Aufklärer Karl Theodor von Dalberg (1744–1817) hatte im Jahre 1782 eine Rede und Schrift zum Thema »Gedanken von der Bestimmung des moralischen Werthes« verfasst. Garve, der diese Materie einer moralischen Arithmetik für »neu, wichtig und schwer« (S. 66) hält, antwortet in einem ausführlichen Brief. Mein Dank geht wiederum an Johan van der Zande für seine freundliche Bereitstellung einer Kopie dieses nicht in der Gesamtausgabe enthaltenen Briefes. 82 Das Projekt einer solchen moralischen Arithmetik findet sich offenbar bei Dalberg, aber auch bei anderen Philosophen der wolffischen Schule wie Baumgarten, im Ausgang von Wolffs scientia einer philosophia practica universalis. 83 Diese beiden Perspektiven erfordern stricto sensu zweierlei Maßstäbe und Perspektiven der Berechnung, nämlich »Größe der äußeren Werke und Wirkungen« und »Größe der innerlich wirksamen moralischen Kräfte. Jene gehört für den Gesetzgeber und Regenten, diese für den Moralisten.« (S. 77) Diese Perspektiven sind auch deshalb inkommensurabel, weil die erste lediglich die zur Ausübung gebrachte, »thätige Tugend« (S. 78 f.) und Kraft ist, während die letztere tugendhafte Gesinnung auch eine Kraft umfasst, »die im Menschen vorhanden ist, ohne sich zu äußern«. Die Angelegenheit ist dadurch verwickelt, »dass eben die Gelegenheit das Vermögen zum Actu bringt«. 84 Von Bestimmung des moralischen Werths, S. 67 f. 85 Ebd., S. 71 f.

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Achtung nach den Verhältnissen des Verdienstes oder des Standes ausdrücken wollen«.86 Eine einzige gemeinschaftliche Gesinnung »muss durch alle die mannigfaltigen Höflichkeitsbezeugungen hindurchschimmern«, nämlich »die Gesinnung einer mäßigen Selbstschätzung, welche aus dem Bewusstseyn der Rechtschaffenheit entsteht ; und die Gesinnung eines allgemeinen Wohlwollens, – welches auch dem Respecte gegen Höhere zu Grunde liegen muss.«87 Diesem Ziel der Ausbildung einer wahren Höflichkeit dient wiederum Garves innovatives Programm einer ästhetischen Erziehung zum Menschen. In der Antike wurde dieser Punkt vernachlässigt. Cicero formuliert zwar selbst schon eine rudimentäre Idee von Menschenehre oder -würde als honestas, dignitas und humanitas. In De oratore verbindet Cicero das Programm einer Erziehung des Menschen und Vernunftwesens und die des Bürgers. Der Philosoph, Staatsmann und vollkommene Redner bereitet sich nicht direkt auf ein bestimmtes Amt vor, sondern er muss alle Fächer bis zu einem gewissen Grade beherrschen, damit er sich auf seine Mitbürger einstellen und über seine Rede und Tat auf sie wirken kann. Nur sieht Cicero in seinem historischen Kontext noch keine Notwendigkeit für ein Bildungsprogramm, das sich eigens mit der Ausbildung von »Teilnehmung« beschäftigt. Garve sieht hier eine leere Stelle im Kurrikulum. Das Individuum muss einerseits zum Menschen und andererseits zum Bürger erzogen werden. Es wird aber Garve zufolge erst dadurch überhaupt zum Menschen, dass es – in Anbetracht der Absonderung und Entfernung der gesellschaftlichen Stände und Welten voneinander – sich selbst an die Stelle seiner Mitbürger zu versetzen lernt. In diesem Sinne muss der Mensch um der »Teilnehmung« und dem schicklichen Ausdruck seiner Ehre willen ein Gefühl allgemeiner »Teilnehmung« entwickeln. Garve glaubt nun, dass die Kunst, das, was das 18. Jahrhundert die Schönen Künste nennt, diese leere Stelle in Ciceros Bildungsprogramm füllen könne. Die Kunst dient in seinen Augen vor allem der Ausbildung der »Teilnehmung« und der ästhetischen Erziehung des Menschen. Schauspiele und Romane »versetzen uns in die menschliche Gesellschaft« zurück, »von der wir gewissermaßen ausgeschlossen sind ; weil sie uns Menschen von allerley Ständen, und in weit wichtigern Auftritten ihres Lebens handelnd und redend zeigen, als wir selbst zu sehen Gelegenheit haben […]«.88 Sie verschaffen uns »das Vergnügen, unter Menschen und unter Menschen aller Art zu sein, das wir 86

Ueber die Moden. Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Breslau, Wilhelm Gottlieb Korn, 1792, n° 18 (76), S. 157. Vgl. auch S. 161. 87 Ebd., S. 277. 88 Verschiedenheiten, S. 104 f.



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in der Wirklichkeit verloren haben, in der Erdichtung […] ; und weil sie daher zugleich den Theil unserer Kenntnisse ergänzen, den wir durch Erfahrung nicht mehr einsammeln können.«89 Diese ästhetische Erziehung zur Teilnehmung erlaubt wiederum die Schaffung eines öffentlichen Raumes90 und die Ausbildung eines Interesses, das über Einzelinteressen hinausgeht und das Kollektiv betrifft. Dadurch wird sichergestellt, dass wir die Sprache und Begrifflichkeiten unserer Mitbürger überhaupt verstehen, dass sie wahre »Popularität« besitzen.

Schluss

In Garves innovativer, von Cicero angeregten Deutung von Menschenwürde zeichnen sich einige zentrale und folgenschwere Differenzen zur Auslegung seiner Vorgänger ab. Ihm zufolge besteht Würde in der Ausübung einer eigenen Kraft und Tätigkeit. Sie ist zwar kein Aufschwung zu einer göttlichen Einsicht, wohl aber ein Gefühl von und ein Glaube an den eigenen Wert und die eigene Ehre als Mensch, der allen philosophischen Systemen zugrunde liegen muss und ausreicht, um die Ausübung der eigenen Kraft und Wahrnehmung der eigenen Rolle und persona sicherzustellen. Mit diesem Würdebegriff einher geht ein alternatives Programm der ästhetischen Erziehung als Partizipation, das dazu dienen soll, mit dem eigenen Selbstgefühl auch ein Gefühl für die Menschheit der anderen zu entwickeln. Damit bereichert Garve die ästhetische Debatte der Aufklärung, der das folgende Kapitel gewidmet ist.

89

Ebd., S. 130. Hervorh. v. SB. Zum Begriff »Öffentlichkeit« vgl. vor allem Ursula Goldenbaum (Hg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin, Akademie Verlag, 2004 und besonders die Einleitung, S. 1–118. 90

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Kapitel 4 Philoktet oder: über die Humanität der Literatur Im 18. Jahrhundert entsteht ein neues Bewusstsein von den Abständen, die Menschen voneinander trennen, und von den Schwierigkeiten, diese zu überwinden. Eindringlicher als in früheren Zeiten führen in einem neuen »globalen« und politischen Kontext die Begegnungen mit außereuropäischen Völkern geographische Distanzen und kulturelle Differenzen vor Augen. Klarer treten auch die auf innereuropäischer Ebene bestehenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Abstände ins Bewusstsein.1 Erstmals werden in diesem Zusammenhang bestimmte gesellschaftliche oder humane Defizite der streng mathematischen Vernunft, ihre mögliche »Kälte« und »Indifferenz« thematisiert.2 Und in dem Maße, wie diese Defizite und die psychologischen Mechanismen augenscheinlich werden, die Menschen dazu verleiten, andere auszugrenzen und ihre Würde zu negieren, erhält auch die eigene Menschenwürde und Humanität neue Bedeutungsfacetten. Es wird offenbar, dass der Begriff selbst mit bestimmten gesellschaftlichen und affektiven Ansprüchen verbunden werden muss, die sich nicht, wie frühere Traditionen annahmen, in Pflichten dem eigenen Selbst gegenüber oder in einer Vernunftwürde in einem höheren separaten Reiche erschöpfen können bzw. dass er mit diesen Pflichten und diesem Begriff des eigenen Selbst sogar in einem gewissen Spannungsverhältnis steht. Man erinnere sich, dass man sich sowohl in der älteren Stoa als auch im Platonismus meist deshalb auf seine Würde berief, um der irdischen gesellschaftlichen Ordnung eine höhere Weltordnung und ein höheres Selbst entgegenzustellen. Im Namen der eigenen Würde oder Tugend galt es zunächst, Pflichten dem eigenen Selbst gegenüber wahrzunehmen, die sich nicht in den Pflichten dem Staat gegenüber erschöpften, und einen höheren Status als Mensch zu affirmieren, der gerade von dem eigenen gesellschaftlichen Status unabhängig war. Dieses Modell wird von der Aufklärung in Frage gestellt. Zunehmend wird das eigene höhere Selbst auch als ein gesellschaftliches Selbst verstanden, das bereits ein kollektives Amt im Dienste der Menschheit und einer höheren Weltordnung mit einbegreift, die selbst die irdische fortsetzt. Gerade im Namen des eigenen Selbstverständnisses als Mensch muss ich mich nun auch 1 Zu diesen Veränderungen vgl. auch schon Joan Tronto, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York, Routledge, 1993. 2 So ist beispielsweise bei Baumgarten die Indifferenz der Vorstellung negativ konnotiert, vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 654.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

als ein Wesen betrachten können, das seine Würde um der gesellschaftlichen und empathischen Bande willen, die es an seine Mitmenschen binden, affirmiert: weil es nach ihrer Liebe und Anerkennung ringt und/oder weil es die Pflichten gegen das eigene Selbst auf höherer Ebene auch als Pflichten gegenüber der Menschheit betrachtet. Denn wenn der Mensch das Ideal von Selbstaffirmation und Unabhängigkeit, das ihm seine höhere Würde in einem Reich der Vernunftwesen gebietet, völlig erreichen würde, würden damit auch die Bande, die ihn an seine Mitmenschen binden, gelöst. Diese Humanisierung und Erziehung zur »Teilnehmung« wird einem neuen ästhetischen Gedanken der deutschen Aufklärung nach zunächst durch die Kunst bewerkstelligt.3 Diese ästhetische Erziehung ist allen rechtlichen und im engen Sinne politischen, institutionellen Innovationen und Debatten über den politischen Bürger vorgeordnet und bildet deren Grundlage. Sie setzt sich, wie schon die Tradition der Humaniora aus Antike und Renaissance, das Ziel, den Menschen als Mensch und Bürger seiner Gesellschaft auszubilden ; indem der Mensch lernt, die Menschheit durch die Augen des Künstlers wahrzunehmen, erwirbt er Humanität und »Teilnehmung« als ein Vermögen zur Einfühlung in ihre Welt. In diesem Problemkontext nun weckt Sophokles’ Tragödie Philoktet aus dem Jahre 409 v. Chr. ein besonderes Interesse. Das Werk gehört einer Epoche an, die die Begrifflichkeiten von Menschenwürde und Menschheit in einem gewissen Sinne noch nicht kannte bzw. ihnen nicht die gleiche Beachtung schenkte, und an der sich dennoch die Diskussion über Humanität und Menschenwürde hier entzündet. Fast alle Autoren, von denen in unseren ersten Kapiteln die Rede war, nämlich Mendelssohn, Lessing, Herder, Garve und außerdem auch Winckelmann, nehmen an ihr teil.4 Sie involviert auch Adam 3 Zu dieser Verbindung von Humanität und Kunst in der Aufklärung vgl. beispielsweise Danièle Cohn, L’artiste, le vrai et le juste, Paris, 2014. Zur Menschenwürde in der Literatur der deutschen Aufklärung vgl. auch die interessanten Ausführungen zu Gottsched, Lessing, Schiller und Kotzebue in Max Graff, Literarische Dimensionen der Menschenwürde. Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung, Tübingen, Narr, 2017, S. 49–151. 4 Der Philoktet hat im Vergleich zum Laokoon äußerst wenig Beachtung gefunden. Folgende Artikel sind vor allem zu erwähnen: Rüdiger Singer, »Das Brüllen des Philoktet. Herders kathartische Poetik der unartikulierten Töne«, in: Herder Yearbook, Bd. 8–9, Camden House, 2006 ; Liliane Weissberg, »Language’s Wound. Herder, Philoctetes and the Origin of Speech«, in: Modern Language Notes, April 1989, S. 548–579 ; Katherine Harloe, »Sympathy, Tragedy and the Morality of Sentiment in Lessing’s Laokoon«, in: Rethinking Lessing’s Laokoon: Classical Antiquity, the German Enlightenment and the ›Limits‹ of Painting and Poetry, hg. v. Avi Lifschitz and Michael Squire, Oxford, Oxford University Press, 2017, S. 157–176 ; Friedrich Vollhardt, »Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sopho­ kles-Studien und seine Kritik an Winckelmann«, in: Unordentliche Collectanea – Lessings

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Vor Kant · Kapitel 4

Smith als einen Repräsentanten der englischsprachigen und schottischen Aufklärung: Dieser schon widmet dem Philoktet eine kurze Analyse seiner Theory of Moral Sentiments von 1759. Auf diesen Kommentar greifen die deutschen Autoren und insbesondere Lessing und Herder ausdrücklich zurück. Wenden wir deshalb zunächst den Blick auf den leidenden Philoktet, bevor wir uns der Reihe nach mit seinen Kommentatoren in der Aufklärung befassen und versuchen, deren ästhetischen Positionen im Lichte der oben skizzierten moralisch-ästhetischen Würdeproblematik zu lesen.

Philoktet am Rande der Menschheit

Philoktet ist keine Tragödie im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Niemand stirbt hier einen Heldentod. Der Protagonist, Philoktet, erleidet vielmehr eine Art gesellschaftlichen Todes, indem er durch die Strafe der Götter und der Menschen seine Würde fast vollständig einbüßt und beinahe gänzlich in den Zustand der nackten »Tierheit« zurückfällt. Philoktet wird zu einer Nicht-Person: zu einem Wesen »ohne Freund, ohne Vaterland, vereinsamt, ein Toter unter den Lebenden«: ’άφιλον, ’έρημον, ’άπολιν, ’εν ζῶσιν νεκρόν5. Während seines neunjährigen Aufenthalts auf der unwirtlichen Insel Lemnos verliert er allmählich all jene Züge, die ihn vormals nach außen hin als Menschen kennzeichneten: Sowohl in seinem Äußeren als auch in seinem Verhalten ähnelt er nun einem Tier mehr als einem Menschen. In Lumpen gekleidet haust er in einer unwohnlichen Höhle, trinkt aus einer Holzschale (»irgendeines misslich arbeitendes Mannes Werk«))6 und schläft auf einem Blätterhaufen.7 Den eiternden Fuß zieht er nach sich8 und ist offenbar kaum in der Lage, aufrecht zu gehen: elend kriechend, schleppt er sich mühsam vor-

Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung, hg. v. Jörg Roberts u. Friedrich Vollhardt, Berlin/Boston, de Gruyter, 2019, S. 175–200. 5 Sophokles, Philoktet, Mit der 52. Rede des Dion Chrysostomos (»Der Bogen des Philoktet«). Übers. u. hg. v. Paul Dräger, Stuttgart, Reclam 2012, Z. 1018. Vgl. auch Christine Mauduit, »Les morts de Philoctète«, in: Revue des Etudes grecques, n° 108, 1995, S. 339–370. Aus der Literatur zum griechischen Philoktet vgl. außerdem vor allem die Arbeiten von Charles Segal, Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles, Cambridge, London, University of Oklahoma Press, 1981 und Pierre Vidal-Naquet, »Le Philoctète de Sophocle et l’éphébie«, in: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, tome 1, Paris, Editions La Découverte, 1972, S. 161–180. 6 Ebd., Z. 35. 7 Ebd., Z. 34. 8 Ebd., Z. 290.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

wärts9. Seit seiner Verbannung sind die »gefleckten und zottigen Tiere« seine einzigen Gefährten. Seinerseits hat er sich voller Verbitterung10 von seinen ehemaligen griechischen Kampfgenossen abgewandt. In dieser Situation ist Philoktet auch die Sprache abhanden gekommen. Da er jedes menschlichen Gesprächspartners entbehrt, hat er aufgehört zu sprechen.11 Unsagbar einsam, unsagbar krank, fristet Philoktet auf Lemnos ein elendes Dasein, das der Chor beschreibt und beklagt: Ich jedenfalls bejammere ihn (bei dem Gedanken wie) Da nicht irgendeiner der Sterblichen ihn betreut Und er kein ihn begleitendes Auge hat – Er unglücklich, allein stets, krankt, an der Krankheit, der wilden, und hilflos ist bei jedem beliebigen Mangel, der ihm ersteht. Wie eigentlich, wie hält der Unglückliche stand ?12

Diese Situation von allmählicher Dehumanisierung, völliger Verwilderung und Verbitterung gründet in einem doppelten Ausschluss: Zunächst wurde Philoktet von den Göttern ausgeschlossen und verstoßen. Hera hatte eine Hydra entsandt, um sich für den Beistand zu rächen, den Philoktet dem Herakles geboten hatte. Der Biss dieser Hydra verunstaltet Philoktet äußerlich und stellt seine Eignung zum griechischen Helden grundsätzlich in Frage. ­Philoktet wurde aber auch seitens der Menschen, nämlich seitens seiner Gefährten und Mitkämpfer im Trojanischen Krieg verstoßen und ausgegrenzt. Denn seine eiternde Wunde schmerzte und stank so, dass sein Umfeld sie und sein ständiges Wimmern und Wehklagen nicht mehr ertragen konnte: »da er von fressend Krankheit triefte an dem Fuß […] und er durch wilde Misstöne das ganze Feldheer stets in Banne hielt, mit seinem Schreien, Heulen.«13 Der Anblick und Ausdruck seines Leidens war ihnen wohl allzu unerträglich und abstoßend, als dass er noch Gefühle von Mitleid und Freundschaft hätte erwecken können. Wohl deshalb – aus Erschöpfung, Überforderung, weil sie sein Heulen satt hatten –, fasste die Schiffsbesatzung den Entschluss, ihn auf ihrer Durchfahrt auf der öden und unwirtlichen Insel Lemnos abzusetzen. »Nicht hierhin gehen die Segelfahrten der Vernünftigen unter den Sterblichen«.14 9

Ebd., Z. 294. Ebd., Z. 281. 11 Ebd., Z. 232. 12 Ebd., Z. 169–190. 13 Ebd., Prolog, Z. 7 u. 10. 14 Ebd., Z. 303. 10

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Vor Kant · Kapitel 4

Selten geschah es, dass Durchreisende die Insel betraten – doch auch unter ihnen befand sich nicht einer, der Beistand leistete. Als sich nun Odysseus und Neoptolemos auf die Insel begeben und sich als Griechen zu erkennen geben, wagt Philoktet seinem Glück kaum zu trauen und fordert sie – im Namen der Schicklichkeit15 – auf, ihre Motive zu enthüllen: »sprecht, ob ihr als Freunde gekommen seid«.16 Sein anfängliches Misstrauen den Besuchern gegenüber ist berechtigt. In der Tat veranlassen nur kriegerische Motive Odysseus und seine Gefährten, Philoktet auf seiner Insel aufzusuchen. Denn jener verfügt noch über Pfeil und Bogen – Geschenke des Herakles. Weil Odysseus und Neoptolemos, der Sohn des Achilles, dieser Waffen in ihrem Kampf um Troja bedürfen und Philoktet selbst trotz seiner Schwäche noch imstande ist, die unentrinnbaren und Mord verschickenden Pfeile zu senden17, schmiedet Odysseus den perfiden Plan, Philoktet mit Hilfe des jungen Epheben Neoptolemos seine Waffen abzunehmen. Um dessen Vertrauen und seine Gunst zu gewinnen, müsse er auf eine List und Lüge zurückgreifen. Neoptolemos solle ihm vortäuschen, dass auch er ein Opfer des Odysseus sei, der ihm die Waffen seines verstorbenen Vaters vorenthalten habe. Obwohl diese Idee dem aufrechten Neoptolemos widerstrebt, lässt er sich um Trojas Rettung willen von Odysseus überreden: »Es geh ! Ich wird es tun, sobald ich alle Scham hab fahren lassen,«18 und begibt sich nach Lemnos. Mit diesem Besuch setzt das Drama an. Es gelingt Neoptolemos, das Vertrauen Philoktets zu gewinnen und eine Freundschaft zu knüpfen. Als Philoktet, wiederum von Schmerz überwältigt, sein Leiden zu verbergen sucht, wird Neoptolemos von Mitleid erfasst – und von Scham gegenüber seinen eigenen Manipulationsversuchen. Dieser Wandel bewegt ihn dazu, die von Odysseus übertragene Rolle abzulegen, Philoktet in die gegen ihn gesponnene Intrige einzuweihen und ihm seine Waffen zurückzugeben. Neoptolemos, der junge Grieche, ist in der Lage, den in seiner Menschheit unkenntlich gewordenen Philoktet wieder als Seinesgleichen – als Menschen und Griechen – wahrzunehmen. Die vollständige Resozialisierung und -humanisierung erfolgt schließlich nach Ende des Stückes. Sophokles lässt einen Deus ex machina auftreten, der die Wunde des Philoktet heilt. Durch diese Heilung und die Wiederherstellung seines heldenhaften äußeren Erscheinungsbildes kann dieser wieder vollständig in die Gesellschaft der Hopliten und griechischen Bürger eingegliedert werden. 15

Ebd., Z. 223 f. Ebd., Z. 227. 17 Ebd., Z. 125. 18 Ebd., Z. 120. 16



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Der ästhetische Unwert des Philoktet. Smith über Anstand und Schmerz

Die aufklärerische Besonderheit der Perspektive Adam Smiths auf Philoktets Würde offenbart sich am besten über den Vergleich mit Cicero, der seinerseits dem Philoktet bereits einen kurzen Kommentar gewidmet hatte. In Buch zwei der Gespräche in Tusculum fällt Cicero ein strenges Urteil über Sophokles’ Tragödie. Dieses begründet er sowohl ästhetisch als auch moralisch19. Er erklärt Philoktets »Jammergeschrei« [ille clamor] als mit den Pflichten gegen sich selbst und dem Gebot von Tugend und Würde unvereinbar.20 Die Erfüllung jeder Pflicht erfordere zwar Seelenanstrengung, doch auch Unterdrückung des Schmerzes ; gerade darauf muss man beim Schmerz vor allem achten, dass wir nichts verzagt, nichts furchtsam, nichts feige, nichts in der Art von Sklaven oder Weibern tun, und vor allem muss jenes Jammergeschrei des Philoktetes völlig verworfen werden. Zu stöhnen ist einem Mann zuweilen zugestanden, allerdings selten, ein Wehgeschrei nicht einmal einer Frau […].21

Weil die Tugend des Weisen eine einzige oder gar nicht sei, sei sie mit dem allzu heftigen Ausdruck von Schmerz nicht verträglich: »Doch wenn du eine einzige Tugend verlierst […] oder wenn du bekennest, dass du eine einzige Tugend nicht hast, so wirst du eben deswegen gar keine haben. Kannst du als tapferen Mann, als Menschen mit Geistesgröße, als duldsam, als würdevoll, als Verächter des Menschlichen etwa jenen Philoktet bezeichnen ?«22 In diesen Äußerungen wird deutlich, dass sich Cicero zumindest in diesem Diskussionskontext ausschließlich auf die erste eingangs skizzierte, im Würdebegriff enthaltene Forderung konzentriert, nämlich auf ein Ideal von Selbstbeherrschung und Autarkie im Namen der Pflichten gegen sich selbst. Smith nun verurteilt den Philoktet ebenso scharf wie Cicero, aber aus der gegensätzlichen Perspektive heraus. Er konzentriert sich auf die zweite Forderung nach Teilnehmung und Sympathie und nimmt diesbezüglich eine eher deskriptive Stellung ein. Am Beispiel des Philoktet möchte er aufzeigen, dass Philoktets Verhalten nicht in Bezug auf das eigene Selbst, sondern gerade in Bezug auf sein Gegenüber unschicklich ist, weil es gegen gesellschaftliche und ästhetische Regeln verstößt. In dieser Hinsicht stehe Philoktet in einer Reihe mit dem Hippolytus des Euripides und dem Herkules aus Sophokles’ Trachi19 Vgl. zu Ciceros Kritik der dichterischen Darstellung des Schmerzes allgemein: Tusculanae Disputationes [Gespräche in Tusculum], Tusculanae disputationes [Gespräche in Tusculum], übers. v. Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart, Reclam, 1997, II, 14 ff. 20 Ebd., II, 19 ff. 21 Ebd., II, 55 [leicht verändert]. 22 Ebd., II, 33 [leicht verändert].

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nierinnen:23 Weil es sich um erfolglose Versuche handelt, im Zuschauer Mitleid zu erregen, und sie die Regeln des Anstands verletzen, betrachtet er diese griechischen Tragödien allesamt als ästhetisch verfehlt: »These attempts to excite compassion by the representation of bodily pain, may be regarded as among the greatest breaches of decorum of which the Greek theatre has set the example.« Dieses kritische Urteil nuanciert er, indem er hinzusetzt, dass nicht der Schmerz, sondern andere Umstände – nämlich im Falle des Philoktet seine Einsamkeit – den Zuschauer affizieren und über die Tragödie die romantische Wildheit verbreiten, die der Einbildungskraft so angenehm sei.24 Seine Analyse des psychologischen Mechanismus der Empathie oder »sympathy« liefert die tiefere moralische oder moralisch-ästhetische Begründung für diese ästhetische Verurteilung des Philoktet. Diese nimmt ihren Ausgang von einer ethisch-ästhetischen Überlegung über die Tugend, die Smith als »propriety«, Schicklichkeit oder Angemessenheit unserer Handlungen bestimmt. »Propriety« bezeichnet einen Maßstab zur Beurteilung der Handlungen anderer, aber auch unserer eigenen Handlungen und genauer: jene Tugend, auf die wir unser Verhalten ausrichten müssen, wenn dieses auf öffentliches Lob [public praise] stoßen soll. In diesem Tugendverständnis steht Smith in einer Linie mit Ciceros dignitas, Shaftesbury und Hume. Er vertritt die These, dass wir nie bloß Lust, sondern immer schon Anerkennung und Liebe anstreben. Die Erfahrung zeigt aber Smith zufolge, dass dem menschlichen Vermögen, sich an die Stelle seines Gegenübers (oder sogar seines ehemaligen Ichs) zu versetzen und sich seinen Zustand vorzustellen, Grenzen gesetzt sind. Es bedarf deshalb einer beiderseitigen Anstrengung, um die Kluft zu überbrücken und empathische Bande zu knüpfen. Wenn Smith hier Ciceros alte Unterscheidung zwischen liebenswerten und achtungswerten Tugenden 25 übernimmt, so deshalb, weil er erkennt, dass Empathie zweierlei Bewegungen voraussetzt: einerseits eine Anstrengung seitens des nicht-affizierten 23 Adam Smith, Theory of Moral Sentiments, hg. v. Knud Haakonssen, Cambridge University Press, 2002, S. 37: »In some of the Greek tragedies there is an attempt to excite compassion, by the representation of the agonies of bodily pain. Philoctetes cries out and faints from the extremity of his sufferings.« 24 Ebd.: »In all these cases it is not the pain which interests us, but some other circumstance. It is not the sore foot, but the solitude of Philoctetes which affects us, and diffuses over that charming tragedy that romantic wildness, which is so agreeable to the imagination.« Die gleiche Feststellung gilt im Prinzip für Herkules und Hippolytus: »The agonies of Hercules and Hippolytus are interesting only because we foresee that death is to be the consequence. If those heroes were to recover, we should think the representation of their sufferings perfectly ridiculous.« 25 Vgl. auch Kapitel 11.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Zuschauers [spectator]26 und andererseits eine Anstrengung der affizierten Person. Of the amiable and respectable virtues: Upon these two different efforts upon that of the spectator to enter into the sentiments of the person principally concerned, and upon that of the person principally concerned, to bring down his emotions to what the spectator can go along with are founded two different sets of virtues. The soft, the gentle, the amiable virtues, the virtues of candid condescension and indulgent humanity are founded upon the one. The great, the awful and respectable, the virtues of self-denial, of self-government, of that command of the passions which subjects all the movements of our nature to what our own dignity and honour and the propriety of our own conduct require, take their origin from the other.27

Der nicht-affizierte Zuschauer muss die Bereitschaft aufweisen, sich zu seinem Gegenüber »herunterzubeugen«, um sich zumindest bis zu einem gewissen Grade an die Stelle der affizierten Person zu versetzen – wenn er auch die Leidenschaft nie in der gleichen Stärke wie sie erfahren wird. Aber eine solche Konkordanz der Gefühle ist, was die affizierte Person am sehnlichsten wünscht. Sie unternimmt deshalb ihrerseits die Anstrengung, den Ausdruck ihres Leidens zu mindern, das Gesicht zu wahren und sich zu ihrem Gegenüber »aufzurichten«. Im Falle körperlichen Schmerzes kann man aber auf eine solche Empathie kaum Anspruch erheben, weil Schmerz die Einbildungskraft, d. h. das Vorstellungsvermögen des Menschen wenig anspricht. Anhand mehrerer Beispiele von im Körper entspringenden Leidenschaften28 legt Smith dar, dass man mit starken körperlichen Begierden – Hunger, Sexualtrieb, Schmerz – wenig sympathisiert. Umso dringender gilt es, um der Schicklichkeit und der Empathie meines Gegenübers willen den Ausdruck des eigenen Schmerzes zurückzuhalten.29 Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus den eingangs dargelegten Prinzipien. Anders ausgedrückt: Der Ausdruck solcher Gefühle ist nicht deshalb unanständig und unter der menschlichen Würde, weil er tierisch ist und aus Bedürfnissen entspringt, die wir mit den Tieren teilen. Gegen diese antike These erhebt Smith den Einwand, wir teilen andere Triebe mit den Tieren, 26

Ebd., S. 182. Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 33 ff. 29 Ebd., »It is indecent to express any strong degree of those passions which arise from a certain situation or disposition of the body ; because the company, not being in the same disposition, cannot be expected to sympathise with them.« 27

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die nicht denselben Eindruck von Brutalität und Unanständigkeit hinterlassen. Unziemlich ist ihr Unvermögen, die Einbildungskraft zu reizen und folglich seitens seines Gegenübers Empathie zu bewirken: Wir können uns in diese Situationen und Gefühle nicht hineinversetzen. Diese Beobachtung bewahrheitet sich sogar in der Erfahrung der Person selbst, die gerade eine solche Begierde verspürt hat. Sobald diese Bedürfnisse erfüllt sind, ist der begehrte Gegenstand nicht mehr angenehm und kann seine Gegenwart sogar stören. Was Smith achtungswerte Tugenden nennt, nämlich Beharrlichkeit und Würdigkeit, gründet genau auf dem Bewusstsein dieser Schranken der menschlichen Vorstellungskraft. In sehr geringem Maße ist es zwar möglich, Mitleid mit physischem Schmerz zu empfinden: unmittelbar eine Gefahr mitzuempfinden. Aber jeder weiß schon, dass sein eigener körperlicher Schmerz im Gegenüber auf geringes Mitgefühl stößt. Wer hingegen unter der grausamsten Folter den Ausdruck seines Leidens zurückhält, weil er weiß, dass wir uns in diese nicht hineinversetzen können, kann mit unserer größten Bewunderung rechnen. Ganz anders verhält es sich mit den Leidenschaften, die der Einbildungskraft entspringen. Diese erregen weit mehr Mitleid als das schlimmste physische Leiden, weil sie – ganz wie im Übrigen auch äußere Zeichen von Rang und Reichtum30 – die Einbildungskraft meines Gegenübers ansprechen. In diesem Kontext führt Smith die Ästhetik der Tragödie ein: Wir empfinden ein derart tiefes Mitleid mit solchem Elend, dass wir sogar in fiktiven Darstellungen der Tragödie Tränen verströmen.31 Selten hat ein Philosoph Beobachtungen von so großer Wahrheit angestellt, was diese psychologischen Mechanismen von Liebe und Achtung betrifft. Diese fallen im deutschsprachigen 18. Jahrhundert auf fruchtbaren Boden, veranlassen dort eine große Anzahl von Kommentaren und kritischen Gegenentwürfen und bleiben von großer Relevanz für die heutige Würdedebatte.

30 Vgl. Ebd., chapter II.: »Of the origin of Ambition, and of the distinction of Ranks«. Smith leitet auch den Drang nach Reichtum und Vervielfältigung der eigenen Mittel von dem allgemeinen menschlichen Bedürfnis nach »sympathy« und Anerkennung ab: »to be observed, to be attended to, to be taken notice of with sympathy, complacency and approbation, are all the advantages which we can propose to derive from it.« 31 Ebd., S. 52: »We weep even at the feigned representation of a tragedy.« Vgl. auch die Diskussion Catos auf S. 58.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Sein Griechentum. Winckelmann über edle Einfalt und stille Größe

Die deutschen Aufklärer stellen sich insofern vereint gegen Cicero und Smith, als dass sie ihr Verdikt nicht übernehmen und dem Philoktet einen genuin ästhetischen Wert zuerkennen. Sie räumen zwar auch dem Anstand – oder was sie von ihrer eigenen ästhetischen Tradition aus Form und Schönheit nennen – eine Bedeutung ein. Aber in ihren Augen kann sich Würde nicht in bloßem Anstand, convenance und Schönheit erschöpfen, weil diese noch nicht die eigentliche menschliche Verbindung mit dem Gegenüber herstellt. Sie heben zugleich die »göttliche« Natur und Erhabenheit des leidenden Philoktet hervor, die es eigentlich sei, die das Publikum erschüttert und zur Sicht der eigenen höheren Humanität und Würde erhebt ; in ihren Augen müssen Anstand und Würde, Schönheit und Erhabenheit in der ästhetischen Erfassung von Humanität Hand in Hand gehen. Dies gilt schon für Winckelmann, der das Drama für ein griechisches Meisterstück hält. Ganz wie der Laokoon ist der Philoktet ein exemplum doloris, und Winckelmann eröffnet in seinem Kommentar eine neue vergleichende Perspektive auf die beiden Werke, die Lessing im Detail ausführen soll. In seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst aus dem Jahre 1755 schreibt Winckelmann: »Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles’ Philoktet: sein Elend geht uns bis an die Seele ; aber wir wünschen, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.«32 In dieser Bewertung des Philoktets als Meisterstück widerspricht Winckelmann zumindest indirekt der These von Adam Smith, Philoktets Leiden sei unschön und abstoßend. Philoktet repräsentiert das vorzügliche Kennzeichen aller griechischen Meisterstücke: ihre »edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung, als auch im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«33 Das bedeutet nicht nur, dass Philoktet moralische Tugenden aufweist. Er könnte moralisch groß sein und zugleich hässlich. Wenn uns sein Elend bis an die Seele geht und wir in uns den Wunsch verspüren, ihn nachzuahmen, dann deshalb, weil Philoktet im Leiden schön ist ; weil er sein menschliches Antlitz und Erscheinungsbild auch im Zustande äußerer Qual bewahrt. Dass wir in ihm immer noch den Menschen wahrzunehmen imstande sind, liegt 32 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. v. Ludwig Uhlig, Stuttgart, Reclam, 1969, S. 20. 33 Ebd.

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wiederum für Winckelmann an seinem Griechentum. Unser Leiden wäre abstoßend, wie unsere Krankheiten (die Blattern) und Anzeichen von Hautalterung, »von dem Fleisch getrennte kleine Falten, mageren Spannungen und die eingefallenen Höhlungen«34 abstoßend sind, nicht aber sein Leiden, weil er nicht anders sein kann als schön. Wir nur stehen vor der Notwendigkeit, uns um unsere Schicklichkeit zu sorgen, nicht aber Philoktet, denn er ist ganz Natur und in seiner Natur liebenswert. Wie auch sein weiterer Lebensweg ausgesehen haben mag, so ist Philoktet unter der gleichen Sonne geboren wie seine Mitbürger ; man kann annehmen, dass er dem »gleichen Einfluss eines sanften und reinen Himmels« ausgesetzt35 war, dass er die gleiche zwanglose geistige und körperliche Erziehung und politische Freiheit genossen hat. Und wohl aus all diesen Gründen fällt Philoktet im Schmerz nicht von der Menschheit ab. Er bleibt schön und wahrt die Form. Diese These scheint auf den ersten Blick einfach von einem skurrilen Philhellenismus zu zeugen: Bekanntlich war Winckelmann, ohne in seinem Leben jemals griechischen Boden betreten zu haben36, ein großer Bewunderer der griechischen Kunst, deren Phasen er in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums37 von 1764 nachzeichnet. Auf den zweiten Blick aber initiiert er einen fruchtbaren Gedanken zur Würde, der zentrale Argumente Mendelssohns, Lessings und auch Herders vorwegnimmt. Winckelmann interpretiert wie auch Mendelssohn Philoktets Würde als eine Erhabenheit, die zwar über Menschen vermittelt, aber gerade keine convenance, Schicklichkeit oder Angemessenheit ist. So führt er hier in Abweichung zu Smiths deskriptivem Verfahren den Gedanken ein, dass die Perspektiven anderer Menschen, nämlich griechischer Künstler, erhebend sein können ; dass sie göttliche Modelle und eine idealische Schönheit vor Augen stelle, die die Menschheit als Ganze erheben und veredeln. Künstler ist, wer in der Erhabenheit des Philoktet die schöne, erhabene, göttliche Form und Idee des Menschen wahrzunehmen und

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Gedanken, S. 11. Ebd., S. 5. Vgl. auch Erläuterungen der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 78: »Unter einem so gemäßigten, und zwischen Wärme und Kälte gleichsam abgewogenen Himmel spüret die Kreatur einen gleich ausgeteilten Einfluss desselben. […] Ein solcher Himmel, sagt Hippokrates, bildet unter Menschen die schönsten und wohlgebildetesten Geschöpfe und Gewächse, und eine Übereinstimmung der Neigungen mit der Gestalt.« 36 Vgl. Elisabeth Décultot, Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris, Presses Universitaires de France, 2000, S. 146. 37 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, hg. v. Wilhelm Senff, Weimar, Herrmann Böhlaus Nachfolger 1964. Vgl auch die neue Ausgabe, hg. v. Adolf H. Borbein, u. a. Mainz 2002. 35



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auszudrücken in der Lage ist ; und wer diese den anderen, allen anderen in allen Zeiten, ästhetisch vermitteln kann. Die Überlegenheit der griechischen Künstler über alle Nachfolger entsteht somit daraus, dass sie zugleich nach der Ähnlichkeit und nach Ideen arbeiteten. »Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur, die idealische Schönheit die erhabenen Züge. Von jener nahm er das Menschliche, von jener das Göttliche.«38 Diesen Gedanken führt Winckelmann später in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums aus – dort stellt er die griechischen Künstler und Dichter als die eigentlichen Stifter der Religionen dar: Durch sie seien »die Gegenstände heiliger Verehrung hervorgebracht« worden. Um Ehrfurcht zu wecken, hätten diese die Bilder geschaffen, die »von höheren Naturen genommen zu sein schienen« und die jene hohen Begriffe schafften, die der Einbildung Flügel gaben, »ihr Werk über sich selbst und über das Sinnliche zu erheben.«39 Und gerade indem diese Dichter und Künstler eine Vielfalt von Bildern zusammentragen, helfen sie, jenen unbestimmten Begriff von Schönheit und Vollkommenheit, »für die die Menschheit kein fähiges Gefäß sein kann«, immer weiter hin zu immer größerer Gottebenbildlichkeit zu bilden. Wenn die »höchste Schönheit« in Gott ist, so wird »der Begriff der menschlichen Schönheit« vollkommener, je ähnlicher, je »gemäßer und übereinstimmender« derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden.40 Indem sie das, »was in sich groß ist«, »mit Einfalt« ausführen und hervorbringen, wird »alle Schönheit erhaben« und zugleich unser Geist »durch die Fassung desselben erweitert und […] mit erhoben.« Winckelmann begreift diese Erhebung als einen stufenförmigen Aufstieg von der menschlichen hin zur göttlichen Schönheit und beschreibt diese Staffelung in seiner Geschichte des Altertums im Detail. Dieser Gedanke ist Winckelmann eigen, und er soll die deutsche ästhetische, historiographische und philosophische Debatte ungeheuer anregen. Er bedeutet für die Schulung der eigenen Wahrnehmung einen notwendigen Umweg über Griechenland. Vielleicht wäre ein späterer Nichtgrieche selbst nicht in der Lage gewesen, den Philoktet in seiner Schönheit wahrzunehmen. Aber er nimmt sie wahr und lernt es, die Natur zu sehen und zu lesen, insofern er seine Statue und Abbildung heute durch die Brille des griechischen Künstlers betrachtet. Diese Perspektive befähigt ihn zur Wahrnehmung von Philoktets Würde und exemplarischem Charakter für die ganze Menschheit: »Der einzige Weg für uns, 38

Winckelmann, Gedanken, S. 11. Geschichte der Kunst des Alterthums, I, 4. Das Götterbild als Ideal. 40 Ebd., S. 129. 39

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groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.«41

Seine Erhabenheit. Mendelssohns Bewunderung

Mendelssohns Kommentar zum Philoktet ist im Vergleich mit Lessings und Herders äußerst kurz. Aber er verdient schon deshalb Beachtung, weil er diesen direkter in den Kontext der deutschen ästhetischen Tradition stellt, auf die sich Winckelmann indirekt bezieht. Mendelssohn kennt und zitiert direkt Baumgarten, der bereits die alten rhetorischen Begriffe der erhabenen Denkungsart (sublime cogitandi genus), der ästhetischen Größe (magnitudo), Würde (gravitas) und Großmut (magnanimitas) in einem modernen ästhetischen Kontext einführt. Aber er ist auch ein Leser Winckelmanns42 und derjenige, der Lessing auf Winckelmanns Gedanken hinweist ; und er stellt zudem eine Verbindung zwischen diese Würdebegriffen aus der ästhetischen Tradition und Burkes Begriff des Erhabenen43 her. In Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen schreibt Mendelssohn: Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen, und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoctets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas anderen Natur, denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt ihn vor unsren Augen.44

Philoktet stellt in seiner Auslegung ein Erhabenes der Gesinnung unter Be­ weis. Zur Ausführung dieses Gedankens stützt Mendelssohn sich auf ­Burkes eigene Beobachtungen in seiner Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful 45. Wie auch Lessing hebt er den Wert von 41

Gedanken, S. 4. Vgl. Baumgarten, Aesthetica, insbesondere §§ 281–403. 43 Dieser Begriff fand mit der lateinischen Übersetzung des pseudolonginischen Traktats durch Robertello und Boileau (Traite du sublime, 1674) schon im 17. Jahrhundert Beachtung. In der Aufklärung wird er sowohl von Autoren wie Addison und Burke als auch von Baumgarten, Bodmer, Breitinger, Schiller und Kant aufgenommen. 44 Mendelssohn, Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, 1761, in: Ausgewählte Werke. Studienausgabe in 2 Bden., hg. u. eingel. v. Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Grazyna Jurewicz, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009, Bd. I, S. 222. Vgl. die gleichlautende Passage in der überarbeiteten Fassung, Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, 1771, S. 29. 45 Burke, Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beauti42



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Burkes Schrift als Materialsammlung hervor: Der Verfasser sei »ein großer Beobachter der Natur«. Er häufe »Beobachtungen auf Beobachtungen, die alle eben so gründlich, als scharfsinnig sind« ; aber Mendelssohn beanstandet zugleich seine mangelnde Begründung in der Psychologie und Berücksichtigung des höheren Grundsatzes der Vollkommenheit: »Man siehet, dass ihm die Seelenlehre der deutschen Weltweisen unbekannt gewesen, und die bloße Erfahrung war nicht hinreichend, ihm diese tiefsinnigen Lehren im Zusammenhang sehen zu lassen.«46 Was Burke das Erhabene nennt, entspricht in Mendelssohns Augen zum einen einer gewissen moralischen Vollkommenheit. Dieses besteht in den bewundernswürdigen Eigenschaften, die der sich vorzustellende Gegenstand an und für sich besitzt. Ein solches Erhabenes müsse von der bloß äußerlichen Ehre oder Würde unterschieden werden: »Wir bewundern in der That, diejenige nicht so sehr, welche große Reichthümer besitzen oder vornehme Ehrenstellen bekleiden, als die, welche sie haben können, und aus einer edlen Großmuth von sich stoßen.47 Daher bestehe auch »in der Baukunst und bey den Verzierungen der Schaubühne […] das Erhabene in der Vermeidung der gehäuften Pracht und übermäßigen Prahlerei«.48 Denn ein solches moralisch Erhabenes – die Darstellung der erhabenen Tugend auf dem Theater – sei es, die die Verbindung mit dem an sich Großen und Göttlichen herstelle und die den Menschen eigentlich zu einer vernünftigen Selbstschätzung des eigenen Wesens als Vernunftwesen erziehe. Sie versetze das Publikum in die Lage, »die wahre Würde des Menschen« kennenzulernen »und die Erhabenheit seiner sittlichen Natur in dem gehörigen Lichte [zu] betrachten.«49 »Ein jeder habe vor sich selbst geziemende Achtung, sagt ein alter Weltweiser, so wird er geneigt sein, der Stimme der Natur zu gehorchen.« Hingegen sei die »Geringschätzung der menschlichen Natur […] der nächste Weg zum sinnlichen Verderben«. Eine solche Geringschätzung kann sich »anfangs unter der Gestalt der Selbsterkenntnis« und Demut verbergen, aber sobald sie »mehr auf das menschliche Geschlecht, als auf unser Individuum« gehe, erzeuge sie »Menschenhaß statt der Selbsterkenntniß und ful, London, 1757. Vgl. auch Mendelssohns Rezension in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste, 1758, Bd. 3, 2. Stück, Jubiläumsausgabe, Bd. 4, S. 216–236. 46 Mendelssohn, Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1771), S. 43, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 255. 47 Mendelssohn, Betrachtungen über das Erhabene und Naive, Jubiläumsausgabe, Bd. I, S. 195. 48 Ebd. 49 Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, Jubiläumsausgabe, Bd. 1, S. 86, Ausgewählte Werke. Studienausgabe Bd. II, S. 269.

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schlage die Kräfte des Gemüths zu sehr nieder, und macht uns fast gleichgültig gegen das Gute und Böse.«50 Man darf, mit wahrer Demuth im Herzen, auf die Würde des Menschen, und auf den Rang, der er in der Schöpfung einnimmt, stolz seyn. Wir müssen in unseren Augen etwas Wichtiges, und unser Thun und Lassen von einiger Bedeutung seyn, wenn wir uns des Guten mit einiger Bedeutung annehmen sollen. Man lerne eine jede Handlung des Menschen, in ihrer Beziehung auf den allgegenwärtigen Gesetzgeber der Natur, und in ihrem Verhältnisse zur Ewigkeit betrachten.51

So stellt Philoktet, wie Sokrates im Phaedon, den Mendelssohn erschöpfender kommentiert, ein moralisches Exemplum und Mittelglied zu höheren und unerreichten Stufen der Göttlichkeit dar, das eine wahre, lebhafte und motivierende Erkenntnis bewirkt, insofern es dem Zuschauer sinnlich vor Augen steht. Weil sein Leiden dessen Fassungsvermögen übersteigt, erhebt und erschüttert, spricht es ihn an und kann er auch die Schönheit seiner Handlung empfinden. Die durch ein solches Exemplum bewirkte ästhetische Lust ist somit eine gemischte Empfindung. Sie ist ein Mitleid, »das aus der Liebe zu einem Gegenstand, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist«. Die Liebe betrifft die Erhabenheit, Vollkommenheit und die Kraft, mit der Philoktet unverdientes Leiden erträgt. Sie erregt im Zuschauer sowohl Bewunderung als auch Mitleid, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Mitleid, weil Bewunderung. Gerade der Anblick unverdienten Leidens erhöht unsere Liebe zu einer Person und deshalb auch unsere Lust, die uns die Vollkommenheiten vor Augen ruft. Diese ästhetische Lust am Erhabenen besteht in dem »sinnlichen Ausdruck einer solchen Vollkommenheit, die Bewunderung erregt«.52 Mendelssohn ordnet somit das Erhabene dem Schönen vor. »Man hat allda das Wesen der schönen Künste in den sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit gesetzt. Nun wird eine jede Eigenschaft eines Dinges überhaupt erhaben genannt, wenn sie durch ihren außerordentlichen Grad der Vollkommenheit Bewunderung zu erregen fähig ist.«53 Genauer: Das ästhetische Vergnügen gründet auf der Ehrfurcht oder Bewunderung als primitive Passion, als Rezeptivität der Vernunft, die Mendelssohn ganz wie Descartes der Leidenschaft entgegensetzt. Das Vollkom50

Ebd. Ebd. 52 Mendelssohn, Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften, 1758, Jubiläumsausgabe, Bd. I, S. 194. 53 Ebd., S. 193. 51



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mene erheischt Bewunderung und umso größere Bewunderung, als dass der Anblick unverdienten Leidens unsere Liebe zu seiner Person erhöht. Die Tragödie zieht aus diesem Kontrast ihre besondere Kraft. Auf Bewunderung als dem ersten ästhetischen Affekt folgt das Mitleid als der zweite. Darin besteht der gemischte Affekt, den dieses Stück im Publikum hervorruft.

Seine Schönheit. Lessing mit und gegen Smith

Lessing hat sein Traktat »Laokoon« genannt ; vielleicht um durch diesen Titel seinem Willen Ausdruck zu verleihen, seine ästhetischen Ausführungen stärker als Baumgarten von den Quellen her zu entwickeln. Er hätte es wohl ebenso gut »Philoktet« nennen können, denn diese Tragödie beansprucht eine ähnliche Bedeutung. Sie zeugt von seiner tiefen Auseinandersetzung mit dem Werk und mit den Positionen aller seiner Zeitgenossen, mit Smith, Winckelmann, Mendelssohn und selbst mit Cicero. An dessen Philosophie finde er »wenig Geschmack« und am allerwenigsten an der, die er »in dem zweiten Buche seiner Tuskulanischen Fragen über die Erduldung des körperlichen Schmerzes auskramet.«54 Seine Philosophie scheint mehr auf die »Abrichtung eines Gladiators« als auf die Erziehung des Menschen abzuzwecken. Dieser Mangel prägt auch Ciceros Deutung des Philoktet: »Er hört bei dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien, und übersieht sein übriges standhaftes Betragen gänzlich.«55 Lessing setzt sich seinerseits wie seine Zeitgenossen zum Ziel, Philoktets Humanität als eine notwendige Vereinigung von Standhaftigkeit und Leidensfähigkeit darzustellen. Wie sein enger Freund Mendelssohn, mit dem er sich über diese Themen seit Jahren auseinandersetzt, leitet Lessing den ästhetischen Wert des Philoktet aus einer gewissen »sinnlichen« Vorstellung von Vollkommenheit in der Seele ab. Gegen Mendelssohn räumt er der Liebe, oder dem »Mitleid«, wie er schreibt, Vorrang vor der Bewunderung ein. Gerade deshalb, weil Philoktet nicht Bewunderung, sondern zunächst Mitleid oder »Teilnehmung« erweckt, sei er ein Gegenstand für die Schaubühne. Denn Bewunderung ist in seinen Augen nur »die eine Hälfte des Mitleids«56 und »ein Ruhepunkt, wo sich der 54 Lessing, Laokoon, S. 44. Lessing fährt fort: »Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äußerlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheinet er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann.« 55 Ebd., S. 44. 56 Lessing, Brief an Mendelssohn vom 18. Dezember 1756, Werke III, S. 693. Zu dieser

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Zuschauer zu neuem Mitleiden erholen soll«, und: »der wahre Dichter verteilt das Mitleiden durch sein ganzes Trauerspiel.«57 Wenn Lessing das von Mendelssohn statuierte Verhältnis zwischen Bewunderung und Mitleid umkehrt, so deshalb, weil die Erfassung der Erhabenheit des tragischen Helden selbst eine Ähnlichkeit der Denkungsart und »Identität der Urteile« voraussetzt, die Mendelssohn vernachlässigt. Sie geht auf die Schönheit des Menschen, nicht der Götter. Denn wer uns allzu erhaben erscheint, mit dem können wir uns nicht in ein Verhältnis setzen. »Wen wir lieben«, so Lessing, »an dessen Vergnügen und Missvergnügen nehmen wir Anteil ; wir sind mit ihm vergnügt und missvergnügt.58 Eine solche Liebe setzt wiederum die Möglichkeit von Reziprozität, Gleichheit und »Verwechslung« voraus: eine Seelenwanderung mehr oder weniger in dem Sinne, wie auch Herder sie versteht.59 In Lessings Augen muss man annehmen, dass der göttliche Pädagoge und Erzieher des Menschengeschlechts ein solches Verhältnis zwischen den Menschen geknüpft hat, dass verschiedene Gruppierungen, Religionen und Generationen sich auf Augenhöhe begegnen können, denn, wie Tellheim es später in Minna von Barnhelm fasst: »Gleichheit ist immer das feste Band der Liebe.«60 Diese Auseinandersetzung mit Mendelssohn findet lange vor der Abfassung des Laokoons statt. Sie beginnt mit dem 1755 bis 1757 zusammen mit Nicolai und Lessing verfassten Briefwechsel über das Trauerspiel über die gemischten Empfindungen der Tragödie und die kathartische Wirkung der Tragödie durch Mitleid (griechisch: ›έλεος) und Furcht (griechisch: Φόβος) und setzt sich in der Diskussion über Burke fort. Diese Gedanken bleiben aber im Laoästhetischen Debatte vgl. auch Nicolas Rialland, La correspondance sur la tragédie entre Lessing, Mendelssohn et Nicolai. Contribution à une genèse de l’esthétique allemande, vol. 1 [noch unveröffentlichte Dissertation] ; Michel Espagne, Gotthold Ephraim Lessing, Paris, Belin, 2016, Kapitel 4: L’ami Mendelssohn, S. 73–92 ; Graff, Literarische Dimensionen der Menschenwürde, S. 83–87. 57 Ebd. 58 Lessing, Bemerkungen über Burke’s philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen, in: Werke, Bd. 4, S. 449. 59 Dieser Gedanke hat wiederum eine bedeutende metaphysische und theologische Dimension, die hier nicht näher ausgeführt werden kann. Vgl. Emmanuel Hourcade, Charlotte Morel, Ayse Yuva (Hg.), La perfectibilité. Les Lumières allemandes contre Rous­seau, Classiques Garnier, 2022 ; vgl. auch Espagne, Lessing, L’ami Mendelssohn, S. 73–92. Allgemeiner zu Lessings Auffassung von Religion und Konfession vgl. auch Gotthold Ephraim Lessing, Adam Neuser (1774), précédé de Confession et migration: ­l’Islam des Lumières, traduction, introduction et notes par Philippe Büttgen, Paris, Editions Demo­ polis, 2017. 60 Lessing, Minna von Barnhelm, in: ders., Werke, VII, hg. v. Wilfried Barner u. a., Frank­ furt, Deutscher Klassiker Verlag, 1985, S. 94.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

koon gegenwärtig. Sie liefern den weiteren philosophischen und ästhetischen Hintergrund, vor dem Lessing nun Smiths Argument benutzen und umkehren kann. Lessing teilt sowohl Smiths Sicht auf die interpersonalen Mechanismen der Liebe oder »sympathy« als auch auf die Schranken, die das Vorstellungsvermögen des Einzelnen einer solchen Liebe setzt. Er stimmt auch dessen Gedanken zu, der physische Schmerz an sich sei kein theatralischer Gegenstand, da nicht der Wiedererinnerung und Einbildung fähig. Es ist aber möglich, Mitgefühl oder Mitleid, Liebe mit dem physischen Schmerz zu wecken, indem man den Leidenden in einem weiteren narrativen Kontext darstellt. Die ästhetischen Implikationen dieser Ideen schlüsselt Lessing durch die an Winckelmann anschließende Gegenüberstellung des Laokoons und Philoktet auf. Wer Mitleid erregen will, muss Reziprozität herstellen und eine gewisse Würde zu wahren wissen. Das gilt sowohl in den bildenden Künsten als auch in der Dichtung: Sowohl Laokoon als auch Philoktet dürfen ihren Schmerz nicht allzu heftig ausdrücken. Laokoon darf den Mund nicht allzu weit öffnen, Philoktet nicht so wimmern und schreien, dass dieses Geschrei die Gesetze von Delikatesse und Anstand beleidigt. Aber man müsse dennoch die Wirkung des Ganzen betrachten. Eigentlich beginne Philoktet erst in dem Augenblick zu schreien, als er Hoffnung schöpft, seine Einsamkeit zu überwinden und in die Gesellschaft der Menschen zurückzukehren: Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzelnen Szenen, in welchen Philoktet nicht mehr der verlassene Kranke ist ; wo er Hoffnung hat, nun bald die trostlose Einöde zu verlassen und wieder in sein Reich zu gelangen ; wo sich also sein ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschränkt. Er wimmert, er schreiet, er bekommt die gräßlichsten Zuckungen.61

Aus dieser Perspektive kommt Lessing auf die Schlüsselszene zurück, in der Philoktet, des Sprechens unfähig und von seinem »fürchterlichen, unsagbaren« Schmerz an seinem Fuß überwältigt, diesen vor dem Neoptolemos zu verbergen sucht. 2. Auftritt Philoktet und Neoptolemos kommen aus der Höhle Neoptolemos: Komm, wenn du willst ! Was also schwiegst du eigentlich so ohn’ Begründung und wirst festgehalten so betäubt ? Philoktet: Ah, ah, ah, ah ! [ᾶᾶ, ᾶᾶ] Neoptolemos: Was gibt es ? 61

Lessing, Laokoon, in: ders., Werke, Bd. 5/2, S. 42.

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Philoktet: Fürchterliches nichts. Wohlan doch, geh, o Kind ! Neoptolemos: Hast etwa Schmerz du von der gegenwärt’gen Krankheit ? Philoktet: Ich sicher nicht doch, sondern eben wähn Erleichterung ich zu verspüren. Ach, Götter ! Neoptolemos: Was rufst so aufseufzend die Götter an du ? Philoktet: Auf dass als Retter sie und mild uns kommen. Ah, ah, ah, ah. [ᾶᾶ, ᾶᾶ] Neoptolemos: Was eigentlich hast du erlitten ? Willst du es nicht sagen, sondern so verschwiegen sein ? In irgendeinem Übel aber scheinst du zu befinden dich. Philoktet: Zugrund gegangen bin ich, Kind, und werde nicht das Übel verbergen können angesichts von euch. Au, au, ’s geht durch und durch, ’s geht durch und durch. Ich Unglücklicher, o ich Elender ! Zugrund gegangen bin ich Kind, zerrissen werd ich, Kind ; o weh, o weh, o weh, o weh, o weh, o weh, o weh. [παπαῖ, ἀπαππαπαῖ, παπαππαπαππαπαππαπαῖ.]62

Philoktet gibt in dieser Szene seinem Schmerz unumwunden Ausdruck und fleht den Neoptolemos an, mit einem Schwerthieb in den Fuß seinem Leid ein Ende zu setzen. An dieser Stelle stellt Lessing einen direkten Bezug zu Smith her: »Hierwider gehet eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engländer, welcher diesen Einwurf macht ; ein Mann also, bei welchem man nicht leicht eine falsche Delikatesse argwöhnen darf.«63 Und Lessing führt nun das Argument dieses »Engländers«, der eigentlich ein Schotte ist, in einigem Detail und im Ausgang von den oben dargestellten psychologischen Mechanismen aus: Da »alle Empfindungen und Leidenschaften«, sagt er, »mit welchen andere nur sehr wenig sympathisieren können, anstößig [werden], wenn man sie zu heftig ausdrückt«, sei »nichts unanständiger, und einem Manne unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten, nicht mit Geduld ertragen kann, sondern weinet und schreiet.«64 Dies schließt aber nicht aus, dass das Publikum nicht dahin geleitet werden könne, Philoktets Schmerzen zu teilen, und dass genau in dieser Empathie mit der Rezeptivität und Kraft vereinigenden Humanität von Philoktets Charakter das ästhetische Vergnügen liege. Im Ausgang von Smiths eigenen Voraussetzungen stellt sich Lessing gegen den Schotten auf die Seite Winckelmanns und Mendelssohns. Auch Smith beobachtet eine gewisse minimale Sympathie mit dem körperlichen Schmerz. »Wenn wir sehen, dass jemand 62

Philoktet, Z. 730–746. Ebd., S. 43. 64 Ebd. 63



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

einen Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, so fahren wir natürlicherweise zusammen […].«65 Aber Smith stellt zugleich zu Recht heraus, dass wir aufgrund der konstitutiven Beschränkung unserer Einbildungskraft nur wenig Sympathie empfinden, und »wenn der Geschlagene daher ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht ihn zu verachten, weil wir in der Verfassung nicht sind, ebenso heftig schreien zu können, als er.«66 Smith deutet zugleich schon auf die Möglichkeiten, die sich dem leidenden Menschen eröffnen, um dennoch seine Würde zu wahren und eine empathische Verbindung mit seinem Gegenüber herzustellen. Zwar verachten wir denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreien hören. Aber nicht immer: nicht zum ersten Male ; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeißen ; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen ; noch weniger, wenn wir ihn selbst unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. Das alles findet sich bei dem Philoktet.67

Wir empfinden dann Mitleid, wenn wir sehen, dass der Mensch diesem Schmerz Widerstand entgegensetze und Würde und »moralische Größe« bezeuge. Diese bestehe »bei den alten Griechen in einer ebenso unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde«. Beide Tugenden – Humanität und Standhaftigkeit – wahre Philoktet bei allen Schmerzen. Er sei sowohl zu Liebe und »Tränen über das Schicksal seiner alten Freunde« als auch zu einem gewissen Stolz in der Lage, der ihn davon abhalte, seinen Feinden zu vergeben. Sophokles stelle deshalb mit dieser Charakterzeichnung seine große dramatische Kunst unter Beweis ; aber diese umfasst eine Vielfalt von Perspektiven und auch die psychologische Motivation und das »Interesse« der Nebenpersonen. Dass diese sich »in einem hohen Grade gerührt stellen«, wäre nicht plausibel oder: wider die Natur. Dass sie sich alle »so kalt und verlegen bezeigen, als man wirklich bei dergleichen Fälle zu sein pflegt«68, würde den Zwecken der Schaubühne zuwiderlaufen und kein Mitleid hervorbringen. 65

Ebd. Ebd. 67 Ebd., S. 43 f. 68 Ebd., S. 46 f. 66

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Aber in Sophokles’ Tragödie verteilt sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf mehrere Charaktere und ihre Entwicklung, darunter Neoptolem und der Chor. Beide haben sich Lessing zufolge des Betrugs schuldig gemacht und erkennen, dass dieser den Philoktet in größte Verzweiflung stürzen muss. Dass Sophokles nun eine Szene vorsieht, in dem Philoktet vor ihren Augen der Verstellung unfähig wird und seinem Schmerz unterliegt, kann vielleicht »keine merkliche sympathetische Empfindung in ihnen erregen«69. Aber diese Offenheit bringt den »edelmütigen Neoptolemeos« dazu, in sich zu gehen, gegen so viel Elend Achtung zu haben, seine betrügerischen Pläne aufzugeben und Philoktet die Wahrheit zu beichten. Philoktet, seiner Schmerzen Meister, würde den Neoptolem bei seiner Verstellung erhalten haben. Philoktet, den sein Schmerz aller Verstellung unfähig macht […] Philoktet, der ganz Natur ist, bringt auch den Neoptolem zu seiner Natur wieder zurück. Diese Umkehr ist vortrefflich, und um so viel rührender, da sie von der bloßen Menschlichkeit bewirket wird.70

Auch hier bewirkt die Tragödie die Einsicht in die eigene Menschenwürde. Diese ist zugleich erhebend und doch, wie bei Winckelmann, »Natur«. Lessing nimmt dessen Gedanken von der Humanität der Griechen und auch die Gegenüberstellung von Laokoon und Philoktet auf. Diese begründet hier sowohl die Bestimmung der Kunst als solcher als auch die Unterscheidung der Gattungen, über »Handlung«, »Figur« und »Schönheit«. Diese Handlung ist das Prinzip, das der zeitlichen Abfolge des Geschehens in der Dichtung seine Einheit verleiht, während die Figur oder der Körper in der Malerei und den bildenden Künsten als das Prinzip der Zusammensetzung im Raume dient. Beide Künste unterscheiden sich zwar in den Gegenständen (Handlung und Figur) wie auch in der Art ihrer Nachahmung (ὕλη και τροποις μιμησεως διαφερουσι), verfolgen aber den gleichen Zweck, nämlich: Schönheit. Weil ihnen die Art ihrer Nachahmung und die Besonderheit der verwandten Zeichen Schranken und besonderen Regeln auferlegen, sind Dichtung und Malerei komplementäre Künste. Nur gemeinsam können sie ihren Zweck erreichen und ihren Gegenstand in seiner Schönheit sinnlich darstellen. Selbst in der Malerei und Skulptur bedarf es dazu aber einer gewissen Milderung der Sinneseindrücke und Kontextualisierung und Reizung der Einbildungskraft: Dieses Prinzip lässt sich am Laokoon veranschaulichen. Auch im Leiden wahrt Laokoon seine Schönheit, weil er den Mund nicht allzu weit öffnet und weil er, umgeben von seinen Söhnen, in einen narrativen Kontext gestellt wird. 69 70

Ebd. Ebd.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Und selbst der Philoktet enthält innerhalb des narrativen Kontexts, der die Agonie des Philoktets in Handlung und Spiel der Charaktere einbettet, auch ein »malerisches« Moment, indem Philoktet sein Leiden in einer besonderen Szene ganz unverstellt ausdrückt und gerade dadurch die Anteilnahme des Zuschauers erweckt.

Seine Humanität. Herder über Einfühlung, Ästhetik und Anthropologie

Herder bezeugt ein tiefes und frühes Interesse am Philoktet. Wie schon oben erwähnt, bespricht er Lessings, Smiths und Winckelmanns Kommentar ausführlich im Ersten Kritischen Wäldchen von 1769 und eröffnet kurze Zeit später seine Schrift über den Ursprung der Sprache mit einem Verweis auf den Philoktet.71 Im Jahre 1774 verfasst er außerdem ein Singspiel mit dem Titel Philoktetes. Scenen mit Gesang 72 und kommt schließlich auch in seinem Aufsatz Plastik von 1778 auf die antike Tragödie zu sprechen. In gewisser Hinsicht prägt die Auseinandersetzung mit dem Philoktet und seinen Kommentatoren sowohl seine Anthropologie als auch seine Ästhetik bzw. leitet ihn zu einer Erweiterung der Humaniora von der Ästhetik hin zu einem weiter gefassten anthropologischen Programm. Herder teilt zunächst die Einsicht in die Unlust, die der Ausdruck physischen Schmerzes hervorruft. Der Schmerzensschrei des Philoktet gewährt dem Zuschauer keinerlei ästhetisches Vergnügen. Er ist nicht »im kleinsten Maße vergnügend, angenehm, sondern peinlich«73 in der alten Bedeutung von »schmerzhaft«, weil er das Publikum notwendig auf seine eigene »Tierheit« und Sterblichkeit zurückwirft. Aber Herder stellt zugleich heraus, dass uns die Natur als Wesen geschaffen hat, die unserem Schmerz spontan Ausdruck verleihen und die den Schmerz anderer Wesen vernehmen – wie Philoktet, der entgegen Lessings Behauptung bereits schreit, bevor er sich wieder in menschlicher Gesellschaft befindet. Philoktets erster und einsamer Schmerzensschrei ist Lessing offenbar entgangen. Schon nachdem das Publikum in der ersten Szene die verlassene Höhle und Behausung des Philoktet entdeckt hat, dringt ihm ein Klagegeschrei in die Ohren.74 71 Den biographischen Hintergrund dazu (Herders Operation) erörtert Liliane Weissberg im eingangs zitierten Artikel: »Language’s Wound. Herder, Philoctetes and the Origin of Speech«. 72 Herder, Philoktetes. Scenen mit Gesang, in: Sämmtliche Werke, 33 Bde., hg. v. Bernard Suphan, Berlin, Weidmann, 1877–1913. Bd. 28, S. 69–78. 73 Herder, Erstes Kritisches Wäldchen, 1769, in: Werke, Bd. 2, S. 101. 74 Sophokles, Philoktet, Z. 217.

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Diese Beobachtung ist im Ersten Kritischen Wäldchen nicht direkt formuliert. Sie ist aber der Ausgangspunkt von Herders neuer Anthropologie in der Ursprungsschrift. Diese beginnt mit dem Verweis auf den in der Einsamkeit wimmernden Philoktet: Schon als Tier, hat der Mensch Sprache. Alle heftigen und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde unartikulierte Laute. Ein leidendes Tier sowohl, als der Held Philoktet, wenn es der Schmerz anfället, wird wimmern ! wird ächzen ! und wäre es gleich verlassen, auf einer wüsten Insel, ohne Anblick, Spur und Hoffnung eines hilfreichen Nebengeschöpfes – es ist, als obs freier atmete, indem es dem brennenden geängstigten Hauche Luft giebt. Es ist, als obs einen Teil seines Schmerzes verseufzte, und aus dem leeren Luftraum wenigstens neue Kräfte zum Verschmerzen in sich zöge, indem es die tauben Winde mit Ächzen füllet.75

Philoktet schreit auch ohne Hoffnung, dass dieser Schrei von seinen Mitmenschen vernommen wird. Er schreit einfach deshalb, weil ihn die Natur nicht als einen »abgesonderten Steinfelsen« und als »egoistische Monade«76, sondern als ein Wesen geschaffen hat, dessen Leidenschaften sich entgegen Lessings Annahme unintentionell und unmittelbar in Sprache und »Tönen der Natur«77 äußern ; weil sie durch diese menschliche Ausdrucks- und Sprachfähigkeit göttlichen und natürlichen Ursprungs dafür gesorgt hat, dass alle Wesen sich ausdrücken und gegenseitig vernehmen können und in gegenseitiger sympathischer Verbindung stehen. Deshalb erschüttert Philoktets Schmerz mein Nervengebäude: Ob der in Zuckung liegende, winselnde Mann Philoktet sei, geht mich nicht an: er ist ein Tier, wie ich ; er ist ein Mensch: der menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäude, wie wenn ich ein sterbendes Tier, einen röchelnden Toten, ein gemartertes Wesen sehe, dass wie ich fühlet.78

Wie Herder ausführt, ist niemand ein so fühlloser Barbar, dass ihm »bei einem zuckenden wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden Vieh, wenn seine ganze Maschine leidet, dieses Ach nicht zu Herzen dringe […] Der Todeston tönt – Das ist das Band dieser Natursprache.«79 Aus diesem Grunde auch sind »überall […] die Euro75

Herder, Über den Ursprung der Sprache, in: Werke, Bd. I, S. 697. Ebd. 77 Ebd., S. 705. 78 Herder, Erstes Kritisches Wäldchen, S. 101. 79 Herder, Über den Ursprung der Sprache, S. 707. 76



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

päer, trotz ihrer Bildung und Missbildung ! Von den rohen Klagetönen der Wilden heftig gerührt worden« und bewahren diese Wirkung bei »Kindern, und dem Volke der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten […]«80. Human aber werden wir erst durch den Willen, diese Verbindung und Gleichheit mit dem leidenden Gegenüber anzuerkennen, uns zu ihm »herunterzubeugen« und in ihm die eigene »Tierheit«, Bedürftigkeit und Sterblichkeit anzuerkennen, seine Fremdheit als Erhabenheit zu betrachten und aus ihr »Energie« und Kraft zu schöpfen. Das eigentlich ästhetische Vergnügen besteht in einer solchen dynamischen Erhebung, die mit einem Missvergnügen (dem Schrei) beginnt. Diese Erhebung kann aber nur dann statthaben, wenn das Publikum in die Lage versetzt wird, Philoktets Charakter zu lesen und sich in seine Welt »einzufühlen«, wie Herder es später in Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit formulieren soll. Dazu leistet Sophokles eine Hilfestellung, indem er dem Publikum im ersten Akt die Lebensumstände und die Welt des Philoktet vorstellt: über die unwirtliche Behausung einerseits und die griechische Heldenwelt der Vergangenheit in Person des Neoptolemos und Odysseus andererseits. Durch dieses dramatische Verfahren versetzt er seinen Zuschauer in die Position, Philoktet als den Menschen und Griechen wahrzunehmen, der er ist bzw. war und wieder werden soll. Wie Lessing nimmt auch Herder an, dass »in dem Charakter eben dessen, den er schreien lässt, eine nähere Bestimmung dazu liegen […], dass eben dieser schreit und kein anderer«.81 Er übernimmt außerdem Winckelmanns und Lessings Deutung des Philoktets als Mensch und Grieche. Philoktet ist auch in seinen Augen je menschlicher und bewegender, desto griechischer er ist ; was bedeutet, dass er außerdem, wie schon von Lessing angemerkt, gewisse »wilde« und griechische Züge mit den homerischen Helden teilt. Aber zugleich ist er auch ein ganz individueller Charakter: eine »eigene Menschenseele, die sich in keinem anderen äußert« und dem »das Prädikat des Schreiens« nicht als unveränderliche Eigenschaften anhafte.82 Ganz so wie andere Völker, von denen man nicht annehmen kann, dass sie den Griechen unterlegen seien, ihre Menschlichkeit auf andere Art ausdrücken. So gliedert Herder lange vor der Ausarbeitung seiner Kulturanthropologie die Betrachtung einer Vielzahl von anderen Völkern und Mitgliedern des gleichen, umfassenden Menschengeschlechts in seinen Kommentar des Phi80

Ebd., S. 707. Herder, Erstes Kritisches Wäldchen, S. 75. 82 Ebd. 81

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loktet im Ersten Kritischen Wäldchen von 1769 mit ein. Den Griechen kommt hier keine besondere Stellung zu. Außer den homerischen Helden wohnt auch den Trojanern, den nordischen Völkern, den Eskimos das gleiche »menschliches Gefühl« inne83, wenn sie es auch nicht alle durch ihre Tränen zeigen, ja: Eine einzige Träne eines Eskimos würde »den Helden, sein ganzes Geschlecht, und seinen Freund und sein Vaterland entehren«.84 Damit kann aber das Schreien selbst gar nicht »Hauptton« oder Hauptidee des Stückes sein. Auch in diesem zentralen Punkt widersetzt sich Herder im Ersten kritischen Wäldchen ausdrücklich Lessings Deutung. Lessing wolle, »dass Sophokles Philoktet nicht bloß ängstlich und beklemmt seufze, sondern klage, schreie, mit wilden Verwünschungen das öde Eiland schrecklich anfülle […]«. Eigentlich aber habe Winckelmann Recht. Philoktet schreit nicht oder schreit nicht immer. Nur in der Erzählung seines Feindes Ulysses schreit er.85 Auf der Bühne hingegen gibt er seinem Leiden verhalten Ausdruck. Der Philoktet Sophokles mag entscheiden – wie leidet dieser ? Es ist sonderbar, dass der Eindruck, den dieses Stück bei mir von lange her zurückgelassen, derselbe ist, den W. [Winckelmann] will: nämlich der Eindruck eines Helden, der mitten im Schmerz seinen Schmerz bekämpft, ihn mit hohlem Seufzen zurückhält, so lange, als er kann, und endlich, da ihn das Ach ! Das entsetzliche Weh ! übermannt, noch immer nur einzelne, nur verstohlne Töne des Jammers ausstößt, und das übrige in seine große Seele verbirgt. […]86

Der Ursprung des ästhetischen Vergnügens liegt stattdessen in Sophokles’ kunstvoller Verteilung dieser Ausdrücke von Schmerz: »wie hat er den Ton der Angst abgewogen ? Wie sorgfältig auf ihn bereitet ! wie lange unterdrückt ! wie oft unterbrochen ! wie sehr durchgängig gemildert !«87 Herder vergleicht das Stück deshalb auch mit einem »Gemälde des Schmerzes […] durch alle seine Grade vom stummen bis zum betäubenden Schmerze, der sich selbst gleichsam ertötet aber doch das Gemälde des zurückgehaltenen und nicht ausgelassenen Schmerzes«, vom Ruhelied des Chores unterbrochen, der die Seele mit »Zwischentönen des Schmerzes« erfülle«88 und mit einem Sterbegesang, einer Elegie. Diese ganz neue musikalische Deutung setzt Herder einige Jahre 83

Ebd., S. 82. Ebd., S. 81. 85 Ebd., S. 72. 86 Erstes Kritisches Wäldchen, S. 69. 87 Ebd., S. 72. 88 Ebd. 84



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

später praktisch um, indem er einen eigenen elegischen P­ hiloktetes schreibt. Sein Klagelied setzt sich aus mehreren »Scenen mit Gesang« zusammen. Es beginnt mit einem Gesang des Neoptolem, der hier mit der eigenen Rolle als dramatische Figur auch noch die des Chores übernimmt und den Blick des Publikums auf die elenden Lebensumstände des »hohen Philoktetes« leitet. Philoktetes. Scenen mit Gesang. 1774. Neoptolem: Und hier in dieser grausen Wüste ruht Der hohe Philoktetes So lange schon ! – Dem einst, dem Ein’gen Sterblichen, in Octas Flammen, Herkules Machtpfeile wurden ! sieh, er liegt, und seine Pfeile ruhen ! Kaum fristen sie dem Elenden, Verlassenen in dieser Wüstenei Sein krankes Jammerleben ! Sieh die nackte Höle ! da Sein Bette, wildes Laub ! Ein König ! – Götter, hart O hart verkauft ihr eure Gaben ! – Sieh […]89

Aber auch das Original scheint in seinen Augen bereits eine Elegie zu sein, die Herder nicht als eine Gattung im strengen Sinne, sondern als ein Gebiet und Thema, das »Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betrübnis« beschreibt: »Elegie, griechisch, sei mir hier die klagende Dichtkunst […] sie mögen sich finden wo sie wollen, in Epopee und Ode, in Trauerspiel oder Idylle, denn jeder dieser Gattungen kann elegisch werden.«90 Die Elegie beanspruche »ein eigenes Gebiet in der menschlichen Seele, nämlich die Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betrübnis.«91 Das Elegische entsteht aus einer musikalischen, harmonischen und dynamischen Verteilung des Schmerzes, die Herder in seiner Analyse im Ersten Kritischen Wäldchen genauer beschreibt. Wie schon Lessing interessiert er sich besonders für die Szene am Anfang des dritten Aufzuges.

89

Herder, Philoktetes. Szenen mit Gesang, S. 69. Erstes Kritisches Wäldchen, S. 80. 91 Ebd. 90

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Mit Anfang des dritten Aufzuges überraschet ihn der Schmerz ; aber mit brüllendem Geschrei ? Nein: mit einem plötzlichen Stillschweigen, mit einer stummen Bestürzung, und da diese sich endlich lösen, mit einem hohlen verzogenen ᾶ ᾶ ᾶ ᾶ, das sich auch kaum vom Neoptolem will lösen lassen.92

Herder nennt diese Szene eine »Szene des stummen Schmerzes« ; dem bekümmerten, dem unruhigen, dem fragenden Neoptolem stehe ein Philoktet gegenüber, »der […] nicht brüllet und tobet, dessen »Ächzen und Seufzen«, »gekrümmter Fuß, sein verzogenes Gesicht, seine vom Seufzer erhobene Brust, die vom Ächzen hohle Seite, sein halbes Ach« das Publikum rührt. Und um den Ausdruck gerade nicht zu übertreiben, lasse er Philoktet vor Schmerz rasend werden, »schwärmen, ächzen, bitten, zürnen, atemlos zu sich kommen und - - - einschlafen.« Genau in der Vermeidung des Schreis bestehe hier das Stille, Prägnante, »das höchste am Ausdrucke, den vielleicht je ein tragisches Stück gefodert, und nur ein griechischer Schauspieler erreichen konnte«93: »ein langer, ganzer, vollendeter, Akt, der meine Seele füllet.«94 Auf dieser neuen ästhetisch-anthropologischen Grundlage formuliert Herder im Vierten Kritischen Wäldchen95 und später in der Plastik96 Lessings Grundsätze neu. Er unterscheidet hier zwischen drei Sinnen des Schönen: dem »Sinn des Gesichts, der Teile als außer sich neben einander« oder Flächen begreift ; dem Sinn des Gehörs, der Töne oder »Teile in sich und in der Folge nach einander« begreift, und dem »Gefühl, das »Teile auf einander und nebeneinander« oder Körper begreift.97 Philoktet, »in den ärgsten Zuckungen seiner Krankheit«, würde als ein Gegenstand des Gefühls Abscheu erregt haben. Wenn auch hinkend, missförmig und menschlich, war Philoktet ein Held, »der auch also gesehen zu werden verdiente«.98 Um in einem höheren, plastischen Sinne zu rühren, muss seine Darstellung Elemente aus allen Schönen Künsten, nämlich aus Malerei, Skulptur, Dichtung und Musik aufnehmen.

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Ebd., S. 69. Ebd., S. 71. 94 Ebd., S. 73. 95 Herder, Viertes Kritisches Wäldchen, 1769, in: Werke, Bd. 2, S. 307. 96 Herder, Plastik: Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778), in: Werke, Bd. 4, insbesondere S. 257 ff. und S. 272 ff. (über Philoktet). 97 Herder, Viertes Kritisches Wäldchen, S. 307. 98 Plastik, S. 272. 93



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Sein »Interesse«. Garve über ästhetische »Teilnehmung«

Garve widmet Lessings Laokoon seinerseits eine Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1769.99 Diese enthält schon zentrale Begrifflichkeiten seiner eigenen Ästhetik, wie er sie in einigen späteren Essays und insbesondere in dem zweiteiligen Essay Einige Gedanken über das Interessierende von 1771/1772100 darlegen soll. Es zeigt sich hier, dass auch seine Ästhetik aus der Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen über dieses Stück erwachsen ist. Auf den ersten Blick zeugt Garves lange und begeisterte Rezension von großen Affinitäten mit dem Autor des Laokoon und wird vom letzteren auch in einem Brief an Nicolai lobend erwähnt: »mit der Recension seines Laocoon in dem letzten Stücke von Nicolais Bibliothek, sei dieser ›sehr wohl zufrieden‹.«101 Garve seinerseits schätzt Lessings »freyen, ungehinderten, zügellosen Lauf der Meditation«102 und seine Methode, durch die Darstellung des denkenden Kopfes während der Arbeit des Nachdenkens selbst und durch die Geschichte seiner Meditation, ohne vorgestecktes Ziel, den Leser zum Mitund Selbstdenken zu animieren.103 Garve geht der Reihe der Lessing’schen Ideen »unverwandt« nach104 und nimmt alle Fäden auf: die Frage nach den Gesetzen der Imagination, nach der Erregung eines allgemeinen »sympathetischen Gefühle des Schmerzes« und nach der geeigneten dramatischen Situation, die es erlaubt, unmittelbar Bewegungen in dem »Gemüthe der Zuschauer« zu erregen. »Philoctets Schmerz ist nicht eine Krankheit, sondern eine Wunde. Darüber hat die Imagination schon mehr Gewalt, es sich lebhaft 99 Garve, Rezension zu Laokoon, oder, über die Gränzen der Mahlerey und der Poesie mit beyläuftigen Erläuterungen ; verschiedene in Punkte der Alten Kunstgeschichte, von Gotthold Ephraim Lessing. Erster Theil. Berlin bey Voß, 1766, Allgemeine deutsche Bibliothek, 9. Bd. 1. St. 1769, S. 331–358, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1217–1263. 100 Garve, Einige Gedanken über das Interessierende [1771/72], in: 12. und 13. Bd. der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Abdruck in Garve, Sammlung einiger Abhandlungen aus der neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Teil 1, Leipzig, 1779, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 210–371. 101 Lessing an Nicolai, Brief vom 26. Mai 1769, in: Lessing, Werke, II, 1, S. 608. 102 Garve, Rezension zu Laokoon, S. 331. 103 Vgl. außer dem Beginn auch den Endparagraphen der Rezension, S. 358: »Wenn es die Ehre und der eigentliche Endzweck eines philosophischen Werks ist (ein solches ist Laokoon und von der Seite ist sein Werth am größten) die träge Vernunft seiner Leser aufzuwecken und ihre Kraft zu denken in eine Bewegung zu bringen, die auch noch alsdann eine Zeitlang fortdauret, wenn der unmittelbare Stoß aufgehört hat, so denke ich, ich habe den Verfasser auf so eine Art gelobt, wie er von allen seinen Lesern gelobt zu seyn wünscht.« 104 Ebd., S. 329.

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vorzustellen.«105 In diesem Zusammenhang kommt er auch auf Winckelmann und zumindest implizit auf Herders Kritische Wäldchen zu sprechen. »Noch vor kurzem hat ein Mann von Tiefsinn und Gelehrsamkeit über dieses Werk ein neues geschrieben.«106 Dennoch aber regt gerade Lessings offenes Raisonnement mit seinen Widersprüchen und »Krümmungen« in Garve die Idee an, »den Faden abzukürzen und grader zu leiten«.107 Im Zuge dieser Begradigung und Berichtigung von Lessings Abweichungen und Exkursen, welche auf der »Uebersehung des ganzen Weges« und dem »Zusammenhang des Ganzen« beruhen108, setzt Garve ein eigenes ästhetisches Programm auf, das Humanität in Interesse und Partizipation gründet und, obzwar ästhetisch, dem Geiste von Ciceros Humaniora in gewisser Hinsicht am meisten entspricht. Zwar bleibt die Perspektive auf Form und Würde als Grundlage einer affektiven oder affektiv-vernünftigen Verbindung zwischen Menschen bestehen ; diese Wahrnehmung des Menschen, seiner Eigenschaften und Handlung wird überhaupt dann erst wichtig, wenn wir über die Perspektive ihres Nutzens für unsere Zwecke hinausgehen.109 Diese nun ist auch für die Kunst relevant. Aber die Absicht des Künstlers liegt nicht einfach in der Erzeugung ähnlicher Empfindungen (von Schmerz und Mitleid), sondern darin, »Hochachtung und Liebe für seinen Helden«110 einzuflößen. Diese Wirkung erreicht er im Grunde dann, wenn er an das »verständige Anschauen« und höhere Interesse des Betrachters und selbsttätigen Bürgers appelliert. Von dieser Perspektive aus muss sich der Schwerpunkt von der Darstellung von Form oder Gestalt auf die Darstellung von Handlung verlagern. Je genauer ein Mensch mit unserem wirklichen Interesse verbunden ist, je mehr er zu unserem Besten oder Vergnügen handeln kann ; je mehr der Genuss, den wir von ihm haben, aus seiner eignen freywilligen Tätigkeit entsteht ; umso weniger sehen wir auf die bloße Form. Je stillstehender und unthätiger hingegen er für uns ist ; je weniger er uns durch seine Handlungen die Quelle von Vergnügen werden kann ; je augenblicklicher endlich der Genuß ist ; desto nothwendiger ist die Schönheit der Gestalt.111

105

Ebd. Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 350. 110 Ebd., S. 336. 111 Ebd., S. 351. 106



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

Dieses Interesse am tragischen Helden macht letztendlich die Schönheit der Gestalt entbehrlich, bzw. beide fallen zusammen:112 Form oder Gestalt und Handlung verschmelzen in Bezug auf die Personen des Dichters in eins, denn diese »werden in unserm Augen immer das seyn, was sie thun.« Ihre Schönheit und ihre Größe besteht in jener moralischen Größe und Kraft, jener »freywilligen Tätigkeit« und Denkart, die nur durch die Begebenheit, in die sie verflochten ist, und in ihrem Widerstand gegen die Hindernisse zum Ausdruck kommen kann. Von dieser neuen Perspektive aus muss das Prinzip der Schönheit zugunsten des Ausdrucks relativiert werden und ihr muss – um dem Realismus der Dichtung oder ihrem Vermögen, dem »würklichen Leben«, nahe zu kommen, uns in eine menschliche Welt zu versetzen und die Illusion menschlichen Umgangs zu erzeugen – eine neue Bedeutung eingeräumt werden. Diese neue Perspektive bringt neue Begrifflichkeiten mit sich. Garve hebt den Charakter113 der Personen und darzustellenden Götter und Göttinnen und ihre charakteristischen Kennzeichen hervor und spricht ab und an statt von »Sympathie« auch von »Interesse«114. Diese letztere Vokabel scheint in der Tat die in der Laokoon-Rezension skizzierte Hauptabsicht der Kunst am besten zu beschreiben. Sie findet sich auch in seiner Ferguson-Übersetzung aus dem gleichen Zeitraum. Hier beklagt Garve das Fehlen eines deutschen Äquivalents zu »Interest« und ringt mit der Übersetzung dieses Wortes ins Deutsche:115 »Wir haben kein Wort für Intereße. Es ist nicht Vortheil, denn dies zeigt bloß den Gegenstand an, der Intereße erregt ; nicht Eigennutz, denn dieß ist der Hang der Seele, immer durch sein Intereße regiert zu werden.« Eigentlich ist »Interesse« – der lateinischen Wurzel entsprechend – ein Inter-esse: das Vermögen, den Platz in der Welt einzunehmen, der es erlaubt, den Nutzen der Dinge zu der Vervollkommnung der Menschheit richtig zu beurteilen. »Interesse« ist die Empfindung von der eigenen Partizipation und Rolle im Weltlauf oder »die Theilnehmung an jeder Sache, insofern sie unmittelbar auf unsre Person, und auf diese alleine Einfluss hat«. Interesse setzt zunächst ein »Desinteresse« oder die Abstraktion von »Vortheil« und Nutzen im engen Sinne voraus ; sie ist aber dennoch eine lustvolle Empfindung, insofern sie ästhetisch ist, die Kraft und Tätigkeit des eigenen Geistes anregt und Einsicht in Verbindungen dessen, was zu unserer Tätigkeit und Vollkommenheit beitragen kann, gewährt. 112

Ebd., S. 351 f. Ebd., S. 338. 114 Ebd., S. 351. 115 Garve, Ferguson, S. 332. 113

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Vor Kant · Kapitel 4

Jede Sache, die uns rühren soll, muss mit uns in Verbindung stehen, aber nicht jede unmittelbar ; viele erst vermittelst der menschlichen Gesellschaft, auf welche sie, und die hinwiederum auf uns einen Einfluss hat. Jede Sache, die wir begehren sollen, muss uns nützlich sein ; aber nicht jede, insofern sie auf uns wirkt, und unseren Zustand angenehmer macht, sondern viele auch, insofern sie auf sie wirken, und unsre Natur dadurch vollkommener macht.116

Das Prinzip Interesse rückt in den Folgejahren in den Mittelpunkt von Garves Überlegungen. Ihm gilt insbesondere der an die Rezension anknüpfende Essay Einige Gedanken über das Interessierende (1771/1772).117 Hier entwickelt er diese Gedanken in größerer Ausführlichkeit. Interesse beruht auf dem Reichtum der Vorstellung, der uns viel zu denken gibt, aber auch auf der Wissbegierde und den Vorbegriffen des Lesers, weshalb uns Gemälde von Menschen und solchen Menschen am stärksten interessieren, die am meisten unseresgleichen sind. Besonders interessant sind dabei jene dichterischen Vorstellungen einer Sache, »durch welche unsere eigenen dunklen Ideen von derselben getreu wiedererweckt, aber zugleich aufgeklärt oder erweitert werden.«118 Eine solche Aufklärung besteht, wie Garve im ersten Teil ausführt, in der Übersetzung der durch die Darstellung eines besonderen Falles empfundenen Wahrheit in eine allgemeine bzw. die Rückübersetzung der abstrakten allgemeinen Wahrheit in eine anschaulichere, besondere. Sie ist eine Schulung der Aufmerksamkeit, die mit der Erweiterung der eigenen Begriffe Hand in Hand geht. Wie Garve im zweiten Teil aufzeigt, erzeugt diese Aufklärung zugleich ein gewisses Selbstgefühl oder eine lebhafte Empfindung des eigenen Selbst. Der Zustand eines Menschen, der von etwas interessiert wird, ist ein vollkommeneres Wachen, ein höherer Grad von Leben. Er wird also darinnen bestehen, dass wir uns selbst lebhafter empfinden, dass wir mehr Begierden und Erwartungen haben, als gewöhnlich.119

Aus dieser Sicht nun kann eine Darstellung dann Interesse erwecken, weil sie »zu unsrer eignen Vollkommenheit etwas beyträgt« oder aber »weil sie 116 Ebd., S. 333. Vgl. auch Doris Bachmann-Medicks Analyse von Garves Interessebegriff in: Die ästhetische Ordnung des Handelns: Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, Metzler, 1989, S. 164–243, vor allem S. 189: »Das Interessierende bei Garve basiert […] auf ›Vergnügen‹ im Sinne einer Handlungsneigung, die jedoch von Absichtlichkeit abgekoppelt und damit gleichsam ›interesselos‹ ist.« 117 Garve, Einige Gedanken über das Interessierende. Teil I und 2, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 12 und 13, Nachdruck in: ders., Gesammelte Werke, Bd. V, S. 210–260 und S. 261–371. 118 Über das Interessierende, I, S. 245. 119 Garve, Über das Interessierende, II, S. 262.



Philoktet oder: über die Humanität der Literatur

etwas in unsern Umständen verbessert«, mag auch das Interesse an den Begebenheiten, da es immer auf etwas Künftiges gerichtet ist, immer Dunkelheit enthalten. Sie erzeugt außerdem eine dreifache Form von Sympathie, nämlich eine erste, die »bloß im Körper ihren Grund hat, eine zweite, die in den Vorstellungen der Seele ihren Grund hat, und eine dritte, die in den moralischen Empfindungen ihren Grund hat.«120 Wenn wir uns »über ein augenscheinliches Unrecht erzürnen« und wenn wir am Leiden mehr Antheil nehmen als am Vergnügen, so nicht alleine aufgrund einer uns konstitutiven Rezeptivität, sondern auch aufgrund einer Aktivität und Selbsttätigkeit, weil nämlich »die Noth andrer unseren Beystand und also unsre Thätigkeit auffordert.«121 Dieses Programm der Partizipation knüpft zwar begrifflich direkt an die aufklärerische Ästhetik und Moral-sense-Tradition an. Nur dient die Kunst hier nicht der Überwindung der Schranken der eigenen Vorstellungskraft, der Einfühlung in die Humanität der anderen und der Knüpfung affektiver Bande. Die Wahrnehmung der Würde der Person des Dichters ist vielmehr eine Frage der verständigen Anschauung. In Garves Ästhetik der Partizipation geht es weniger um die Schulung des eigenen Mitgefühls als um die Schulung des eigenen aus der Einsicht in die Aufgabe und Stellung in der Welt fließenden Selbstgefühls, aus dem alleine ein proportioniertes Mitgefühl fließen kann. Mit diesem Gedanken knüpft Garve direkter als Lessing an Ciceros Programm der Humaniora an und bereichert es um jene grundlegende ästhetische Dimension, die ihm fehlte.

Schluss

Die Bedeutung, die die deutsche Ästhetik dem Philoktet zuspricht, widerlegt – zumindest im Blicke auf die hier besprochenen Autoren – die geläufige Ansicht, diese Ästhetik bleibe abstrakt und befasse sich nicht mit den Werken selbst. Diese literarische Quelle kann im Gegenteil geradezu als eine Urzelle dieser Ästhetik betrachtet werden. Aus der Vielfalt von Deutungen dieser Tragödie erwächst eine Vielfalt von ästhetischen Ansätzen. Lessings Laokoon und Herders Kommentar im Ersten kritischen Wäldchen reiben sich am Werk selbst und entwickeln aus seiner Analyse heraus in den Folgejahren ihren besonderen ästhetischen Ansatz. Aber diese Ästhetik entspricht auf einer tieferen Ebene jeweils einem eigenen humanistischen Programm. Es gilt, über die Kunst den Menschen und 120 121

Ebd., S. 268. Ebd., S. 272.

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Vor Kant · Kapitel 4

seine Humanität zu bilden. Diese Forderung ist dem 18. Jahrhundert eigentümlich und fordert vom Menschen die Einfühlung in eine Vielfalt von menschlichen Möglichkeiten und Situationen, einschließlich solcher, die er zunächst als mit den eigenen moralischen Idealen von Selbstbeherrschung unvereinbar empfindet: Aber in dem Maße, in dem die Darstellung solcher Situationen den Menschen erschüttern, können sie auch als Voraussetzung für die Knüpfung menschlicher Bande gesehen werden. Die Erhabenheit und Würde des Phi­loktet spricht den Zuschauer deshalb an, weil sie in den Schranken einer gewissen Schönheit und Sittlichkeit verbleibt, aber diese eine fremde und erhabene ist, zu der er sich erheben muss, indem er sich in Phi­lokets Charakter hineinliest. Diese Position vertreten Winckelmann, Mendelssohn, Lessing, Herder und Garve vereint gegen Cicero, der Philoktets »Geächze« als mit den Pflichten gegen sich selbst unvereinbar betrachtet. Herder treibt diesen Gedanken von Humanität so weit, dass er eigentlich die Ästhetik sprengt und das, was bislang unter den Humaniora begriffen wurde, hin zu neuen Disziplinen und insbesondere zu dem, was Herder eine Anthropologie und Geschichte der Menschheit nennt, erweitert. Eine solche Schulung der Menschheit ist ein Durchwandern der Zeiten und Räume: eine Geschichte der Menschheit in ihren Stufen als Bedingung der eigenen Menschwerdung. In Garves Ästhetik zeichnet sich zugleich eine Rückkehr zu dem alten Bildungsprogramm Ciceros und dessen Humanität ab. In seinen Augen dient die Kunst nicht so sehr der Ausbildung von Mitgefühl als vielmehr der eines Selbstgefühls. Dieser neue Gedanke deutet auf ein alternatives ästhetisches Programm, das von Kant und Schiller aufgenommen wird.

TEIL II K ANT ÜBER WÜRDE, WELTEN UND WELTBÜRGER

Kapitel 5 Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen Kant positioniert sich schon früh in seiner philosophischen Karriere in der Debatte um die Bestimmung des Menschen, und er unterhält einen intensiven Dialog mit allen Philosophen, von denen im ersten Teil die Rede war: Mendelssohn, Herder und Garve. Die Etappen dieser Auseinandersetzung lassen sich auch biographisch nachzeichnen. Der lebenslange Dialog mit Mendelssohn beginnt mit einem Brief aus dem Jahre 1770 und setzt sich in den Schriften und Aufsätzen bis zu Mendelssohns Tod und sogar über ihn hinaus fort. Auch mit Herder und Garve pflegt Kant einen engen Kontakt. Seinem Schüler Herder widmet er 1784 eine lange Rezension. Der Dialog mit Garve hält ein ganzes Leben an. Sowohl Garves Nachwort zu Ferguson von 1772 als auch dessen Cicerokommentar von 1784 scheinen Kant so nachhaltig zu prägen, dass er seine eigene Grundlegung als einen »Anti-Garve« entwirft. Es kann somit kein Zweifel daran bestehen, dass ihn Mendelssohns, Garves und Herders Perspektiven interessieren und bereichern. Deshalb auch scheint Kants »Unzufriedenheit« (Reinhold) mit seinen Zeitgenossen und insbesondere Herder »sonderbar« und disproportioniert. Mehr als in der Sache selbst scheint sie in der eigenen Unfähigkeit begründet zu sein, seine Zeitgenossen im strikten Sinne zu überzeugen oder zu widerlegen. Seine Stellungnahmen und Argumentationen scheinen inkonsistent oder zumindest unvollständig: als ob er und seine Kontrahenten im Grunde aneinander vorbeiredeten, weil sie innerhalb des gleichen Wolffianismus und Kosmopolitismus von verschiedenen Grundvoraussetzungen ausgehen – die im Falle Kants zu einem alternativen (sokratischen und stoischen) Kosmopolitismus führten, der dem Würdebegriff eine neue Bedeutung einräumt und der in einer neuen Reflexion über die Dimensionen und den Status der Metapher selbst mündet. Auch er möchte »das schwere Geschäft der Selbsterkenntnis«1 auf sich nehmen, um sich auf den »angewiesenen Platz«2 oder auf die eigentliche »Bestimmung« der vernünftigen Menschheit zu besinnen. Aber wäh1 Vgl.

Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, AA III, B. 517, AA IV, S. 9. Vgl. auch Träume eines Geistersehers, AA II, S. 368: »Vorher wandelten wir wie Demokrit im leeren Raume, wohin uns die Schmetterlingsflügel der Metaphysik gehoben hatten, und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Jetzt, da die stiptische Kraft der Selbsterkenntniß die seidenen Schwingen zusammengezogen hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes ; glücklich ! wenn wir denselben als unseren angewiesenen Platz [meine Hervorhebung] betrachten, 2



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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 5

rend er den Gedanken der Würde als Platz, Standort, unabgeschlossene Aufgabe, Titel, Charakter und allgemeine Ehre aufnimmt, bricht er mit dem Gedanken von Würde als Gottebenbildlichkeit oder als einem Rang in einer ontologischen Ständegesellschaft. Betrachten wir Kants Stellungnahmen zu Mendelssohn, Herder und Garve kurz separat, nicht, um die eigentlichen Streitpunkte schon ganz zu verstehen, aber doch um zumindest zu verstehen, wann und inwiefern der Dialog jeweils scheitert.

Kant und der Platonismus Mendelssohns

Offenbar mit Spaldings Schriften vertraut3, verwendet Kant selbst den Begriff »Bestimmung« in vielfältigen und neuen moralischen, anthropologischen und geschichtsphilosophischen Kontexten. Reinhard Brandt zufolge gibt es zwar »keine Kantische Schrift mit dem Titel »Die Bestimmung des Menschen«, und doch lässt sich gut dokumentieren, dass Kant selbst dieses Thema häufig als das eigentliche Zentrum seiner Philosophie bezeichnet […].«4 So zielt beispielsweise in Kants Augen die praktische Vernunft und die mit ihr verbundene Moraltheologie eigentlich nur darauf, »unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen«.5 Kant führt dabei ganz wie Mendelssohn die Idee der Würde und Bestimmung auf ein philosophisches und »platonisches« Grundmuster zurück. Er teilt dessen Gedanken, dass die Bestimmung des Menschen bzw., wie Kant präzisiert, der Menschheit in der ästhetischen, von einem menschlichen Standort aus anzustellenden Betrachtung der zweckmäßigen Ordnung der Welt und zugleich auch in einer Progression und unabgeschlossenen Aufgabe liegt. Ausgangspunkt ist dabei auch für Kant der Versuch, einen bestimmten »seelenlosen« Epikureismus, der die Ordnung der Natur aus der Materie herzuleiten sucht, zu widerlegen und die These von der Entwicklung der blinden Mechanik der Naturkräfte aus dem Chaos mit der einer göttlichen Ordnung und Regierung zu vereinbaren. Auffällig ist dabei, dass Kant fast aus welchem wir niemals ungestraft hinausgehen, und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, solange wir uns am Nützlichen halten.« 3 Vgl. Anthropologie Vorlesung Collins, Winter 1772/73, AA Bd. XXV. 1, S. 9. 4 Brandt, Die Bestimmung des Menschen, S. 20. Zu Kants Position in der Bestimmungsdebatte vgl. auch Manfred Kühn, »Reason as a species characteristic«, in: Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim: a Critical Guide, hg. v. Amélie Rorty, James Schmidt, Cambridge, Cambridge Univ. Press, 2009, S. 68–93. 5 Kritik der reinen Vernunft, AA Bd. III, B 847.



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

der bessere, orthodoxere Wolffianer zu sein scheint. Denn schon von 1755 an teilt Kant bestimmte kosmopolitische und ästhetische Perspektiven mit Wolff, und er stellt die Frage nach der Bestimmung des Menschen von einer höheren und naturphilosophischen Warte aus, nämlich von der Vereinbarkeit von Mechanik und Teleologie, die schon im Mittelpunkt von Wolffs Denken stand.6 Während Kant dem Naturphilosophen Wolff in den 1750er Jahren nahe steht, so steht er dem Theologen Wolff spätestens ab 1763 kritisch gegenüber. Jene theologische Kritik, die die Bestimmungsphilosophen Wolff gegenüber äußerten, teilt er bzw. verschärft er noch. Er geht in der Abwertung der traditionellen Gottesbeweise einen Schritt weiter als sie. Zwar rühmt er von 1763 an gewisse Vorzüge des physikotheologischen Beweises, insbesondere dessen Klarheit und Lebhaftigkeit. Dies kann als Zeichen gewertet werden, dass Kant im Grunde das existentielle, populäre und lebenspraktische Anliegen Mendelssohns und Spaldings teilt. Aber während letztere im physikotheologischen Beweis die Grundlage für das Gelingen der restlichen Beweise sehen, führt Kant den wolffianischen und kosmologischen Beweis auf den ontologischen zurück und stellt die Relevanz aller theologischen Demonstration radikaler in Frage. In Kants Augen zeugt das ganze demon­strative Unternehmen im Grunde von einem Missverständnis, da Überzeugung und Lebhaftigkeit der Erkenntnis in praktischer (und weltbürgerlicher) Hinsicht reiche. Kants Widerstand gegen Wolffs theologische Auslegung von Teleologie bleibt zeitlebens ein Movens seiner Philosophie. Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der komplizierten, tiefen und langen Debatte mit Mendelssohn. Diese reicht von den 1770er Jahren bis in die drei kritischen Schriften hinein und darüber hinaus.7 Kant bringt Mendelssohn eine hohe Wertschätzung entgegen, er betrachtet ihn als einen scharfsinnigen Philosophen, einen »hellen Kopf« und einen guten Menschen.8 Er unterhält mit Mendelssohn einen wichtigen Briefwechsel und legt ihm auch mehrere 6

Vgl. Kapitel 6. differenzierte Analyse der Etappen dieser Auseinandersetzung findet sich bei bei Reinier Munk, »What Is the Bond ? The Discussion of Mendelssohn and Kant 1785– 1787«, in: ders. (Hg.), Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, Studies in German Idealism, Bd. 13, Dordrecht, Springer, 2011, S. 183–202 ; vgl. neuerdings auch Paul Guyer, Reason and Experience in Mendelssohn and Kant, Oxford, Oxford University Press, 2020. 8 So schreibt Kant kurz nach Mendelssohns Besuch in Königsberg im Jahre 1777 an den gemeinsamen Freund Markus Herz: »Einen solchen Mann, von so sanfter Gemüthsart, guter Laune und hellem Kopf in Königsberg zum beständigen und inniglichem Umgang zu haben, würde dieienige Nahrung der Seele seyn, deren ich hier so gänzlich entbehren muss.« Brief an Markus Herz vom 20. August 1777, AA Bd. X, S. 211. Vgl. auch AA Bd. VIII, S. 309 und AA Bd. IX, S. 63. 7 Eine

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 5

Schriften, nämlich die Träume eines Geistersehers, seine Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis und die Kritik der reinen Vernunft zur Diskussion vor. Einem Brief aus dem Jahre 1783 zufolge zählt Kant Mendelssohn sogar mit Garve und Tetens zu den drei für ihn bedeutendsten Beiträgern zu der philosophischen Aufgabe, die er sich selbst in seiner Kritik stellt. Garve, Mendelssohn u. Tetens wären wohl die »einzige[n] Männer die […] [er] kenne, durch deren Mitwirkung diese Sache (die Aufgabe, wie synthetische Urteile a priori möglich seien) in eben nicht langer Zeit zu einem Ziele könte gebracht werden, dahin es Iarhunderte nicht haben bringen können«.9 Gleich an mehreren strategischen Stellen seines Werkes setzt Kant sich außerdem direkt mit Mendelssohn auseinander.10 Diese Passagen stehen manchmal im Widerspruch miteinander und bringen die grundlegende Ambivalenz zum Ausdruck, die Kants Verhältnis zu dem jüdischen Denker prägt11 und die zugleich sein eigenes Verhältnis zum Platonismus spiegelt. Kant sieht in Mendelssohn sowohl den guten Platoniker: den innovativen, methodischen und rationalistischen Philosophen und Mitstreiter im Kampf für Denkfreiheit und Aufklärung als auch den Mystiker und schlechten Platoniker, der durch seine Annahme von Anschauungen a priori als Urgrund aller Dinge zur »Schwärmerei die Fackel angesteckt« habe.12 Mendelssohn verfolge 9 Kant an Christian Garve, 1783, AA Bd. X, S. 205. Vgl. auch den Brief Kants an Christian Gottfried Schütz, Ende November, 1785. Briefwechsel AA Bd. X, S. 428 f. 10 Vgl. auch insbesondere in AA Bd. VIII: Was heißt, sich im Denken orientiren ? ; Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden ; Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis ; und in einem kritischen Licht: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. 11 Die für das kritische Projekt selbst zentrale Auseinandersetzung mit Mendelssohn beginnt erst seit kurzer Zeit das Interesse der Forschung zu wecken. Vgl. aber Alexander Altmann, »Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant«, in: ders., Die Trostvolle Aufklärung, S. 192–215 ; Cord-Friedrich Berghahn, Moses Mendelssohns ›Jerusalem‹, S. 273–300 ; Norbert Hinske, »Das stillschweigende Gespräch. Kant und Mendelssohn«, in: Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hg. v. Michael Albrecht, Eva J. Engel und Norbert Hinske, Tübingen, Niemeyer, 1994, S. 133–156 ; die Beiträge von Francesco Tomasoni, Corey Dyck, Reinier Munk, George di Giovanni in Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aesthetics, Studies in German Idealism, Bd. 13, hg. v. Reinier Munk, Dordrecht, Springer, 2011 ; Francesco Tomasoni, »Mendelssohn and Kant: a Singular Alliance in the Name of Reason«, in: History of European Ideas n° 30, 2004, S.273–86. Günter Zöller, »Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und bei Kant«, in: Kant und die Berliner Aufklärung, Bd. 4, 2001, S. 476–489 ; Paul Guyer, Reason and Experience in Mendelssohn and Kant. 12 Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796), AA Bd. VIII, S. 391.



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

nicht einlösbare demonstrative Ambitionen und verfalle dadurch selbst einer Schwärmerei bzw. einer Gefühlsphilosophie, die gerade im Widerspruch zu den eigenen rationalistischen und kosmopolitischen Ambitionen steht. Diese Schwärmerei scheint insbesondere in einem falschen Verständnis von der Würde und Bestimmung des Menschen ihren Ausdruck zu finden, die Mendelssohn mit platonischer Gottebenbildlichkeit gleichsetzt. Dieser falsch verstandene Platonismus geht mit einem falsch verstandenen Kosmopolitismus Hand in Hand. Schauen wir uns diese Kritikpunkte Kants einmal einzeln an. Um zunächst Kants positive Wertschätzung Mendelssohns zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf den kurz nach Mendelsohns Tod verfassten Aufsatz von 1786, Was heißt: sich im Denken orientiren ? 13, zu werfen. Hier erinnert sich Kant offensichtlich an all das, was ihn mit Mendelssohn verbindet, und vielleicht auch an die Wirkung, die vor langen Jahren von Mendelssohns Phaedon ausgegangen war. Klaus Reich zufolge hatte diese Lektüre in diesen Jahren eine »Umkippung« bewirkt, insofern Kant seinem eigenen Rationalismus und Platonismus nun eine klarere Gestalt gegeben hatte.14 Kant drückt hier seine Zustimmung mit einem Schlüsselgedanken Mendelssohns aus, dass nämlich Würde, als Bestimmung gefasst, durch den eigenen Standort als leibliches Wesen und ästhetischer Betrachter der Welt bedingt sei. Statt über die Ausklammerung des Weltbezugs lasse sich diese gerade über die ästhetische Betrachtung der Welt erfassen. Schon die gesunde Menschenvernunft und ein bestimmter Vernunftglauben reiche aus, um die eigene Bestimmung, – das Maß und die Richtung – wie Mendelssohn in seinem Aufsatz Ueber die Frage: was heißt aufklären ? schrieb, »nicht aus den Augen zu verlieren«15. Kant selbst vergleicht dieses Maß mit einem Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Streifereien orientiren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann.16

13 Vgl. auch Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (1768) und Kant über Mendelssohn in dem kurz nach Mendelssohns Tod verfassten Aufsatz Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfungen der Mendelssohn’schen Morgenstunden, AA Bd. VIII, S. 151 ff. 14 Vgl. Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen, Mohr, 1935, S. 17 f. 15 Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären ?, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 6.1, S. 116. 16 Kant, Was heißt: sich im Denken orientiren ?, AA Bd. VIII, S. 142.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 5

Ein ästhetisches Gefühl und Begreifen einer Zweckganzheit bietet dabei eine Orientierung in Zeit und Raum. Dabei stellt sich dem Geist die eigene Würde als unabgeschlossene Aufgabe und die eigene Tätigkeit als eine Teilhabe an einer außerweltlichen Denk- und Ordnungsinstanz, als Erhebung, Progression, Unsterblichkeit und Fortschritt ins Unendliche dar, ohne dass dieser Vorstellung ein Objekt in der Erfahrung entspräche.17 Gerade als Materie und Unform, als Ozeanisches erzeugt die Natur Form, obschon man über ein höheres Sein, eine zweite, ideale oder noumenale und höhere Welt eigentlich keine positiven Aussagen treffen kann. Im Prinzip teilt Kant auch Mendelssohns Annahme, dass diese erhabene Natur dem Geist den materiellen Anreiz zur Entfaltung der eigenen spekulativen Vermögen bietet ; dass Sinnlichkeit (Rezeptivität) und Vernunft zwei einander entgegengesetzte und zugleich komplementäre Erkenntnisvermögen sind, die sich gegenseitig herausfordern, weil es um der vollen Entfaltung der eigenen Anlagen willen des »Sporns« oder des Widerstandes bedarf. Wiederum in Bezug auf Mendelssohn argumentiert Kant, die Vernunft habe das Recht, als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf ; und folglich sich im Denken, im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raum des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren.18

Dieses legitime Vernunftbedürfnis nach Transzendenz besteht zum einen darin, etwas Übersinnliches als wenigstens tauglich zum Erfahrungsgebrauche unserer Vernunft zu denken ; zum anderen darin, den Begriff des Uneingeschränkten dem Begriffe alles Eingeschränkten, mithin aller anderen Dinge, zu Grunde zu legen, und selbst das Dasein eines solchen Urgrundes anzunehmen, »ohne welchem sie sich von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt, am wenigsten aber von der Zweckmäßigkeit und Ordnung […] gar keinen befriedigenden Grund angeben kann«.19 Kant schreibt außerdem der Vernunft einen analogen negativen, spekulativen Wert zu, der, einer wolffianischen und dogmatischen Methode gemäß, darin bestehe, den höchsten Begriff von Widersprüchen zu reinigen. Wenn Mendelssohns Beweise zwar keinen strikt demonstrativen Wert besäßen, so seien sie deshalb dennoch »keinesweges unnütz«.20 Kant bekennt sich zu diesen Affinitäten erst nach dem Tode Mendelssohns, der ihn im Vorjahr um seinen philosophischen Beistand gegen die »Schwär17

Vgl. wiederum Was heißt: sich im Denken orientiren ?, AA Bd. VIII, S. 139 f. Ebd., S. 137. 19 Ebd., S. 138. 20 Ebd., S. 137. 18



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

mer der Philosophie« im Pantheismusstreit gebeten hatte. Erstmals kehrt Kant nun die gemeinsame Überzeugung an einen (platonischen) Vernunftglauben unmissverständlich hervor. Ein solcher Vernunftglauben, der sich des Gottesbegriffes lediglich als Richtschnur bediente, müsse aller Anschauung vorhergehen, wolle man nicht »aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte« öffnen.21 In der Kritik der reinen Vernunft werden diese Affinitäten kaum erwähnt. Dort nimmt Kant nur in den Paralogismen ausdrücklich und kritisch zu Mendelssohn Stellung. Dennoch zeigt sich beim näheren Hinschauen, dass neben den negativen auch die positiven Perspektiven präsent sind. Ohne sich noch ausdrücklich auf Mendelssohn zu beziehen, entwirft Kant, der seinerseits wie Mendelssohn auch Platon »besser verstehen« möchte, »als er sich selbst verstand«22, schon den gleichen durch ein Bedürfnis der Vernunft und Vernunftglauben charakterisierten Platonismus. Diesen »guten« Platonismus führt Kant in den Abschnitten über die Ideen überhaupt, über das Ideal der Menschheit und in den Paralogismen in der Kritik der reinen Vernunft aus. Kant hebt dort hervor, dass auch Platon unter Ideen jene »Urbilder der Dinge selbst« verstand, die aus der höchsten Vernunft »ausflossen« und von da »der menschlichen zuteil« geworden seien.23 Kant bezieht sich hier direkt auf die Emanations- oder Progressionstheorie, die im Mittelpunkt von Mendelssohns Phaedon steht. Da unsere Vernunft ein höheres »Bedürfnis« fühle als bloß »Erscheinungen« als Erfahrung lesen zu können, schwinge sie sich natürlicher Weise zu höheren Ideen auf ; diese Ideen befand Plato »vorzüglich in allem, was praktisch ist«.24 Die Tendenz zur Setzung einer Ordnung der Welt entspricht dabei im Grunde nicht so sehr dem eher geringen spekulativen als vielmehr dem bedeutenderen praktischen und populären Interesse der Vernunft, dem menschlichen Bedürfnis nach Hoffnung und der Erhebung des Menschen und Weltbürgers zur Einsicht in und Wahrnehmung seines Amtes in der Welt. Aber diese Affinitäten mit Mendelssohns gutem Platonismus werden in der Kritik der reinen Vernunft weitgehend unter den Tisch gekehrt. Der Schwerpunkt liegt hier auf Mendelssohns schlechtem Platonismus. In Kants Augen ist Mendelssohn deshalb ein schlechter Platoniker, weil er einem Platonismus anhängt, der nicht mehr hält, was er einst versprach und was Mendelssohn sich noch von ihm verspricht, nämlich die Begründung der Ideen, insbesondere der praktischen in der Vernunft. 21

Ebd., S. 143. Kritik der reinen Vernunft, AA Bd. III, S. 246. 23 Ebd., B 370. 24 Ebd., B 371. 22

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 5

Ein erster Kritikpunkt betrifft deshalb offenbar die Vorstellung moralischer Ideen und des Ideals der Tugend. Das Urmodell repräsentiert hier wiederum Sokrates, der Weltbürger, dem Kant schon eine Notiz der 1770er Jahre widmet25. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt er nun, »die »ewige Idee der Tugend« könne gerade nicht aus der Erfahrung geschöpft werden: ein jeder werde inne, »daß, wenn jemand als Muster der Tugend vorgestellt wird, er doch das wahre Ideal bloß in seinem eigenen Kopf habe.«26 Diese Divergenz ist vielleicht der tiefste Streitpunkt, über den die Ansichten schon 1767 auseinandergehen. Diese These zeugt von einer Trennung und Umkehrung der Bereiche des Seins und des Sollens, die Kant spätestens 1770 vollzieht. In seiner Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen von 1765 verfolgt Kant noch einen moralphilosophischen Ansatz, der »historisch und philosophisch erwägt, was geschieht, bevor er anzeigt, was geschehen soll«27: 1770 spätestens gibt Kant, wie Klaus Reich schon zu Recht hervorhebt28, diese Methode der historischen Erwägung »dessen, was geschieht«, zugunsten der Erkenntnis »dessen, was geschehen soll«, auf. Was die Prinzipien der Sittlichkeit betrifft, machen die Ideen selbst »die Erfahrung erst möglich«. Die Idee oder das Ideal der Sittlichkeit befindet sich immer schon im eigenen Geiste und begründet als Idee die Möglichkeit der sittlichen Handlung als eine Handlung in dieser irdischen Welt. Und gerade dieses unmittelbare Bewusstsein der eigenen Pflicht nun muss schon die Zugehörigkeit zu einer idealen und intellektuellen Welt begründen können. Statt in einem theoretischen Vermögen der Einsicht in eine den Phänomenen nachgeordnete Ideenwelt muss der intelligible Charakter in einer Denkungsart und in jener Grundsatz- und Prinzipientreue liegen, durch die der Mensch sich selbst a priori »an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch die eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.«29 Hier scheint nun eine Grundeinsicht von Kants eigenem, eher stoisch ausgerichteten Platonismus und Kosmopoli­tismus zu liegen. 25

In dieser Vorlesungsnachschrift heißt es: »Socrates war der erste, der zwischen der Philosophie als Speculation und als Weisheit einen Unterschied machte. Es war eben der Socrates, von dem man sagte, daß seine Philosophie vom Himmel genommen wäre. Er lehrte, die Speculationen helfen nichts unsere Bestimmung zu erfüllen: sondern wir müßen unser Verhalten examinieren, ob wir dadurch dazu gelangen können.« Philosophische Enzyklopädie, AA Bd. XXIX, S. 9. 26 Kritik der reinen Vernunft, B 372. 27 M. Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765–1766, AA Bd. II, S. 311. 28 Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, S. 9. 29 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 292. Vgl. auch die Veränderungen in Kants Charakterbegriff in den Vorlesungen zur Anthropologie der frühen 1770er Jahre in AA Bd. XXV, 1 und 2. Vgl. auch die Ausführungen bei Felicitas G. Munzel, Kant’s Conception of Moral



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

Ein zweiter Streitpunkt scheint durch diesen ersten bedingt zu sein. Er betrifft die Subjektivität von Zeit und Raum, die Mendelssohn schon in seinem Brief von 25. Dezember 1770 anzweifelt.30 Diese Subjektivität stellt einen zentralen Baustein in Kants kritischem System dar ; sie wird von Kant 1781 erneut behauptet und im Detail entwickelt. Eine dritte, für unsere Thematik zentrale Divergenz schließlich betrifft die Substantialität, Simplizität und Unsterblichkeit Gottes und des Menschen. Diese Divergenz ist Gegenstand der expliziten Auseinandersetzung und »Widerlegung« Mendelssohns in den vier Paralogismen der ersten Ausgabe der ersten Kritik, die in der zweiten in einen einzigen zusammengefasst werden. Kant bezeichnet diese Frage nach der Simplizität der Seele bekanntlich als den »Achilles« aller dialektischen Schlüsse, da es sich um einen Schluss handle, »der sogar die schärfste Prüfung und die größte Bedenklichkeit des Nachforschens auszuhalten scheint.«31 Um deren tiefere Bedeutung zu verstehen, ist es hilfreich, sich hier Mendelssohns Argument aus dem Phaedon in Erinnerung zu rufen: In der »undenkenden« und materiellen Natur könne ein Denk- und Ordnungsvermögen nicht seinen Ursprung finden, weil dort nur Zufall herrsche. Die Ordnung, Harmonie und Zweckmäßigkeit, die wir Menschen betrachtend genießen, setzen daher das Hinzukommen eines denkenden und höheren Verstandes voraus, »das die mannigfaltigen Theile zusammennimmt, gegeneinander hält, und in dieser Vergleichung eine Uebereinstimmung wahrnimmt.«32 Daraus könne wiederum die Existenz wenigstens einer einfachen, nicht ausgedehnten und nicht zusammengesetzten Substanz gefolgert werden, die man Seele nennen kann. An dieser göttlichen Seele habe nun die menschliche Seele teil. Mit der Einsicht in die denkerische Voraussetzung der Weltordnung verbunden ist die Vernunfteinsicht in die zugleich göttliche und eigene Vernunftseele: Mit der Einsicht in Gott weiß der Mensch zugleich um seine Gottähnlichkeit und göttlichen Attribute, nämlich Immaterialität, Simplizität, Freiheit und Unsterblichkeit als Substantialität.33 Dieser Schluss nun ist in Kants Augen nicht notwendig. Er Character, Chicago, University of Chicago Press, 1999 ; Brian Jacobs, »Kantian Character and the Problem of a Science of Humanity«, in: Brian Jacobs und Patrick Kain (ed.), Essays on Kant’s Anthropology, Cambridge, Cambridge University Press, 2003, S. 105–134. 30 Mendelssohn an Kant, 25. Dezember 1770, AA Bd. X, S. 115. 31 Kritik der reinen Vernunft, AA Bd. 4, A 351, S. 222. 32 Mendelssohn, Phaedon, Bd. 3.1, S. 93 33 Über die Unsterblichkeitsdebatten in der deutschen Aufklärung vgl. auch Paola Rumore, »Die Seele und ihre Unsterblichkeit«, in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Violetta Waibel, Margit Ruffing u. David Wagner, Berlin/Boston, De Gruyter, 2018, S. 2733–2742 ; Corey Dyck, »The Aeneas Argument: Personality and Immortality in Kant’s Third Paralogism«, in: Kant Yearbook n° 2, 2010, S. 95–122.

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enthält offenbar wiederum allzu viel Theologie. Denn Mendelssohn wandelt zwar Wolffs kosmologischen Beweis und den ihm zugrundeliegenden cartesianischen Beweis ab34, gibt ihn aber nicht vollständig auf. Seinerseits sieht er in der Existenz weiterhin ein Prädikat und ein complemens der Möglichkeit. Aus diesem in Kants Augen unbegründeten Festhalten an der demonstrativen Funktion der Gottesbeweise und These von der Würde als Gottebenbildlichkeit folgt offenbar in Kants Augen der Umschlag in den schlechten Platonismus und Mystizismus. Und wohl aufgrund von dieser dem Platonismus Mendelssohns noch innewohnenden Theologie kann und muss, aller tiefen Affinitäten ungeachtet, die sich hier in der Perspektive auf Substantialität als Progression oder Unsterblichkeit offenbaren, Mendelssohn »widerlegt« werden. Diese Widerlegung kann zugleich dazu dienen, die rationale (nicht empirische) Psychologie als eine die menschlichen Kräfte übersteigende Wissenschaft überhaupt zu Fall zu bringen. Denn um die Würde des Menschen zu denken, ist kein Aufschwung zu den Perspektiven eines göttlichen Verstands notwendig, in der die Würde des Menschen als Rang in einer ontologischen Ständeordnung, als Zweck und Bestimmung vor Augen liegt. Eigentlich bedarf es weder einer solchen Vorstellung noch überhaupt einer Gottesinstanz als intellektuelle theoretische Norm und direktes Modell für ein sich über die eigene Erhebung von der Tierheit hin zur Gottheit bestimmendes menschliches Selbst. Weil Würde im Grunde nicht so sehr den Begriff Gottes als vielmehr die Welt und das eigene Selbst betrifft, reicht es, ihn als Schöpfer, Baumeister und Gesetzgeber einer moralischen Weltordnung zu denken. Man muss sich die Welt so vorstellen können, dass sie schon einer moralischen und zweckmäßigen Weltordnung entspricht, in der der Mensch eine besondere Stellung und Würde besitzt und eigentlich das Vernunftvermögen des Menschen reflektiert. Damit aber spiegelt die Welt nicht die Vernunft Gottes, sondern die des Menschen. Mit dieser radikalen Umdeutung verabschiedet sich Kant endgültig vom platonischen Modell der Gottebenbildlichkeit, auf die im eigenen, ganz anders konzipierten, da schon auf einem neuen Welt- und Weltbürgerbegriff gründenden Modell Verzicht geleistet werden kann. Ungeachtet dieser grundlegenden Differenzen ist schließlich auffällig, dass Kant Mendelssohn mit beiden Modellen, Platonismus und Kosmopolitismus, in Verbindung bringt, was wiederum auch einer in der Stoa selbst präsenten Sicht entspricht, die den eigenen Kosmopolitismus aus dem Platonismus herleitet. Dieser Kosmopolitismus ist in der Kritik der reinen Vernunft über den 34

ren.

Vgl. auch Mendelssohns Morgenstunden, die diesen Gottesbeweis genauer ausfüh-



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

Gedanken der platonischen Republik und den Weltbürger Sokrates präsent. Außerdem widmet Kant diesem Thema auch einen gesonderten Abschnitt von Über den Gemeinspruch: »Ein Kapitel Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis in allgemein-philanthropischer d. i. kosmopolitischer Absicht betrachtet. Gegen Moses Mendelssohn.« Dieser kreist um Mendelssohns Kosmopolitismus, seine Menschenfreundschafts- und Fortschrittsdoktrin. Hier lege Mendelssohn eine ambivalente Haltung an den Tag, insofern er zwar das Thema Vervollkommnung mit Platon, Spalding und Rousseau aufnimmt, aber bezüglich eines empirischen Fortschrittes der Menschheit Zweifel äußert.35 Gegen Mendelssohn behauptet Kant die Notwendigkeit, »ein Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins«36 anzunehmen. Diese Notwendigkeit ergebe sich aus der Pflicht, auf die Besserung der nachfolgenden Generationen zu wirken. Sie beinhalte zudem schon eine weltbürgerliche Perspektive, nämlich den Zwang der Mitglieder eines Volkes, eine staatsbürgerliche Verfassung zu begründen, und zuletzt der Staaten, in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten, um einen rechtlichen Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht zu erwirken. Dieser Fortschritts- und Vernunftglauben entspricht offensichtlich nicht einfach einem theoretischen Bedürfnis der Vernunft, sondern einer praktischen und moralischen Notwendigkeit, die eine Hoffnung auf bessere Zeiten bedeute ; »und der gute Mendelssohn mußte doch auch darauf gerechnet haben, wenn er für Aufklärung und Wohlfahrt der Nation, zu der er gehörte, so eifrig bemüht war.«37 In der Metaphysik der Sitten findet sich schließlich ein Verweis auf Mendelssohn als Rechtsforscher, dessen »mühselige und doch immer vergebliche Bestrebung« in seinem Jerusalem darauf gerichtet gewesen sei, die Möglichkeit eines Vertragsschlusses zu beweisen. In Kants Augen ist es »schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen.«38 Die Auseinandersetzung zwischen Kant und Mendelssohn kreist deshalb um den richtigen Würdebegriff als vom menschlichen und sinnlichen Standort aus sichtbare Bestimmung und Aufgabe sowie um den richtigen Platonismus und Kosmopolitismus, und sie erweist sich als länger, tiefer und komplexer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Aus Kants Perspektive befindet sich Mendelssohn offensichtlich schon auf der richtigen Spur und seine Philosophie läuft zielsicher auf Kants eigene Perspektiven zu. Mendelssohns Widerstand ist nur dadurch zu erklären, dass er nicht aus35

Vgl. Jerusalem, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 163. Über den Gemeinspruch, AA Bd. VIII, S. 308 f. 37 Ebd., AA Bd. VIII, S. 309. 38 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 273. 36

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reichend nachgedacht habe und ihm deshalb die richtige, nämlich kritische Lösung nicht eingefallen sei: Mendelssohn dachte wohl nicht daran, dass das Dogmatisiren mit der reinen Vernunft im Felde des Übersinnlichen der gerade Weg zur philosophischen Schwärmerei sei, und dass nur die Kritik eben desselben Vermögens diesem Übel gründlich abhelfen könnte.39

Im Grunde ist dieser Widerstand deshalb wohl krankheitsbedingt: Er erklärt sich aus der von Mendelssohn schon ab 1770 erwähnten Nervenschwäche, die Mendelssohn dem eigenen Geständnis nach davon abhalte, Kants Spekulationen mit gehöriger Anstrengung zu durchdenken. Die »eigene Scharfsinnigkeit«, so Kant, hätte ihn doch zuletzt zum Geständnis der Unzulänglichkeit der eigenen Philosophie gebracht, »wenn mit einer längeren Lebensdauer ihm auch die den Jugendjahren mehr eigene Gewandtheit des Geistes […] vergönnt gewesen wäre.«40 Wie man diese Einschätzung nun bewerten mag, als absurd, anmaßend oder im Gegenteil in der Sache begründet41, so steht sie jedenfalls in offenem Kontrast zu Mendelssohns eigener Beurteilung. Aus Mendelssohns Perspektive sind die Divergenzen, Nervenschwäche hin oder her, grundsätzlicher Natur und unüberwindbar. Einige Einwände äußert er Kant gegenüber offen, auf andere kommt er in den Morgenstunden zurück, in denen er an allen vormals geäußerten philosophischen und demonstrativen Überzeugungen festhält, wenn auch mit dem scharfen Bewusstsein des eigenen Unvermögens, sich in der mit dem »alles zermalmenden«42 Kant neu angebrochenen Epoche noch Gehör zu verschaffen.43 Noch andere Einwände schließlich hält er ganz zurück. Aber wenn auch Mendelssohn nicht alles sagt, was er denkt, und er die Kritik der reinen Vernunft bald halbgelesen aus der Hand legt, so lässt er doch an der Differenz selbst keinen Zweifel und appelliert mehrmals an Kants Toleranz jenen gegenüber, »die anders denken als er«, und an seine Bereitschaft zum philosophischen Gespräch. Er gehöre zu den »Menschen, die Kant »Bewunderung« nachrufen, ohne ihm »folgen 39

Was heißt: Sich im Denken orientiren ?, AA Bd. VIII, S. 137. Ebd., S. 140. 41 Diese Bewertung entspricht zumindest Kants Behauptung in der Metaphysik der Sitten, es gäbe im Grunde nur eine einzige Philosophie, nämlich die seinige (AA Bd. VI, S. 206 f). 42 Mendelssohn, Morgenstunden, Vorbericht, in: Jubiläumsausgabe, Bd. 3.2, S. 3. 43 In seinem Artikel »What is the Bond ?« hebt Munk zu Recht hervor, wie Mendelssohns Kommentar der eigenen Philosophie als veraltete Metaphysik gegenüber der neuen Philosophie Kants die Nachwelt geprägt und in gewisser Hinsicht auf eine falsche Spur gelenkt hat. 40



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

zu können«.44 In Mendelssohns letztem Brief an Kant aus dem Jahre 1785 heißt es: »Ob ich gleich die Kräfte nicht mehr habe, ihre tiefsinnigen Studien mit der erforderlichen Anstrengung zu studieren, weiß ich doch, daß wir in Grundsätzen nicht übereinkommen«.45

Kant über Herders »analogische Sagazität«

Kant knüpft zugleich – über einen gewissen Begriff von Würde als Titel und Angemessenheit, über einen Naturalismus und eine gewisse Teleologie, in der menschliche Zwecke über tierische Zwecke bestimmt werden – auch an Herder an. Ihm, dem Schüler, ist Kant 1768 noch sehr verbunden. In einem Brief schreibt er, er sehe bei der frühen Auswicklung der Talente […] mit mehrerem Vergnügen auf den Zeitpunkt hinaus, wo der fruchtbare Geist nicht mehr so sehr getrieben durch die warme Bewegung des jugendlichen Gefühls, diejenige Ruhe erwirbt, welche sanft, aber empfindungsvoll ist […]46

Kant geht seinerseits von den gleichen kosmogonischen und geologischen Einsichten aus – der Einsicht, dass die Welt im Werden begriffen ist, dass sie eine unbekannte ist und ihre zukünftigen Entwicklungen unsere Einsichten übersteigen. Alles wird, nichts ist: Und wir leben in den Ruinen einer vergangenen Welt. Auch verfolgt Kant die gleiche Ambition, eine »Menschliche Philosophie« zu schreiben47, und die gleiche Absicht, die göttlichen Attribute des Menschen von ihrem Charakter her und aus der Ordnung der Welt abzuleiten. Er spricht die gleiche Sprache der Zwecke und versucht die Menschheit genealogisch – nicht durch Naturbeschreibung, sondern durch Naturgeschichte – und über ein Bestimmungs- und Zweckprinzip zu bestimmen. Auch er räumt diesem naturhistorischen Verfahren und dem heuristischen Modell einer Kette der Wesen Vorrang vor der traditionellen Metaphysik und dem Postulat einer direkten Gottebenbildlichkeit ein. Klarer noch als Herder streicht er heraus, dass die Klassifikationen der Naturwesen, einschließlich des Charakters der Menschengattung, des notwendigen Oberbegriffes und tertium comparationis in der Erfahrung ermangeln, um deren Eigentümlichkeit, proprietas oder Charakter anzugeben, »weil wir von vernünftigen, nicht-irdischen Wesen keine 44

Mendelssohn an Kant, 10. April 1783, AA Bd. X, S. 308. Mendelssohn an Kant, 16. Oktober 1785, ebd., S. 413. 46 Brief vom 9. Mai 1768, AA Bd. X, S. 73 ; vgl. auch Herders Antwort, Nov. 1768, AA Bd. X, S. 75: »Ich kann nicht sagen, wie mich Ihr Brief erfreut hat.« 47 Ebd., S. 78. 45

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Kenntnis haben«48 und nicht über den notwendigen Erfahrungsbegriff von Gott verfügen. Deshalb auch müssen dieser Klassifikation immer schon Vorbegriffe der eigenen Anlagen, Zwecke und Würde zugrunde liegen. »Es bleibt uns also, um den Menschen im System der lebenden Natur seine Klasse anzuweisen und so ihn zu charakterisieren, nichts übrig als: dass er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft.«49 Dabei bedeuten Anlagen, Möglichkeiten immer schon einen Titel und eine Würde, ob und inwieweit der Mensch nun diese in ihm liegenden Anlagen verwirklichen kann oder nicht, und ob er nun der moralischen Persönlichkeit50 im strengen Sinne fähig ist oder nicht. Auch unmündige Kinder, kranke und behinderte Menschen und all jene, die nicht der moralischen Zurechnung fähig sind, besitzen mit ihrer Humanität schon einen solchen Titel, eine Menschenwürde.51 Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist lediglich der Umfang seiner Vermögen und Anlagen. Während die tierischen beschränkt sind, sind die menschlichen unbeschränkt. Der Mensch charakterisiert sich durch eine unendliche Perfektibilität und Plastizität. Diese umfasst für Kant dreierlei Anlagen, nämlich eine »technische« Anlage zur Handhabung der Sachen, eine »pragmatische« Anlage, andere Menschen zu seinen Zwecken geschickt zu machen, und eine »moralische« Anlage, nach dem Freiheitsgesetz unter Gesetzen gegen sich und gegen andere zu handeln.52 All diese Anlagen fasst Kant in den Begriffen »Angemessenheit« und »Tauglichkeit zu allerlei Zwecken« zusammen. Die Ähnlichkeiten mit Herder reichen noch weiter. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht scheint Kant dasselbe Leitmotiv von der »Stiefmutter« Natur aufzunehmen, die sich zugleich, indem sie den Menschen nackt auf die Welt geworfen habe, vielleicht als beste aller Mütter erweist. Er entwickelt denselben Gedanken der Naturbestimmung zur Selbstbestimmung. Schließlich stimmt Kant auch mit Herder insofern überein, als dass er diese Bestimmung oder Würde aus den Vermögen des Menschen, die sich in dieser Welt dem Blicke darbieten, naturalistisch ableitet und die theoretische Fruchtbarkeit von Teleologie und Bio48

Anthropologie, AA Bd. VII, S. 321. Ebd. 50 Vgl. auch die Analyse der verschiedenen Facetten des Würdebegriffs in der Einleitung. Zu den empirischen Merkmalen moralischer Persönlichkeit vgl. Patrick Frierson, Kant’s Empirical Psychology, Cambridge, Cambridge University Press, 2014, Kapitel 5, S. 167–188. 51 Vgl. zu dieser inklusiven Auffassung von Würde als Humanität auch Patrick Kain, »Kant’s Defense of Human Moral Status«, Journal of the History of Philosophy, vol. 47, n° 1, 2009, S. 59–102. 52 Anthropologie, Bd. VII, S. 322. In der Religionsschrift findet sich eine etwas andere Einteilung. 49



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

logie für Wissenschaft und Ästhetik anerkennt. Diesen Faden nimmt er in der Kritik der Urteilskraft wieder auf.53 Der intrinsische Zusammenhang zwischen diesen seinen naturhistorischen Überlegungen zu der Kette der Wesen und den kritischen Thesen, die systematische und zugleich transzendentale Einheit der Natur betreffend, sticht ins Auge, wenn auch einige merkwürdige Differenzen bestehen. Denn offenbar wirft Kant von Anfang an einen anderen teleologischen Blick auf den lebendigen Organismus als Herder. Herders transzendente Teleologie, die den Zweck und die Bestimmung des Menschen als über die Zwecke dieser Welt hinausweisend bestimmt, lehnt er ab. Stattdessen konzipiert er eine weltimmanente Teleologie, die die Bedeutung des Zweck­begriffes von Anfang an auf diese irdische Welt einschränkt, bzw. die Welt so bestimmt, dass sie einer höheren Zweckordnung schon entsprechen kann. Davon zeugen seine eigenen Ausführungen zur Stufenordnung und Kette der Wesen in der ersten und dritten Kritik. Zur Vertiefung dieses Ansatzes scheint er insbesondere die Auseinandersetzung mit jenen Naturalisten wie Blumenbach zu suchen, die mit ihm in dieser Grundvoraussetzung übereinstimmen. Diese neue Sicht auf den Menschen führt offensichtlich zu einer grundlegenden Umdeutung des Modells einer Stufenordnung als heuristisches Prinzip. Dieses deutet noch nicht auf eine Bestimmung des Menschen für eine andere Welt, und obschon auch der Rückführung von Vielfalt auf Einheit dienend, folgt es auch nicht einfach dem Grundsatz der Analogie nach Bildung und Formen: Dieses Festhalten an platonischen Formen hält Kant offensichtlich für widersprüchlich und überkommen. In seinen Augen setzt die Stufenleiter selbst offenbar bereits die Perspektive auf Zwecke und Zweckmäßigkeit voraus. Auf diesem Weg bedeutet dieses Modell dem Menschen und der Menschheit eine ganz besondere Angemessenheit an seine Welt, Aufgabe und Würde.54 Eine zweite Divergenz betrifft die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Bedeutung von Würde. Kant vollzieht offensichtlich den Bruch mit dem ästhetisch-philologischen Paradigma des Philoktet, das Würde auf einer affektiven Einfühlung und Verbindung begründet. Er glaubt weder, dass es notwendig sei, sich in die Welt fremder Menschen philologisch-poetisch hineinzulesen, noch auch, dass diese Menschenkenntnis zur Erkenntnis des eigenen Selbst beitrage. Stattdessen favorisiert Kant ein Modell der Humanität und 53 Sowohl Jennifer Mensch als auch Stella Sandford arbeiten diesen Zusammenhang klar heraus. Vgl. Jennifer Mensch, Kant’s Organicism: Epigenesis and the Development of Critical Philosophy, Chicago, University of Chicago Press, 2013, besonders Kapitel 3 bis 7 ; Stella Sandford, Kant, Race and Natural History, Philosophy and Social Criticism, n° 44.9, 2018, S. 950–977. 54 Vgl. wiederum Kapitel 9.

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Partizipation, das eine rechtliche Gleichheit des Menschen als Bürger postu­ liert und auf einem inneren Dialog gründet, den der Mensch und Bürger im Bewusstsein der gesellschaftlichen Gesetze zunächst mit sich selbst austragen kann.55 Dennoch schockiert angesichts der großen Affinitäten Kants vehemente Verurteilung und Ablehnung von Herders Philosophie als Dogmatismus und Schwärmerei. Der offene Bruch erfolgt 1784,56 als Kant Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit in seiner zweiteiligen Rezension in aller Schärfe verurteilt.57 Diese Rezension lässt keinen Zweifel daran, dass auch die Menschen- und Würdevorstellungen Herders in Kants Augen zur Ära dogmatischer Metaphysik gehören, deren Prätentionen das kritische Projekt als unhaltbar enthüllt. Diese Ideen zeugen Kant zufolge von einem eher suggestiv verfahrenden Geiste, von »lebhaftem Genie«, von »beflügelter Einbildungskraft«. Hier zeige sich »ein sich nicht lange verweilender viel umfassender Blick, eine im Auffinden von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauch derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen«. Diese Methode entspricht offenbar ganz und gar nicht Kants Standards von »philosophischer Pünktlichkeit« und Sorgfalt. Herders Unternehmen sei deshalb »immer Metaphysik, ja sogar sehr dogmatische, so sehr sie auch unser Schriftsteller, weil es die Mode so will, 55

Vgl. Kapitel 8 u. 9. Während Lehrer und Schüler in den 1760er Jahren ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, schlägt dieses Verhältnis mit Kants Lektüre von Herders Ältester Urkunde in sein Gegenteil um. Hamann hatte ihm das noch ungedruckte Manuskript mit der Bitte um ein Gutachten geschickt, wohl um seine Unterstützung für die Publikation zu erhalten. Kant äußert in seinem Brief an Hamann scharfe Kritik an Herders Schrift. Er bittet Hamann um Bestätigung, dass er den Text Herders überhaupt richtig verstanden habe: »aber womöglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der anschauenden Vernunft gar nicht organisiert.« Vgl. Brief Kants an Herder vom 9. Mai 1768 und Brief von Herder an Kant, November 1768. Vgl. hierzu Zammito, Kant, Herder and the Birth of Anthropology ; Manfred Kuhn, Kant. Eine Biographie. München, 2. Auflage, 2007, S. 155–164, Gideon Stiening, »Wissen« oder »Mutmaßung« ? Herders und Kants Streit um Gehalt und Status von Genesis 1–6«, in: Genesis-Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst, Hg. v. Manfred Kern, Ludger Lieb, Heidelberg, Winter, 2009. Vgl. auch Nigel DeSouza, »Herder’s Theory of Organic Forces and its Kantian Origins«, in: Kant and his German Contemporaries II. Historical Perspectives, hg. v. Daniel O. Dahlstrom, Cambridge University Press, 2018, S. 109–128. 57 Vgl. Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung – eine Metakritik der reinen Vernunft, Leipzig 1798 und zu ihrer Rekonstruktion, Josef Simon, »Herder und Kant. Sprache und ›historischer Sinn‹«, in: Johann Gottfried Herder, 1744–1803, hg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 3–13. Siehe auch Manfred Riedel, »Historizismus und Kritizismus, Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder«, in: Kant-Studien n° 72 (1–4), 1981, S. 41–57. 56



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

von sich ablehnt.«58 Im zweiten Teil seiner Rezension schreibt Kant weiterhin, er glaube »die Materialien zu einer Anthropologie ziemlich zu kennen« imgleichen auch etwas von der Methode ihres Gebrauchs um eine Geschichte der Menschheit im ganzen ihrer Bestimmung zu versuchen: er sei aber zugleich überzeugt, dass sie weder in der Metaphysik, noch im Naturaliencabinet, durch Vergleichung des Skelets des Tieres mit anderen Thiergattungen aufgesucht werden müssen, am wenigsten aber die letztere gar auf seine Bestimmung für eine andere Welt führe, sondern dass sie allein in seinen Handlungen gefunden werden könne, dadurch er seinen Charakter offenbart.59

Kant scheint sich insbesondere an der analogischen »Sagazität« Herders zu stoßen  – dem Gedanken, dass sich dem Menschen über den Blick auf die Natur und das Tier schon die eigene Göttlichkeit offenbare ; an seinem Kontinuismus, der von einer Gradation der Wesen und einer Überlagerung der Welten ausgeht ; an der Idee eines tätigen Gottesdienstes, durch den man sich in die eigene Bestimmung für eine zweite, göttliche Welt »hineinglauben« solle ; und an der Notwendigkeit, dafür die Welt und die Menschheit zu durchwandern. Im Grunde findet Kant offenbar bei Herder dieselbe platonische Schwärmerei und »Philosophie aus Gefühlen«, die ihn bei Mendelssohn stört. Auch sein ehemaliger Schüler widersetzt sich seiner kritischen Wende ; und zugleich scheint Kant nicht in der Lage, ihn strictu sensu zu widerlegen, da Herder schon den ersten anthropologisch-kosmopolitischen Schritt, der der kritischen Wende vorausgeht, nicht zu tun gewillt ist. Außerdem scheint Herders philosophischer Erfolg eine Widerlegung noch schwieriger zu machen und zu Kants Verstimmung beizutragen. Herder selbst ist von diesem Kommentar wenig überzeugt und ganz wie Mendelssohn unwillig, die kritische Wende mitzuvollziehen. In seiner Metakritik der Kritik der reinen Vernunft von 1798 bringt er seine Ablehnung des kritischen Ansatzes überhaupt klar zum Ausdruck. Aber auch die zeitgenössischen Leser stehen der Vehemenz von Kants Kritik verständnislos gegenüber. Reinhold, der Kants Herderrezension kommentiert und auf den Kant im zweiten Teil direkt antwortet, kehrt Kants sonderbare »Unzufriedenheit« heraus: Unstreitig war die Hauptempfindung, die bey ihm nach einer solchen Durchlesung zurückblieb, Unzufriedenheit mit dem Werke überhaupt, […] Ich fand 58 Kant, Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen, Riga und Leipzig, bei Hartknoch, 1784, AA Bd. VIII, S. 54. 59 Ebd., S. 56.

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diese Unzufriedenheit immer sonderbarer, je mehr ich die Anmerkungen des Recensenten erwog, und in meiner Uberzeugung bestärket wurde, daß der Kopf desselben nicht dazu gemacht sey, Meisterwerke, die der Nation Ehre machen, zu verkennen.60

Auch hier bleiben die eigentlichen Streitpunkte mehr oder weniger im Dunkeln.61 John Zammito zufolge betreffen sie gemeinsame anthropologische Grundüberzeugungen, die Kant später aufgibt und die Herder weiterhin beeinflussen. Die oben aufgeführten Differenzen legen aber eher den Schluss nahe, dass schon die Anthropologie von Anfang an eine andere stoische und kosmopolitischere ist und die kritische Wende diese Differenzen nur offensichtlicher macht.

Kants »Anti-Garve«

Mit Garve nun verbinden Kant offenbar noch größere Affinitäten als mit Mendelssohn und Herder, weshalb Kant seine große Wertschätzung dem Breslauer Kollegen gegenüber bei mehreren Gelegenheiten klar zum Ausdruck bringt: Er hält ihn für einen »würdigen Gelehrten« und für einen »Philosophen in der ächten Bedeutung dieses Wortes.«62 Denn im Gegensatz zu Mendelssohn und Herder kommt Garve direkt auf das alte kosmopolitische Schema zurück bzw. denkt sogar seine moderne Form vor: Er skizziert das »populäre« und »weltmännische« Grundschema, das Kant aufnehmen soll, und vollzieht den ersten anthropologischen Schritt hin zur kritischen Wende mit und sogar vor Kant. Sein Fehler besteht in Kants Augen eigentlich nur darin, dass seine eigene Lösung allzu rudimentär und skizzenhaft bleibt, dass er den von ihm selbst angestoßenen Denkansatz nicht konsequent genug zu Ende denkt. In der Tat scheint Garves Fergusonkommentar schon Kants systematischen und kritischen Ansatz in der ersten Kritik zu prägen, die Garve im 60 Carl Leonhard Reinhold, Schreiben des Pfarrers an den H. des T. M., Ueber eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit, in: Der Teutsche Merkur, Bd. 25, 1785, S. 148–174, hier S. 151 f. 61 Vgl. John Zammito, Kant, Herder and the Birth of Anthropology, S. 12: »the very Kant whose critical philosophy explicitly repudiated these [popular philosophical and anthropological] discourses had in his precritical period actively cultivated them, had emerged as a potential leader for this movement, and continued to influence those who carried on in that vein after his critical turn against it.« 62 Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 206 und Über den Gemeinspruch. Das mag in der Theorie richtig sein taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 278.



Kants »Unzufriedenheit« mit seinen Zeitgenossen

Jahre 1782 mit Feder rezensiert.63 Dass Garve sich in seiner Rezension nicht auf die moralphilosophischen Thesen einlassen möchte und bestimmte Prämissen Kants scharf kritisiert, war für Kant sicherlich enttäuschend. Aber deshalb bricht der philosophische Dialog zwischen den beiden Denkern nicht ab.64 In seinem Cicerokommentar von 1783 liefert Garve Kant zentrale philosophische Bausteine und Denkanstöße. Diese finden offenbar direkt in mehreren Schriften Kants ihren Niederschlag. Es folgt zwar bis 1798 kein weiterer brieflicher Austausch ; der philosophische Austausch aber wird durchaus und äußerst intensiv fortgesetzt. Nur kurze Zeit später entwirft Kant einem Bericht Hamanns zufolge seine Grundlegung der Metaphysik der Sitten zunächst als eine Antwort auf Garve, als einen »Anti-Garve«. Am 18. Februar 1784 findet diese Antikritik gegen Garve in einem Brief Hamanns an Scheffner erstmals Erwähnung. Einer Sage nach arbeitet unser lieber Pr Kant der sich des Maler Becker Haus gekauft an einer Antikritik – doch der Titel ist noch nicht ausgemacht – gegen Garvens Cicero als eine indirecte Antwort auf deßelben Recension in der A.d. Bibl. Seine Absicht ist es auch gewesen, in die Berl. Monatsschrift etwas über die Schönheit zu liefern.65

Am 2. Mai behauptet Hamann schließlich in einem Brief an Herder die Verwandlung dieser Antikritik in »einen Prodromum über die Moral«, d. h. eine Vorbereitung oder Grundlegung. Die Grundlegung ist damit der Ort, in dem Kant seine Auseinandersetzung mit Garve am direktesten austrägt: Aber auch in der späteren Schrift Über den Gemeinspruch knüpft Kant direkt an die frühere Diskussion über die Freiheit wieder an. Spuren dieser Auseinandersetzung lassen sich zudem in einer Reihe weiterer zentraler Schriften finden, zum Beispiel in der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 63 Diese verkürzte Rezension wurde 1782 in der Zugabe zu den Göttinger Gelehrten Anzeigen veröffentlicht, die ungekürzte Fassung etwas später in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Anhang zu dem 37. bis 52. Bande, 2. Abteilung, Herbst 1783, S. 838–862. 64 Als Garve 1783 aus dem inkognito tritt und sich brieflich als der bzw. als einer der beiden Verfasser der Göttinger Rezension zu erkennen gibt, macht Kant in seiner Antwort vom 7. August 1783 aus seinem Ärger und Unwillen keinen Hehl. Aber er bringt auch seine Verehrung Garves klar zum Ausdruck: Er habe »schon lange« in der Person Garves »einen aufgeklärten philosophischen Geist und einen durch Belesenheit und Weltkenntnis geläuterten Geschmak verehrt«. Und da Garve ihm erklärt, die Rezension sei ohne sein Einverständnis von seinem Kollegen [Feder] radikal gekürzt und verstümmelt worden und sich für das Unrichtige entschuldigt, nimmt Kant diese Entschuldigung an. Vgl. Kant an Garve, 7. August 1783, AA Bd. X, S. 339. 65 Vgl. Hamann an Herder, 18. Februar 1784 und 2. Mai 1784, in: Briefwechsel, hg. v. Arthur Henkel, 7 Bde., Frankfurt a. M., 1955–79, Bd. 5, S. 127 ff. u. S. 143 ff.

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der zweiten und dritten Kritik. Garve seinerseits sieht sich selbst rückblickend als einen »Wetzstein«, der es Kant erlaubt habe, seinen Argumenten größere Schärfe zu verleihen. Er glaubt, in dieser Funktion »nicht ganz unnütz […] für andere gewesen zu seyn«, wenn er auch »als schneidendes Instrument wenig ausgerichtet habe.«66 Garves Bedeutung für Kant ist bisher nur sehr unzureichend erfasst worden. Seine strategische Rolle als Adressat der Polemik in der Grundlegung ist zwar formell in fast allen Kommentaren zur Grundlegung anerkannt worden67, aber dann wiederum auch nicht, denn wie Jens Timmermann, hier repräsentativ für eine allgemeinere Haltung in der Kantforschung, schreibt: »the Groundwork is too complex […] to be inspired by two second-rate philosophers [i.e. Cicero und Garve]«.68 Ein allzu eng gefasster systematischer Zugang zu Kant scheint bisher der Rekonstruktion dieses Dialogs im Wege gestanden zu haben. Man verkennt, dass Kant gerade deshalb die Auseinandersetzung sucht und vertieft, weil er selbst die Besonderheit seiner eigenen Schullektüre Ciceros klären und seinen Gedanken über die Würde eine konkretere Gestalt geben möchte. Gerade weil Garve einen anderen philosophischen Stil als Kant pflegt und Philosophie als Kommentar und Übersetzung betreibt, liefert er einen Schlüssel zu Kants manchmal kryptischen Thesen. Die Rekonstruktion ihres Dialogs zeigt die Verbindungslinien und Brüche mit der alten Tradition, die sich aus den neuen gesellschaftlichen, ökonomischen und ästhetischen Voraussetzungen ergeben. Und wer mit der Argumentation Kants vertraut ist, erkennt zwischen den beiden philosophischen Projekten in der Tat ganz zentrale Parallelen. Von dem tiefen Einfluss Garves auf Kant zeugen nicht nur die von Garve übernommenen Wörter und Begriffe wie »guter Wille«, »Gesinnung«, »Interesse« und »Teilnehmung«, sondern grundsätzliche praktische, philosophische und 66 Garve, Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre, Breslau 1789, Gesammelte Werke, Bd. 8, S. XIII. 67 Allgemeiner zum Verhältnis von Garve und Kant, siehe auch Albert Stern, Über die Beziehungen Chr. Garve’s zu Kant, Leipzig, 1884; Michael Stolleis, Staatsräson, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim am Glan, 1972. Melches Gilbert, Carlos, Der Einfluss von Christian Garves Übersetzung Ciceros ›De officiis‹ auf Kants ›Grundlegung der Metaphysik der Sitten‹, Regensburg, S. Roderer, 1994. Neuerdings auch Corey Dyck, »Kant, Garve’s Cicero and the Stoic Doctrine of the Highest Good«, in: Kant’s Ethics in Context, hg. v. Stefano Bacin und Oliver Sensen, in Vorbereitung, und Heiner F. Klemme, »The Antithetic between Freedom and Natural Necessity. Garve’s Freedom and Kant’s Solution«, in: Corey Dyck und Falk Wunderlich (ed.), Kant and his German Contemporaries, Cambridge University Press, 2018, S. 250–264. 68 Jens Timmermann: Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: A Commentary, Cambridge, 2007, Introduction, xxviii.



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ästhetische Perspektiven auf Tugend, Ehre und Würde. Wie in den nächsten Kapiteln genauer gezeigt werden soll, ist auch Kant ein moderner Ciceronianer. Zwar entwickelt er seine eigene Weltbürger- und Würdedoktrin zunächst in relativer Unabhängigkeit von Garve. Aber indem er der praktischen Begründung von Würde als Selbstschätzung die gleiche Bedeutung zur Begründung philosophischer Ideen zuspricht, nimmt Kant in der Kritik der reinen Vernunft die von Garve in seinem Fergusonkommentar von 1772 gestellte philosophische Herausforderung auf. Im Grunde, so schreibt Kant rückblickend an Garve, hat sein Nachdenken mit den Antinomien, den Anfang der Welt und die Freiheit betreffend begonnen.69 Mit seiner dritten Antinomie und der philosophischen Neubegründung der apodiktischen Gewissheit des Gesetzes und praktischen Geltung der Freiheit führt er das von Garve skizzierte philosophische Programm aus. Er erklärt, dass wir zwar nicht die praktische Notwendigkeit des moralischen Imperativs begreifen, wohl aber seine Unbegreiflichkeit, was aber »alles sei, was von der Philosophie zu fordern ist.«70 Wie Garve nimmt Kant in seiner Anthropologie eine »stoische«, pragmatisch ausgerichtete Sicht auf die Naturgeschichte ein. Diese fragt von Anfang an nicht nur nach Form und Funktion, sondern nach der eigenen Kausalität und Spontaneität, nach Anlagen, Antrieben oder, wie Kant es formuliert, nach den charakteristischen Kennzeichen des Begehrungsvermögens. Diese Frage führt sie vom Naturell aus auf den Charakter als die Sinnes- und »Denkungsart« und als »das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens«.71 Kant glaubt außerdem, dass das moralische Legitimationsmuster der alten Vorstellungen von Ständegesellschaft im Prinzip überkommen ist. Eigentlich verdient offenbar bei Cicero nicht das hierarchische und politische Modell von Bürgerwürde an sich, sondern das ihm zugrundeliegende Modell von Menschenwürde Beachtung, und zwar als moralisches Ideal. Nichtsdestotrotz bewahrt aber der Würdebegriff seine gesellschaftliche Bedeutung auf einer höheren Ebene. Würde ist nicht nur Tugend, sondern auch eine bestimmte Form von allgemeiner und »innerer Ehrbarkeit« (honestas interna) und gerechter Selbstschätzung, die mit der eigenen Selbstliebe oder dem eigenen Selbstwertgefühl in enger Verbindung steht und sich aus ihm heraus und in Interaktion mit den Mitmenschen entwickelt. Sie setzt eine 69

Brief Kants an Garve vom 21. September 1798. AA XII, S. 256. Grundlegung, AA Bd. IV, S. 463. Vgl. auch wiederum mein Aufsatz von 2018 und aus dem gleichen Jahr Heiner F. Klemme, »The Antithetic between Freedom and Natural Necessity. Garve’s Freedom and Kant’s Solution«. 71 Vgl. über die praktisch-philosophisch-medizinische Zwecksetzung von Kants Anthro­ pologie auch Metaphysik der Sitten, AA Bd. VIII, S. 444. 70

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Zurechnung und Freiheit voraus. Dieser Gedanke findet sich, wie oben ausgeführt, zunächst in den Beobachtungen und später, in veränderter Form, in der Anthropologie und der Metaphysik der Sitten. Diese Auffassung von Ehre und Selbstachtung erweist sich wie bei Garve mit einer bestimmten christlichen Tugend oder Würde als Demut und Perspektive auf einen göttlichen Herrscher und Richter, der gute Handlungen belohnt und schlechte bestraft, unvereinbar: Die christliche Perspektive auf eine göttlich legitimierte Würde des Menschen verliert damit an Relevanz. In einer Umkehrung der bisherigen Perspektive folgt ein bestimmter vernünftiger Glauben an ein völlig unabhängiges Wesen erst aus der Verbindlichkeit des Sittengesetzes heraus. Eine solche Menschenwürde setzt nun eine gewisse Teilnehmung voraus. Man muss sich, um auf den eigenen Anstand und die Schicklichkeit des eigenen Betragens und seiner Rede zu reflektieren, zunächst an die Stelle eines jeden anderen versetzen können. Diese Einsicht formuliert Kant schon in der frühen Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764. Aber spätestens in der Ausarbeitung seines ästhetischen Programms in der Kritik der Urteilskraft scheint er wiederum Anregungen aus Garves Aufsätzen Über das Interessierende und aus seinem ästhetischen Programm der Teilnehmung aufzunehmen. Dieses ästhetisch-partizipatorische Programm Kants ist wie Garves gegen die Einfühlungsästhetik Lessings und Herders gerichtet, insofern sie eine Teilnehmung aus Pflicht ist. Aber der Dialog zwischen Kant und Garve geht sogar über das streng Philosophische hinaus. Als die beiden Philosophen gegen Ende ihres Lebens die briefliche Korrespondenz wieder aufnehmen und sich auch menschlich erneut einander annähern, finden ihre Gedanken von Teilnehmung eine konkrete Anwendung. Im Jahre 1798 befindet sich Kant offenbar in einer tiefen seelischen Krise. Ein »Katarrh« hat den alten Hang zur Hypochondrie wiedererweckt und seine »Lebenskraft« wenn auch nicht völlig gelähmt, so doch gehemmt. Sein Zustand sei nicht der »des Studirenden, sondern Vegetirenden (Essen, Gehen und schlafen können)«.72 Kant empfindet nun schmerzlich, was es bedeutet, für Geistesarbeiten, bey sonst ziemlichen körperlichen Wohlseyn, wie gelähmt zu seyn: den völligen Abschluss meiner Rechnung, in Sachen welche das Ganze der Philosophie (so wohl Zweck als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen ; obwohl ich mir der Thunlichkeit dieser Aufgabe bewusst bin: ein Tantalischer Schmertz […]73 72 73

Kant an Garve, 21. September 1798, AA Bd. XII, S. 257. Ebd.



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Diese Situation legt die Herausforderungen und Schwierigkeiten der eigenen Würdedoktrin vor Augen. Was bedeutet es, in Würde zu altern und zu sterben ? Wie seine Ehre in Situationen bewahren, in denen es dem Menschen versagt ist, an der gesellschaftlichen Welt, die die eigene bürgerliche »Validitat« und menschliche Existenz ausmachte, noch Anteil zu nehmen ; in Situationen, in denen er mit seiner Lebenskraft auch sein eigenes Selbstwertgefühl schwinden sieht ? Da Kant im Jahre 1798 diese Schwierigkeiten nicht alleine zu bewältigen vermag, vertraut er sich dem Arzt Hufeland an und gibt den eigenen Brief auch zur Veröffentlichung in dessen Journal frei. Garve, der sich an diesem Punkt in die Diskussion einschaltet und den lange Jahre unterbrochenen Briefwechsel mit Kant wieder aufnimmt, liest aus den an Hufeland gerichteten Zeilen das Leiden und die Verstörung des alten Mannes heraus, der sich in diesem letzten Lebensabschnitt in gewisser Hinsicht selbst im Wege steht. In seinem Mitte September 1798 datierten Brief an Kant schreibt er, er habe den Brief an Hufeland gelesen: »Sie haben von der Macht des Gemüths über den Schmerz und selbst über Krankheiten in Ihrem Briefe an Hufeland, geredet.«74 Garve seinerseits leidet seit langen Jahren unter einem wuchernden Gesichtstumor. Garve schreibt hierzu: »es scheint unmöglich, dass ein Mensch dabey leben könne ; es scheint noch unmöglicher, daß er dabey denken, und selbst mit einem gewissen Scharfsinn und einer Exaltation des Gemüthes denken könne: und doch ist beydes wahr.«75 In seinem Brief, dem eine Kant zugedachte und kommentierte Übersetzung der aristotelischen Ethik beigefügt ist, erinnert Garve an die vormals geknüpfte freundschaftliche Verbindung und äußert den Wunsch, »in diese Verbindung« mit ihm »zurückzutreten«. Er fordert ihn hier zur Fortsetzung der tiefen philosophischen Auseinandersetzung auf, wendet sich aber »in dieser letzten, traurigsten Periode« seines Lebens auch an Kant, den Menschen und Freund. »Diese verborgne und stillschweigende Verbindung, welche schon lange unter uns vorhanden ist, gegen das Ende unsers Lebens noch fester zu knüpfen: dazu ist diese Zueignung bestimmt.«76 Dazu dient die detaillierte Auseinandersetzung mit Kants philosophischen und medizinischen Grundsätzen. Garve zeigt nicht Mitleid, sondern Teilnahme: Er begibt sich zu allen Themen auf Augenhöhe mit Kant, diskutiert kritisch Philosophie und Medizin und bereichert selbst Kants innere Experimente und daraus gefolgerte Vorschriften um andere.77 74

AA Bd. XII, S. 256. Ebd., S. 255. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 256. 75

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Dieser Brief übt auf Kant eine große Wirkung aus. Er antwortet umgehend und ungewöhnlich herzlich: »Ich eile, Theuerster Freund ! den mir den 19 ten Septembr. Gewordenen Empfang Ihres liebevollen und seelenstärkenden Buchs und Briefes (bey deren letzterem ich das Datum vermisse) zu melden.«78 Offener als Hufeland gegenüber legt Kant Garve sein Leiden dar und lässt sich sogar wieder auf die philosophische Diskussion ein. Garves Brief hat auf wundersame Weise Besserung bewirkt. Er hat ihn wieder in seine »bürgerliche Existenz«79 zurückgeholt und ihm jene »Theilnehmung« und Achtung entgegengebracht, die für Kant Teil jeder Freundschaft ist80 und derer er im Namen seiner eigenen Prinzipien so dringend bedurfte. Wenn aber so tiefe Gemeinsamkeiten bestehen, warum zieht dann Kant in der Grundlegung gegen Garve zu Felde ? Diese Polemik erklärt sich offenbar weder aus persönlichen Gründen noch aus grundlegenden philosophischen Differenzen, sondern eher aus den großen Affinitäten. Da beide die gleiche philosophische Ambition und das gleiche Projekt einer neuen und besseren Auslegung Ciceros verfolgen, kann die Polemik Kant einer differenzierten Darstellung der eigenen Position dienen. Denn Kant, der hier den zweiten Teil seiner Antwort auf die von Garve 1772 gestellte philosophische Herausforderung liefert, scheint Garve nur vorzuwerfen, er denke seinen eigenen Ansatz nicht zu Ende und argumentiere im Widerspruch zu den eigenen stoischen und popularphilosophischen Prinzipien. In diesem Zusammenhang richtet er den gleichen Vorwurf an Garve wie an die Platoniker: nämlich die Begründung seiner Moral in Gefühl, genauer in Anthropologie, Eudämonismus. Allgemeiner bleibt Garve offenbar zu stark einem veralteten Cicero verhaftet. In Kants Augen ist es erst die Aufgabe dieser alten Annahmen, die es erlaubt, tabula rasa zu machen und der 1772 von Garve selbst gestellten Herausforderung philosophisch zu begegnen. Statt den »Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«81 in einem Gefühl zu begründen, muss man ihn in der Vernunft verankern. Von diesem Standpunkt aus sieht Kant seinen Ansatz als den konsequenteren und wundert sich, warum Garve nicht auf die gleiche Lösung gekommen sei. In der späteren Schrift 78

Ebd., S. 256 f. Zu diesen Bürger- und Menschenpflichten vgl. wiederum Quinceys Bericht über Kants Versuch, sich aus dem Bette zu erheben, um einen Arzt gebührlich zu empfangen: »Kant spoke distinctly these words: »God forbid I should have sunk so low as to forget the offices of humanity.« Thomas de Quincey, Last Days of Immanuel Kant, in: Works, hg. v. Grevel Lindop, Barry Symonds, London, Pickering & Chatto, Teil 1, Bd. 6, 2000–2003. 80 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 469 f. 81 Grundlegung, AA Bd. IV, S. 436. 79



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Über den Gemeinspruch82 fügt Kant erläuternd hinzu, Garve versäume es, Freiheit und Natur als zwei gegensätzliche antinomische Begriffe zu fassen: Hr. P. Garve thut (in seinen Anmerkungen zu Ciceros Buch von den Pflichten, S. 69, Ausgabe von 1783) das merkwürdige und seines Scharfsinns werthe Bekenntnis: »Die Freiheit werde nach seiner innigsten Überzeugung immer unauflöslich bleiben […] Da nun ein Beweis derselben nicht aus bloß theoretischen Gründen […] folglich nur aus moralisch praktischen geführt werden kann, so muss man sich wundern, warum Hr. G. nicht zum Begriff der Freiheit seine Zuflucht nahm, um wenigstens die Möglichkeit solcher Imperativen zu retten.83

Diese Thesen stoßen wiederum auf Garves kritisches Interesse. Rückblickend widmet dieser Kants Philosophie allgemein und seinem Würdebegriff insbesondere mehrere kritische Diskussionen. Insbesondere in dem der Aristotelesübersetzung beigelegten »Excursus« mit dem Titel Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre nimmt Garve die philosophische Auseinandersetzung mit Kant wieder auf. Hier kommt Garve sehr lobend auf Kants Idee von Würde zu sprechen: »Diese Idee von der Würde des Menschen, oft selbst mit Kraft und Würde des Ausdrucks, mitten unter metaphysischen Spekulationen dargestellt, reißt, durch das Große und Hervorhebende, welches sie enthält, den Leser mit sich fort, und hat auch mich für sie gewonnen.«84 Vor allem die Zweckformel, in die Kant diese Forderung kleidet, begeistert Garve: Kein der Kantischen Moral eigenthümlicher Grundsatz, hat von dem ersten Augenblicke an, da ich mit ihm bekannt wurde, meine Einstimmung so völlig gewonnen: keiner hat mir, bey längerer und genauerer Betrachtung, zur Anwendung im täglichen Leben so brauchbar geschienen, – es sey, um meine Pflichten gegen andere Menschen in Augenblicken der Versuchung schleunig zu erwecken, als der Satz: – behandle jeden Menschen als Selbstzweck, keinen als bloßen Mittel für dich und zur Erreichung deiner Zwecke.«85

Er sei »fruchtbar an sittlichen Belehrungen für das thätige und gesellschaft­ liche Leben«, verdamme die »Sklaverey, Tyranney und Gewaltigkeit«, bewahre »gegen Stolz und Übermut, gegen niedrigere und gegen Kriecherei gegen ­höhere.«86 82

Über den Gemeinspruch, AA Bd. VIII, S. 285. Ebd., S. 289. 84 Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, S. 243. 85 Ebd., S. 250. 86 Ebd., S. 252 f. Garve sieht in der Sklaverei eine dem Vorurteil und der Verblendung 83

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Ungeachtet dieser Lobsprüche hält aber auch Garve im Großen und Ganzen an seiner früheren Position fest und ruft Kant die alten Bedenken wieder in Erinnerung.87 So hatte er sich schon im Jahre 1792 an Kants Unterscheidung zwischen Glückseligkeit und der Würdigkeit, glücklich zu sein, gestoßen. Ich für meinen Teil gestehe, daß ich diese Teilung der Ideen in meinem Kopf sehr wohl begreife, dass ich aber diese Teilung der Wünsche und Bestrebungen in meinem Herzen nicht finde, daß es mir sogar unbegreiflich ist, wie irgend ein Mensch sich bewußt werden kann, sein Verlangen nach Glückseligkeit selbst rein abgesondert, und also die Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben.88

Diesen Kritikpunkt nimmt er in seiner Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre von 1798 auf. Aber er erhebt einen noch grundsätzlicheren Einwand. Wie schon im frühen Briefwechsel89 wirft er Kant den Mangel der Popularität seiner Kunstsprache vor, die seiner Ansicht nach mögliche Ungereimtheiten und Widersprüche verbirgt, indem sie bestimmten alten Wörtern eine ganz neue, nicht eingängige Bedeutung verleihe. Es habe sich »bei der Untersuchung nicht verbergen [lassen, Einf d. Verfasserin], daß sie der Schilderung der Stoiker von ihrem Weisen, der auch in Phalaris Ofen glückselig entspringende Herabwürdigung der Menschheit, wie er in seinem Kommentar zur Ethik des Aristoteles von 1798 (Nachdruck in Werke, Bd. 11, S. 437) erklärt: »So sehr konnten die Menschen der Zeit, selbst die Philosophen, sich über Dingen verblenden, die sie doch beobachten konnten: so sehr konnten selbst in ihre Sprache die Verachtung und Herabwürdigung ganzer Menschen-Classen verwebt seyn: und doch mußten sie gewiß, auch in dieser Classe, die große Verschiedenheit der Individuen an Verstand und moralischer Güte wahrnehmen.« Ich danke Johan van der Zande für den Hinweis auf diese Textstelle. 87 Garves fortgesetzter Widerstand widerlegt Klemmes Deutung, der zufolge Kant auf Garves Problem die Lösung liefere, vgl. »The Antithetic between Freedom and Natural Necessity. Garve’s Freedom and Kant’s Solution«. Zu dem bis ans Lebensende anhaltenden Streitgespräch auch van der Zande, »Lessons of Violence. Christian Garve on the French Revolution«, in: Christian Garve (1742–1798): Philosoph und Philologe der Aufklärung, hg. v. Udo Roth und Gideon Stiening, Berlin, de Gruyter, 2021, S. 55–98. 88 Garve, Über die Geduld, in: Versuche über verschiedene Gegenstände der Moral und Literatur, I. Teil, Breslau, 1792, S. 111–116, hier S. 111 f. (Fußnote zu S. 81). Nachdruck in ders., Werke, Bd. 1, S. 111 f. Zitiert von Kant in: Über den Gemeinspruch, AA Bd. VIII, S. 284. 89 Vgl. Garves ersten Brief vom 13. Juli 1783. Garve hatte hier gestanden, er sei zuweilen beim Lesen »unwillig geworden, weil ich glaubte, es müsse möglich sein, Wahrheiten, die wichtige Reformen in der Philosophie hervorbringen sollen, denen welche des Nachdenkens nicht ganz ungewohnt sind, leichter verständlich zu machen«. Die neue Sprache »mache die Abweichung von den Gedanken anderer […] größer erscheinen, als sie wirklich ist«. Er hält an der Ansicht fest, »dass das Ganze Ihres Systems, wenn es wirklich brauchbar werden sollte, populärer ausgedrückt werden müsse und wenn es Wahrheit enthält, auch populär ausgedrückt werden kann«. Vgl. AA Bd. X, S. 331.



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ist, ähnlich sei, welche auch in den Schriften des Antonin und Epiktet anziehend und herzerhebend ist«. Dieser Begriff werde aber »durch Gründe, Erfahrung und Thatsachen zu wenig unterstützt […], um Überzeugung zu gewähren.«90 Wenn aber Kants philosophischer Begriff der Würde nicht mehr dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht, steht der populäre oder universelle Anspruch, die er an seine Philosophie stellt, mit in Frage. In Garves Augen muss sich die kritische Philosophie in allgemein verständliche Sprache zurückübersetzen lassen, weil Philosophie die Möglichkeit der Verständigung zwischen Vernunftwesen in einer res publica sicherstellen soll. Garve meint, dass diese Popularität nicht gewährleistet ist bzw. es Kant nicht gelingt, die populären und technischen Dimensionen seiner Philosophie zu vereinbaren. Kants neue Kunstsprache verberge seiner Ansicht nach mögliche Ungereimtheiten und Widersprüche, indem sie bestimmten alten Wörtern eine ganz neue, nicht eingängige Bedeutung verleihe. Darunter fallen Begriffe wie »Form« und »Stoff« – und auch die »Würde«. Garve zufolge erfordert diese Deutung eine allzu große »Anstrengung des Gemüts«, als dass er »ganz gefasst« mitgenommen werden […], und hier einen großen Einfluss auf unsre Handlungen haben könne«.91 Die begriffliche Fixierung ist in seinen Augen zugleich eine Demontage des alten Begriffs. Von Anfang an nimmt Kant Garves Kritik durchaus ernst. In seinem ersten Brief vom 7. August 1783 schon räumt er in Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft ein, seine Materie, die er mehr als 12 Jahre sorgfältig durchdacht hatte, sei im Vortrag nicht fasslich genug. Mangel an Popularität sei »ein gerechter Vorwurf, den man seiner Schrift machen [könne], denn in der Tat [müsse] jede philosophische Schrift derselben fähig sein, sonst verbirgt sie, über einem Dunst von scheinbarem Scharfsinn vermutlich Unsinn«.92 Diesen Vorwurf versucht er in den Prolegomena, aber auch in der Grundlegung und in einer Reihe weiterer Schriften zu entkräften: ohne jedoch seinen Kontrahenten völlig zu überzeugen, wie dessen letzte Schrift zeigt.

90 Garve, Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, in: ders. Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 243 f. 91 Garve, Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, S. 244. 92 Kant an Garve, Brief vom 7. August 1783, AA Bd. X, S. 339 ff.

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Schluss

Der Dialog zwischen Kant und Garve reicht am tiefsten und setzt sich am weitesten fort, weil zentrale Grundvoraussetzungen geteilt werden. Aber im Prinzip ist auch er mit denselben Schwierigkeiten behaftet, die schon die Auseinandersetzung mit Mendelssohn und Herder kennzeichneten: Kants Unzufriedenheit betrifft nicht bloße philosophische Mängel, die mit den eigenen rationalistischen Überzeugungen unvereinbar erscheinen, sondern die eigene Unfähigkeit, sie zu widerlegen bzw. seinen Kontrahenten zu überzeugen. In Kants Augen stellt die eigene Lösung, nämlich ein neu sokratisch und stoisch ausgerichteter Platonismus und Kosmopolitismus, die logisch schlüssigere da. Sie bietet nicht nur den konsequenteren, da rationalistischen Platonismus, der auf eine Begründung der Philosophie in der Vernunft zurückkommt, sondern vor allem die konsequentere Doktrin von Würde und Weltbürgertum, insofern diese ganz ohne Transzendenz auskommt und stattdessen die Entwicklung des Menschen und seiner Seelenvermögen und Zweckmäßigkeit immanent in und für eine einzige Welt denkt, in der gerade die Teilhabe an einer mechanischen Naturordnung auf eine höhere teleologische Moralordnung verweist. Indem der Mensch sich als Teil der Natur versteht und auf den Anspruch verzichtet, über seine Vernunft Gott anschaulich erkennen oder sich ihm angleichen zu wollen, kann er als Naturwesen eine höhere moralische Weltordnung erkennen und hat er in dieser Welt seinen Wohnsitz und eine Würde. Diese Lösung ist in Kants Augen eine Konsequenz, auf die Mendelssohn, Herder und Garve von ihren rationalistischen und anthropologischen Überzeugungen her eigentlich selbst hätten kommen können oder müssen, statt in Gefühlsphilosophie und mystischer Schwärmerei zu schwelgen. Was Kant dabei am meisten zu stören scheint, ist nicht die Tatsache, dass seine Zeitgenossen die kritische Wende nicht mitvollziehen wollen, sondern dass Kants kritische Wende eigentlich in zwei Schritten, nämlich einem anthro­pologischen und einem transzendentalen, von statten geht und sie Kant schon in seinem ersten »anthropologischen« Schritt, der diese kritische Wende ermöglicht, nicht ganz folgen wollen. Der Widerstand, den sie Kant in einer manchmal abstrakten metaphysischen und theologischen Diskussion entgegensetzen, zeugt offenbar zunächst von einem besonderen Humanismus und Weltbürgertum, einer besonderen anthropologischen und philosophischen Grundintuition, die Würde des Menschen in der Welt betreffend. Im Gegensatz zu Kant halten sie an der Idee fest, der Mensch könne sich zur anschaulichen Einsicht in die Zweckordnung der Welt und die eigene Göttlichkeit aufschwingen, und sie sehen ihn deshalb eher als einen Wanderer zwischen den Welten denn als einen rechtmäßigen Anlieger, Bewohner, Mit-



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spieler und Mitgesetzgeber dieser Welt ; schließlich verzichten sie darauf, aus dessen Vermögen der Betrachtung weitere Ämter, Pflichten und Vorrechte in und für diese Welt herzuleiten. Auch sehen sie in der Religion offensichtlich nicht nur ein Mittel, die eigene Kraft und die eigenen Rechtsansprüche als Weltbürger zu bestätigen. Auf dieser Ebene anthropologisch-philosophischer Grundintuitionen sind alle Überzeugungsversuche zum Scheitern verurteilt und ist es Kant nicht möglich, seine Vorgänger im strengen Sinne zu widerlegen. Insofern enthält dieses Kapitel zwar nur negative Ergebnisse, insofern es nur grundlegende Divergenzen beschreibt und verortet, ohne diese noch in größerem Detail von Kants eigener Anthropologie und seinem eigenen Kosmo­politismus ausgehend zu erklären. Aber es weist uns zumindest eine Spur.

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Kapitel 6 Erdbewohner und Erdbürger. Kants Kosmopolitismus Wie in den letzten Kapiteln gesehen, bricht Kant nicht vollständig mit seinen Zeitgenossen. Wohl aber schlägt er einen neuen Weg ein. Radikaler kommt Kant auf die stoischen Quellen und den Vergleich der Welt (κόσμος) mit einer πόλις zurück. Dieses stoische Weltbürgermodell ist in seinen Schriften noch in Spuren ersichtlich. Manchmal benutzt Kant den Begriff selbst, so im Titel seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.1 Manchmal spricht er von der »Philosophie nach dem Weltbegriffe«, in sensu cosmico2 oder in sensu cosmopolitico.3 Dass Kant der Stoa und dem stoischen Kosmopolitismus verpflichtet ist, ist nun keine ganz neue Einsicht. Gerade in den letzten Jahren sind zahlreiche Artikel, Studien und sogar Kongressakten zu dem Thema erschienen.4 Dennoch ist dieser Kosmopolitismus Kants wohl noch nicht in seiner philosophischen Tiefe ausgemessen worden. Meistens beschränkt man die Perspektive auf die praktische – politische, rechtliche und völkerrechtliche – Dimension dieses Modells, ohne eine Verbindung zwischen diesem Aspekt von Kants Philosophie und seinen tieferen transzendentalphilosophischen und kritischen Perspektiven herzustellen.5 Der Schwerpunkt liegt außerdem auf der Analogie zwischen antikem und kantischem Kosmopolitismus.6 1 Für die Kosmopolitismusthematik besonders relevant sind außerdem die Kritik der Urteilskraft, Anthropologie, Zum Ewigen Frieden, die Religionsschrift, Über den Gemeinspruch, Streit der Fakultäten. 2 Jäsche Logik, 1800, AA Bd. IX, S 24 f. Der Philosophie »nach dem Weltbegriffe« stellt Kant die Philosophie nach dem Schulbegriffe (in sensu scholastico) gegenüber. 3 Vgl. aus den Logiknachschriften insbesondere Logik Pölitz Vgl. AA Bd. XXIV, 2, 1, S. 532 und Wiener Logik, AA Bd. XXIV, S. 798. 4 Vgl. besonders Martha C. Nussbaum, »Kant and Stoic Cosmopolitanism«, in: The Journal of Political Philosophy, n° 5.1, 1997, S. 1–25 ; Francis Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung. Über die Entstehung und die philosophischen Grundlagen des supranationalen und kosmopolitischen Denkens der Moderne, Basel, Schwabe, 2002 ; Pauline Kleingeld, Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of World Citizenship, Cambridge, Cambridge University Press, 2011 ; Georg Cavallar, Kant’s Embedded Cosmopolitanism: History, Philosophy and Education for World Citizens, Berlin, De Gruyter, 2015 ; Stefano Bacin/Alfredo Ferrarin/Claudio La Rocca/Margit Ruffing (Hg.), Kant and Philosophy in a Cosmopolitan Sense/Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Hinsicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses. Boston-New York, De Gruyter, 2013. 5 Zur politischen und rechtlichen Dimension dieses Kosmopolitismus vgl. Kapitel 7. 6 Vgl. insbesondere Nussbaum, »Kant and Stoic Cosmopolitanism«. Nussbaum stellt



Kants Kosmopolitismus

Wie im letzten Kapitel schon angedeutet wurde, ist Kants Kosmopolitismus aber noch innovativer als bisher angenommen. So scheint er mit seinen Zeitgenossen eine bestimmte anthropologische, kosmogonische und planetarische Dimension zu teilen. Aus der mittleren Stoa schöpfend, bestimmt Kant den Weltbürger Mensch auch und zuallererst als einen Erdbewohner und umgekehrt auch die Erde als sein eigenes zweckmäßiges Habitat. Diese Perspektive begründet ein ganz besonderes Weltbürgertum, das Kant in der Philosophie seiner Zeit und insbesondere bei Wolff vorgezeichnet findet. Es bildet die Grundlage für einen neuen Würdebegriff, der den Gottebenbildlichkeitsbegriff ablöst, für eine neue Anthropologie, die die Doppelnatur des Menschen aus einer neuen Gegenüberstellung von Natur (oder Mechanik) und Moral (oder Teleologie) heraus entwickelt, und für die kritische Philosophie überhaupt. Für unser Thema soll es reichen, diese These in einigen ausgewählten Aspekten und genealogischen Perspektiven auf Kants Entwicklungsschritte darzulegen. Im ersten Teil soll auf jene wolffianische Physikotheologie der Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgegangen werden, die schon am Anfang dieses Buches diskutiert wurde. Es soll gezeigt werden, dass die Philosophie Wolffs offenbar mehrere Deutungen zulässt. Sie ist sowohl Physikotheologie als auch Kosmopolitismus. Wie im zweiten Teil dargelegt werden soll, gibt Kant offensichtlich von Anfang an letzterer Deutung den Vorzug Aus seiner kosmopolitischen Sicht erfordert Wolffs Modell bestimmte Korrekturen. Insbesondere muss man ihm, wie Kant schon in Vom einzigen Beweisgrund argumentiert, seine allzu (physiko)-theologischen Züge abstreifen. Man kann eine Würde des Menschen als Weltbürger denken, auch ohne auf das klassische platonisch-theologische Modell der Gottebenbildlichkeit zurückzugreifen. Aber wie im dritten Teil des Kapitels gezeigt werden soll, begnügt sich Kant nicht damit, Wolff zu enttheologisieren. Um den κόσμος wahrhaft politisch, auf die Zwecke des Zusammenhalts der Menschen hin zu denken und die populäre und praktische Ausrichtung von Wolffs philosophia practica universalis sicherzustellen, verlangt auch Wolffs dogmatische Methode nach einer Korrektur. Die Reform, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft vornimmt, bringt bestimmte Ergänzungen und Neuerungen mit sich. Kant ergänzt den aufklärerischen Kosmopolitismus Wolffs sowohl um eine neue historische als auch um eine kritische Dimension. Letztere beruht auf dem Gedanken, dass der Welt- und Erdbürger, der besseren Orientierung in der Welt und Verständigung mit seinen Mitmenschen halber, eine Art »Weltkarte« braucht. Damit wichtige Parallelen zwischen dem Kosmopolitismus Kants und der Stoa heraus, ohne aber Kants besonderen Welt- und Vernunftbegriff zu thematisieren.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 6

stellt sich Kants Kosmopolitismus zwar etwas anders und komplexer dar als gemeinhin angenommen, aber er wird auch spannender und wirft ein neues Licht auf Kants kritische Philosophie im Ganzen.

Antike und moderne Vorlagen. Wolffs teleologisches Weltbürgertum

Kehren wir zunächst zu unserem Ausgangspunkt zurück. Versetzen wir uns erneut in den wolffianischen Kontext der 1750er Jahre. Offenbar birgt die Philosophie Wolffs mehrere Möglichkeiten, und sie zeichnet der Aufklärung mehrere mögliche Wege vor. Zunächst kann sie physikotheologisch und platonisch gelesen werden, wie es die oben dargelegte Bestimmungsdebatte zeigt. Dieser Lesart zufolge liegt die Würde des Menschen in seiner anschaulichen Empfindung der eigenen Zugehörigkeit zu einem höheren Zweckganzen und in einer Gottebenbildlichkeit. Diese neuplatonische Lesart enthält schon eine kosmopolitische Dimension, insofern sie, einer älteren Auslegung folgend7, Sokrates, wie er von Platon in Szene gesetzt wird, als einen Weltbürger (mun­ danus) betrachtet. Dass der Mensch – oder ein bestimmtes Individuum, Sokrates – imstande ist, eine fortgesetzte Ordnung zu erkennen und zugleich deren Schönheit lebhaft zu empfinden, stellt ihm sowohl seine Unsterblichkeit oder sein Vermögen zur Vervollkommnung und Gottangleichung als auch seine Pflichten als Weltbürger in dieser irdischen Welt vor Augen. Aber diese kosmopolitische Dimension lässt sich durch die Reflexion auf den Weltbegriff selbst noch radikaler denken. Dieser Fokus auf den Weltbegriff zeichnet den antiken Kosmopolitismus aus, der die Welt selbst mit einer πόλις und Wohnstätte für die Vernunftwesen vergleicht. Dieser von Diogenes von Sinope8 und der antiken Stoa begründeten philosophischen Tradition9 zufolge ist der Mensch ein κοσμοπολίτης (Diogenes) oder auch ein cives mun­ danus,10 insofern er sich über seine Bürgerschaft in seinem eigenen Staate 7 Cicero, Tusculanae disputationes [Gespräche in Tusculum], übersetzt von Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart, Reclam, 1997, V, 108. »Als Sokrates gefragt wurde, was für ein Landsmann er sei, sagte er: Ein Weltbürger (mundanus).« 8 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt von Otto Apelt, Hamburg, Felix Meiner, 2015, VI, 3. 9 Vgl. in der reichen Literatur zum antiken Kosmopolitismus, insbesondere Malcolm Schofield, The Stoic Idea of the City, Chicago, University of Chicago Press, 1999 ; Katja Maria Vogt, Law, Reason and the Cosmic City, Oxford University Press, 2008 ; Jula Wildberger, The Stoics and the State. Theory – Practice – Context, Baden-Baden, Nomos, 2018. 10 Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum [Über das höchste Gut und das höchste Übel], übersetzt und hg. v. Harald Merklin, Stuttgart, Reclam, 2003, III, 63: »Die Welt wird nach Meinung der Stoiker vom Walten der Götter gelenkt ; sie ist sozusagen eine politi-



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hinaus auch als der Welt als einem Vernunftstaat zugehörig sehen kann.11 Entweder kann er sich diese Welt als eine imaginäre Welt denken und sie der irdischen entgegenstellen.12 Oder aber er verzichtet auf einen solchen Weltendualismus und begreift diese irdische Welt, die er hier und jetzt bewohnt, selbst als ein solches politisches Gemeinwesen und als einen solchen Vernunftstaat. Dieser letzten, radikalsten Auslegung zufolge ist der κόσμος eine πόλις oder wie eine πόλις: eine Wohnstätte, ein Gemein- und Gesetzeswesen. Wie Cicero es formuliert,13 der diese Auslegung vielleicht in größter Ausführlichkeit entwickelt, ist ein solches Welthaus zwar kein »mit Mauern umgebener Ort« – sondern ein räumlich und zeitlich unendlicher Ort, den Himmel, die Erde, die Meere umfassend. Es ist auch nicht den Zwecken aller Menschen unbedingt ganz angepasst. Es ist aber dennoch ein den Bedürfnissen und Zwecken aller Vernunftwesen, Menschen und Götter umfassend, angemessenes Habitat, der diesen ein Heim, eine Wohnung und einen Lebensraum bietet. Der Geist erlange Selbsterkenntnis dadurch, dass er sich über den Anblick der Welt und der Natur in ihrer »Herrlichkeit« zur Einsicht in seine Weltbürgerschaft in der Welt erhebe: Denn was kann Heiligeres genannt oder gedacht werden als ein Geist, welcher die Tugenden kennet […] Wenn eben dieser Geist den Himmel, die Erde, das Meer und die Natur aller Dinge hat kennen lernen: ferner, woher sie entstanden, wo sie wieder hineilen, wenn und wie ihr Ende sein werde, was in ihnen sterblich und vergänglich, was göttlich und ewig sey ; wenn er den, der alles verwalsche und staatliche Gemeinschaft von Menschen und Göttern (quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum), und ein jeder von uns ist Teil dieser Welt.« 11 Diogenes von Sinope sagt bekanntlich von sich, er sei »der Vaterstadt, dem Haus, der lieben Heimat fern, Ein Bettler, Flüchtling, kämpfend um sein täglich Brot«. Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VI, 38. 12 Dem Zeugnis Plutarchs zufolge entwirft Zenon in der frühen Stoa erstmals ein solches Staatswesen in seinen Grundzügen. Er skizziert hier eine Πολιτεία, die alle Vernunftwesen in einem Staat vereinigt. Diese zweite, traumgleiche Welt bietet den Menschen ihr eigentliches Zuhause, insofern die Vernunft sie alle vereint und ihr gemeinsames Gesetz darstellt. Weltbürger ist diesem Modell zufolge, wer vermag, über seine Vernunft Einsicht in seine Zugehörigkeit zu diesem höheren Weltstaat zu erhalten. In gewissen Zügen ähnelt diese Vorstellung einem religiösen Zweiweltendualismus, aber sie legt den Schwerpunkt auf die Vernunft als Prinzip des Zusammenhalts. Plutarch, De Alexandri magni fortuna aut virtute, 329 a. 13 Cicero, der sich seinerseits eher auf die mittlere Stoa beruft bzw. einen gewissen akademischen Skeptizismus vertritt, entwickelt dieses Modell in De natura deorum: Unsere Welt selbst kann als ein Habitat oder ein Wohnsitz (sedes, domicilius), ein Heim oder Haus (domus) des Menschen und eine Stadt (urbs) ohne Mauern betrachtet werden. Zu diesen begrifflichen Unterscheidungen vgl. wiederum Wildberger, The Stoics and the State, Kapitel 1.

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tet und regieret so zu reden mit Händen greifet ; wenn er sich vor keinen Bürger eines besondern mit Mauren umgebenen Ortes hält, sondern vor einen Bürger der ganzen Welt, die er als eine Stadt betrachtet: Ihr Götter, welche Erkenntnis seiner selbst wird er da, nach dem Rathe des Pythischen Apollo, erlangen, mitten unter dieser Herrlichkeit aller Dinge, und durch diesen Anblick der Natur und ihre Betrachtung !14

Dieser antike Kosmopolitismus nun erlebt im frühen achtzehnten Jahrhundert eine Wiedergeburt unter neuen wissenschaftlichen Vorzeichen. So vollzieht Wolff in seiner Schrift Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (Deutsche Teleologie) aus dem Jahre 1724 eine bewusste und direkte Rückkehr zu dem antiken Vergleich. Selbst Begründer einer neuen metaphysischen Disziplin, der Kosmologie, skizziert Wolff einen ganz neuen und noch unerkannten Weltbegriff und Kosmopolitismus.15 Er schreibt ausdrücklich, Gott habe »die Erde dazu gemacht ; dass sie bewohnet würde, auch sie deswegen so zugerichtet, dass sie zu einer Wohnung für Menschen und Tiere geschicket wäre«.16 Dieser Gedanke der Welt als Haus und Habitat beinhaltet dessen zweckmäßige Einrichtung für das Vernunftwesen Mensch. Gott hat »dem Menschen alles das bereit gestellt, was ihm »zur Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erlangung der Wissenschaft und Kunst«17 und zur Erfüllung seiner Pflichten dienen kann. Dies gelte selbst für die Sonne, die Fixsterne und alle Planeten und Erd-Kugeln, die auch vom Schöpfer »zu dergleichen Wohnungen« für vernünftige Wesen zubereitet seien.18 Aus dieser Stellung des Menschen als Vernunftwesen lässt sich offenbar auch ein ganz neuer Status als rechtmäßiger Erdbewohner, Erdbürger und Haushälter in einer schon als Wohnort und -haus konzipierten Welt ableiten. Hier erhält der Mensch einen neuen Status als Vernunftwesen, als welches er sich zu einer bestimmten theoretischen oder zumindest ästhetischen Einsicht in die Zweckmäßigkeit des Ganzen (der ganzen Erde und des ganzen Universums) aufschwingen kann und einsehen kann, dass es ihm praktisch 14 Cicero, De legibus [Drey Bücher von den besten Gesetzen], übers. v. Johan Michael Heinze, Göttingen, 1788, I, 61. 15 Francis Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung, I. B., S. 132–216 ; Frank Grunert, »Vollkommenheit als politische Norm: zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754)«, in: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland, hg. v. Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler, Darmstadt, Verlag Philipp von Zabern, 2011, S. 164–184. 16 Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (Deutsche Teleologie), Frankfurt und Leipzig, 2te Aufl., 1726, § 66. 17 Ebd., § 66. 18 Ebd., § 67.



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aufgegeben ist, in diesem Ganzen seine Rolle zu spielen und die Natur mitzuvollenden. Aus dieser Einsicht in die Zweckmäßigkeit der Welt und die eigene Aufgabe und Pflicht lassen sich hier wiederum bestimmte Vorrechte über die Schöpfung und das Tier herleiten, die der Mensch immer schon auch als ein gemeinschaftliches Eigentum (als res publicae in der wörtlichen Bedeutung) und als ein Mittel zu seinen Zwecken betrachten darf. In den Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts entwickelt Wolff in diesem Sinne die Fiktion einer Gemeinschaft der ersten Zeit (communio primaeva), in der die Menschen einerlei Recht zum notwendigen Gebrauch der natürlichen Sachen besaßen.19 Dazu gehört sowohl das »Recht [,] Wild, Fische, Vögel zu fangen, Früchte abzubrechen Holz zu fällen«, als auch das Recht, sich an »einem Orte aufzuhalten, zu wohnen und durchzureisen.«20 Und von diesem Standpunkt aus gesehen kann Wolff seinerseits ganz wie Cicero dem Menschen die Stellung eines Zwecks und Selbstzwecks der Schöpfung einräumen, dem die Mitgeschöpfe als Mittel dienen dürfen. Damit verlieren die Tiere in diesem stoisch-kantischen Schema die Würde, die sie auf der klassisch-platonischen scala naturae noch besaßen. Dort hatten alle Geschöpfe Würde, insofern sie einen Rang in der ontologischen Ständegesellschaft einnahmen und ihre Rolle in der Schöpfung erfüllten, ob nun diese Erfüllung mit Bewusstsein verbunden war oder nicht. Bei Wolff zeichnet sich alsbald eine ganz neue stoische Opposition ab, der zufolge die Würde den vernünftigen Haus- und Weltbewohnern und Stiftern der Weltordnung vorbehalten ist. Menschen gehören als Vernunftwesen, Personen und Selbstzwecke diesem neuen als res publica konzipierten Weltstaat an, und sie nehmen zugleich in einer weiteren, größeren Stufenordnung eine Stufe ein, in denen sie den Tieren als Sachen und Mittel gegenüberstehen. Man kann in Wolffs Augen vernünftigerweise annehmen, dass dem Menschen Gewächse und Tiere zum Nutzen und zur Nahrung erschaffen seien. Mögliche Einwürfe widerlegt Wolff mit dem Hinweis, dass sich dieser Gebrauch und dieses Vorrecht des Menschen daraus erkläre, dass er den göttlichen Absichten mit den Tieren selbst entspreche:

19 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 183 ff., hier § 188: »In der Gemeinschaft der ersten Zeit kann man also bey Vervielfältigung der Sachen, die durch Fleiss und Kunst hervorgebracht werden, keine andere Absicht haben, als den gemeinschaftlichen Gebrauch von allen zu befördern ; und folglich müssen die durch Fleiss und Kunst hervorgebrachten Sachen nicht weniger, als die natürlichen gemeinschaftlich seyn.« 20 Ebd., §§ 189–190.

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Die Einwürfe, welche einige daher machen, dass die Thiere Gottes Werk wären, einem anderen aber nicht frei stehe, eines Künstlers Werck zu verwüsten, reimet sich nicht hierher. Denn wenn der Mensch sich von den Tieren nähret, so verwüstet er nicht das Werck Gottes, sondern er gebraucht es dazu, wozu es von Gott gemachet worden.21

Man beachte aber auch, neben diesen »klassischen« Grundzügen von Wolffs Kosmopolitismus, seine innovativen Elemente. So besitzt dieser, wie schon erwähnt, eine unbestreitbare theologische Dimension. Über die Betrachtung und das Studium der Welt erhebt sich der Mensch zu Gott. Diese Welt ist ein Spiegel Gottes und kann als eine »Leiter« dienen, auf der er zu Gott hinaufsteigen kann und »ihn sehen, wie er ist, nemlich als ein Wesen von unumschränkter Freyheit, von unendlicher Erkäntnis, von der höchsten Weisheit von der größten Macht, von unaussprechlicher Güte, von der strengsten Gerechtigkeit«.22 Diese theologische Perspektive entspricht zugleich einer modernen naturphilosophischen und antifinalistischen, insofern sie den unüberwindlichen Abstand zwischen dem Menschen und seinem Schöpfergott betont. Der Mensch darf sich nicht anmaßen wollen, sich an die Stelle des göttlichen Architekten zu versetzen. Er darf nicht vorab annehmen, dass die Welt schon zu seinen Zwecken und als ein Wohnhaus für ihn gebaut worden sei, um von dieser Grundannahme her die Welt zu erklären und Zweckursachen als physikalische Erklärungsmuster zu benutzen. Dies wiederum bedeutet, dass Wolff gerade nicht das antike teleologische Modell übernimmt, dessen »kindische« Kleinheit er kritisiert. Die Alten haben von der Größe des Welt-Gebäudes ganz kindische Gedanken gehabt, indem sie sich dasselbe so klein eingebildet, dass es der unendlichen Vollkommenheit Gottes gar nicht gemäß gewesen. Sie bildeten sich ein, die Erde wäre das einige Wohnhaus, der zu gefallen alle das übrige wäre gemacht worden. Diese läge mitten in der Welt und bis an die Fixsterne wäre es nicht weiter selbst nach Tychonis de Brahe, der es mit den Alten gehalten, Rechnung als 14000. halbe Erd-Diameter, oder 12040000. deutsche Meilen […]23

Wie Wolff herausstellt, haben Naturphilosophen wie Kopernikus, Kepler und Newton durch ihre Verbannung der Zweckursachen aus der Physik gezeigt, dass die Welt nicht mit menschlichen Maßstäben denkbar und nicht zu seinen Zwecken gebildet ist. Die alte, falsche und anthropo- und geozentristische Auffassung, die im Menschen das Maß der Welt sieht, sei einem Mangel an 21

Deutsche Teleologie, § 235. Ebd., Vorrede. 23 Ebd., § 35. 22



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Observationen und vor allem einer »vorgefasten Meinung« von dem Weltbaue entsprungen. Zu seinen Zeiten habe sich die Naturphilosophie von diesen Hindernissen und Vorurteilen befreit und die »erstaunende Größe der Welt besser ein[zu]sehen« gelernt. Marius und Galiläus haben Ferngläser zur Betrachtung des Himmels angewandt, Kepler hat die Bewegungsgesetze der Planeten entdeckt und Newton hat »demonstriret, wie sie mit der Bahn, darinnen sie sich bewegen übereinstimmen«. Bernouilli, Huygens und Dominicus Cassini haben diese Einsichten vertieft ; die Physikotheologen Derham, Boyle, Clarke und Cotton Mather haben ihrerseits durch die Bildung »anständigerer« Gedanken dieser Größe zur Beförderung der Ehre Gottes beigetragen.24 Letzteres wiederum deutet darauf hin, dass die Einsichten in die erhabene oder gar »entsetzliche«25, da die eigenen Maßstäbe verrückende Größe des Weltgebäudes noch nicht das alte Modell überhaupt widerlegt. Wolff zufolge lässt es sich durchaus modernen teleologischen und wissenschaftlichen Ansprüchen gemäß verstehen und revidieren. Und aus dieser Perspektive stellt sich sein Kosmopolitismus als tief und konsequent dar. Denn Wolff scheint nicht nur argumentieren zu wollen, dass diese Zweckhaftigkeit der Welt eine empirisch zugängliche sei und einer täglichen Erfahrung entspreche.26 Sie ist in seinen Augen gerade ein nützliches heuristisches Prinzip, das uns, wenn richtig angewandt, ermöglicht, über diese tägliche Erfahrung hinauszugehen und die Welt und Natur besser zu verstehen. Dazu aber muss diese Zweckhaftigkeit holistisch in Bezug auf das Weltgebäude in seiner Ganzheit und als solche als vereinbar mit den modernen physikalischen Bewegungsgesetzen gedacht werden.27 Diesem Studium könne ein neuer »noch namenloser Teil der Physik« dienen, der »von größter Bedeutung und größtem Nutzen sei« und den Wolff »Teleologie« nennt.28 Zur Ausarbeitung dieses teleologischen Kosmopolitismus vertieft Wolff den Vergleich der Welt mit einem zweckmäßigen Gebäude und seines Schöpfers als des »einigen und wahren« göttlichen Erfinders29, Messkünstlers und Architekten.30 Dieser Rückgriff auf die Architektur ermöglicht nun 24

Ebd., § 36. Ebd., § 38. 26 Ebd., § 66. 27 Zu Wolffs Teleologie vgl. meinen Aufsatz »Die Teleologie zwischen Physik und Theologie«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, n° 23, 2011, Thema: die Natürliche Theologie bei Christian Wolff, hg. v. Michael Albrecht, S. 163–174. 28 Wolff, Discursus praeliminaris, § 85. 29 Wolff, Deutsche Metaphysik, § 99. 30 Schon früh befasst sich Wolff mit der Geschichte und Theorie der Architektur und mit dem großen antiken Theoretiker Vitruvius. Er widmet der Geschichte der Architek25

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eine Unterscheidung zwischen der Ordnung, Schönheit, Harmonie für uns Menschen, die wir das göttliche Weltgebäude betrachten und bewundern, und der Vollkommenheit an sich.31 Uns Menschen ist nur eine partielle Einsicht in diese göttliche Vollkommenheit gewährt, die das Weltgebäude in seiner Ganzheit und als Zweck-Mittel-Verknüpfung charakterisiert.32 Denn wer die Vollkommenheit des Weltgebäudes an sich, in seiner Größe, Vielfalt, Unermesslichkeit übersehen wollte, müsste jenen finalen Zusammenhang und jene Verknüpfung von besonderen Absichten und Hauptabsichten, von Mitteln und Zwecken deutlich übersehen können, der dem Plan des göttlichen Messkünstlers und Architekten entspricht. Diese Verknüpfung nun bleibt aus menschlicher Sicht und gegenwärtiger Betrachtung des Weltgebäudes notwendig unergründlich und Gottes Macht unermesslich. Der Mensch darf sich deshalb nicht anmaßen wollen, sich selbst zu der Position des göttlichen Baumeisters aufzuschwingen. Aber wenn wir uns eingestehen müssen, »dass Gott nicht alles in der Welt blos um uns zu gefallen gemacht hat«33, wie es sich noch die antiken Naturphilosophen haben einreden können, »so lange man die Anzahl der Welt=Cörper nicht erkandt, und einen gar engen Begriff von dem Weltgebäude gehabt«,34 so sind wir zumindest berechtigt, nicht auszuschließen, dass er das Weltgebäude – die Planeten, weit entfernt funkelnde Sterne, WeltKörper, von denen wir nicht einmal wissen, dass sie in der Welt anzutreffen sind – auch um uns zu gefallen geschaffen hat. Gerade weil Gott gewollt habe, tur einen kurzen Aufsatz und beschäftigt sich in den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften ausführlich mit der »Bau-Kunst« als angewandte Mathematik. Vgl. Von Geschichten der Baukunst, (1752) in: Kleine Schriften, Halle, 1755, in: ders., Gesammelte Werke, Hildesheim, Olms, 1983, I, 22, S. 150–166. Wolff, Anfangs-Gründe der Bau-Kunst, in: Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, hg. v. J. E. Hoffmann, Gesammelte Werke, I.12–15, Hildesheim, Olms, 1999 (1750–1757). Im Ausgang von den von Vitruvius in De Architectura dargelegten Prinzipien korrigiert Wolff bestimmte cartesianische Prämissen der mathematischen Methode, die von einer falschen Lesart des Euclides zeugen. Die Mathematik muss einschließlich der Baukunst und ihrer angewandten Zweige als ein System gedacht werden können, welches in Erfahrungsbegriffen und den Regeln einer Kunst (ars) gründet, das sich allmählich zu einer Wissenschaft (scientia) entwickelt. »Die Baukunst ist eine Wissenschaft, ein Gebäude recht anzugeben, daß es nämlich mit den Hauptabsichten des Bauherrn in allem völlig überein kommt.« Ebd., Vorrede, S. 6. 31 Ebd., 1. Teil, 1. Erklärung. »Es ist nicht »alles gleich vollkommen, was ordentlich ist. Denn z. E. es können die Fenstern und Thüren in einem Gebäude nach den Regeln der Wohlgereimtheit eingerichtet seyn. Da nun die Wohlgereimtheit in einer Ähnlichkeit derselben und ihrer Lage sich gründet, [§ 26 Arch.], so sind sie ordentlich, ohne aber noch vollkommen zu sein«, Ebd., 2.–6. Erklärung. 32 Deutsche Metaphysik, § 720 ff. 33 Deutsche Teleologie, § 28. 34 Ebd.



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dass man die Größe seiner Kunst aus seinem Werk entnehmen solle, hat er sie sogar vermutlich »in Ansehung seiner Selbst« von einer »so erstaunenden Größe gemacht. Kraft seiner Übersicht über das Ganze seines Werkes ist er »in dem Stande zu urtheilen, daß er alles auf das beste und prächtigste gemacht und findet darinnen sein Wohlgefallen.«35 Anders ausgedrückt: Obwohl der Mensch niemals eine vollkommene Erkenntnis dieses unermesslichen Weltgebäudes erringen kann, darf er dennoch auf die Position des ästhetischen Betrachters und Verehrers von dessen erhabener Schönheit Anspruch erheben. Er befindet sich schon an jenem richtigen Platz und Standort, der es ihm erlaubt, sein Vernunftvermögen beständig weiter zu vervollkommnen und seine Kenntnis der Welt zu vertiefen. Seine teleologische Perspektive auf die Zweckmäßigkeit der Welt gibt ihm eine fruchtbare heuristische Methode für die Wissenschaften an die Hand, die sich von der Physikotheologie in dem flachen und unwissenschaftlichen Stile, wie sie in Halle von Wolffs Gegnern Johann Joachim Lange und Johann Franz Budde betrieben wurde, klar unterscheidet. Indem diese verbesserte teleologische und physikotheologische Methode die Naturgesetze nicht direkt aus der Erkenntnis der wesentlichen Eigenschaften der Körper ableitet, sondern unter Berücksichtigung der mechanischen Bewegungsgesetze bloß aufzeigt, was der Notwendigkeit entgeht und wo die Zufälligkeiten liegen müssen, verfolgt sie direkt nur ein negatives Ziel. Sie enthüllt noch nicht die Natur einzelner Zweckursachen, sondern lediglich eine alle mechanische Ordnung übersteigende Harmonie, Vollkommenheit und Schönheit des göttlichen Weltgebäudes in ihrer Möglichkeit. Soweit zu der neuen wissenschaftlichen und heuristischen Dimension von Wolffs Kosmopolitismus. Außerdem entwickelt Wolff aber auch dessen populäre und praktische Dimension in eine neue Richtung. Denn indem Gott den Menschen Einsicht in das Naturgesetz verleiht, überträgt er ihnen auch die Aufgabe, den politischen Zusammenhalt der Menschheit selbst herzustellen. Gerade die Vorstellung der Welt in ihrer Zweckmäßigkeit ist es, die »unsere Erkäntnis lebendig«36 macht und zur Handlung motiviert. Sie erleichtert »die Ausübung der Tugend und Unterlassung der Laster« und erhöht die menschliche Glück­ seligkeit. Dies wiederum befähigt die Menschen, die natürlichen Dingen nach ihrem Gefallen zu verrichten und zu beherrschen, und die Künste zu vervollkommnen.37 Damit erlaubt sie ihnen die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen und politischen Bestimmung. 35

Ebd., § 76. Deutsche Teleologie, § 6. 37 Ebd., § 4 ff. 36

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Hier liegt die Sprengkraft von Wolffs philosophia practica universalis und von seinem Natur- und Völkerrecht. Letzteres wirkt zwar auf den ersten Blick altertümlich und bleibt einer gewissen obrigkeitsstaatlichen deutschen Tradition noch verpflichtet, denn es beruht auf der Fiktion eines Gesellschaftsvertrags, in dem die Untertanen alle Rechte und Initiativen um ihre eigene Vervollkommnung und Freiheit ziemlich vollständig an die staatliche Obrigkeit übertragen.38 Dasselbe Naturrecht birgt aber daneben zentrale Elemente für einen modernen Kosmopolitismus. Denn Wolff schreibt, die Natur selbst »habe eine Gesellschaft gestiftet, in welche sie wegen der unwiderruflichen Notwendigkeit der natürlichen Verbindlichkeit willigen müssen«. Diese setze sich aus allen einzelnen Völkern und aus der ganzen Menschheit zusammen und formiere den »größesten Staat« (civitas maxima), in dem eine allgemeine Herrschaft und ein universelles Recht aller Menschen herrscht, welche zugleich eine allgemeine Verbindlichkeit darstellen. Der contractus originarius gilt auch ohne Gott.39 Hier sei der ganze Paragraph zitiert: Weil die Völker schuldig sind sich und ihren Zustand mit vereinigten Kräften vollkommener zu machen […], so hat die Natur selbst unter den Völkern eine Gesellschaft gestiftet, in welche sie wegen der unwiderruflichen Nothwendigkeit der natürlichen Verbindlichkeit willigen müssen […], so, dass es scheint, als wenn sie durch einen eigenen Vertrag zuwege gebracht wäre […], Und diese Gesellschaft, so der gemeinsamen Wohlfahrt wegen errichtet ist, wird der größeste Staat (civitas maxima) genennet, dessen Glieder, so zu reden als Bürger die einzelnen Völker sind. Daraus entspringt nun ein Recht, welches allen über alle einzelne Völker zukommt, welches man die allgemeine Herrschaft, oder die Herrschaft der Völker (imperium universale sive gentium) nennen könnte, nach welchem man nemlich um der gemeinen Wohlfahrt willen die Handlungen derer einzelnen bestimmen, und sie zwingen kann, dass sie ihrer Verbindlichkeit ein Genüge leisten.40

Diese Elemente sollen ausreichen, um einen Eindruck von der Innovationskraft von Wolffs Kosmopolitismus in seiner modernen heuristischen, aber auch praktischen Dimension zu vermitteln.

38

Vgl. Grunert, Vollkommenheit als politische Norm. Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung, S. 197. Zu Wolffs Modernität und den Parallelen zwischen den Voraussetzungen von Wolff und Rawls vgl. auch insbesondere 204 ff. 40 Vgl. Wolff, Naturrecht, § 1090. Von dem willkührlichen Rechte der Völker. 39



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Weltgebäude, Ruinen und Erdbeben: der frühe Kant

Offensichtlich üben Wolffs kosmopolitische Impulse von Anfang an einen stärkeren Einfluss auf Kant aus als die physikotheologischen. So zeugen schon Kants frühe anthropologische Aufsätze der 1750er Jahre sowohl von klassischen stoischen und kosmopolitischen Grundüberzeugungen als auch vom nachhaltigen Einfluss der von Wolff vorgeschlagenen teleologischen und mit der neueren Naturphilosophie vereinbaren Variante. In Kants Kosmogonie, wie er sie in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 skizziert, stellt sich die Welt zwar nicht direkt der Vernunft als ein Weltgebäude dar. Ja, in dieser neu historisch konzipierten Geschichte der Welt und Natur aus dem Chaos muss man sich vorstellen können, dass Heere von Welten und »Weltgebäude« verfallen, vergehen und aufeinander abfolgen. Wir leben in den Ruinen einer zerstörten Welt, deren Ordnung, Zusammenhang und Gesetz unsere Erkenntnis übersteigen. Dennoch kann man eine solche Austeilung des Grundstoffes denken, der einen wahren Mittel- und Senkungspunkt der gesamten Natur setzt, »wodurch alle Welten nur ein einziges Gebäude ausmachen«.41 In dieser Welt nimmt der Mensch außerdem schon einen bestimmten »treflichen« oder seinen Vermögen angemessenen Platz und Standort ein. Zwar werden die Kräfte der menschlichen Seele von der »Unbiegsamkeit der Fasern, Grobheit des Stoffes und des Gewebes«42 , d. h. den »Hindernissen einer groben Materie, an die sie innigst gebunden werden, in dem Baue der Natur eingeschränket und gehemmet«43. Diese Hindernisse scheinen aber ihrer Vervollkommnung keinen Abbruch zu tun. Kant äußert deshalb die wahrscheinliche Vermutung, daß die Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, samt dem Vermögen sie zusammenzusetzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausführung, kurz der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit unter einer gewissen Regel stehen, nach welcher dieselben, nach dem Verhältnis des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne, immer treflicher und vollkommener werden.44

Diese Vermutung wiederum veranlasst Kant, der die Schrift mit Zitaten aus der physikotheologischen Dichtung Hallers und Popes schmückt, zu der poetischen Vorstellung und wahrscheinlichen Hypothese einer die unendliche 41

Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA Bd. I, S. 316. Ebd., S. 356. 43 Ebd., S. 357. 44 Ebd., S. 359. 42

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Vielzahl der Planeten bevölkernden Wesen, auf der die menschliche Natur »gleichsam die mittelste Sprosse inne habe, und zwischen den zwei äußersten Grenzen der Vollkommenheit gespannt sei, von deren beiden Enden sie gleich weit entfernt sei«.45 Hier bewohnen die »erhabensten Klassen vernünftiger Kreaturen den Jupiter oder den Saturn«, die niedrigsten »den Planeten Venus und Merkur«. In diesem poetisch-hypothetischen Kontext zitiert Kant aus Popes Essay on Man: Welche eine Kette, die von Gott den Anfang nimmt, was vor Naturen Von himmlischen und irdischen, von Engeln, Menschen bis zum Vieh, Vom Seraphim bis zum Gewürm. O Weite, die das Auge nie Erreichen und betrachten kann ! Von dem Unendlichen zu dir, von dir zum Nichts !46

In den frühen Aufsätzen in den Königsbergischen wöchentlichen Frag- und Anzeigungs-Nachrichten von 1755 und 1756 zieht Kant aus diesen physikalischen und geologischen Überlegungen außerdem neue praktische Konsequenzen. Anlass dieser Aufsätze ist das große Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Diese Katastrophe hatte niemand kommen sehen. Kant zufolge können die Menschen aber lernen, die Gesetzmäßigkeiten der Natur und Geologie so weit zu durchdringen, dass sie eine gewisse Voraussicht erwerben und zukünftige Katastrophen vermeiden können. Das Studium der geologischen Gesetzmäßigkeiten kann ihnen zeigen, welche präventiven Maßnahmen sie ergreifen können, um Schäden vorbeugend abzuwenden: zwar kann man sich von dem »inwendigen Bau des großen Klumpens, den wir bewohnen«47, keine deutlichen Kenntnisse verschaffen. Fest steht aber, dass »die Erdbeben gemeinglich den Strich der höchsten Gebirge halten«, weil sie »in den Bergen einen natürlichen Ausgang für das unterirdische Feuer« suchen: und dass die Richtung dieser Höhlen den Gebirgen und durch einen natürlichen Zusammenhang auch den großen Flüssen parallel ist. Diese Gesetzmäßigkeit entspringt nicht der »Speculation«, sondern der Erfahrung, und ist durch eine große Anzahl von Berichten – Kant zitiert Raj, Buffon und Gentil – bestätigt. Feuerspeiende Schlünde – Vulkane – brechen niemals in der Ebene, sondern immer nur im Gebirge aus. 45

Ebd. Ebd., S. 365. 47 Kant, Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres, AA Bd. I, S. 431–461, hier S. 432. 46



Kants Kosmopolitismus

Es läßt sich leicht rathen: daß, wenn Menschen auf einem Grunde baün, der mit entzündbaren Materien angefüllt ist, über kurz oder lang die ganze Pracht ihrer Gebäude durch Erschütterungen über den Haufen fallen könne: aber muß man denn darum über die Wege der Vorsehung ungeduldig werden ?48

Und Kant beschließt seine Ausführungen mit dem Satz: »Der Mensch muss sich in die Natur schicken lernen, aber er will, dass sie sich in ihn schicken soll.«49 Erdbeben geschehen: War es aber »nötig, dass wir prächtige Wohnplätze darüber erbauten ?« Wir sollten uns vielmehr ein Beispiel an den Einwohnern Perus nehmen, die ihre Häuser in geringer Höhe und fast ausschließlich aus Rohr bauen. In diesen Überlegungen sind Kosmogonie und Anthropologie eng verbunden, und der Mensch wird bereits in ein »pragmatisches« oder praktisch-technisches Verhältnis zu seiner Welt gestellt, die er kraft seiner Vernunft zu seinen Zwecken einzurichten aufgerufen ist.50 Diese Vernunft wird dabei schon als ein immanentes Vermögen der vorausschauenden Einsicht in die Zwecke dieser irdischen Welt gedacht, ohne dass es Sinn ergeben würde, sie auf eine separate zukünftige und höhere Welt zu beziehen. Man muss und kann es lernen, sich in dieser Welt als in seiner Wohnstätte einzurichten. Das gleiche allgemeine stoische und weltbürgerliche Grundmuster ist auch schon in den frühen Vorlesungen zur Physischen Geographie von 1757/59 präsent. Man beachte, dass diese Vorlesungen, ganz wie die Vorlesungen zur Anthropologie, in Kants philosophischer Laufbahn einen gewissen Raum einnehmen. Kant hält sie bekanntlich zeit seiner akademischen Karriere – im Wechsel – in insgesamt über vierzig Vorlesungszyklen. Diese Vorlesungen enthalten neben den Beschreibungen der Besonderheiten der Erde, Tiere und Pflanzen auch stets Erklärungen zu ihrer praktischen Nützlichkeit oder Schädlichkeit. So heißt es von der Schildkröte, »ihr Fleisch ist köstlich«.51 Im Kapitel über »Fischereyen«52 werden die Methoden des Fischfangs erläutert. Hunde gehörten zu den Hausthieren, die auf die Zähmung durch den Menschen angewiesen sind.53 Auch Insekten und Bäume werden auf ihre Nütz48

Ebd., S. 456. Ebd. 50 Vgl. M. Immanuel Kants Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unsern Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen. 51 Vgl. die frühen Vorlesungen zur Physischen Geographie, Diktattext Ms. Holstein [1757/59], http://kant.bbaw.de/base.htm/ge_4 fr20.htm, abgerufen am 28. 8. 2020, P 168. 52 Ebd., P 176. 53 Ebd., P 156: »Das Hundegeschlecht. Gleichwie der Mensch die Obst- und Pflanzenarten durch seine Wartung und Verpflegung sehr verändern kann: so hat er es auch mit 49

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lichkeit und Schädlichkeit für den Menschen hin betrachtet. Bäume können den Menschen Brot54, Wasser55, Baumwolle oder »Eisenholz« liefern, aus dem man »Anker und Schwerdter macht«.56 Im ersten Rassenaufsatz von 1775, Von den verschiedenen Rassen des Menschen, heißt es zudem bereits, der Mensch sei »für alle Klimaten und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt«.57 Offensichtlich ist dieses ganz neue, eher stoisch ausgerichtete weltbürgerliche Grundmuster schon in den fünfziger Jahren präsent und bleibt auch in den Folgejahren bis zur kritischen Wende bestehen. Es findet sich in den Vorlesungen zur Anthropologie, dem Mutmaßlichen Anfang von 178658, in der Kritik der Urteilskraft59, der Metaphysik der Sitten60 und der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.61 Aber in dieser Erweiterung des Wohnhausmodells auf das gesamte Planetensystem zeigt sich nicht nur eine allgemeine, eher stoisch denn platonisch ausgerichtete philosophische Grundposition. Von 1755 an ist auch schon der prägende Einfluss Wolffs ersichtlich. Dessen Philosophie birgt offensichtlich mehrere Deutungsmöglichkeiten, die Kants Vorgänger in der Bestimmungsdebatte nicht völlig erschöpft haben. In der Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 zeigt sich bereits, dass Kant sich seinerseits tiefer als seine Zeitgenossen einigen Hausthieren vornehmlich mit den Hunden so gemachet. Deshalb arten auch die zahmen Hunde aus, wenn sie wild herumlaufen.« 54 Ebd., P 196. 55 Ebd., P 199. 56 Ebd. 57 Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, AA Bd. II, S. 435. 58 In seinem Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte stellt Kant die Hypothese auf, der vierte und letzte Schritt in dieser Entwicklung, den »die den Menschen über die Gesellschaft mit Thieren gänzlich erhebende Vernunft [tut]«, sei gleichzeitig »mit der Entlassung desselben aus dem Mutterschooße der Natur verbunden«. Er besteht im noch dunklen Begreifen des Menschen, »er sei eigentlich der Zweck der Natur und nichts, was auf Erden lebt, könne hierin einen Mitwerber gegen ihn abgeben«, und seiner »Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Rang auch immer«. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AA Bd. VIII, S. 107 ff. 59 Kritik der Urteilkraft, § 82 ff. 60 Metaphysik der Sitten, § 17. Zu diesem Verhältnis von Mensch und Tier vgl. auch insbesondere Allen Wood und Onara O’Neill, »Kant on Duties regarding non-rational Nature«, in: Aristotelian Society Supplementary Volume n° 72, 1998, S. 211–228 ; Christine M. Korsgaard, Interacting with Animals: A Kantian Account, in: The Oxford Handbook of Animal Ethics, hg. v. Tom Beauchamp, Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 91–118. 61 Der Anthropologie zufolge erhebt sich der Mensch, da der Vorstellung des Ich fähig, »unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.« Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA Bd. VII, § 1, S. 127.



Kants Kosmopolitismus

mit Wolffs eigenem Kosmopolitismus auseinandersetzt und Wolffs naturphilosophische, mechanisch-teleologische und kosmopolitische Grundvoraussetzungen vollständiger übernimmt. In der Tat scheinen zahlreiche Elemente des wolffianischen Kosmopolitismus Kant anzuregen. In der Allgemeinen Naturgeschichte befasst Kant sich noch vor allem mit dessen wissenschaftlichen Vorteilen und der neuen Heuristik. In seiner detaillierten Kosmogonie setzt sich Kant das gleiche Ziel wie Wolff, nämlich Mechanik und Teleologie zu verbinden. Es gilt, die Bildung der Weltkörper selbst und den Ursprung ihrer Bewegungen aus dem ersten Zustande der Natur von mechanischen Gesetzen abzuleiten. Nicht an sich göttlich, enthält die Natur hier keinerlei Zwecke. Sie ist lediglich »blinde Mechanick« und durch ihre natürlichen Bewegungsgesetze von Attraktion und Repulsion »eingeschrenkt, auf keine andere als diese Weise zu wirken«: zugleich bringe die Materie »durch ihr natürliches Betragen, oder wenn man es so nennen will durch eine blinde Mechanick anständige Folgen hervor, die der Entwurf einer höchsten »Weisheit zu seyn scheinen.«62 Nur ergäben sich diese Folgen im Gegensatz zu den Behauptungen Epikurs »nicht durch ein bloßes Ungefehr«. Vielmehr sei auch die Materie an gewisse notwendige Gesetze gebunden. In diese Gesetzlichkeiten kann der Mensch Einsicht erhalten. Dieser ist zwar von einer gewissen »Trägheit der Fasern« gehemmt ; er ist aber zugleich mit jenen Vermögen ausgestattet, die seiner Wohnstätte und dessen Abstand von der Sonne angemessen sind und deshalb von einer gewissen »Treflichkeit« und seiner Stellung als »Meisterstück der Schöpfung«63 zeugen. Zwischen zwei Enden gespannt, kann der Mensch einen »Blick erhaschen« auf eine zugleich materiell verankerte und geistige unendliche Stufenordnung der Wesen und dadurch eine ihn erhebende Hoffnung aufs Künftige schöpfen.64 Das heißt, gerade indem jenes höhere Prinzip, das man Gott oder Natur nennen kann, zeigt, dass sich alles in der Natur nach mechanischen Prinzipien entwickelt, bedeutet es ihm, dass diese Mechanik der Natur die Erfüllung unserer eigenen Zwecke und völligen Auswickelung der in ihm verschlossenen Kräfte nicht ausschließt.65 Diese Überlegungen zu den Zwecken der Welt und der Verbindung von Mechanik und wolffianischer Teleologie bleiben in den 1750er Jahren noch skizzenhaft. Sie erhalten im Jahre 1763 in Der einzig mögliche Beweisgrund 62

Allgemeine Naturgeschichte, AA Bd. I, S. 225. Ebd., S. 318. 64 Ebd., S. 356. 65 Ebd. 63

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zu einer Demonstration des Daseins Gottes eine klarere Gestalt. Diese Schrift wurde bisher vor allem auf ihre metaphysischen, theologischen und ontologischen Thesen hin gelesen. Aber diese erhalten in dem hier skizzierten kosmopolitischen Kontext einen ganz anderen und tieferen Sinn. Denn in gewisser Hinsicht kreist auch diese Schrift um den Weltbegriff und die Zweckhaftigkeit des Weltgebäudes. Kant preist die »Zweckmäßigkeit«, »Ordnung«, »Wohlgereimtheit«, »Anständigkeit« und »Schicklichkeit«, die »die peinliche und erzwungene Kunst entbehrlich macht«66, und veranschaulicht diese Zweckmäßigkeit an den Wirkungen der Luft, den Bewegungen der Planeten und an der Zweckmäßigkeit der Geschöpfe des Pflanzen- und Tierreichs. An einer Stelle kennzeichnet er den Weltenschöpfer als göttlichen »Werkmeister«67, wenn er auch anmerkt, man dürfe nicht einem feineren Atheismus verfallen, Gott nur als Werkmeister und nicht als Schöpfer der Welt zu betrachten.68 In Einvernehmen mit Wolff stellt Kant zunächst den wissenschaftlichen Nutzen eines solchen teleologischen Kosmopolitismus heraus. Der Mensch vergleicht die Welt in ihrer Ganzheit mit einem Gebäude, um diese Welt besser verstehen und studieren zu können. Kant erinnert in diesem Kontext wieder an die schon 1755 erwähnten wichtigen Entdeckungen des Herrn Maupertuis, »die er in Ansehen der Wohlgereimtheit der notwendigsten und allgemeinsten Bewegungsgesetze gemacht hat« und die die vielfältigen Wirkungen der Materie »unter eine allgemeine Formel gebracht, die eine Beziehung auf Anständigkeit, Schönheit und Wohlgereimtheit ausdrückt69 und die Hypothese eines göttlichen Urwesens stützen könnte. Der wissenschaftliche und heuristische Nutzen der teleologischen Per­ spektive ist dann gewährleistet, wenn letztere, wie Wolff schon herausstellte, das Ganze der Natur oder die Vollkommenheit des Weltgebäudes betrifft: Ordnung, Zweckmäßigkeit und zugleich Fruchtbarkeit70 müssen aus den einfältigsten und allgemeinsten Naturgesetzen und aus der inneren Möglichkeit 66

Der einzig mögliche Beweisgrund, AA Bd. II, S. 96 f. Ebd., S. 123. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 98. Zu Kant und Maupertuis vgl. auch Tinca Prunea-Bretonnet, »From the Folds of the Rhino to the ›Hand of Nature: Maupertuis’s Essay on Cosmology and its Reception in the 1750ies«, in: Archivo di Filosofia. Archives of Philosophy. Questioni di Metafisica nel settecento tedesco, hg. v. Francesco Tommasi, Bd. 87, n° 1, 2019, S. 75–90. 70 Zum Begriff der Fruchtbarkeit bei Wolff selbst vgl. seinen Aufsatz De notionibus foecundis, in: Horae subsecivae Marburgensis, in: Gesammelte Werke, II, 34.2, Olms 1983, S. 105–165 und die deutsche Übersetzung in Gesammelte kleine philosophische Schriften, 21.2, S. 80–108 ; zur Fruchtbarkeit bei Baumgarten, Metaphysica, § 166. 67



Kants Kosmopolitismus

der Dinge abgeleitet werden.71 Die teleologische Perspektive muss, wie Kant im Einvernehmen mit Wolff herausstellt, mit der mechanischen Perspektive der Verknüpfung nach Naturgesetzen vereinbar sein. Kant unterstreicht außerdem die populären und praktischen Vorteile einer solchen Perspektive. Auch er sieht im Weltgebäude zunächst einen Gegenstand der Achtung und Verehrung. Dessen Betrachtung gewährt dem Menschen schon einen Zugang zum Göttlichen und erlaubt es ihm, sich Gottes Eigenschaften verständlich zu machen. Ganz wie Wolffs Schüler hebt auch Kant deshalb die populäre Dimension des physikotheologischen Beweises positiv hervor. Dieser biete den Vorteil, dass er allen Menschen gleicher­ maßen zugänglich sei. Er bewirke eine Überzeugung, die »überaus sinnlich und daher sehr lebhaft und einnehmend und dennoch auch dem allgemeinsten Verstand leicht und fasslich« sei. Er sei zudem »natürlicher« als alle anderen, »indem ein jeder ohne Zweifel von ihr zuerst« anfange, und schließlich, »weil sie einen sehr anschauenden Begriff von der hohen Weisheit, Vorsorge oder auch der Macht des anbetungswürdigen Wesens verschaffet, welcher die Seele füllet […].«72 Im Grunde korrigiert Kant nur zwei Punkte, nämlich Wolffs allzu theologische und dogmatische Auslegung des alten Modells. Kants Korrekturen: die Welt als Spiegel Gottes ?

Seine Kritik scheint dabei zunächst eine bestimmte Ambivalenz Wolffs und seiner Schüler zu betreffen. Aus Kants Sicht bleibt Wolff offensichtlich bestimmten Widersprüchen verhaftet und denkt den eigenen Kosmopolitismus noch nicht in aller möglicher Konsequenz. Auf der einen Seite bestimmt er die Vernunft als Vermögen theoretischer Einsicht und Grundlage menschlicher Selbsterkenntnis als Gottebenbildlichkeit. So prägt Wolff zunächst, wie schon erwähnt, den Gedanken aus, die Welt sei ein Spiegel Gottes und eine Leiter zu Gott. Er hält an der Idee fest, der Mensch könne und solle sich zu einer anschaulichen und bildlichen Einsicht in die eigene Göttlichkeit aufschwingen, und stellt seinen Kosmopolitismus in den Dienst einer solchen Theologie. Dass der Mensch sich über die Betrachtung der Welt zur Bewunderung und Erkenntnis Gottes erhebt, begründet eine Würde, die darin besteht, Gott zu erkennen und zu ehren. Denn er ist »auch die einige sichtbahre Creatur auf dem Erdboden dadurch Gott seine Haupt=Absicht erreichen kann, warum 71

72

Der einzig mögliche Beweisgrund, AA Bd. II, S. 126 f. Ebd., S. 117.

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er die Welt gemacht«, er ist das einzige Mittel, wodurch Gott die Hauptabsicht seiner Schöpfung erreichen und seine Herrlichkeit offenbaren kann. »Und demnach ist nicht zu zweiffeln, daß Gott den Menschen hauptsächlich dazu erschaffen, daß er ihn erkennen und als einen Gott ehren soll […]«.73 Und da diese Hauptabsicht darin liege, »dass er nemlich als ein Gott erkandt und verehret wird, so ist daraus klar dass ihn Gott um sein selbst willen gemacht«74 habe. Deshalb kann »seine Erkenntnis von seiner Ehren nicht abgesondert« werden75, wie Wolff schreibt. Damit einher geht der Gedanke von Vervollkommnung als einer fortgesetzten Entwicklung und Aussicht in ein offenes Künftige, die Wolffs Schüler in der Bestimmungs­debatte weiterentwickeln. Auf der anderen Seite aber führt Wolff selbst eine alternative kosmopolitische Tradition und Bestimmung von Vernunft als Zusammenhalt und Verständigung ein, die dieser religiösen Lesart zuwiderläuft, da sie gerade auf eine solche Transzendenz verzichtet. Dieser zweiten Perspektive zufolge muss alle theoretische Betrachtung der Welt und aus ihr zu schöpfende natürliche Religion auf das menschliche Handeln in dieser irdischen Welt hin gedacht werden. Beide Gedankenstränge und Vernunftbegriffe Wolffs scheinen im Übrigen relativ unverbunden nebeneinander zu bestehen, als sei Wolff sich seiner Widersprüche gar nicht bewusst. In Kants Augen aber scheinen diese Zweideutigkeiten eine tiefere Klärung zu erfordern. In einem ersten Schritt korrigiert er jene theologischen Prämissen von Wolffs Kosmopolitismus, die er als falsch oder widersprüchlich empfindet. Diese Korrektur steht im Mittelpunkt des Aufsatzes Vom einzigen möglichen Beweisgrund aus dem Jahre 1762/63, der in seiner siebten Betrachtung direkt an die Kosmogonie der Allgemeinen Naturgeschichte anknüpft. Kant beanstandet hier die übertriebene demonstrative Ambition aller Gottesbeweise, einschließlich des physikotheologischen und kosmologischen Beweises, der von der zufälligen Anordnung des Weltganzen auf das Dasein und die Beschaffenheit der obersten Ursache schließt. In gewisser Hinsicht wird diese Kritik von Wolffs Schülern zwar vorgedacht ; wie oben gezeigt, heben auch Spalding und Mendelssohn bereits den abstrakten und symbolischen Charakter dieser metaphysischen Gottesbeweise heraus und fordern eine neue Hierarchisierung und Anordnung der Gottesbeweise zugunsten des physikotheologischen Beweises. Letzterer sei die anschauliche Grundlage und Ergänzung der metaphysischen Beweise. 73

Wolff, Deutsche Teleologie, § 241. Ebd., § 242. 75 Ebd., § 241. 74



Kants Kosmopolitismus

Kant aber geht durch seine Aufgabe dieser letzten Annahme noch einen Schritt weiter. Indem er die grundlegende und ergänzende Funktion des physikotheologischen Beweises für die metaphysischen Beweise in Frage stellt, vollzieht er einen folgenschweren Bruch. In der Kritik der reinen Vernunft verfolgt er das gleiche Argument weiter. Hier schließt er nun ganz mit dem Gedanken ab, das eigene Selbst zeige sich schon in der Spiegelung einer göttlichen Substanz und bestehe in der anschaulichen Einsicht in die eigenen göttlichen Attribute Immaterialität, Unsterblichkeit oder Substantialität, Freiheit.76 Damit verabschiedet er sich endgültig von der Bestimmung der Würde als Gottebenbildlichkeit im klassischen Sinne als theoretische und anschauliche Einsicht in die eigenen göttlichen Attribute. Im Lichte eines wahren Kosmopolitismus gelesen erweist sich diese Bestimmung nicht nur als überflüssig, sondern sogar als falsch und gefährlich. Denn sie steht im Widerspruch zu der eigentlichen praktischen und politischen Bestimmung des Menschen und Weltbürgers. Genauer noch bedarf sie zumindest einer charakteristischen Umdeutung, insofern sie, um dieser praktischen Bestimmung des Menschen als Weltbürger halber, gerade den Anspruch auf ihre anschauliche und bildliche Dimension ablegen muss. Im Grunde kann man sich zwar die Welt teleologisch als eine höhere, von einem göttlichen Weltbaumeister geschaffene Zweckordnung und πόλις vorstellen. Diese »thetische« und theoretische Vorstellung ist dem Geist sogar natürlich und beansprucht, theoretisch gesehen, eine relative Priorität vor anderen philosophischen Modellen. Der Mensch ist so platziert, dass ihm die Einsicht in die Welt in ihrer Erhabenheit, Schönheit und Zweckmäßigkeit gewährt ist, die einer gewissen Vorstellung der eigenen Selbstbestimmung und Freiheit und den erforderlichen praktischen Vermögen zur Ausübung des eigenen Amtes und Entwicklung der eigenen Kraft entspricht. Dennoch aber ist eine Umkehrung der herkömmlichen Ordnung der Prioritäten zwischen theoretischer und praktischer Perspektive möglich und notwendig. In Kants Augen ist das eigentliche Selbst ein praktisches und politisches. Dem praktischen Selbstverständnis des Menschen als Bürger gebührt Vorrang vor dem theoretisch-ästhetischen Selbstverständnis als Betrachter bzw. muss alle theoretische Betrachtung auf die praktischen Zwecke hingedacht werden können. Wahre Selbsterkenntnis ist nicht über Gotteserkenntnis zu erhalten, sondern nur über die Erkenntnis der eigenen Würde als Mitglied dieser πόλις und politischen Gemeinschaft aller Menschen und Vernunftwesen.

76

Vgl. Kants Kritik an Mendelssohn in Kapitel 5.

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Was den eigenen »thetischen«, aus der Betrachtung der Welt geschöpften Vernunftbegriffen von Gott und der eigenen unsterblichen Seele deshalb alleine Wahrheit verleiht, ist die philosophische Reflexion auf ihre praktische Geltung. Wenn die »ganze Zurüstung der Vernunft auf die Frage Freiheit des Willens, Unsterblichkeit der Seele und Dasein Gottes gerichtet« ist, so haben diese »wieder ihre entferntere Absicht, nämlich was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist«.77 Diese theoretischen Vernunftbegriffe einer Zweckordnung, der zufolge alle Anordnung der Welt so anzusehen ist, »als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre«78, müssen systematisch auf die praktischen Begriffe des Menschen abgestimmt sein. Weil sie die Bedingungen für die eigene Tätigkeit in der Welt, die politische Verständigung und den Zusammenhalt zwischen Menschen sicherstellen, müssen sie als ein »Grundstein der Moral und Religion« gesehen werden können: Dass die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und damit unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt, das sind so viele Grundsteine der Moral und Religion.79

Diese Perspektive bringt einen besonderen Gottesbegriff mit sich und schließt die Vorstellung eines despotischen Oberherrn aus. Dessen Begründung kann außerdem nicht theoretischer, sondern muss letztendlich praktischer Natur sein. Dieser Gottesbegriff muss ein populäres und praktisches Interesse besitzen, den Erfordernissen eines von Menschen einzurichtenden Weltstaates und einer moralischen Notwendigkeit entsprechend. In diesem kosmologischen Zusammenhang kann schon die dritte Antinomie von Natur und Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft gelesen werden. Dieser Antinomie zufolge gehört der Mensch zwei Welten an und besitzt einen »empirischen« und einen »intelligiblen Charakter« (hier verstanden als ein zweifaches Prinzip der Kausalität), insofern er zweierlei Perspektiven auf die Welt werfen kann.80 Der Mensch kann sich nun dadurch als ein 77

Kritik der reinen Vernunft, B 829. Ebd., B 715. 79 Ebd., B 494. 80 Wenn der »Charakter« allgemein das »Gesetz einer Kausalität ist, ohne welche [eine wirkende Ursache] […] nicht Ursache sein würde«, so kann er sich selbst nach zweierlei Perspektiven betrachten. Der »empirische Charakter« eines Subjektes der Sinnenwelt ist derjenige, »wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit 78



Kants Kosmopolitismus

intelligibles Selbst erkennen, dass er Einsicht in sein eigenes Naturich erhält und zugleich in die Notwendigkeit einer Gesetzmäßigkeit, die der Naturnotwendigkeit entgegengesetzt ist. Seine Freiheit ist der dritten Antinomie zufolge gerade das, was sich durch die Unzulänglichkeit des Mechanismus der Naturnotwendigkeit als eine alternative Form von Gesetz und kausaler Verknüpfung, als ein Sollen offenbart. In den späteren Schriften Idee zu einer allgemeinen Geschichte wird dieser Gedanke in größerer Komplexität und in der kosmogonischen, dynamischen und historiographischen Dimension einer Geschichte der Menschheit entwickelt, die bei Wolff noch fehlte. Weil die Natur gewollt hat, dass der Mensch »alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat«81, legt sie in der Ausstattung des Menschen eine besondere Sparsamkeit an den Tag, […] als wollte sie: der Mensch sollte, wenn er sich aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und (so viel auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor gearbeitet haben würde, hievon das Verdienst ganz allein haben und es sich selbst nur verdanken dürfen, gleich, als habe sie es mehr auf seine vernünftige Selbstschätzung als auf ein Wohlbefinden angelegt.82

Um dessen Zweck der Selbstbestimmung willen misst sie seine »tierische Ausstattung so knapp, so genau auf das höchste Bedürfnis seiner anfänglichen Existenz ab«. Die Natur zieht sich willentlich zurück, weil sie dem Menschen bedeuten möchte, dass er ganz im Gegenteil seine Bestimmung nur aus sich selbst heraus, aus jener eigenen Kraft, die er spontan aus sich selbst schöpfe, entwickeln soll. Sie will, »dass sie diesen [höchsten Zweck der Natur,] so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen sollte.« Mit dieser Revision von Wolffs Würdebegriff nun kommt Kant auf die ursprüngliche gesellschaftliche Bedeutung von Würde zurück. Diese kann nicht in einem von Gott dem Menschen zugedachten »Geburtsadel«, d. h. anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhang« stehen. Sein »intelligibler Charakter« ist »derjenige, dadurch es zwar Ursache der Handlungen als Erscheinung ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht (Charakter des Dinges in der Erscheinung, an sich)«. Kritik der reinen Vernunft B 566 ff., AA Bd. III, S. 366 ff. 81 Ebd. 82 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. VIII, S. 20.

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einer schon bestehenden Menschennatur oder in einem anschaulich zugänglichen göttlichen Wesen des Menschen bestehen. Vielmehr bedeutet dem Menschen die theoretische Betrachtung der Welt gerade, dass er jenen Standort einnimmt, der ihm die erforderlichen Mittel und Vermögen gewährt, um sein Amt in und für diese Welt wahrzunehmen. Eine solche Würde ist ein Status in der politischen Gesellschaft aller Vernunftwesen und Menschen, der sich in einem äußeren Titel und Charakter des Menschengeschlechts zu erkennen gibt, um den er sich verdient machen muss. Diese Würde geht mit Pflichten und Aufgaben einhergeht, die es zu erfüllen gilt. Der Mensch muss seine Distinktion oder seinen Verdienst in der Schöpfung aus eigener Kraft selbst hervorbringen können. Mit dieser Rückkehr zu dem gesellschaftlichen Würdebegriff nun vollzieht Kant eine folgenschwere Umdeutung. Einerseits hält er an der Metaphorizität dieses Begriffes fest, thematisiert sie als eine solche und entwickelt sie in einer modernen Variante. Während man sich die Welt vorstellen können muss, als ob sie ein göttliches und zweckmäßig angeordnetes Weltgebäude und eine Wohnstätte für den Menschen sei, muss man sich auch ins Bewusstsein rufen, dass es sich bei diesen Gedanken um nicht viel mehr als um eine Metapher83, um eine »spekulative« philosophische Hypothese unter anderen handelt. Um der Vorstellung der Freiheit willen, muss man sich die Natur/ Welt/Geschichte so vorstellen können, als ob eine zweckhafte Welt schon bestehe, um sie als eine solche hervorbringen zu können. Im Grunde entspricht dieser Als-ob-Modus eigentlich einem Als-ob-schon-Modus, in der die ideale Welt auch einem Endpunkt auf einer in unendliche Zeiten weisenden Zeitleiste entspricht. Andererseits aber kommt Kant insofern von der übertragenen auf die eigentliche Bedeutung von Menschenwürde zurück, als dass diese der praktischen Stellung als Bürger schon zugrunde liegen muss. Denn man muss annehmen können, dass gerade die eigene politische Bürgerwürde, die ein Mensch als Mitglied eines Staates besitze, schon eine höhere Vernunft- und Menschenwürde in sich birgt und dass der Begriff dieser höheren Würde und Pflicht ihm schon vor aller Erfahrung und unabhängig von seinem Blick auf die Welt zumindest undeutlich im Bewusstsein stehe. Daher ist jeder Staatsbürger schon ein Weltbürger. Seine Bürgerwürde ist auch eine Menschenwürde.

83 Diesen Punkt kehrt auch schon Cicero in seiner Schrift De natura deorum heraus. Hier stellt er den Skeptiker Cotta dem Dogmatiker Lucilius Balbus gegenüber.



Kants Kosmopolitismus

Kants Kritik an Wolffs Dogmatik

Mit dem ersten Einwand Kants, Wolff hänge einer allzu theologischen Vorstellung von Würde als Gottebenbildlichkeit an, hängt ein zweiter, eher methodologischer Kritikpunkt zusammen. In Kants Augen verfährt Wolff in seiner Philosophie allzu dogmatisch. Auch dieser Einwand ist als eine Berichtigung Wolffs zu verstehen, die der besseren Herausschälung des weltbürgerlichen Kerns dient. In Prinzip hält Kant an den methodisch-systematischen Prämissen des Wolffianismus fest.84 Diese bestehen in einer genuin wissenschaftlichen Anordnung der schulphilosophischen und metaphysischen Begriffe85, die der Metaphysik helfen soll, den Fußstapfen der Logik folgend, den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen. In diesem sehr weiten Sinne, Methode und Systematik umfassend, ist Kants Lobpreisung von Wolffs Modell der Gründlichkeit zu verstehen. In der Ausführung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab (und durch dies Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit ward).86

Aber Wolffs Dogmatik ist nur der erste Schritt, nur das »Kindesalter der Vernunft«87. Der Skeptizismus ist der zweite Schritt. Dieser soll der Prüfung des Dogmatismus dienen und verhindern, dass er sich in Schwärmerei und Träume eines »Luftbaumeisters«88 verwandelt. Die skeptische Methode, die wiederum aus Ciceros akademischem Skeptizismus89 und dessen Umsetzung in De natura deorum schöpft, erlaubt nun 84 Die Methode besteht einer neutralen und nicht abwertenden Bedeutung zufolge wie bei Wolff in einem wissenschaftlichen Verfahren, aus einem Lehrsatz ein Prinzip a priori folgerichtig herzuleiten. Sie liegt in einer Gründlichkeit, die, wie oben gesehen, einer ganz besonderen Lesart Euclids entspricht. Insbesondere verlangt sie keine Kon­ struktion der Begriffe und dem Mathematiker fälschlich abgeborgten Kunstgriffe. 85 Vgl. zweite Vorrede, aber auch Fortschritte. 86 Kritik der reinen Vernunft, B XXXVI. 87 Ebd., B 789. 88 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, AA Bd. II, S. 342. 89 Die Bedeutung Ciceros wird hier von Kants Diskussion der zeitgenössischen Repräsentanten dieser philosophischen Schulen verdeckt. Wie Wolff die dogmatische Schule repräsentiert, so repräsentiert Hume, von dem Kant schreibt, seine Erinnerung habe seinen dogmatischen Schlummer unterbrochen, den Skeptizismus (AA Bd. IV, S. 260.) Man beachte aber, dass das eine das andere nicht ausschließt. Auch Hume war ein großer

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die Rückverwandlung der Welt von einem Spiegel Gottes in einen Gegenstand gemeinsamen menschlichen Fragens und Suchens.90 Es bedarf einer aporetischen, dialektischen und sokratischen Methode, wie sie erstmals in Ciceros akademischem Skeptizismus vorgedacht wurde, um die spekulativen Fragen sie betreffend im Pro und Contra zu erörtern und jeweils die besten Vernunftgründe für jede Position darzulegen. Nur indem man dem dogmatischen Gegner aufzeigt, dass seine Meinungen Widersprüche enthalten bzw. seine gegenteiligen Ansichten gleichermaßen durch Vernunftgründe zu rechtfertigen sind und dass sein Anspruch auf Wissen unbegründet sei, kann ihm seine dogmatische Zuversicht genommen werden und eine wahre Philosophie begründet werden.91 Kant bestimmt diese skeptische Methode in diesem Sinne als Methode, einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder ihn vielmehr zu veranlassen, nicht um ihn endlich zum Vorteile des einen oder des anderen Teils zu entscheiden, sondern um zu untersuchen, ob der Gegenstand derselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei […]92

Diese Methode strebt nicht nach göttlicher Gewissheit, sondern – bescheidener – nach menschlicher Einigung. Dafür entleiht sie Elemente aus Recht und Rechtsprechung. Sie geht auf Gewissheit »dadurch[,] daß sie, in einem solchen, auf beiden Seiten redlich geführten Streite, den Punkt des Missverständnisses zu entdecken sucht«. Indem sie »wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau bestimmten in ihren Gesetzen zu tun«,93 erlaubt sie es, dem »Dogmatiker das Konzept zu verrücken« und ihn zur Selbsterkenntnis zu bringen. Diese skeptische Methode wird hier als argumentative Waffe gegen die wolffianische Dogmatik gewendet. Die kritische Widerlegung von Wolffs Theologie und seiner Charakterisierung Gottes über Ewigkeit, Simplizität, Leser von Ciceros De natura deorum. In seinen Dialogues concerning Natural Religion liefert er seinerseits eine Neufassung dieser Schrift. 90 Vgl. in diesem Sinne auch schon im Jahre 1765/66 in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen die Gegenüberstellung von »zetetischer« und dogmatischer Methode. Vgl. AA Bd. II, S. 307. 91 In gewisser Hinsicht verfolgt diese skeptische Philosophie ein bescheideneres Ziel als die meisten Philosophien. Aber indem sie Einigung anstrebt, ist dieses Ziel zugleich anspruchsvoller. In Kants Augen ist seine Philosophie, wie schon erwähnt, die einzig wahre (AA Bd. VI, S. 206 f). 92 Kritik der reinen Vernunft, B 451. 93 Ebd., B 452.



Kants Kosmopolitismus

Freiheit und Spontaneität oder Notwendigkeit erfolgt deshalb über die Kosmologie und die Diskussion der Welt. Diese Welt wirft Fragen auf, auf die Wolffs Theologie keine überzeugenden Antworten liefern kann, bzw. die Vernunft enthält selbst Sophismen, die den menschlichen Geist in unauflösliche Widersprüche oder Antinomien verstricken. Die thetischen Thesen setzen, die antithetischen negieren eine Totalität, insofern sie einen unendlichen Regress der Bedingungen behaupten. Zu deren Auflösung ist es deshalb erforderlich, eine »Gleichförmigkeit der Denkungsart«94 und eine Einheit der Maxime sicherzustellen. Anders gesagt, man muss sich zumindest über den Gegenstand des Streites oder über ein allgemein akzeptables »Wahrscheinliches« verständigen können. Kant zufolge besteht diese Einheit in einem Prinzip des reinen Empirismus in der Antithesis und in einem noch intellektuelle Anfänge zugrunde legenden Prinzip des Dogmatismus in der Thesis. Diese Einigung geschieht wiederum unter Zuhilfenahme von Wolffs eigener Kosmologie, insofern diese die Totalität der Welt durch ihre Verknüpfung nach Raum und Zeit bestimmt.95 Auf diesem Wege helfen die vier Antinomien, eine gemeinsame sinnliche Welt menschlicher Verständigung und einen Empirismus ganz besonderer Art zu konstituieren. Dieser Empirismus kann als Richtmaß dienen, nach der die transzendentale Idee beurteilt werden kann.96 Diese Ordnung der gemeinsamen Erfahrungswelt, die zugleich modernen wissenschaftlichen und mechanischen Naturgesetzen entspricht, kann von der Zweckordnung unterschieden werden. Das wiederum erlaubt die Auflösung der Antinomien. Es kann gezeigt werden, dass die Streitigkeiten unter den »vernünftelnden«97 Schlüssen oder Ideen im Grunde aus einer unvermeidlichen Verwirrung und Verwechselung oder Subreption der Gegenstände des Denkens entspringen, indem man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung existieren.98 Das Ideal des höchsten Wesens wiederum ist nach diesen Betrachtungen nichts anderes als ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt dem geistigen Bedürfnis einer systematischen Einheit wegen so anzusehen, als ob sie aus einer notwendigen Ursache entspränge.99 Man stellt sich Gott als Urheber und Baumeister eines zweckmäßigen Ganzen vor, weil die Vernunft aufgrund einer unvermeid94

Ebd., B 493. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 549. 96 Kritik der reinen Vernunft, B 518. 97 Ebd., B 477. 98 Ebd., B 534. 99 Ebd., B 647. 95

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lichen Subreption der Begriffe ein nur regulatives Prinzip, das lediglich als Richtschnur dienen sollte, in ein konstitutives verwandelt. Die Vorstellung eines göttlichen Messkünstlers und Baumeisters, der ein zweckmäßiges Weltgebäude entwirft, in der die Ideen der thetischen Vernunft als Totalität der Synthesis münden, kann man nun deshalb wenig erschöpfend theoretisch einsehen oder beweisen wie alle anderen. Insofern sind die Ergebnisse der aporetischen Methode, die Kant Cicero entleiht, negativ. Indem diese Methode nur darauf abzielt, sich der Wahrheit zu nähern und verschiedene Positionen miteinander zu konfrontieren, um ein »Wahrscheinliches« zu konstituieren100, hebt sie gerade jeden dogmatischen Wahrheits- und Wissensanspruch auf. Sie zeigt, dass unsere Vorstellung von Gott als einem göttlichen Architekten und von der Welt als einem zweckmäßigen Gebäude relativ und metaphorisch ist, insofern die Vernunft ihre den eigenen Gesetzlichkeiten entsprechenden Begriffe auf die Welt überträgt. Aber weil sie zeigt, dass diese Begriffe der menschlichen Vernunft konstitutiv und allen Menschen gemeinsam sind, ermöglicht sie in einem dritten Schritt die trans­ zendentale Rückwendung auf die Systematik des gemeinsamen Vernunftgesetzes, das Kant zufolge dem Verstande immanent ist. Einer bereits in den frühen Geographievorlesungen präsenten101 Metapher zufolge gibt eine solche Philosophie schon einen Reiseplan, einen allgemeinen Weltbegriff und eine Weltkarte zur Hand. Sie hilft, ein Feld abzumessen und einen Umriss oder Plan der gemeinsamen Welt zu zeichnen. »Wir anticipiren unsere künftige Erfahrung, die wir nachmals in der Welt haben werden, durch einen Unterricht und allgemeinen Abriss dieser Art, der uns gleichsam von Allem einen Vorbegriff giebt.«102 Dieser erste Teil der Weltkenntnis gehöre »zu einer Idee, die man die Propädeutik in der Erkenntniss der Welt nennen kann. […]« Damit wird die Philosophie zu einer Kartographie. Der Kritik der reinen Vernunft zufolge erlaubt sie es, den »auf Entdeckungen her100

Cicero, De natura deorum I, 11: »Vieles ist wahrscheinlich, und obwohl man es nicht völlig erfassen kann, dient es dennoch, weil es eine ziemlich klare und deutliche Vorstellung vermittelt, dem Leben eines Weisen als Richtschnur.« 101 Schon in seinem Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie aus dem Jahre 1757 und den frühen Vorlesungen zur Physischen Geographie und Anthropologie selbst benutzt Kant diese kartographische Metapher zur Beschreibung seines philosophischen Programmes. Im Detail ausgeführt findet sie sich dann in der Physischen Geographie selbst: Hier heißt es, die physische Erdbeschreibung sei »der erste Theil der Weltkenntniss«. Und: »Von Demjenigen, der viele Reisen gemacht hat, sagt man, er habe die Welt gesehen. Aber zur Kenntniss der Welt gehört mehr, als blos die Welt sehen. Wer aus seiner Reise Nutzen ziehen will, der muss sich schon im Voraus einen Plan zu seiner Reise entwerfen«. Physische Geographie, AA Bd. IX, S. 157. 102 Kant, Physische Geographie, AA Bd. IX, S. 157.



Kants Kosmopolitismus

umschwärmenden« und »unaufhörlich mit leeren Hoffnungen« getäuschten Seefahrer »von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzendes Eis neue Länder lügt«, weg zu lotsen und ihm »den Pfad zum Land des reinen Verstandes und der Wahrheit zu weisen.103 Diese Themen können hier nur kurz angeschnitten werden. Für unsere Zwecke soll es reichen festzuhalten, dass selbst die Kritik als transzendentale Form der Selbsterkenntnis auf einen solchen empirischen und pragmatischen Weltbegriff gegründet104 und auf die Schaffung eines solches Staates durch Menschen ausgerichtet ist. Sie ist für Menschen und Erdbewohner geschrieben, denen es aufgegeben ist, in dieser Welt zu handeln und mitzuspielen und gemeinsam ihre Bestimmung zu erreichen. Im Hinblick auf diese höhere transzendentale und praktische Zwecksetzung verleiht diese Methode der Philosophie selbst als Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft eine besondere Würde.105 All das wiederum wirft ein Licht auf die kritische Wende. Es ist richtig, dass diese Kritik als »reine Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, sowohl der Quellen, als auch des Umfangs und der Grenzen desselben, aber alles aus Prinzipien« die gängigen Perspektiven umkehrt: Anstatt anzunehmen, die Erkenntnis richte sich nach den Gegenständen, untersucht sie, ob sich nicht die Gegenstände nach unseren Erkenntnisvermögen richten mögen. Die Details dieses ehrgeizigen Unterfangens füllen zahlreiche Seiten der Kritik der reinen Vernunft. Aber wie hier gezeigt worden ist, bleibt diese »kopernikanische Revolution« in der Philosophie dem älteren und neueren Kosmopolitismus tief verpflichtet.

Der κόσμος als πόλις

Aus Kants Korrektur und Ergänzung des wolffianischen Kosmopolitismus ergibt sich nun die Möglichkeit einer besseren philosophia practica universalis als jene, die von Wolff und seinen Schülern skizziert wurde.106 Man muss sich 103

Kritik der reinen Vernunft, B 294 ff., AA Bd. III, S. 202 u. A 235 ff., AA Bd. IV, S. 155. Deshalb ist die pragmatische Anthropologie auch nicht nur eine »Hülfswissenschaft« der Moral. Vgl. Kapitel 9. 105 Vgl. insbesondere Kritik der reinen Vernunft, B 866 ff., AA Bd. III, S. 542 ff. 106 Seinen eigenen Erklärungen zufolge erstrebt Kant eine Revision von Wolffs Philosophia practica universalis. Vgl. insbesondere die Vorrede der Grundlegung (AA Bd. IV, S. 390 f.) und die Einleitung der Metaphysik der Sitten IV (AA Bd. VI, S. 220 f.). Man beachte auch, dass Kant für seine Vorlesungen mehrere wolffianische Schriften benutzte, nämlich Achenwalls Elementa iuris, Baumgartens naturrechtliches Handbuch Initia philosophiae practica primae. Vgl. Gottfried Achenwall/Johann Stephan Pütter, Elementa iuris naturae, 104

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 6

vorstellen können, dass die Natur den Menschen durch dessen eigene Vernunft dazu bestimmt habe, einen Zusammenhalt zwischen den Menschen zu stiften und selbst, aus eigenen Kräften einen Weltstaat zu formieren. Kant konkretisiert diesen Gedanken bekanntlich in Form eines Staatenbündnisses, auf das die Menschheit als Ganze ihren Zweck ausrichten müsse. Dabei schöpft er, wie es die späteren Aufsätze und insbesondere der Geschichtsaufsatz und die Schrift Zum Ewigen Frieden in größerer Klarheit zeigen, aus den aufklärerischen Gedanken zur Friedenssicherung (Abbé Saint Pierre, Rousseau), aber auch aus dem älteren (Cicero) und neuerem ius gentium und aus Wolffs Vorstellung einer civitas maxima. Dieser rechtliche Kosmopolitismus, auf den man sich in der Forschung bisher konzentriert hat, entspricht nicht einem Gesetzesvertrag unter Individuen noch einem herkömmlichen Kontraktualismus à la Rousseau, in dem Individuen als vernünftige Vertragspartner und Rechtsträger betrachtet werden, sondern einem Kontraktualismus auf höherer Ebene. Er bezieht sich auf einen Zusammenhalt aller Staaten, auf eine supranationale Instanz und einen großen Staatenkörper, deren Zusammenschluss nicht einfach auf einem Bedürfnis nach Sicherheit, sondern auf einem vernünftigen Entschluss, einen ewigen Frieden zu sichern, gründet107. Diese Vernunftrepublik, die in gewisser Hinsicht die denkerische Voraussetzung und den weiteren Rahmen für das Recht der Einzelstaaten bildet, muss mit den Zwecken einer höheren schöpferischen Instanz, Gott oder Natur, vereinbar sein. Dieser Gedanke erfordert eine Überwindung allen nationalstaatlichen Denkens und die Errichtung eines höheren Weltstaates, in der sich die Einzelstaaten selbst zu einem großen Staatskörper zusammenschließen und zu einem Gleichgewicht finden, der diesen seine öffentliche Sicherheit und seine Rechte, gemäß der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, gewährt und somit ein wahres rechtliches Gemeinwesen selbst hervorbringt. Ein solcher Weltstaat oder ein solches Reich der Zwecke ist nun zum einen der materielle Gegenstand der Bestimmung des Menschengeschlechts auf kollektiver Ebene ; zum anderen ist er schon der formelle Gegenstand der menschlichen Vernunfteinsicht, insofern der Mensch sich über die eigene Pflicht dieses Gesetzes in seiner Notwendigkeit und Universalität bewusst ist.

Göttingen, 1750. Deutsche Übersetzung: Anfangsgründe des Naturrechts, hg. v. Jan Schröder, Frankfurt a. M., Insel, 1995. Baumgarten, Initia philosophiae practica primae, 1760. Zu dieser Schrift Baumgartens sind auch handschriftliche Randbemerkungen erhalten. 107 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 355.



Kants Kosmopolitismus

Schluss

Ungeachtet ihrer Technizität lässt sich Philosophie Kants auf ein altes stoisches und kosmopolitisches Grundmuster zurückführen. Der Hypothese dieses Kapitels zufolge liefert es einen Schlüssel für das Verständnis einiger grundlegenden Differenzen zu dem platonisch ausgerichteten Kosmopolitismus seiner Zeitgenossen, aber auch der Einheit seiner Philosophie. Kant vertritt eine bestimmte Variante dieses Kosmopolitismus, die zugleich auf dem Vergleich der Welt mit einem den Zwecken seiner Bewohner gemäß eingerichteten Wohnsitz beruht. Mit Wolff stellt Kant diesen Vergleich auf neue wissenschaftliche teleologische und heuristische Grundlagen. Aber er reinigt ihn zugleich von einigen Widersprüchen und Fehlern, die sich aus Wolffs allzu theologischen und dogmatischen Interpretation ergeben. Die Welt ist kein Spiegel Gottes. Sie ist stattdessen zunächst ein Gegenstand des Fragens und Suchens. Durch diese Korrekturen nun kommt Kant von der metaphorischen Übertragung und menschlichen Gottebenbildlichkeit auf den eigentlichen politischen Sinn von Würde zurück. Im Grunde dürfen der Vergleich des κόσμος mit einer πόλις und die in ihm enthaltenen Begriffe von Religion uns nicht aus dieser Welt hinausführen. Vielmehr müssen sie den Zwecken der Gemeinschaft dienen und den Zusammenhalt unter Menschen fördern. Diese These ist mit der Kritik der reinen Vernunft in ihren Grundzügen ausgearbeitet und wird in der Folgezeit in ihren anthropologischen und praktischen Dimensionen weitergedacht. Eine besondere Bedeutung besitzt hier die Frage nach dem Charakter des Menschen und den Menschenrassen, die Kant in den 1780er Jahren in eine Kontroverse mit Forster verwickelt. Dieser Frage sei das nächste Kapitel gewidmet.

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Kapitel 7 Rassen und Menschenwürde. Die Kontroverse zwischen Kant und Forster In seinen Anfängen entsprach der aufklärerische Universalismus wohl noch nicht ganz unseren gegenwärtigen Vorstellungen, insofern wir heute im Namen menschlicher Gleichheit und Würde von Rassen, Geschlecht, Hautfarben, und Lebensform des Menschen absehen. Damals hielt man paradoxerweise die »Diskrimierung« solcher Rassenmerkmale und zumindest provisorische Klassifikationen, Hierarchien und Wertungen noch für wichtig.1 Man glaubte, dass der Mensch die Einsicht in die eigene Würde und Erhabenheit nicht nur aus dem moralischen Bewusstsein in ihm, sondern auch aus der Betrachtung der Welt außer ihm schöpfte. Weil man annahm, dass sich die Einsicht in die Gleichheit aller Menschen erst aus der Beobachtung der Differenzen und der Vielfalt des Menschengeschlechts ergebe2, eröffnete in den Augen der Aufklärer nur eine ethnographisch und in obigem Sinne »rassistisch« ausgerichtete Naturgeschichte der Menschheit wahre Selbsterkenntnis durch Menschenkenntnis. Diese grundlegende anthropologische und ethnographische Dimension des aufklärerischen Universalismus ist nun auch in der Kontroverse präsent, die sich im Jahre 1785 zwischen Georg Forster und Kant entzündet. Der Kontext der Kontroverse sei zunächst kurz umrissen: Nach einem ersten Aufsatz mit dem Titel Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbjahre 1775 kommt Kant im Jahre 1785 in einem zweiten Aufsatz, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace3, auf die Rassenfrage zurück. Diesen zweiten Aufsatz schließt Kant mit einem Hinweis auf die Gefahren des philosophischen »Hypothesenspiels« ab 1 Vgl. zu dieser Ambivalenz auch Marc Larrimore,»Antinomies of Race: Diversity and Destiny in Kant«, in: Patterns of Prejudice 42 (4–5), 2008, S. 341–363 ; Robert Louden, Kant’s Impure Ethics: from Rational Beings to Human Beings, Oxford, Oxford University Press, 2000. 2 Diese Annahme zeugt wiederum von der Geburt eines »ideals of authenticity« in dem von Charles Taylor beschriebenen Sinne: dem Gedanken, dass jedes Individuum sein eigenes Maß in sich selbst trägt und seine eigene Individualität auszubilden berufen ist. »Before the late 18th century, no one thought that the differences between human beings had this kind of moral significance. There is a certain way of being human that is my way. I am called upon to live my life in this way, and not in imitation to someone else’s way.« Charles Taylor, Politics of Recognition, S. 30. 3 Berlinische Monatsschrift, November 1785, und Januar 1786.



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

und fordert seine Leser ausdrücklich zur wissenschaftlichen Diskussion auf. Dieser Einladung kommt Forster, der in Wilna etwas verspätet die Berlinische Monatsschrift mit Kants Aufsätzen erhalten hat, ohne Zögern nach. Kurze Zeit später publiziert Forster im Teutschen Merkur seinen Aufsatz Noch mehr über Menschenraßen.4 Diese wissenschaftliche Kontroverse wird in Kants Aufsatz Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien von 1788 und indirekt in der Kritik der Urteilskraft und in einer Reihe von Forsters und Kants späteren Schriften fortgesetzt.5 Die obige anthropologische Perspektive auf den aufklärerischen Universalismus wirft nun ein Licht auf die hier vertretenen Thesen, auf seine tieferen Dimensionen, seine Genese und allmähliche Transformation, sowie auf das Spektrum möglicher Positionen. Sie verhilft zu einem besseren Verständnis und einer besseren Bewertung von Kants Stellungnahmen und Forsters ­K ritik.6 4

Teutscher Merkur, 1786, Weimar, Oktober 1786, S. 57–86, November 1786, S. 110–166. der Kontroverse zwischen Kant und Forster vgl. außer den betreffenden Passagen in den Studien zu Forster insbesondere den hellsichtigen Aufsatz von Manfred Riedel, »Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder«, in: Kant-Studien n° 72 (1–4), 1981, S. 41–57 ; Stella Sandford, »Kant, Race and Natural History« ; Vgl. auch den Band Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche. Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, hg. v. Rainer Godel und Gideon Stiening, Paderborn, Wilhelm Fink, 2012. Eine wissenschaftsphilosophische Vertiefung erfolgt in vereinzelten Beiträgen (Van Hoorn, Sigrid Oehler-Klein). 6 Die Vereinbarkeit von Kants Universalismus und Rassismus ist zurzeit Gegenstand einer lebhaften internationalen Debatte. In dem Maße, wie seine offen rassistischen Äußerungen in das öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, ist sein aufklärerischer Universalismus mit in Verruf geraten. Charles W. Mills schreibt: »If Kant is central as an emblematic figure, and if racist ideas were in turn central to his thought, then this obviously implies a radical rethinking of our conventional narratives of the history and content of Western philosophy.« Charles W. Mills, »Kant’s Untermenschen«, in: Race and Racism in Modern Philosophy, Cornell University Press, hg. v. Andrew Valls, 2005, S. 169– 193, hier S. 169. Es besteht Unklarheit darüber, was noch zu retten ist. Um der besseren Bewertung von Kants Position halber soll der moderne Universalismus hier von seinen anthropologischen Anfängen her und als ein historisches Phänomen in seiner Entwicklung betrachtet werden, statt heutige Vorstellungen einfach in Kant hineinzuprojizieren. Dieses Verfahren entspricht offenbar nicht nur einer methodisch klareren historischen Methode, sondern auch einer gerechteren und weniger selbstgerechten Herangehensweise an Kant. Denn wie Allen Wood ganz zu Recht schreibt: »It is easier for us, with two hundred year’s hindsight, to see […] contradictions in Kants himself […] than to see them in ourselves. In that sense, it is dangerous for us to focus on Kant’s (now obvious) errors about issues of race and gender, as if we thought that we ourselves may be immune to similar criticisms by future philosophers reflecting on our views« (Kant’s Ethical Thought, Cambridge, Cambridge University Press, 1999, S. 11). Der Hypothese dieses Kapitels zufolge leistet Kant zwar einen Schritt und relativen Beitrag zu der Ent5 Zu

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 7

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, teilen Forster und Kant sowohl analoge weltbürgerliche (und antikolonialistische7) Auffassungen als auch ein grundsätzliches Interesse an dem Prinzip »Angemessenheit« oder »Zweckmäßigkeit« als anthropologisches Pendant zur moralischen und rechtlichen Menschenwürde. Forster, über den Schlegel schreibt, »ein lebendiger Begriff von der Würde des Menschen« sei »in seinen Schriften gleichsam überall gegenwärtig«8, sieht hier insofern in Kant einen Verbündeten im Kampfe für die eigenen universalistischen und egalitären Überzeugungen, als dass dieses Prinzip erlaubt, Differenzen auf Gleichheit und auf eine gleiche Angemessenheit zurückzuführen. An dem, was zu diesem Egalitarismus nicht passt, nimmt Forster nur indirekt Anstoß. Ihn, der viel klarer als Kant gegen den Kolonialismus seiner Zeit und für die Egalität aller Menschen eintritt, scheint Kants Ambivalenz nicht zu stören. Kants offen eurozentrische und rassistische9, d. h. diskriminierende und abwertende Äußerungen, wie sie hier vor allem in einer Fußnote in seiner zweiten Antwort offen formuliert werden,10 in der Kant anmerkt, dass manche Rassen wie »Indier, Zigeuner und Neger« sich durch eine größere »Trägheit« als andere auszeichnen11, ignoriert Forswicklung eines modernen Universalismus, der als weiterer Horizont der Untersuchung gesehen werden kann ; weil aber dieser im 18. Jahrhundert noch nicht in seiner heutigen Form bestand, muss seine Position zunächst von den früheren und zeitgenössischen Vorstellungen erklärt und an ihnen bemessen werden. Dieses Verfahren erlaubt es nun auch, besser zu sehen, inwiefern Kant seinen eigenen Universalismus noch nicht »zu Ende« gedacht hat, wie Marcus Willaschek es ausdrückt (FAZ 14.07.2020) bzw. ihn im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss Forsters zu Ende denkt. 7 Vgl. Zum ewigen Frieden, 1795/96, AA Bd. VIII, S. 359. 8 Friedrich Schlegel, »Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker«, in: Forster, Ausgewählte Schriften, S. 439–441, hier S. 441. 9 Vgl. Charles Mills, »Black Radical Kantianism«, Res Philosophica n° 95 (1), 2017, S. 1–33, hier S. 7: »(…) particularly for blacks and Native Americans, natural slaves in Kant’s judgment, the question was naturally raised of whether (in a theory for which autonomy is foundational) they could really count as »persons« for him in any robust sense.« 10 Diese Äußerung stammt aus einem publizierten Text der kritischen Periode und widerlegt Versuche, Kants Antirassismus aus philologischen Erwägungen heraus zu verteidigen. Zu analogen Äußerungen vgl. besonders die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA Bd. II, S. 253, die Vorlesungen zur Physischen Geographie (AA Bd. IX, S. 316) und Vorlesungen zur Anthropologie (AA Bd. XXV. 2, S. 1187) sowie die undatierte Reflexion 1520, AA Bd. XV. 2, S. 878. 11 So schreibt Kant in seiner letzten Antwort an Forster in Über den Gebrauch von 1788, die »Indier, Zigeuner und Neger« weisen eine natürliche Anlage »zum Nichtstun« auf, die sie auch im nördlichen Klima »zur Arbeit ungeneigt« mache, statt »Dreschen, Graben und Lasten zu tragen«. Kant pflichtet der Meinung eines »sachkundigen« ( !) Mannes namens Sprengel (Sprengels Beiträge, 5. Teil, S. 287–292) bei, dass »unter den vielen freige-



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

ter.12 Direkt kritisiert er die überzogenen wissenschaftlichen und philosophischen Ambitionen, die Kant mit seiner Rassentheorie verfolgt. In Forster Augen kann diese entgegen Kants Behauptungen weder eine direkte experimentale Bestätigung menschlicher Angemessenheit noch einen Beweis der Permanenz der Hautfarbe als gesetzmäßigen Charakter und als Auszeichnung auf einer Stufenleiter13 erbringen. Kant scheint hier sowohl an die Wissenschaft überhaupt als auch an die Philosophie überhöhte Forderungen zu stellen, weshalb Forster Kants Philosophie als eine »Wissenschaft für die Götter und nicht für Menschen«14 betrachtet. Wenn auch die tieferen philosophischen Implikationen unausgesprochen bleiben, scheinen wiederum die schon oben skizzierten Divergenzen in der Auslegung des Kette-der-Wesen-Modells dieser Opposition zugrunde zu liegen. Selbst Herderianer, kann Forster Kants systematische und wissenschaftliche Ambitionen nicht nachvollziehen und fordert sowohl größere empirilassenen Negern, die man in Amerika und in England antrifft, er kein Beispiel kenne, daß irgendeiner ein Geschäft treibe, was man eigentlich Arbeit nennen kann«, dass sie vielmehr im Laufe der Zeit »Umtreiber« werden. Kant wertet die Trägheit als ein Zeichen, dass »Indier sowohl als Neger« nicht mehr von dem Antriebe zur Tätigkeit und Emsigkeit »in andere Klimaten mitbringen und vererben, als sie für ihre Erhaltung in ihrem alten Mutterlande bedurften, und daß diese innere Anlage eben so wenig erlösche, als die äußerlich sichtbare.« Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, AA Bd. VIII, S. 174. 12 Vielleicht teilt Forster trotz seiner großen Weltoffenheit und Unvoreingenommenheit auch wiederum Kants eurozentrische Vorstellungen bis zu einem gewissen Grad, vgl. insbesondere die Passagen in Noch etwas über Menschenrassen, S. 88. 13 Für einen ausführlicheren Überblick über das Thema Rassen in der Aufklärung vgl. beispielsweise Justin Smith, Nature, Human Nature and Human Difference. Race in Early Modern Philosophy, Princeton University Press, 2015, Kapitel 9, Race and its discontents in the Enlightenment, S. 231–263. Zu Kants Position in der Rassendebatte vgl. aus der stetig anwachsenden Literatur insbesondere Robert Bernasconi, »Who invented the Concept of Race ? Kant’s Role in the Enlightenment Construction of Race«, in: Race, Oxford, Blackwell, 2001, S. 11–36, und ders., »Kant as an Unfamiliar Source of Racism«, Tommy L. Lott and Julie K. Ward (eds.), Wiley-Blackwell, 2002 ; Emmanuel C. Eze, Achieving our Humanity: the Idea of the Postracial Future, New York, Routledge, 2001, ders., »The Colour of Reason: the Idea of Race in Kant’s Anthropology, in: Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Blackwell, 1997 ; Catherine Wilson, Civilization and Oppression, University of Calgary Press, 1999 ; Lagier, Les races humaines selon Kant, Paris, Presses Universitaires de France, 2004 ; Mark Larrimore, »Antinomies of Race: Diversity and Destiny in Kant.« ; Charles W. Mills, »Kant’s Untermenschen« ; »Black Kantianism«, Katrin Flikschuh und Lea Ypi (Hg.), Kant and Colonialism: Historical and Critical Perspectives. Oxford, Oxford University Press, 2014. Vgl. auch die deutsche in der FAZ 2020 ausgetragene Debatte zwischen Marcus Willaschek und Michael Wolff (FAZ, 14. 6., 22. 6., 29. 7. 2020), die Sondernummer der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 69.1 (2021) und Andree Hahmann, »Rassismus in der klassischen deutschen Philosophie ?« (noch unveröffentlicht). 14 Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, in: Werke, Bd. 2, S. 87.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 7

sche »Behutsamkeit« als auch die Relativierung der eigenen Hierarchien und des eigenen Standpunkts. Mit dieser Kritik an Kants wissenschaftlichen Ambitionen in der Philosophie hängt eine weitere zusammen. Forster hebt überzeugend hervor, dass alle Wissenschaft nicht ausreicht, um eine lebhafte Überzeugung von der Humanität eines Menschen zu bewirken. Wie hier argumentiert werden soll, bewirkt diese Kritik offenbar eine Änderung von Kants philosophischer Strategie. Wenn sie auch direkter als Kants Position in der Rassendebatte dessen philosophische und methodische Voraussetzungen betrifft, so führt sie doch gerade deshalb zu einem tiefen Sinneswandel. Unter dem Einfluss Forsters scheint Kant sich in der Folgezeit von einer ethnographischen und genealogischen Auslegung des Prinzips Zweckmäßigkeit zu distanzieren. In der Kritik der Urteilskraft schlägt er einen neuen Weg ein. In diesem Sinne scheint Forster eine Entwicklung Kants einzuleiten, in der dieser eine gewisse anthropologische Dimension seines aufklärerischen Universalismus relativiert. Damit sind einige Fragen benannt, die in dieser Kontroverse aufgeworfen werden.

Forsters Weltbürgertum

Nicht alle Dimensionen von Forsters eigener Philosophie und Anthropologie kommen in der Kontroverse zwischen Kant und Forster direkt zur Sprache. Dennoch lohnt es sich, eingangs einige davon kurz zu skizzieren, weil sie zeigen, inwiefern die beiden Autoren einige grundsätzliche weltbürgerliche, universalistische und zugleich anthropologische Auffassungen teilen. Skizzieren wir zunächst ein Porträt Georg Forsters. Dessen »unphilosophische Art zu Philosophieren«15 ist zweifellos Kants systematischen und metaphysischen Perspektiven diametral entgegengesetzt. Forster ist weder ein Philosophieprofessor noch ein studierter Philosoph. Er selbst bezeichnet sich als einen »arme(n) αὐτοδίδακτος« und fügt an, er habe sich nur »mit Mühe und Angst in diesem Labyrinth ein wenig fortgeholfen«.16 Kants Philosophie kennt Forster vor allem aus zweiter Hand. Und trotzdem formuliert Forster vielleicht die hellsichtigsten Kommentare. Zumindest verkörpert er das aufklärerische Ideal des Weltbürgers, dem auch Kant anhängt, vielleicht 15

Forster an Jacobi, den 2. Januar 1789, in: Georg Forster, Werke in vier Bänden, Leipzig, Insel, 1965–71, Band 4, Briefe, 1970, S. 533. 16 Er habe nie auch nur ein Kollegium besucht und »nie einen Professor der Philosophie erklären« hören, »was ein Ding und eine Substanz und eine Entelechie sei.« Forster an Jacobi, 19. November 1788, in: Werke, Bd. 4, S. 526.



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

am überzeugendsten. Niemand war damals so polyglott wie er, niemand so empfänglich für menschliche Vielfalt und zugleich erfüllt von der Bedeutung des Kampfes für die gleichen Rechte aller Menschen. Schon als Elfjähriger unternahm Georg Forster an der Seite seines Vaters Johann Reinhold Forster seine erste Expedition nach Südrussland. Im Alter von siebzehn Jahren dann nahm er an der zweiten Entdeckungsreise des britischen Weltumseglers James Cook (1772–1775) in die Antarktis und Südsee teil. Seine zunächst auf Englisch verfasste Voyage around the World, die er anschließend ins Deutsche übersetzte und die ihm schlagartig Berühmtheit einbrachte, ist ein Zeugnis dieses Weltbürgertums. Auch die theoretischen Überlegungen, die Forster in einer Reihe von Schriften entwickelt, erinnern in gewisser Hinsicht an Kant.17 Wenn Forster auch nicht die apriorischen Moralvorstellungen von Kant teilt, so doch einige politische und anthropologische Grundüberzeugungen. So zeigt Forster seinerseits ein großes Interesse an der Würde und Bestimmung des Menschen. In seinen Augen ist es die »Aufgabe der Philosophie, im Gefühl oder vielmehr Wissen darum, was Menschen seyn könnten und sollten«, den »Ursachen ihrer Herabwürdigung« nachzuspüren und »das Mittel aufzufinden, welches sie wieder ihrer Bestimmung nähern kann.«18 In seinem Aufsatz Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit von 1793 arbeitet Forster diese Begrifflichkeiten um die Menschenwürde herum aus. Hier zeigt sich, dass Forsters Überlegungen sogar bestimmte Einsichten des 19. Jahrhunderts vorwegnehmen. Eindringlicher als seine aufklärerischen Zeitgenossen einschließlich Kant stellt Forster heraus, dass der Mensch mangels ausreichenden rechtlichen Schutzes und der materiellen Bedingungen zur Erfüllung seiner niedrigeren Zwecke wie Nah17 Zu Forsters Anthropologie und Naturgeschichte vgl. insbesondere Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, Tübingen, Niemeyer, 1965 ; Wolf Lepenies, »Georg Forster als Anthropologe und Schriftsteller«, in: ders., Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, München und Wien, Carl Hanser, 1988, S. 121– 154 ; Claus-Volker Klenke/Jörn Garber/Dieter Heintze, Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster Symposions in Kassel, 1.–4. April 1993, Berlin, Akademie Verlag, 1994 ; Jörn Garber, Wahrnehmung  – Konstruktion  – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters, Tübingen: Niemeyer, 2000 ; Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen: Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen, Niemeyer, 2004 ; Hans Erich Bödeker, »Georg Forsters Entwurf einer Wissenschaft vom Menschen«, in: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, n° 18, 2010, S. 137–167 ; Emmanuel Hourcade, Le concept de perfectibilité chez Georg Forster, vecteur d’une critique interne des civilisations européennes ? Dissertation, noch unveröffentlicht. 18 Forster, Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, in: Werke, Bd. 3, S. 707.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 7

rung oder Wohnung des eigenen Selbstgefühls (d. h. seiner Menschenwürde, aus seiner eigenen Sicht betrachtet) wohl verlustig werden kann. An anderer Stelle vergleicht Forster die in unwürdigen Zuständen lebenden, ausgemergelten polnischen Leibeigenen mit »zweibeinigen Tieren«, mit »Barbaren« und mit »Lastthieren«, an denen »die menschliche Gestalt, das Ebenbild der Gottheit und folglich das Sigel der Freiheit kaum noch kenntlich« sei.19 Forster merkt weiterhin an, dass die Einsicht, die der wohlhabende Mann in seine Menschenwürde nimmt,20 im Grunde durch die unwürdige Situation seines »um den Zweck seines Hierseyns gänzlich betrogenen Leibeigenen«21 bedingt ist. In seinen Augen kann erst die Revolution dem Despotismus und der »unseligen grausamen Menschenverachtung« Einhalt gebieten und die Einsicht schaffen, dass statt »dem lügenhaften Bild des Glücks« , das die Untertanen in den Schlaf wiege, eigentlich nur Menschenwürde als »ächter Wegweiser des Lebens« zählt.22 Die Revolution ist jenes geschichtliches Ereignis, das den Menschen Einsicht in die institutionellen Bedingungen von Gleichheit und der Erfüllung allgemeiner Menschenrechte eröffnet hat, weshalb Forster ihr begeisterter Anhänger ist und seinerseits bei der Gründung der Mainzer Republik aktiv teilnimmt. In einem früheren Aufsatz von 1789 über Cook den Entdecker nimmt Forster die umgekehrte Perspektive ein. Statt um Herabwürdigung geht es ihm hier die Würdigung 23 von James Cook und Veredlung der Menschheit. Für Forster ist die Distinktion und Auszeichnung einiger großer Individuen von großer praktischer Relevanz, da von geradezu exemplarischem Wert für den Rest der Menschheit. Wie er hier heraushebt, ist jedes Selbstgefühl notwen19

Forster, Über Proselytenmacherei, in: Werke, Bd. 3, S. 107. »Der wohlhabendere Mann, der allen Überfluß seiner fetten Äcker und Weiden genießt, gut gekleidet ist, und in einem netten, reinen, mit schönem Geräthe versehenen Hause wohnt, ist zugleich in Rücksicht seines Geistes, seines Gefühls, seiner Grundsätze, seiner Überlegung, seiner Kenntnisse, mit Einem Worte, als Mensch, derjenige, der bei weitem den Vorzug verdient. Ihm ist wohl in allen seinen Verhältnissen ; und in diesem behaglichen Zustande blickt er um sich her, forscht nach, wer, von wannen und zu welchem Ende er sey, giebt also dem bessern Theile seines Wesens, der Vernunft, die ihn über die ganze sichtbare Schöpfung hebt, ihre zweckmäßige Entwickelung, und fängt an, sich seiner Menschenwürde bewußt zu seyn«. Forster, Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, in: Werke, Bd. 3, S. 699. 21 Ebd., S. 700. 22 Ebd., S. 724: »Endlich, mein Freund, scheint die Zeit gekommen zu seyn, wo jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschlichen Laufbahn stand, von seinem Fußgestelle gestürzt, und der ächte Wegweiser des Lebens, Menschenwürde, an seine Stelle gesetzt werden soll.« 23 Vgl. Kapitel 2 über die analogen Überlegungen Herders und seine Würdigung Thomas Abbts. 20



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

dig mit einem Wunsch nach Distinktion und mit einem dunklen Ehrgeize und Triebe, »sich hervorzuthun«, verbunden.24 Aber diese politischen Überlegungen zur Menschenwürde werden jeweils in einen anthropologischen Kontext eingebettet. Wie im Falle Kants gilt auch hier: kein Universalismus ohne Anthropologie. Das bedeutet für Forster, dass sich gerade in der unendlichen Vielfalt des Menschengeschlechts die gleiche Sinnlichkeit, »Empfänglichkeit« und »Receptivität«25 zu erkennen gibt, die die Grundlage aller menschlichen Vernunft und Angemessenheit und allen Adaptationsvermögens bildet. Sie ist das »Siegel der Gottheit«, das der Menschengattung in ihrer Ganzheit »aufgedrückt ward« und deren »Gepräge sich gleichwohl »vom Weißen ins Schwarze, vom Kleinen ins Große, &c.«26 ändert. Forster teilt dabei Kants Auffassung, dass sich nur die Gattung durch die Ausbildung aller Anlagen bestimmen kann, während das Individuum »exzentrisch« bleibt und nur Teilkräfte entfaltet. Diese Exzentrik ist aber in gewisser Hinsicht die Voraussetzung dafür, dass diese Anlagen und Teilkräfte als solche in der Schöpfung sichtbar werden. Im Ausgang von seiner Rezeptivität entwickelt der Mensch nun seine Tätigkeit. Forster spricht von dessen göttlichem Auftrag, als »Vasall des Himmels und König der Erde« in die Natur einzugreifen, sie zu veredeln, zu bevölkern und zu verschönern. Er selbst, der Mensch, »schreibt Forster, »gereicht der Natur »zur edelsten Zierde […] Alles, was sie in ihrem Schoße

24 Im Falle des Weltumseglers James Cook sei dieser Trieb nach Distinktion »allmählig in Ehre und Begierde nach Wohlstand« übergegangen, um sich schließlich in ein »edles Gefühl für den Nachruhm« zu verwandeln. In Anbetracht seiner Beweggründe ist Cook eine Art Odysseus und Held des Altertums. Aber Cook ist zugleich ein moderner Held, insofern seine Welt eine offene ist und er ein Entdecker. Er, dessen Seelengröße und »fortwährendes Bestreben« darin bestand, »sich immer vollkommener zu bilden« (S. 224), wies zugleich eine ganz besondere Voraussicht auf. Er verfolgte einen »wohldurchdachten Plan« (S. 150), verstand es, eine unbekannte Zukunft zu durchdringen und über das Erdreich hinaus auch »das Meer […] sich unterwürfig« zu machen. So gelang es ihm schließlich auch, die schwarzen Flecken auf der Weltkarte des späteren 18. Jahrhunderts, in der »die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt« (S. 120) war, auszufüllen. Damit stellt Cook der Menschheit nicht nur eine exemplarische Würde oder Seelengröße, sondern neue, ungeahnte menschliche Möglichkeiten und eine weitere, größere, unbekannte Welt vor Augen. Er lehrt sie, diese Welt überhaupt wahrzunehmen. Seine Würde misst sich in gewisser Hinsicht utilitaristisch an der Größe seines Nutzens oder seiner Wirkung, seinem Nachruhm oder seinem reellen Beitrag zur Veredlung der Menschheit. 25 Über Leckereyen, in: Werke, Bd. 3, S. 12. 26 Forster, Ein Blick in das Ganze der Natur, in: Werke, Bd. 2, S. 23.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 7

verbarg, bringt er durch seine Kunst ans Licht.«27 Wie Kant vertritt auch Forster die Ansicht, die Veredelung der Menschheit und Ausbildung von Menschenwürde und Menschlichkeit könne nicht ohne Reibung, Wettbewerb und einem Antagonismus der Kräfte vorstatten gehen. Denn sie beruhe auf einem »Selbstgefühl«, das zugleich auf den unauflöslichen Verbindungen mit den uns umgebenden Dingen, auf Differenzierung und der Empfindung der eigenen Kraft gründe. Dieses menschliche Bestreben nach Differenzierung macht Forster zufolge alle Vereinigung und Verschmelzung im Prinzip unmöglich.28 Zugleich aber muss es als Antrieb und Bedingung aller Vervollkommnung und Vereinigung des Menschengeschlechts gesehen werden. Ein Blick auf die Kontroverse offenbart nun, dass aus dieser grundsätzlichen Haltung eine Reihe von grundsätzlichen Affinitäten und Differenzen in der Rassenfrage fließen.

Das Prinzip Angemessenheit

Auffällig ist zunächst ein grundsätzliches Einvernehmen. Wie man heute Kants Position in der Rassenfrage und seine persönliche Haltung zu Menschen aus ihm fremden Kulturen auch beurteilen mag, so sieht zumindest Forster in Kant einen Mitstreiter im Kampfe für Egalitarismus und Universalismus, und diese Perspektive Forsters mag vielleicht uns heute dabei helfen, die zugrundeliegende Argumentationsstruktur und die aufklärerische Verbindung von Universalismus und Anthropologie (oder Rassendoktrin) überhaupt wieder zu verstehen. Die oben zitierte Fußnote aus dem zweiten Aufsatz und seine eurozentrischen Hierarchien scheint Forster eher zu überlesen. Man beachte in diesem Zusammenhang auch den Kontrast zwischen Forsters Kommentar zu Kant und seiner Rezension von Christoph Meiners aus dem Jahre 1791. Letzterer, der tatsächlich auf die aristotelische Doktrin von den natürlichen Sklaven zurückkommt, wird von Forster aufgrund seiner menschenverachtenden, rassistischen Äußerungen und seiner Härte scharf angegriffen.29 Aber offenbar 27

Ein Blick in das Ganze der Natur, in: Werke, Bd. 2, S. 31. Brief an F. L. M. Meyer, Brief vom 10. Oktober 1785, S. 382. 29 In seinem Grundriss einer Geschichte der Menschheit von 1785 spricht sich Christoph Meiners (1747–1810) bekanntlich vehement gegen Menschenrechte, für die Sklaverei und den Vorzug und die besondere Würde der europäischen vor den außereuropäischen Völker aus und versucht diese Thesen über die Naturgeschichte »wissenschaftlich« zu etablieren. Indem er bestimmte Stämme auf bloße Mittel zur Vervollkommnung der höheren Stämme reduziert, gibt Meiners der alten These von der natürlichen Ungleichheit der 28



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

sieht Forster Kant weder als Anhänger eines solchen Rassismus noch betrachtet er dessen Diskriminierung von Rassen als ein Mittel zu Zwecken der eigenen Abgrenzung, Selbstbehauptung und Etablierung politischer und moralischer Hierarchien in einer Logik des Othering. Vielmehr scheint diese hier doch der eigenen Selbsterkenntnis zu dienen, insofern die Auffächerung der Menschheit in eine Vielfalt von Stufen oder Rassen ihre Gleichheit zu erkennen gibt. Gerade die Begegnung mit den Fremden und solchen »Rassen«, die ein aufklärerischer Europäer aus seinem beschränkten Blicke als die »primitiveren« einstuft, mit denen er nichts als die gleiche »Menschenwürde« teilt, kann hier der Erkenntnis des eigenen Selbst und der Besinnung auf die eigene Menschlichkeit oder auf das, was man als Individuum der Menschheit schuldig ist, dienen.30 Forster und Kant stimmen zudem offensichtlich insofern miteinander überein, als dass sie in der Vernunft ein alle Menschen vereinigendes und brückenschlagendes Vermögen sehen. Eine solche Vernunft offenbart sich dem Auge gerade in einer gleichen Angemessenheit und einem Adaptationsvermögen, auf die alle biologischen und kulturellen Differenzen zurückgeführt werden können. Ganz wie das universelle Sittengesetz gebietet auch sein anthropologisch-heuristisch-ästhetisches Pendant, das Prinzip Angemessenheit, die Betrachtung jedes Menschen als Selbstzweck. Und schließlich ist sich Forster wohl auch bewusst, dass Kant zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung einlädt, die Diskussion sucht und seiner Rassentheorie nur einen hypothetischen Wert zuerkennt. Aus dieser gemeinsamen anthropologischen und universalistischen Per­ spektive wird nun auch Forsters Interesse an Kants Prinzip der »AngemessenMenschen und den natürlichen Sklaven eine moderne Form, aus denen noch die Rassentheoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts schöpfen sollen. Forsters Meinersrezension von 1791 bietet eine Folie zur Kantrezension, insofern Forster hier von ganz ähnlichen Erwägungen über den heuristischen Wert des Modells einer Stufenfolge des »größeren oder geringeren Reichthums von Anlagen und Kräften […] vom Wurme bis zum Menschen« und »unter den Individuen einer jeden Gattung« ausgeht, aber zugleich dessen polygenetische Theorie ablehnt und »ein dunkles wider seine Hypothesen sich empörenden Gefühl« zum Ausdruck bringt, das sich ihm auch ohne nähere Prüfung der Hypothesen aufgedrungen habe. »Hart ist es, weil es niemandem zu Gute kommt, Völkern, die jetzt auf einer von der unsrigen verschiedenen Stufe der Bildung stehen, allen sittlichen Werth, alle Perfectibilität, alle menschliche Vorzüge abzusprechen«, Vgl. Forster, »Rezension zu C. Meiners anthropologischen Abhandlungen«, Allgemeine Literatur-Zeitung vom 8. und 10. Januar 1791, Werke, Bd. III, S. 255–271, hier S. 257 und 262 f. 30 Dieser Gedanke begründet die neueren Universalgeschichten, die von herkömmlichen providentiellen Argumentationsmustern Abstand nehmen. Er findet sich schon bei Lessing und auch in den Universalgeschichten der Göttinger Historiker Schlözer und Gatterer.

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heit« oder »Zweckmäßigkeit«31 besser verständlich. Kant hatte dieses Thema in den beiden schon erwähnten Rasseaufsätzen von 1775, Von den verschiedenen Racen der Menschen, und in der Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace von 1785 angeschnitten. Dort hatte er erbliche Hautunterschiede »der Weißen, der gelben Indianer, der Neger, und der kupferfarbig-roten Indianer« festgestellt.32 Aus diesen Farbunterschieden lasse sich auf die Unterscheidbarkeit von Rassen oder, wie er es jetzt noch fasst, »Stämme« schließen. Die Stämme zeichneten sich aber jeweils durch die gleiche »Angemessenheit« in Bezug auf ihren Wohnsitz und Weltstrich aus, die ihre Naturerhaltung sicherstelle. [W]ir werden also gedrungen, anzunehmen, daß es einmal verschiedene Stämme von Menschen gegeben habe, ohngefähr in den Wohnsitzen, worin wir sie jetzt antreffen, die, damit sich die Gattung erhielte, von der Natur ihren verschiedenen Weltstrichen genau angemessen, mithin auch verschiedentlich organisiert waren ; wovon die viererlei Hautfarbe das äußere Kennzeichen ist.33

Zur Untermauerung seiner Thesen hatte Kant sich auf Forsters Freund Samuel Thomas Sömmerring berufen. In dessen Traktat Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer aus dem Vorjahr heißt es, »man finde am Bau des Negers Eigenschaften, die ihn für sein Klima zum vollkommensten, vielleicht zum vollkommeneren Geschöpf als den Europäer machen.«34 Diesen Verweis übernimmt Kant: Die »Eigenthümlichkeit der Race« sei am Besten in der afrikanischen beweisbar. Dieses Prinzip liegt nun Kants genealogischer Rassentheorie zugrunde, welche er bereits 1775 in Ansätzen skizziert und im zweiten Rassenaufsatz von 1785 entwickelt hatte. Seine Naturgeschichte sei keine bloße Naturbeschreibung. Statt auf eine Linné’sche Klassifikation und Schuleinteilung für das Gedächtnis gehe sie auf eine Natureinteilung für den Verstand. Sie befasse sich über Titel, Klassen und Ähnlichkeiten hinaus mit gesetzlichen Ordnungen und mit Gattungen, Stämmen, Verwandtschaften und Ursprüngen. Insbesondere eröffne sie die Existenz verschiedener Rassen, unausbleiblich anartender Klassenunterschiede oder »sich in langen Zeugungen beständig erhaltenden Stämme«35, deren gemeinsamer, beständiger und angeerbter 31

Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, AA Bd. VIII, S. 79. Ebd., S. 93. 33 Ebd., S. 98. 34 Samuel Thomas Sömmerring, Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer, Mainz, 1784, S. 79. 35 Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, AA Bd. II, S. 430. 32



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

Charakter die Hautfarbe sei. Kants Ambition auf einer tieferen Ebene besteht hier wohl darin, sein Prinzip Angemessenheit mit den Naturgesetzlichkeiten zur Erhaltung der Gattung zusammenzudenken und die alte stoische Doktrin von der Gesetzlichkeit der Natur vor dem modernen Hintergrund geschichtlich und teleologisch neu zu konzipieren.36 Das Experiment nun, »welches die Anwendung jenes Begriffs sicher leiten kann, der ohne jenes schwankend und unsicher sein würde«, ist dem zweiten Rassenaufsatz zufolge mit dem Gesetz der »halbschlächtigen Zeugung« gegeben. Aus der Kreuzung zweier Rassen »muss jederzeit ein Mittelschlag oder Bastard entspringen.«37 Dieses Gesetz erlaubt nun die Schlussfolgerung, dass die Auswickelung der Keime zwar insofern zufällig und gelegentlich geschehe, als dass der Zufall den Menschen in einen bestimmten Weltstrich verschlage ; dass aber dennoch in den Keimen des »uns unbekannten ursprünglichen Stammes der Menschengattung« Naturanlagen gelegen haben, »die zur Erhaltung der Gattung wenigstens in der ersten Epoche ihrer Fortpflanzung nothwendig gehörten und daher in den folgenden Zeugungen unausbleiblich vorkommen mussten.«38 Diese notwendigen Keime begründen nun die »notwendige Verschiedenheit« aller Menschen, insofern sie ihn, so schließt Kant in Anknüpfung an Zimmermanns »Verbreitsamkeit«, »zu allmählicher Bevölkerung der verschiedenen Weltstriche tauglich«39 machen.

Forsters Kritik

In gewisser Hinsicht scheint Forster auch aufgrund der oben benannten Affinitäten das Prinzip ›Angemessenheit des Menschen an seinen geographischen Himmelsstrich‹ in seinem eigenen Aufsatz Noch etwas über die Menschenraßen positiv aufzunehmen. »Ein jedes Wesen der Natur ist, was es seyn soll, 36

Zu dieser historischen und genealogischen Dimension von Kants Naturgeschichte vgl. auch Tanja van Hoorn, »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Naturgeschichte ? Forster vs. Kant«, in: Klopffechtereien, S. 163–177. Vgl. auch Manfred Riedel, »Historizismus und Kritizismus« und Stella Sandford, »Kant, Race, and Natural History«. Anhand einer detaillierten Analyse der ersten und dritten Kritik entwickelt Sandford eine Theorie, wie die genealogische Naturgeschichte oder Rassendoktrin die Möglichkeit eines Systems der Natur und von Transzendentalphilosophie bedingt. Aus der Perspektive des vorliegenden Kapitels ist dieser Zusammenhang zumindest bis 1785 gegeben. Spätestens in der Kritik der Urteilskraft wird die genealogische Teleologie aufgegeben. 37 Ebd., S. 95. 38 Ebd., S. 98. 39 Ebd., S. 99.

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nur an dem Ort, für den sie es entstehen ließ«, schreibt er.40 Und später erklärt er: Die Natur hat vielmehr, wie Herr K(ant) selbst behauptet, eine jeden Stamme seinen Charakter, seine besondere Organisation, ursprünglich in Beziehung auf sein Klima und zur Angemessenheit mit demselben gegeben. Unstreitig lässt sich dieses genaue Verhältnis zwischen dem Lande und seinen Bewohnern am leichtesten und kürzesten durch die locale Entstehung der letztern erklären. Brachte Afrika seine Menschen hervor, wie Asien die seinen, so ist es, dünkt mich, nicht schwer zu begreifen, warum jene so wie diese sich so besondern zu ihrem jedesmaligen Klima passen.41

In der Tat könne man, so Forster, in der Abstufung der Hautfarben eine Art von »Farbenleiter«42 erkennen, die den Einfluss des Klimas und die Angemessenheit der Weltbewohner an ihren Wohnsitz anzeigen kann. Somit kann Angemessenheit wohl als ein heuristisches Prinzip gelten. Nur gegen die genealogische Auslegung Kants hat Forster geradezu »unendlich vieles einzuwenden«43 und stellt mit der Autorität eines anerkannten und erprobten naturaliste und Universitätsprofessors der Naturgeschichte in seiner Antwort die von Kant avancierten Gedanken zur Anerbbarkeit der Hautfarbe und Monogenese radikal in Frage. Seine Kritik ist hier offensichtlich gleichzeitig gegen Kant und gegen Blumenbach gerichtet. Zur besseren Widerlegung begibt sich Forster zunächst auf eine sachliche, die Fakten betreffende und methodologische Ebene. Hier befindet er sich ganz in seinem Element, während Kant in Forsters Augen seine Grenzen überschreitet und versucht, die Natur in seine »logischen Distinktionen« zu zwängen.44 »Die eigentliche Veranlassung«, weshalb Forster sich mit der Sache befasst, sei aber, dass Kant »besonders über die Südseeinsulaner viel Unrichtiges gesagt hatte.«45 Forster beginnt deshalb seinen Aufsatz mit der Berichtung einiger Faktenfehler. Im Unterschied zu Kant kann er sich dabei sowohl auf eigene Erfahrungen als auch auf eine umfassendere Kenntnis der Reise­ 40

Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, S. 82. Ebd., S. 95 f. 42 Ebd., S. 81. 43 Forster, Brief an Sömmerring, 8. Juni, 1786, S. 413. 44 Rückblickend schreibt Forster in diesem Sinne an seinen Freund Sömmerring: »Es wäre doch gut, wenn überall der Schuster bei seinem Leisten bliebe ! Kant ist ein so vortrefflicher Kopf, und doch kommt der verzweifelte Paroxismus, der den Philosophen von Profession eigen ist, auch über ihn, die Natur nach ihren logischen Distinktionen modeln zu wollen. Der Plunder ist doch wahrlich mehr schädlich als nützlich.« Forster, Brief an Sömmerring, den 8. Juni 1786, in: Werke, Bd. 4, S. 413. 45 Forster, Brief an Heyne, den 20. November 1786, in: Werke, Bd. 4, S. 439. 41



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

berichte berufen. Insbesondere hatte ihn auf seiner eigenen Weltreise bereits die muskulöse Leibesstatur der Bewohner Neu-Kaledoniens überzeugt, dass in Anbetracht der »Dürre des Landes« der Einfluss des Klimas vielleicht geringer zu veranschlagen sei, als manche Anhänger der Klimatheorie meinen.46 Wie Forster nun darlegt, scheint das Klima nur einen sehr allmählichen Einfluss über mehrere Generationen hinweg auszuüben. Forsters Reise in den Südpazifik hatte außerdem seine frühere Überzeugung ins Wanken gebracht, dass die Menschheit »monogenetisch« aus einem einzigen Stamm entstanden sei. Nachdem er nämlich zunächst vorwiegend hellhäutige Menschen angetroffen hatte, war er später den dunkelhäutigen Melanesiern begegnet. Er mutmaßt nun, dass es vielleicht zwei Stämme und Hauptabteilungen geben könne. All diese Reiseerfahrungen47 und Einsichten fließen in den Aufsatz von 1786 ein und führen zu Forsters Formulierung der Gegenthese, »dass man sich, nach allen bisherigen Beschreibungen, noch keinen sicheren Begrif von der eigentlichen Farbe der Südseeinsulaner machen könne.«48 Forster seinerseits sieht deshalb im Prinzip Angemessenheit kein genealogisches, sondern ein bloß heuristisches Prinzip. Diese Relativierung geht mit einer allgemeineren Kritik an Kants überzogenen wissenschaftlichen und philosophischen Ansprüchen Hand in Hand. Was Forster wohl in Kants Argumentation am meisten verärgert, ist Kants vorgebliche Neutralität in der Rassenfrage, sein Zirkel im Beweis und seine »neue Art, einen Begriff als demonstrirt auszugeben, der durch die erste Voraussetzung erschlichen ward !«49 »Daß die Menschen einer Gattung sind, ist wohl ausgemacht, sobald man den Begriff von Gattung so bestimmt, daß es sich ausmachen läßt. Ob sie alle aber eines Stammes sind, folgt daraus noch lange nicht.«50 Kant setzt voraus, was eigentlich bewiesen werden soll, und bestimme insbesondere die Begriffe Varietät, Art und Gattung unzureichend. Wohl weil er meint, dieser 46

Forster, Reise um die Welt, in: Werke, Bd. 1, S. 861. Forster kann sich nun zusätzlich auf die Reiseberichte von Carteret, Bougainville, Dampier und Cook stützen. Diese berichten ihrerseits auch von der Verbreitung »von kleinen, hageren, schwarzen Menschen mit krausem Wollhaar und häßlicheren Gesichtszügen, die sich auch von Seiten der Lebensart, und insbesondere durch gänzlich verschiedene Sprachen von den hellbraunen unterscheiden, in einigen nahe am moluckischen Archipel liegenden Inseln«, die Neuguinea, Neuholland, Neukaledonien, die Charlotteninseln und die Hebriden bewohnen. Forster ist sich der Unvereinbarkeit dieser Zeugnisse mit Kants Thesen wohl bewusst: »Allerdings sehe ich wohl ein, daß es um manche Hypothese besser stehen würde, wenn sich die häßlichen Schwarzen gänzlich aus der Südsee wegdemonstriren ließen. Sie sind nun aber einmal da.« Ebd., S. 78. 48 Noch etwas über die Menschenraßen, in: Werke, Bd. 2, S. 77. 49 Forster, Brief an Herder vom 21. Januar 1787, Briefe, in: Werke Bd. 4, S. 448. 50 Vgl. Forsters Briefe an Heyne vom 20. November 1786 und 21. Januar 1787, Briefe, in: Werke Bd. 4, insbesondere S. 439. 47

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Zirkelschluss sei durch Kants Vokabular kaschiert, besteht Forster auf die Klärung seiner Begriffe. Forster weist Kant deshalb auf die Unbestimmtheit des Rassevokabulars hin. »Race« sei von den Franzosen entlehnt und etymologisch mit »racine« und »radix« verwandt. Der Begriff sei bisher nicht weiter terminologisch bestimmt und bedeutet in Forsters Augen nicht mehr als Varietät, »als ein Haufen Menschen, deren gemeinschaftliche Bildung eigenthümliches und von ihren Nachbarn abweichendes genug hat, um nicht unmittelbar von ihnen abgeleitet werden zu können«.51 Und Forster fügt hinzu: »Will man sich ins künftige an diese Definition halten, wenn von Menschen die Rede ist, so kann das Wort noch beybehalten werden: wo nicht, so können wir es füglich entbehren.«52 Weil sich eine Änderung der Hautfarbe seiner Ansicht nach nur über eine längere Zeitspanne »mit der allmähligen Einwirkung des Klimas« über viele Generationen hinweg entwickelt, stellt Forster weiterhin in Frage, dass das von Kant geforderte Experiment – dass nämlich »ein Kind der Südseeinsulaner in Europa gezeugt werden müsse, um die ihnen von Natur eigene Hautfarbe ohne Zweydeutigkeit zu entdecken«  – so »unentbehrlich« sey, »wie unser Herr Verfasser glaubt«.53 Obwohl er sich im Grunde wohl weder an die von Kant, Blumenbach und Herder vertretene Hypothese der Monogenese noch an die von Meiners und Sömmering avancierte der Polygenese anschließen möchte, streicht er außerdem den heuristischen und praktischen Vorteil der polygenetischen Erklärungsart heraus und spielt den advocatus diaboli.54 Diese besonderen Dimensionen von Kants Naturgeschichte zeugen in Forsters Augen einerseits von falsch verstandenen wissenschaftlichen Ambitionen. Für Forster überschreitet Kant mit der von ihm angestrebten Naturgeschichte und Erforschung der Anfänge des Lebens die Grenzen des streng wissenschaftlich Erklärbaren.55 51

Forster, Noch etwas über Menschenraßen, S. 96. Ebd., S. 97. 53 Ebd., S. 80 f. Forster fügt dem an, dass auch zweite Verpflanzungen denkbar wären und dass auch einzelne Menschen aus zweyerlei Stämmen gleichgefärbt sein können. Aus all diesen Gründen schließt sich Forster (gegen Kant) der auch von Linné und Sömmerring vertretenen Meinung an, dass »die Farbe bey Thieren und Pflanzen unter jene zufälligen, veränderlichen Eigenschaften [zählte], welche für sich allein, außer dem Zusammenhange mit andern Kennzeichen, zur Unterscheidung der Gattungen nicht hinreichend sind« (S. 82). 54 Diese rhetorische Dimension wird in manchen Auslegungen dieser Kontroverse vernachlässigt, so in mehreren Beiträgen des Bandes Klopfflechtereien. 55 Vgl. Riedel, »Historizismus und Kritizismus«, S. 47: »Der Gedanke, dass der physisch »erste« Ursprung des Lebens auf der Erde, der Übergang des Anorganischen ins 52



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

Andererseits deutet dieses genealogische Verfahren auch auf einen übertriebenen philosophischen Ehrgeiz. Indem Kant die Philosophie mit einer Wissenschaft gleichsetzt, verfolgt er Ambitionen, die diese nicht einlösen kann und die notwendig Halbwahres, Einseitiges mit sich führen. Wie Forster es schon eingangs klar herausstellt, hält er Kants Daten für die »geschminkten« Beobachtungen des partheischen Systematikers, die auch der Kritik der reinen Vernunft zugrunde liegen. Das heißt nun nicht, dass Forster jegliches Methoden- und Systemprinzip ablehnt – »sowohl der empyrische als der systematische Kopf kann unter gewissen Umständen die besten Beobachtungen liefern«.56 Nur die »Unpartheilichkeit« Kants steht hier in Frage ; Forster, der philosophischen Hypothesensucht misstrauend, warnt vor den Gefahren eines fehlerhaften Prinzips, das »verführt, den Gegenständen die Farbe seiner Brille zu leihen«, und das der Zeit nicht standhalten mag: »Vielleicht wird unser jetziges Schema der Wissenschaften ein halbes Jahrhundert weiter hinaus, ebenso wie das vorige, veralten und mangelhaft werden. Sogar die spekulative Philosophie dürfte diesem allgemeinen Schicksal unterworfen seyn. Wer denkt hiebey nicht gleich an die Kritik der reinen Vernunft ?«57 Zum einen wirft das Projekt einer Verwissenschaftlichung der Philosophie wohl intrinsische Schwierigkeiten auf. Forsters Kritik an der Prätention zeitloser apriorischer Wissenschaft nimmt spätere Gedanken Ernst Cassirers vorweg. Aber zum anderen ist dieses Projekt auch insofern problematisch, als dass Kants philosophisches Weltbürgertum mit der Prätention eines absoluten philosophischen Standpunkts ganz offenbar in Forsters Augen im Widerspruch zu einem wahren und unvoreingenommenen, unparteilichen Weltbürgertum steht.58 Forster stößt sich an der Parteilichkeit und Einseitigkeit der Philosophen von Profession, an Kants Systemzwang und Hypothesensucht. Weil ein Philosoph bestimmte philosophische Hypothesen und Systeme zu vereinbaren sucht, ist er noch nicht frei von einer gewissen Einseitigkeit und Voreingenommenheit. In Forsters Augen wird der Philosoph offenbar erst Organische überhaupt der Menschenvernunft unzugänglich bleibt, ist der methodisch relevante Gesichtspunkt der Kontroverse.« 56 Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, S. 76. 57 Ebd., S. 75. 58 Forster diskutiert nicht die Details dieses philosophischen Kosmopolitismus Kants: Man erinnere sich, dass die Anthropologie im Jahre 1786 noch nicht veröffentlicht ist. Forster kommentiert deshalb weder Kants Thesen zur deutschen weltbürgerlichen Disposition noch Kants »weltbürgerliches« Selbstverständnis als Bewohner Königsbergs am Pregelflusse: Weil diese Stadt »schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden« kann, hält Kant sie bekanntlich für den Ort, wo Weltkenntnis »auch ohne zu reisen erworben werden kann.« Anthropologie, AA Bd. 7, S. 120.

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dann zum Weltbürger, wenn er die Ambition einer apodiktisch gewissen Wissenschaft für die Götter aufgibt und den relativen Standpunkt eines Menschen akzeptiert. Insofern Kant diesem seinem einseitigen philosophischen Standpunkt eine absolute Geltung zuspricht, mangelt er der gebotenen empirischen Vorsicht und Behutsamkeit. In Forsters Augen zieht er es vor, »mit dem Schwerdt drein zu schlagen«59, statt den Knoten unaufgelöst zu lassen. Ohne Kants philosophisch und stoisch geprägten Kosmopolitismus in seiner metaphysischen Dimension vollständig zu rekonstruieren, kommt Forster in diesem Zusammenhang außerdem zielsicher auf die tieferen Divergenzen und Kants besondere Auslegung des Modells einer Kette der Wesen zurück. Es sei zwar »ein fruchtbarer Gedanke«, dass alles in der Schöpfung »durch Nuancen«60 zusammenhänge, doch plädiert Forster für einen bescheideneren Gebrauch dieses Modells. Während Kant mit Blumenbach zugunsten einer Analogie der Zwecke argumentiert, schlägt sich Forster auf Seiten Sömmerrings, Campes, Bonnets und nicht zuletzt Herders und favorisiert eine Analogie der Bildung und der Formen. […] vortreflich hat Herder einen ähnlichen Gedanken aufgefasst und ausgeführt, indem er sagt: es sey unläugbar, dass bey aller Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen, überall eine gewisse Einförmigkeit des Baues, und gleichsam eine Hauptform zu herrschen scheine, die in der reichsten Verschiedenheit wechselt.61

Aus Herders Gesichtspunkt, so bekennt Forster, sei ihm »der Mensch und die Schöpfung am Interessanten.«62 Auch sei die Verschiedenheit, was den Punkt der Menschenrassen betrifft, gering.63 Es ist in Forsters Augen unnötig und anmaßend, über die Naturgeschichte einen festen und absoluten Standpunkt erreichen zu wollen und die Vermischung der Rassen verbietende genealogische Naturgesetze fixieren zu wollen. Wenn Forster im Menschen zwar auch einen Handelnden sieht, so teilt er offenbar nicht Kants philosophische Idee von der Welt, die man in Analogie mit einer Wohnstätte und Gesellschaft konzipieren müsse. Zu Recht stellt Forster hier das besondere vorwissenschaftliche Prinzip Würde heraus, das Kant von Anfang an leitet und das er schon in die Natur und den Charakter des Menschen hineinliest. Forster 59

Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, S. 86. Ebd. S. 85. 61 Ebd. 62 Forster, Brief an Therese Heyne, 25. Juli 1784, in: Werke Bd. 4, S. 275. 63 Forster, Brief an Herder, 21. Juli 1786, S. 419. Vgl. über das Zusammentreffen und den Beginn der Freundschaft mit Herder auch den Brief an F.L.W. Meyer vom 14. September 1785, S. 373. 60



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

seinerseits glaubt offenbar weder, dass man diese Welt ausschließlich in ihrer Zweckmäßigkeit und ihren Nutzen für den Menschen betrachten könne oder müsse, noch auch, dass sich aus dieser Stellung des Menschen in der Welt besondere Vorrechte herleiten lassen könnten. Forster formuliert schließlich noch eine weitere, für die Menschenwürdeproblematik höchst relevante Kritik an Kant. Wenn Kant den polygenetischen Ansatz ablehnt, so Forster, dann auch deshalb, weil er an einem metaphysischen und quasitheologischen Anspruch festzuhalten scheint, den er auch in seinem Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte an den Tag lege und der von alten »theologischen Vorurteilen« oder sogar »Köhlerglaube«64 zeugt. Im letzten Teil seines Kommentars entlarvt Forster diese falschen Ängste und ambivalenten Ambitionen der Vertreter der Monogenesedoktrin.65 Er stellt heraus, dass diese letztendlich nicht wissenschaftlicher, sondern praktischer und moralischer Natur seien. Aller vorgegebenen wissenschaftlichen Neutralität zum Trotz scheinen diese die These der Zweiheit (vor dem zeitgenössischen politischen Hintergrund des Sklavenhandels) eigentlich aus moralischen Gründen abzulehnen. Im Grunde argumentieren sie aus der Angst heraus, dass mit dieser Trennung der Rassen der »letzte Faden«, mit dem das »gemishandelte Volk« der »Neger« mit uns zusammenhing, zerschnitten werde und in der Zukunft ihm nichts mehr »Schutz und Gnade« vor europäischer Grausamkeit verbürge.66 Mit diesen negativen Ängsten verbunden ist dabei die positive Hoffnung, dass die These eines ursprünglichen Menschenstamms in den Menschen ein Gefühl von Einheit und Zusammengehörigkeit wecken könne. Diese Hoffnung haben aber, so stellt Forster heraus, weder die neueren, naturwissenschaftlichen noch die älteren, theologischen Thesen von der Einheit des Menschengeschlechts je erfüllt. Sie erzeugen weder Liebe noch Duldsamkeit. Das zeigt das Beispiel des Sklaventreibers: Lassen Sie mich lieber fragen, ob der Gedanke, daß Schwarze unsere Brüder sind, schon irgendwo ein einzigesmal die aufgehobene Peitsche des Sklaventreibers sinken hieß ? Peinigte er nicht, in völliger Überzeugung, daß sie seines Blutes wären, die armen duldsamen Geschöpfe mit Henkerswuth und teuflischer Freude ?67 64

Ebd., S. 99. Man erinnere sich, dass die genealogischen Ursprungstheorien das theologische Deutungsmuster ablösen, dem zufolge das Menschengeschlecht von den drei Söhnen Noahs, Sem, Ham und Jafet, abstammt. 66 Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, S. 99. 67 Ebd. 65

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Im Grunde gilt die gleiche Feststellung in Forsters Augen auch noch für philosophische Sittenlehren. Die Einheit der Gattung als einzige Stütze des Systems unserer Pflichten ist nicht nur, wie oben ausgeführt, ein »unerweislicher Lehrsatz«. Sie ist auch praktisch unerheblich, denn dieser Lehrsatz hat nie, »als er für ausgemacht galt«, auch nur eine Schandtat verhindert.68 Wie gut Forster auch Kants praktische Philosophie in ihren Einzelheiten durchdringen mag, so trifft sein Kommentar insofern ins Schwarze, als dass er auf die Gefahr einer Verwechslung wissenschaftlicher und praktisch ästhetischer Ambitionen hinweist. Wenn auch die Naturphilosophie dem Menschen seine Würde vor Augen stellt, so ist sie noch keine praktische Erziehung zur Menschlichkeit. In Forsters Augen zählt Kant zu jenen Moralisten, die auf einem »falschen Begriffe« Gebäude bauen, das aus ihrer eigenen Schuld »wankt« und »wie ein Kartenhaus zerfällt«.69 Die eigentlichen Mittel zur Ausbildung eines »edlen Selbstgefühls« seien nicht eine unerwiesene Naturphilosophie, ergänzt um eine abstrakte Moralphilosophie, sondern, so argumentiert Forster in seinem Aufsatz, eine praktische ästhetische Erziehung, »die jeden Grundsatz durch faßliche und tiefen Eindruck machende Beyspiele erläutert, und aus der Erfahrung abstrahiren läßt«.70 Sie alleine könnten es dahin bringen, dass Menschen künftig ihre eigene Menschenwürde fühlen lernen: dass sie die gebotene Widerstandskraft gegen Unmenschlichkeit und Tyrannei aufbringen ; dass sie »fühlen, was sie Menschen schuldig sind, was jede Thierart sogar, mit denen sie doch willkürlich umgehen, an sie zu fordern hat«71 ; dass sie aus einem solchen gefühlten Bewusstsein der eigenen Verantwortung der Menschheit gegenüber den Bedürftigen Hilfe und Erziehung angedeihen las68 Ebd. Rückblickend erläutert Forster seine Kritik an Kants theologischen Vorurteilen in größerem Detail. In seinem Brief an Herder vom 21. Januar 1787 bringt er sein Erstaunen zum Ausdruck, dass Kant sich im Mutmaßlichen Anfang »auf die seltsamen Bibelerklärungen einließ, womit er offenbar einen Gesichtspunkt für die Mosaischen Schriften wieder hervorsucht, den jeder weise und redliche Gottesgelehrte in Vergessenheit zu begraben wünscht.« Kant hatte in diesem Aufsatz bekanntlich den biblischen Schöpfungsbericht und eine bestimmte von Rousseau inspirierte hypothetische Naturgeschichte einander als konkurrierende Erklärungsmodelle gegenübergestellt. Zugleich hatte er auch ihre Vereinbarkeit postuliert, insofern beide die Freiheit des Menschen im Blick hätten. Diese Perspektive ist für Forster unhaltbar. Theologie müsse, wie Herders Älteste Urkunde, auf Philologie gründen und dürfe nicht als Mittel zur Propagierung der eigenen philosophischen Weisheit dienen: »Den Moses kantische Metaphysik sprechen zu lassen, ist doch das Ärgste, was man sich über ihn einfallen lassen kann, daß jene Metaphysik und göttliche Weisheit einstimmig sind.« 69 Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, S. 99. 70 Ebd. 71 Ebd.



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

sen. In diesem Sinne muss wohl hier auch Forsters Appel an den »Unglücklichen Weißen« gelesen werden: »du solltest Vaterstelle an ihm vertreten, und indem du den heiligen Funken der Vernunft in ihm entwickelst, das Werk der Veredlung vollbringen […].«72 Die Ironie besteht hier in der Pertinenz und philosophischen Relevanz von Forsters Kritik, die Kant tatsächlich zur Revision seiner Rassendoktrin bewegt – ohne dass diese philosophische Dimension in der Kontroverse selbst überhaupt zur Sprache käme. Forster seinerseits besteht jedenfalls nicht auf der Klärung der philosophischen Voraussetzungen. Vermutlich durchdringt er diese auch gar nicht vollständig. Rückblickend erklärt er, er sei eigentlich »aus Mangel an philosophischen Vorkenntnissen und fast noch eigentlicher, weil ich den philosophischen Jargon nicht verstand«,73 mit Kant in Streit geraten. Eigentlich kenne er Kant nur aus obigen Texten und aus zweiter Hand über Reinhold und Sulzern. Jetzt laufe er, so schreibt er an Jacobi, Gefahr, vor vieler Augen »einen Sandreiter« à la Don Quichotte abzugeben, indem Kant »[…] sich mit seiner Kunstsprache in die unüberwindlichste, stachligste Form eines gehetzten Igels zusammengerollt hat, daß man glauben könnte, ihm sei gar nicht beizukommen.«74 Dieses Geständnis, sich Kants technisch-philosophischer Argumentation nicht gewachsen zu fühlen, bedeutet aber nun nicht, dass Forster sich von Kants Argumenten hat überzeugen lassen: »Allein im Grunde«, so setzt Forster seinen Brief fort, »sind es doch nur Klopffechterstreiche«75, und Kant werde ihn durch »alle Winkelzüge nicht bereden können ; daß er in der Sache von den Menschenrassen recht habe.«76

Kants Korrekturen

In wissenschaftlicher Hinsicht zeigt sich Kant Forster gegenüber erstaunlich offen. In seiner Antwort kommt zum einen die große Wertschätzung Kants den wissenschaftlichen Leistungen des dreißig Jahre jüngeren Kollegen gegenüber zum Ausdruck, dessen Arbeiten er offensichtlich seit 1779 verfolgt und auch in den eigenen Vorlesungen zur Physischen Geographie77 zitiert. Weil Kant Forster für einen Mann »von vorzüglichem Talente, jugendlicher Kraft 72

Ebd., S. 100. Forster an Jacobi, Brief vom 19. November 1788, in: Werke Bd. 4, S. 526. 74 Ebd. 75 Veraltet für: »berufsmäßiger Fechter« und »bissiger Publizist« (Quelle: Duden). 76 Forster an Jacobi, Brief vom 19. November 1788, in: Werke Bd. 4, S. 526. 77 Kant, Physische Geographie, AA Bd. IX, S. 238. 73

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und aufblühendem Ruhme«78 hält, legt er besonderen Wert auf diese Diskussion und eine gründliche Verteidigung seiner Ansichten. Zum anderen aber zeigt sich hier, dass Kant sich auf dieser Ebene ganz und gar nicht für unfehlbar hält und selbst nicht vorgibt, in der Frage nach den Menschenrassen schon eine endgültige Lösung gefunden zu haben. Seine eigene genealogische Methode bezeichnet er als eine hypothetische, die als bloße »Zutat«79 anzunehmen oder zu verwerfen sei. Seine Rassendoktrin ist in seinen Augen eine nebensächliche und nicht systemtragende Detailfrage.80 Obgleich Kant den Akzent auf die Dualität der Perspektiven oder Fächer legt, räumt er sich selbst in der Philosophie die größere Autorität ein und gesteht Forster kein wahres Mitspracherecht zu. So versucht er nicht nur, bestimmte Divergenzen auf ein »Missverständnis« und eine »Sprachuneinigkeit«81 zurückzuführen, sondern lässt auch die meisten Einwände Forsters unbeantwortet. Dass letzterer konsequent als Empiriker argumentiert und in Kants Augen nicht oder nur an wenigen Stellen die ihm gesetzten Schranken übertritt, unterscheidet ihn von seinem philosophischen Mentor Herder und kommt Kant durchaus gelegen. Nur einige wenige Zeichen deuten auf Forsters großen philosophischen Einfluss und Kants Sinneswandel hin. So scheint er im Laufe dieser Kontroverse von seiner früheren genealogischen Perspektive auf Angemessenheit abzurücken. Um Forsters Vorwurf zu begegnen, er vermenge in seiner Naturgeschichte wissenschaftliche, theologische und moralische Zwecke und verfolge damit in der Wissenschaft letztendlich das praktische Ziel, die Würde des Menschen aus der Natur abzuleiten, trifft Kant nun eine Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Gebrauch teleologischer Prinzipien. Man müsse die nie a priori einsichtige und immer empirisch bedingte Annahme, dass es in der Natur Zwecke geben müsse, von der a priori einsichtigen Annahme trennen, dass es darin eine Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen geben müsste. Letztere sei praktisch begründbar: »Allein die Kritik der praktischen Vernunft zeigt, daß es reine praktische Prinzipien gebe, wodurch die Vernunft a priori bestimmt wird, und die also a priori den 78

Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, AA Bd. VIII, S. 160. Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, AA Bd. VIII, S. 100. 80 Man rufe sich in diesem Zusammenhang auch in Erinnerung, dass Kant allgemeiner nicht glaubt, dass dem Menschen je schon der Inhalt seiner Pflicht ganz deutlich vor Augen stehe. Im Gegensatz zu der immer schon einsichtigen Form des Sittengesetzes bleibt sein Inhalt immer mit Verworrenheit behaftet und ist immer der weiteren Klärung fähig. Diesen Gedanken wendet er wohl auch auf die eigene Anthropologie an. Er fordert für diesen Aspekt seiner Philosophie keine apodiktische Gewissheit ein. 81 Ebd., S. 168. 79



Die Kontroverse zwischen Kant und Forster

Zweck derselben angeben«82 Damit weist Kant schon indirekt die Gleichsetzung von Würde und einem Naturzweck der Angemessenheit zurück. Auch bewegt Forsters Kritik Kant offensichtlich schon hier zur Revision bestimmter philosophischer Grundüberzeugungen, die zumindest ansatzweise zur Sprache kommen. So hält Kant trotz der Einwände Forsters an seinem besonderen Methodenprinzip fest. Freilich muss man vermeiden, unvorsichtig »seine Ideen in die Beobachtung selbst hineinzutragen«83 und erklären zu wollen, wie der erste Menschenstamm entstanden sei. Nichtsdestotrotz ist gewiss, »daß durch bloßes Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip, wornach man zu suchen habe, nichts Zweckmäßiges jemals würde gefunden werden«.84 Der heuristische Leitfaden nun bestehe, wie Forster es auch fordert, in der Annahme einer Naturkette und »Verwandtschaft aller in einer unmerklichen Abstufung vom Menschen zum Wallfische und so weiter hinab (vermuthlich bis zu Moosen und Flechten)«. Kant merkt an, diese Idee sei zwar »vornehmlich durch Bonnet beliebt geworden«, sie verdiene aber auch, in der Erinnerung des »Herrn Professor Blumenbach (Handbuch der Naturgeschichte, 1779 Vorrede § 7)«85 gelesen zu werden. Schluss

In diesem Sinne scheint Forster tatsächlich einen positiven Einfluss auf Kant auszuüben. Seine tiefen Einwände scheinen einen Sinneswandel zu bewirken, der Kant dazu bewegt, nach 1788 von seinem wissenschaftlichen Rassismus Abstand zu nehmen. Dieser Sinneswandel kommt nicht so sehr schon in Kants Stellungnahmen in Zum ewigen Frieden gegen Sklavenhandel und Kolonialismus zum Ausdruck, wie Pauline Kleingeld behauptet86: denn diese rechtlichen Implikationen sind im Prinzip schon mit Kants früheren anthropologischen und kosmopolitischen Grundüberzeugungen und dem Prinzip der Angemessenheit vereinbar, das das Recht auf die Bewohnung eines Himmelsstrichs 82

Ebd., AA Bd. VIII, S. 182. Ebd., S. 161. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 180 f. 86 Pauline Kleingeld, »Kant’s second thoughts on race«, The Philosophical Quarterly, n° 57, 2007, S. 573–592. Vgl. auch Pauline Kleingeld und Lea Ypi in ihren Beiträgen zu dem Sammelband Kant and Colonialism, die in dieselbe Richtung gehen. Kleingeld bringt die Sinnesänderung auch mit Kant intensiver Beschäftigung mit politischer Philosophie und dem historischen Ereignis der Französischen Revolution in den 1790er Jahren in Verbindung. Vgl. Kleingeld, »Kant’s Second Thoughts on Colonialism«, S. 43–67. Ypi, »Commerce and Colonialism in Kant’s Philosophy of History«, S. 99–126. 83

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durchaus miteinschließen kann. Er zeigt sich weitaus deutlicher in Kants neuer Auslegung von Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft, die seine früheren Hypothesen und insbesondere die eines Naturgesetzes der Rassentrennung überflüssig macht. Wie im folgenden Kapitel ausführlicher gezeigt werden soll, hält Kant hier zwar an der Relevanz einer theoretischen, teleologischen Betrachtung der Welt, Menschheit und Kette der Wesen zur Bestimmung des eigenen »Charakters« als Weltbürger und Teil eines weiteren Menschengeschlechts fest, gibt aber die frühere wissenschaftliche, experimentale und genealogische Ambition auf, Ursprünge zu erforschen und Naturgesetze der Rassenbildung zu fixieren. Damit verlieren seine früheren rassistischen und hierarchischen Äußerungen zumindest ihren Stellenwert, ob sie nun völlig revidiert werden oder nicht. Er skizziert außerdem ein neues, populäreres und universalistisches Programm der ästhetischen Erziehung zur Humanität, das vom Menschen verlangt, sich an die Stelle jedes anderen zu versetzen. Wie Riedel richtig hervorhebt, präludiert der Streit mit Forster somit die Teleologie der Kritik der Urteilskraft – weshalb sich hier ein Sprung zu dieser Schrift anbietet, bevor wir uns im dritten Teil den praktischen Aspekten von Kants Menschenwürdebegriff zuwenden.87

87 Vgl. Riedel, »Historizismus und Kritizismus«, S. 50: »Kant formuliert hier im Kontext des Streites mit Forster das Programm einer Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft.«

Kapitel 8 Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft Ganz offenbar kommt Kant in der Kritik der Urteilskraft mit einer neuen Perspektive auf die Frage nach der Würde und Humanität des Menschen zurück und nimmt zugleich die 1755 begonnene Auseinandersetzung mit Wolffs teleologischem Kosmopolitismus wieder auf. Dadurch führt er auch die früheren Gedanken einer »Anthropologie« aus den 1770er Jahren fort. Wiederum ist sein Ausgangspunkt nicht eng praktisch, sondern kosmologisch und kosmopolitisch. Er betrifft die Welt und deren Zweckmäßigkeit. Letzterer Begriff der Zweckmäßigkeit rückt nun ins Zentrum seiner Überlegungen, während der Weltbegriff im Hintergrund bleibt. Zu deren besserer Beschreibung kehrt Kant auf den bei Wolff präsenten Vergleich der Welt mit einem Gebäude und einer Wohnstätte zurück. Offensichtlich möchte er hier seine frühere Ablehnung von Wolffs allzu theologischem Zugriff nuancieren. Diesem Ziel dient die von Forster angeregte neue Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlich-reflexiven heuristischen und einem ästhetischensubjektiven Prinzip der Zweckmäßigkeit. Zwar ist es wahr, dass die Betrachtung der Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes keinen physikotheologischen Beweis Gottes oder aber eine Erkenntnis des eigenen Wesens und der eigenen gottähnlichen Attribute bietet ; nichtsdestotrotz deutet sie auf den eigenen Charakter der Angemessenheit und weist dem Menschen seinen Platz in einer ganz besonderen Stufenordnung zu. Die Betrachtung des Weltgebäudes in seiner Schönheit und Erhabenheit ist zudem auch erhebend und liefert der eigenen Würde den höheren Maßstab. Kant zufolge besteht die Erhabenheit der Welt in dem unbedingt Großen oder dem, was gerade nicht von dem eigenen Selbst abhängt, und zugleich diesem einen Maß und eine Richtschnur für die eigene Haltung und Würde in der Welt bietet. Im ersten Teil dieses Kapitels steht der heuristische Aspekt dieser Frage, der Kant, wie bereits erwähnt, in eine tiefe Auseinandersetzung mit Blumenbach verwickelt. Der zweite ist dem ästhetischen Aspekt, dem Verhältnis zwischen Würde und Erhabenheit und Kants Programm der Humaniora gewidmet.



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Der Mensch als Haushälter. Kant und Blumenbach über Stufenleitern

Offenbar haben 1790 noch nicht alle Fragen die Würde und Humanität des Menschen betreffend eine befriedigende Antwort gefunden: weshalb Kant in der Kritik der Urteilskraft wieder an Wolffs oben skizzierten teleologischen Kosmopolitismus anknüpft und die in den 1750er Jahren begonnene Ausein­ andersetzung mit Wolffs Teleologie wieder aufnimmt.1 So schreibt Kant zwei Jahre vor der Publikation der Schrift an Reinhold, sein neues Projekt befasse sich nach der theoretischen und praktischen Philosophie mit der Teleologie. So beschäftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine neue Art von Prinzipien a priori entdeckt wird, als die bisherigen. Denn der Vermögen des Gemüts sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der reinen (theoretischen), für das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite, und ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, was die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mir im menschlichen Gemüte hatte entdecken lassen und welches zu bewundern und womöglich zu ergründen mir noch Stoff genug für den Überrest meines Lebens geben wird, mich doch auf diesem Weg, so dass ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, deren jede ihre Prinzipien a priori hat, die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann – theo­retische Philosophie, Teleologie und praktische Philosophie, von denen freilich die mittlere die ärmste an Bestimmungsgründen a priori befunden wird.2

Kants Perspektive ist hier zunächst eine heuristische, den Charakter und zugleich die Bestimmung des Menschen betreffend. Es geht ihm darum, mit Forster, Blumenbach und der Naturgeschichte seiner Zeit Wolffs Heuristik und Teleologie zu korrigieren und Gedanken, die bei Wolff selbst noch unscharf, zwischenzeitlich wissenschaftlich veraltet waren, genauer zu fassen. Wie schon im letzten Kapitel erwähnt, knüpft Kant an den Gedanken einer Angemessenheit des Menschen an. Diese Angemessenheit geht auf das griechische Wort οἰκείωσις und Lateinisch proprietas zurück und ist seinerseits Teil des alten stoischen und kosmopolitischen Welthausmodells. Man könnte diesen Begriff auch mit »Eignung« (»Zueignung«, »Aneignung«) übersetzen, denn es bezeichnet ein Zueignungsvermögen, das den Menschen dazu befähigt, 1 2

Vgl. Kapitel 5. Kant an Carl Leonhard Reinhold, 28. und 31. Dezember 1787, AA Bd. X, S. 514 f.

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



sich in der Welt zu Hause zu fühlen und sich den Umständen entsprechend zu benehmen zu wissen. Eine solche Tauglichkeit und Zweck­mäßigkeit umfasst eigentlich mehrere Vermögen, nämlich einerseits das Vermögen, die Zweckmäßigkeit der Welt selbst wahrzunehmen, dann das, sich selbst an die Welt anzupassen oder sich in der Welt einzurichten, und schließlich das Vermögen, die Welt an die eigenen Zwecke anzupassen und sie umzuformen, was wiederum eine gewisse Voraussicht erfordert. Dem zugrunde liegt die Idee, dass die Natur oder die Welt dafür sorgt, dass das Lebewesen seinem Lebensraum zugeeignet ist und sich diesen aneignet ; dass die Welt den Menschen beherbergt, umfasst und zugleich bildet ; dass die Welt für den Menschen eine Schule sein kann, dem neuen schon oben skizzierten physiologischen Kosmopolitismus gemäß. Wie bereits erwähnt, steht dieses Prinzip der Angemessenheit schon ab den frühen naturhistorischen Schriften, den Vorlesungen zur Physischen Geographie und Rassenaufsätzen im Mittelpunkt von Kants Philosophie und erfährt im Laufe der Zeit bestimmte terminologische Wandlungen. In seinem Rassenaufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen von 1775 spricht Kant noch von »Angemessenheit«. Hier heißt es: Die[se] Fürsorge der Natur, ihr Geschöpf durch versteckte innere Vorkehrungen auf allerlei künftige Umstände auszurüsten, damit es sich erhalte, und der Verschiedenheit des Klimas oder des Bodens angemessen [meine Hervorhebung] sei, ist bewundernswürdig.3

Diese Angemessenheit beinhalte gewisse Keime und Anlagen, die dem Menschen zum Bewohner aller Gegenden in dieser Welt bestimmten: Der Mensch war für alle Klimaten und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt ; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen, um gelegentlich entweder ausgewickelt oder zurückgehalten zu werden, damit er seinem Platze in der Welt angemessen [meine Hervorhebung] würde, und in dem Fortgange der Zeugungen demselben gleichsam angeboren und dafür gemacht zu sein schien.4

Diese Angemessenheit veranschaulicht Kant am Beispiel der Eskimos. Unter dem Einfluss der Kälte habe dieses nördliche Volk eine dem Blutkreislauf zuträgliche kleinere Statur entwickelt als andere Stämme. Um eines sparsameren Gebrauches der Körpersäfte willen sei der Bartwuchs gehemmt

3 Kant, 4

Von den verschiedenen Racen der Menschen, AA Bd. II, S. 434. Ebd., S. 436.

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worden. Außerdem seien »vermittelst der Fürsorge der Natur«5 die hervor­ ragenden Teile des Gesichts flacher geworden. Daraus sei jene »kalmuckische Gesichtbildung« entsprungen, die sich »eingewurzelt und dauerhaft erhalten habe.«6 Diese Thesen werden in der Folgezeit in Auseinandersetzung mit Georg Forster, Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743–1815) und insbesondere mit Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) genauer ausgeführt. Von der Kontroverse mit Forster war bereits oben die Rede. Wenden wir uns um der weiteren Verortung von Kants Position willen jetzt Zimmermann und Blumenbach zu, die beide auch einen für Kant relevanten Beitrag zur Debatte über die menschliche Angemessenheit und über die Stufenordnung der Geschöpfe leisten. Zimmermann hatte seinerseits in seiner Geographischen Geschichte des Menschen7 direkt an Kants ersten Rassenaufsatz angeknüpft. Auch seine Überlegungen kreisen um das Prinzip Angemessenheit, wie es sich in der klimatischen Anpassung des Eskimos an die Kälte und die des Amerikaners an die Luftsäure zeige. Zimmermann führt hier Kants Ansatz weiter. Statt einer »Vernunft«8, einer »Seele« oder besonderen Körperkraft9 hebt Zimmermann die einzigartige »Biegsamkeit«10 und »Verbreitsamkeit«11 des Menschen hervor. Diese Biegsamkeit bestehe in der distinktiven Fähigkeit des Menschen, in alle Klimate versetzt werden zu können, »den Pol und den Aequator«12 zu beleben.13. Sie sei es, die dem Menschen den Rang des »Gebieter[s] aller Geschöpfe« verleiht. Der Gebieter aller Geschöpfe […] zeigt sich in der That viel stärker und biegsamer als irgendeine andere Kreatur, geht auf der Erdoberfläche aller Orten mit 5

Ebd. Ebd., S. 437. 7 Eberhard August Wilhelm von Zimmermann, Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere: nebst einer hieher gehörigen Zoologischen Weltcharte, Leipzig, 1778. 8 Ebd., S. 31. 9 Ebd., S. 53. 10 Ebd., S. 54. 11 Ebd., S. 48 und S. 123: »Ein anderer Vorzug des Menschen, und worauf, so viel mir bekannt, noch niemand Acht gegeben hat, ist seine große Verbreitsamkeit, worinn er den Ourang so sehr übertrifft, als es nur möglich ist ; denn dieses ihm so ähnliche Geschöpf ist […] lediglich auf die heiße Zone der alten Welt eingeschränkt.« 12 Ebd. 13 Ebd., S. 48. »Ein Hülfsmittel dazu ist auch die vielfältige Nahrung einschließlich fleischlicher Nahrung: »Hundszähne, ein einiger Magen, nicht übermäßig lange Gedärme beweisen, daß er mit Recht, um sich zu nähren tödten darf.« 6

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



möglichster Sicherheit fort, und nimmt, je nach dem es ihm gefällt, diese oder jene Stelle, seiner Stärke unbeschadet, ein.14

Zimmermann verbindet dieses Argument mit dem klassischen Gedanken von der Stufenleiter und der Kette der Wesen. In der »Vertheilung der Dinge«, schreibt er, sei eine Ordnung und Haushaltung der Natur ersichtlich, die eine fragmentarisch sichtbare Stufenordnung begründe. Dass deren Lücken nicht ganz geschlossen werden können, tut der Überzeugung, dass »vom Menschen bis zum untersten Affen, vom Polypen bis zum Trüffel«15 der weiseste Plan herrsche, keinen Abbruch. […] wir müssen auch schon dafür dankbar sein, daß sie [die Natur] unsern Maulwurfsauge einzelne, kurze, an einander hangende Theile ihres unermeßlichen Cirkels übersehen läßt. Eben daher ist es unvernünftig, wenn ich aus einzelnen Fällen schließe, als gäbe es keine Kette oder Stufenfolge in der Natur, weil mir hie und da noch ein Glied, eine Verbindung, ein Uebergang fehlt.16

Dieses Werk Zimmermanns veranlasst Kant einem Brief aus dem Jahre 1779 nach »zum weiteren Überdenken dieses Gegenstandes«. […] eine Fortsetzung der Abhandlung von den Menschenrassen scheint mir doch, teils in Ansehung meiner Absicht, teils in Absicht auf die Unterhaltung des im vorigen Stück nicht völlig befriedigten wißbegierigen Lesers, vorjetzt den Vorzug zu verdienen. […] Die Materialien hiezu liegen zwar schon seit einiger Zeit völlig fertig, weil ich durch Zimmermanns Geographische Geschichte des Menschen (der das vorige Stück hierin beurteilete) zum weiteren Überdenken dieses Gegenstandes veranlasset wurde.

Kant bittet sich zunächst zur Einbekleidung »einige Frist« aus.17 Letztendlich beschließt er aber, trotz seiner im selben Brief hervorgehobenen Popularität, die er sich von diesem Aufsatz verspricht, einen Aufschub. Er verfasst 14

Ebd., S. 31. Ebd., Einleitung, S. 5. 16 Ebd., Einleitung, S. 4 f. 17 Kant, Brief an Johann Jacob Engel, 4. Juli 1779, AA Bd. X, S. 256: »Vor langweiligen Wiederholungen des von mir und anderen schon gesagten, vor windigten Hypothesen oder auch eine scholastische Trockenheit dürfen Sie sich nicht fürchten. Der Stoff ist reichhaltig und an sich populär, und da ich jetzt den Gesichtspunkt, aus welchem man die Varietäten der Menschengattung betrachten muss, so deutlich zu bestimmen imstande bin, daß dadurch in kurzem auch in diesem Felde etwas mit Sicherheit werde ausgemacht werden können, so bekommt die Abhandlung dadurch einige Wichtigkeit. Überdem werden die angehängte Prinzipien einer moralischen Charakteristik der verschiedenen Rassen der Menschengattung den Geschmack derer, die auf das Physische nicht sonderlich merken, zu befriedigen dienen.« 15

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zunächst weitere anthropologische Schriften, wie im Jahre 1784 die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, bis 1785 endlich der angekündigte Aufsatz mit dem Titel Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace erscheint. Es folgt sein Aufsatz Über den Gebrauch, der, wie oben ausgeführt, Teil seiner Polemik mit Forster ist und bereits einen direkten Verweis auf Blumenbach enthält ; dieser wird nun im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft zum bevorzugten Gesprächspartner Kants. Auf den ersten Blick betrifft der Einfluss Blumenbachs vor allem die sogenannte Theorie des Bildungstriebes (nisus formativus)18. Diese legt Blumenbach ausführlich in dem Aufsatz Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte19 von 1780 dar. Er erklärt, Reproduktionsversuche mit in einem Mühlbach gefundenen grünen Armpolypen hätten ihn zu der Annahme verleitet, dass »in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besonderer eingebohrner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie da zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen.«20 Dieser plastische Trieb, der die ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduktion enthalte, kennzeichne alle tierischen und menschlichen Organismen allgemein und erkläre trotz aller Unbeständigkeit der Natur Abweichungen und Degeneration, Aussterben und Nachartung. Diese Rückführung der generativen, nutritiven und reproduktiven Funktion des Organismus auf eine einzige Grundkraft entspricht in gewisser Hinsicht ihrerseits einer Weiterführung des kantischen Prinzips der Angemessenheit als allgemeines Kennzeichen lebendiger Organismen. Es wirft außerdem ein Licht auf die Gesetze organischer Zeugung, die Kant in der Kritik der Urteilskraft diskutiert. Hier stellt Kant dem System des Okkasionalism (die Annahme einer unmittelbaren Erzeugung der organischen Bildung durch eine oberste Weltursache, ihrer Idee gemäß, bei Gelegenheit einer jeden 18

Zum Dialog zwischen Kant und Blumenbach bezüglich des Bildungstriebs vgl. aus der umfangreichen Forschungsliteratur vor allem die in der Bibliografie aufgeführten Arbeiten von Daniela Helbig und Dalia Nassar, Philippe Hunemann, Norbert Klatt, Timothy Lenoir, Peter McLaughlin, Robert R. Richards. Der weitere philosophische Problemkontext zur Stufenleiter der Geschöpfe, wie Blumenberg ihn in seinem Handbuch beschreibt und Kant ihn in seinem Aufsatz von 1788 erwähnt, hat im Vergleich zum Bildungstrieb bisher wenig Beachtung gefunden. 19 Johann Friedrich Blumenbach, »Professor Blumenbach über den Bildungstrieb (nisus formativus) und seinen Einfluß auf Generation und Reproduction«, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg., 5. Stück, 1780, S. 247–266 ; D. Johann Friedrich Blumenbach über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen, Johann Christian Dieterich, 1781. 20 Ebd., § 2, S. 12.

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



Begattung der in derselben sich mischenden Materie) und dem System der individuellen Präformation oder Involution das System der generischen Präformation oder Epigenese gegenüber, dem er aufgrund seiner Vereinbarkeit mit den mechanischen Gesetzen Vorrang gewährt. In diesem Zusammenhang kommt Kant lobend auf Blumenbach zu sprechen. In Ansehung dieser Theorie der Epigenesis habe niemand mehr, sowohl zum Beweise derselben, als auch zur Gründung der echten Prinzipien ihrer Anwendung, zum Teil durch die Beschränkung eines zu vermessenen Gebrauchs derselben, geleistet, als Herr Hofr. Blumenbach.21

Dieser erkläre die materialistische Hypothese einer ursprünglichen Bildung roher Materie nach mechanischen Gesetzen und Fügung in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit »mit Recht für vernunftwidrig« ; gewähre aber dennoch mithilfe seines der mechanischen Bildungskraft übergeordneten Begriffs des Bildungstriebes dem Naturmechanismus »einen unbestimmbaren, zugleich doch auch unverkennbaren Anteil«.22 Wenn auch unerforschlich, so besitze doch diese Hypothese zweierlei Vorteile. Sie entspreche zum einen den »Erfahrungsgründen«. Zum anderen betrachte sie die Natur, »was die Fortpflanzung betrifft, als selbst hervorbringend, nicht bloß als entwickelnd«, und überlasse ihr so »doch mit dem kleinstmöglichen Aufwande des Übernatürlichen alles Folgende vom ersten Anfange an«.23 Aber die Bedeutung dieser Theorie reicht weit über die technisch-biologische Detailfragen hinaus. Denn sie erlaubt die Formulierung eines heuristischen Prinzips, das es angesichts der Unbeständigkeit der Natur24 ermöglicht, auf die Formulierung experimental zu bestätigender Naturgesetze und auf genealogische Studien über Ursprünge und Anfänge des Menschengeschlechts zu verzichten bzw. den Unterschied zwischen Kunst und Natur 21

Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 424. Ebd. 23 Ebd. 24 Die Natur sei, so resümiert Blumenbach in der Einleitung seines Handbuchs, keine immer die gleichen Eier legende »alte Henne«. Dass »schon einmal nicht blos eine oder die andre Gattung sondern eine ganze organisirte präadamitische Schöpfung auf unserm Erdboden untergegangen« sei, hält er für mehr als wahrscheinlich. Von einer solchen vielleicht von einem unterirdischen Feuer und »Erdbrande« ausgelösten »Totalrevolution« und späterer allmählicher Abkühlung der neuveränderten »Rinde unseres Planeten« zeugen die Versteinerungen aus der »Vorwelt« in den Kalkbergen. Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte, 1. Aufl., Göttingen, bey Johann Christian Dieterich, 1779, Einleitung. Zu Blumenbachs historizisierten Naturbegriff vgl. auch John H. Zammito, »The Rise of Paleontology and the Historicisation of Nature: Blumenbach and Deluc«, in: Johann Friedrich Blumenbach. Race and Natural History, 1750–1850. Hg. v. Nicolaas Rupke u. Gerhard Lauer, New York, Routledge, 2020, S. 197–232. 22

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unentschieden zu lassen 25 und zugleich die bei Kant und Zimmermann präsente »stoische« Anthropologie philosophisch zu stützen. Denn wie es die Beyträge zur Naturgeschichte 26 von 1779 und in sein Handbuch der Naturgeschichte aus dem gleichen Jahr zeigen, teilt Blumenbach im Großen und Ganzen Kants anthropologische Positionen. Weil die Natur den Menschen auf einen Lebensraum zugeeignet hat, gibt sie auch ihre Absicht kund, dass er sich diesen aneignen soll oder, wie Blumenbach nun schreibt, dass er, der Mensch, zum »Haushalter« über die Schöpfung berufen sei. In seinem Handbuch distanziert sich Blumenbach in diesem Sinne ausdrücklich von der klassischen naturhistorischen Deutung der Kette der Wesen. Dieses Modell, wie es sich bei Leibniz, Robinet27 und Bonnet finde, postuliert, »daß alle erschaffene[n] Wesen, vom vollkommensten bis zum Atom, vom Engel bis zum einfachsten Elemente, in einer ununterbrochnen Reihe, wie Glied an Glied in einer Kette, zusammenhingen ; und alle Abteilungen imaginär und konventionell seien.« Blumenbach zufolge sei die Idee einer solchen Stufenfolge »ebenso alt als artig«, »eine der interessantesten Speculationen in der Natürlichen Philosophie« und »der wahre Grund eines natürlichen Systems in der Naturgeschichte«, aber die Leitern und Ketten könnten, wenn zu weit getrieben, »in eine Spielerey ausarten.« Wie man den Vorzug bei der Einrichtung eines Hauses nicht in der Stufenfolge, in der Gestalt und Größe der Möbel suchen könne, so müsse die Vollkommenheit der Haushaltung der großen Mutter Natur nicht in der Ähnlichkeit, sondern der gleichen Zweckmäßigkeit aller Elemente bestehen. Daß Gott in seiner Schöpfung keine Lücke gelassen hat, daß dieses unermeßliche Uhrwerk nirgend stockt, sondern im ununterbrochnen Gange, im beständigen Gleichgewicht erhalten wird, davon liegt der Grund wohl schwerlich darinne, weil der Orangoutang den Uebergang vom Menschen zum Affen machen, oder weil die Vögel durch die Fledermäuse mit den vierfüßigen Thieren, und durch 25

Wie Blumenbach hervorhebt, wirft die eindeutige Bestimmung von Natur und Trennung zwischen Natur und Kunst Probleme auf. Denn wenn in der Natur mit den Lebewesen (Menschen und Tier) schon ein bildendes oder »umschaffendes« Prinzip am Werk ist, dann ist es schwierig, zwischen natürlichen Dingen, naturalia, und durch Kunst verfertigte, artefacta, eine eindeutige Unterscheidung zu treffen »Es lassen sich eben so wenig absolute Grenzen zwischen Natur und Kunst bestimmen, als irgend eine Logik des Erdbodens das relative in den Begriffen von wesentlich und zufällig, worauf doch im gegenwärtigen Fall so vieles ankommt, aufzuheben, und eine Scheidewand zwischen beyden festzusetzen, vermocht hat.« Handbuch der Naturgeschichte, § 1, S. 25 f. 26 Blumenbach, Beyträge zur Naturgeschichte. Mit einer Einl. hg. v. Mario Marino, Hildesheim, Olms, 2014. 27 Jean-Baptiste-René Robinet, De la Nature, Amsterdam, 1761 ; ders., Considérations philosophiques de la gradation naturelle, Paris, 1768.

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



die fliegenden Fische mit den Fischen verbunden seyn sollen: sondern weil jedes erschaffne Wesen seine Bestimmung, und den zu dieser Bestimmung erfoderlichen Körperbau hat ; weil kein zweckloses Geschöpf exsistirt, was nicht auch seinen Beytrag zur Vollkommenheit des Ganzen gäbe.28

Blumenbachs neue Stufenleiter fußt somit auf der neuen Annahme, dass die teils sichtbare, teils angenommene Zweckmäßigkeit der Organismen immer auch einem Nutzen für den Menschen entsprechen muss, wie sie vom eigenen menschlichen Standpunkt aus einsichtig ist ; dass Zweckmäßigkeit nicht einfach als analogisches Prinzip der Identität und Ähnlichkeit dient, sondern dass sie die Haushaltung der Natur als Ganze betrifft und auch die Rolle des Menschen als Haushälter spiegelt. Diese Rolle gründet in einer Vernunft, die nicht in einer »Verbreitsamkeit« alleine bestehen kann. Sie ist eine allgemeinere Fähigkeit, die nichtmenschliche und tierische Welt umzuschaffen, um »durch Reflexion die individuellen Bedürfnisse auf mannichfaltige und schickliche Weise zu stillen«.29 Von diesem Vermögen des Menschen, durch »seine Willkür ungemein viel am Naturell der Thiere« abzuändern und gleichsam umzuschaffen, zeugt die Abrichtung und Zähmung von Elefanten, Raubtieren, Spinnen, sowie seiner »gemeinschaftlichen Tischgesellen« Hund und Katze, die er zu »treuen, arbeitssamen und dienstfertigen Gehülfen«30 gezüchtet hat. Diese Gedanken, die Blumenbach schon in seinem Handbuch der Naturgeschichte aus dem Jahre 1779 veröffentlicht, stoßen bei Kant offensichtlich auf großes Interesse. Sie finden aller Wahrscheinlichkeit nach schon einen ersten Niederschlag in den Gedanken zur Kette der Wesen in der Kritik der reinen Vernunft. Ausdrücklich findet Blumenbachs Stufenleitermodell schließlich, wie schon oben erwähnt, in Kants Aufsatz Über den Gebrauch von 1788 Erwähnung. Dort kommt Kant positiv auf Blumenbachs Handbuch der Naturgeschichte zu sprechen, bevor Blumenbachs Einsichten in die zentralen Schlussparagraphen der Kritik der Urteilskraft einfließen. Über diese, vornehmlich durch Bonnet sehr beliebt gewordene Idee verdient des Hrn. Prof. Blumenbach Erinnerung (Handbuch der Naturgeschichte, 1779 Vorrede § 7) gelesen zu werden. Dieser einsehende Mann legt auch den Bildungstrieb, durch den er so viel Licht in die Lehre der Zeugungen gebracht hat, nicht der unorganischen Materie, sondern nur den Gliedern organisierter Wesen bei.31 28

Blumenbach, Handbuch, § 7, S. 13. Ebd., § 37. Vgl. auch über die Vernunft, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, Leipzig, 1798, § 18. 30 Handbuch, § 50. 31 Über den Gebrauch, AA Bd. VIII, S. 180. 29

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Dass die Schrift über den Bildungstrieb aus dem Vorjahre die »Facta« zu den eigenen Ideen, »die Vereinigung der physisch-mechanischen und der bloß teleologischen Erklärungsart der organisierten Natur« geliefert habe, erklärt Kant ganz unmissverständlich in seinem Brief an Blumenbach vom 5. August 1790. Zum Dank lässt er ihm ein Exemplar dieser Kritik der Urteilskraft zukommen. Aber er schreibt auch hier, dass Blumenbachs Schriften ihn »vielfältig belehrt«32 haben. Offensichtlich verhilft neben Forster auch Blumenbach Kant zu einer genaueren und »reflexiven« Bestimmung des Prinzips Zweckmäßigkeit. Der Vergleich zwischen den Thesen der ersten und dritten Kritik wirft ein Licht auf diese philosophische Entwicklung Kants. Denn wie gerade schon erwähnt, findet sich eine Diskussion des Prinzips der Zweckmäßigkeit schon 1781 in der ersten Kritik. Das Prinzip der Stufenleiter erlaube die Vereinigung von Einheit und Mannigfaltigkeit, aber Kant entwickelt hier noch eine logische und implizit genealogische statt einer nur reflexiven Deutung.33 Hier heißt es, die Behauptung oder Anfechtung des so berufenden, von Leibniz in Gang gebrachten und durch Bonnet trefflich aufgestutzten Gesetzes der »continuirlichen Stufenleiter der Geschöpfe […]« sei »nichts als eine Befolgung des auf dem Interesse der Vernunft beruhenden Grundsatzes der Affinität.« Im Jahre 1790 nun gelangt Kant zu einer neuen bescheideneren Auslegung und Differenzierung des Prinzips der Zweck­ mäßigkeit, die einer neuen, bescheideneren experimentalen Ambition34 entspricht und von genealogischen Erklärungen absieht.35 Die Perspektive auf den Charakter der Menschheit wird zwar nicht aufgegeben, aber die Akzente werden neu gesetzt. Wenn der Mensch alleine zugleich der »letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden« ist, weil er sich einen »Begriff von Zwecken« bilden und ein »Aggregat« in ein »System« von Zwecken verwandeln kann, so dient die Einsicht in ein solches Zweckganzes letztendlich nicht einem genealogischen Zwecke der Selbsterkenntnis, sondern nur einer reflexiven Einsicht in den eigenen Charakter als Selbstzweck, als hinreichende Bedingung für die Ausbildung eines ästhetischen Selbstgefühls und die praktische Erfüllung des eigenen Amtes.

32

Kant, Brief an Blumenbach vom 5. August 1790, AA Bd. XI, S. 185. Kritik der reinen Vernunft, B 696. 34 Vgl. zu diesem Punkt in der Diskussion mit Forster auch das letzte Kapitel. 35 Vgl. Riedel, »Historizismus und Kritizismus, Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder«. 33

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



Zweierlei Zweckmäßigkeiten

Diese Feststellung leitet uns zur zweiten wichtigen Korrektur von Wolffs Teleologie in der Kritik der Urteilskraft über. Diese betrifft die Differenzierung zwischen heuristischer und ästhetischer Zweckmäßigkeit. Ersterer zugrunde liegt die von Wolff begründete Teleologie und Idee einer heuristischen Verbindung eines »Mechanism« und teleologischen »Technizism« der Natur: Die von der neueren Naturphilosophie propagierte mechanistische Weltsicht schließt nicht aus, dass man sich trotz der Unergründlichkeit der göttlichen Zweck-Mittel-Verknüpfung diese als solche über die Vorstellung vom Weltgebäude begreiflich macht und sich derer, zum Zwecke der Heuristik, als philosophischen Leitfadens bedient. Zwar kann eine solche wissenschaftliche Teleologie, wie Kant schon 1763 angemerkt hatte, keine Theologie hervorbringen. Sie dient weder als Physikotheologie noch auch, wie von Wolff vorgeschlagen, als Propädeutik der Theologie. Die Erhabenheit der Welt führt auf keinen Beweis Gottes. Damit bietet sie noch keine positive Antwort auf unsere Fragen nach Sinn, Grund und Zweck der Welt. Was hilft’s ? wird man mit Recht klagen, dass wir allen diesen Einrichtungen einen großen, einen für uns unermesslichen Verstand zum Grunde legen, und ihn diese Welt nach Absichten anordnen lassen, wenn uns die Natur von der Endabsicht nichts sagt.36

Dennoch aber dient das reflexive Prinzip Zweckmäßigkeit, wenn nicht in konstitutiver, sondern nur in regulativer Absicht angewendet, der Auf­ deckung verborgener Wahrheiten. Von dem heuristischen Gebrauch der Zweckmäßigkeit zu unterscheiden ist der ästhetische. Letzterer, der ästhetische Gebrauch, ist der grundlegendere, insofern er eine größere praktische Relevanz besitzt und den Menschen zur Erfüllung seines Amtes befähigt und erhebt. Zu der Ausführung dieses Gedankens entwickelt Kant den ästhetischen Ansatz, der in dem in Kapitel 6 skizzierten Kosmopolitismus Ciceros schon rudimentär enthalten war. Die Auszeichnung des Menschen als Vernunftwesen besteht hier zunächst in seinem Vermögen der ästhetischen Betrachtung. Der Mensch allein ist imstande, das himmlische Weltgebäude in seiner höheren Zweckmäßigkeit, Schönheit und Erhabenheit zu bewundern. Zwar erzeugt die Einsicht in ein Zweckganzes weder einen Begriff von der Welt (als Zweckganzes, in seiner Vollkommenheit) noch von dem eigenen Selbst. Deshalb muss Kant die von Wolff vorgeschlagene Gleichsetzung von zweckmäßiger Ordnung/Schönheit und 36

Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 440.

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Vollkommenheit ablehnen. »Eine objektive innere Zweckmäßigkeit, d. i. Vollkommenheit, kommt dem Prädikate der Schönheit schon näher, und ist daher auch von namhaften Philosophen, doch mit dem Beisatze, wenn sie verworren gedacht wird, für einerlei mit der Schönheit gedacht worden.«.37 Denn einer solchen Vorstellung von Vollkommenheit müsse schon »der Begriff von diesem, was es für ein Ding sein solle«, voran gehen können. Diese Bedingung ist aber weder im ästhetischen noch im teleologischen und heuristischen Urteil gegeben. Das heißt, dass die ästhetische Erfassung dieses Zweckganzen noch keine Welterkenntnis bedeutet. Ebenso wenig wie Welterkenntnis bringt sie nun Selbsterkenntnis im strengen Sinne hervor. Wohl aber erzeugt sie ein für die Ausbildung der eigenen Haltung in der Welt unerlässliches Welt- und Selbstgefühl. Und letzteres Selbstgefühl entspricht ganz offenbar einer Präzisierung dessen, was Kant 1764 ein »Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur« genannt hatte, das »in jedem menschlichen Busen lebe« und die Grundlage wahrer Tugend bilde.38 Und sie zeugt außerdem von neuen Konzessionen an Mendelssohn, der die Idee von Bestimmung als eines aus der ästhetischen Betrachtung der Welt zu schöpfenden Maßes und einer Richtschnur vorgedacht hatte. Hier bleibt der Wolff aufgesetzte teleologische Rahmen, in dem Zweckmäßigkeit ein Attribut der Welt bzw. des Weltgebäudes ist, bestehen, und er gibt nun Anlass zu neuen Schlussfolgerungen. Tatsächlich ist der Vergleich der Welt mit einem Gebäude vom ersten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft an präsent und durchzieht das Werk wie ein roter Faden. Er betrifft sowohl die Welt und Natur allgemein als auch in der Kunst Architektur und Bauwerke, wie die St. Peterskirche in Rom, deren Pracht und Erhabenheit ästhetische Lust und Unlust erweckt.39 Mit dieser Vorstellung der Welt als Weltgebäude eng verbunden ist die Vorstellung Gottes als eines Planers und als eines mit einem architektonischen, Zweck und Mittel verknüpfenden Verstand begabten »höchsten Architekten«40 und Baumeisters. Dessen göttliches Bauwerk zeugt auch gerade aufgrund seiner von Menschen zu erfassenden Schönheit 37

Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 227. »Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto edler und erhabener wird sie. Diese Grundsätze sind nicht spekulativische Regeln, sondern das Bewusstsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt, und sich viel weiter als auf die besonderen Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage: es sei ein Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur.« Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA Bd. II, S. 217. 39 Kritik der Urteilskraft, § 26, AA Bd. V, S. 252. Vgl. auch die Beispiele zur Baukunst in den §§ 16, 26, 33. 40 Ebd., § 78, AA Bd. V, S. 410. 38

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und Zweckmäßigkeit von einer Erhabenheit, unbedingten Größe und Macht, die Achtung erheischt. Es gewährt dem Menschen eine partielle Einsicht in Zwecke, die die seinigen umfassen und zugleich seine Erkenntnis übersteigen, so dass der Mensch selbst weder auf den Status des Erfinders und Architekten noch notwendig auf den eines Kenners und Experten Anspruch erheben kann. Er ist zunächst einfach ein ästhetischer Betrachter und Bewunderer des göttlichen Werkes. In gewisser Hinsicht macht es wohl Sinn, den göttlichen Baumeister zu ehren, der seinerseits im Vergleich zum Menschen die größere und sogar die größte und schlechthin große Würde und Erhabenheit besitzt. Schon in der Kritik der praktischen Vernunft schließt sich Kant hier ganz Wolff und der Tradition an: »diejenige, welche den Zweck der Schöpfung in die Ehre Gottes« setzten, haben »wohl den besten Ausdruck getroffen.«41 Aber diese Ehrung betrifft im Grunde nicht Gott, sondern die Welt in ihrer Erhabenheit. Erhabenheit (Größe als magnitudo, Macht und Würde) kennzeichnet sowohl den göttlichen Baumeister als auch das göttliche Weltgebäude selbst. Wie Kant erklärt, könne die Welt selbst zwar nicht im strikten Sinne Achtung hervorrufen, die jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen. […]« gehe42 und sich deshalb direkt auf den göttlichen Baumeister beziehen muss. Aber sie bewirkt dennoch »Bewunderung« als ein mit dem Gefühl der Achtung eng verbundener Affekt: ein »Erstaunen, das auch auf Sachen gehen kann, z. B. himmelhohe Berge, die Größe, Menge und Weite der Weltkörper, die Stärke und Geschwindigkeit mancher Tiere u. s. w.«43 Sie kann auch in einem positiven Sinne der Erfassung eines höheren Maßes der eigenen Erhebung in der Welt dienen. Wie Kant nun klarer als in den früheren Schriften herausstellt, bedarf es wohl auch eines materiellen Maßstabs der Welt als einer höheren Instanz zur Begründung der eigenen Selbstachtung, Würde und Haltung in der Welt.

Das Erhabene und schlechthin Große als Maß menschlicher Würde

Der Entwicklung dieses Gedankens dient die innovative begriffliche Unterscheidung zwischen Schönheit und Erhabenheit.44 Beides betrifft indirekt die Zweckmäßigkeit der Welt der Natur, wie sie unmittelbar als Ganzheit und bloße Form und Unform wahrgenommen wird: So darf man beispielsweise 41

Kritik der praktischen Vernunft, A Bd. V, S. 131. Ebd., AA Bd. V, S. 76. 43 Ebd. 44 Wie Mendelssohn und Lessing bedient sich auch Kant Burkes psychologischen Beobachtungen zur Entwicklung eines eigenen Humanismus. 42

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den Himmel nicht als mit seinem Vernunftbegriff von der Welt verbunden anschauen, sondern nur als »ein weites Gewölbe, was alles befasst.«45 Schönheit benennt dabei, ganz im Einklang mit Cicero, die Vorstellung jener Zweckmäßigkeit in der Natur, die dem Menschen erlaubt, die Natur zu sehen, als ob sie Technik46, ein »regelmäßiges, zweckmäßiges Gebäude«47 und ein vollendetes Kunstwerk sei. Kraft des reflexiven Prinzips der Urteilskraft kann sich der Mensch an die Stelle des göttlichen Architekten versetzen, ohne deshalb schon eine objektiv bestehende Ordnung oder Vollkommenheit vorauszusetzen. Das Urteil über Schönheit ist kontemplativ und theoretisch, aber zugleich subjektiv, da kein Erkenntnisurteil. Es bezieht sich lediglich auf unbestimmte Verstandesbegriffe. Das Erhabene hingegen benennt die Vorstellung von Unform, Größe und Macht des Weltgebäudes, die das Gemüt nicht wie das Schöne in Ruhe und Kontemplation versetzt, sondern es erschüttert und bewegt. Es ist zugleich vom Ungeheuren unterschieden, das vernichtet und zerschmettert, wie die Vorstellung von Chaos und Verwüstung, vom empörten Ozean oder von ungestalteten Gebirgsmassen. Denn trotz seiner Unform und seiner Unangemessenheit auf seine Vermögen liefert das Erhabene dem Menschen einen Maßstab für die eigene Bestimmung in dieser Welt und verweist ihn zugleich auf die Quelle seiner Selbstachtung in der eigenen Vernunft. – Es ist in dieser Hinsicht, als Maßstab, das schlechthin oder »über alle Vergleichung Große«,48 mit welchem »in Vergleichung alles andere klein ist«.49 Mit der Vorstellung eines solchen schlechthin Großen verbunden ist »jederzeit eine Art von Achtung«,50 wohingegen dem schlechthin Kleinen Verachtung entgegengebracht wird. Der Grund dafür liegt darin, dass wir im Erhabenen »nur eine[n] ihm angemessenen Zustand in ihm selbst zu suchen verstatten«. Als eine Größe, die bloß sich selbst gleich ist und den Maßstab seiner Beurteilung in sich selbst trägt, bedarf es nicht der Verehrung, bewirkt aber eine solche. Das Erhabene ist, was zugleich erschüttert und aufrichtet, erhebt und dem Menschen eine Stütze und einen Halt verleiht. Es erzeugt Gefühle von Verehrung, Demut, Achtung, Dankbarkeit. Die Achtung beruht zum einen auf der Größe und auf dem Gefühl der Unangemessenheit der eigenen Vermögen. Sie begründet aber zum andern ein Vermögen, sich mit ihm ins Verhältnis zu setzen. Denn die Einsicht in die eigene Würde ist durch die Begegnung mit 45

Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 270. Ebd., Erste Einleitung, AA Bd. XX, S. 219 f. 47 Ebd., AA Bd. V, S. 204. 48 Ebd., S. 248. 49 Ebd., S. 250. 50 Ebd., S. 249. 46

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dem Göttlichen und Erhabenen in der Welt und durch eine materielle Welterfahrung, Erhebung und Erschütterung bedingt. Die ästhetische Lust an diesem Erhabenen ist aber zugleich ein Indiz, dass eine in den Gesetzlichkeiten unserer Vernunft begründete Subreption und Verwechslung stattfindet: eigentlich ist »die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur außer uns (sofern sie auf uns einfließt), überlegen zu sein, uns bewusst werden können«.51 Genauer gesagt betrifft dieses Gefühl die Vorstellung eines mathematisch Unendlichen und Unerreichbaren, »das das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken«.52 Im Grunde aber ist »das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte) beilegen«.53 Wenn der »bestirnte Himmel über mir«, ganz wie »das Gesetz in mir«, mein »Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht« füllt54, so läuft ersterer Blick auf das Universum zwar meiner Selbstachtung zuwider ; er vernichtet »gleichsam meine Wichtigkeit«. Der zweite aber ist es, der meinen »Werth als einer Intelligenz ins Unendliche« erhebt. Dieses Argument erlaubt hier die Rückführung des Erhabenen von einem Attribut der Natur auf ein »Erhabenes der Denkungsart«55, ganz der ursprünglichen rhetorischen Bedeutung des Terminus bei Longinus entsprechend. Denn man kann sich, so Kant, des »Gedankens nicht entschlagen, dass all diese Wesen zu nichts ohne den Menschen da wäre«, weshalb Kant Wolffs Physikotheologie den Gedanken einer bloßen »Ethikotheologie«56 entgegensetzt. Das Zweck-Mittel-Gefüge der Welt deutet zwar nicht auf einen Endzweck, der in der Betrachtung durch den Menschen oder auch in seinem Wohlbefinden liegen könne. Der Zweck, durch den das Ganze einen Wert erhält, muss stattdessen einem Vernunftgrund entsprechen, warum die Natur zu einer Glückseligkeit zusammenstimmen müsste, wenn sie als ein absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke bestimmt wird. Wie oben dargelegt, reicht das Ideal einer menschlichen und moralischen Welt des Sollens oder eines »weltbürgerlichen Ganzen als ein System aller 51

Ebd., AA Bd. V, S. 264. Ebd., AA Bd. V, S. 268. 53 Ebd., AA Bd. V, S. 257. 54 Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 161. 55 Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 280. 56 Ebd., S. 442. 52

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Staaten, die aufeinander nachtheilig zu wirken in Gefahr sind«57, nun aus, um dessen logische Einhelligkeit und Stimmigkeit sicherzustellen. Dies wiederum bedeutet, dass es reicht, dass der Mensch sich auf seine Pflicht und sein Amt dem eigenen Vernunftich gegenüber und im Weltstaat besinnt.

Kants Humaniora

Die Ausbildung und Kräftigung eines solchen Welt- und Selbstverhältnisses und -gefühls ist nun, wie Kant herausstellt, der Gegenstand einer möglichen praktischen und ästhetischen Erziehung. Man kann die Welt sehen und in ihrer Erhabenheit wahrnehmen lernen, um den Maßstab für die eigene Haltung und Würde in einer höheren Instanz als sich selbst zu finden. Diese ästhetische Erziehung ermöglicht somit die allmähliche Ausbildung eines bestimmten Verhältnisses zur Natur, einer erhabenen Denkungsart und Haltung. Die Stellung des ästhetischen Betrachters weist dabei bestimmte Vorteile vor Situationen auf, in denen sich die Natur direkt in ihrer übermächtigen Gewalt darstellt. Hier ist unser eigenes Wohlsein und Wohlbefinden sichergestellt, und wir können uns in sicherer Entfernung von der Gefahr wähnen, die von dem Erhabenen ausgeht. Hier geht es nicht darum, die eigenen Kräfte direkt mit der der Natur zu messen, wie es ein erhabener Krieger täte, der der feindlichen Macht ins Angesicht blickt und sich ihr furchtlos und direkt stellt, wenn auch dessen Unbezwinglichkeit, verbunden mit »allen Tugenden des Friedens, Sanftmut, Mitleid, und selbst geziemende Sorgfalt für seine Person«, unsere vorzügliche Hochachtung und Bewunderung gilt.58 Im Unterschied zu dem Ungeheuren demütigt die Vorstellung des Erhabenen den Betrachter nicht so sehr, dass sie ihn vernichtet. Sie tut seiner Selbstschätzung keinen Abbruch: »(D)ie Menschheit in unserer Person (bleibt) unerniedrigt, obgleich der Mensch jener Gewalt erliegen müsste«.59 Dass wir sowohl um unsere eigene physische Ohnmacht als auch um unser eigenes Vermögen wissen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, bewirkt ein gemischtes, sich aus Unlust und Lust zusammensetzendes Gefühl. Auf 57

Ebd., S. 432 f. Dem Krieger und Feldherren gebührt deshalb ein größerer Anspruch auf Achtung als dem Staatsmanne und dem mit bloßen Handlungsgeist ausgestatteten Kaufmann. Ihm wollen wir nachstreben, indem wir »an den Beweistümern der Gewalt der Natur in ihrer Zerstörung und dem großen Maßstabe ihrer Macht das Erhabene statt nur Mühseligkeit, Gefahr und Not« sehen lernen. Ebd., S. 265. 59 Ebd., S. 262. 58

Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft



die Hemmung der Lebenskräfte folgt eine »desto stärkere Ergießung«.60 Die ästhetische Lust »betrifft hier nur die sich in solchem Falle entdeckende Bestimmung unseres Vermögens, so wie die Anlage zu demselben in unserer Natur ist ; indessen dass die Entwicklung und Übung desselben uns überlassen und obliegend bleibt.« Dieses Natur- und Selbstgefühl besitzt auch eine gesellschaftliche Dimension. In dieser Hinsicht kann die Kritik der Urteilskraft auch als eine direkte Antwort auf die Ästhetik von Kants Zeitgenossen gelesen werden. Denn es entspricht zugleich einem neuen und alternativen Programm von Humaniora und einer ästhetischen Erziehung. Dieses Programm ist nun in gewisser Hinsicht bescheidener als das seiner Vorgänger Lessing und Herder, wie es in Kapitel 4 skizziert wurde. Denn offensichtlich gibt Kant das Programm einer ästhetischen Erziehung zur Einfühlung auf. In seinen Augen ist eine solche Einfühlung allzu ambitioniert und sogar pathologisch. Stattdessen knüpft er in einem zentralen Paragraphen der Kritik der Urteilskraft an Ciceros Humanität und Humaniora an. Die Propädeutik zu aller schönen Kunst, sofern sie auf den höchsten Grad ihrer Vollkommenheit angelegt ist, scheint nicht in Vorschriften, sondern in der Cultur der Gemüthskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse zu liegen, welche man humaniora nennt ; vermuthlich weil Humanität einerseits das allgemeine Theilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mittheilen zu können bedeutet ; welche Eigenschaften, zusammen verbunden, die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen, wodurch sie sich von der thierischen Eingeschränktheit unterscheidet.61

Dieses bei Cicero rudimentär angelegte Bildungsprogramm62 des Menschen und Staatsbürgers unterscheidet sich in wesentlichen Zügen von dem oben skizzierten Programm der Einfühlung. Die angestrebte Humanität besteht weder in allgemeiner Menschenfreundschaft noch überhaupt in einem Gefühl und setzt keine Knüpfung empathischer Bande und Angleichung auf ästhetischer oder affektiver Ebene voraus. Stattdessen ergibt sie sich aus der Ver60

Ebd., S. 245. Kritik der Urteilskraft, AA Bd. V, S. 355. Den weiteren Kontext eines solchen Programms zur Ausbildung einer ästhetischen Humanität (humanitas aesthetica) thematisiert Kant auch in der Jäsche Logik: »Einen Teil der Philologie machen die Humaniora aus, worunter man die Kenntnis der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und die Kommunikabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert«. Logik, AA Bd. IX, S. 45. 62 Vgl. beispielsweise Cicero, De oratore, II, 68. Vgl. auch Kapitel 3 und 4 in diesem Buch. 61

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nunftreflexion auf die eigene Würde und Pflicht. Humanität, Wohltätigkeit oder teilnehmende Empfindung ist eine Pflicht und kann des wohltätigen Temperamentes entbehren. Auch ein von »dem eigenen Gram umwölkter« Menschenfreund oder auch ein vom Temperament her kalter und gleichgültiger Mann, dem »die Natur wenig Sympathie ins Herz gelegt« hat, ist zur Ausbildung einer solchen Humanität in der Lage.63 Diese Humanität ist ein Selbst- und ein Gemeinschaftsgefühl, das auf dem Prinzip der Partizipation (oder Interesse) beruht. Indem man dem eigenen Selbstgefühl Kraft verleiht, entwickelt man auch Humanität. Dennoch bestehen aber auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bildungsprogrammen. Auch Kants Humaniora ist als ein Programm der Bildung des Menschen dem politischen Programm des Aufbaus rechtlicher Institutionen vorgeordnet und bedingt deren Möglichkeit: Kant teilt offensichtlich die aufklärerische Gewissheit, dass es nicht reicht, die Würde des Menschen als Bürger sicherzustellen, wenn nicht auch die Ausbildung seiner Humanität gewährleistet werden kann ; weshalb er sich offenbar genötigt fühlt, dieser Humanität, die in den früheren Schriften ungenügend behandelt wurde, schließlich ein eigenes Traktat zu widmen. Diese Humanität wird weiterhin auch als eine ästhetische gekennzeichnet. In der Metaphysik der Sitten heißt es, eine humanitas aesthetica oder »Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens und des Schmerzens« müsse der humanitas practica, oder dem Vermögen und Willen, sich einander in Ansehung seiner Gefühle mitzuteilen, zugrunde liegen.64 Etwas später legt Kant die humanitas aesthetica weiter, nämlich als wechselseitige Liebe und Achtung, Leutseligkeit, Wohlanständigkeit und decorum aus. Deren Kultur sei »Tugendpflicht«. Sie gebiete es, »mit seinen sittlichen Vollkommenheiten untereinander Verkehr zu treiben« (officium commercii, sociabilitas), sich »nicht zu isolieren« und den eigenen ästhetischen »Kreis« oder »Horizont«65 doch auch »als einen, der den Theil von einem allbefassenden der weltbürgerlichen Gesinnung ausmacht, anzusehen.«66 Diese Erziehung des Menschen erfolgt ebenfalls über die Kunst. Diese dient der kontemplativen und theoretischen Betrachtung der Natur und der Ausbildung eines Natur- und Selbstgefühls. Sie bietet einen Ort, an dem der Mensch Abstand von der vita activa67 und den ihn umtreibenden persönli63

Vgl. Grundlegung, AA Bd. IV, S. 398. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 456. 65 Logik, AA Bd. IX, S. 41. 66 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 473. 67 Hierzu auch schon Sulzer, Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, 1751–1752. 64



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chen Interessen nehmen und die Welt mit einem interesselosen Wohlgefallen betrachten kann. Die Entwicklung einer solchen desinteressierten Haltung trägt wiederum zur Einsicht in ein höheres gemeinschaftliches Interesse bei. Das Schöne lädt den Betrachter dazu ein, sich an die Stelle eines jeden anderen zu versetzen und alle möglichen Standpunkte einzunehmen. Insofern kann das ästhetische Urteil schon auf Allgemeinheit, Einhelligkeit oder Einstimmigkeit von jedermann Anspruch erheben. Es ist sowohl allgemein mitteilbar als auch zur Mitteilung und zum Gespräch anregend.68 Diese These ergänzt eine Reihe von früheren Thesen. Sie knüpft einerseits an die in der Einleitung erwähnte Reflexion um die Anthropologia transcendentalis 69 an. Dort hatte Kant auf die Gefahr der Einseitigkeit oder Einäugigkeit aller Wissenschaft und Gelehrsamkeit hingewiesen, »weil die popularitaet aus Mangel des Umgangs mit verschiednen Ständen« fehle. Dieser Gefahr sei jeder Gelehrte, ob Arzt, Mathematiker, Theologe, Jurist oder Philosoph, ausgesetzt, insofern er seiner eigenen Wissenschaft einen allzu großen Wert anmaße, sich selbst verkenne und seinen Werth über andre seinen Kräften zu viel zutraue.«70 Diese These setzt andererseits auch Gedanken aus den Beobachtungen zum Gefühl der eigenen Würde fort, zu der Tugend des Umgangs und der Ehrbarkeit und präzisiert sie im Sinne eines »ästhetischen Pluralismus«.71 Es 68 Vgl. Kants Bestimmung des Geschmacks als einer Art von sensus communis in der Kritik der Urteilskraft, § 40, AA Bd. V, S. 293: »Unter dem sensus communis […] muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urteil zu halten […]«. 69 Vgl. wiederum Kant, Reflexionen zur Anthropologie, M 326, AA Bd. XV, S. 395. Vgl. Einleitung, S. 22, Fn. 39. Vgl. insbesondere die Beiträge Hinskes und Franceso Valerio Tommasis in: Der Zyklop in der Wissenschaft. Kant und die Anthropologia transcendentalis. Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft n° 14, Hamburg, Meiner, 2018. 70 Weil ein solcher Gelehrter die Phänomene mit nur einem Auge betrachte, und »den Gebrauch, welchen sie von der Vernunft in ihrer Wissenschaft machen«, weiter ausdehnen und auch in anderen Feldern für hinreichend halte, nennt Kant ihn einen »Cyclopen« und einen »Egoisten der Wissenschaft.« Kant zufolge sei »etwas nöthig, was dem gelehrten humanitaet gebe, und es ist ihm noch ein Auge nöthig, welches macht, daß er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen ansieht.« Dieses zweite Auge sei »also das der Selbsterkentnis der Menschlichen Vernunft, ohne welches wir kein Augenmaas der Größe unserer Erkentnis haben.« (Reflexionen zur Anthropologie, M 326, AA Bd. XV, S. 395.) Vgl. auch Anthropologie, AA Bd. 7, S. 227: »Es giebt aber auch gigantische Gelehrsamkeit, die doch oft cyclopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, durch Vernunft zweckmäßig zu benutzen.« 71 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 127. Zu der aufklärerischen Debatte über den Egoismus

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geht darum, ein Gefühl des eigenen Wertes und der eigenen Würde über die Betrachtung der Schönheit in Natur und Kunst zu entwickeln. Ein solches Selbstgefühl muss auch erlauben, »in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken Rücksicht« zu nehmen, »um gleichsam an die ganze (Menschenvernunft) sein Urteil zu halten.« Seine Stärkung bewirkt die Einsicht in Gleichheit bzw. ermöglicht die Ausbildung eines Denkvermögens, das dreierlei Denkungsarten, nämlich ein Selbstdenken, ein an Stelle jedes anderen denken und ein jederzeit mit sich selbst einstimmig denken, miteinander verbindet. Weil eine solche Ästhetik auf die Förderung des menschlichen Austauschs und Dialogs angelegt ist, ist sie ihrerseits keineswegs elitär, sondern muss als Garant für die Popularität und Geltung von Kants Philosophie überhaupt gesehen werden.

Schluss und Zwischenbilanz: Die allmähliche Transformation von Kants früher Anthropologia transcendentalis

Die Kritik der Urteilskraft ist der Ort, an dem Kant die früheren Thesen zur Selbsterkenntnis und Anthropologie in einem kosmopolitischen Sinne und über eine neue teleologische Betrachtung präzisiert. Über die Auseinandersetzung mit Blumenbach gelangt Kant hier zu einer neuen Ausdifferenzierung von Wolffs Teleologie, die die frühere kosmogonische und genealogische Ambition zugunsten einer bloß reflexiven aufgibt. Auf wissenschaftlicher und heuristischer Ebene betrifft diese die Einsicht in den empirischen Charakter der Gattung, nämlich eine gewisse »Angemessenheit« oder »Tauglichkeit zu allerlei Zwecken«, die dem Menschen seine »Bestimmung im Voraus« bedeutet72 und ihm eine Stellung in einer ganz besonderen Stufenleiter (oder einem Zweck-Mittel-Gefüge) zuweist. In der Auseinandersetzung mit Blumenbach zeigt sich, dass Kant weiterhin an der Annahme festhält, dass der Mensch über die Fähigkeit verfügt, die Welt in ihrer Zweckmäßigkeit wahrzunehmen, sie sich zuzueignen und umzuschaffen. In dem von Blumenbach und Kant favorisierten Stufenmodell erhält der Mensch eine besondere Stellung und Verantwortung als Haushälter, die mit besonderen Pflichten und Vorrechten über den Rest der Schöpfung verbunund Pluralismus vgl. insbesondere Wolff, Deutsche Metaphysik, Vorrede und Baumgarten, Metaphysica, § 392: »Wer die Welt für ein einfaches Ding und sich selbst für diese hält, ist ein Egoist.« Vgl. auch Clemens Schwaiger, »Kants Antiegoismus«, in: Der Zyklop in der Wissenschaft, S. 53–64. 72 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 329.



Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft

den ist. Zugleich ist aber dieser Charakter noch keine Auszeichnung, sondern nur heuristische Hypothese und Zeichen einer nie vollständig einsichtigen eigenen Bestimmung. Praktisch relevanter als diese ist die ästhetische Erfahrung von der Erhabenheit des Weltgebäudes, das dem Menschen die eigene Kraft ins Bewusstsein ruft und ihm ein Maß und eine Richtschnur in der Welt bereitstellt. Diese ästhetische Erfahrung entspricht zugleich auch einem universalistischen Programm der Humaniora und der Ausbildung eines ästhetischen Pluralismus, das vom Menschen abverlangt, sich an die Stelle jedes anderen zu versetzen. Was bedeuten nun diese neuen Einsichten für den Ort des Würdebegriffs in Kants Systematik und für dessen Auffassung von Anthropologie ? Ganz zweifellos bewirken sie eine Präzisierung und Transformation von Kants Begrifflichkeiten. Zwar bleibt der weitere, in der Einleitung skizzierte philosophische und anthropologische Rahmen, auf den wir an dieser Stelle kurz zurückkommen möchten, weiterhin bestehen. So kann Menschenwürde nicht ausschließlich ein Begriff der praktischen Philosophie sein, da sie nur über eine Philosophie als Selbsterkenntnis und eine Anthropologie im weiteren Sinne erfasst werden kann, die Kants frühen Gebrauch dieses Begriffs zu entsprechen scheint.73 Diese Form von Selbsterkenntnis setzt durchaus die Reflexion auf den eigenen Standort und die eigene Bestimmung voraus: insofern liefert der Begriff Menschenwürde in der Tat einen Schlüssel zum Verständnis von Kants System. Letztere, die Reflexion auf die eigene Bestimmung, ist in ihrem Prinzip Teleologie. Zwischen der sich entwickelnden Natur und dem moralischen Weltstaat muss eine Kontinuität bestehen können, ja die Unterscheidung zwischen Naturgesetzgebung und moralischer Gesetzgebung macht nur insofern Sinn, als dass beide Formen von Gesetzgebung aufeinan73 Zur ersten Skizze dieses Projekts vgl. insbesondere den berühmten Brief Kants an Markus Herz aus dem Jahre 1773, in: AA Bd. X, S. 146 f.: »Ich lese in diesem Winter zum zweyten mal ein collegium privatum der Anthropologie welches ich ietzt zu einer ordentlichen academischen disciplin zu machen gedenke. Allein mein Plan ist gantz anders. Die Absicht die ich habe ist durch dieselbe die Qvellen aller Wissenschaften die der Sitten der Geschiklichkeit des Umganges der Methode Menschen zu bilden u. zu regiren mithin alles Praktischen zu eröfnen. Da suche ich alsdenn mehr Phänomena u. ihre Gesetze als die ersten Gründe der Möglichkeit der modification der menschlichen Natur überhaupt. Daher die subtile u. in meinen Augen auf ewig vergebliche Untersuchung über die Art wie die organe des Korpers mit den Gedanken in Verbindung stehen ganz wegfällt. Ich arbeite in Zwischenzeiten daran, aus dieser in meinen Augen sehr angenehmen Beobachtungslehre eine Vorübung der Geschiklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit vor die academische Iugend zu machen welche nebst der physischen geographie von aller andern Unterweisung unterschieden ist und die Kentnis der Welt heissen kan.« Vgl. außer der veröffentlichten Anthropologie auch die in Bd. 25 enthaltenen Vorlesungsnachschriften.

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der bezogen werden können. Auch wenn sich die Entwicklung des Menschen im Ausgang von dieser Welt und ihren Naturgesetzen in eine unendlich weite Zukunft fortsetzt, so muss man sich denken können, dass der Mensch diesen vernünftigen Weltstaat über eine unendliche Zeitspanne hinweg selbst hervorbringen kann74 – weshalb Kant die praktischen und anthropologischkosmopolitischen Gedankenstränge stets zusammendenkt. Kants Menschenwürde muss auch deshalb in einem weiteren anthropologischen Rahmen gelesen werden, weil sie gerade nicht nur, nicht ausschließlich in der Wertschätzung der eigenen Vernunft besteht, wie Barbara Herman und nach ihr Autoren wie Korsgaard75, Wood76 und Guyer77 argumentiert haben. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, beinhaltet Würde zwar einen Wert der Vernunft als Gegenstand der eigenen Zwecksetzung, den man der eigenen Menschheit und Vernunft zuschreibt.78 Darüber hinaus setzt sie aber auch die Anerkennung eines höheren, absoluten Wertes oder Maßstabes voraus, 74 Fichte stellt dieses Verhältnis zwischen Naturwelt und moralischer Welt in seiner eigenen Auseinandersetzung mit Spalding und Kant in seiner Bestimmung des Menschen klar heraus und erweist sich hier als ein weit besserer Leser Kants als manche gegenwärtigen Kommentatoren. Vgl. Fichte, Bestimmung des Menschen, 1800, in: ders., Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. II, S. 266 (Gesamtausgabe, Bd. I, 6): »Nur inwiefern ich diesen […] (gegenwärtigen Zustand der Menschheit) betrachten darf, als Mittel eines besseren, als Durchgangspunct zu einem höheren und vollkommneren, erhält er Wert für mich ; nicht um sein selbst, sondern um des Besseren willen, das er vorbereitet, kann ich ihn tragen, ihn achten, und in ihm freudig das Meinige vollbringen.« Zum gleichen »geologischen« und kosmopolitischen Kontext vgl. auch ebd., S. 268: »[J]ene Ausbildung (unseres Erdballs) muss endlich vollendet, und das uns bestimmte Wohnhaus fertig werden. […] Inwiefern […] die zweckmäßige Ausbildung der Natur schon festen Fuß gewonnen hat, soll das Menschenwerk selbst, durch sein bloßes Daseyn, und durch seine, von der Absicht des Werkmeisters unabhängigen Wirkungen, wiederum in die Natur eingreifen, und ein neues, belebendes Prinzip in ihr darstellen.« Vgl. außerdem die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten 1794 und den kurzen Aufsatz Über die Würde des Menschen, Beym Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen gesprochen von J. G. Fichte, 1794, in: Werke, Bd. I.2, S. 83–89. 75 Christine, M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends. Cambridge University Press, 1996 ; dies., The Constitution of Agency: Essays on Practical Reason and Moral Psychology, Oxford, Oxford University Press, 2008. 76 Allen Wood, Kant’s Ethical Thought, New York, Cambridge University Press, 1999 ; ders., Kantian Ethics, Cambridge University Press, 2008. 77 Paul Guyer, Kant’s System of Nature and Freedom: Selected Essays, New York, Cambridge University Press, 2005 ; ders., »Problems with Freedom: Kant’s Argument in Groundwork III and its Subsequent Emendations«, in: Jens Timmermann (ed.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: A Critical Guide, Cambridge, Cambridge University Press, 2009, S. 176–202. 78 Vgl. Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment, Cambridge, Harvard University Press, 1993.



Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft

der im Sinne dessen, was man heute einen moralischen Realismus79 nennen würde, als unabhängig von dem eigenen Geiste schon bestehen muss. Und gerade weil ein solcher äußerer Maßstab besteht, bedarf es auch der Ausbildung einer Rezeptivität für die Erhabenheit der Welt, die über Vernunft und Humanität im engeren Sinne hinausgeht und diese begründet, indem sie den Menschen mit jenem Höheren, absolut Großen und Würdigen oder Erhabenen konfrontiert, das ihn selbst belebt, erschüttert, stützt und erhebt. Die Zentralität des Würdebegriffs zeugt somit nicht von einer Verabschiedung von aller Anthropologie. Diese bleibt in ihren vielfältigen, empirischen, pragmatischen Dimensionen grundlegend. Das gilt zunächst für die aus Wolffs empirischer Psychologie hervorgegangene80 empirische Anthropologie: jene Anthropologie, die deskriptiv verfährt und den äußerlich sichtbaren Charakter menschlicher Angemessenheit an die eigene Welt mit in den Blick nimmt. Diese bildet wiederum sowohl die Grundlage für die pragmatische, die moralische Bestimmung des Menschen betreffende Form von Anthropologie als auch für die neuartige, transzendentale, die eine höhere kritische Per­ spektive auf die Prinzipien der Erkenntnis und Gesetze des Geistes bietet. Jene letztere, von Kant nur ein einziges Mal erwähnte Anthropologia transcendentalis oder kritische Philosophie81 beruht nun auf der ganz besonderen stoischen und kosmopolitischen Variante von Anthropologie, die Kant entwickelt und die postuliert, die Welt sei auf die Zwecke des Menschen ausgerichtet und dem Menschen ein Wohnsitz und bedinge alle transzendentale Kritik und Reflexion. Eine andere Variante, wie beispielsweise die platonische seiner Zeitgenossen, die diese Annahme oder Projektion auf die Natur nicht teilt, würde noch keine Kritik ermöglichen. Aber wenn die transzendentale Anthropologie auch auf dieser empirischpragmatischen Variante von Anthropologie beruht, ist sie dennoch von ihr verschieden. Richtig ist, dass diese Transzendentalanthropologie oder kritische Philosophie in systematischer Hinsicht die grundlegendere ist. Denn sie 79 Diese Debatte zu Kants moralischem Realismus allgemein hat mit Wood, Kant’s Ethical Thought, 1999, begonnen. Den Vertretern einer konstruktivistischen Auslegung Kants wie Korsgaard stehen Realisten wie Wood, Patrick Kain und Langton gegenüber ; vgl. insbesondere Patrick Kain, »Self-legislation in Kant’s Moral Philosophy«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, n° 86 (3), 2004, S. 257–306. Der hier entwickelte kosmologische Rahmen liefert ein neues Argument für Kants Realismus. 80 Vgl. Kants Brief an Markus Herz aus dem Jahre 1778: »Empirische Psychologie fasse ich ietzo kürzer nachdem ich Anthropologie lese.« (AA Bd. X, S. 242). 81 Vgl. hierzu auch Nuria Sánchez Madrid, »Anthropologia transcendentalis: die Selbsterkenntnis der Vernunft und die antinomische Grundlage der Reflexion bei Kant«, in: Der Zyklop in der Wissenschaft, S. 125–140.

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Kant über Würde, Welten und Weltbürger  ·  Kapitel 8

alleine leistet den Ansprüchen systematischer Wissenschaft Genüge, indem sie ein System der allgemeinsten a priorischen Prinzipien aller Erkenntnis aufstellt. In Kants Worten beschäftigt sie sich als Reflexion auf die Bedingungen von Erkenntnis »nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt«.82 Und richtig ist auch, dass Kants Denken eine Entwicklung durchläuft. Diese führt dazu, dass er letztendlich den frühen Namen Anthropologie transcendentalis verwirft, wenn er auch zeitlebens die Suche nach neuen Terminologien und Formulierungen fortsetzt. Deshalb haben sowohl jene Autoren wie Volker Simmermacher, Louden, Frierson und Falduto recht, die dieser Reflexion eine grundlegende Funktion zuerkennen – sie liefert einen Schlüssel zum richtigen anthropologischen Verständnis der Kritik –, als auch diejenigen wie Brandt, Jean Ferrari, Werner Stark und John Zammito –, die darin ein an einer einzigen Stelle belegtes hapax legomenon sehen. Denn es ist richtig, dass Kant sein anthropologisches Projekt beständig weiterdenkt.83 Und diese Entwicklung zeigt sich in obiger Präzisierung seiner Teleologie, die zur Aufgabe der genealogischen Ambition zugunsten einer reflexiven führt – was weitere tiefere Konsequenzen beinhaltet. Sie zeigt sich auch in einer neuen praktischen Akzentsetzung, die zu einer praktischen Deutung der anthropologischen Frage »Was ist der Mensch« und der in ihr enthaltenen Teilfragen, zu Klärungen und Neuformulierungen führt.84

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Kritik der reinen Vernunft, B 25. Manche Leser sehen in dieser Reflexion ein nur an einer einzigen Stelle belegtes hapax legomonen. Andere weisen ihr eine grundlegende Bedeutung zu. Letztere Perspektive entspricht der Hypothese dieses Buches. Vgl. außer dem schon zitierten von Tommasi herausgegebenen Sammelband Der Zyklop in der Wissenschaft, auch: Volker Simmermacher, Kants Kritik der reinen Vernunft als Grundlage einer anthropologia transcendentalis, Heidelberg, Dissertation 1951 ; Monika Firla, Untersuchungen zum Verhältnis von Anthropologie und Moralphilosophie, Frankfurt, Peter Lang, 1981 ; Patrick Frierson, What is the Human Being ?, Abingdon, Routledge, 2013, Kapitel 1, S. 11–45 ; Antonino Falduto, The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, 2014, S. 69 ff. Eine Übersicht über die Debatte bis 2006 bietet Holly Wilson, Kant’s Pragmatic Anthropology: its Origin, Meaning and Critical Significance, Albany Suny Press 2006. 84 Vgl. die in der Einleitung zitierte Nachschrift der kantischen Metaphysikvorlesung, in der Kant das »Feld der Philosophie in sensu cosmopolitico« auf »folgende Fragen zurückbringt: 1) Was kann ich wissen ? Das zeigt die Metaphysik. 2) Was soll ich thun ? Das zeigt die Moral. 3) Was darf ich hoffen ? Das lehrt die Religion. 4) Was ist der Mensch ? Das lehrt die Anthropologie. Man könnte alles Anthropologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen« ; Kant AA Bd. XXVIII, S. 533 f., ähnlich in AA Bd. IX, S. 25. Vgl. auch den Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793, AA Bd. XI, S. 429. 83



Humanität und Humaniora in der Kritik der Urteilskraft

Generell gilt, dass diese Frage, »Was ist der Mensch ?«, einen ganz neuen praktischen Sinn erhält. Sie ist nicht mehr allein auf spekulative Erkenntnis des eigenen Wesens, der eigenen Seele, Gottebenbildlichkeit oder der eigenen nie ganz sichtbaren Bestimmung, sondern auf die praktisch relevantere der Tugend, Pflicht und Würde als Bürger dieser Welt ausgerichtet. Sie ordnet die zweite Frage, »Was soll ich tun ?«, der ersten und dritten, »Was kann ich wissen ?« und »Was darf ich hoffen ?«, vor und liest diese im Ausgang von der zweiten. Genauer: Selbsterkenntnis bedeutet die bewusste Beschränkung der eigenen spekulativen Tendenzen zugunsten der Reflexion auf die eigene Würde, die eigene Tugend und Tätigkeit, das eigene Amt in der Gemeinschaft aller Vernunftwesen. Diese Perspektive setzt der spekulativen Vernunft dort Schranken, wo sie den praktischen Imperativen zuwiderläuft. Daraus ergibt sich auch die eher praktisch als theoretisch ausgerichtete Antwort auf die dritte und letzte Frage: »Was darf ich hoffen ?«85 Und Hoffnung ist wiederum weniger ein theoretischer Aufschwung in die Welt der Ideen als vielmehr ein praktisch erforderlicher Vernunftglaube an einen unendlichen Fortschritt. Aber diese dritte Kritik zeigt auch eine Transformation der frühen Fragestellungen, insofern es Kant hier nicht nur um Hoffnung und um ein religiöses Thema geht. Offenbar geht es auch um eine erst in der dritten Kritik thematisierte Erhebung ästhetischer Natur, die den Menschen befähigt, sein Amt auszuüben, und um eine Humanität, die es vom Menschen abverlangt, sich an die Stelle jedes anderen zu versetzen.86

85 Den praktischen Impetus dieser Transzendentalanthropologie haben bereits mehrere Autoren hervorgehoben: so beispielsweise Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität: Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp, 1990 ; Vgl. auch die Diskussion bei Louden, »Kant’s Anthropology: (Mostly) Empirical Not Transcendental«, in: Der Zyklop in der Wissenschaft, S. 19–34. 86 Frierson ordnet deshalb in seinem Buch What is the Human Being ? zu Recht die drei Kritiken den drei in der Frage »Was ist der Mensch ?« enthaltenen Teilfragen »Was kann ich wissen ? Was soll ich tun ? Was darf ich hoffen ?« zu.

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TEIL III WÜRDE, EHRE, HUMANITÄT

Kapitel 9 Die Menschheit selbst ist eine Würde ! Ungeachtet der anthropologischen Dimensionen von Würde setzt Kant im Laufe der Zeit neue praktische Akzente. Diese finden in neuen Begrifflichkeiten ihren Ausdruck. Wie schon erwähnt, räumt Kant dem Begriff »Menschenwürde« erstmals einen klaren Vorrang vor verwandten Begriffen ein. Dieser Begriff, der dem Bestimmungsbegriff vorgeordnet wird, besitzt einen zentralen Status in den praktischen Schriften und insbesondere der Grund­ legung und Metaphysik der Sitten. In der Tat bedeutet Selbsterkenntnis für Kant vor aller theoretischen Erkenntnis der eigenen Bestimmung in der Welt zunächst ein Bewusstsein der eigenen Würde. Diese Würde ist Gegenstand eines unmittelbaren Bewusstseins und entspricht gleichzeitig auch einer neuen Art von philosophischer Reflexion und Introspektion, die eine Abkehr von der Welt voraussetzt und eine formale Einsicht in ein Sollen ist, die der Einsicht in das Sein vorausgeht, ja: In gewisser Hinsicht ist es hier sogar die Einsicht in das Sollen, die den Zugang zu der Welt der Ideen eine zumindest praktische Gültigkeit verleiht. Anders gesagt: Im Namen seiner Würde kann es letztendlich nicht darum gehen, den Menschen (als Naturwesen) erkennen zu wollen. Es muss zunächst, wie im Folgenden genauer dargelegt werden soll, darum gehen, ihn auch ohne eine umfassende anthropologische Kenntnis unmittelbar (als rechtliches, moralisches und vernunftfähiges Wesen) zu ehren. Einführung. Kants Verhältnis zu Cicero

In dieser Umkehrung und Aufwertung des Würdebegriffs schöpft Kant offenbar aus älteren Traditionen. Zwar scheint auf den ersten Blick höchstens ein entfernter Zusammenhang zwischen Kants Menschenwürde und dem alten römischen und stoischen1 Begriff der Standeswürde (dignitas, honestas) zu bestehen, der den Mittelpunkt von Ciceros De officiis bildet.2 Vor allem die 1 Zu Ciceros Verbindung mit der Stoa und Panaitios De officiis, übers. v. Heinz Gunermann, Stuttgart, Reclam, 1976, I, 7. Zu Ciceros Würdebegriff vgl. wiederum die erhellende Darstellung von Viktor Pöschl, in: Pöschl/Kondylis, »Würde«, auch neuerdings Markus Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 101–114 und Myriam Griffin, »Dignity in Roman and Stoic Thought«, in: Debes, Dignity. A History, S. 47–66. 2 Zu Kants Rezeption der griechischen Philosophie und der Stoa gibt es eine umfang-



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Würde, Ehre, Humanität  ·  Kapitel 9

Differenzen stechen ins Auge: Während Kant Würde als das Prinzip einer Moral bestimmt, deren Gesetz alle Menschen gleichermaßen betrifft und vereint, betrachtet Cicero Würde als ein gesellschaftliches Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzip. Kant verbindet Würde mit Tugend und Moralität. Cicero hingegen bezeichnet mit Würde zunächst einen äußeren Titel. Und auch wenn in Ciceros Würdebegriff indirekt eine ethische Einstellung miteinbegriffen ist, so ist diese nicht die gleiche. Kant verteidigt eine Prinzipienethik, die sich in einem einzigen formalen Sittengesetz zusammenfassen lässt und als Scharnier eines philosophischen Systems dient. Cicero favorisiert statt einer Prinzipienethik eine Tugendethik. Tatsächlich ist De officiis ganz der Fragestellung nach dem guten und ehrenhaften Leben, honeste vivere, und seinen Kardinaltugenden gewidmet. Zu dieser Frage formuliert Cicero vielfältige Überlegungen und Empfehlungen an seinen Sohn Marcus. Kant setzt eine grundlegende Dualität des Menschen voraus, Cicero die Einheit der Person. Er vertritt die Ansicht, dass sich Tugend und innere Haltung unmittelbar in äußeren Attributen, in Schönheit, Sinn für Ordnung und einem dem Handeln angemessenen Auftreten (formositate, ordine, ornatu ad actionem apto)3, ausdrücke. Kant stellt innerhalb eines modernen rechtlichen und staatenrechtlichen Rahmens eine moderne Forderung nach dem staatlichem Schutz dieser Würde. Für ihn ist »die Menschheit selbst schon eine Würde«4, die es zu achten und zu respektieren gilt. Cicero hingegen denkt zwar ein rudimentäres Weltbürgertum und Naturrecht, aber keinen modernen Rechtsstaat, der den Schutz der Menschenwürde gewährleisten kann.5 Kant schließlich räumt dem doppelten Titel des Menschen, wie er von Cicero beschrieben wird, keine große Bedeutung ein. So schreibt Cicero:

reiche Literatur. Vgl. beispielsweise Reich, Die Ethik der Griechen ; Ulrike Santozki, Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie: Eine Analyse der drei Kritiken, Berlin, de Gruyter, 2006. 3 Cicero, De officiis, I, 126. 4 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 462. 5 Zu diesen Differenzen vgl. auch Habermas, »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«, S. 351: »Auch die direkten Vorläufer, die der Begriff der Menschenwürde in der griechischen Philosophie, vor allem in der Stoa und im römischen Humanismus, – etwa bei Cicero – hat, bilden keine semantische Brücke zum egalitären Sinn des modernen Begriffs. Damals erklärte sich die dignitas humana aus einer ontologisch ausgezeichneten Stellung des Menschen im Kosmos, aus dem besonderen Rang, den der Mensch aufgrund von Gattungseigenschaften wie Vernunftbegabung und Reflexion gegenüber »niederen« Lebewesen einnimmt. Die Höherwertigkeit der Species kann vielleicht einen Artenschutz begründen, aber nicht die Unantastbarkeit der Würde der einzelnen Person als Quelle normativer Ansprüche.«



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Auch muss man einsehen, dass wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen [personis] ausgestattet sind ; die eine davon ist eine gemeinsame daher, weil wir alle teilhaftig sind der Vernunft und des Vorzugs, durch den wir uns auszeichnen vor den Tieren [quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis], von der alles Ehrenhafte und Schickliche hergeleitet [a qua honestum decorumque trahitur] und von der aus der Weg zur Auffindung des pflichtgemäßen Handelns [officii] gesucht wird ; die andere aber eine, die in besonderem Sinne den Einzelnen zugeteilt ist.6

In Ciceros Augen besitzt der Mensch als Individuum und Bürger eine Bürgerwürde, die mit Pflichten und einem Anspruch auf Achtung verbunden ist. Außerdem besitzt er als Gattungswesen eine Menschenwürde. Die Bürgerwürde selbst aber gründet insofern in der Menschenwürde, als dass sie schon eine Reflexion auf die letzten Zwecke voraussetzt. Auch kann man annehmen, dass die Vernunft des Menschen und Bürgers in einem äußeren Titel oder bestimmten physischen Besonderheiten sichtbar sein muss. Kants Ethik hingegen zeugt von einer Abkehr von der Fragestellung nach den »letzten Zwecken« oder dem höchsten Gut und somit auch von dieser Menschenwürde. Dem Charakter des Menschen schenkt er nur in der Anthropologie einige Beachtung, dekretiert aber zugleich, dass der Mensch nicht ein vernünftiges, sondern bloß ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) ist.7 Kurz: Auf den ersten Blick scheint sich nichts oder fast nichts von Kants prägenden moralischen und rechtlichen Gedanken bei Cicero zu finden. Dazu passt auch, dass Cicero selbst von Kant selten zitiert wird.8 Aber wenn man genauer hinschaut, knüpft Kant auf einer tieferen Ebene sehr wohl an Cicero an. Zunächst kommt er in seiner Umkehrung der früheren Perspektiven zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie direkt auf eine Auslegung zurück, die er in der Stoa und bei Cicero vorgezeichnet findet. Selbst Staatsmann, hatte letzterer die Frage nach der Selbsterkenntnis in einem ganz und gar analogen Sinne ausgelegt. Unter expliziter Bezugnahme auf das delphische Orakel Gnothi sauton schreibt 6 Cicero,

De officiis, I, 107. Anthropologie, Bd. VII, S. 321. 8 Kant erwähnt Cicero in einigen über sein Werk verstreuten Passagen. Er stellt hier Ciceros rhetorische (AA Bd. V, S. 327, AA Bd. VIII, S. 218) und philosophische Qualitäten (AA Bd. IX, S. 47) heraus. In einem Abschnitt seiner Logik über Philosophiegeschichte schreibt er: »Cicero war in der speculativen Philosophie ein Schüler des Plato, in der Moral ein Stoiker.« (AA IX, S. 31) Im Streit der Fakultäten erklärt Kant, dass er seine eigene Schlaflosigkeit damit zu bekämpfen pflege, dass er seine Aufmerksamkeit auf ein gleichgültiges Objekt »z. B. auf den viel Nebenvorstellungen enthaltenen Namen Cicero« hefte. (AA Bd. VII, S. 107). 7 Kant,

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Würde, Ehre, Humanität  ·  Kapitel 9

Cicero in De finibus: »Der Pythische Apoll gebietet uns, uns selbst zu erkennen. Diese unsere Selbsterkenntnis besteht jedoch allein darin, dass wir die Möglichkeiten des Leibes und der Seele erkennen und nach einem Leben trachten, das gerade diese Möglichkeiten verwirklicht«.9 Zwar gehört zur praktischen Vernunft, wie Cicero sie fasst, auch das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis, aber in beschränktem Maße. Es gilt hier, zwei Fehler zu vermeiden. Zum einen darf man nicht »Unbekanntes für Bekanntes halten«, zum anderen nicht »übertriebene Mühe und übertriebenen Einsatz auf dunkle und schwierige und noch dazu unnötige Fragen verwenden«.10 Aus dieser Perspektive ordnet Cicero auch schon in De finibus die praktische Frage nach dem Tun als die grundsätzlichere der theoretischen Frage nach der Wahrheit vor. Außerdem knüpft Kant auch an Ciceros honestas an und unternimmt ganz offensichtlich den Versuch einer philosophischen Begriffsklärung. So finden sich Passagen, in denen Kant den alten Honestas11-Begriff direkt erwähnt und mit Würde gleichsetzt. Dieser Honestas-Begriff setzt sich wiederum aus einer äußeren, rechtlichen honestas iuridica12 und einer inneren honestas interna oder iustum sui aestimium13 zusammen, die in enger Verbindung miteinander stehen. Von Kants Rezeption der Philosophie Ciceros zeugt zudem auch eine merkwürdige Spiegelung und Übernahme von Ciceros Zweiteilung der Per­ spektiven in De officiis und De finibus. Diese systematische Verbindung und Anordnung wird in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft übernommen bzw. umgekehrt. Gemeinsam ist Kant und Cicero schließlich auch, wie im letzten Kapitel angedeutet, eine tiefere anthropologische Perspektive auf die Würde als humanitas. Zwar ist Würde nicht einfach an äußeren und physischen Besonderheiten und Eigentümlichkeiten des Menschen abzulesen. Wohl aber ist sie eine Form von allgemeiner Ehrbarkeit14 des Menschen, oder genauer: der Menschheit. 9

Cicero, De finibus, V, 44, S. 441. Cicero, De officiis, I, S. 19. 11 Vgl. zum Begriff der Ehrliebe insbesondere Anthropologie, AA Bd. VII, S. 257, S. 272 und folgende Stellen: AA Bd. VIII, S. 26. Vgl. auch schon zum Honestas-Begriff als Prinzip der praktischen Philosophie, Baumgarten Initia philosophiae practicae primae, § 94 und auch Kants Erläuterungen zu Baumgartens Schrift in AA Bd. XIX. 12 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 236: »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive ! ) Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: mache dich andern nicht zum bloße Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.« 13 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 464. 14 Vgl. auch wiederum Fellsches, »Würde«. 10



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Diese Frage nach der Ehrbarkeit der Menschheit durchzieht Kants praktische Schriften in der Tat wie ein roter Faden. Würde entspricht einer Ehrung und Selbstachtung, die der Mensch sich als Person, rechtlicher Bürger, moralisches Vernunftwesen und Teil einer weiteren Menschheit schuldig ist. Eng mit dieser moralischen Perspektive zusammen hängt eine rechtliche und zugleich kosmopolitische Perspektive auf Würde als ein Titel des Vernunftwesens im Weltstaat oder in der Vernunftrepublik, die Kant das »Reich der Zwecke« nennt. Und Kants Kritik an Cicero betrifft hier offensichtlich die unzureichende Reflexion auf jene allgemeine Ehrbarkeit, die die Menschen als Vernunftwesen auszeichnen muss und die auch in dem von Cicero begründeten Naturrecht noch ungenügend gedacht ist. Im Geiste eines besseren Kosmopolitismus nimmt Kant deshalb vor einem neuen historischen, politischen und philosophischen Hintergrund eine Klärung und Neumontage des Würdebegriffs Ciceros vor. Es muss möglich sein, im Ausgang von Ciceros bestimmten Bürgern vorbehaltener Standeswürde eine gleiche Würde und Ehrbarkeit aller Menschen oder zumindest aller Bürger zu denken. Jeder Bürger muss im Prinzip den gleichen Rang und Titel besitzen ; jeder Bürger muss »sein eigener Herr« (sui iuris)«15 sein können. Diese Forderung bedeutet ihrerseits eine Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit der Bestimmung des Menschengeschlechts als Umsetzung eines vernünftigen Weltstaates vor dem im letzten Kapitel dargestellten kosmopolitischen Hintergrund. Sie bringt jene paradoxe Nobilitierung der Menschheit und Umkehrung des alten hierarchischen Schemas mit sich, die schon Autoren wie Charles Taylor16, Jeremy Waldron und Jürgen Habermas17 hervorgehoben haben und die in der Einleitung erwähnt wurde. Diese Neumontage, die die Fiktion eines Reichs der Zwecke und eine doppelte anthropologisch-historisch-teleologische und praktische Dimension beinhaltet, gestaltet sich aber deshalb kompliziert, da sie von Kants modernen Voraussetzungen ausgehend nach bestimmten systematischen Korrek15

Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 238. Taylor beschreibt die in der Aufklärung mit Rousseau und Kant stattfindende Ablösung des hierarchischen Ehrenparadigmas durch ein neues egalitäres Würdeparadigma wie folgt: »Complete reciprocity, along with the unity of purpose that makes it possible, ensures that in following opinion, I am not in any way pulled outside myself. […] Caring about esteem in this context is compatible with freedom and social unity, because the society is one in which all the virtuous will be esteemed equally and for the same (right) reasons. In contrast, in a system of hierarchical honor, we are in competition ; one person’s glory must be another’s shame, or at least obscurity.« Taylor, Politics of Recognition, S. 48. 17 Habermas, »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«. 16

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Würde, Ehre, Humanität  ·  Kapitel 9

turen verlangt und deshalb den Bruch mit Ciceros Tugendethik und seinem Eudämonismus mit sich führt. Die Neumontage ist deshalb auch eine Demontage des alten Würdebegriffs. Denn im Zuge seiner kosmopolitischen Revision deutet Kant die Bürgerwürde als eine Vernunftwürde und beraubt sie der ursprünglichen humanen und personalen Dimension. Statt von »Menschenwürde« spricht er von der »Würde der Menschheit«18. Mit diesen begrifflichen Wandlungen werden die alten Begrifflichkeiten aus der römischen Antike fast unkenntlich und werden mehr oder weniger von einer neuen philosophischen Sprache überdeckt. Damit sind die Themen und Thesen des vorliegenden Kapitels umrissen, das sich mit Kants Kritik (1), Neumontage (2) und Demontage (3) von Ciceros Würdebegriff befasst.

Jeder Bürger sein eigener Herr ? Ehrbarkeit in der Ständegesellschaft

Beginnen wir damit, dass wir diese Auseinandersetzung mit Ciceros honestas genauer rekonstruieren. Vergleichen wir zunächst einmal die beiden Würdebegriffe in ihren Voraussetzungen. Was fällt weg ? Was bleibt bestehen ? Auffällig ist eingangs Kants scharfe Ablehnung des von Cicero noch favorisierten hierarchischen Ständewesens bzw. von dessen Überresten im Feudalwesen seiner eigenen Zeit. In Kants Augen ist dieses Modell reformbedürftig bzw. hoffnungslos überholt. Der Adel kann als eine »temporäre, vom Staat autorisierte Zunftgenossenschaft« und als ein »den Umständen nach notwendiges Institut« gesehen werden. Aber »dass dieser Stand auf ewig könne begründet werden, und ein Staatsoberhaupt nicht solle die Befugnis haben, diesen Standesvorzug gänzlich aufzuheben«, könne »keineswegs behauptet werden.19 Vor allem dürfe diese Institution »dem allgemeinen Menschenrecht, das so lange supendieret war«, nicht Abbruch tun. Offenbar ist in Kants Augen der alte Geist, der diesem Modell seine Gestalt gegeben hatte, in Vergessenheit geraten und hat sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Kant stößt sich besonders an den von der alten Standesordnung aufgegebenen höfischen Verhaltensmustern. In den »Reverenzen und Verbeugungen«, »den Unterschied der Stände mit sorgfältiger Pünktlichkeit bezeichnende Phrasen !«, dem »Du, Er, Ihr und Sie, oder Ew. Wohledlen, Hochedlen, Hochedelgeborenen, Wohlgeborenen (ohe, iam satis est !)« in der 18 Eine genaue Darstellung von Kants Verwendung der Begriffe »Menschenwürde« und »Würde« findet sich bei van der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant. 19 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 369 f.



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Anrede, zeige sich eine »Pedanterei«, in der »die Deutschen unter allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten gebracht haben«, sowie ein »ausgebreiteter Hang zur Kriecherei«.20 Dieser höfischen Achtungsbezeugung in Worten und Manieren, in der das Individuum seinen eigenen Wert verneint, setzt Kant (ganz wie Garve) ein Ideal wahrer Höflichkeit oder politesse entgegen, die auch »sich gleich achtenden notwendig« sei.21 Diese Höflichkeit bestimmt er als einen bloßen »Schein der Herablassung, der Liebe einflößt«.22 In der Anthropologie beschreibt Kant die im Feudalwesen seiner Zeit bestehende Auffächerung nach Rängen und Würden in größerem Detail. Diese reiche von der königlichen Würde an durch alle Abstufungen bis dahin, wo die Menschenwürde gar aufhört, und blos der Mensch bleibt, d. i. bis zu dem Stande des Leibeigenen, der allein von seinem oberen durch Du angeredet werden, oder eines Kindes, was noch nicht einen eigenen Willen haben darf.23

Eine solche Abstufung aber trägt entgegen Ciceros Vorstellungen nicht zum Gemeinwohl bei. Sie dient in Kants Augen vor allem der Absicht, dass »der Grad der Achtung, der dem Vornehmeren gebührt, ja nicht verfehlt würde.«24 Ein solcher Standesdünkel oder Ehrenkodex dient somit der Achtung einiger zuungunsten der Achtung anderer. Kant hebt weitere Fehler und Missverständnisse in diesem System hervor. So fügt er in verschiedenen Passagen seines Werkes erläuternd hinzu, dass der Begriff eines »angeerbten« Adels an sich ein »Gedankending« sei, da »die Natur es nicht so fügt, dass das Talent und der Wille, welche Verdienste um den Staat möglich machen, auch anarten«25 und auch nicht auf die Zustimmung des Volkes rechnen könne. Im Gegensatz zum »Erbadel« sei nur ein »Amtsadel« zulässig, da der Rang dieser »nicht, als Eigentum, an der Person, sondern am Posten klebt«. Die Gleichheit werde dadurch nicht verletzt, weil, wenn jene [Person] ihr Amt ablegt, sie zugleich den Rang ablegt, und unter das Volk zurücktritt.«26 20 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 437. Vgl. auch seine Bemerkungen zur deutschen Titelsucht und zum deutschen Hang, »zwischen dem, der herrschen, bis zu dem, der gehorchen soll, eine Leiter anzulegen, woran jede Sprosse mit dem Grade des Ansehens bezeichnet wird, der ihr gebührt«, Anthropologie, AA Bd. VII, S. 319. 21 Zu diesem gesellschaftlichen Ideal vgl. auch Kapitel 7. 22 Kant, Anthropologie, § 14, AA 7, S. 152. 23 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 130. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 329. 26 Zum Ewigen Frieden, Fußnote, Bd. VIII, S. 351. Diese Äußerungen zeugen wiederum

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Würde, Ehre, Humanität  ·  Kapitel 9

In Kants Augen läuft das Prinzip Geburtsadel Ciceros eigenen dynamischen Vorstellungen vom Menschen und von der Gesellschaft offenbar zuwider. Denn wenn der Mensch ein tätiges Wesen und ein tätiger Bürger werden und die Gesellschaft zu einem Ort werden soll, der diese Tätigkeit, die Entfaltung der Kraft und Vermögen des Bürgers, im Wettbewerb mit anderen Bürgern sowie den »Verkehr« (commercium)27 und Austausch zwischen Bürgern gewährleistet28, so müssen gesellschaftliche Differenzen und Titel auf Verdienst statt auf Geburt begründet werden. Die statische alte Gesellschaftsauffassung muss durch eine offene und dynamische ersetzt werden, in der gesellschaftliche Mobilität möglich ist. Was Kant zu beanstanden scheint, ist somit zunächst nicht Ciceros Würdebegriff selbst, sondern dessen gesellschaftliche Umsetzung. Kant scheint die Ansicht zu vertreten, dass diese Umsetzung und Konkretisierung der Ehre im Ständemodell im Grunde Ciceros eigenen Prinzipien widerspreche, wie es vielleicht erst die eigene aufklärerische Gegenwart klar vor Augen geführt hat. Denn in Kants Augen erzeugen die von der Ständegesellschaft seiner Zeit aufgegebenen Protokolle sowohl einen falschen Stolz als auch eine falsche Demut oder Kriecherei. Diese führt dazu, dass der Mensch sich in Widerspruch zu der eigenen Würde und Pflicht der Selbstachtung begibt. Dadurch negiert er nicht nur seinen eigenen Wert und »wirft sich weg«, sondern schafft zudem eine Situation, in der die Affirmation dieses Wertes immer schwieriger und schließlich unmöglich wird. »Aus Possen wird Ernst«, notiert Kant und fügt hinzu: »Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.«29 Mit dieser Auffassung steht Kant nicht ganz alleine da. Man beachte, dass die Frage der Legitimität der Stände am Vorabend der Französischen Revovon Kants Affinitäten mit Garve. Man erinnere sich, dass Garve die Situation in seinem Cicerokommentar im Prinzip sehr ähnlich wie Kant bewertet. Garve hatte auch schon eine originelle Auslegung Ciceros vorgeschlagen, die in dieser Situation eine Lösung bieten könne. Ciceros hierarchische Auffassung von Gesellschaftsstrukturen könne nur temporäre Ungleichheit beinhalten, die bestimmte gesellschaftliche Rollen und Aufgaben betreffe. Sein eigentliches Anliegen sei aber die Menschenwürde, die er noch unzureichend diskutiere. Vgl. Garve, Betrachtung einiger Verschiedenheiten, und Kapitel 3. 27 Zum Ewigen Frieden, S. 352 und 473: »Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch gegen Andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten untereinander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas), sich nicht zu isolieren (separatistam agere) ; zwar sich einen unbeweglichen Mittelpunkt seiner Grundsätze zu machen, aber diesen um sich gezogenen Kreis doch auch als einen, der den Theil von einem allbefassenden der weltbürgerlichen Gesinnung ausmacht, anzusehen […]«. 28 Vgl. auch Cavallar, Kant’s Embedded Cosmopolitanism, insbesondere Kapitel 3, S. 49–75. 29 Ebd.



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

lution von 1789 in den Brennpunkt der europäischen und deutschen Debatte geraten war. Einer konservativen, die herkömmliche Ständegesellschaft und gesellschaftliche Ungleichheit befürwortenden Fraktion – repräsentiert durch Edmund Burke und Jeremy Bentham in England und August Wilhelm Rehberg, Ernst Brandes, Justus Möser30 und Christoph Meiners in Deutschland – stand eine progressive Fraktion gegenüber, die Hierarchie und Ungleichheit den Kampf angesagt hatte. Zu dieser letzteren zählten Rousseau in Frankreich und in Deutschland Garve, Fichte, Forster und auch Kant. Dieser erhielt von Rousseau schon in den 1760er Jahren wichtige Impulse, wie es eine berühmte Passage aus den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen bezeugt, in der Kant seine eigenen philosophischen Motivationen darlegt: Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß die Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen.31

Zwar ist Kant kein Freund gewaltsamer Revolutionen. Er steht nicht wie Forster auf der Seite der deutsche Jakobiner, die in Schriften und Vereinigungen und durch die Gründung der Mainzer Republik zum radikalen Sturze dieses Regimes aufriefen. Trotzdem aber lehnte Kant die bestehende Ständegesellschaft im Prinzip ab und befürwortet jene Ideale von Freiheit und Gleichheit, die auch Rousseau vor Augen stehen und die mit der Französischen Revolution in die Realität umgesetzt werden sollen. Diese kann in seinen Augen als ein »Geschichtszeichen« für den Fortschritt des menschlichen Geschlechts gedeutet werden.32 Auffällig ist aber, dass Kant direkter als die meisten seiner Zeitgenossen auf Ciceros eigenes Modell und dessen Würdeprinzip als honestas, Ehrbarkeit zurückgreift. Interessanterweise kritisiert Kant Cicero gerade im Namen von dessen eigenem Würdeprinzip. Die Forderung, dass jeder Mensch zumindest indirekt ein Bürger und jeder Bürger sein eigener Herr sein könne, der in einer res publica mit anderen Bürgern agiert, ergibt sich in Kants Augen aus 30

Aus der umfangreichen Literatur vgl. v. a. Beiser, Bödeker, Moggach, van der Zande. Bemerkungen zu den Beobachtungen, AA Bd. XX, S. 44 32 Vgl. insbesondere den Streit der Fakultäten, AA Bd. VII, S. 85 f. 31

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diesem Würdeprinzip selbst. Denn wie die neuere Geschichte und die Verwandlung des alten Ständemodells von einem System der Ehre in eines der Kriecherei gezeigt hat, muss man das alte republikanische Prinzip Ehrbarkeit schon immer im Sinne einer allgemeinen Ehrbarkeit deuten können, wenn obige Phänomene und Widersprüche vermieden werden sollen und das Prinzip selbst gesellschaftlichen Bestand haben soll. Kant selbst ist schon früh von diesem Ehrprinzip durchdrungen. Seine positive Schätzung von Ehre und Ehrgefühl zeigt sich schon in dem Aufsatz Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahre 1764 und den bereits zitierten begleitenden Bemerkungen. Hier findet sich folgende Notiz, die den lateinischen Ursprung des Begriffs (honestas) herausstellt und außerdem gedankliche Leitmotive einführt, die für Kants künftige Über­ legungen höchst bedeutend sind: Die Innere Ehre. Selbstschätzung die äussere Ehre als ein Mittel jener sich zu versichern. Daher ein Mann von Ehre. honestas. Die äussere Ehre als ein Mittel ist wahr als der Zweck ein Wahn. Jene entweder zur selbst Erhaltung, Gleichheit, oder zur Erhaltung der Art gehet auf den Vorzug. Die Ehrbegierde (unmittelbar) geht entweder auf die Meinung von wichtigen Vollkommenheiten (patrio­tism) u. heißt Ehrgeitz oder in Kleinigkeiten u. heißt Eitelkeit. Das Bewustseyn seiner Ehre als in deren Besitz man sich glaubt u. zwar ohne sich mit anderen zu messen heißt Stoltz. Würde.33

In den Beobachtungen selbst heißt es außerdem, das »Ehrgefühl« seinerseits und seine Folge, die »Scham«, sei »als ein begleitender Trieb äußerst vortreflich«: weil es den Menschen dazu treibt, »in Gedanken außer sich selbst einen Standpunct zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den sein Betragen hat, die Schicklichkeit oder Angemessenheit seines Verhaltens in einem gesellschaftlichen Kontext zu beurteilen.«34 In der Anthropologie spricht Kant in einem analogen Sinne nicht der Tugend, sondern der Ehrbarkeit an sich schon einen Wert zu: »Der gute ehrbare Anstand« und »alles was man Wohlanständigkeit (decorum) nennt«, sei ein »äußerer« und ein »schöner« Schein, der anderen Achtung einflößt (sich nicht gemein zu machen).«35 Auch in den praktischen Schriften und insbesondere der Metaphysik der Sitten zeigt sich Kants tiefe Prägung durch Ciceros Ehrenkodex. 33

Bemerkungen über die Beobachtungen, AA Bd. XX, S. 130. Beobachtungen über das Schöne und das Erhabene, AA Bd. II, S. 227. 35 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 152. Vorlesungen zur Anthropologie AA Bd. XXV, Teilband 1, S. 675 ff., Teilband 2, S. 838 ff. u. 1415 ff. (Anthropologie Pillau und Mrongovius) ; Reflexionen zur Anthropologie, AA 15. 34



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Nur führt der neue Gedanke von allgemeiner Ehrbarkeit zu radikaleren gesellschaftstheoretischen Konsequenzen. Kants Anliegen ist es, die gesellschaftlichen und rechtlichen Bedingungen zu denken, die besser gewährleisten, dass jeder Mensch und Bürger sein »eigener Herr« sein kann, dass er Anspruch auf Selbstständigkeit als Rechtsbürger und auf Selbstachtung als Mensch und praktisches Wesen erheben kann.36 Diese letztere moralische innere Selbstachtung oder Würde des Menschen ist somit in gewisser Hinsicht durch eine rechtliche äußere und öffentliche Ehre bedingt. Es gibt in Kants Augen keine angeborenen oder durch Geburt legitimierten Rechte und Vorrechte, sondern »nur ein einziges angeborenes Recht«, nämlich ein »ursprüngliches, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehendes Recht.« Dieses besteht in jener Freiheit oder »Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür«, sofern sie mit »jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz« und einer »gegenseitigen Verbindlichkeit zusammen bestehen kann.«37 Rechtliche Freiheit oder Unabhängigkeit von einem äußeren Zwang oder von äußerer Nötigung und angeborene Gleichheit werden kraft dieser wechselseitigen Verbindlichkeit zusammen gedacht. In der von Kant favorisierten »bürgerlichen Gesellschaft« ist diese gegenseitige Verbindlichkeit (Freiheit und Gleichheit) durch eine rechtliche und republikanische38 Verfassung, das Prinzip der Gewaltenteilung und der Partizipation der Bürger oder zumindest der aktiven Staatsbürger an der Gesetzgebung gewährleistet.39 Die aktiven Staatsbürger unterscheidet Kant von den passiven, die das »Gesinde«, die Frauen, Kinder, nichtmännlichen Staatsbürger umfassen, was 36 Zu diesem Punkt vgl. auch Arthur Ripstein, Force and Freedom: Kant’s Legal and Political Philosophy, Cambridge, MA, Harvard University Press, 2009. 37 Kant, Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 237. 38 Der Begriff Republikanismus lässt sich sehr verschieden auslegen. Im weitesten Sinne bedeutet er die Ablehnung der Monarchie zugunsten eines Freistaates. Die republikanische Freiheit wird oft mit einer Orientierung am Gemeinwohl, mit Partizipation und Gewaltenteilung in Verbindung gebracht. Auf einer höheren Ebene und in Verbindung mit kosmopolitischem Gedankengut wird manchmal postuliert, dass die Erde und ihre Güter schon einem gemeinsamen und ursprünglichen Besitztum aller Menschen entsprechen. So bei Wolff und Kant. Für Kants Republikanismus spielt zudem das Prinzip der Publizität eine bedeutende Rolle. Zu diesem fluktuierenden Begriff vgl. auch den Artikel von Wolfgang Mager in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart, Klett-Cotta, 1972–1997, Bd. 5, S. 549–651 ; Philippe Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus: Eine ideengeschichtliche Studie, Campus, 2011 ; Martin van Gelderen und Quentin Skinner, Republicanism. A Shared European Heritage, Cambridge, Cambridge University Press, 2002. 39 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 313 f. Eine gute Einführung in diese Rechtsphilosophie bietet beispielsweise Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Paderborn, Mentis, 2007.

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eine Restriktion dieser Menschen- und Bürgerwürde bedeutet, auf die später zurückgekommen werden muss.40 Diese Partizipation des Bürgers an der Gesetzgebung nun ist durch Wechselseitigkeit gekennzeichnet. Sie entspricht Kant zufolge sowohl einer »Freiheit, keinem anderen Gesetze zu gehorchen als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat«, als auch einer bürgerlichen Gleichheit, »keinen Oberen im Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er ebenso rechtlich zu verbinden das Vermögen hat.«41 Aus dieser Freiheit und Gleichheit folgt nun drittens das Attribut der auf den eigenen Kräften und Rechten beruhenden »bürgerlichen Selbständigkeit«, als Glied des gemeinen Wesens, das es dem Bürger erlaubt, sich selbst in Rechtsangelegenheiten zu repräsentieren.42 Diese rechtliche gleiche Ehrbarkeit des Bürgers und öffentliche Achtung nun ist die Voraussetzung für die eigene Würde und Selbstachtung als Mensch und praktisches Vernunftwesen. Kant übernimmt zudem die alte bei Seneca angelegte43 Unterscheidung von Würde und Preis. Den etymologischen Wurzeln des Würdebegriffs (von althochdeutsch »werde«) entsprechend, stellt er den unbedingten Wert der Würde heraus, der »über allen Preis erhaben«44 sei. Seine absolute Wertigkeit unterscheide den »guten Willen« von relativen Gütern wie den »Talenten des Geistes«, »Eigenschaften des Temperaments wie Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze«, Glücksgaben wie »Macht, Reichtum, Ehre, und dem ganzen Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustand« trifft. Der gute Wille sei »an sich gut« und würde, auch ohne etwas in der Welt auszurichten, doch »wie ein Juwel glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat«.45 Doch ist entgegen der alten Auslegung Würde hier zwar von einem Preis unterschieden, aber auch einem Preis gleich. In einem modernen ökonomischen Kontext ist sie nicht nur ein unbedingter Wert, sondern erhebt auch auf 40

Vgl. Kapitel 11 zur Würde der Frauen. Ebd., S. 314. 42 Metaphysik der Sitten, S. 314 f. 43 Seneca, Epistula 71, 33: »his (corporis bonis) pretium erit aliquod, ceterum dignitas non erit.« (Vgl. auch Epistula 89, 15). 44 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 436: »Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetze (dessen Heiligkeit und Strenge) muss unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Wertes (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist, und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt.« 45 Grundlegung, AA Bd. VI, S. 394. Vgl. auch Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 434 f. und Naturrecht Feyerabend, Bd. XXX, 2, S. 46. 41



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öffentliche Geltung Anspruch. Sie ist als ein Zweck an sich und eine Tugend von jenen Gütern des Leibes, die zu den »gleichgültigen« Dingen gehören, aber dennoch als zum Erreichen des Zwecks notwendige Bedingungen einen Preis besitzen, unterschieden. Und sie kommt einem Preis gleich, insofern es über diese eigene Selbstachtung hinaus wie beim Preis auch das »öffentliche Urtheil« sein muss, das über den Werth (valor) einer Sache in Verhältnisse auf die proportionierte Menge« entscheidet.46 Kants Forderung ist somit eine doppelte, sie betrifft sowohl innere Würde und Selbstachtung als auch äußerliche Ehre und öffentliche Geltung. Erstere ist durch zweitere bedingt. Man besitzt eine Würde, solange auch ein kollektiver Glaube an diese besteht und solange ein öffentlicher und rechtlicher Raum existiert, in dem der Mensch als eine moralische, rechtliche und bürgerliche Persönlichkeit und als ein Selbstzweck betrachtet wird. Über diesen relativen, aber gemeinsamen Wertmaßstab muss man sich öffentlich verständigen können.47 »Einigen wir uns auf den Wert, so wird das Pactum richtig«, schreibt Kant in einer Vorlesung von 1784.48 Insofern hat Würde auch immer einen Preis, wie Kant es in einem modernen ökonomischen Kontext klarer als die antiken Philosophen herausstellt.49 46 In mehreren Passagen seines Werkes führt Kant diese Analogie von Preis, Wert und Würde aus. Der Wert entspricht hier einem Preis oder »öffentlichem Urtheil über den Werth (valor) einer Sache in Verhältnisse auf die proportionierte Menge«, Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 288. Dessen Wert nach dem gemeinen Urteil der Menschen bestimmt, ist pretium vulgare, Marktpreis. Ein solcher Preis erlaubt es – ganz wie das allgemeine Tauschmittel Geld, das nicht einfach einen Nutzwert (pretium usus), sondern einen ausgezeichneten Wert (pretium eminens) besitzt –, einen Vergleichsmaßstab festzusetzen. Im Naturrecht Feyerabend bezieht sich Kant in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die ökonomischen Doktrinen seiner Zeit und insbesondere Adam Smith, der in Wealth of Nations diese Qualität des Geldes anhand des Vergleiches mit einem Scheffel Korn erklärt. Naturrecht Feyerabend, AA Bd. XXX, 2, S. 46. 47 Vgl. auch Anthropologie, AA Bd. VII, S. 292 und R 1498, AA Bd. XV, S. 774–81. Vgl. auch Maximilian Forschner, »Marktpreis und Würde oder vom Adel der menschlichen Natur«, in: Henning Kössler (Hg.), Die Würde des Menschen, Nürnberg, Universitätsverbund Erlangen-Nürnberg, 1998, S. 37 und Marc D. White, Kantian Ethics and Economics. Autonomy, Dignity and Character, Stanford University Press, 2011. White stellt eine Verbindung zwischen Kants Rationalismus und gegenwärtigen ökonomischen Modellen wie dem von Amartya Sen her. Diese teilen die gemeinsame Voraussetzung, dass außer konsequentialistischen Erwägungen auch unbedingte Werte und moralische Überzeugungen in der wirtschaftlichen Logik einen Platz finden müssen, S. 16. 48 Vorlesungen über Moralphilosophie, AA Bd. XXVII, 2.2, S. 1357. 49 Die relative Gleichsetzung von Würde und Preis, die sich aus der öffentlichen Dimension von Würde ergibt, bedeutet auch, dass die eigene Würde, sprich der Wert der eigenen Arbeit in einem modernen System von Mitteln und Zwecken messbar und vergleichbar wird. Insofern jeder Mensch eine beschränkte Kraft (Arbeitskraft, moralische

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Mit diesem Gebot der allgemeinen Ehrbarkeit und der rechtlichen Achtung des unbescholtenen Menschen eng verbunden ist der »gute Name« und Leumund, der als bona fama defuncti als ein angeborenes äußeres, obzwar bloß ideales dem Subjekt als rechtlicher Person anhängendes »Mein oder Dein« auch nach dem Tode weiter bestehen soll.50 Selbstachtung und Achtung durch andere sind dabei offenbar nur relativ geschieden. Ich selbst muss mir als rechtliches und moralisches Wesen dieselbe Ehrung entgegenbringen, die ich auch einem Fremden schulde. Geschichte und Naturrecht

Aber schon an Kants kritischen Äußerungen über die Ständegesellschaft zeigt sich, dass Ciceros römische res publica nur eine unvollkommene Form des idealen Vernunft- und Rechtsstaats sein kann. Diesen muss man auf dieses höhere Ideal hin und in seiner kosmopolitischen und naturrechtlichen Dimension denken. Cicero ist bekanntlich selbst der Begründer einer naturrechtlichen Tradition, der Kant tief verhaftet bleibt. Cicero behauptet bereits, dass das positive Recht, das in den bestehenden Gesetzesordnungen und Institutionen in Erscheinung tritt, zugleich in der Natur und in der natürlichen Vernunft (naturalis ratio) begründet sei. Dass die Natur die Quelle des Rechts sei, bedeutet für Cicero, dass uns die Götter mit gewissen Gaben versehen und ausgerüstet haben zum andern, dass die Menschen unter einander auf einen gewissen gleichen und gesellschaftlichen Fuß leben, und drittens dass alle durch eine natürliche Zuneigung und gegenseitiges Wohlwollen wie auch durch einerley Recht mit einander verbunden sind.51 Kraft) besitzt, kann man sich auch immer einen öffentlichen Wert und Preis vorstellen, für den »man sich weggibt.« Die individuelle Meinung, die man bezüglich der eigenen Kraft hegt, kann sich insofern immer als eine Täuschung und »Subreption« erweisen, als dass man hier eigentlich die »subjektiven Bedingungen der Schätzung einer Größe für die objektiven der Größe an sich selbst« hält. Kant zitiert diese Beobachtung eines Mitglieds des englischen Parlaments und stimmt ihr von der Sache her zu. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. VI, S. 38. Vgl. auch Naturrecht Feyerabend, Bd.  XXX, 2, S. 46. Das bedeutet, »dass der Adel des Menschen in seinem eigenen Bewusstsein verschwinden kann,« und »er für einen Preis feil wird und zu Kauf steht, den ihm verführerische Neigungen anbieten.« Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 483. 50 Zur Ideengeschichte des Ruhms und guten Namens vgl. Dirk Werle, Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750–1930), Frankfurt, Vittorio Klostermann, 2014. 51 Cicero, De legibus, I, 12.



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Cicero räumt aber dieser Begründung in Natur und Vernunft ungeachtet implizit ein, dass dieses ius, das ein bei allen Völkern gültiges ius gentium umfasse, zu einer Entwicklung fähig sei. Das von Cicero begründete Naturrecht basiert bekanntlich auf der ersten Aufzeichnung des römischen Zivilrechtes, dem sogenannten Zwölftafelgesetz aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., das in der Folgezeit durch zuständige Amtsträger (ius honorarium) anhand konkreter Rechtsfälle, darunter auch Rechtsstreitigkeiten mit Ausländern im ius gentium, beständig erweitert und fortgebildet wurde. Im Ausgang von diesen vielfältigen Einzelfällen wurden unter Rückgriff auf die griechische Philosophie erstmals allgemeine Regeln fixiert und zusammengefasst. Ciceros Ambition bestand darin, die Quelle der Gesetze und des Rechts »nicht aus den zwölf Tafeln, sondern aus dem Innersten der Philosophie herzuleiten und seinem Grunde in der menschlichen Natur nachzuspüren«.52 Wie es der Titel einer nicht erhaltenen Schrift De iure civili in artem redigendo nahelegt, versuchte Cicero auch bereits, diese Regeln des Naturrechts syste­ matisch oder im Zusammenhang zu entwickeln. Eine solche Systematisierung sollte die Überführung der ars in eine scientia des Rechtes gewährleisten.53 Dennoch bettet Cicero sein Naturrecht noch nicht in den Zusammenhang einer offenen Geschichte ein. Der Fehler, den er in Kants Augen begeht, betrifft hier offensichtlich seine unzureichende Reflexion auf die historische Dimension seines Rechts. Dieser Gedanke eines offenen, entwicklungsfähigen Rechts erscheint in ersten Ansätzen bei Wolff, der seinerseits in seinem Naturrecht ausdrücklich Cicero Tribut zollt. Wolff glaubt beweisen zu können, »was Cicero sehr geschicklich gesagt, daß die Rechtswissenschaft nicht aus den Zwölf Tafeln, noch aus den Befehlen der Prätoren, sondern allerdings aus dem Innersten der Philosophie herzuholen sey.«54 Wolff bereichert nun das Naturrecht um eine neue heuristische und mathematisch-demonstrative Dimension, indem er den rationalen und systematischen Teil seiner Philosophie und des Naturrechts auf einer empirischen Grundlage begründet und in seiner Philosophia practica universalis bestimmte heuristische Prinzipien dem 52

Cicero, De legibus, I, 17. Diese Ambitionen und Forderungen sind vor dem Hintergrund der Entwicklung des römischen Naturrechts und der Rechtswissenschaft zu sehen, die zu Ciceros Lebzeiten eine erste Blütezeit erlebten, bevor sie im 5. Jahrhundert ihren eigentlichen Höhepunkt erreichten und im Jahre 530 unter Kaiser Justinian I. in die Digesten aufgenommen wurden. 54 Vgl. Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, und insonderheit dem gemeinen wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes (Deutsche Politik), 1740. 53

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System voranstellt. Er erklärt, er wolle, den »Fußstapfen Euclidis« folgend, der »Rechtsgelahrtheit ein Licht« anzünden.55 Kant spricht seinerseits, wie im letzten Kapitel ausführlich gezeigt wurde, der Natur und der Menschheit von den frühen naturgeschichtlichen Schriften an eine radikal neue zeitliche und historische Dimension zu. Der in der Allgemeinen Naturgeschichte skizzierten Kosmogonie zufolge ist das Universum in einem ewigen Wechsel begriffen, in der Welten entstehen und vergehen und die Natur eine Geschichte besitzt. Der Mensch nun greift in diese Evolution ein und hat an ihr Teil. Auch seine rechtlichen Institutionen sind, wie in den Beobachtungen zum Adel angedeutet, der geschichtlichen Veränderung unterworfen. Diese geschichtliche Dimension von Kants Naturrecht bleibt etwas verdeckt. Und doch ist sie zentral für das Verständnis seiner rechtlichen Systematik. Denn aus der historischen Entwicklung der rechtlichen Institutionen zieht Kant neue systematische Konsequenzen. Ausgiebig aus dem älteren (Cicero, Ulpian) und neueren Naturrecht (Wolff, Achenwall, Baumgarten) schöpfend, hebt Kant zugleich hervor, dass die Formeln dieses Naturrechts durchaus zur Revision und weiteren Klärung der systematischen Zusammenhänge fähig seien. So greift Kant für die Formulierung seines kategorischen Imperativs auf die Formeln des römischen Juristen Ulpian zurück, die lauten: Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive) (1), tue niemandem Unrecht (neminem laede, 2) und 3) tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). Auch den Gedanken, dass man sich nicht wegwerfen dürfe – nemo suum iactare praesumitur –, entleiht Kant der Tradition. Er findet sich auch bei Wolff.56 In all diesen Fällen handelt es sich in Kants Sicht um richtige Regeln, die aber noch der weiteren Systematisierung und Verdeutlichung fähig sind, so dass man seinen Formeln einen Sinn unterlegen kann, »den er sich dabei zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu entwickeln, oder hinein zu legen«.57 Die systematische Korrektur und Verbesserung, die Kant in seiner Grundlegung vorschlägt, knüpft direkt an die im letzten Kapitel umrissenen kosmopolitischen Gedanken an. Das Natur- oder Vernunftrecht selbst muss auf die Bestimmung der Menschheit und Einrichtung eines idealen, vollkommenen, alle früheren Modelle übertreffenden rechtlichen Welt- und Vernunftstaates 55

Vgl. Grundsätze des Natur- und Völckerrechtes, Vorrede. Ebd., § 204: »Man sagt […] es werfe einer etwas weg (rem suam jactare), wenn er, ohne dass es eine Pflicht oder Nothwendigkeit von ihm erfordert, und ohne dass er einigen Nutzen davon hat, nicht will, dass es seine seyn soll.« 57 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 236. 56



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ausgerichtet sein können. Aber wenn die Erreichung dieses idealen Zieles möglich sein soll, so müssen die grundlegenden Prinzipien schon zumindest in undeutlicher Gestalt in der Vernunft des Menschen präsent sein. Zumindest in seiner unbedingten Notwendigkeit und in seiner Universalität muss das Moralgesetz dem Menschen schon vor Augen stehen. Bereits vor aller Erfahrung und »unerfahren in Ansehung des Weltlaufs«58 muss sich der Mensch seiner Pflicht bewusst sein können ; er muss wissen, was er tun soll. Die Aussicht auf diese höhere Gesetzesordnung im Weltstaat ist durch den schon dem gemeinen Menschenverstand zugänglichen Pflichtbegriff gegeben. Zwar kommt diesem ein nur populärer und menschlicher Wert zu ; im Einvernehmen mit Cicero und gegen eine lange Tradition des christlichen Naturrechts, die auch Wolff59 noch mitumfasst, schränkt Kant die Pflicht auf einen Begriff ein, der seine eigentliche Bedeutung in einem menschlichen Gesellschafts- und Gemeinwesen erhält. Pflicht ist ganz wie die mit ihm verwandten Begriffe »Gesetz« und »Verbindlichkeit« ein Begriff, mit dem Menschen schon eine Bedeutung verbinden, weil er einem Moralgesetz entspricht, das sie kennen, weil sie bereits wissen, was sie den anderen Menschen schuldig sind. Wie Kant es sehr ausdrücklich in der Metaphysik der Sitten formuliert, kennen wir »kein anderes Wesen, was der Verpflichtung […] fähig wäre als blos den Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben, als blos gegen den Menschen […].«60 Jede Anwendung dieses Begriffs auf Gott ist eine metaphorische Übertragung, Verwechslung, Subreption »durch eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe«. Im Grunde ist die vermeintliche Pflicht des Menschen gegen andere Wesen bloß »Pflicht gegen sich selbst.«61 Trotz dieser menschlichen Dimension enthält die Pflicht aber schon die Dimensionen von Notwendigkeit und Universalität, die das Sittengesetz kennzeichnet. Diesem wohnt erstens eine absolute oder kategorische Verbindlichkeit oder Notwendigkeit, obligatio oder necessitatio, inne. Denn seine Pflicht erfüllt man nicht um einer (göttlichen) Belohnung oder eines von ihr unterschiedenen Zweckes willen, die diesen kategorischen in einen hypothetischen Imperativ verwandeln würde. Sie ist ein unbedingtes Gebot, das nach keiner weiteren Begründung oder Aussicht auf höhere Zwecke verlangt. Indem sich der Bürger diesem Gesetz unterwirft, ist er »Zweck an sich selbst«, nicht »bloß als 58

Grundlegung, AA Bd. IV, S. 403. Wolff zufolge ist Pflicht eine Handlung, »die dem Gesetz oder dem Gesetz der Natur gemäß (conformiter) ist und »die wir zu vollbringen verbunden sind«. Wolff, Deutsche Ethik, § 221. 60 Metaphysik der Sitten, Bd. VI, S. 442. 61 Ebd. 59

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Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.«62 Diese neue kategorische Kennzeichnung der Pflicht, die bei Wolff noch nicht bestand, schließt alle Rechtfertigung um weiterer Zwecke willen, alles »um zu« aus und liefert dem System überhaupt eine neue absolute Fundierung in einer neuartigen Propädeutik zur allgemeinen praktischen Philosophie. Zweitens ist das Sittengesetz auch durch Universalität gekennzeichnet. Mit dem Pflicht- und Ehrbegriff einher geht die Vorstellung, dass sie sich auf alle Menschen und Vernunftwesen als Bürger eines vernünftigen Rechtsstaats bezieht. Diese Universalität nun ist es, die eigentlich die Formalisierung des Sittengesetzes ermöglicht. Dieser Gedanke ist in der ersten Formel des Sittengesetzes enthalten, welche bekanntlich anordnet, »nur nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.63 Sie betrifft die Möglichkeit einer Verallgemeinerung der eigenen Maxime. Die Moral kann ohne diese Inhalte auskommen, wenn sie auf Pflicht oder die »Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz allein«64 gründet, die »durch den Weg der Vernunft allein« vorgestellt werden kann. Da die Dimensionen von Notwendigkeit und Allgemeinheit dem Pflichtbegriff bereits innewohnen, weiß der Mensch, dass er an der Gesetzgebung der Vernunft teilhat, auch wenn ihm die deutliche Einsicht in die Zweck-Mittel-Verknüpfung der Welt und die Konsequenzen seiner Handlung verwehrt ist und der Inhalt, mit dem man dieses Pflichtgebot füllt, sich im Laufe der Jahrhunderte und mit dem Wandel der gültigen Rechtsvorstellungen durchaus gewandelt haben mag. Die unbedingte oder apodiktische Begründung des Moralgesetzes im gemeinen Pflichtbegriff und dessen Formalisierung birgt nun insofern tiefe philosophische Möglichkeiten, als dass sie den Entwurf einer idealen rechtlich-moralischen Welt des Sollens erlaubt. In diesem Sinne muss Kants berühmte Passage zum Reich der Zwecke als Fiktion einer »systematischen Verbindung vernünftiger Wesen« in der Grundlegung gelesen werden. Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muss, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurteilen, führt auf einen sehr fruchtbaren Begriff, nämlich eines Reiches der Zwecke. Ich verstehe aber unter einem Reich die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persön62

Ebd., S. 428. Ebd., S. 421. 64 Ebd., S. 400. 63



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

lichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jeder sich selbst denken mag, gesucht werden können welches nach obigen Prinzipien möglich ist).65

Dieses höhere moralische Reich der Zwecke weckt Reminiszenzen an den im letzten Kapitel dargestellten antiken stoischen Weltstaat. Zutritt zu diesem Reich, ein Bürgerstatus oder eine Aufenthaltsgenehmigung, wird jenen Wesen gewährt, die der die Menschheit vereinigenden Vernunft teilhaftig sind und dies in ihrem Betragen und einer gegenseitigen Achtung unter Beweis stellen. Innerhalb dieses republikanischen Gesetzeswesens besitzen diese Vernunftwesen einen doppelten Status. Sie sind sowohl Untertanen als auch Gesetzgeber und Regenten, und insofern Untertanen und dem Gesetz unterworfen, als dass sie selbst Gesetzgeber sind. D. h., sie unterwerfen sich gerade nicht dem Machtspruch eines Regenten und Monarchen, sondern einem Gesetz, das sich durch seine Allgemeingültigkeit und Reziprozität auszeichnet. Diese Reziprozität wiederum gewährleistet auch schon die Anerkennung der Vernunftwesen als Selbstzwecke.66 Kant nimmt diese Idee des Selbstzwecks in der sogenannten Menschheitsformel auf: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel gebrauchtet«. Aus ihr folgt die praktische Geltung der weiteren Formeln.67 Selbstgesetzgebung und Selbstbestimmung sind es, die »den Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« enthalten.68 Dadurch erlangt der Mensch wiederum Einsicht in seinen Status als moralisches Vernunftwesen, als gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke und als Zweck an sich.

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Grundlegung, AA Bd. IV, S. 433. Vgl. Francis Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung ; Andrew Reath, »Legislating for a realm of ends«, in: Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls, hg. v. Andrew Reath, Barbara Herman, Christine M. Korsgaard u. John Rawls, Cambridge University Press, 1997, S. 214–239. 67 In einem analogen Sinne argumentiert Hills, Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory, Ithaca and London, Cornell University Press, 1992, S. 62: »It should be evident that the kingdom of ends principle combines the main ideas of the other formulations of the Categorical Imperative. It asks us to consider what we can (rationally) will as universal law and act accordingly. It incorporates the injunction to regard humanity as an end in itself into the conditions for moral legislation ; and the idea of autonomy is included in the same way.« Es soll hier reichen, diesen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs zu skizzieren, ohne auf die umfassende Literatur, ihre Auslegung und Verhältnis betreffend, einzugehen. 68 Ebd., S. 436. 66

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Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden ; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis ; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zweck­ losen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis ; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.69

Diese Fiktion besitzt nun eine zentrale systematische und architektonische Bedeutung, insofern sie einen neuen Weltendualismus begründet. Es wird möglich, eine formale Welt des Sollens einer materiellen Welt des Seins gegenüberzustellen. Die Welt des Sollens ist der Wohnsitz und Staat des Menschen als vernünftiges und moralisches Wesen und als Gesetzgeber in dieser Ordnung und in diesem Staate betrachtet. Sie ist insofern eine noumenale Welt, ein mundus intelligibilis, als dass sie eine Einsicht in die Form und zugleich eine Aussicht auf jene moralische Gesetzes- und Zweckordnung und Bestimmung der vernünftigen Menschheit eröffnet, die mit dem Pflichtbegriff und Besinnung auf die Gemeinschaft und das Gesetz durch eine neue Form von Einkehr in die eigene Innerlichkeit, das Gewissen, unmittelbar gegeben ist. Die phänomenale Ordnung hingegen ist der Wohnsitz und die Welt des Menschen als ein nur tierisches, ungeselliges und mechanisches Wesen betrachtet, das überhaupt keiner Zwecke einsichtig ist und das alleine den Naturgesetzen folgt. Sie ist Kant zufolge der Gegenstand des Blicks nach Außen, auf die Natur, und das eigene Selbst als Natur.

69 Grundlegung, AA Bd. IV, S. 435. Ähnlich in der Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 434: »Allein der Mensch als Person betrachtet, d. h. als Subjekt einer moralisch praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben, denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderen ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für sich abnötigt, sich mit anderem dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.«



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Diese innovative Opposition von Innen und Außen, die das alte Seele-LeibSchema ablöst, beruht noch auf dem oben dargestellten kosmopolitischen Problemzusammenhang. Dieser betrifft in seiner wolffianischen Formulierung die Vereinbarung von Mechanik und Teleologie der Natur und die Möglichkeit einer Zweckordnung und eines Weltstaats auf höherer, gesetzlicher Ebene. Auf dieser Ebene und über die Opposition mechanischer und teleologischer Gesetzlichkeiten hatte Kant seine Antinomien konstruiert. Diese betreffen auch zwei Formen von Kausalität und Bestimmungsgrund des Willens. Einmal handelt der Mensch/die Menschheit aus Pflicht oder Achtung für das Gesetz, einmal aufgrund eines mechanischen Naturantriebs. Diese neuen Voraussetzungen ermöglichen nun die Übertragung des teleologischen Zweckschemas von der individuellen auf die kollektive Ebene: »Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.«70 Angesichts der antagonistischen, geselligen und ungeselligen Natur des Menschen, der immer auch ein von selbstsüchtigen Motiven getriebenes Tier bleibt, »das einen Herren und ein höheres Gesetz nöthig hat«, entspricht dieses Ziel zugleich einem schweren und sogar dem schwersten und dem letzten Problem, das die Natur dem Menschen zu lösen aufgegeben hat.71 Diese systematischen Perspektiven führen nun unabwendbar zum Bruch mit Ciceros individueller Tugendethik – und mit seinem Eudämonismus.

Kants Bruch mit Ciceros Tugendethik und Eudämonismus

Cicero hatte, wie oben erwähnt, dem Menschen eine doppelte Würde oder Staatsbürgerschaft und Rolle (persona), als Staatsbürger und Weltbürger in der Welt als Staat aller Vernunftwesen, zugewiesen. Die allen gemeinsame an einem bestimmten Charakter des Menschen ablesbare Menschenwürde eröffnete für Cicero eine moralische Perspektive auf die eigene individuelle Tugend und auf letzte Zwecke. Dieses Thema wird in Ciceros Traktat De finibus bonorum et malorum. [Über das höchste Gut und das größte Übel] ausführlich erörtert. Dessen Bürgerwürde als Individuum, das im Staat verschiedene Pflichten und Ämter innehat, steht im Mittelpunkt eines zweiten Traktats De officiis [Von den Pflichten]. Ciceros Anweisung zufolge sind seine beiden Werke 70

Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA Bd. VIII, S. 18. Vgl. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, VI und VII, AA Bd. VIII, S. 23 ff. 71

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parallel zu lesen, weil »die Untersuchung über das pflichtgemäße Handeln aufs Ganze gesehen […] eine zweiseitige« sei ; die eine Seite ist die, welche sich auf das höchste Gut bezieht, die andere die, welche auf den Vorschriften beruht, nach denen in jeder Hinsicht das tägliche Leben gestaltet werden kann.«72 Die in De finibus erörtere Frage nach dem höchsten Gut (Lust oder Tugend) bietet damit den theoretischen Hintergrund und einen höheren Bezugspunkt (vivendi rationem) für die Fragen nach der Pflicht (officium), der Lebensführung und der Ausrichtung aller Pflichten. Kant nimmt diese Zweiteilung auf und kehrt sie doch um. Er beginnt seinerseits in der Grundlegung mit der Erörterung des Pflichtbegriffs und ordnet die Frage nach dem höchsten Gut, die er in der Kritik der praktischen Vernunft behandelt, diesem nach. In dieser systematischen Neuanordnung zeigt sich seine radikale Abkehr von der alten Tugendethik. Kant beanstandet erstens die Fundierung von Recht und Ethik in einer »vormundschaftlichen Natur«,73 die den Menschen mit fixen Vermögen oder einem »eingepflanzten Sinn« ausstatte. Man darf die Moralität nicht in einer »besonderen Natur« noch einer »besonderen Richtung«, noch auch in »gewissen Gefühlen«74 begründen, wenn man daraus ein notwendig verbindliches Sittengesetz ableiten will. Eine solche Ethik zeuge von »Anmaßung« und »moralische[r] Schwärmerei.« Diese besteht darin, sich »mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht« und über jene »Grenzen, die die praktische Vernunft der Menschheit setzt«, hinwegzusetzen.75 Außerdem aber kann Moralphilosophie nicht in einer auf ein höchstes Gut ausgerichteten Tugendethik bestehen. Von Kants Standpunkt aus gesehen begeht Cicero einen philosophischen Fehler und Zirkelschluss, insofern er fälschlich die Tugend mit dem höchsten Gut gleichsetzt.76 Er gehört somit ganz offensichtlich zu jenen Alten, die ihre »moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes« setzen, das sie »nachher zum Bestimmungsgrund des Willens im moralischen Gesetze zu machen« gedächten. Kant lehnt offenbar diese Logik ab, die in seinen Augen nicht nur die Moral der Älteren, sondern auch noch die der Neueren (einschließlich Wolffs) kennzeichnet. Jedes moralische Gesetz, welches gebietet, das höchste Gut zu befördern, ist »phantastisch und auf leere, eingebildete Zwecke gesetzt, mithin 72

Cicero, De officiis, I, 3. Grundlegung, AA Bd. IV, S. 425. 74 Ebd. 75 Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 82. 76 Ebd., AA Bd. V, S. 64. 73



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

falsch.«77 Stattdessen ist es notwendig, zwischen Glückseligkeit und Tugend zu unterscheiden und das höchste Gut als »Glückswürdigkeit« zu bestimmen. Diese Bestimmung ergibt sich aus der alleinigen Ausrichtung der Moral auf ein hier vom Naturgesetz unterschiedenes Sittengesetz. Der Mensch kann nach Tugend als dem höchsten Gut streben, die zugleich einer Würdigkeit oder einem Titel entspricht, glücklich zu sein. Trotzdem aber fällt Tugend nicht mit Glückseligkeit und einer Stimmung und Einsicht des Menschen in seine harmonische Stellung in diesem Ganzen (consensus) zusammen, wie von Cicero in den Eingangsparagrafen von De officiis und De finibus behauptet wurde. Tugend ist keine undeutliche oder diffuse Einsicht in oder Empfindung von einem harmonischen Ganzen, sondern sie ist nur das Bewusstsein der eigenen Pflicht und des moralischen Gesetzes und Ausrichtung der eigenen Zwecke auf die höheren kollektiven Zwecke der vernünftigen Menschheit im Weltstaat. Diese These ist keine »Widerlegung« der antiken Anthropologie und Tugendethik, sondern eine Konsequenz, die Kant malgré lui und eher widerstrebend zieht. Sie ergibt sich aber als direkte Konsequenz aus Kants systematischen Grundsatzentscheidungen und dem neuen Fokus auf den Weltstaat, aus dem neue Perspektiven fließen. Der Weltstaat stellt das eigentliche Maß dar, von dem aus die Zwecke und die Bestimmung des Menschen gedacht werden, weshalb das teleologische Schema von der individuellen auf die kollektive Ebene des Menschengeschlechts übertragen werden muss. Nicht das Individuum, nur das Menschengeschlecht erreicht seine Bestimmung und entwickelt alle Anlagen und Zwecke.

Kants Demontage des Würdebegriffs

Ganz zweifellos unterzieht Kant mit dieser Neubestimmung von Würde als Ehrsamkeit im Weltstaat den alten Begriff einer tiefen Revision. Im Zuge dieser Revision wird die Bürgerwürde zu einer Vernunftwürde oder »Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns«.78 Der Begriff enthält zwar einen Bezug auf die (vernünftige) Menschheit. Er setzt voraus, dass der Mensch sich auf seine Pflichten und Würde im Weltstaat und auf bestimmte kollektive höchste Zwecke, nämlich die Bestimmung des Menschengeschlechts, hin entwerfen kann. Der Mensch muss Kant zufolge »der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig sein.«79 An einer Stelle der Metaphysik der Sitten heißt es sogar: 77

Ebd., AA Bd. V, S. 114. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 397. 79 Ebd., AA Bd. VI, S. 387. 78

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Die Menschheit selbst ist eine Würde ; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit, dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können), mithin über alle Sachen überhebt.80

Mit der Verlagerung der teleologischen Perspektive auf die Menschheit geht aber die Perspektive auf die individuelle Person verloren bzw. wird diese Person nicht holistisch als ein menschliches Individuum, sondern nur noch als ein Rechtssubjekt bestimmt, ohne den Anspruch auf jene harmonische Einheit und intrinsische Verbindung zwischen moralischer dignitas und äußerlich sichtbarem Ansehen, Schicklichkeit, decorum oder decus aufrechtzuerhalten, die noch Ciceros Personenbegriff kennzeichneten. Statt eine Einheit von innerer Haltung und äußerem Ausdruck und Ansehen anzunehmen, hebt Kant seinerseits den Kontrast zwischen den »herrlichen Kleidern« und der dem Menschen eigenen »Würde, die ihn vor allen Geschöpfen« adelt,81 hervor. In diesem Sinne stellt Kant (mit Fontenelle) den vornehmen dem rechtschaffenen Menschen und niedrigem Bürger gegenüber. In diesem Zusammenhang zitiert er direkt Fontenelles Ausspruch: »vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht.« Kant stimmt Fontenelles Beobachtung zu und fügt ihr hinzu, dass sich sein Geist hingegen »vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann« von größerer Tugend und Rechtschaffenheit sehr wohl bücke, »ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen«. Denn Achtung sei »ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können«.82 Aber »alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur 80

Ebd., Bd. VI, S. 462. »Diese [Pflichten gegen sich selbst] bestehen nicht darin, da man sich eine herrliche Kleidung anschaffe, prächtige Mahlzeiten halte usw., obgleich Alles reinlich sein muß ; nicht darin, daß man seine Begierden und Neigungen zu befriedigen suche, denn man muß im Gegentheile sehr mäßig und enthaltsam sein ; sondern, daß der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, und seine Pflicht ist es, diese Würde der Menschheit in seiner eignen Person nicht zu verleugnen.« Pädagogik, AA Bd. IX, S. 488. 82 Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 77. Eine analoge, auf die Tugend des Sokrates bezogene Beobachtung findet sich in der Moralphilosophie Collins: »Socrates war in einem elenden Zustande, der gar keinen Werth hatte, seine Person aber war in diesem Zustande von dem größten Werth. Wenn auch alle Annehmlichkeiten des Lebens aufgeopfert werden, so ersetzt die Erhaltung der Würde der Menschheit den Verlust aller dieser Annehmlichkeiten, und erhält den Beyfall, wenn alles verloren gehet, so hat man doch einen innern Werth.« Moralphilosophie Collins, AA Bd. XXVII.1, S. 344. Über Würde und Selbstachtung allgemein vgl. auch ebd., S. 344–347. 81



Die Menschheit selbst ist eine Würde !

Achtung fürs Gesetz«83. Dieses ist »heilig« und »majestätisch«84, besitzt Glanz, Ordnung, Schönheit.85 In der Tat muss man sich Kant zufolge von der falschen Annahme verabschieden, dass man ursprünglich bestimmten Personen Ehre und Anerkennung entgegenbringe. Natürlich stehen wir immer Personen gegenüber und können nichts als eine personale Würde und dignitas denken: daher auch der Wert moralischer Beispiele.86 Eigentlich sind es aber nicht Mensch oder Menschheit als Natur, sondern Mensch oder Menschheit als moralische Bürger, Gesetzesträger und Gesetzgeber bzw. das Gesetz selbst, das Achtung erheischt. Weil Würde nicht mehr mit personaler Ehre gleichzusetzen ist, verlieren die gesellschaftlichen Tugenden des Menschen wie Witz, lebhafte Einbildungskraft und Launen an Relevanz oder erhalten einen bloßen »Affektionspreis.«87 Mit dieser Entpersonalisierung aber vollzieht Kant eine Demontage des alten Begriffs. Er spricht zwar von der »Würde der Menschheit« oder der »Menschheit in meiner Person«, seltener aber von »Menschenwürde«. Diese Demontage wirft tiefe Fragen auf. Es in der Tat auffällig, wie intensiv die Auseinandersetzung ist und wie radikal Kants Opposition zu Cicero. Man könnte nun argumentieren, dass diese Demontage über die systematischen Erwägungen hinaus auch Kants eigenen anthropologischen (politischen und religiösen, christlich-pietistischen) Überzeugungen entspreche, dass Kant daran gelegen ist, den Konflikt zwischen Ehr- und Selbstliebe stärker herauszustellen, der von Cicero zwar mitgedacht, aber wenig entwickelt wird. Ehrliebe kann nicht der Affirmation des eigenen Status dienen. Denn in Hinsicht auf die höheren kollektiven Zwecke muss sie notwendig der eigenen Selbstliebe zuwiderlaufen88 und allen Eigendünkel oder das unbegründete und anmaßende Bestreben, die eigenen egoistischen Ansprüche als die »ers83

Grundlegung, AA Bd. IV, S. 405. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 87. 85 Zur Luminosität des Moralgesetzes vgl. auch Cohn, L’artiste, le vrai et le juste. Sur l’esthétique des Lumières, Paris, Editions Rue d’Ulm, 2014, chapitre 1, »Un oubli de Kant«, S. 39. 86 Vgl. zu diesem Punkt auch die Religionsschrift, Pädagogik und Kritik der Urteilskraft. Vgl. auch Robert Louden, »Making the law visible: the role of examples in Kant’s Groundwork of Morals«, in: Jens Timmermann, Kant’s Groundwork to the Metaphysics of Morals: a critical Guide, Cambridge, Cambridge University Press, 2009. 87 Anthropologie, AA Bd. 7, S. 292. In der Anthropologie setzt Kant hinzu: »Affektionspreis: man kann sich mit ihm gut unterhalten, er ist ein angenehmer Gesellschafter.« In einer Notiz aus dem Handschriftlichen Nachlaß Anthropologie stellt Kant eine Verbindung zwischen Marktpreis und Kultivierung, dem Affektionspreis und der Zivilisierung und Charakter, Denkungsart und innerem Wert und Moralisierung her. Vgl. Entwurf zu dem Colleg über Anthropologie aus den 80 Jahren, AA Bd. XV, S. 865. 88 Ebd., S. 401. 84

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ten und ursprünglichen« geltend zu machen, »gleich als ob es mein ganzes Selbst ausmache«89, niederschlagen. Aber man könnte argumentieren, dass Cicero die notwendige Vereinbarung von Selbst- und Ehrliebe wohl auch gedacht hat, so dass Kants Argument diese alte Auffassung nicht widerlegt – und dass auch für Kant trotz aller systematischen Innovationen immer noch die Einheit der Person auf dem Spiel stehen muss.

Schluss

Hinter den augenscheinlichen gesellschaftstheoretischen Differenzen zwischen Kant und Cicero verbergen sich tiefe Affinitäten. Kants Würdebegriff zeugt von seiner tiefen Prägung durch Cicero, insofern er eine Ehrbarkeit und Bürgerwürde bezeichnet – auf sich selbst und andere in einem Gesetzwesen, in einer res publica und in einem öffentlichen Raum befindliche Menschen und Vernunftwesen bezogen. Aber weil die eigenen Zwecke auf den höheren Weltstaat und ein höheres moralisches Gesetz hin gedacht werden müssen, muss es in Kants Augen zuerst darum gehen, sich auf die eigene Pflicht in diesem Weltstaat zu besinnen, dessen Entwicklung sich im Ausgang von dieser Welt in eine unendlich weite Zukunft fortsetzt. Dies verlangt offenbar nach einer gewissen denkerischen Entfernung und Abstraktion von der irdischen Sinnenwelt. Innerhalb einer neuen naturphilosophischen und ethischen Fiktion eines Reiches der Zwecke ergibt sich Tugend aus der Befolgung einer Pflicht, derer wir uns schon in Abwendung von der Sinnenwelt als Menschen und als Bürger eines Staates und Vernunft­ staates bewusst sind. Mit dieser systematischen Korrektur Ciceros verbunden ist die Verabschiedung von Ciceros Tugendethik und Trennung zweier Welten und die Begründung der Würde als ein neues systematisches Prinzip des Natur- oder Vernunftrechts. Zugleich aber muss der äußerlichen Ehre weiterhin eine innere Würde und Selbstschätzung entsprechen.

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Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V, S. 74.

Kapitel 10 Kants Kasuistik der Menschenwürde Kant Verständnis von Menschenwürde ist sicherlich nicht unanfechtbar. So kann man Kant vorwerfen, er bleibe zu stark den historischen Selbstverständlichkeiten seiner Zeit verhaftet. Er denke gar nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern nur die der männlichen Bürger. Diese bilden alleine den öffentlichen Raum. Frauen gehören wie Kinder zum »Gesinde« und werden nur über die Ehe, der Kant höchst bizarre Erklärungen widmet, zum Bürger. Kants frühe Bemerkungen über die Menschenrassen sind, allen Revisionen in den späteren Schriften zum Trotz, menschenverachtend. Auch vernachlässigt Kant das Recht auf Widerstand und zivilen Ungehorsam. Kant kehrt außerdem die sozialen Rechte, einer zweiten, auf die Freiheitsrechte folgenden Generation der Menschenrechte entsprechend, völlig unter den Tisch. »Werdet nicht zu Bettlern !« ist eine unzureichende Antwort auf die soziale Frage, die sich auch schon im 18. Jahrhundert stellt, die von anderen Philosophen schon schärfer gefasst wird und die Kant umgehen zu wollen scheint. Hier begeht er einen fatalen Fehler. Die gleiche Beobachtung gilt für jene kollektiven Menschenrechte, die man der dritten Generation zuordnet: Sie fehlen ganz und gar.1 Diese Umstände haben manche Leser in den letzten Jahren dazu verleitet, Kants Bedeutung für die Genese des modernen Konzepts im Namen der »Kontingenz« dieser alten Würde und bestimmten Abweichungen völlig in Frage zu stellen. Diese drücken ihre »nagenden Zweifel«2 an Kants Relevanz für unsere Menschenrechte aus und kehren hervor, dass Kants moralische Intuitionen in der moralischen Beurteilung von Selbsttötung, in der Sexualmoral und in Fragen des Strafrechts und der Todesstrafe, der Rassen, der Frauenrechte und vielleicht auch der Tierwürde stark von den unsrigen abweichen. Diese Anfechtungen nun scheinen insofern disproportioniert, als dass sie die eigentliche Absicht von Kants Philosophie aus den Augen verlieren. Diese Absicht Kants, die im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels stehen soll, ist eine bescheidenere und eine andere, als was ihm seine Kritiker unterstellen. 1 Vgl.

Christoph Horn, Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Berlin, Suhrkamp, 2014, insbesondere Kapitel 2, Menschenrechte und ihre Grundlagen, S. 67–111 ; vgl. auch Kato/Schönrich, Kant’s Concept of Dignity, Einleitung. 2 Vgl. den neuen Band Kant’s Concept of Dignity, hg. von Yasushi Kato, Gerhard Schönrich, Walter de Gruyter, 2020, insbesondere die Einleitung, Kato und Schönrich.



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Sie geht nicht so weit, über ein apriorisches Würdeprinzip oder ein formales Sittengesetz schon einen Katalog fertiger Menschenrechte etablieren zu wollen. In seiner Behandlung der moralischen und rechtlichen Fragen und Formulierung von Vorschriften erhebt Kant auf keinerlei Vollständigkeit, ja auf keine unumstößliche Wahrheit Anspruch.3 Hier hält er sich selbst nicht für unfehlbar, sondern spricht als ein Mensch zu anderen Menschen. Er weiß, dass bestimmte Überzeugungen und historische Selbstverständlichkeiten, die er mit seinen Zeitgenossen teilt, der Zeit nicht standhalten mögen, sich als akzidentell und klärungsbedürftig herausstellen mögen, ganz wie die von ihm selbst diskutierten Vorschriften Ulpians und der römischen Rechtsgelehrten einer Klärung und Verdeutlichung bedurften.4 In dem Maße, wie die Geschichte fortschreitet, sich neue Probleme und Rechtsfälle stellen und sich rechtliche Institutionen entwickeln, kann diese Systematik außerdem durch neue rechtliche Fälle herausgefordert, ergänzt und bereichert werden.5 Damit ist seine Absicht eigentlich eine dreifache. Sie ist sowohl systematisch als auch heuristisch und populär (oder paränetisch).6 Kant geht es zunächst darum, den Begriff der Pflicht oder Würde methodisch, systematisch und mathematisch zu bestimmen. Diesem Ziel dienen praktische Philosophie und Metaphysik. Sie erlauben es, die eigenen Maximen auf ein formales Gesetz, Axiom und Prinzip in der reinen praktischen Vernunft zurückzuführen und auf ihre Widerspruchsfreiheit und mögliche Allgemeinheit hin zu überprüfen. Aber die so etablierten apriorischen Prinzipien stellen zugleich lediglich Anfangsgründe zu einem System (oder einer Topik) der Rechtsbegriffe bereit, der diesen Begriffen in ihrer Entwicklung und Möglichkeit den gebührenden Platz einräumt. Dieses System bleibt, wie das System Ciceros und Wolffs, von einer konstitutiven Offenheit gekennzeichnet. Über die systembegründende Funktion hinaus gehört der Würde- und Pflichtbegriff 3 Zum provisorischen Charakter seines Rechts vgl. auch Elisabeth Ellis, Kant’s Politics. Provisional Theory for an Uncertain World, New Haven/ London, Yale University Press, 2005, S. 12 f.: »Though Kant explicitly places some of his political work in the long tradition of imagining and justifying perfect political systems, the more interesting and original aspects of his writing deal not with the ideal state per se but with the transition from the current, imperfect ›provisional‹ state toward political perfection.« 4 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 236. 5 Byrd und Hruschka heben zu Recht die geometrische Methode Kants sowie das von Euklid übernommene Vokabular (Axiom, Postulat) hervor, gehen aber nicht weiter auf die Besonderheiten dieser Methode und ihren heuristischen Wert ein. Vgl. Doctrine of Rights, S. 9–13. 6 In der Tat setzt Kant in seinen praktischen Schriften die griechische und römische Tradition der Paränese (von altgriechisch παραίνεσις paraínesis »Rat, Ermahnung«) fort, wie sie insbesondere von Seneca und Cicero begründet wurde. Vgl. auch insbesondere Seneca, Epistula morales ad Lucilium, Briefe 94 und 95.



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(wie bei Wolff auch) wohl zu jenen heuristischen Begriffen und Prinzipien, die auch der Aufdeckung neuer und unbekannter moralischer Wahrheiten dienen können.7 Obschon in der allgemeinen Vernunft begründet, kann man sich vorstellen, dass das menschliche Rechtsempfinden am Anfang noch verworren war. Die Urteilskraft muss sich durch Diskussionen und durch die Praxis der Rechtsprechung erst ausbilden, um auf eine negative Widerspruchsfreiheit oder einen allgemeinen Konsens zwischen den Menschen und den Völkern zulaufen zu können. Zumindest deuten auf eine solche heuristische oder, in den Begrifflichkeiten der gegenwärtigen Debatte, »konstruktivistische«8 Funktion die angehängten Passagen in der Metaphysik der Sitten über »Kasuistischen Fragen«. Diese dienen nicht nur der Revision veralteter rechtlicher Bestimmungen ; sie erlauben es auch, neue Themen und Praktiken auf ihre Rechtlichkeit hin zu befragen. So nimmt Kant hier auf eine aktuelle und öffentliche9 gesundheitspolitische Debatte des 18. Jahrhunderts Bezug. Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben ins ungewisse: ob er es zwar tut ; um sein Leben zu erhalten, und ist so fern in einem weit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, statt dessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, selbst zuzieht. Ist also die Pockeninokulation erlaubt ?10

Dieser Paragraf schließt mit einer offenen Frage. Er kann als eine echte Einladung an den Leser gelesen werden, sich selbst an einem kollektiven und philosophischen Gespräch zu beteiligen. Drittens verfolgt Kant mit seinen Gedanken über das Recht in der Metaphysik der Sitten auch eine populäre Absicht. Ganz wie den decreta in der römischen Philosophie Senecas praktische praecepta entsprachen, sind diese allgemeinen und systematischen Prinzipien auch bei Kant existent, um besondere Fälle und Kontexte betreffende populäre Vorschriften zu ergänzen, ja zwischen den systematischen und populären/rhetorischen Dimensionen von Kants Philosophie besteht insofern eine intrinsische Verbindung, als dass im Grunde die populäre Dimension (als ratio cognoscendi) die systematische zu begründen und zu bedingen scheint. Denn jede systematische Philosophie 7 Wolff und Baumgarten stellen explizit die heuristische Funktion der rechtlichen Prinzipien heraus. Bei Kant bleibt diese impliziter. 8 Vgl. zu Kants praktischem Konstruktivismus, insbesondere die Arbeiten von Rawls, O’Neill, Korsgaard. 9 In ihrem Buch Kant’s Politics hebt Ellis allgemeiner Kants aktive Teilnahme an den Debatten seiner Zeit hervor, vgl. Kapitel 1, S. 11–40. 10 AA Bd. VI, S. 424.

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muss auf einer gewissen Ebene allgemeinverständlich und populär bleiben oder zumindest von der technischen Sprache auf diese Ebene zurückkommen können. Im Namen eines wahren moralischen Universalismus muss sie, ganz wie es auch die älteren und neueren Popularphilosophen (einschließlich Fichte) fordern, den Leser ansprechen oder »begeistern« können. Kants Absicht besteht daher in der Metaphysik der Sitten offenbar darin, seinem Leser, jedem Leser, einen bestimmten Begriff von Ehrsamkeit, Würde, Anstand nahezubringen. Sein Thema ist, ganz wie bei Cicero: Was schickt sich ? Was ist ehrbar oder anständig ? Was tut man ? Und zuallererst: Was tut man nicht ? Was bedeutet eine solche Selbstachtung und Würde im Reich der Zwecke konkret, negativ wie positiv ? Denn wenn auch der gemeine Begriff der Pflicht und des guten Willens schon »dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt« und jedem Menschen beigelegt werden muss, so ist dennoch eine Reflexion auf diesen Begriff, ein Rückgang auf seine Quellen im eigenen Selbst erforderlich, um eine praktisch relevante Überzeugung zu bewirken und um diesem Pflichtbegriff »Eingang in das menschliche Gemüth« zu verschaffen.11 Und nur kraft einer solchen lebhaften Überzeugung kann der Würde und der Tugend jene Kraft und Seelenstärke (fortitudo, robur) zuwachsen, die ihr auch dem römischen Begriff nach zukommen muss. Letztere Fragestellung nun ist eigentlich eine im weiteren Sinne rhetorische und didaktische. Theoretisch wird diese vor allem im methodologischen Anhang der praktischen Schriften, in der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten, abgehandelt. Die Metaphysik der Sitten bietet die ausführlichste Fassung. Hier präsentiert Kant ein (dem religiösen Katechismus vorzuordnendes) »Bruchstück eines moralischen Katechism«, in dem »der Lehrer L der Vernunft seines Schülers S dasjenige ab(frägt), was er ihn fragen will. Wenn dieser etwa nicht die Frage zu beantworten wüßte = O, so legt er sie ihm leitend in den Mund.«12 Es handelt es sich  – ähnlich wie in Ciceros De-officiis-Traktat, in dem Cicero die Frage nach der Würde dazu benutzt, um seinen Sohn und Schüler Markus in die Philosophie einzuweihen – um ein gemeinsames philosophisches Suchen und Fragen. Bei Cicero kreist dieses Fragen um das Ehrenhafte (honestum) als das Problem der Philosophie, das unter allen drängenden Problemen die »weiteste Geltung« beansprucht, weil die eigene Pflicht alle Bereiche des Lebens gleichermaßen betrifft.13 Dieses Fragen nach der Form (formam) und nach dem Antlitz (tanquam faciem)14 des Ehrenhaften zielt nicht 11

Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. VI, S. 151. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 480. 13 De officiis, I, 4. 14 Ebd., I, 15. 12



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so sehr auf die Bestimmung eines einzigen Begriffs (»Würde«) als auf eine Vorstellung ab, die sich im Geiste bildet und verwirklicht (ex rebus conflatur et efficitur).15 Kant bleibt dieser Methode insofern verpflichtet, als dass die systematische Begriffsbestimmung mit der Bildung einer praktisch relevanten Vorstellung einhergehen muss. Dieses gemeinsame Philosophieren ist nun kein Dialog im strengen Sinne – Kant ist nicht Sokrates. Sein moralischer Katechismus soll vielmehr eine Anleitung zum Selbstdenken und zum Selbstgespräch geben. Sie ist eine Erziehung zur Selbsterziehung. Da »der Lehrer […] allein der Fragende«16 ist, handelt es sich um ein einseitiges, »erotematisches«17 Gespräch mit einem didaktisch-fragenden Element. Aber dieses Gespräch betrifft dennoch einen gesellschaftlichen Begriff, nämlich – ähnlich wie Ciceros Ehrsamkeit (decorum) – Anstand oder Würde. Seine Absicht ist, dass sich der Schüler die Bedeutung dieses Begriffs zumindest so deutlich und lebhaft vergegenwärtigen möge, dass sich diese Einsicht in Haltung und Handlung ausdrückt, sich durch Übung des Gedächtnisses zu einem Habitus verfestigt und als Maß und Orientierung für das eigene Leben dienen könne. Zu diesem Zwecke kann diese »paränetisch gelehrte« Tugendlehre um weitere Übungen, und insbesondere einen asketischen Teil, der der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen dient, ergänzt werden. Dieses Fragen nach der Würde setzt bei gesellschaftlich und allgemein geteilten gesellschaftlichen und ethischen Begriffen an. Im Ausgang von der Annahme, dass das eigene Streben auf eine gemeinsame Glückseligkeit ziele, kreist dieses Fragen um die gerechte Verteilung einer solchen Glückseligkeit, einschließlich der eigenen. Dabei wird der Schüler angehalten, sich selbst an die Stelle eines höheren Richters zu versetzen und im Zuge des gemeinsamen Nachdenkens das eigene, von der Neigung unterschiedene Vernunftvermögen und die Quelle dieses Urteils in der praktischen Vernunft und Moralität als ein obzwar unbegreifliches, aber dennoch selbst erfahrenes Widerstandsvermögen gegen die Natur zu entdecken. Auffällig ist, dass das Verfahren offenbar ein negatives ist. Direkt einsichtig ist zunächst das Schändliche und Verächtliche, das Scham bewirkt und gesellschaftliche Ächtung, Ausstoß und Strafe verdient.18 Indirekt einsich15

Ebd., I, 14. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 479. 17 Ebd., S. 478. 18 Zu diesem negativen Verfahren vgl. auch Anthropologie, Bd. VII, S. 294: »Man tut also am besten, wenn man die Grundsätze, welche den Charakter betreffen, negativ vorträgt.« Man beachte auch, dass hier eine neue Form von moralischer Stufenordnung und Werteskala impliziert ist, die sich nicht mit der oben skizzierten platonischen Stufenord16

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tig ist das Würdige und Achtungswürdige, das an sich oder von Natur aus lobenswert ist, ohne dass für diese Handlung eine weitere Zweckbegründung erforderlich wäre. Die Schändlichkeit, nicht die Schädlichkeit des Lasters (für den Täter selbst) muß überall hervorstechend dargestellt werden. Denn wenn die Würde der Tugend in Handlungen nicht über alles erhoben wird, so verschwindet der Pflichtbegriff selbst, und zerrinnt in bloß pragmatische Vorschriften ; da dann der Adel des Menschen in seinem eigenen Bewusstsein verschwindet und er für einen Preis feil ist und zu Kauf steht, den ihm verführerische Neigungen anbieten.19

Dabei ist zu beachten, dass das Pflichtgebot nicht auf »daraus fließende Vorteile oder Nachteile, sondern ganz rein auf das sittliche Prinzip gegründet werde«20. Es gilt, den Menschen »je nach Alter […] auf eine Stelle [zu] setzen, wo er sich selbst nicht anders als mit der größten Bewunderung der ihm beiwohnenden ursprünglichen Anlagen betrachten kann und wovon der Eindruck nie erlischt«21. Eine solche Erfahrung, Bildung, Verfestigung der eigenen Würde ist nun auf konkrete Materialien, Übungen und Beispiele angewiesen. Diese Katachese muss, so Kant, im Prinzip »durch alle Artikel der Tugend und des Lasters durchgeführt werden«. Deshalb ergänzt Kant seine Theorie um eine Kasuistik, eine Fülle von Einzelfällen und den Schülern vorzulegenden »verfänglichen« Aufgaben. Die kasuistische Ausrichtung von Kants praktischer Philosophie zeigt sich schon in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft, und sie wird in der Metaphysik der Sitten weiter ausgeführt. Dieser moralische Katechismus mündet nach der summarischen Rekapitulation der eigenen Pflichten in einer abschließenden Frage, die Quelle dieser Moralität, Würde betreffend, die auf die Erfahrung der eigenen Kraft und Erhebung anhebt. Die Erkenntnis der eigenen Würde oder die eigene Selbsterkenntnis ist deshalb keine im engen Sinne philosophische, theoretische oder begriffliche. Sie enthält auch ein rhetorisches oder »pathetisches« Element und besteht

nung von Wesen deckt. Im Spätwerk, insbesondere der Religionsschrift und außerdem den Vorlesungen zur rationalen Theologie und Moralphilosophie führt Kant diese ordo entium moralium aus. Hier reiht er das Vernunftwesen Menschen in eine Ordnung zwischen Teufel, Engel und Gott. Zu diesem Thema auch neuerdings Hendrik Klinge, Die moralische Stufenleiter. Kant über Teufel, Menschen, Engel und Gott, Berlin/Boston, de Gruyter, 2018. 19 Ebd., S. 483. 20 Ebd., S. 482. 21 Ebd., S. 483.



Kants Kasuistik der Menschenwürde

letztendlich, wie bei Cicero, in einer besonderen Erfahrung und Erhebung, elater animi.22 Schauen wir uns von dieser systematisch-heuristisch-populären Perspektive aus kurz einige der in der Grundlegung und Metaphysik der Sitten aufgeworfenen Fragen und diskutierten Fälle an, die ein besonderes Licht auf die Menschenwürde, ihre Begründungsfunktion für die allgemeinen Menschenrechte und eine Anleitung zu ihrem Verständnis werfen können. Diese Kasuistik der Menschenwürde umfasst einige klassische und in der bestehenden Forschungsliteratur bereits ausführlich diskutierte Fragen zur Menschenwürde wie den Beginn menschlichen Lebens, Todesstrafe, Frauenwürde. Neben diesen klassischen Themen führt Kant auch aktuelle Fragen ein und schließlich vor allem, als das große neue Thema, das Völkerrecht und die Einrichtung eines Weltstaats über ein supranationales Staatenbündnis.

Nichtswürdigkeit

Kants Nachdenken nimmt von den Pflichten seinen Ausgang, aus denen sich Rechte ableiten: Diese argumentative Logik übernimmt er von Cicero, den er in diesem Zusammenhang in der Metaphysik der Sitten einmal direkt zitiert. Warum wird aber die Sittenlehre (Moral) gewöhnlich (namentlich vom Cicero) die Lehre von den Pflichten und nicht auch von den Rechten betitelt ? da doch die einen sich auf die andern beziehen. Der Grund ist dieser: Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.23

Das bedeutet, dass das eigene Ich nicht so sehr ein Gegenstand der Erkenntnis wie der Ehre ist. Das Ich hat eine Würde. Und diese eigene Würde ist leichter 22 Wie David Hume am Anfang seines kurzen Essays Of the Dignity or Meanness of Human Nature zu Recht anmerkt, ist Menschenwürde vor allem ein Lieblingsthema jener Philosophen und Dichter, die ein besonderes rhetorisches und deklamatorisches Talent besitzen, weshalb sie das Menschengeschlecht lieber in den Himmel loben als bejammern oder verspotten: »[…] Some exalt our species to the skies […] Others insist upon the blind side of human nature […] If an author possess the talent of rhetoric and declamation, he commonly takes part with the former: If his turn lie towards irony and ridicule, he naturally throws himself to the other extreme.« David Hume, Essays: Moral, Political and Literary, hg. v. Eugene F. Miller, Indianapolis, Liberty Fund, 1985, S. 80–86, hier S. 80 ff. 23 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 239.

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einzusehen als die Würde der anderen. Deshalb geht Kant von den Pflichten gegen das Ich, von der eigenen Erfahrung aus. Zwar verhält man sich dem eigenen Selbst insofern wie einem Fremden gegenüber, als dass man sich auch auf die eigene Aufrichtigkeit hin befragt, aber dieses Gespräch mag insofern besser gelingen, als dass man diese Aufrichtigkeit besser beurteilen kann, als wenn man es mit einem Fremden zu tun hätte.24 Das Verfahren ist dabei, wie oben schon angedeutet, ein negatives, das indirekt zu positiven Ergebnissen führt. Die Erklärung der eigenen Würde und Pflicht der Selbstachtung beginnt mit einer Analyse von »Schändlichkeit«, Nichtswürdigkeit und dessen, was es bedeutet, eine Pflicht zu verletzen. Nichtswürdigkeit besteht in einem Sich-Wegwerfen, in Pflichtvergessenheit, in der Herabwürdigung der eigenen Person als göttlichem Zwecke, in der Missachtung des eigenen Vernunftwesens und Selbstzweckcharakters und in der Reduktion des eigenen Selbst auf ein Mittel. Was das konkret bedeutet, zeigen die Beispiele.

Selbstmord, Autonomie und Heiligkeit des Lebens

Sowohl in der Grundlegung als auch in der Metaphysik der Sitten zitiert Kant bekanntlich als erstes Beispiel einer solchen Herabwürdigung und Verletzung der Pflichten dem eigenen Selbst gegenüber den Selbstmord.25 Darf ich selbst meinem Leben ein Ende setzen, wenn ich mich in einer Situation befinde, in der ich ihm keinen Wert mehr abgewinnen kann ? Die Frage betrifft nicht nur die Pflichten gegen das eigene Ich, sondern offenbar auch ein Höheres, Göttliches. Insofern entspricht Würde durchaus einem inneren transzendenten Wert oder Kern.26 Genauer gesagt: Der Gedanke, dass ich mein Leben selbst beenden könnte, festigt oder erzeugt erst die Gewissheit, dass mein Leben nicht von mir selbst abhängt, sondern ich es ganz offenbar einem höheren Wesen, einem Gott oder einer Natur, verdanke. Dieses Göttliche ist nicht ein Gegenstand der Erkenntnis, sondern der Ehrung und Achtung. Diese Erfah24 Zur Frage nach dem Status der Introspektion vgl. auch Thomas Sturm, Kant und die Wissenschaft vom Menschen, Paderborn, Mentis, 2009 und Patrick Frierson, Kant’s Empirical Psychology, Cambridge, Cambridge University Press, 2014. 25 Grundlegung AA Bd. 4, S. 421. Vgl. in der umfassenden Literatur zum Selbstmord bei Kant, z. B. Héctor Wittwer, »Über Kants Verbot der Selbsttötung«, in: Kant Studien, n° 92, Jahrgang, de Gruyter, 2001, S. 180–209. 26 Vgl. insbesondere Michael Rosen, Dignity und die Kritik dieses Gedankens bei Thomas E. Hill, Comments on Kant and Rosen (in: McCrudden, Understanding Human Dignity, S. 313–326).



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rung oder Perspektive auf die Heiligkeit des Lebens ist hier in einer christlichen Sprache formuliert, aber kann auch als ein anthropologisches Faktum betrachtet werden. Dieser höheren, göttlichen Pflicht, sein Leben zu erhalten, steht eine zweite höhere, göttliche Pflicht gegenüber, nämlich die, anständig zu sterben. So formuliert es Chrysippus in der frühen Stoa und in der späteren römischen Stoa Seneca im 70. Brief an Lucilius: Daher lebt der Weise, der Philosoph so lange, wie es die sittliche Pflicht verlangt, nicht solange er kann. […] Früher zu sterben oder später — das ist unwichtig ; wichtig ist nur, ob man anständig oder schäbig stirbt. Anständig sterben aber heißt: der Gefahr eines schlechten Lebens aus dem Wege gehen.

Damit ist eine klassische Problemsituation der medizinischen Ethik skizziert, in der zwei Würdevorstellungen, nämlich Heiligkeit des Lebens, traditionell an eine bestimmte Gottebenbildlichkeit gebunden, und Autonomie, gegeneinander ausgespielt werden. Aber im Unterschied zur alten Stoa räumt Kant aufgrund seiner besonderen Synthese stoischer und platonischer Elemente und der besonderen Akzentuierung der Erhabenheit der Natur dem ersteren Priorität ein und relativiert die Vernunft und Autonomie des Individuums. Seelenstärke (fortitudo animi) schließt zwar »Klagen und Winseln« aus.27 Aber sie nährt sich gerade aus dem Bewusstsein des Göttlichen in mir (und in der Welt). Damit ist die Option des philosophischen Selbstmords dem Menschen versagt. Die Selbsterhaltung kann nicht zu den gleichgültigen Dingen ohne intrinsischen Wert gehören. In Kants Augen hätte gerade die Seelenstärke des Stoikers »den Tod nicht zu fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch höher schätzen kann, als sein Leben […] ihm ein noch größerer Bewegungsgrund« zur Erhaltung des eigenen Lebens sein soll. Der Suizid geht gegen die Pflicht, das göttliche, vernünftige und gesetzgebende Wesen in sich  – »ein Wesen von so großer, über die stärkste Triebfeder gewalt­ habende Obermacht« – zu respektieren 28 und sich als ein der höheren gesellschaftlichen Ordnung zugehöriges vernünftiges Wesen zu betrachten. Mit der Zerstörung des eigenen phänomenalen Selbst wird zugleich das Subjekt der Sittlichkeit »zernichtet« und die »Menschheit« in seiner Person »herab27 Vgl. Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 436: »Das Klagen und Winseln, selbst das bloße Schreien bei einem körperlichen Schmerz ist eurer schon unwert, am meisten, wenn ihr euch bewusst seid, ihn selbst verschuldet zu haben. Daher die Veredlung (Abwendung der Schmach) des Todes eines Delinquenten durch die Standhaftigkeit, mit der er stirbt.« 28 Ebd., S. 422.

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gewürdigt«.29 Dieses berühmte Argument findet sich sowohl in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten als auch in der Metaphysik der Sitten und den Vorlesungen über Ethik. Es weckt Erinnerungen an Mendelssohns Behandlung des Selbstmords.30 Aus der Pflicht der Selbsterhaltung fließt wiederum indirekt ein Recht auf Leben.

Lüge und Ehrlosigkeit

Ein zweites Beispiel, das Kant in der Grundlegung und Metaphysik der Sitten anführt, ist die Lüge. Wenn »die Lüge […] Wegwerfung, und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde« und Verletzung der Würde in der eigenen Person ist, so hat diese Nichtswürdigkeit deshalb unmittelbar mit einem Mangel an Ehrliebe oder mit Ehrlosigkeit zu tun: »Ehrlosigkeit, ein Gegenstand der moralischen Verachtung zu sein, begleitet auch den Lügner wie sein Schatten«.31 Der Lügner wirft sich weg, indem er seinen Charakter und seine Persönlichkeit aufgibt. Somit beraubt er sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d. i. der inneren Freiheit. Er wird damit ein Gegenstand der inneren Verachtung. Damit hat ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen sagt, eigentlich einen noch geringeren Wert als eine Sache, weil dieser Gebrauch seiner selbst als bloßes Mittel im Widerspruch zum Zweck der Vernunft oder der Sprache selbst, die Mitteilung ist, steht. Er kann sich nicht als bloßes Mittel brauchen, »das an den inneren Zweck der Gedanken Mitteilung nicht gebunden wäre«. Über dieses Beispiel erschließen sich die Besonderheiten des eigenen Selbstverhältnisses nach Kant. Ich habe eine Würde, habe Pflichten dem eigenen Selbst gegenüber, was bedeutet: Ich stehe mir selbst wie einem Fremden gegenüber, dessen Motive mir im Prinzip undurchsichtig bleiben. Es geht nicht darum, diese vollständig zu durchdringen und sich selbst zu erkennen, sondern nur darum, sich selbst zu achten, indem man sich selbst gegenüber dieselbe Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit an den Tag legt, die man auch anderen gegenüber zeigen sollte. 29 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 423. Vgl. auch die berühmten Passagen der Grundlegung, AA Bd. IV, S. 398. 30 Wie oben ausgeführt, setzt sich Mendelssohn mit dem Thema Selbstmord intensiv an mehreren Stellen seines Werkes und erstmals in den Briefen über die Empfindungen (1755) auseinander. Im Phaedon nimmt er das Thema wieder auf und formuliert seinerseits schon ein unbedingtes, den gesellschaftlichen Pflichten entgegengesetztes Recht auf Leben. Mendelssohn, Phaedon, Jubiläumsausgabe, Bd. 3.1, S. 118. 31 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 429 f.



Kants Kasuistik der Menschenwürde

Dadurch enthüllt sich, dass die Vernunft in ihrem Kern Rede und Mitteilung ist. Mein Denken und Selbstdenken ist eigentlich ein Selbstgespräch. Der innere Gesprächspartner ist dabei eine »idealische Person«, aber zugleich kein höheres Wesen, das mehr über mich wüsste, als ich selbst über mich weiß. Sie ist eine Person wie jede andere, mit der ich einen Dialog nach den gleichen Normen der Aufrichtigkeit führe, durch den ich zugleich meinen Charakter unter Beweis stelle.32 Die Metaphysik der Sitten führt mit dem habsüchtigen Geiz und der Kriecherei zwei zusätzliche Beispiele für Nichtswürdigkeit an. Der Trias der diskutierten Laster Ehrlosigkeit (Lüge), Geiz bzw. Bettlerei und Kriecherei entsprechen zunächst ganz offensichtlich entgegengesetzte Laster und Triebe im tierischen Menschen selbst, nämlich Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht. Der habsüchtige Geiz besteht in einem Sich-Wegwerfen durch eine sklavische Unterwerfung unter Glücksgüter. Diesem Laster des Geizes steht die Tugend der »guten Wirtschaft« entgegen, die alleine die notwendige materielle Unabhängigkeit sicherstellen kann: »[S]eid nicht Schmarotzer oder Schmeichler, oder gar (was freilich nur im Grade vom Vorigen unterschieden ist) Bettler. Daher seid wirtschaftlich, damit ihr nicht bettelarm werdet«, heißt es in § 12. Das Beispiel ist deshalb interessant, weil eigentlich – streng systematischen Prinzipien zufolge – die Bettelei das passende Pendant und Laster gewesen wäre, das Kant aber nicht ausführt ; wohl weil ihm selbst schon die Schwierigkeiten dieser Doktrin vor Augen stehen, die Verantwortung für die eigene Armut und Unwürdigkeit dem Bettler selbst anzulasten.33 Daraus erweist sich wiederum die positive Bedeutung von Würde, die eine Pflicht zur größtmöglichen Autonomie oder Unabhängigkeit durch Sicherstellung der eigenen Mittel, Kraftentfaltung und Herrschaft beinhaltet. Die goldene Mitte und Tugend liegt, wie bei Cicero, in Ehrliebe (Aufrichtigkeit), Freigiebigkeit (guter Wirtschaft, liberalitas) und in einem gewissen moderaten Anspruch auf Herrschaft.

32 Vgl. auch Anthropologie AA Bd. VII, S. 295: »Mit einem Worte: Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden Anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat ; und da diesen zu haben das Minimum ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich aber auch das Maximum des inneren Werths (der Menschenwürde): so muß, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter zu haben), der gemeinsten Menschenvernunft möglich und dadurch dem größten Talent der Würde nach überlegen sein.« 33 Vgl. zu diesem Thema Georg Forster, Kapitel 11.

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Verbrechen, Mord und Bestialität

Ein weiteres Beispiel aus der Metaphysik der Sitten, das die Ausführungen der Grundlegung ergänzt, betrifft das »Verbrechen«, das sehr konkret die Bedeutung von Nichtswürdigkeit und Pflichtvergessenheit vor Augen führt. Der Verbrecher, der die moralischen Pflichten und Gesetze seines Staates verletzt hat, ist insofern »nichtswürdig« oder hat seine »Würde« eingebüßt, als dass er die eigene Pflicht »vergessen« hat, die Zwecke der Menschheit in seiner Person missachtet hat. Er hat sich damit auch der Staatsgemeinschaft unwürdig gemacht, hat sich zum Mittel der Willkür eines anderen oder zur Sache herabgewürdigt: Ohne Würde kann nun wohl kein Mensch im Staat sein, denn er hat wenigsten die des Staatsbürgers ; außer wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines andern, entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers gemacht wird.34

Diese Herabwürdigung macht aus ihm einen rechtlosen Sklaven oder »Leibeigenen« (servus in sensu strictu), eine Sache und das Eigentum eines anderen, »der daher nicht bloß sein Herr (herus), sondern sein Eigentümer (dominus) ist«, der ihn »als eine Sache veräußern und nach Belieben (nur nicht zu schandbaren Zwecken) brauchen, und über seine Kräfte, wenn gleich nicht über sein Leben und Gliedmaßen verfügen (disponiren) kann«, d. h. des ­Staates35. Aber unter allen angeführten Beispielen stellt der »nichtswürdige« Verbrecher vielleicht am direktesten die positive Bedeutung der eigenen Würde vor Augen.36 Zwar behält der Verbrecher nur insofern seine Menschenwürde 34

Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 329 f. Ebd. Über die allmählichen Transformationen des Herrschaftsbegriffs und seiner neuzeitlichen Verbindung mit einem abstrakten Staatsbegriff vgl. auch den Artikel »Herrschaft« in Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, vol. 3, 1982. 36 Zu der intrinsischen Verbindung von Ehre, Würde und Strafe vgl. auch Jacob M. Held, »Honor, dignity and the summum bonum: Kant’s retributivism in context«, in: Vera Lex: Journal of the International Natural Law Society, vol. 11, n° 1–2, Pace University, Winter 2010. Im Vergleich zu den älteren Arbeiten Scheids, Byrds und Hills schlägt Held eine umfassendere kontextuelle Analyse vor dem Hintergrund des kantianischen Naturrecht- und Ehrengedanken vor. »[…] retribution is part of a worldview that adheres to the dignity of the human being, the necessity to respect this, and the role of the state is to promote and reinforce that value […] insofar as punishment respects persons by honoring the meritorious and humiliating the wicked, and in so doing makes the world a reflection of the ideal moral order, the kingdom of ends […]«. Diese Perspektive, die nicht 35



Kants Kasuistik der Menschenwürde

oder Menschheit bei, als dass er, obschon nichtswürdig, doch noch als strafwürdig befunden werden kann. Jeder Mensch, selbst der unmenschlichste Verbrecher, muss in den Augen der anderen dem Gesetze noch unterworfen bleiben, das er selbst negiert. Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann ; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht.37

Die Strafe selbst entspricht einer »Achtung für die Menschheit, in der Person des Missethäters (d. i. für die Gattung) und zwar aus bloßen Rechtsgründen«.38 Man mag nun diese Logik, der zufolge gerade die Achtung des Menschen seine Entehrung und sogar seine Tötung erfordern kann, als paradox empfinden, zumal sie offensichtlich eine Spaltung im Menschen selbst voraussetzt, wie Kant anlässlich seiner kritischen Diskussion von Beccarias Schrift Dei delitti e delle pene von 1764 erklärt. Man müsse zwischen einer aktiven und passiven Instanz im Menschen, nämlich als Gesetzgeber und als Untertan des Gesetzes unterscheiden: »Ich, als Mitgesetzgeber, der das Strafgesetz diktiert, kann unmöglich dieselbe Person sein, die, als Untertan, nach dem Gesetz bestraft wird […] das öffentliche Gericht, nicht das Volk, ein anderer als der Verbrecher diktiert die Todesstrafe.«39 Und diese Logik einer Entehrung/Tötung aus Achtung und einer Spaltung des Menschen in zwei Instanzen erscheint umso merkwürdiger, als dass Kant alle möglichen innovativen Argumente, die man gegen die Todesstrafe anführen könnte, wie den pädagogischen Gedanken von Strafe als Besserung oder als Warnung, Abschreckung und Generalprävention40, sehr wohl anerkennt. versucht, Kants Thesen zu relativieren und zu verbessern, sondern sie in ihrem tieferen Sinne und Kontext zu lesen, entspricht auch der Perspektive dieses Kapitels. 37 Ebd., S. 464. 38 Ebd., S. 362 f. 39 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 335. 40 In den letzten Jahrzehnten haben mehrere Autoren versucht, die Besonderheiten von Kants Vergeltungsprinzip und seine Vereinbarkeit mit anderen Zwecken wie insbesondere der Abschreckung herauszustellen. Vgl. beispielsweise Don E. Scheid, »Kant’s Retributivism«, in: Ethics, Jan. 1983, vol.  93, n° 2, S. 262–282 ; B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka, »Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat«, in: Juristenzeitung 20, 62. Jahrgang, 19. Oktober 2007, S. 957–1008 ; Christoph Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde: eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus, Berlin, De Gruyter, 2007 ; Georg Mohr, »›nur weil er verbrochen hat‹  – Menschenwürde und Vergeltung in Kants Strafrechtsphilosophie«, in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hg. v. Heiner Klemme, Berlin, de Gruyter, 2009, S. 469–499.

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Wenn er aber diese Argumente als irrelevant ablehnt, dann deshalb, weil sie allesamt mit der Strafe einen anderen Zweck verbinden als die Gerechtigkeit, das Recht, die Rechtsprechung und den Rechtsvollzug41 selbst. Dieser Zweck muss wie allen anderen Zwecken der Verbesserung oder Abschreckung vorgezogen werden. Denn um der Verbesserung oder Abschreckung willen zu strafen, hieße, eines hypothetischen statt eines unbedingten, schon in der Notwendigkeit des Gesetzes enthaltenen Imperativs gemäß handeln. Das gilt auch dann noch, wenn die Strafe nicht der Verbesserung des Individuums, sondern dem Fortschritt der Menschheit als Kollektiv dient. Deshalb schließt Kant auch den Gedanken aus, der Verbrecher könne die Todesstrafe gegen seinen Beitrag zum Wohle der Menschheit eintauschen, indem er zum Gegenstand gefährlicher Experimente gemacht wird ; »denn die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggibt.«42 Das Prinzip der Vergeltung, das ius talionis, hingegen entspricht einem kategorischen Imperativ oder einer der Form nach a priori bestimmenden […] Idee als Prinzip des Strafrechts«. »Hat (ein Mensch) […] gemordet, so muss er sterben.« Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung kann nur hergestellt werden, als »durch den am Täter gerichtlich vollzogenen […] Tod«.43 Dies gelte selbst noch, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöse (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen). Auch in diesem Falle müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind.44 41 Der zugrundeliegende Gedanke mag auf den ersten Blick an das ältere Schema vom Abfall des Menschen von seiner Menschheit erinnern. Wie in diesem Schema beruht es auf dem Gedanken, dass der Mensch seine angeborene und gleiche Würde in gewisser Hinsicht wohl verlieren kann. Aber dieses alte Argument erhält hier eine neue Form. Ein solcher Verlust ist kein Abfall zur Tierheit oder Bestialität. Es ist auch nicht möglich, das ewige Gesetz und Recht zu tilgen oder ein göttliches Licht zu löschen. Wohl aber kann man sich vorstellen, dass die Menschheit kollektiv ihre Würde vergessen und die Menschheit ihrer ewigen Rechte berauben kann. Wenn es an der Menschheit ist, sich selbst zu ehren und das Recht im Weltstaat herzustellen und zu vollziehen, so kann sie diese Fähigkeit auch verlieren. Wo ein Glaube an und das Gefühl für die eigene Bestimmung fehlt oder in Vergessenheit geraten ist, wo das menschliche Herz böse und »verderbt« (AA Bd. VI, S. 30) ist, hat die Menschheit in gewisser Hinsicht auch die eigene Würde eingebüßt. Von diesem Standpunkt aus gesehen kann man sich vorstellen, dass die Menschheit als ganze ihrer Gerechtigkeit verlustig geht und keine Rechtsbegriffe mehr an die folgenden Generationen vermittelt. 42 Ebd., S. 332. 43 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 333. 44 Ebd.



Kants Kasuistik der Menschenwürde

Um aber den Schutz dieses Rechtes sicherzustellen, bedarf es einfach der Praxis der menschlichen Rechtsprechung nach den Prinzipien von Gleichheit und Reziprozität.45 Der Staat, das Kollektiv, muss das Gesetz und Recht dort wiederherstellen, wo das Individuum es verletzt hat. Dieses Argument scheint aber wiederum die Legitimität der Todesstrafe zu relativieren. Es erscheint zwar angesichts der Vehemenz von Kants Plädoyer unwahrscheinlich, dass Kant als historisches Individuum, dessen moralische Empfindungen und Intuitionen von dem Kontext seiner Zeit geprägt wurden, jemals von seinen Überzeugungen abgerückt wäre. Für ihn ist und bleibt die Strafe ein »kategorischer Imperativ«. Dennoch erkennt Kant auch schon die intrinsische Schwierigkeit an, in Anwendung des Talionsprinzips Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Und deshalb legt er selbst schon eine gewisse Ratlosigkeit bei »Verbrechen an der Menschheit« an den Tag, wie der »Notzüchtigung«46 oder Vergewaltigung, »Päderastie« (Pädophilie in der heutigen Sprache) und »Bestialität«, in denen die Brutalität den Mord übersteigt. Diese Ratlosigkeit enthüllt der Zusatz zur Erörterung der Begriffe des Staatsrechts in der Metaphysik der Sitten. Kant erwägt »Kastration« für die beiden ersten und »Ausstoßung aus der bürgerlichen Gesellschaft auf immer, weil er sich selbst der menschlichen unwürdig gemacht hat«, aber er gesteht, dass »willkürlich Strafen für sie zu verhängen, dem Begriff der Strafgerechtigkeit buchstäblich zuwider« sei und nur zu wünschen sei, dass die zu Bestrafenden Selbstjustiz verübten, um ihre Verbrechen zu sühnen. Kant sieht offenbar ganz zu Recht schon im Akt der Strafe selbst eine Ambivalenz von Ehrung und Entehrung. Das bedeutet nicht nur, dass diese für den Verbrecher entehrend ist, aber im Zeichen der Ehrung des Gesetzes steht, sondern auch, dass sie, die Strafe, für den Strafenden selbst entehrend sein kann, in welchem Falle sie auch Gesetz und Recht entehrt. Letzteres ist nun unbedingt zu vermeiden. So verurteilt Kant öffentliche Folterungen – »schimpfliche […] Strafen wie das Vierteilen, von Hunden zerreißen lassen, Nasen und Ohren abschneiden« – als »die Menschheit selbst entehrend«, da sie »nicht bloß dem Ehrliebenden« Schmerzen zufügen, sondern auch dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung zu gehören, mit der man so verfahren darf.«47 45

Vgl. aber die expliziten Erklärungen Fichtes, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Werke, I. 3, S. 1–74. 46 »Notzüchtigung« ist ein Begriff der alten Rechtssprache, der Vergewaltigung oder Missbrauch bedeutet. 47 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 463.

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Aus dem Argument, dass Recht und Strafe vom Menschen selbst vollzogen werden müssen, könnte man schließlich auch ein weiteres Argument gegen Kants Plädoyer für die Todesstrafe ableiten. Wenn alles Strafen menschlich ist, bleibt es auch unvollkommen. Fehler sind möglich. Diese Menschlichkeit und menschliche Unvollkommenheit der Strafe steht aber in Kontrast mit der Prätention und Irreversibilität der Todesstrafe. Wie dem auch sei, so scheint die Insistenz, mit der Kant die Todesstrafe verteidigt, nicht diese Strafform selbst, sondern die Notwendigkeit, dass Strafe und Recht von Menschen selbst vollzogen werden müssen, zu betreffen. Dem Menschen obliegt es, Gerechtigkeit walten zu lassen – und man kann annehmen, dass Gott diese Aufgabe an den Menschen selbst übertragen hat. Insofern dient auch das Beispiel Strafe der positiven Konkretisierung von Menschenwürde. Diese besitzt der Mensch als Vernunftwesen und Rechtssubjekt.

Fehler im Recht

Oben wurde schon erwähnt, dass Kant, der aus dem älteren Naturrecht schöpft, zugleich dessen Reform, Verbesserung und Klärung erstrebt. In seinen Augen sind weder die Gesetzgebung noch auch die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit vollkommen. Genauer gesagt bleiben beide so lange »barbarisch und unausgebildet«, wie die Triebfedern der Ehre im Volk (subjektiv) nicht mit den Maßnahmen zusammen treffen wollen, die (objektiv) ihrer Absicht gemäß sind, so dass die öffentliche, vom Staat ausgehende, Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volke eine Ungerechtigkeit wird.

Dieses Auseinanderdriften von subjektivem Ehrgefühl und objektivem staatlichen Recht kennzeichnet die Rechtslage in zwei Fällen, die Kant in größerem Detail ausführt. Es handelt sich hier zum einen um den »mütterlichen Kindesmord« und zum anderen um den veralteten Ehrenkodex des Ehren­ duells.48 In beiden Fällen verleitet das eigene Ehrgefühl bzw. der Versuch einer Wiederherstellung der eigenen Würde zur Tötung. Im ersteren Falle steht die Ehre bzw. Schande der Mutter auf dem Spiel, die sie, »wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird«, zur Tötung des Kindes treibt. Im zweiten Falle ist es die Ehre des »zum Unterbefehlshaber eingesetzte(n) Kriegsmannes, dem 48 Zum historischen Kontext dieses im 16. Jahrhundert aufkommenden Rituals und der breiteren, Philosophen wie Bacon, Montesquieu und Rousseau involvierenden Diskussion vgl. Mika LaVaque-Manty, »Dueling for Equality: Masculine Honor and the Politics of Dignity«, Political Theory 34, n° 6, 2006.



Kants Kasuistik der Menschenwürde

ein Schimpf angetan wird«. Da dieser in seinem historischen Kontext49 diese Ehre nicht auf rechtlichem Wege wieder herstellen kann, sieht er sich genötigt, sich Ehre über die Bestrafung des Beleidigers zu verschaffen, indem er »wie im Naturzustande« seinen Kriegsmut beweist. In beiden Fällen stehen mit der eigenen Standesehre (Geschlechtsehre und Kriegsehre) auch das kollektive Rechtsgefühl und die Menschenwürde auf dem Spiel. Die Tragik dieser Situationen, die die Strafgerechtigkeit »ins Gedränge« bringt und ihr nur die Wahl zwischen allzu großer Grausamkeit (Todesstrafe ohne Mord) oder Nachsichtigkeit (keine Todesstrafe trotz Tötung) lässt, besteht darin, dass das bestehende Recht sich als unzureichend erweist, um die erfahrene Schmach »wegzunehmen«50, ja um das erlittene Unrecht überhaupt als ein solches zu bestimmen und zu benennen. Es kann sich nicht um Mord, sondern nur um Tötung handeln: da das uneheliche Kind keinen rechtlichen Bürgerstatus genießt51 und da das Duell »öffentlich und mit beiderseitiger Einwilligung«52 statthat. Diese Gedanken Kants sind in den letzten Jahren lebhaft diskutiert worden. Man hat argumentiert, Kant bleibe einem veralteten Ehrenkodex verhaftet und verteidige eine ambivalente, da nicht dem Menschen qua Menschsein zukommende Würde.53 Aber im Lichte obiger Ausführungen können sie als der Versuch einer Korrektur eines provisorischen Rechtes gelesen werden, zu einem Begriff von Menschenwürde hinleitend, der wie der heutige jedem Menschen einen vollen Bürgerstatus zuspricht. Die hier behandelten Beispiele könnten nun sicherlich ausführlicher erläutert und um weitere Beispiele ergänzt werden. Sie können aber ausreichen, um Kants rhetorische, dialogische und kasuistische Methode zu präzisieren. Diese führt von dem, was Kant die »vollkommenen Pflichten« nennt, zu »unvollkommenen Pflichten« und von einer negativen Bestimmung der eigenen Achtung zu einer positiven Einsicht und Bestimmung der eigenen Zwecke.

49

Vgl. Anthropologie, AA Bd. VII, S. 259. Vgl. auch Kants unveröffentlichte Notizen zu diesen Fällen und dem »Ehrenpunkt« in Bd. 23 der Akademieausgabe ; vgl. auch Rachel Bayefsky, »Dignity, Honour and Human Rights: Kant’s Perspective«, S. 828 f. 51 Kant schreibt, ein solches Kind sei »in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so dass dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann« (Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 336.) 52 Ebd. 53 Vgl. wiederum Horn, Nichtideale Normativität. 50

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Würde und Humanität

Im Gegensatz zu den vollkommenen Pflichten, die »keine Ausnahme zum Vorteil der Neigungen verstatten«, entsprechen die unvollkommenen Pflichten einer Nötigung mit Neigung. Sie schließen außer dem Zwecke der eigenen Vervollkommnung auch fremde Zwecke, nämlich die Aussicht auf Glückseligkeit der anderen mit ein. Kant nennt sie im Unterschied zu den vollkommenen Rechtspflichten auch Tugendpflichten oder auch Pflichten der honestas. Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist ; – die letztern können aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist ; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist) ; obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subject sie sich zum Zweck macht.54

Das erste Beispiel einer unvollkommenen inneren Pflicht in der Grundlegung, das in der Metaphysik der Sitten aufgenommen wird, besteht in der Pflicht zur Entwicklung der eigenen Talente und Geschicklichkeit zu allerlei möglichen Zwecken. Dem gegenüber steht als Laster (Nichtswürdigkeit) die Faulheit, die aus dem Menschen ein der Gesellschaft unnützes Glied macht. Der Mensch ist es sich selbst als einem Naturwesen schuldig, »die Naturanlagen und Vermögen […] nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen«55 und »ein der Welt nützliches Glied zu sein«, weil dieses auch zum Wert der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht herabwürdigen soll. Da diese Pflicht nun im Grunde auch einer Naturbestimmung entspricht, die zumindest partiell eingesehen werden kann, kann sie nicht reiner Zwang sein. Sie muss aber reflektiert werden, damit Naturbestimmung zur Selbstbestimmung werden kann, weil der Mensch, »als ein Wesen, das der Zwecke, sich Gegenstände zu Zwecken zu machen fähig ist, den Gebrauch dieser Zwecke nicht bloß dem Instinkte der Natur, sondern der Freiheit, mit dem er dieses Maß bestimmt, zu verdanken haben muss«, so dass Handlungen nicht pflichtgemäß, sondern aus Pflicht geschehen. Das vierte Beispiel einer unvollkommenen äußeren Pflicht ist die Teilnahme. Sie betrifft Neigungen und, wie Wolff geschrieben hatte, »Liebes54 55

Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 239. Ebd., S. 444 f.



Kants Kasuistik der Menschenwürde

dienste« oder Pflichten gegen die Menschheit. Auch diese sind systematisch über Menschenwürde und Selbstachtung fundiert, als das, was man sich zunächst selbst schuldig ist, und in einem zweiten Schritt auch seinesgleichen. Die Logik ist die gleiche wie bei Cicero. Es besteht eine intrinsische Verbindung zwischen Würde und Humanität, insofern Humanität oder der Zusammenfall von Pflicht und Neigung, von Zwang und Freiheit, unmittelbar aus dem richtigen Verständnis der eigenen Würde folgt. Wem es gelingt, zu einer gerechten Schätzung des eigenen Wertes zu gelangen, indem er alle schwärmerische Verachtung seines Selbst sowie allen Eigendünkel überwindet, den erfüllt das Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung.56 Ein solcher Mensch erringt Einsicht in die eigene Stellung als Weltbürger und in die eigene Verpflichtung der Menschheit gegenüber, die er als seinesgleichen anerkennt. Indem er versteht, dass sein Ich eigentlich ein Wir ist, versetzt er sich in die Lage, die Bedingungen rechtlicher und allgemeiner Freiheit zu verstehen, sich selbst auch zu einem Mittel der Zwecke der anderen zu machen bzw. die Zwecke der anderen zu den seinigen zu machen57 und seine Pflichten nicht aus Zwang, sondern aus freien Stücken zu verfolgen. Er handelt nicht nur pflichtgemäß, sondern aus Pflicht, und würde nicht anders handeln, wenn der äußere Zwang nicht bestehen würde (bzw. nicht besteht, weil das Recht noch unvollkommen ist). In dieser Form von Selbstnötigung besteht die wahre Freiheit und Gesellschaftlichkeit des Menschen. Wie schon bei Cicero ist das Kriegs- und Völkerrecht58 ein Ort der Erprobung einer solchen Menschenwürde und Humanität. Auch diese Reflexion über die Pflichten den Feinden und Fremden gegenüber, die im eigenen Staat keinerlei Ämter und Würden besitzen, nimmt von den Pflichten gegen das eigene Ich seinen Ausgang: Wie weit geht mein eigenes Bewusstsein oder Gefühl dessen, was ich der Humanität, meiner eigenen Humanität schuldig bin ? Wie weit geht mein Vermögen der Selbstnötigung ? Bei Cicero besteht eine solche Humanität rudimentär. So befindet dieser schon, man müsse auch gegen den Feind, den Ausländer, gegen Sklaven und Niedriggestellte Gerechtigkeit walten lassen und es gebe »ein Maß im Rächen und Bestrafen.«59 Im Kriegsrecht sei des Weiteren die Rechtsabsprache der Gewaltanwendung vorzuziehen. Man dürfe zwar Kriege zu dem Zwecke auf 56

Ebd., S. 435 f. AA Bd. VI, S. 394: »[…] den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.« 58 Zu dieser völkerrechtlichen Thematik vgl. auch die Materialien bei Oliver Eberl und Oliver Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden / Auszüge aus der Rechtslehre: Kommentar. Berlin, Suhrkamp, 2011. 59 De officiis, I, 33 und 37–40. 57

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sich nehmen, »dass man ohne Unrecht im Frieden lebt.« Nach Erringung des Sieges aber sind diejenigen zu begnadigen, die im Kriege nicht grausam und nicht unmenschlich waren.«60 Kant präzisiert diese völkerrechtlichen Pflichten und Rechte im Ausgang von seiner Sicht auf die Vernunft als ein Vermögen des Austauschs, des Verkehrs und der Verständigung und dessen höherem oder weiterem Zweck, der in der Errichtung eines rechtlichen Weltstaates besteht. Dieser Gedanke umfasst wiederum den einer gerechten Verteilung von Dein und Mein auf einer räumlich begrenzten Erde, die ursprünglich allen gemeinsam gehört.61 In diesem Geiste formuliert er in Über den Gemeinspruch die Idee eines contractus originarius, nicht als positive Idee einer Weltrepublik, wohl aber als negatives Surrogat des Krieg abwehrenden Bundes. Diesen schränkt er auf die minimalen Bedingungen (III) der allgemeinen Hospitalität und auf ein Besuchsrecht ein, welches allen Menschen zusteht, »sich zur Gesellschaft anzubieten«.

Schluss

Dieser Lesart zufolge entspricht die Einsicht in die eigene Würde als positiver Wert und Zweck sowohl einem systematischen Begriff als auch einer erhebenden Vorstellung. Sie ist nicht über eine mathematische Formel fassbar, durch die nicht mehr als Widerspruchsfreiheit erwiesen werden kann, sondern ist an ein gemeinsames Philosophieren gebunden.

60 61

Ebd., I, 35. Physische Geographie, AA Bd. IX, S. 236.

Kapitel 11 Schillers Humanität: Anmut und Würde, Liebe und Achtung1 Kants Zeitgenossen waren sich des innovativen Charakters von Kants Menschenwürdebegriff wohl noch klarer bewusst als wir heute. Manchmal waren sie deshalb auch kritischer, unbeeindruckter, unbefangener. So Schiller, dessen Aufsatz Anmut und Würde von 1793 weiterhin um die alten Begrifflichkeiten von »Würde« (dignitas) und »Anmut« (venustas) kreist. Gerade weil er selbst noch besser die Distanz ausmisst, die Kants Menschenwürde von dem alten Begriff trennt, legt Schiller eine ganz besondere kritische Hellsicht an den Tag. Zielsicher kommt er auf die von Kant vorgenommene Zerlegung und Enthumanisierung des alten, auf der Entsprechung von Innen und Außen basierenden Begriffes zu sprechen. In seinen Augen kann Kant das von ihm verfolgte politische Programm deshalb nicht einlösen, weil er allzu rechtlich und nicht ästhetisch genug denkt. Kant stellt zwar auch schon eine Verbindung zwischen moralischer Würde, Charakter und Erhabenheit her ; aber indem er Menschenwürde auf einen Titel in einem Rechtswesen und, wie oben gezeigt, auf eine allgemeine Ehrbarkeit zu beschränken scheint, beschneidet er ihn um seine personale und eigentlich humane Dimension. Er denkt vielleicht eine Würde der vernünftigen Menschheit, nicht aber wahre Humanität und Menschenwürde. Seinen ästhetischen Ausführungen zum Trotz bleibt er, wie Schillers Lehrer Garve schon herausgestellt hatte, einem einseitigen und allzu philosophischen Verständnis von Würde verhaftet, das weder dem Alltagsgebrauch noch auch der älteren philosophischen Bedeutung entspricht.2 In Anmut und Würde übt Schiller deshalb scharfe Kritik an Kants ethischem Rigorismus und an seinem »Dualismus«, sprich: der allzu »strengen« und »grellen« Entgegensetzung von Natur- und Vernunftbestimmung: In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davor zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Weg einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen. Wie sehr sich auch der große Weltweise gegen diese Missdeutung zu verwahren suchte, die seinem heiteren und freien Geist unter allen gerade die empörendste sein muss, so hat er, so deucht 1 Dieser Artikel war ursprünglich Susanne Leuffer gewidmet. In Erinnerung an ihre Anmut, ihre Würde. 2 Vgl. Kapitel 5.



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es mir, doch selbst durch die strenge und grelle Entgegensetzung beider auf den Willen des Menschen wirkenden Prinzipien, einen starken (obgleich bei seiner Absicht wohl kaum zu vermeidenden) Anlass dazu gegeben.3

Diese Defizite Kants erfordern nun in Schillers Augen eine Reihe von Korrekturen und radikalen Umdeutungen die praktische Philosophie und Ästhetik Kants, ihre Anlage und auch insbesondere ihre Begrifflichkeiten betreffend. Nicht »Würde«, sondern »Humanität« sei das Charakteristikum, die distinktive Besonderheit des Menschen überhaupt. »Würde« hingegen bezeichne nur eine Tugend unter anderen, nur »Würdigkeit«: eine moralische Haltung eines Individuums, die in bestimmten Situationen des Lebens, nämlich im »Leiden (πάθος) […] gefordert und gezeigt«4 sei. Nur dann, wenn die Kräfte des Menschen nicht hinreichen, um den Naturgewalten zu trotzen, gelte es Würde zu zeigen. Wo kein Widerstand gegen die Naturkräfte nötig ist, sei Würde »lächerlich«, sei sie falsche, aufgesetzte »Dignität« ; dort, wo keine nötig sein sollte, sei sie hingegen »verächtlich«5 und unangemessen: Man lacht über den Komödianten (welches Standes und Würden er auch sei), der auch bei gleichgültigen Verrichtungen eine gewisse Dignität affiziert. Man verachtet die kleine Seele, die sich für die Ausübung einer gemeinen Pflicht, die oft nur Unterlassung einer Niederträchtigkeit ist, mit Würde bezahlt macht.«6

In anderen Worten: Würde allein verleiht noch keinen Titel oder gesellschaftlichen Status in einem höheren Reiche der Menschheit, weil der Zwang, der in ihm zum Ausdruck kommt, gerade nicht dem gebotenen Charakter und den gesellschaftlichen Konventionen einer solchen Gesellschaft entsprechen kann. Für Schiller jedoch muss ein »Charakter« mir und den anderen immer schon unmittelbar vor Augen liegen: Der Mensch muss sich auch von außen als Mensch zu geben wissen, um von seinem Gegenüber als Mensch wahrgenommen zu werden. Er muss in Schillers Worten »Würde« mit »Anmut«, Achtung mit Liebe, oder genauer Liebenswürdigkeit zu verbinden wissen, so dass auch in Momenten, in denen er den Naturgewalten ohnmächtig ausgeliefert ist, sein Charakter oder seine »Charakterschönheit« noch durchscheint ; er muss sich selbst treu bleiben, Form und Fassung bewahren und »würdig« oder »erhaben« erscheinen. 3 Friedrich Schiller, Ueber Anmut und Würde, in: Neue Thalia, 1793, 2. Stück, S. 115–230. Hier zitiert in: ders., Werke und Briefe in 12 Bänden. Band 8, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 330–394, hier S. 367. 4 Ebd., S. 382. 5 Ebd. 6 Ebd.



Schillers Humanität

Schiller kommt damit auf jene ästhetisch-ethische, situative und personale Dimension zurück, die sowohl in der alten Bedeutung als auch in der alltäglichen Bedeutung des Menschenwürdebegriffes enthalten ist. Hier liegt sein philosophisches Potential. Diese Kritik Schillers in Anmut und Würde gibt nun im Jahre 1794 zu einem direkten Dialog zwischen Schiller und Kant Anlass. Kant reagiert, indem er in die zweite Auflage der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1794 eine Fußnote einrückt. Aus dieser geht hervor, dass Kant dem Kommentar Schillers zwar wohlwollend, aber verständnislos gegenübersteht. Kant schreibt: Herr Prof. Schiller missbilligt in seiner mit Meisterhand verfassten Abhandlung (Thalia, 1793, 3tes Stück) über Anmut und Würde diese Vorstellungsart der Verbindlichkeit, als ob sie eine karthäuserartige Gemütsstimmung bei sich führte, allein ich kann, da wir in den wichtigsten Prinzipien einig sind, auch in dieser keine Uneinigkeit statuieren, wenn wir uns nur untereinander verständlich machen können.7

Kant lädt zur Bereinigung der Missverständnisse ein, da ja »in den wichtigsten Prinzipien« Einigkeit herrsche8 ; aber er legt zugleich nahe, dass Schiller sein eigenes philosophisches Argument missverstanden und verkannt habe. Schiller, der Kant verehrt und sich zunächst über dessen wohlwollende Reaktion freut9, scheut sich seinerseits offensichtlich vor einer direkten Auseinandersetzung. So schreibt er in einem Brief an Kant vom 13. Juni 1794: Ich kann diese Gelegenheit nicht vorbey gehen lassen, ohne Ihnen, verehrungswürdigster Mann, für die Aufmerksamkeit zu danken, deren Sie meine kleine Abhandlung gewürdigt, und für die Nachsicht, mit der Sie mich über meine Zweifel zurechtgewiesen haben. Bloß die Lebhaftigkeit meines Verlangens, die Resultate der von Ihnen gegründeten Sittenlehre einem Theile des Publikums annehmlich zu machen, der bis jetzt noch davor zu fliehen scheint, und der 7 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. Stück, Anmerkung, AA Bd. 6, S. 23 f. 8 In den Vorarbeiten zu dieser Schrift, abgedruckt in AA Bd. XXIII, S. 98–102, heißt es in einem ähnlichen Sinne: »Personen die am einigsten mit einander im Sinne seyn gerathen oft in Zwiespalt dadurch daß sie in Worten einander nicht verständlich seyn.« 9 Vgl. Schillers Brief an Körner vom 18. 5. 1794: »In der neuen Ausgabe seiner philosophischen Religionslehre hat Kant sich über meine Schrift von Anmuth und Würde herausgelaßen, und sich gegen den darinn enthaltenen Angriff verteidigt. Er spricht mit großer Achtung von meiner Schrift, und nennt sie das Werk einer Meisterhand. Ich kann Dir nicht sagen, wie es mich freut, daß diese Schrift in seine Hände fiel, und daß sie diese Wirkung auf sie machte.«

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eifrige Wunsch, einen nicht unwürdigen Theil der Menschheit mit der Strenge Ihres Systems auszusöhnen, konnte mir auf einen Augenblick das Ansehen Ihres Gegners geben, wozu ich in der That sehr wenig Geschicklichkeit und noch weniger Neigung habe. Daß Sie die Gesinnung, mit der ich schrieb, nicht mißkannten, habe ich mit unendlicher Freude aus Ihrer Anmerkung ersehen, und dieß ist hinreichend, mich über die Mißdeutung zu trösten, denen ich mich bey andern dadurch ausgesetzt habe.10

Seinem Korrespondenten Jacobi gegenüber zeigt er sich eher unentschlossen: Er wisse »noch nicht so recht, wie [er] gegen ihn stehe«11. Mehrere Briefe zeugen schließlich von Schillers Wunsch, seine Kritik zurückzunehmen und den Versuch aufzugeben, sich Kant gegenüber besser zu erklären. Kants Lesart Schillers hat wohl auch aufgrund dieser Scheu Schillers, sich direkter zu erklären, die Nachwelt geprägt. Dass Schiller aufgrund seiner temporären Begeisterung12 für Kant dessen Vokabular beibehält und seine eigenen Gedanken in fremde Begriffe kleidet, hat hier sicherlich zusätzlich Verwirrung gestiftet. Das Vorurteil, Schiller habe als Dichter dem Denker Kant nichts entgegenzuhalten und verfehle die revolutionäre Dimension von Kants Ästhetik, die Autonomie der Künste betreffend, hat sich jedenfalls hartnäckig gehalten. Erst in den letzten Jahren hat man im deutsch- und englischsprachigen Raum versucht, Schiller als einen Philosophen zu rehabilitieren. So hat Frederick Beiser Schillers Ethik als eine Verbesserung von Kants dargestellt: »Where Kant is vague, inconsistent and narrow, Schiller ist clear, consistent and broad.«13 In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass sich der philosophische Wert und die Aktualität Schillers auch und gerade in der Frage der Würde aufzeigen lassen. Diese Frage steht schon im Mittelpunkt der frühen Schriften und dort in einem engen Zusammenhang mit dem Erhabenen und der Tragik. Sie begleitet Schiller ein Leben lang, gewinnt mit 10 Vgl.

Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. XI, S. 506 f. Vgl. aber Schiller an Friedrich Heinrich Jacobi am 29. 6. 1795: »Da wo ich nur niederreisse und gegen andere Lehrmeynungen offensiv verfahre, bin ich streng kantisch ; nur da, wo ich aufbaue, befinde ich mich in Opposition gegen Kant. Indeßen schreibt er mir, daß er mit meiner Theorie ganz zufrieden sey ; ich weiß also noch nicht so recht, wie ich gegen ihn stehe.« 12 Trotz seiner kritischen Äußerungen scheint Schiller aber Kants Philosophie zumindest eine Zeit lang äußerst anregend zu finden und entleiht dieser bestimmte Begrifflichkeiten. Im März 1791 schon gesteht Schiller seinem Freund Körner, die Kritik der Urteilskraft »reiße« ihn »hin durch ihren neuen lichtvollen geistreichen Inhalt« und habe ihm »das größte Verlangen beygebracht, [sich] nach und nach in seine Philosophie hinein zu arbeiten«. Vgl auch den Brief an Körner vom 1. Januar 1792. 13 Frederick Beiser, Schiller as a Philosopher, Oxford, Clarendon Press, 2005, S. 2. 11



Schillers Humanität

seiner langen Krankheit zweifellos noch an Dringlichkeit und erhält in einem eigenen praktischen und ästhetischen Programm eine ganz eigene Deutung. Zunächst soll Kants Auffassung über das Verhältnis von Anmut und Würde in Erinnerung gerufen werden, wie er sie in dem Dialog mit Schiller nochmals darlegt. In einem zweiten und dritten Schritt sollen Schillers Einwände und sein Gegenmodell diskutiert werden. Im Anschluss daran soll kurz Schillers Position zu Menschen- und Frauenwürde umrissen werden. Kant: »das herrliche Bild der Menschheit«

Wenn Kant auch Schillers Aufsatz positiv erwähnt, so enthält doch der zweite Absatz der oben zitierten Fußnote aus der Religionsschrift eine klare Ablehnung von Schillers Gedanken einer Komplementarität von Anmut und Würde. »Ich gestehe gerne, dass ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner Würde willen, keine Anmut beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nötigung, womit Anmut im geraden Widerspruch steht.« In den Vorarbeiten zu dieser Schrift, in denen Kant der Schiller’schen Schrift einen mehrseitigen Kommentar widmet, heißt es ähnlich: Thalia. Die Frage ist ob die Anmuth vor der Würde oder diese vor jener (als ratione prius) vorhergehen müsse denn in Eins zusammenschmeltzen kann man es nicht im Begriffe von Pflicht wenn sie heterogen sind. Die Achtung fürs Gesetz in einem Wesen das fehlbar ist d. i. versucht wird es zu übertreten ist Furcht vor Übertretung (Gottesfurcht) aber zugleich freye Unterwerfung unter dem Gebot das die Vernunft des Subjects ihm selbst vorschreibt. Die Unterwerfung beweiset Achtung die Freyheit derselben je größer sie ist ist desto mehr Anmuth. Beydes zusammen Würde (iustum sui aestimium).14

Und später in den Vorarbeiten fügt Kant hinzu: »Das sittlich noch so weit über Menschen hervorragende Wesen muß die imperative Form des moralischen Gesetzes das seine Vernunft ihm selbst giebt nach aller seiner Strenge als moralischen Zwang erkennen.«15 Diese Zurückweisung von Schiller begründet Kant in der publizierten Fußnote im Hinblick auf den Begriff des Gesetzes: »Denn Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstößt, auch nicht Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Falle aber, da dieser in uns selbst liegt, ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen 14 Vorarbeiten zu: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. XXIII, S. 98. 15 Ebd., S. 100.

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Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne.«16 Man kann und muss zwar annehmen, dass die »Tugend, d. i. die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen, in ihren Folgen auch wohltätig« sei, »mehr wie alles, was Natur oder Kunst in der Welt leisten mag«.17 Auch stehe dem Menschen immer ein Ideal göttlicher Menschheit vor Augen: »ein herrliches Bild der Menschheit, das wohl die Begleitung der Grazien verstatte« ; trotzdem aber müssten diese Grazien, wenn »noch von Pflicht alleine die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten.«18 In den Vorarbeiten heißt es ergänzend: »Alle Grazie abzusondern ist nicht sie verscheuchen sie mögen sich immer beygesellen aber nicht sich anhängen – Grazien schicken sich nicht zur Gesetzgebung.«19 Diese Stellungnahme entspricht bestimmten früheren moralphilosophischen Gedanken aus den praktischen Schriften, wie sie schon in den letzten Kapiteln kurz zu Sprache kamen. Führen wir sie hier mit Bezug auf die von Schiller verwendeten Begrifflichkeiten einmal kurz aus. Auch Kant stellt – mit Rückgriff auf Cicero – eine enge Verbindung zwischen Menschenwürde, Humanität und seinem ästhetischen Programm der Humaniora her.20 Nichtsdestotrotz verabschiedet er sich von bestimmten ciceronischen Annahmen, insbesondere seinem Holismus, seiner Tugendethik, seinem Eudämonismus.21 Indem er zwischen dem empirischen und intelligiblen Charakter des Menschen als zweierlei Form von Kausalitäten unterscheidet, bricht er mit dem alten Gedanken der Einheit der Person. Das intelligible Ich als gesetzgebende Instanz und Kausalität in einer Zweckordnung steht hier der phänomenalen, sinnlichen und mechanischen Kausalität gegenüber. Und weil Kant die alte Menschenwürde auf die erstere Instanz bezieht und im Sinne einer Würde des Menschen (eigentlich: der vernünftigen Menschheit) auslegt, gilt hier Achtung nicht eigentlich der individuellen Person, sondern der rechtlichen persona. Diese Achtung vor dem Gesetz muss nun in der Moralphilosophie aller Liebe vorgeordnet werden. Letztere ist einfach eine indirekte Konsequenz der ersteren ; sie ist eine durch die Erfahrung von Achtung geläuterte Liebe, die von Selbstschätzung des eigenen Ich als Vernunft- und Gesetzeswesen und als Person ihren Ausgang nimmt und andere Vernunftwesen und Personen implizit mitumfasst. Die reflexive Vernunfteinsicht in das eigene höhere Selbst als Charakter und Person in einem rechtlichen höheren Welt16

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. VI, S. 23. Ebd. 18 Ebd. 19 Vorarbeiten, AA Bd. XXIII, S. 99. 20 Vgl. Kapitel 8. 21 Vgl. Kapitel 9. 17



Schillers Humanität

staat und Reich der Zwecke geht mit der Herabwürdigung des empirischen Selbst und der durch das Gesetz genötigten und erzwungenen Einschränkung und Wandlung der eigenen egoistischen Selbstliebe einher. Deshalb kann es keine Tugend aus Neigung und Menschenfreundschaft geben. Und deshalb ist eine Pflicht zu lieben ein »Unding«22: Ich kann nicht lieben, weil ich lieben soll.23 Aber dennoch entspricht die Demütigung, die mit der Einsicht in das höhere Gesetz einhergeht, einer gewissen Liebe gegenüber einem höheren kollektiven Selbst und der Menschheit: Sie ist zugleich Selbstliebe und Menschenliebe oder eine zur Menschenliebe geläuterte Selbstliebe24 ; sie ist ein Wohlwollen und eine Fertigkeit zur Wohltätigkeit, die sich aus der Einsicht in und Ausübung der vollkommenen Pflichten entwickelt und den Menschen befähigt, seine Pflichten gerne auszuüben. »Wer seine Pflicht oft ausübt, und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich dahin, den welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben.«25 Darin kommt, wie Schiller auch richtig erkennt, eine gewisse Synthese epikurischer und stoischer Elemente zum Ausdruck: das fröhliche Herz. Wie Kant selbst in seinen Vorarbeiten ausführt, habe er »immer darauf gehalten Tugend und selbst Religion in fröhlicher Gemüthsstimmung zu cultiviren und zu erhalten.«26 Deshalb sei ein moralischer Mensch »nicht ein büßender Kopfhänger und Frömmling in Selbstverachtung aus Mangel an Vertrauen zu sich selbst, also nicht als Sünder (denn das soll er eben durch dieses Vertrauen verhüten zu seyn) sondern als ein freyer Unterthan unter dem Gesetz.«27 Das »herrliche Bild der Menschheit«, das dem Menschen mit der Unterwerfung unter das Gesetz vor Augen steht, zeugt schon von der menschlichen Fähigkeit, ein Ideal der Schönheit28 und Vollkommenheit zu erfassen und zu lieben. Kant begnügt sich in diesem Dialog mit Schiller damit, an seine früheren Grundsätze zu erinnern, ohne sich zumindest in der veröffentlichten Fußnote genauer auf Schillers Argument einzulassen. Eigentlich zitiert er hier nur 22

Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 401. Ebd. In Über den Gemeinspruch behauptet Kant, er könne oder wolle (die menschliche Natur] »nicht für so versunken im Bösen halten […], dass nicht die moralisch-praktische Vernunft nach vielen misslungenen Versuchen endlich über dasselbe siegen und sie auch als liebenswürdig darstellen sollte.« AA Bd. VIII, S. 313. 24 Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 401 f. 25 Ebd. 26 Vorarbeiten zu: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA Bd. XXIII, S. 99 f. 27 Ebd., S. 98. 28 Vgl. auch die betreffenden Abschnitte in der Kritik der Urteilskraft und insbesondere § 59. 23

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jene Passagen aus Schillers Aufsatz, in denen direkt von der eigenen Philosophie die Rede ist: In den Vorarbeiten und in der Anthropologie findet sich eine etwas ausführlichere Diskussion. Dass er zunächst die eigenen Grundsätze in Erinnerung ruft und Schiller zum Dialog und zur Bereinigung der Missverständnisse einlädt, bedeutet wohl nicht, dass er selbst die eigene Philosophie für unwiderlegbar hält. Es ist eher anzunehmen, dass er ihn nicht ganz verstanden hat. In der Tat präsentiert Schiller sein Argument nicht sehr direkt. Wenn man aber das Argument eher vom zweiten Teil seines Aufsatzes her aufrollt, so zeigt sich, dass es Kants Würde- und Charakterbegriff ist, an dem Schiller Anstoß nimmt, weil er auf einer höheren Ebene Kants eigenem Grundmodell zuwiderzulaufen scheint. Schiller über Kants rechtliche persona: »falsche Dignität« !

Die grundsätzliche Differenz betrifft wohl Kants neue kollektive, politischrechtliche Akzentsetzung und Einschränkung der Menschenwürde auf eine Würde von Vernunft und Gesetz, die den Bruch mit Ciceros individuell ausgerichteter Tugendlehre bedeutet. Man könnte gegen diesen neuen Begriff Kants vielfältige Einwände formulieren. Schillers Fokus liegt auf der unzureichend gedachten Einheit der Person. Die Vorstellung der rechtlichen persona beinhaltet sowohl deren Spaltung als auch einen Zwang. Kants Auffassung zufolge stelle ich mich mir selbst und meinem Gegenüber als Bürger und Mensch dar, wenn ich eigentlich die ästhetischen Normen von Form und Schönheit verletze, wenn sich Charakter und Selbstständigkeit dem eigenen individuellen Ich »negativ« durch die eigene Herabwürdigung durch das Gesetz der Moral und des Anstands offenbaren. Was Kant deshalb eigentlich zu denken scheint, ist Zwang und jene »falsche Würde« und »Gravität«, die Schiller in den Schlussparagraphen seines Aufsatzes thematisiert: eine Natur, die »nur desto gewalttätiger innen« herrscht, indem sie verborgen und »außen bezwungen« ist.29 Sie unterdrücke die unwillkürlichen und willkürlichen, die moralischen und sinnlichen Bewegungen, »die der wahren Würde und der Feierlichkeit im guten Sinne heilig sind«, ganz wie jene Würdenträger, die »den Leib in lange faltige Gewänder« stecken und den »Gebrauch der Glieder durch einen lästigen Apparat unnützer Zierrat« behindern. Indem Kant die in der früheren Debatte vorrangige ästhetische und personale Dimension der Menschen29 Vgl. zu einem solchen Verhalten und Auftreten, das in seiner Hässlichkeit einen Hass der eigenen Natur ausdrückt und »den Menschen seines Menschseins entkleidet«, Cicero, De finibus, V. 35 und 47.



Schillers Humanität

würde ausklammert und Menschenwürde auf eine Vernunftwürde reduziert, beraubt er sie auch ihrer Authentizität, Überzeugungskraft und Liebenswürdigkeit. Er führt ein Moment der Entfremdung ein, das die Knüpfung von Banden der Liebe behindert und in Schillers Augen den gesellschaftlichen Organismus in seinem Zusammenhalt bedroht. An dieser Spaltung ändern auch die Ausführungen zur Humanität in der Kritik der Urteilskraft nichts. Schiller hingegen verfolgt von Anfang an ein eigenes humanistisches und holistisches Programm, das Politik und individuelle Ethik zu vereinbaren sucht. Schon in seinen frühen Schriften kommt er auf den Zusammenhang der tierischen und göttlichen Natur des Menschen zu sprechen und schreibt der Kunst einen besonderen Wert für die Ausbildung einer ganzheitlichen Menschheit zu. 1784 verteidigt er die Notwendigkeit einer guten Schaubühne und einer ästhetischen Erziehung für die »Schätzung unseres eigentümlichen Werts«30 und die Erfüllung des eigenen Beitrags zum Ganzen. Schon hier schreibt er: Nicht immer bloß die höchste Spannung der Kräfte – nur ihre edelste Anwendung kann Größe gewähren. Je erhabener das Ziel ist, nach welchem wir streben, je weiter, je mehr umfassend der Kreis, worin wir uns üben, desto höher steigt unser Mut, desto reiner wird unser Selbstvertrauen, desto unabhängiger von der Meinung der Welt.31

Nach diesen ersten Skizzen des eigenen humanistischen Programms führt nun im Jahre 1792 die der Revolution folgende Terrorherrschaft in Frankreich Schiller noch dringlicher als zuvor vor Augen, dass das Räderwerk des Staates nicht leistet, was Kant sich erhoffte, dass civilisation und Humanität auseinanderklaffen können und dass sich die französischen höheren Klassen, Aristokratie und Großbürgertum in Frankreich aller äußerer Zivilität und »Würde« zum Trotz nicht zu wahrer Humanität erhoben haben. Mit dieser Einsicht wandelt sich seine Einstellung zur Französischen Revolution. Zwar wird der Autor der Räuber zum Ehrenbürger der Französischen Republik ernannt, aber er zeigt sich von den Geschehnissen und vor allem von der Hinrichtung des französischen Herrschers tief schockiert. Am 8. Februar 1793 schreibt er an seinen Freund Körner: »ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an«32. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 führt Schiller einige 30 Schiller, Was kann eine gut stehende Schaubühne eigentlich wirken, in: Werke, Bd. 8, S. 185. 31 Ebd., S. 185. 32 Nationalausgabe, Bd. 26, S. 183.

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Jahre später diese politische Stellungnahme aus.33 Im Fünften Briefe heißt es: »In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet ! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt !«34 Der gesellschaftliche Antagonismus der Kräfte, den Kant selbst beschreibt, offenbart nicht diejenige Form der Menschheit, die von Kant »als notwendige Bedingung einer moralischen Staatsverbesserung erkannt worden ist«,35 sondern ihr Gegenteil: eine einseitige Übung und Ausbildung der Kräfte und eine tiefe Entwürdigung der Menschheit.36 In den »niederen Klassen« haben sich die »rohen, gesetzlosen Triebe« entfesselt, die nach Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft »mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen«. Statt »aufwärts in das organische Leben zu eilen«, fällt die »losgebundene Gesellschaft in das Elementarreich zurück«.37 In den »zivilisierteren Klassen« herrscht wiederum »Schlaffheit und eine Depravation des Charakters«, deren Anblick umso »mehr empört«, als dass »die Kultur selbst ihre Quelle ist.«.38 »Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluss auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.«39 Dieses Phänomen von Entwürdigung, Depravation und Nichtswürdigkeit der oberen Stände wird von Kant nicht mit in den Blick genommen. Und dieses tiefere Defizit Kants und der »Aufklärung des Verstandes« ist es offenbar, auf das schon Schillers ästhetische Kritik und Korrektur in den Briefen und Aufsätzen ab 1792, Anmut und Würde, abzielt. Die ästhetische persona. Der Mensch als Schauspieler

Der zweite Kritikpunkt Schillers an Kant folgt aus dem ersten. Die disproportionierte Akzentuierung der rechtlichen persona geht mit einer unzureichenden Berücksichtigung ihrer ästhetischen Dimension einher. 33 Vgl. bspw. Wolfgang Riedel, »Philosophie des Schönen als politische Anthropologie«, in: Olivier Agard/Françoise Lartillot, L’éducation esthétique selon Schiller, Paris, L’Harmattan, 2013, S. 67–127, insbesondere S. 104 f. Vgl. auch Douglas Moggach, »Schiller’s Aesthetic Republicanism«, in: History of Political Thought, Bd. 38. 3, Herbst 2007, S. 520–541. 34 Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Werke, Bd. 5, S. 568. 35 Ebd., Brief 7, S. 578. 36 Ebd., S. 579. 37 Ebd., S. 568 f. 38 Ebd. 39 Ebd.



Schillers Humanität

Zwar berücksichtigt Kant diese bis zu einem gewissen Grad. Auch in seinen Augen ist der Mensch ein Tier, das der Verstellung fähig ist und das nur im Blick der anderen und durch die von der Gesellschaft an ihn übertragene Rolle und persona zu dem werden kann, was es sein kann. Wie Kant in der Anthropologie ausführt, ist der Mensch sogar »je zivilisierter, desto mehr Schauspieler.«40 Von Ehrliebe getrieben, nimmt er »einen Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an«41. Aber »weil diese anfänglich leeren Zeichen nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten«, betrüge dieser Schein nicht. Denn dieses Schauspiel nun scheint dazu zu führen, dass er die Tugenden, die er vorspielt, letztendlich tatsächlich entwickelt. »Alle menschliche Tugend im Verkehr« sei »Scheidemünze« und »Spielmarke«.42 Wie es reiche, sich im Verkehr Scheidemünzen zu bedienen, reicht es auch, dass die Tugend im Verkehr eine Scheidemünze und zunächst nur eine Tugend des Umgangs sei: denn sie kann unter der Voraussetzung Gold werden, dass der »Schein des Guten in uns selbst […] ohne Verschonen weggewischt« und »der Schleier, womit die Eigenliebe unsere moralischen Gebrechen verdeckt, abgerissen« werde. Was diese Großzügigkeit motiviert, ist Selbstliebe, Scham und die Aussicht schmeichelhafter Gegenliebe durch die Selbstzurechnung fremder Glückseligkeit.43 »Wir müssen uns vor unseren eigenen Augen die mechanic unserer eigennützigen Antriebe verbergen«.44 Die Reflexion auf Anstand, Schicklichkeit, Ehre und Menschenehre kann letztendlich zu wahrer Moralität führen. »Dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über«45 ; denn Tugend ist nichts anderes als die völlige Konvergenz mit diesem Gesellschafts- und Naturgesetz. 40 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 151. Vgl. zu dieser Thematik auch Márcio Suzuki, »Des Herrn Professors Kants Paradoxon des Comoedianten«, Kant-Studien n° 109.3, S. 395–418. 41 Ebd. 42 Mit »Scheidemünze« bezeichnet Kant hier eine Münze, deren innerer Münz-Metallwert geringer als ihr gesetzlich beschlossener Nominalwert ist, das ist heute immer der Fall ; damals sprach man von »Scheidemünze« in Abgrenzung zur »vollwertigen« Kurantmünze, deren Nominalwert ihrem Metallwert entsprach. 43 Vgl. Reflexionen zur Anthropologie, AA Bd. XV, S. 282, Reflexion 641: »Gleichwie die Urtheile des Geschmaks mit Empfindungen untermengt seyn, so die die Urtheile Beur­ thei­lungen des Guten und Bösen niemals völlig rein, sondern haben einen starken zusatz von eingemengten Vorstellungen, von schönheit oder Reize. Die Wohltätigkeit empfängt durch Ehre durch Gegenliebe, durch die schmeichelhaften Zurech Selbstzurechnungen fremder Glückseeligkeit starke empfehlungsgründe. […]« 44 Vgl. Erläuterungen zu A.G. Baumgartens Initiae, AA Bd. XIX, S 113. 45 Anthropologie, AA Bd. VII, S. 151.

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Aber diese Moralität kann, da die Menschheit unendlich fortwächst, für den einzelnen Menschen nie ganz erreicht werden, und der Mensch als pragmatisches Wesen, das auf Anstand bedacht ist, ist notwendig immer von Absichten geleitet, die nicht im Sittengesetz aufgehen. Somit bleibt notwendigerweise die schon oben erwähnte Spaltung und der Zwang bestehen. Schiller seinerseits entwickelt einen alternativen Ansatz, indem er direkter noch auf das Grundmodell vom Menschen als Schauspieler zurückkommt. Schillers Auslegung dieses Gedankens, die sich an einer eher versteckten Stelle im langen Aufsatz über Anmut und Würde findet, stellt zugleich eine logische Fortsetzung der eigenen ästhetischen und dramatischen Aufsätze dar und wirft ein Licht auf die tieferen Grundlagen seines Humanismus. Statt Kant in seiner engeren kosmopolitischen und rechtlichen Auslegung des alten ciceronischen Dignitas-Begriffes zu folgen, akzentuiert er dessen ästhetische Dimension. In seinen Augen ist der Mensch ein »Schauspieler« und »Tanzmeister«.46 Er ist ein tätiges, seine Kraft, Bewegung und Tätigkeit in der Zeit ausübendes und ein reflexives Wesen. Er handelt und betrachtet sich zugleich im Handeln aus den Augen der anderen ; er selbst reflektiert auf die eigene Form und Darstellung und legt in dieser Berücksichtigung des öffentlichen »Beifalls« bestimmte ästhetische Normen an. Diese besondere Anthropologie erlaubt nun die Überwindung des Gegensatzes von Innen und Außen. Ein »schlechter Komödiant« ist, wer einen Affekt vortäuscht ;47 ein guter, wer nicht nur durch Übung »dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschafft, und die Hindernisse weggeräumt [hat], welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen«48 und in diesem Sinne »Tanzmeistergrazie« an den Tag legt, sondern wer in seinem Spiel alles Regelwerk zu überwinden scheint, wer Schönheit und Wahrheit, Anmut und Würde verbindet.49 »Dann findet er zu sich selbst, dann ist »das Werk der Regel in Natur« übergegangen.50

Schillers alternativer Humanismus

Um der Klärung von Kants Ambivalenzen willen nimmt Schiller auf dieser anthropologischen Grundlage eine radikale Umdeutung von Ethik, Ästhetik und Kants Begrifflichkeiten in beiden Bereichen vor. Die Ethik wird grund46

Ebd., S. 350 f. Ebd., S. 382. 48 Ebd., S. 350. 49 Ebd., S. 351. 50 Ebd., S. 350. 47



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legend erweitert. Sie überwindet die Verengung der antiken Sittenlehre, die sie mit Kants moralisch-rechtlicher Bestimmung der Ethik als Lehre von den Pflichten erfahren hat51, kehrt zur ursprünglichen weiten Bestimmung von ἦθος52 zurück und schließt insbesondere das antike decorum als den Bereich der Gesinnung und des Charakters, wie er sich nach außen hin zu sehen gibt, wieder mit ein. Die Ästhetik wiederum verwandelt sich in einen Teil der Ethik und befasst sich nicht so sehr mit der theoretischen als mit der praktischen Vernunft.53 Sie wird zum Ort eines wahrhaft populären54 und praktischen Denkens und der Vermittlung demokratischer Werte. Aus diesen grundlegenden Veränderungen der Fächerlandschaft heraus schafft Schiller eine neue ästhetische Ethik oder ethische Ästhetik, die die alten Begriffe Kants neu bestimmt. Direkter Ausgangspunkt für Schillers Aufsatz ist die Gegenüberstellung von Anmut und Würde, venustas und dignitas, und von liebenswerten und achtenswerten Tugenden bei Cicero, dessen Schriften er aus seiner Jugendzeit an der Karlsschule kennt.55 »Da es aber zwei Arten von Schönheit gibt, deren einer die Lieblichkeit, der anderen die Würde zugehört, so müssen wir die Lieblichkeit der Frau, die Würde dem Mann für zukommend erachten.«56 Diese Gegenüberstellung findet, wie schon in Kapitel 4 erwähnt, in der britischen und schottischen Moral-sense-Philosophie bei Autoren wie Hutcheson, Burke, Smith und Henry Homes und in der deutschen Ästhetik eine Fortsetzung. Mit allen Protagonisten57 und Positionen dieser Debatte ist Schiller vertraut58 und er benutzt sie nun zur Korrektur von Kants Muster. Erstrebt 51 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 379: »Ethik bedeutete in den alten Zeiten die Sittenlehre (philosophia moralis) überhaupt, welche man auch die Lehre von den Pflichten benannte. In der Folge hat man es ratsam gefunden, diesen Namen auf einen Teil der Sittenlehre, nämlich auf die Lehre von den Pflichten, die nicht unter äußeren Gesetzen stehen, allein zu übertragen.« 52 Aristoteles bestimmt in Rhetorik, I, 2. 4 ἦθος als die ethische Gesinnung, wie sie im Verhalten und in der Rede zum Ausdruck kommt. 53 Schiller, NA, Bd. 26, S. 180 f.: »Du wirst aufgucken, dass Du die Schönheit unter der Rubrike der theoretischen Vernunft nicht findest, und daß dir ordentlich dafür bange wird. Aber ich kann dir nicht einmal helfen, sie ist gewiß nicht bey der theoretischen Vernunft anzutreffen, weil sie von Begriffen schlechthin unabhängig ist.« 54 Vgl. Wolfgang Riedel, »Schiller und die Popularphilosophie«, in: Schiller Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart, Alfred Kröner, 1998, S. 155–166. 55 Vgl. Schiller, NA Bd. 21, S. 216. 56 Cicero, De Officiis, I, 36. 57 Vgl. außerdem den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe und dessen Aufsatz: Inwiefern die Idee Schönheit sei Vollkommenheit mit Freyheit auf organische Naturen angewendet werden könne. 58 Zudem beschäftigt Schiller sich schon seit seinen frühen Jahren wie Lessing mit

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wird eine bessere Verbindung von Anmut und Würde. Beide Tugenden müssen sich, so fordert Schiller, in der gleichen Person ergänzen. Da Würde und Anmut ihre verschiedenen Gebiete haben, worin sie sich äußern, so schließen sie einander in derselben Person, ja in demselben Zustande einer Person nicht aus ; vielmehr ist es nur die Anmut, von der die Würde ihre Beglaubigung, und nur die Würde, von der die Anmut ihren Wert empfängt.59

Selbstbestimmung

Dieser Gedanke nun fordert weitere Korrekturen von Kants Begrifflichkeiten. In einem Brief an seinen Freund Körner schreibt Schiller, es sei »gewiss von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst.60 Schiller übernimmt die (stoische) Ansicht von Selbstbestimmung als die distinktive Besonderheit des Menschen, als seine »Geistesfreiheit« und »Göttlichkeit«. »Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Tierheit ; der moralische erhebt ihn zur Gottheit.«61 Er teilt des weiteren Kants Auffassung, dass sich diese Selbstständigkeit dem eigenen Selbst und den anderen zunächst durch die eigene Kraft und den Widerstand offenbart, den der Mensch der sinnlichen Natur und jenen unwillkürlichen Bewegungen des Naturtriebs, die »dem Willen zuvoreilen« oder aber sich seiner Herrschaft ganz entziehen entgegenzustellen vermögend ist ; durch eine Selbstständigkeit, die sich zunächst »von außen durch Zwang« verrät,62 so dass zwar keine Harmonie, wohl aber eine eigene Kraft sichtbar wird. Auch Schiller stellt eine enge Verbindung zwischen einer solchen Selbstbestimmung und der Freiheit her. Der Mensch ist zwar den Naturnotwendigkeiten, Trieben und Begierden ebenso unterworfen wie das Tier: »der starkdem Thema der Liebe als »Verwechslung von Personen«. In Philosophie der Physiologie, einem Aufsatz aus der Zeit in der Karlsschule, heißt es schon: »Liebe also, der schönste, edelste Trieb in der Menschlichen Seele, die große Kette der empfindenden Natur, ist nichts anders, als die Verwechslung meiner Selbst mit dem Wesen des Nebenmenschen«, Werke, Bd. 8, S. 38. 59 Schiller, Über Anmut und Würde, S. 385. In gewisser Hinsicht ist auch diese Komplementarität bei Cicero selbst enthalten. Vgl. über Kennzeichen der Schicklichkeit, ihrer »Anerkennung durch Auge und Ohr« und der zu vermeidenden Fehler. Cicero hebt insbesondere zwei hervor, nämlich: »nichts soll sich weibisch oder unmännlich und nichts ungeschliffen und grobschlächtig ausnehmen.« 60 Brief vom 18. Feb 1793. 61 Über Anmut und Würde, S. 374. 62 Ebd., S. 363.



Schillers Humanität

mütigste Stoiker fühlt den Hunger eben so empfindlich und verabscheut ihn eben so lebhaft, als der Wurm zu seinen Füßen.«63 Doch verfügt der Mensch im Gegensatz zum Wurm über ein »übersinnliches« Vermögen, das ihn befähigt, die Triebbefriedigung aufzuschieben, der »blinden Gewalt des Affekts« jedenfalls temporär »Stillstand zu gebieten«64, der Natur »die unmittelbare Kausalität zu versagen«. Trotz der ihn bestürmenden Naturgewalt steht es dem Menschen frei, zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu wählen: »Das Tier muss streben, den Schmerz los zu sein, der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten.«65 Dieser Gedanke erinnert an Kant, erhält aber eine neue poetische Dimension. Der Mensch muss sich nicht nur insofern über das Tier erheben, dass er sich selbst ein Gesetz gibt ; er muss auch zur Schöpfung, Sichtung und zum Ausdruck von Form, Harmonie, Schönheit in der Lage sein. Denken wir […] uns [den Menschen nicht als Naturerzeugung, sondern] als moralische Person, so sind wir berechtigt, einen Ausdruck derselben in seiner Gestalt zu erwarten, und schlägt diese Erwartung fehl, so wird Verachtung unausbleiblich folgen. Bloß organische Geschöpfe sind uns ehrwürdig als Geschöpfe, der Mensch aber kann es uns nur als Schöpfer (d. i. als Selbsturheber seines Zustands) sein. Er soll nicht bloß, wie die übrigen Sinnenwesen, die Strahlen fremder Vernunft zurückwerfen, wenn es gleich die Göttliche wäre, sondern er soll, gleich einem Sonnenkörper, von seinem eigenen Lichte glänzen.66

Praktischer Vernunft wohnt somit ein poetisches, kreatives Element inne, und Selbstbestimmung heißt: das eigene Selbst schöpferisch ausbilden. Auf dieser göttlichen Schöpfungskraft, die man wie den Gürtel der Schönheitsgöttin Venus als eine göttliche Leihgabe und Gnade betrachten kann, gründet alle Würde und Ehre des Menschen.

Würde im Leiden

Schiller übernimmt von Kant eine gewisse Verbindung von Würde und Zwang. Auch für ihn ist Würde eine moralische Größe, die von einem Widerstand gegen die Naturkräfte zeugt. Nur muss diese Würde mit Schönheit und Anmut vermittelt sein, wenn sie nicht abstoßend wirken soll. In Schillers 63

Ebd. Ebd., S. 376. 65 Ebd., S. 374. 66 Ebd., S. 359. 64

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Augen ist Würde eine situative Haltung und eine Angelegenheit des πάθος.67 Würde oder die Erhabenheit der »Gesinnung«, von der schon in Pseudo-Longins Traktat und auch bei Winckelmann und Mendelssohn die Rede war,68 ist in solchen Situationen gefordert, in denen ein Mensch einem solchen Leiden ausgesetzt ist, dass er sich gerade unfähig erweist, den Widrigkeiten des Schicksals zu trotzen und eine Harmonie und Schönheit im Betragen unter Beweis zu stellen. In der Würde kommt jene Ohnmacht zum Ausdruck, der der Mensch ausgeliefert ist, wenn »die Natur (der Trieb) zuerst handelt und den Willen ganz zu umgehen oder ihn gewaltsam auf ihre Seite zu ziehen strebt« ; in diesem Falle kann die Sittlichkeit des Charakters nicht anders, als sich durch Widerstand zu offenbaren. Hier ist »Übereinstimmung mit dem Vernunftgesetz« »nicht anders möglich als durch einen Widerspruch mit den Forderungen der Natur«.69 Zum »Tier« verkommt der Mensch nur, wenn er »im Moment des sinnlichen Verlangens«, »unterjocht vom Bedürfnis, den Naturtrieb ungebunden über sich herrschen lässt«70 und dem mechanischen Bedürfnis keine wirkende Kraft entgegensetzt. Dann »verschwindet mit seiner inneren Selbstständigkeit auch jede Spur derselben aus seiner Gestalt. Nur seine Tierheit redet aus dem schwimmend ersterbenden Auge, aus dem lüstern geöffneten Munde, aus der erstickend bebenden Stimme, aus dem kurzen geschwinden Atem, aus dem Zittern der Glieder, aus dem ganzen erschlaffenden Bau.«71 Mit dem Schwinden des »Widerstands der moralischen Kraft« schwindet der Ausdruck der Seele. Das menschliche Antlitz verzerrt sich und wird zu einem tierischen: Das seelestrahlende Auge wird matt, oder quillt auch gläsern und stier aus seiner Höhlung hervor, der feine Inkarnat der Wangen verdickt sich zu einer groben und gleichförmigen Tüncherfarbe, der Mund wird zur bloßen Öffnung, denn seine Form ist nicht mehr Folge der wirkenden sondern der nachlässigen Kräfte, die Stimme und der seufzende Atem sind nichts als Hauche, wodurch die beschwerte Brust sich erleichtern will, und die nun bloß ein mechanisches Bedürfnis, keine Seele verraten.72

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Vgl. Über das Pathetische, in: Werke, Bd. 8, S. 423. Über Anmut und Würde, S. 373: »So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung«. 69 Ebd., S. 377. 70 Ebd., S. 363. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 364. 68



Schillers Humanität

Hingegen bleibt das Leiden des Menschen erhaben, wenn es ihm gelingt, Anmut und Würde miteinander zu vermitteln und seine Unabhängigkeit und Kraft indirekt, über den Zusammenhang mit dem Ganzen eines Charakters auszudrücken. »Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.«73 In gewisser Hinsicht erinnert diese Doktrin der Schönheit und Erhabenheit an Lessing und Herder. Aber in Schillers Augen dient Kunst nicht der Ausbildung eines Vermögens der Einfühlung in andere, sondern immer schon der eigenen Selbstwahrnehmung und -darstellung über die Fremdwahrnehmung, als Bedingung für die eigene praktische und politische Handlung. Dieses selbstreflexive und praktische Moment führt Schiller neu in die ästhetische Diskussion ein. Schönheit ist Charakterschönheit, und Mensch ist, wer sich so darzustellen versteht, dass er Natur und Kunst miteinander vermittelt, Natur bleibt und Charakter zeigt. In Anmut und Würde stellt Schiller einen solchen Charakter als das Ergebnis einer langen Bildung und als »die reifste Frucht der Humanität des Menschen«74 dar. Das Ergebnis wird erreicht, indem der »Geist« durch den Stoff »hindurcharbeitet«, indem er durch Übung und Gewohnheit willkürlichen Bewegungen in unwillkürliche verwandelt, ihnen den Stempel der Schönheit aufdrückt. Damit zeichnet sich ein originelles ästhetisch-politisches Programm ab, das die Bedeutung politischer Institutionen ab- und eine gewisse ästhetische Erziehung aufwertet und neubestimmt. Dieses stellt, wie auch Winckelmann annahm, dem Menschen nicht so sehr ein Gesetz als vielmehr höhere Ideale vor Augen, die über seine eigene Menschheit hinausgehen75 und ihm erlauben, die eigene Menschlichkeit reflexiv und harmonisch zu entwickeln. Kant hatte seinerseits, wie oben dargestellt, den Wert moralischer Beispiele relativiert. Streng genommen ist die moralische Kraft im Menschen keiner Darstellung fähig, da das Übersinnliche nie versinnlicht werden kann. In Schillers Augen hingegen bedarf es gerade individueller Beispiele, um auf die harmonische Ausbildung eines Charakters zu reflektieren. »Mittelbar« kann und muss Schönheit Schiller zufolge durch sinnliche Zeichen dem Verstande vorgestellt werden, wie es »bei der Würde der menschlichen Bildung wirklich der Fall ist«.76 Die Schönheit des Charakters muss Gegenstand eines »ästhetischen« Urteils sein, das von dem streng verstandesmäßigen Urteil unterschie73

Ebd., S. 378. Ebd., S. 373. 75 Ebd., S. 383: »Überhaupt gilt hier das Gesetz, daß der Mensch alles mit Anmut tun müsse, was er innerhalb seiner Menschheit verrichten kann, und alles mit Würde, welches zu verrichten er über seine Menschheit hinaus gehen muss.« 76 Ebd., S. 378. 74

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den werden muss. Den Gegenstand des ersteren nennt Schiller die »architektonische« Schönheit oder Schönheit des Baus. Den des zweiten, das System der Zwecke selbst, wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen, bezeichnet er als »technische« Schönheit. In beiden Urteilsarten muss Form und Harmonie herrschen. In beiden muss ein Begriff von Zweck in den Gegenstand »hineingelegt« werden können. Aus dieser Logik heraus vollzieht Schiller am Anfang seines Aufsatzes seinerseits die Rückwendung zu den Griechen. Die griechische Kunst eröffnet auch ihm einen Blick auf die griechische exemplarische Menschheit. Diese bewahren ihre Schönheit, edle Einfalt und stille Würde in allen Situationen. Schillers Kommentar knüpft direkt an Winckelmanns Charakterisierung des Laokoons an: Gesetzt, wir erblicken an einem Menschen Zeichen des qualvollsten Affekts aus der Klasse jener ersten ganz unwillkürlichen Bewegungen. Aber indem seine Adern auflaufen, seine Muskel krampfhaft angespannt werden, seine Stimme erstickt, seine Brust emporgetrieben, sein Unterleib einwärts gepreßt ist, sind seine willkürlichen Gesichtszüge sanft, seine Gesichtszüge frei und es ist heiter um Auge und Stirne.77

Über diesen Gedanken von Würde als Erhebung kommt Schiller auch auf Winckelmanns Idee einer Staffelung oder Abstufung von Schönheit und Würde zurück. Auch die Würde habe »ihre Abstufungen, und wird da, wo sie sich der Anmut und Schönheit nähert, zum Edeln, und wo sie an das Furchtbare grenzt, zur Hoheit« und Majestät, wie die Anmut ihrerseits an das Bezaubernde grenzt.

Schiller über die Polarität der Geschlechter

Anmut und Würde enthält damit auch eine These über die Differenz der Geschlechter und über das Verhältnis von Frauenwürde und Menschenwürde, die Schiller selbst nachdrücklich hervorhebt. »Man werde, im Ganzen genommen, die Anmut mehr bei dem weiblichen Geschlecht (die Schönheit vielleicht mehr bei dem männlichen) finden«.78 Diese Zuordnung geht – wie 77

Ebd., S. 380. Ebd., S. 372. Schiller untermauert sein Argument physiologisch mit Ideen aus der zeitgenössischen Fiberntheorie (die er als Arzt gut kennt): »Zur Anmut muß sowohl der körperliche Bau, als der Charakter beitragen ; jener durch seine Biegsamkeit, Eindrücke anzunehmen und ins Spiel gesetzt zu werden, dieser durch die sittliche Harmonie der Gefühle. In beidem war die Natur dem Weibe günstiger als dem Mann.« 78



Schillers Humanität

die Gegenüberstellung von venustas und dignitas überhaupt – auf Cicero zurück.79 Auf den ersten Blick scheint diese Zuordnung sehr traditionell, und wenn man Schillers Ausführung desselben Gedankens in seinem etwa zeitgleich verfassten Gedicht Die Würde der Frauen (Humboldt schreibt: »ein göttliches Stück« !) mit in den Blick nimmt, ziemlich problematisch. Dieses beginnt mit einem Appell an den Leser: »Ehret die Frauen ! sie flechten und weben/ Himmlische Rosen ins irdische Leben/, Flechten der Liebe beglückendes Band.« In den folgenden Strophen stellt Schiller die Würde der Frau der des Mannes gegenüber. Die Beengtheit des weiblichen Ideals, die hier zum Ausdruck kommt und die mit seiner Glorifizierung einhergehende Beschränkung und Festlegung der weiblichen Tugend, Würde und Rolle als »Anmut« zeigt: Schiller ist kein Feminist. Er engagiert sich im Übrigen niemals und nirgends für die gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung der Frauen und bleibt in dieser Hinsicht weit hinter der ersten und zweiten Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, aber auch hinter zeitgenössischen Vorkämpfern und Vorkämpferinnen der Frauenbewegung wie Olympe de Gouges (1748–1793) im revolutionären Frankreich, Mary Wollstonecraft (1759–1797) in England oder Theodor Gottlieb von Hippel (1741–1796)80 in Deutschland zurück. Ein genauerer Blick auf Anmut und Würde und auf Schillers zeitgleiche Korrespondenz mit Wilhelm von Humboldt zeigt aber, dass sein Gedanke ein größeres Potential, da größere Komplexität besitzt. Der Mensch vereinigt zwei verschiedene Maßstäbe der Vollkommenheit. Er besitzt sowohl weibliche als auch männliche Züge. Der Mann muss sich im Bild des anderen spiegeln und zu gefallen wissen. Die Frau muss anmutig, aber auch auf ihre Würde und ihren Wert bedacht sein. Dieser Gedanke ist rudimentär bereits bei Kant angelegt. Dieser vertritt die Ansicht, die Natur verfolge die höhere Absicht der Vervollkommnung der Gattung durch die Vereinigung von männlichem und weiblichem Prinzip. Damit sei zum einen die Erhaltung der Art und zum anderen die Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben gewährleistet. Aber Kant vereinigt diese beiden gegenläufigen Tendenzen nicht in der gleichen Person. Er tendiert eher dazu, die Beziehung zwischen Mann und Frau als ein Herrschaftsverhältnis zu fassen. Das entspricht den oben ausgeführten anthropologischen Grundsätzen. In Kants Augen ist, wie bereits gezeigt, die pragmatische Tendenz zu Beherrschung und Instrumentalisierung des anderen in jedem Menschen, Frau und Mann, angelegt. Das bedeutet für Kant nicht einfach, 79

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Cicero, De officiis, I, 36, 130 (vgl. Kapitelanfang). Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, 1792.

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dass der Mann die Frau beherrschen will. Eigentlich will »die Frau […] herrschen, der Mann beherrscht sein (vornehmlich vor der Ehe).«81 Deshalb zeigt sie sich stolz und weigernd. »Diesen Stolz des Weibes, durch den Respekt, den es einflößt, alle Zudringlichkeit des Mannes abzuhalten, und das Recht, Achtung vor sich, auch ohne Verdienste zu fordern, behauptet sie schon aus dem Titel ihres Geschlechts.«82 Dieses Mittel wendet sie an, um dadurch eine Ehe und fortdauernde Verbindung der häuslichen Verbindung in einem rechtlichen Rahmen zu schaffen und zu den Absichten der Natur und den Zwecken der Menschheit beizutragen.83 Dass die Frau Würde und Achtung  – auch ohne besondere Verdienste ! – fordert, indem es ihr gelingt, »durch ihre Naturgabe sich der Neigung des Menschen zu ihr zu bemeistern«, entspricht aber zugleich einer indirekten Ausdrucksform ihrer Herrschsucht.84 Schiller nun vereinigt im Gegensatz zu Kant männliches und weibliches Prinzip in jeder Person. Und während Kant von Kräfte- und Herrschaftsverhältnissen spricht, spricht Schiller von Eros und Liebe. In Schillers Augen schließt schon Liebe als Personenwechsel aus, einen Menschen jemals als Sache zu behandeln oder zu benutzen, wie Kant es in Bezug auf Frau und Mann formuliert. Denn der Liebende fordert »Würde von dem Gegenstande seiner Leidenschaft. Würde allein ist ihm Bürge, dass nicht das Bedürfnis zu ihm nötigte, sondern dass die Freiheit ihn wählte – dass man ihn nicht als Sache begehrt, sondern als Person hochschätzt.«85 Diese Forderung ist in der Forderung nach Menschenwürde als Vereinigung von Anmut und Würde enthalten. Es gilt, sich sowohl im Blicke des anderen wahrzunehmen als auch den eigenen Widerstand oder seine Kraft unter Beweis zu stellen. Ähnliche Gedanken finden sich bei Wilhelm von Humboldt, mit dem Schiller zu diesem Thema in einen intensiven Dialog tritt und insbesondere zwischen Juli 1795 und 1797 einen regen Briefwechsel unterhält.86 Im Jahre 1795 veröffentlicht Humboldt zwei Aufsätze in der von Schiller und Humboldt gemeinsam begründeten Zeitschrift Die Horen. Diese tragen den Titel Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur und Über die männliche und weibliche Form. 81 Vgl. Kant, Anthropologie. Charakteristik. Der Charakter des Geschlechts, AA Bd. VII, S. 306. 82 Ebd. 83 Metaphysik der Sitten, Eherecht § 25. 84 Vgl. Anthropologie, Didaktik. 85 Ebd. 86 Vgl. Humboldt, »Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung« und seinen Aufsatz »Über Religion« 1789; Kyeonghi Lee, Weiblichkeitskonzeptionen und Frauengestalten im theoretischen und literarischen Werk Friedrich Schillers, Marburg 2003.



Schillers Humanität

Kant reagiert wiederum verständnislos: In einem Brief an Schiller schreibt er, »die im zweyten Monatsstück enthaltene Abhandlung, über den Geschlechtsunterschied in der Organischen Natur« könne er sich, »so ein guter Kopf [ihm] […] auch der Verfasser zu seyn scheint, doch nicht enträtseln.«87 Schiller hingegen äußert sich schon vor dem Erscheinen der Aufsätze Körner gegenüber sehr positiv darüber: »Humboldts Aufsätze über die Weiber« seien »kein unbedeutender Beytrag für die Horen«. Er behandle »diesen Gegenstand wirklich mit einem großen Sinn«, und er sei überzeugt, dass »noch nichts so Zusammenhängendes über diesen Gegenstand geschrieben worden ist.« Der »Begriff des Geschlechts und der Zeugung, den er durch die ganze Natur und selbst durch das menschliche Gemüth und die Geistigen Zeugungen des Genies durchführt«, sei »eine schöne und große Idee«88. Schiller erkennt offenbar tiefe Affinitäten zwischen diesen Gedanken und der eigenen These von der Komplementarität der Geschlechter. Auch in Humboldts Augen verbindet der ideale Mensch ein männliches und weibliches Element in sich ; indem er deren Trennung überwindet, steht er über dem Geschlechtlichen. Diesen Gedanken bindet Humboldt in seinem ersten Aufsatz in eine Naturphilosophie ein, die das Leben als eine Wechselwirkung gegensätzlicher zeugender und empfangender Kräfte fasst. Innerhalb dieses Zusammenspiels kann man ein männliches und ein weibliches Prinzip ausmachen, die jeweils beide Kräfte in sich vereinigen, aber im ersten Falle belebend, im zweiten beseelend wirken. Hier nun beginnt der Unterschied der Geschlechter. Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Was von der erstern belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles Männliche zeigt mehr Selbsttätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit.89

Humboldt postuliert, sowohl das Ideal menschlicher Vollkommenheit als auch der Schönheit sei unter beiden Geschlechtern so verteilt, dass jeweils eines der beiden überwiegt. In seinem zweiten Aufsatz Über die männliche und weibliche Form von 1795 deutet er die »dignitas« ästhetisch und phänomenal als das, was sich in der Erscheinung als »formositas« oder »Oberherrschaft der Form« und als »kunstmäßige Bestimmtheit der Züge« darbiete. Die »venustas« sei hingegen die »freie Fülle des Stoffes« und die »leibliche 87

Schiller, NA Bd. 35, S. 181. Brief an Körner vom 18. Mai 1794, NA 27, 112. 89 Wilhelm von Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur (1795), S. 319. 88

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Anmut der Züge«90: »[D]ie höchste und vollendete Schönheit erfordere nun nicht »bloße Vereinigung«, sondern das genaueste Gleichgewicht der Form und des Stoffes der Kunstmäßigkeit und der Freiheit, der geistigen und sinnlichen Einheit«. Diese »erhält man nur, wenn man das Charakteristische beider Geschlechter in Gedanken zusammenschmelzt und aus dem innigsten Bunde der reinen Männlichkeit und der reinen Weiblichkeit die Menschlichkeit bildet.91 Diese Umdeutung und Ausweitung der »dignitas« zur »formositas« findet Eingang in Schillers Gedicht Würde der Frauen, in seinen Aufsatz über die naive und sentimentalische Dichtung92 und in die Entgegensetzung von Form- und Stofftrieb in den ästhetischen Briefen. Schluss

Schiller hält das, was Kant unter dem Namen »Würde« thematisiert, für »falsche Dignität«, weil Kant mit Würde nicht Charakterschönheit verbinde, sondern Zwang. Indem Schiller auf die alte ästhetische Problemstellung, die Rolle und persona des Menschen in der Gesellschaft betreffend, zurückkommt, revidiert er auch ein allzu ambitioniertes rechtlich-politisches Programm, akzentuiert dessen ästhetisch-ethische Grundlagen und räumt der Kunst und Literatur eine zentralere Bedeutung für die Ausbildung einer ganzheitlichen Menschheit und für die Vermittlung demokratischer Werte ein. Zugleich kommt Schiller auch der alten und alltagssprachlichen Bedeutung von Würde näher. Er begreift Würde als eine ästhetisch-moralische, personale, aber auch situative Eigenschaft. Diese ist in solchen Situationen gefordert, in denen der Mensch gerade nicht in der Lage ist, sich zu beherrschen. Auch dann muss es möglich sein, den eigenen Charakter unter Beweis zu stellen. In der Tat benutzen wir die Vokabel meistens eben in den Kontexten, die Schiller beschreibt: wenn wir davon sprechen, in Würde zu leiden, zu altern, zu sterben. Dieser Appell an die eigene Würde lädt uns in diesem Kontext dazu ein, der Natur Kraft und Widerstand entgegenzusetzen oder, falls dies nicht möglich sein sollte, den Lauf der Natur und die Abnahme der eigenen Kräfte mit »Würde« oder einer gewissen Fassung – mit Stil – zu akzeptieren.

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Humboldt, Über die männliche und weibliche Form, S. 335 f. Ebd. 92 Siehe auch Brief an Humboldt vom 25. Dezember 1795, NA Bd. 28, S. 145. 91

Schluss

D  

ie Bedeutung des Menschenwürdebegriffs für die deutschen Aufklärung erschließt sich erst, wenn man den weiteren anthropologischen und kosmologischen Rahmen mit in den Blick nimmt. Wie ich in diesem Buch zeigen wollte, erschöpft sie sich nicht in der Forderung nach einer allgemeinen Ehrbarkeit aller Menschen, nach Recht, Freiheit, Autonomie, Gleichheit und Toleranz, sondern betrifft immer auch die Bestimmung der Spezies Mensch und deren Verhältnis zu einem Höheren. Dem Menschen ist es zwar aufgegeben, sich selbst zu ehren ; er gibt sich aber nicht selbst allein über sein Vermögen der Zwecksetzung einen Wert und eine Würde, sondern erhält diesen Wert erst über die Reflexion auf den eigenen Standort, Charakter und Weltbürgerstatus in einem größeren funktionalen Zweck-Mittel-Gefüge und über die Erfahrung der Welt und Natur in ihrer Erhabenheit. Dieser Gedanke ist nun weder ästhetisch und nebensächlich noch religiös und im Prinzip überkommen1, und er ist den in diesem Buch zu Wort gekommenen Autoren gemeinsam. Die Varianten ergeben sich aus dem Rückgriff auf verschiedene alte Denktraditionen. Hier präsentiert Kant zweifellos trotz all jenen Dimensionen seines Würdebegriffs, die ihn von seinen Zeitgenossen trennen, die konsequenteste dieser Varianten.2 Gerade indem er mit dem Essentialismus seiner Vorgänger abschließt, die Würde noch mit einem Wesen und einer Gottebenbildlichkeit gleichzusetzen3, und indem er direkt auf die eigentliche Bedeutung von Menschenwürde als ein Weltbürgertitel und ein Amt in der Welt zurückkommt, denkt er eigentlich das Modell in größter Konsequenz. Im Grunde und den transzendentalen Illusionen der Vernunft ungeachtet spiegelt die Welt nicht die Vernunft Gottes, sondern die des Menschen. Die Quelle ihrer Erhabenheit liegt auch im menschlichen Selbst. Das bedeutet, dass der Mensch sich von seinem Standort aus die Welt 1 George Kateb, der als einer der wenigen die Frage der Menschenwürde von dieser Perspektive her stellt, in der Erhabenheit kein Attribut Gottes, sondern der von uns bewohnten Welt und Erde ist, fasst diesen Sachverhalt sehr gut zusammen: »The purpose is […] to know and admire nature for its own sake: to treat it not as what can be used and wasted but as if it had incomparable value just by being what is not human […]« George Kateb, Human Dignity, Cambridge MA, Belknap Press of Harvard University Press, 2011, S. 118. 2 Vgl. wiederum Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant. 3 Kants Anti-Essentialismus nimmt bestimmte Einsichten Sartres, Foucaults und Heideggers vorweg. Vgl. hierzu auch Patrick Frierson, What is the Human Being ?, Abingdon, New York, Routledge, 2013.



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so vorstellen können muss, als ob sie ihm eine zweckmäßige Wohnstätte, ein Haus und ein Gemeinwesen sein könne, in dem er einen Standort und Platz auf einer ganz besonderen Stufenleiter, eine Würde und ein von ihm selbst zu vollbringendes Amt innehat. Die Originalität, Bedeutung und das Potential dieses kantischen Menschenwürdegedankens ist aus vielen Gründen beeindruckend. Ihre Rekon­ struk­tion wirft ein neues Licht auf Kant selbst als ein Kind seiner Zeit und als ein furchtloser und kreativer Denker, der den alten Würdegedanken auf neue und bahnbrechende Grundlagen stellt, der sein philosophisches Potential ganz neu herauskehrt und zugleich mit den aufgeworfenen Fragen ein Leben lang kämpft. Diese Konsequenz und Tiefe führt ihn innerhalb des gleichen kosmopolitischen Rahmens zur Widerlegung und Umkehrung mehrerer alter und insbesondere politischer Thesen. Diese Auslegung zeigt auch die große Offenheit und Fruchtbarkeit des alten Modells, dem Kant einige römische und imperialistische Züge abstreift und das er für seine Zeit fruchtbar macht. Der Gedanke eines menschlichen Vorrechts ergibt sich hier aus einer besonderen Verantwortung für die Schöpfung, die wiederum in einem bestimmten »Charakter« menschlicher Angemessenheit und Tauglichkeit zu allerlei Zwecken begründet liegt. Es zeigt sich auch die Singularität von Kants Würdebegriffs, der sich entgegen der Argumente von Macklin und Pinker gerade nicht auf den klassischen Autonomiebegriff zurückführen lässt. Kants Würdevorstellung ist keine stoische Autarkie, kein absolutes Verfügenkönnen über das eigene Leben, sondern eine relationale Autonomie, die eine gewisse »Heiligkeit des Lebens« und Erhabenheit der Natur keineswegs ausschließt.4 Eine solche Autonomie und Selbstgesetzgebung muss von der eigenen Partizipation in einer höheren Natur- und Weltordnung und Menschheit her gedacht werden, derer wir im Sinne eines höheren Maßstabs bedürfen. Folgt aber daraus, dass Kants Menschenwürde- und Weltbürgermodell das konsequentere Modell ist, auch, dass es das bessere Modell ist ? Diesen Schluss Kants, der selbst damit die Hoffnung verbindet, den Pluralismus von Philosophien und Ideen von Würde auf eine einzige zurückzuführen,5 muss man nun 4 Vgl. zum Beispiel John Christman, »Relational Autonomy. Liberal Individualism, and the Social Constitution of Selves«, in: Philosophical Studies n° 117, 2004, S. 143–164 ; Catriona Mackenzie, Natalie Stoljar (Hg.), Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency and the social Self, New York, Oxford University Press, 2000. Véronique Fournier, »La bonne autonomie est celle qui ouvre la voie du lien«, in: Le principe d’autonomie en éthique clinique 10 ans plus tard. Coordonnée par Eric Favereau et Véronique Fournier, Centre d’éthique clinique de l’hôpital Cochin, März 2016, S. 9–16. 5 Zur Pluralität der kulturellen und rechtlichen Würdebegriffe, der damit verbunde-

Schluss

nicht unbedingt und nicht uneingeschränkt ziehen. Dies zeigen zum einen die kritischen Kommentare. Sowohl Garve als auch Forster und Schiller deuten auf Schwierigkeiten, die sich aus der philosophischen Neubestimmung des alten Begriffes ergeben, die seine in der »populären« Alltagssprache und älteren philosophischen Tradition bestehende Mehrdeutigkeit künstlich auf eine einzige Bedeutung reduziert. Zum andern entwickeln die vorkantischen Zeitgenossen auch wichtige Alternativen. So setzen Mendelssohn und Herder die Würde des Menschen einfach in die theoretische und ästhetische Betrachtung der Welt und leiten aus dieser kein Amt und Vorrecht als rechtmäßiger Eigentümer, Anlieger und Bewohner der Welt ab. Diese Position ist vorsichtiger und durchaus bedenkenswert. Kants Vorgänger und Zeitgenossen schlagen außerdem ein innovatives und modernes Programm der Humaniora vor, das eine ethischästhetische Erziehung zur Humanität und Geselligkeit bietet und das den politischen Institutionen zur Grundlage dient. In diesem Rahmen wird Humanität auf interpersonale Bande – Liebe und Anerkennung, amiabilitas und respectabilitas – hin gedacht. Es betrifft das Vermögen, dem anderen entgegenzukommen und empathische Bande zu knüpfen. Wie es Adam Smith und nach ihm Lessing herausheben, sind dabei der Vorstellungskraft des Einzelnen, durch die er sich an die Stelle des anderen versetzt, Grenzen gesetzt, sodass die Wahrung von »Würde« als der Versuch gesehen werden kann, sich »aufzurichten« und eine bestimmte äußere Erscheinung zu wahren, um diese Entfernung zu überbrücken. Dieser Gedanke enthält eine bedeutende hermeneutische, ästhetische und narrative Dimension, weil es gilt, sich in einen Charakter hineinzulesen oder einzufühlen. Er erweist sich als sicherlich ebenso wichtig für die heutige medizinische Ethik wie Kants Begriff, weil er das ausdrückt, worum es hier meistens geht. Denn wenn wir von Altern oder Sterben mit Würde sprechen, denken wir an die menschlichen Bande, die es zu bewahren gilt. Dieser aufklärerische Gedanke von Würde kann außerdem als eine Bereicherung der gegenwärtigen Debatte betrachtet werden, die zumeist Würde nur mit einer Forderung nach Anerkennung assoziiert ; diese engere rechtliche Perspektive lässt sich schon bei Fichte und Hegel beobachten, und sie setzt sich bis zu Axel Honneth in die dritte Generation der kritischen Theorie hinein fort.6 Indem die Aufklärer Würde mit einem Bedürfnis nen intrinsischen Schwierigkeiten und Möglichkeiten vgl. auch McCrudden, Understanding Human Dignity, S. XI. 6 Vgl. auch Markus Rothhaar, »Menschenwürde qua Autonomie und Anerkennung: Kant und Fichte«, in: Menschenwürde und Medizin: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Duncker & Humblot, 2013, S. 73–97.

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332 Schluss

nach Anerkennung und Liebe verbinden, nehmen sie manchmal von Anfang an einen alternativen und weiteren Standpunkt ein als wir heute. Man sieht, dass der Widerstand, mit dem seine Zeitgenossen Kant begegnen, große, tiefe, schwierige Fragen aufwirft. Es soll aber hier reichen, diese Fragen zu formulieren. Denn unsere Absicht lag, wie eingangs erwähnt, zunächst einfach darin, eine Sprache wieder besser zu verstehen, die wir noch in Bruchstücken sprechen. Wenn diese Rekonstruktion der aufklärerischen Sprache uns außerdem helfen kann, den Weg zu den großen Fragen, ihrer Formulierung und ideengeschichtlichen Entwicklung zurückzufinden, ist das schon einmal nicht ganz schlecht. Denn von da aus kann es leichter sein, darüber nachzudenken, welche Argumente und Überzeugungen uns noch heute ein Anliegen sein können und sollen und wie wir uns über diese Anliegen mit anderen verständigen.

Dank

Dieses Buchprojekt wurde von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung über ein 18-monatiges Forschungsstipendium und einen Druckkostenzuschuss unterstützt. Der Stiftung sowie meinen beiden Gastgebern Philip van der Eijk in Berlin und Heiner Fangerau in Düsseldorf sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Gedankt sei auch der Universität Paris 8 Saint-Denis und der Université Paris Lumières für die finanzielle Unterstützung der Buchpublikation. Einige Materialien und Kapitel, die in diesem Buch enthalten sind, wurden bereits separat publiziert. Das gilt für mehrere Vorarbeiten und zusammenfassende Darstellungen auf Englisch1, Französisch 2 und Deutsch3 und für das Kapitel 2, das ich unter dem Titel »Mischwesen und Metamorphosen. Herder und die Entomologie seiner Zeit« auf der 2021 von Nigel DeSouza organisierten Internationalen Tagung der Herdergesellschaft in Ottawa vorgestellt habe und das derzeit bei De Gruyter im Druck ist. Eine englische Fassung von Kapitel 4 mit dem Titel »Philoctetes at the Edge of Humanity: The German Enlightenment on Social Exclusion and the Education of Feeling« befindet sich in dem von Ansgar Lyssy und mir herausgegebenen Sammelband, Humanity and Humankind in the Philosophy of the Enlightenment. From Locke to Kant (Bloomsbury Press, 2023). Teile der Kapitel 3 und 5 sind schließlich unter dem Titel »Menschenwürde: Die Kontroverse zwischen Garve und Kant« in dem von Udo Roth und Gideon Stiening herausgegebenen Sammelband Christian Garve (1742–1798): Philosoph und Philologe der Aufklärung publiziert (De Gruyter, 2021). Eine Übersetzung ins Englische mit dem Titel »Human Dignity. The Garve-Kant Controversy« ist 2023 bei de Gruyter erschienen. Mehrere Kapitel habe ich außerdem vorab in Seminaren und auf Workshops vorstellen können. Bei dieser Gelegenheit habe ich wertvolle kritische Kommentare von meinen Kolleginnen und Kollegen erhalten, die mit 1 »Kant on human dignity«, in: Kantian Moral Philosophy in Context, hg. v. Stefano Bacin und Oliver Sensen, Cambridge, Cambridge University Press, im Druck. 2 »Dignité« und »Humanité« (mit Philippe Hamou), in: Dictionnaire de l’Humain, hg. v. Anne Lefebvre, Albert Piette, Anne Raulin, Isabelle Rivoal und Jean-Michel Salanskis, Paris, Presses Universitaires de Paris Ouest, 2018, S. 127–133 und 245–252. 3 Vgl. insbesondere den Artikel »Bestimmung und Perfektibilität: Menschenwürde in der Aufklärung«, in: Mario Brandhorst / Eva Weber-Guskar (Hg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, Frankfurt, Suhrkamp, 2017, S. 179–205. »Menschenwürde. Kant, Cicero und Garve«, in: Natur und Freiheit, Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner, Berlin/Boston, Walter de Gruyter, 2018, S. 2643–2650.



334 Dank

in die Arbeit eingeflossen sind. Mein besonderer Dank gilt hier Frederick Beiser, Christian Berner, Mario Brandhorst, Fabienne Brugère, Philippe Büttgen, Danièle Cohn, Nigel DeSouza, Elisabeth Décultot, François Duchesneau, Corey Dyck, Michel Espagne, Michael N. Forster, Nicolas Foureur, Patrick Frierson, Stephen Gaukroger (†), Andree Hahmann, Geert Keil, Katharina Kraus, Christian Leduc, Ansgar Lyssy, Charlotte Morel, Jean-Paul Paccioni, Anne Pollok, Tinca Prunea-Bretonnet, Tobias Rosenfeld, Jean-Michel Salanskis, Oliver Sensen, Céline Spector, Martha Spranzi, Gideon Stiening, Márcio Suzuki, François Thomas, Johan van der Zande, Jean-Baptiste Vuillerod, Marcus Willaschek, Eva Weber-Guskar, Allen Wood, Falk Wunderlich, allen langjährigen Kollegen und Freunden der Pariser Sapere-aude Arbeitsgruppe zur Philosophie des 18. Jahrhunderts und meinen Kollegen und Studierenden von der Universität Paris 8 Saint-Denis. Gedankt sei auch Ulla Hansen vom Felix Meiner Verlag für ihre Unterstützung und die große editorische Hilfe bei der Vorbereitung des Buchmanuskripts. Ich hatte das Glück, immer von einer Vielzahl von Menschen umgeben zu sein, die mich geliebt, ermutigt und bei meinen Projekten unterstützt haben. Dazu gehört mein Vater, der dieses Projekt in allen Phasen aus nächster Nähe begleitet hat und der seinen Abschluss nicht mehr miterleben durfte. Sein wissenschaftliches Ethos, seine Demut und seine Menschlichkeit haben mich zutiefst geprägt. Mein Dank gilt schließlich meiner Familie, meinen Kindern Noé, Jules, Ariel und Charles für ihre Geduld mit mir und Philippe für seine große Liebe und Weisheit.

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