Kant und die Französische Revolution [1 ed.] 9783428431571, 9783428031573


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German Pages 284 Year 1974

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Kant und die Französische Revolution [1 ed.]
 9783428431571, 9783428031573

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PETER BURG

Kant und die Französische Revolution

Historische Forschungen

Band 7

Kant und die Französische Revolution

Von

Dr. Peter Burg

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rerhte vorbehalten

@ 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1974 bei Bartholdy & Klein, Berlin 65 Printed in Germany

ISBN 3 428 03157 1

Meinen Eltern Meiner Frau

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist durch ein historisches Seminar an der Universität des Saarlandes über "Die Deutschen und die Französische Revolution" angeregt worden. Sie ist als Beitrag zu diesem Thema gedacht, in dem es um die Bestimmung der Wirkung der Revolution auf die deutsche Geschichte geht. Mit Kant widmet sie sich einer Person, deren Reaktion auf die Revolution große Bedeutung für die Meinungsbildung in Deutschland zuerkannt und häufig als typisch für das Verhalten der Deutschen bezeichnet wird. Zum Verständnis der Reaktion rekurriert die Untersuchung eingehend auf Kants Geschichts- und Rechtsphilosophie, aus deren Sicht die Revolution beurteilt wird. Dadurch reiht sie sich in den Kreis juristischer, politikwissenschaftlicher und philosophischer Forschungen ein, die sich mit Kants politischem Denken befassen, einem Thema, das in jüngster Zeit steigendes Interesse gefunden hat. Die Arbeit lag im Sommersemester 1973 der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, als Dissertation vor und wurde zum Druck geringfügig verändert. Sie wurde von Herrn Professor Dr. Karl-Georg Faber angeregt und betreut, dem ich für Rat, Kritik und Förderung zu besonderem Dank verpflichtet bin. Desgleichen habe ich Herrn Professor Dr. Karl-Heinz I!ting für seine Beratung zu danken. Als Lehrer für Geschichte und Philosophie haben sie zu meiner Ausbildung grundlegend beigetragen. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Historische Forschungen" danke ich Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann. Saarbrücken, im Dezember 1973

Peter Burg

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

Erster Teil Kants geschicbtsphilosophische Beurteilung der Französischen Revolution

32

I. Kapitel: Die Ursachen der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . .

38

1. Die Französische Revolution als Wirkung der Natur . . . . . . . . . . . .

38 42 45 50 58

a) b) c) d)

Der Das Die Die

Mechanismus der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glückstreben als Naturtrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Die Französische Revolution als Wirkung von Freiheit . . . . . . . . . . 62 a) Die Kausalität durch Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Der Fortschritt der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 c) Der Fortschritt der Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Die ideengeschichtliche Herkunft Kants und der Fr anzösischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Kapitel: Die Französische Revolution als Heilsgeschehen . . . . . . . . . .

95

III. Kapitel: Erkenntnis und Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Exkurs: Die Begriffe "Revolution", "Evolution" und "Reform" .... . ... . . 115 Zusammenfassende Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Zweiter Teil Kants rechtsphilosophische Beurteilung der Französischen Revolution I. Kapitel : Naturrecht und Revolution

123 126

II. Kapitel: Staat und Gesellschaft in der Französischen Revolution .. .. 141 1. Das Recht der Gesellschaft . . ... ..... . .. ... .. . . . . .. . . . . . . . . .. . . .. 147

2. Die Macht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Die Konstruktion und Funktion des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Die Souveränitä t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Inhaltsverzeichnis

10

c) Die Gewaltenteilung . . .................. . ............... . ... 185 d) Das Widerstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Exkurs: Die Begriffe "Souverän", "Staatsoberhaupt" und "Oberhaupt" ............... .. ............... .. ........... . ... .. ..... 215 3. Die Herkunft der Rechtslehren Kants und der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Kapitel : Völker- und Weltbürgerrecht in der Französischen Revolution .. ............... . . .. ....... . ....... .. .............. .. ...... 238 Zusammenfassende Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Schluß ..... .. .............. . . .. ............... ... ...... . ....... . ...... 268 Literaturverzeichnis

271

Einleitung Mit dieser Arbeit soll ein Beitrag zu dem historischen Forschungsgebiet "Deutschland und die Französische Revolution" geliefert werden. In dieses Gebiet gehören nicht nur die militärischen Operationen und politischen Beziehungen zwischen Frankreich und dem ohne nationale Geschlossenheit auftretenden Deutschland in der Revolutionszeit, sondern auch die ideelle Ausstrahlung der Revolution und die durch diese Ausstrahlung ausgelöste geistige Reaktion der Deutschen. Die vorliegende Untersuchung, deren Gegenstand Kants Reaktion auf die Französische Revolution ist, ist dem letzteren Bereich zuzuordnen. Die Erforschung der Reaktion der Deutschen auf die Französische Revolution ist für die Historie von Interesse, da sich diese Reaktion in einen Kontext geschichtlicher Prozesse von eminenter Wirksamkeit stellen läßt. Dazu gehören insbesondere folgende drei Prozesse, die als Bezugsrahmen der Untersuchung verwandt werden sollen: Die deutsche Verfassungsgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist gekennzeichnet durch eine Entwicklung, in der die Reste des vom Mittelalter überkommenen Feudalismus abgebaut werden und sich ein demokratischer Staat etabliert. Diese Entwicklung wird getragen von einer trotz Rückfällen kontinuierlich wachsenden Politisierung der Gesellschaft, die ihren Ausdruck in der Bildung von Parteien und deren wachsender Integration in den Staat (bzw. vor 1871 in die deutschen Klein- und Mittelstaaten) findet. Die völlige Integration ist erst in der Gegenwart erreicht; wenn man aber der Entstehungsgeschichte der Parteien nachgeht, muß man bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. Das gegenwärtige politische System der Bundesrepublik Deutschland steht in einer Tradition, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang hat. Zur Bildung politischer Parteien kommt es in Deutschland zwar erst im 19. Jahrhundert, aber schon Ende des 18. Jahrhunderts werden Parteiungen im politischen Denken sichtbar. Die Vorgeschichte der wichtigsten späteren Parteien, die auch den für diese Untersuchung relevanten Zeitraum umfaßt, ist von Valjavec zusammenfassend dargestellt worden1 • Indem er in seinem Buch der Frage nachgeht, ob die Fran1 Valjavec, Fritz: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland. 1770- 1815, München 1951.

Einleitung

12

zösische Revolution zur Ausbildung und Profilierung "politischer Strömungen" beigetragen habe, insbesondere zum liberalen, demokratischen und konservativen Denken, und diese Frage positiv beantwortet2 , bringt er die Reaktion der Deutschen in den Kontext der Parteigeschichte. Mit diesem Verfahren liefert er ein methodisches Modell, das für die vorliegende Untersuchung übernommen werden kann. Konsequenzen für die deutsche Verfassungsgeschichte hat wie die Entstehung von Parteien ein zweiter Vorgang, der ebenfalls seinen Impuls von der Politisierung der Gesellschaft erhält. Vom 18. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erfährt das Nationalbewußtsein in Deutschland eine stetige Steigerung. Dieser Prozeß führt im 19. Jahrhundert zur politischen- wenn auch kleindeutschen- Einheit der Nation und im 20. Jahrhundert zu einer nationalen Selbstüberhebung, die in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges endet und die vorher errungene Einheit wieder zerstört. Im 18. Jahrhundert kommt das nationale Denken nicht völlig neu auf, sondern steht neben einem mindestens gleichgewichtigen weltbürgerlichen Denken. Das Gleichgewicht beginnt sich um die Jahrhundertwende zu Lasten des letzteren zu verschieben. Aus dem harmonischen Nebeneinander der beiden Denkweisen wird eine Konkurrenz um Vorherrschaft. Dieser Vorgang ist von Meinecke dargestellt worden•. Das Denken führender Vertreter des deutschen Geisteslebens und der Politik wird von ihm analysiert. Dem Einfluß der Französischen Revolution auf die Entwicklung nationalen Denkens gilt sein besonderes Augenmerk. Er spricht von einer "fruchtbare(n) Zeit der Revolution und der Befreiungskriege"'. Damit wird der Reaktion der Deutschen auf die Revolution Bedeutung für den Prozeß des kontinuierlich wachsenden nationalen Denkens zuerkannt. Ein dritter Prozeß, der vom 18. bis zum 20. Jahrhundert reicht, ist ein in Deutschland stärker als im westlichen Ausland zum Durchbruch kommender Wandel der Weltanschauung, bei dem der Historismus mit seiner Annahme einer weitgehenden Geschichtlichkeit des Menschen an die Stelle des Rationalismus mit seiner Annahme einer im wesentlichen gleichbleibenden und erforschbaren Natur des Menschen tritt. Der Historismus entsteht im 18. Jahrhundert als Gegenbewegung gegen den Rationalismus, erringt im 19. Jahrhundert in Deutschland die Vorherrschaft und gerät im 20. Jahrhundert in eine Krisis, die noch nicht Valjavec I 11. Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat, 1907; zitierte Auflage: ed. H. Herzfeld, 9. Aufl., Darmstadt 1969. Ein Mangel der Untert

3

suchung ist ihre Beschränkung auf die geistige Elite. 4 Meinecke I 25. Die Bemerkung zeigt, daß der Autor selbst unter dem Einfluß nationalen Denkens steht.

Einleitung

13

überwunden ist. In der Gegenwart wird ein Standpunkt gesucht, der zwischen Historismus und Rationalismus vermittelt. Als Weltanschauung beeinflußt der Historismus auch einzelne Wissenschaftsbereiche, so z. B. Rechts- und Geschichtswissenschaft. Das historische Rechtsdenken tritt neben das Naturrechtsdenken, die individualisierende Geschichtsbetrachtung neben die pragmatisch-generalisierende. Auch zur Entstehung des Historismus hat Meinecke das grundlegende Werk verfaßt6 • Wenn der Historismus für ihn eine der größten geistigen Revolutionen abendländischen Denkens ist8 , so wird seine Befangenheit für diese Geistesbewegung deutlich. Diese Bewegung hat nach Meinecke eine eigenständige, mit Leibniz einsetzende Entwicklung7, die durch die Französische Revolution einen Impuls zur weiteren Entfaltung erhält, aber nicht erst ins Leben gerufen wird. In der Reaktion der Deutschen auf die Französische Revolution spiegelt und profiliert sich der Wandel, der das Gewicht vom Rationalismus zum Historismus verlagert8• Die Voraussetzung zur Bestimmung der Wirkung der Französischen Revolution auf diese geschichtlichen Vorgänge ist die Darstellung der Reaktion der Deutschen auf dieses Ereignis. In diese Darstellung gehört die Analyse folgender Komplexe: 1. des theoretischen Konzepts, das der Reaktion zugrunde liegt, 2. der eventuellen Entwicklung dieses Konzepts, um den Impuls der Revolution auf die Entwicklung festzustellen, 3. der Herkunft des Konzepts, um den Einfluß der Revolution von sonstigen Quellen scheiden zu können, 4. der Herkunft und Entwicklung der in der Französischen Revolution zur Geltung gelangenden Theorien, um einen Vergleich mit der deutschen Entwicklung durchführen zu können.

Obwohl nur die ersten drei Themen unmittelbar zum Verständnis der Reaktion der Deutschen auf die Französische Revolution beitragen, 6 Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus, 1936; zitierte Auflage: ed. C. Hinrichs, 4. Aufl., München 1965. Den Historismus in der deutschen Geschichtswissenschaft hat u. a. Iggers dargestellt: Iggers, Georg G.: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschiehtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971. Die englische Originalfassung ist 1968 erschienen. Über das Verhältnis von Naturrecht und Geschichte hat Leo Strauss, allerdings ohne Rekurs auf die deutsche Geistesgeschichte, ein Werk verlaßt, das sich der Entstehung des Historismus im Rechtsdenken widmet: Strauss, Leo: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956.

s 1

8

Meinecke li 1. Meinecke li 2. Iggers 57 f. Zum Einfluß der Revolution auf Herder und Goethe: Meinecke

li 432

und 485 ff.

Einleitung

14

ist das vierte Thema für die Forschung nicht weniger von Interesse, da von ihm Aufschluß darüber zu erwarten ist, ob das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland unter anderem auf eine unterschiedliche Entwicklung des politischen Denkens in Deutschland und Frankreich zurückzuführen ist. Diese Frage wird von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart immer wieder gestellt. Das wichtigste Werk über die Reaktion der Deutschen auf die Französische Revolution stammt von dem französischen Historiker Jacques Droz9• Die Aufgabe, die sich Droz vorrangig stellt, ist die Begründung des Faktums, daß es in Deutschland nicht zu einer Revolution kam, mit der Trennung von Intelligenz und Politik10• Die Begründung des Ver• haltens der D€utschen mit dem Dualismus von Intelligenz und Politik, Geist und Wirklichkeit, der die Deutschen in eine Gedankenwelt flüchten lasse und das Handeln in der konkreten politischen Wirklichkeit lähme, steht in einer Tradition, die zu Marx und Regel hinführt. In Kants Philosophie spiegelt sich nach Marx das Denken der deutschen Bourgeoisie. Kants Unterscheidung von rein€m und empirischem Willen und die Abwertung des letzteren entspreche dem Verzicht der Bourgeoisie, seine materiellen Interessen zu verwirklichen. Diese Tendenz setze sich im Hegelianismus fort 11 • Das Urteil von Marx ist Bestandteil 9 Droz, Jacques: L'Allemagne et la Revolution Fran!;aise, Paris 1949. In deutscher Sprache liegt eine Zusammenfassung dieses Buches vor: Deutschland und die Französische Revolution, Wiesbaden 1955. Mit Droz' Werk sind die älteren Monographien von Stern und Gooch überholt: Stern, Alfred: Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart 1928; Gooch, George P.: Germany and the French Revolution, London 1920, 2. Aufl. 1965. Mit der Beschränkung der Darstellung der Reaktion auf eine kleine Gruppe deutscher Geistesgrößen fällt das 1954 erschienene Buch von Boucher hinter das von Droz zurück: Boucher, Maurice: La Revolution de 1789 vue par les Ecrivains Allemands ses Contemporains, Paris 1954. Das Interesse der italienischen Forschung an diesem Thema zeigt der Forschungsbericht von Verra, Valerio: La Rivoluzione francese nel pensiero tedesco dell'Epoca, in: Filosofia, 20. Jg., 1969, S. 411-440. Neben den zahlreichen Studien über das Verhalten einzelner Personen oder Personengruppen in der Revolutionszeit gibt es zusammenfassende Darstellungen neueren Datums über die Gruppe der radikalen Revolutionsanhänger, die deutschen Jakobiner: Scheel, Heinrich: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962; Grab, Walter: Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der Französischen Revolution (=Hamburger Studien zur neueren Geschichte, Band 8), Frankfurt 1967.

Droz I 3. Marx, Karl I Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 1845146; zitierte Ausgabe: Marx, Karl I Engels, Friedrich: Werke Band 3, Berlin 1962. Das Zitat befindet sich im Abschnitt über den politischen Liberalismus S. 176 - 180. 10 11

Einleitung

15

der sozialistisch oder marxistisch orientierten Historiographie geworden. An einen Sozialisten, Jean Jaures, knüpft Droz mit seiner These an12 ; die These fehlt auch in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik nicht13• Schon Regel wertet die deutsche Reaktion als bloß geistige Revolution ab14. Das Werturteil der auf Marx zurückgehenden Tradition fällt noch negativer aus, so daß selbst Hegels Haltung als dualistisch kritisiert wird. Das Verhalten der Deutschen wird unpolitisch bzw. politisch rückständig genannt15. Die von Regel bis zur Gegenwart akute Frage, ob das politische Denken der Deutschen am Ende des 18. Jahrhunderts einer revolutionären Aktion im Wege gestanden habe, läßt sich als methodische Anregung in die Darstellung einbeziehen. Die Antwort auf diese Frage ist überprüfbar. Anders verhält es sich mit dem sich daran anknüpfenden Werturteil über politische Reife, dem die Entscheidung vorausgeht, die Französische Revolution als Maßstab festzulegen. Es ist vom historisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus nichts dagegen einzuwenden, die Französische Revolution als Bezugs- und Vergleichspunkt zu wählen und von einer relativen Rückständigkeit der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland zu sprechen, wenn dies ohne Wertung geschieht18. Wird aber ein Wertmaßstab angelegt, so darf ein Konsens 12 Droz li 4. Jean Jaures war Professor der Philosophie, 1893- 1898 und 1902- 1904 Mitglied der französischen Kammer. Er war Befürworter einer

deutsch-französischen Verständigung und Pazifist, weshalb er Opfer eines politischen Attentats wurde. 13 Scheel 699 zitiert Marx als Gewährsmann. 14 Zu Hegels philosophischem Verständnis der Revolution und der Bedeutung der Revolution für Hegels Philosophie: Ritter, Joachim: Hegel und die französische Revolution ( = Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften Heft 63. Heinz Heimsoeth zum 70. Geburtstag), Köln und Opladen 1957. Ferner der Aufsatz: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, in: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, ed. Fr. Kaulbach und J. Ritter, Berlin 1966, S. 331 - 351. Hier wird Hegels These erläutert, in Deutschland sei die Revolution im Geist, in Frankreich in der Wirklichkeit erfolgt (334). 15 Unpolitisch zu sein wird besonders von ausländischen Forschern bisweilen als deutscher Wesenszug verstanden, der bis in die jüngste Vergangenheit seine Relevanz gezeigt habe. So z. B. in dem Aufsatz von Stern, Fritz: Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen, in: Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870- 1918, ed. M. Stürmer, Düsseldorf 1970, S. 168 - 186. Der Aufsatz ist zuerst in englischer Sprache erschienen: The Political Consequences of the Unpolitical German, in: History, 3. Jg., 1960, S. 104- 134. Die These vom unpolitischen Deutschen dringt auch bei Droz I 3 durch. 18 Dieser methodische Standpunkt schließt sich an Karl-Georg Faber an, der in seinem Buch: Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971, einen Überblick über die Diskussion des Themas .,Maßstäbe und Werte" in der modernen Wissenschaftstheorie gibt (S. 165 - 182).

16

Einleitung

nicht erwartet werden, da hierdurch Subjektivität und Relativität in die Forschung eingehen17• Eine befriedigende Darstellung der Reaktion der Deutschen auf die Französische Revolution nach den oben konzipierten methodischen Richtlinien ist noch nicht vorhanden. Sie kann erst gelingen, wenn genügend Einzelstudien vorliegen, die aufgrund ihrer thematischen Einengung ihren Forschungsgegenstand adäquater analysieren können. Als eine solche Einzelstudie ist die vorliegende Untersuchung über Kants Reaktion auf die Französische Revolution gedacht. Diese Untersuchung ist für die Forschung von besonderem Interesse, da sie keiner Randfigur der Zeit gewidmet ist. Es wurde schon erwähnt, daß Marx in Kants Philosophie das Pendant der deutschen Bourgeoisie zur Französischen Revolution sah. Kant gilt aber nicht nur als Typus des deutschen Bürgertums der Revolutionszeit1s, sondern auch als eine das Denken der Deutschen maßgeblich beeinflussende Autorität1e. Eine Überprüfung dieser Thesen kann nur im Rahmen einer Gesamtdarstellung erfolgen und hier nicht zur Aufgabe gemacht werden, wohl aber wird die Grundlage einer Überprüfung durch die Interpretation von Kants Reaktion geschaffen. Damit diese Interpretation Vorarbeit für eine Gesamtdarstellung nach obigem Entwurf sein kann, müssen die leitenden Fragen, unter denen Kants Reaktion analysiert wird, identisch sein mit den oben unter Bezug auf die Reaktion der Deutschen im allgemeinen angegebenen Fragen. Auf Kant bezogen lauten sie: Wie ist das theoretische Konzept beschaffen, das der kantischen Reaktion zugrundeliegt? In welcher historischen Tradition steht Kant? Wie verhält sich Kants Denkweise zur zeitgenössischen französischen? An die Antworten auf diese Fragen kann sich dann die Überlegung anschließen, ob es, wenn Kants Einstellung in Deutschland allenthalben verbreitet gewesen wäre, eher zu einer Revolution gekommen wäre. Ferner ist mit der Interpretation der Reaktion Kants die Frage nach 17 Ein Beispiel dafür, wie die Wahl eines anderen Maßstabes zu einem anderen Urteil über den Stand des deutschen politischen Denkens zur Zeit der Revolution führt, ist die Abhandlung von Stadelmann, Rudolf: Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: derselbe: Deutschland und Westeuropa. Drei Aufsätze, Schloß Laupheim- Württemberg 1948, S. 11-33. Die spätabsolutistischen Staaten Friedrichs des Großen und Josephs II. sieht Stadelmann als die vor der Französischen Revolution fortschrittlichsten Staaten Europas (26). Politisch dachten nach ihm auch die deutschen Anhänger des Aufgeklärten Absolutismus (24). Er macht die Reife des politischen Denkens nicht von der sich in Wort und Tat äußernden Zustimmung zur Revolution abhängig. Stadelmann ist sich der Relativität seines Standpunktes bewußt, wenn er erklärt, in der Verwirklichung der Revolutionsideale sei Deutschland zurückgefallen (28), womit er für die Folgezeit diese Ideale als Maßstab zugrunde legt. 18 Scheel 699. 1' Droz I 170.

Einleitung

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seinem Standort in der sich abzeichnenden Parteiung des politischen Denkens, in dem Prozeß der Entfaltung des historistischen auf Kosten des rationalistischen und des nationalen auf Kosten des weltbürgerlichen Denkens zu verbinden. Trotz seiner Wichtigkeit hat das Thema "Kant und die Französische Revolution" noch keine angemessene Darstellung gefunden. Aus dem Bereich philosophischer Forschung liegen zwei ältere Aufsätze und eine 1971 erschienene Aufsatzfolge vor, die die Grundlage eines Symposiums amerikanischer Gelehrter über das Thema "Kanton Revolution" bildete. Vorländer2 o stellt Kants Äußerungen über die Französische Revolution in chronologischer Folge dar, wobei er in der systematischen und besonders der historischen Interpretation oberflächlich bleibt. Schrecker21 verzichtet unter Berufung auf Vorländer darauf, alle Äußerungen Kants über die Französische Revolution zusammenzutragen22. Der Vorwurf einer oberflächlichen Kommentierung bisweilen seitenlanger Zitate23 ist auch ihm zu machen. Über Vorländer geht der Aufsatz darin hinaus, daß der Einfluß kantischer Philosophie in Frankreich dargestellt wird24• Im Mittelpunkt der veröffentlichten Symposiumsaufzeichnungen stehen die Aufsätze von Beck und Axinn25• Obwohl Becks Aufsatz nicht direkt Kants Reaktion auf die Französische Revolution gewidmet ist, so ist diese doch ständig Bezugspunkt. Axinn behandelt die Souveränitätslehre und ihren Bezug zu den Stellungnahmen zur Französischen Revolution. Die beiden Aufsätze übertreffen die älteren Arbeiten in der systematischen Analyse, d. h. in der Interpretation der kantischen Reaktion von ihrer theoretischen Grundlage her. Allerdings erfolgt die Interpretation aus einer eingeengten Perspektive, der Lehre vom Revolutionsrecht bzw. der Souveränitätslehre. Eine historische Einordnung der Lehren wird nicht vorgenommen. In dem gerade erschienenen Essay von Puder26 liegt keine wissen20 Vorländer, Kar!: Kants Stellung zur französischen Revolution, in: Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag (7. Juli 1912) dargebracht, Berlin 1912, S. 247 - 269. 21 Schrecker, Paul: Kant el la Revolution Fran~aise, in: Revue Philosophique de la France et de l'Etranger, 128. Band, 1939, S. 394 - 425. 21 Sehrecker 396. 23 z. B. Sehrecker 406 - 408. 24 Sehrecker 410 - 416. Der Einfluß war gering. 25 Beck, Lewis W.: Kant and the Right of Revolution, in: Journal of the History of Ideas, 32. Jg., 1971, S. 411- 422; Axinn, Sidney: Kant, Authority, and the French Revolution, ebenda S. 423- 432. An Axinns Aufsatz schließen sich die Kommentare von Atwell und Dyke (S. 433 - 440) an. 26 Puder, Martin: Kant und die Französische Revolution, in: Neue Deutsche Hefte, 20. Jg., 1973, S. 10- 46.

2 Burg

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Einleitung

schaftliehe Behandlung des Themas vor. Der Aufsatztitel "Kant und die Französische Revolution" bringt Inhalt und Absicht der Schrift ungenügend zum Ausdruck. Mit dem Essay will Puder "durch ein Hin und Her der historischen und philosophischen Blickwinkel neues Licht auf den Zusammenhang von Theorie und Praxis" werfen27 • Von Kant ist in diesem weitgesteckten Unterfangen nur an wenigen Stellen die Rede; sein Verhältnis zur Französischen Revolution wird flüchtig charakterisiert. Die aufgeführten Einzelstudien unterscheiden sich in ihrem Gehalt nicht wesentlich von den Karrt-Interpretationen in den Gesamtdarstellungen der Historiker Gooch, Droz und Boucher28• Da die vorhandenen Arbeiten sowohl methodisch als auch gehaltlieh unzureichend sind, ist die erneute Aufnahme des Themas ein Forschungsdesiderat. Die für die Bearbeitung des Themas zentralen Quellen sind Kants Äußerungen über die Französische Revolution, da im Ausgang von ihnen das Verhältnis zur Revolution zu rekonstruieren ist und sich an deren Interpretation erst die Beantwortung der oben formulierten Fragen anschließen kann. Kant hat der Revolution keine eigene Schrift gewidmet; seine Stellungnahmen sind in seinem Spätwerk zerstreut und beziehen sich teils auf partielle Erscheinungen der Revolution, teils auf die Revolution insgesamt. Als Gesamturteile über die Französische Revolution kann man nur zwei bezeichnen; die eine Stelle befindet sich in einer edierten Schrift, in "Der Streit der Fakultäten" (1798)29 , die andere im handschriftlichen 27 28

Puder 45. Gooch 260- 282; Droz I 153 -170; Baueher 114-122.

29 Der Streit der Fakultäten, Königsberg 1798, S. 142 -151. Abgekürzte Zitierweise der Schrift: "Streit". Kants Schriften werden nach den Originalausgaben zitiert, A vor einer Seitenzahl bedeutet erste Auflage, B zweite. Durch diese Zitierweise können außer in Weischedels Kant-Studienausgabe (Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, ed. W. Weischedel, Darmstadt 1966), die die Seitenzählung der Originalausgaben wiedergibt, auch in anderen Editionen, die diese Zählung angeben, die zitierten Stellen aufgefunden werden. Ein Hilfsmittel zum Auffinden von Zitaten in den wichtigsten Kant-Editionen stellt folgendes Buch dar: H i nske, Norbert I Weischedel, Wilhelm: Kant-Seitenkonkordanz, Darmstadt 1970. Der Seitenkonkordanz liegen allerdings nur die Schriften zugrunde, die in Weischedels Ausgabe enthalten sind. Schriften, die in dieser Ausgabe nicht enthalten sind, w erden nach der Akademie-Ausgabe zitiert: Kant's gesammelte Schriften, ed. König!. Preußische Akademie der Wissenschaften (Band I- XVI), ed. Preußische Akademie der Wissenschaften (Band XVII- XXII), ed. Deutsche Akademie der Wissenschaften (Band XXIII ff.), Berlin und Leipzig 1910 ff. Diese Edition gliedert das Opus des Philosophen in drei Abteilungen: Werke (Band I- IX), Briefe (Band X- XIII) und Nachlaß (Band XIV ff.). Der Nachlaß ist noch nicht vollständig ediert. In der Lesa rt folgt vorliegende Untersuchung Weischedels bzw. der Akademie-Ausgabe. Kursive Zitate sind im Original gesperrt gedruckt.

Einleitung

19

Nachlaß30 • Wie ein Textvergleich zeigt, handelt es sich um Parallelstellen. Die edierte Fassung ist sprachlich und inhaltlich von höherer Qualität und somit die wichtigste Quelle für die Interpretation von Kants Verhältnis zur Französischen Revolution. Die in der Schrüt enthaltene Stellungnahme erfolgt aus zwei zwar ineinander übergehenden, aber doch unterscheidbaren Perspektiven: einer geschichtsphilosophischen und einer rechtsphilosophischen. Kants Reaktion auf die Französische Revolution, die aus den übrigen Quellen zu rekonstruieren ist, läßt sich diesen Perspektiven zuordnen. Dem positiven Gesamturteil steht eine unterschiedliche Wertung der Einzelerscheinungen gegenüber. Zur Zeit der konstitutionellen Monarchie (1789 - 1792) liegen positive Stellungnahmen vor. In der "Kritik der Urteilskraft" (1790) spricht Kant von der neuen Verwaltungsorganisation in Frankreich, deren Zweckzusammenhang er mit dem Zweckzusammenhang in der Natur in Analogie bringt31 • Er befürwortet, daß der Verwaltungsapparat in Frankreich dem Bürger dienen will und nicht umgekehrt. In "Die Metaphysik der Sitten" (1797/1798) wird die Übernahme der staatlichen Macht durch die französische Nationalversammlung als legal bezeichnet, wobei von der These ausgegangen wird, der Monarch habe dem Volk die Souveränität übertragen32• Eine weitere Stelle in der "Metaphysik", die sich erst in der zweiten Auflage befindet, verteidigt die Säkularisation des kirchlichen Besitzes in Frankreich als rechtens, da in weltlichen Dingen die Kirche dem Staat untergeordnet sei3s. Die Urteile über Ereignisse aus der Zeit der demokratischen Republik (1792 -1794) sind negativ. Die Hinrichtung Lu:dwigs XVI. am 21. Januar 1793 wird in einer Fußnote der "Metaphysik" scharf verurteilt34. Die Fußnote kommentiert das Verbot eines Widerstandes des Volkes gegenüber dem Souverän. In der "Anthropologie in pragmati30 Reflexion zur Rechtsphilosophie 8077, Akademie-Ausgabe XIX 603- 609; 1795-1799. Die Reflexionen zur Rechtsphilosophie befinden sich in der Akademie-Ausgabe XIX, 1934, S. 443-613. Sie werden abgekürzt zitiert: RR mit der jeweiligen Nummer, Bandangabe, Seitenzahl und der Entstehungszeit. Die Entstehungszeiten der im handschriftlichen Nachlaß enthaltenen Texte sind von den Herausgebern in quellenkritischer Methode mit mehr oder weniger Sicherheit erschlossen worden. 31 Kritik der Urteilskraft, Berlin und Libau 1790 (= A); 2. Aufl., Berlin 1793 ( = B). Die zitierte Stelle: A 290. 32 Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797 (= A); 2. Aufl., Königsberg 1798 (= B). Abgekürzte Zitierweise: "Metaphysik". Die zitierte Stelle: A 213 f . Hierzu gibt es eine Parallelstelle im handschriftlichen Nachlaß: RR 8055 XIX 595 f.; 1789 - 1795. ss Metaphysik B 179 f. 34 Metaphysik A 177 - 180.

2'

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scher Hinsicht" (1798) wird die Tätigkeit des Wohlfahrtsausschusses, die Phase der revolutionären Diktatur unter Robespierre, als unrecht erklärt35 • Zur Zeit der bürgerlichen Republik (1794- 1799) liegen positive Werturteile vor. Im "Streit" wird das Direktorium als ausführendes Organ des Konvents bezeichnet, das die Wahl der Mittel nach den von der Vernunft gesetzten Zwecke treffe, d. h. entsprechend der vernünftigen Gesetzgebung des Konvents regiere311• Im Nachlaß wird die Direktorialverfassung wegen der Abhängigkeit des Direktoriums von den Repräsentanten des Volks positiv beurteilt37• Kants letzte erwähnenswerte Stellungnahme ist ein Kommentar zum Ägyptenfeldzug Napoleons in den Jahren 1798/179938 • Dieser Kommentar zeigt seine Parteinahme für Frankreich und sein Interesse an konkreten politischen und militärischen Ereignissen. Zur Machtübernahme Napoleons hat Kant kein Urteil mehr gefällt, was wohl auf seinen geistigen und physischen Verfall in seinen letzten Lebensjahren zurückzuführen ist. Die Entstehungszeit der negativen und positiven Urteile zeigt keine zeitliche Aufeinanderfolge, sondern ein zeitliches Nebeneinander dieser Urteile. Kant schwankt nicht in der Weise, daß er zu einer bestimmten Zeit nur Kritik übt und zu einer anderen nur bejaht. Die Differenz in der Wertung entspringt der Differenz der Sachverhalte, auf die Bezug genommen wird. Aus der unterschiedlichen Bewertung einzelner Ereignisse und Phasen der Revolution kann nicht der Schluß gezogen werden, Kant habe in seinem Urteil über die Revolution insgesamt geschwankt, da die Einzelurteile eine solche Generalisierung nicht erlauben. Andererseits kann von dem vorhandenen positiven Gesamturteil aus nicht darauf geschlossen werden, dieses Urteil sei beständig gewesen, da es nicht mit dem autobiographischen Bekenntnis verbunden ist, es sei immer vertreten worden. Daß eine Konstanz anzunehmen ist, ist aus den biographischen Zeugnissen zu schließen, von denen noch zu sprechen sein wird. Wie die partiellen Urteile dem Gesamturteil zuzuordnen sind, muß die Interpretation der Stellungnahmen von ihren theoretischen Grundlagen her zeigen. Die Stellungnahmen zur Französischen Revolution haben eine theoretische Grundlage (Kants Rechts- und Geschichtsphilosophie), die in 35 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. 215. Abgekürzte Zitierweise: "Anthropologie". ae Streit A 166. 37 RR 8077 XIX 606; 1795-1799. Kant unterscheidet nicht zwischen den beiden Ratsgremien, dem Rat der Fünfhundert und dem Rat der Alten. as Akademie-Ausgabe XII 381.

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vielen Fällen der Kontext bildet39• Wo dies nicht der Fall ist, muß die zugehörige Grundlage aus dem übrigen Schriftturn entnommen werden. Die Einbeziehung des theoretischen Konzepts in die Darstellung ist nicht nur zur systematischen Interpretation der Stellungnahmen erforderlich, sondern auch, weil jedes Konzept eine Stellungnahme zur geschichtlichen Wirklichkeit und damit auch zur Französischen Revolution ist. Die Darstellung der Entwicklung der einzelnen Theoreme, die neben der systematischen Interpretation von Interesse ist, da sie der Bestimmung des Einflusses der Revolution auf das theoretische Konzept dient, verlangt die Einbeziehung auch des vorrevolutionären Schrifttums. Von den Schriften aus der Zeit vor der Französischen Revolution ist an erster Stelle die "Idee zu einer allgerneinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) zu nennen40• In der "Idee" formuliert Kant seine Geschichtsphilosophie, wobei die Rechtsgeschichte im Mittelpunkt steht. Für die vorrevolutionäre Zeit liegt hier die maßgebliche Konzeption vor. Der Aufsatz, der sich dem Begriff der Aufklärung widrnet41 , ist ebenfalls von geschichtsphilosophischern Interesse, da in ihm ein Postulat aufgestellt wird (das Mündigwerden der Menschheit), das den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen soll. Die Mehrzahl der für die Untersuchung relevanten Schriften ist nach 1789 verfaßt. Die "Kritik der Urteilskraft", deren Anliegen die Ergänzung der beiden früheren Kritiken42 zum Zwecke der Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ist, entfaltet in zwei Paragraphen Kants Geschichtsphilosophie, und zwar in einer sonst nirgend in gleicher Vollständigkeit vorhandenen Systematik. In § 83: "Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems" handelt Kant von der kulturellen und staatlichen Entwicklung und in§ 84: "Von dem Endzwecke des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst" von der sittlichen Entwicklung48 • 38 Der Standort der Stellungnahmen ist oft peripher. In der "Kritik der Urteilskraft" handelt es sich um eine Anmerkung, in der "Metaphysik" um eine Anmerkung (A 177 - 180), ein durch Einrücken gekennzeichnetes Exempel, wobei die Einrückung nicht Hervorhebung, sondern Parenthese bedeutet (A 213 f.), und eine Reflexion im Anhang (B 179 f.). 40 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Berlinische Monatsschrift, November 1784, S. 385 - 411. Abgekürzte Zitierweise: "Idee". 41 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 481-494. Abgekürzte Zitierweise: "Aufklärung". 42 Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 (= A); 2. Aufl., Riga 1787 (= B). Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788. 43 Kritik der Urteilskraft A 383- 394.

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In "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (1793) verteidigt Kant die Theoretiker, die die Prinzipien der Moral, des Staats- und Völkerrechts aus der Vernunft herleiten, gegen die Empiriker, die die Gültigkeit solcher Prinzipien aus der Erfahrung ableiten wollen. Projiziert man diese These auf den Zeithintergrund, so gewinnt der Aufsatz an Interesse, denn die Französische Revolution wandte sich gegen Überkommenes, Theorie stand gegen herkömmliche Praxis. Besonders für das rechtsphilosophische Urteil Kants über die Revolution bildet diese Schrift eine Interpretationsgrundlage44 • Die Schrift "Zum ewigen Frieden" von 179545 ist eine Synthese von Rechts- und Geschichtsphilosophie. Die Realisierung der idealen rechtlich-politischen Ordnung, die durch die Rechtsphilosophie zu konzipieren ist, wird als Grundbedingung der Realisierung des Ziels der Rechtsgeschichte, des ewigen Frieden, gesehen; dieses Ziel ist eine geschichtsphilosophische Konzeption. Den Zeithintergrund dieser Schrift bildet der gegen Frankreich geführte erste Koalitionskrieg, aus dem Preußen 1795 nach dem Friedensschluß von Basel ausgeschieden war. Die Frage einer dauernden Friedenssicherung war von akutem Interesse48 • Die "Metaphysik" ist nur in ihrem ersten Teil, der Rechtslehre, für das Thema relevant. Hier findet die Rechtsphilosophie ihre systematische Darstellung, weshalb sie für den rechtsphilosophischen Teil der theoretischen Grundlage in Kants Urteil über die Französische Revolution als Quelle besonders qualifiziert ist. Dieses Werk war schon lange vor der Revolution geplant, nach Natorp bereits in den 60er Jahren47 • Der "Streit" schließlich hat nicht nur Bedeutung wegen des in ihm enthaltenen Gesamturteils über die Französische Revolution, sondern auch als theoretische Schrift. Die Stellungnahme befindet sich nämlich 44 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Berlinische Monatsschrift, September 1793, S. 201-284. Abgekürzte Zitierweise: "Gemeinspruch". Die Schrift kann auf Kants Verständnis der Revolution bezogen werden, auch wenn er sie namentlich gegen die Lehren der Popularphilosophen der Aufklärung Garve und Mendelssohn und gegen Hobbes richtet. Den Bezug stellte schon Biester, der Herausgeber der "Berlinischen Monatsschrift", her in Brief 596 XI 456; 5. 10. 1793. 45 Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795 (= A); 2. Aufl., Königsberg 1796 (= B). Abgekürzte Zitierweise: "Frieden". 48 Daneben war sie jedoch auch durch eine jahrhundertealte Tradition vorgegeben. Zu dieser Tradition: Raumer, Kurt von: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg I München 1953. 47 Natorp, Paul: Kommentar zur "Metaphysik" in der Akademie-Ausgabe VI 517.

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innerhalb eines zur Geschichtsphilosophie gehörenden Gedankengangs. Der zweite Abschnitt, der von den drei Abschnitten dieser Schrift fast ausschließlich für das Thema relevant ist, handelt vom Ziel der Geschichte, genauer von der Frage, ob es einen Fortschritt in der Geschichte gebe. Das Ziel, auf das der Fortschritt bezogen wird, ist das Ziel der Geschichte schlechthin, nicht wie im "Frieden" das Ziel der Rechtsgeschichte. Die Französische Revolution läßt sich aufgrund dieser Schrift auf das geschichtsphilosophische Theorem des Ziels der Geschichte projizieren. Stärker als für die übrigen Schriften waren für die Entstehungsgeschichte des "Streit" zeitgeschichtliche Faktoren von Bedeutung. Die Schrift ist 1798 erschienen, aber die drei Abschnitte, aus denen sie besteht, sind nach Kants eigenen Worten "in verschiedener Absicht, auch zu verschiedenen Zeiten" geschrieben worden und waren nicht von vornherein dazu bestimmt, in einer Abhandlung zu erscheinen. Ihre systematische Einheit stellte er zu einem späteren Zeitpunkt als dem der Niederschrift fest48• Nach Vorländer ist der erste Abschnitt etwa 1794 entstanden, der zweite, in dem sich die Stellungnahme zur Französischen Revolution befindet, 1797, der dritte 179849 • Die beiden ersten Abschnitte sind nicht ohne Grund erst 1798, nach dem Tode Friedrich Wilhelms II., erschienen. Der Grund war die unter Friedrich Wilhelm III. erfolgte Auflockerung der Zensurbestimmungen. Der Regierungswechsel, mit dem die von dem Theologen Wöllner maßgeblich beeinflußte antiaufklärerische Politik beendet wurde, wurde von Kant nicht zuletzt deshalb freudig begrüßt50. Der erste Abschnitt der Schrift konnte wegen seines theologischen Inhalts nach der Maßregelung durch Wöllner51 und der auferlegten Schweigepflicht nicht ediert werden. Der zweite Abschnitt wurde von Biester am 23.10.1797, also kurz vor dem Tode Friedrich Wilhelms li., bei der Zensurbehörde eingereicht, erhielt aber keine Druckgenehmigung62 • Dieser Abschnitt, der wohl erst bei der Endredaktion als "Streit der Philosophischen Fa•s Streit A XVI f. •e Vorländer, Karl: Kommentar zum "Streit" in der Akademie-Ausgabe VII 337 f. 50 Streit A XXV. Das Ende des "Wöllnerschen Regiments" wurde nach Braubach über den Kreis der Aufklärer hinaus als positive Wendung verstanden: Braubach, Max: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, in: Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte Band 3, ed. H. Grundmann, 8. Aufl., Stuttgart 1960, S. 32. Formell wurde das Zensuredikt nicht aufgehoben. Zu diesem Edikt und seiner Wirkung vgl. Valjavec, Fritz: Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch, 72. Jg., 1953, S. 386-400. 5t Abgedruckt im "Streit" A IX. 52 Vorländer: Kommentar zum "Streit" VII 339.

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kultät mit der Juristischen" betitelt wurde53, nachdem der systematische Zusammenhang zum vorangehenden Abschnitt entdeckt worden war, kann nur wegen des überschwenglich-positiven Urteils über die Französische Revolution Anstoß erregt haben, denn die Beantwortung der Frage nach dem Fortschritt der Menschheit, die im Untertitel formuliert ist, wurde schon im "Gemeinspruch" und im "Frieden" ohne Beanstandung aufgeworfen5'. Von der Diskriminierung und Repression der Revolutionsanhänger berichtet Kant selbst55 ; die Zurückweisung seiner Schrift ist ein Exempel dafür. Nach den von Kant edierten Schriften ist als Quellengruppe von geschichts- und besonders rechtsphilosophischer Relevanz noch der handschriftliche Nachlaß zu erwähnen, der zahlreiche Reflexionen enthält, die für die Entstehungsgeschichte der kantischen Philosophie erhellend sind, so etwa die Reflexionen zur Rechtsphilosophie, die aus den letzten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stammen58• Waren schon die Verfasser der Aufsätze über Kants Verhältnis zur Französischen Revolution keine Historiker, so ist auch das Gebiet der Rechts- und Geschichtsphilosophie keine Domäne der Historiker, sondern der Philosophen und Juristen. Was dem Historiker auffällt, wenn er die Literatur zu diesem Gebiet sichtet, ist die große Zahl von Arbeiten, die den Systemzusammenhang von Kants Theorie darstellen, ohne nach der Entwicklung oder geistesgeschichtlichen Herkunft zu fragen, oder dies in ungenügendem Maße tun. Diesen Mangel zeigen auch die neueren Untersuchungen, die den älteren meist in der Analyse des Denksystems überlegen sind. Der Quantität nach überwiegen Einzelstudien, die Teilaspekte der Rechts- und Geschichtsphilosophie behandeln. Darstellungen der Rechts- und Geschichtsphilosophie allgemeiner Art gibt es relativ wenige. 53 Dieser Titel stellt wie der "Gemeinspruch" zwei Positionen gegenüber, die der Theoretiker und die der Praktiker, von denen erstere ihr Wissen von der Vernunft, letztere von der Erfahrung herleiten. Die Juristen sind nach Kant Apologeten des Bestehenden. 54 Gemeinspruch A 281 f.; Frieden A 104. 55 Streit A 144 f. 58 Neben den Reflexionen zur Rechtsphilosophie sind zu erwähnen: Erläuterungen Kants zu G. AchenwaUs Iuris naturalis pars posterior, AkademieAusgabe XIX, 1934, S. 323 - 442. Nachfolgend werden sie wie vom Herausgeber zu den rechtsphilosophischen Reflexionen gerechnet. Reflexionen zur Moralphilosophie, Akademie-Ausgabe XIX, 1934, S. 1- 317; abgekürzte Zitierweise: RM. Reflexionen zur Religionsphilosophie, Akademie-Ausgabe XIX, 1934, S. 616- 654; abgekürzte Zitierweise: RRel. Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AkademieAusgabe XX, 1942, S. 1 -192; abgekürzte Zitierweise: Bemerkungen zu den Beobachtungen. Reflexionen zur Anthropologie, Akademie-Ausgabe XV, 2, 1923, S. 55- 654; abgekürzte Zitierweise: RA. Vorarbeiten zum Gemeinspruch, Akademie-Ausgabe XXIII, 1955, S. 125 - 144.

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Zur Geschichtsphilosophie seien drei Arbeiten genannt: Die Monographie von Menzer bezieht, unter dem Einfluß des Historismus stehend, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund ein, ohne allerdings die Herkunft der Theoreme im einzelnen zu bestimmen57• Das geschieht in der Dissertation von Weyand, in der Kants Verhältnis zur Popularphilosophie der Aufklärung detailliert dargestellt wird58• Sie hat aber zwei andere Mängel: Der Bezug zur theoretischen und praktischen Philosophie ist nicht gebührend aufgewiesen, und auf die Abhängigkeit von bedeutenden Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts wird zu wenig eingegangen. Der Aufsatz von Fackenheim handelt lediglich von der Systematik in Kants Geschichtsphilosophie69 • Die deutschen Arbeiten zur Rechtsphilosophie sind meist älteren Datums und von eingeengter Thematik: Lisser handelt vom Rechtsbegriff60, Haensel vom Widerstandsrecht81, Dulckeit von Naturrecht und positivem Recht62. Neuere Monographien liegen von Christian Ritter und Saage vor, von denen die eine zeitlich auf die Rechtsphilosophie bis 1775 eingeengt ist, die andere thematisch auf die Lehre über das Verhältnis von Eigentum, Staat und Gesellschaft63. Diese Schriften gelten wie die neueren und umfassenderen Werke der italienischen Gelehrten Bobbio64 und Pasini65 vornehmlich der Systematik und weniger der Geschichte der kantischen Rechtslehre. Das Interesse ausländischer Gelehrter an Kant zeigt auch das Schrifttum über Kants politisches Denken, das in Geschichts- und Rechtsphilosophie aufgeht. Neben der älteren deutschen Arbeit von Borries'6 liegen in französischer 57 Menzer, Paul: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, Berlin 1911. 58 Weyand, Klaus: Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung(= Kantstudien. Ergänzungsheft 85), Köln 1964. 59 Fackenheim, Emil L.: Kant's Concept of History, in: Kantstudien, 48. Jg., 1956, s. 381 - 398. 60 Lisser, Kurt: Der Begriff des Rechts bei Kant (= Kantstudien. Ergänzungsheft 58), Berlin 1922. 61 Haensel, Werner: Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie (= Kantstudien. Ergänzungsheft 60), Berlin 1926. 62 Dulckeit, Gerhard: Naturrecht und positives Recht bei Kant (= Abhandlungen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen. 14. Heft), Leipzig 1932. 63 Ritter, Christian: Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen ( = Juristische Abhandlungen Band X), FrankfurtiM. 1971; Saage, Richard: Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1973. 64 Bobbio, Norberto; Diritto e stato nel pensiero di Ern. Kant, Turin 1957. 65 Pasini, Dino M.: Diritto, societa e stato in Kant (= Publicazioni dell'Instituto di Filesofia del Diritto dell'Universita di Roma 7), Rom 1957. 66 Borries, Kurt: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Leipzig 1928 (Neudruck 1973).

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Sprache zwei Bücher vor: eine umfassende Monographie von Vlachos61 und eine Essaysammlung namhafter Gelehrter68 • Aus der großen Zahl der Einzelstudien sollen nur Schriften zu zwei Themengruppen angegeben werden. Das Verhältnis von Rechts- und Geschichtsphilosophie zur Ethik stellen Dünnhaupt und Dörpinghaus, der hierzu den Gesellschaftsbegriff analysiert, dar69• Zur Herkunft der Ethik hat Schmucker eine Monographie verfaßt7°, die wegen der Seltenheit historisch ausgerichteter Arbeiten wertvoll ist. Ein Thema, das sich großen Interesses erfreut, ist Kants Lehre über Krieg und Frieden. Die Quelle, die für diese Untersuchungen im Mittelpunkt steht, ist der "Frieden". Monographien haben Natorp, Baumann, Nieschmidt und Saner verfaßt, Jaspers einen Aufsatz71 • Aktualität hat das Thema in jüngster Zeit durch die zur Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme ins Leben gerufene Friedensforschung gewonnen. Auf dieses 87 Vlachos, Georges: La Pensee Politique de Kant. Metaphysique de l'ordre et dialectique du progres, Paris 1962. Auch in dieser Arbeit wird der Systemzusammenhang von Geschichts- und Rechtsphilosophie zu stark auf Kosten der Darstellung von Entwicklung und historischer Herkunft Kants in den Vordergrund gestellt. Die Beziehung zur kritischen Philosophie erhält keine genügende Berücksichtigung. 88 La Philosophie Politique de Kant (= Annales de Philosophie Politique 4), Paris 1962, mit Beiträgen von: Weil, Eric: Kant et le problerne de la politique, S. 1- 32; Ruyssen, Theodore: La philosophie de l'histoire selon Kant, S. 33- 51; Villey, Michel: Kant dans l'histoire du droit, S. 53 -76; Hassner, Pierre: Situation de la philosophie politique chez Kant, S. 77 -103; Bobbio, Norberto: Deux notions de la liberte dans la pensee politique de Kant, S. W5 -118; Beck, Lewis W.: Les deux concepts kantiens du vouloir dans leur contexte politique, S. 119- 137; Friedrich, Carl J.: L'essai sur la paix. Sa position centrale dans la philosophie morale de Kant, S. 139 - 161; Polin, Raymond: Les relations du peuple avec ceux qui le gouvernent d'apres Kant, S. 163- 187. Ein Forschungsbericht zu Kants politischer Theorie, der sich einigen der genannten Schriften, allerdings unter besonderem Aspekt, widmet, liegt vor von Saage, Richard: Besitzindividualistische Perspektiven der politischen Theorie Kants, in: Neue Politische Literatur, 17. Jg., 1972, S. 168-193. 89 Dünnhaupt, Rudolf: Sittlichkeit, Staat und Recht bei Kant. Autonomie und Heteronomie in der Kantischen Ethik, Diss. Greifswald 1926; Dörpinghaus, Wilhelm: Der Begriff der Gesellschaft bei Kant. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Rechts- und Geschichtsphilosophie zur Ethik, Köln 1959. 70 Schmucker, Josef: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen (= Monographien zur philosophischen Forschung Band XXIII), Meisenheim 1961. 71 Natorp, Paul: Kant über Krieg und Frieden. Ein geschichtsphilosophischer Essay, Erlangen 1924; Baumann, Hans: Kants Stellung zu dem Problem von Krieg und Frieden. Eine rechts- und geschichtsphilosophische Studie, Diss. München 1950; Nieschmidt, Gerd-Peter: Praktische Vernunft und ewiger Friede. Eine Untersuchung zum Freiheitsbegriff in der Philosophie Kants, Diss. München 1965; Saner, Hans: Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Band 1: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken, München 1967; Jaspers, Karl: Kants "Zum ewigen Frieden", in: derselbe: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze, München 1958, S. 97- 135.

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aktuelle Interesse gehen die beiden Aufsätze von Freudenberg und Timm zurück72• Die Verbindung von Kant-Interpretation mit aktuellen zeitgeschichtlichen Fragen ist nicht neu73 ; analog dazu dient bisweilen ein kantisches Theorem als Denkmodell zur Klärung wissenschaftlichmethodischer Probleme74 • Die Kant-Literatur beantwortet die Frage nach der ideengeschichtlichen Herkunft der kantischen Theoreme ungenügend. Die Lücke läßt sich durch umfassende Darstellungen der Aufklärungsphilosophie mit dem Vorbehalt schließen, daß die Herkunftsbestimmung stark hypothetisch bleibt. Sofern diese Werke sich dem abendländischen Denken widmen, sind sie der Antwort auf eine weitere Frage des Themas dienlich, nämlich der nach Beschaffenheit und Tradition des zeitgenössischen französischen Denkens. Werke dieser Art haben Cassirer, Hazard und Valjavec geliefert75 • Insbesondere den Beziehungen zwischen deut72 Freudenberg, Günter: Kants Lehre vom ewigen Frieden und ihre Bedeutung für die Friedensforschung, in: Studien zur Friedensforschung Band 1, ed. G. Picht und H. E. Tödt, Stuttgart 1969, S. 178- 208; Timm, Hermann: Wer garantiert den Frieden? über Kants Schrift "Zum ewigen Frieden", ebenda S. 209 - 239. 73 Sie liegt beispielsweise in folgenden Aufsätzen von Julius Ebbinghaus vor: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage (= Philosophie und Geschichte 23), Tübingen 1929; Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 50. Jg., 1964, S. 23-55. Beide Aufsätze sind wieder abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze und Reden, Darmstadt 1968, S. 24- 57 und S. 161 - 193. Nach der Neuausgabe wird zitiert. 74 In den beiden nachstehend angegebenen Aufsätzen von Oertzen und Plessner geht es nicht darum, eine kantische Schrift bzw. einen kantischen Begriff systematisch zu interpretieren, d. h. den Bezug zu seiner Philosophie herzustellen, sondern kantische Theoreme werden als Folie zu sich mehr und mehr verselbständigenden eigenen Überlegungen benutzt. Oertzen gelangt hierbei in soziologische Reflexionen über Theorie und Praxis, Plessner in anthropologische über Personalität (Ichbewußtsein) und Individualität (Ichhaftigkeit), auf deren Spannung er die "ungesellige Geselligkeit" zurückführt. Oertzen, Peter von: Kants "Über den Gemeinspruch" und das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Politik, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für G. Leibholz zum 65. Geburtstag, ed. K. D. Bracher u. a., 2 Bände, Tübingen 1966, Band 1, S. 369-381. P~essner, Helmuth: Ungesellige Geselligkeit. Anmerkungen zu einem Kantischen Begriff, ebenda s. 383-392. 75 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932; Hazard, Faul: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Harnburg 1949; Va~javec, Fritz: Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien 1961. Nur auf Deutschland bezogen ist: Meyring, Diethild Maria: Politische Weltweisheit. Studien zur deutschen politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, Diss. Münster 1965. Meyring handelt insbesondere von den Popularphilosophen. Obwohl jüngeren Datums ist weniger wertvoll: Gay, Peter: The Enlightenment: An Interpretation, 2 Bände, London 1967/1970.

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scher und französischer Aufklärung gelten die Untersuchungen von Krauss 16• An allgemeinen Darstellungen zur französischen Aufklärung sind das Buch von Groethuysen und eine Sammlung von Aufsätzen ostdeutscher Historiker zu nennen77• Werke zu den Staatstheorien der Revolutionszeit, wie sie von Redslob, Loewenstein und Göhring vorliegen, zeigen nicht nur den Zusammenhang von Aufklärung und Revolution, sondern können zur Bestimmung des Grades der Übereinstimmung der Revolutionsideale mit Kants Urteil über die Französische Revolution und dem zugrunde liegenden theoretischen Konzept dienen78 • Für die Zeit der Revolution ist es möglich und angebracht, auf Quellen zurückzugehen, und zwar die französischen Verfassungen", in denen das politisch-rechtliche Denken jeder Revolutionsphase maßgeblichen Ausdruck findet. Zur Interpretation von Kants Stellungnahmen zur Französischen Revolution tragen die zeitgenössischen biographischen Mitteilungen, deren Besprechung oben ausgespart worden war, durch Kennzeichnung mehr äußerlicher Symptome bei80• Über die Kontinuität von Kants 76 Krauss, Werner: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963. 17 Groethuysen, Bernhard: Philosophie der Französischen Revolution (= Politica Band 32), Neuwied und Berlin 1971. Der Titel des Buches impliziert, da sein Inhalt die Philosophie der Aufklärung und Revolution umfaßt, die These, daß es einen Kausalzusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution gibt. Die ostdeutsche Aufsatzsammlung: Grundpositionen der französischen Aufklärung (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, ed. Werner Krauss und Hans Mayer, Band 1), Berlin 1955, enthält Beiträge von: Baumgarten, Kuczynski, Mayer, Naumann, Niepage, Bahnerund Markov. 78 Redslob, Robert: Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789. Ihre Grundlagen in der Staatslehre der Aufklärungszeit und in den englischen und amerikanischen Verfassungsgedanken, Leipzig 1912; Loewenstein, Karl: Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, München 1922 (Neudruck Aalen 1964); Göhring, Martin: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich (Vom Mittelalter zu 1789), Tübingen 1947. Von Göhring liegt auch eine umfassende Darstellung der Revolution vor: Geschichte der Großen Revolution, 2 Bände, Tübingen 1950/51. 7g Sie sind abgedruckt in: Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, ed. G. F.ranz, 2. Aufl., München 1964: Constitution Fran~aise, 1791, S. 302- 371; Constitution de la Republique Fran~aise, 1793, S. 372-397. Ferner ist für die Untersuchung von Belang: Virginia Bill of Rights, 1776, s. 6-11. 80 Hierzu zählen vor allem folgende Biographien: Borowski, Ludwig Ernst: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant's. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt, Königsberg 1804, Neuausgabe: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski, Darmstadt 1968, S. 1 -115; Jachmann, Reinhold Bernhard: Immanuel Kant, geschildert in

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Sympathie mit der Französischen Revolution, auf die aus seinen schriftlichen Äußerungen nicht mit Sicherheit geschlossen werden konnte, lassen sich dank den Kant-Biographien gewissere Aussagen machen. Nach Metzger, der mit seiner Biographie einer Glorifizierung des kantischen Charakters durch Aufzählung negativer Eigenschaften und Handlungen entgegenwirken wollte, hatte Kant freimütig und unerschrocken, auch in 'Zeiten, wo dies gefährlich war, "viele Jahre hindurch" die Revolution positiv beurteilt. Metzger, der hiermit einen negativen Charakterzug angegeben zu haben glaubt, schränkt allerdings ein, er wisse nicht, ob dies bis zuletzt geschehen sei81• Als letzte Lebensjahre sind wohl die Jahre nach 1798 gemeint. Aus dieser Zeit liegt keine Deutung der Revolution mehr vor. Ein Schwanken nach 1798 ist unwahrscheinlich, da auch die übrigen Biographen nur von einer, und zwar einer positiven Meinung über die Revolution sprechen82• Die negativen Urteile zu partiellen Ereignissen und Phasen der Revolution haben folglich nicht zu einer Aufhebung des positiven Gesamturteils geführt. Die literarischen Stellungnahmen Kants zur Französischen Revolution spiegeln nur zum Teil das Interesse des Philosophen. Was sie nicht zeigen, ist das starke Informationsbedürfnis hinsichtlich politischer Ereignisse und die Beliebtheit dieser Ereignisse als Gesprächsgegenstand. Während der Revolutionszeit war Kants Neugier auf politische Nachrichten nach Jachmann "in manchen kritischen Zeitpunkten" so stark, "daß er der Post wohl meilenweit entgegengegangen wäre". Es Briefen an einen Freund, 1804, ebenda S. 117- 212; Wasianski, E. A. Ch.: Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beytrag zur Kenntnis seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm, Königsberg 1804, ebenda S. 213-306. Ferner sind von Interesse: Der alte Kant. Hasse's Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum, ed. Buchenau und Lehmann, Berlin I Leipzig 1925; Metzger, Johann Daniel: Äußerungen über Kant, seinen Charakter und seine Meinungen, 1804. Als biographische Mitteilungen sind ferner die Briefe, dieKanterhalten hat, wertvoll; sie sind in der Akademie-Ausgabe erfaßt. Zu den ältesten Kant-Biographien gibt es eine kritische Studie: Vorländer, Karl: Die ältesten Kant-Biographien. Eine kritische Studie (= Kantstudien. Ergänzungsheft 41), Berlin 1918. Alle genannten Biographen hatten nach Vorländer zu einer bestimmten Zeit persönliche Bekanntschaft mit dem Philosophen. 81

Metzger 15 f.

82 Bei Jachmann ist die Rede von einer "warmen Teilnahme" (175) ohne zeitlich einschränkenden Zusatz. Wenn Borowski von einer Parteinahme für die französische und gegen die englische Politik seit der Revolution spricht (76 f.), ohne hinzuzusetzen, diese habe geschwankt, so wird auch daraus deutlich, daß ständig an einem positiven Urteil über die Französische Revolution festgehalten wurde.

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konnte ihn "nichts mehr erfreuen" als eine authentische Privatnachricht83. Die Art, in der Kant in den täglich stattfindenden Tischgesprächen mit angesehenen Mitgliedern der Königsherger Gesellschaft über die Französische Revolution sprach, nennt Borowski "leidenschaftlich" 84 • In diesem Sinne berichtet auch Jachmann, daß Kant "in allen Gesellschaften mit gleicher Lebhaftigkeit" über die Revolution redete85• Er scheint dabei nicht immer ein angenehmer Gesprächspartner gewesen zu sein, denn Toleranz anderer Meinungen zeigte er nach Borowski bei fast allen Themen, nur nicht hinsichtlich der Französischen Revolution86. Inhalt der politischen Gespräche waren die täglichen Zeitungsmeldungen, etwa "Pitt's Ministerialoperationen" 87, Siege und Friedensschlüsse88. Über vergangene Ereignisse hinausgehend wurden Spekulationen und Vermutungen über den künftigen Verlauf der Ereignisse geäußert, wobei Kant großen Scharfblick bewiesen haben soll. Die Voraussagen sollen nach Wasianski "pünktlich"89, nach Jachmann "sehr oft" eingetroffen sein90. Nur das letztere kann zutreffen, denn die einzige überlieferte Spekulation, die den Anspruch stellt, die Absicht einer militärischen Operation zu durchschauen, ist eine Fehlspekulation. Es handelt sich um die im handschriftlichen Nachlaß befindliche Deutung des Ägyptenfeldzugs Napoleons als Finte zur Täuschung Englands, um die Absicht, Portugal zu besetzen, zu verbergen91 . Der Feldzug galt in Wirklichkeit der Schwächung Englands als Kolonialmacht. 83 Jachmann 174 f. Beispiel einer Privatnachricht ist der Brief des Bruders von Jachmann, der im Anschluß an eine Frankreichreise verfaßt wurde: Brief 452 XI 216- 218; 14. 10. 1790. Das Interesse an "politische(n) Zeitungen" beschreiben Hasse (12 f.) und Borowski (76 f.) in ähnlich exaltierten Wendungen. In Königsberg gab es zu dieser Zeit zwei bekannte politische Zeitungen: Die "Königliche privilegierte Preußische Staats-, Kriegs- und Friedenszeitungen (auch Hartungsehe Zeitung)" und die "Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen". Zu deren Geschichte vgl. Gause, Fritz: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, 3 Bände, Köln I Graz 1965 ff., Band 2, S. 232 ff. 84 Borowski 68. 85 Jachmann 175. Auch die übrigen Biographen bezeichnen die Französische Revolution oder allgemeiner die Politik als Lieblingsthema der sich um Kant versammelnden Tischgesellschaften: Hasse 15 f., Wasianski 221 f., Metzger 15 f. 86 Borowski 58 f., 62. 87 Borowski 76 f. 88 Wasianski 221. 89 Wasianski 224. Wasianski behauptet dies, obwohl er Kants Fehlinterpretation von Napoleons Agyptenfeldzug kennt. Er nennt Kants Deutung "merkwürdig". 9o Jachmann 174. 91 Akademie-Ausgabe XII 381 f.

Einleitung

31

Jachmann berichtet, Kants Meinung über die Französische Revolution habe viel Beachtung gefunden, seine "politischen Grundsätze und Meinungen" hätten "in der Welt" viel Aufsehen erregt und ihm "viele Freunde und Feinde gemacht" 92 • Da Kants Gesamturteil über die Französische Revolution vor Erscheinen des "Streit" nicht zusammenfassend in einer Schrift bekannt gemacht wurde, muß sein in den Tischgesprächen vorgebrachter Standpunkt weit über Königsberg hinaus bekannt geworden sein. Zeugnisse dafür sind Briefe, die an ihn geschrieben wurden und deren Basis Gerüchte waren, an deren Ausgang mündliche Äußerungen des Philosophen stehen müssen. So spricht Biester 1793 von einem "Gerücht", Kant habe sich "sehr günstig" über die ihm "immer ekelhafter werdende französische Revoluzion erklärt" 93• Während dieses Gerücht zu Recht bestand, war das, Kant habe den Auftrag einer kritischen Prüfung der französischen Verfassungsentwürfe empfangen oder angenommen, falsch. Es hatte seinen Ausgang von der Anregung eines französischen Neubürgers deutscher Abkunft genommen, Kant zu einer Korrespondenz mit Sieyes zu bewegen; zu dieser Korrespondenz kam es nicht. Dieser Sachverhalt wurde zu dem erwähnten Gerücht verfälscht, von einer Königsherger Zeitung in der verfälschten Form aufgegriffen und weiter verbreitet94 • Auch das unbegründete Gerücht ist Exempel dafür, daß Kants Meinung Beachtung fand und daß die Wirkung des Philosophen nicht allein von seiner literarischen Tätigkeit ausging. Rekonstruierbar ist diese Meinung jedoch weniger aus den biographischen Zeugnissen als durch die Interpretation der von ihm schriftlich formulierten Stellungnahmen.

92

Jachmann 173.

Brief 596 XI 456; 5. 10. 1793. Die Falschmeldung befindet sich in: Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen, 19tes Stück, Montag, den 7. 3.1796. Abdruck in: Akademie-Ausgabe XIII 424 als Anmerkung zu Brief 693. Brief 693 und Anlage (XII 58 f.) sind die Briefe der Brüder Theremin, in denen der Wunsch geäußert wird, Kant möge mit Sieyes korrespondieren. Der französische Neubürger Karl Theremin wandte sich nicht direkt an Kant, sondern an seinen in Memel als Prediger tätigen Bruder Anton Ludwig, er möge sich für sein Anliegen einsetzen. Der Prediger Theremin tat dies, indem er den erhaltenen Brief mit Begleitschreiben an Kant weitergab. Daß Kant keine Korrespondenz mit Sieyes aufnahm, bericht Jachmann 175. Reaktionen auf das Gerücht sind folgende Briefe an Kant: Brief 697 XII 64; 15. 3.1796 von Johann Plücker, dem Bürgermeister aus Elberfeld; Brief 699 XII 69; 1. 4.1796 von Matern Reuß, einem Philosophie-Professor aus Würzburg. 93

94

Erster Teil

Kants geschichtsphilosophische Beurteilung der Französischen Revolution Die Darstellung von Kants Verhältnis zur Französischen Revolution soll mit einer Analyse des Gedankengangs des zweiten "Streit"-Abschnitts1 eingeleitet werden, da die Interpretation von der in ihm enthaltenen wichtigsten Stellungnahme zur Revolution ausgehen wird. Der zweite Abschnitt handelt von einem speziellen Fall des Fakultätenstreits, dem "Streit der Philosophischen Fakultät mit der Juristischen". Im Fakultätenstreit stehen sich nach Kant die Philosophische Fakultät einerseits und die Theologische, Juristische und Medizinische andererseits gegenüber. Sachlich ist der Streit dadurch verursacht, daß die "untere", die Philosophische Fakultät ihre Lehren von der "Vernunft", die drei "oberen" Fakultäten ihre Lehren von "Satzungen" herleiten2 • Da die Lehren nach "Satzungen" auf den realiter geltenden kirchlichen, rechtlichen und medizinischen Statuten gründen, werden hier rationale und historische Denkweise gegenübergestellt. Der Streit zwischen Philosophischer und Juristischer Fakultät ist ein Streit zwischen rationaler und historischer Rechtslehre. Kant hat den zweiten Abschnitt mit einem Untertitel versehen; Leitgedanke des Abschnitts soll danach die Frage sein, "ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei". Für den Gedankengang der Schrift ist die Fortschrittsfrage des Untertitels dominierend, sie wird folglich als Kernfrage des Streits zwischen Philosophischer und Juristischer Fakultät verstanden. Ihre Beantwortung erfolgt in zehn jeweils mit einer Überschrift versehenen Paragraphen und einer Schlußbemerkung und ist inhaltlich in Definition; Beweis und Prognose des geschichtlichen Fortschritts gegliedert. Als Gegenstand der Fortschrittsfrage wird im ersten Paragraphen das "Stück von der Menschengeschichte", das der Mensch noch nicht durchschritten hat, die "künftige Zeit", bezeichnet. Ausgeklammert wird die "Naturgeschichte des Menschen". Die Frage bezieht sich nicht auf den Menschen als biologisches Wesen, sondern auf das in mensch1 2

Streit A 129- 162. Streit A 35 f.

1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

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lieher Macht stehende Geschehen, auf die "Sittengeschichte"; ferner bezieht sie sich nicht auf die Menschen im einzelnen, sondern auf das "Ganze" der Menschheit, das "menschliche Geschlecht (im großen)". Es geht um die Tendenz der menschlichen Gesellschaft als überindividueller Einheit, die Weltgeschichte, nicht die Geschichte von Personen. Die im zweiten Paragraphen gestellte Frage nach der Möglichkeit eines Wissens von der Zukunft gilt nicht dem definierten Gegenstand, sondern wird für den Fall beantwortet, daß der "Wahrsager die Begebenheiten selber macht ..., die er zum voraus verkündigt". Handeln-' der ist hier nicht das menschliche Geschlecht, und vom Handeln des Wahrsagers ist nicht das gesamte Menschengeschlecht betroffen. Wahrsager dieser Art sind nach Kant "jüdische Propheten", zeitgenössische "Politiker" und "auch Geistliche", die das Negative, das sie vorhersagen, selbst bewirken. Im dritten Paragraphen wird eine Typologisierung möglicher "Vorstellungsarten" von der Zukunft vorgenommen. Drei Vorstellungsarten werden unterschieden: die "terroristische" mit der Annahme eines "kontinuierlichen Rückgange(s) zum Ärgeren", die "eudämonistische" mit der Annahme eines "beständigen F·ortgange(s) zum Besseren" und die "abderitistische" mit der Annahme eines "ewigen Stillstande(s) auf der jetzigen Stufe". Zurückgewiesen wird die terroristische Vorstellungsart mit dem Argument, der "Verfall ins Ärgere" könne nicht "fortwährend sein", da sich das menschliche Geschlecht dann "selbst aufreiben" würde. Der Selbsterhaltungstrieb wird stärker gesehen als die Tendenz der Selbstzerstörung. Bezüglich der eudämonistischen Vorstellungsart wird festgestellt, daß sie "unhaltbar zu sein schein(e)", da es ein unüberwindbares Quantum Böses im Menschen gebe. Damit nähert sich Kant der abderitistischen Hypothese, nach der sich Gutes und Böses zu neutralisieren "scheinen". Als Alternative der künftigen Geschichte läßt der Paragraph Stillstand und Fortschritt offen, da nur der "Schein" gegen einen Fortschritt spricht. Der vierte Paragraph geht der Frage nach dem Wissen von der Zukunft weiter nach. Das Erkenntnisproblem wird darin begründet gesehen, daß die Menschen "freihandelnde Wesen" sind. Die " freien Handlungen", um die es in der Fortschrittsfrage vor allem geht, lassen sich nicht vorhersehen, da sie auf freier Entscheidung beruhen. Durch "die Mischung des Bösen ... mit dem Guten in der Anlage, deren Maß er nicht kennt", bleibt der Mensch hinsichtlich des künftigen Gebrauchs seines Freiheitsvermögens im Ungewissen. Erkenntnis- und Fortschrittsfrage sind aufgrund dieser Problematik noch nicht als unlösbar zurückgewiesen. Es bleibt die Möglichkeit, 3 Burg

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1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

daß das Menschengeschlecht "ein Vermögen zum Besseren" besitzt, aufgrund dessen eine Anteilverschiebung guter und böser Handlungen in der Geschichte stattfindet. Auf dieses Vermögen muß eine geschichtliche Erfahrung hinweisen, da sie im individuellen Menschen nicht ausgemacht werden kann. Der fünfte Paragraph handelt von der Notwendigkeit eines solchen Erfahrungshinweises für die Fortschrittsthese: wenn es das Fortschrittsvermögen als "Ursache" gebe, lasse sich die Wirkung vorhersagen". Eine "Begebenheit", die auf eine solche Ursache "hindeutet", nennt Kant "Geschichtszeichen" 3 • Die Fortschrittsfrage ist nun auf die Frage zugespitzt, ob es dieses Geschichtszeichen gibt. Der sechste Paragraph handelt von der "Begebenheit", die die "moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset". Bevor die Begebenheit mit einem bestimmten historischen Phänomen identifiziert wird, wird der Aspekt des Phänomens hervorgehoben, auf den es in der Beweisführung ankommt: die "Denkungsart der Zuschauer". Eine uneigennützige und mit persönlicher Gefährdung verbundene allgemeine Anteilnahme an der Begebenheit beweist nach Kant den "moraliscllen Charakter" des Menschengeschlechts und die Existenz des Fortschrittsvermögens. Die Begebenheit, die eine solche Denkungsart offenbart hat, ist für ihn die Französische Revolution. Die moralische Reaktion der Revolutionssympathisanten wird durch zwei Momente ausgelöst gesehen: Das erste ist der völkerrechtliche Gedanke der staatlichen Autonomie, das zweite die Errichtung einer "republikanischen Verfassung", insbesondere wegen deren Friedensintention. Der die moralische Reaktion, den "Enthusiasm", auslösende Aspekt der Begebenheit ist der "Rechtsbegriff", dessen Realisation von den "Revolutionierenden" intendiert und verteidigt wird. Die Sympathie der "Zuschauer" gilt sowohl der revolutionären Zielsetzung als auch der "Seelengröße" der "Revolutionierenden", deren Handeln moralisch motiviert ist. Kants Schlußfolge lautet: Die moralische Komponente der Revolution bewirkt die moralische Reaktion, die das moralische Vermögen des Menschengeschlechts offenbart. Nachdem Kant den Nachweis des Fortschrittsvermögens geliefert zu haben glaubt, sieht er sich im siebten Paragraphen zu einer "wahrsagenden Geschichte der Menschheit" berechtigt. Die erste "Wahrsagung" 3 Kants Lehre vom Geschichtszeichen bringt Riedel treffend in Analogie zum Schematismus der reinen Verstandesbegriffe in der theoretischen Philosophie und spricht von einer "Schematisierung der Idee an der Erfahrung". Riedel, Manfred: Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie, in: derselbe: System und Geschichte. Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie, Frankfurt/M. 1973, S. 40- 64. Zuerst publiziert in: Die Neue Rundschau, 80. Jg., Heft 3, 1969.

1. Teil:

Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

35

betrifft die Rechtsgeschichte: Die Französische Revolution wird als eine Etappe auf dem Weg zur Errichtung einer idealen (naturrechtlichen oder republikanischen) Verfassung gedeutet, als deren wichtigste Charakteristika die Kriegsfeindlichkeit sowie die Bindung an den Volkswillen angegeben werden. Die zweite betrifft den Fortschritt des Menschengeschlechts "zum Besseren", worunter nach den vorangegangenen Ausführungen insbesondere die Tendenz der Moralisierung zu verstehen ist. Die Aufdeckung des Fortschrittsvermögens des Menschengeschlechts durch die Revolution bleibt nach Kant unvergeßlich, da durch sie ein Wissensstand erreicht worden sei, hinter den nicht mehr zurückgefallen werden könne. Rückschläge gegen das in der Revolution Erreichte schließt Kant nicht aus, doch er erkennt ihnen nur temporäre Wirkung zu. Die Fortschrittsthese hält nach ihm einer "strengsten Theorie" stand. Für seine Beweisführung und seine Wahrsagung beansprucht er den Status eines gesicherten, allgemeingültigen Wissens, nicht einer persönlichen Überzeugung oder Hypothese. Nach der Beantwortung der Frage des Untertitels erläutern die restlichen Paragraphen die Fortschrittslehre. Im achten Paragraphen handelt Kant unter anderem entsprechend der Überschrift von der Schwierigkeit, die sich dem Fortschritt - die Ausführungen sind eingeschränkt auf den Fortschritt der Rechtsordnung - durch die Publizitätsbedingungen entgegenstellen können. Der Fortschritt wird gehindert durch ein "Verbot der Publizität", d. h. der freien und öffentlichen Meinungsäußerung; er wird ermöglicht, wenn insbesondere die Philosophen als "freie Rechtslehrer" für Staat und Gesellschaft tätig sein können. Die These, daß der Fortschritt nicht erreicht wird durch "die vom Staat bestellete(n) amtsmäßige(n) ... Rechtslehrer", verweist auf den Zusammenhang der beiden AbschnittstiteL Der "Streit der Philosophischen Fakultät mit der Juristischen" betrifft nicht nur die Rechtslehre, sondern auch den geschichtlichen Fortschritt. Der Fortschritt wird nach Kant von den Juristen aufgrund ihres "statutarischen", satzungsgebundenen Denkens weder erkannt noch gefördert. Der neunte Paragraph führt als "Ertrag" des Fortschritts die "Vermehrung" der "Produkte" der "Legalität" an. Kants Fortschrittslehre entspricht die Ertragsbeschreibung insofern, als die moralischen Handlungen zur Vermehrung legaler "Produkte" beitragen, da sie jedenfalls legal sind, Handlungen aus Neigung dies nur sein können. Als Fortschrittsertrag werden nach Kant eintreffen: eine Verringerung der "Gewalttätigkeit" der "Mächtigen", eine Steigerung der Gesetzestreue, "mehr Wohltätigkeit", "weniger Zank", "mehr Zuverlässigkeit". Wenn dieser Fortschritt auch "aus wohlverstandenem eigenen Vorteil" erwartet wird, so wird deutlich, daß er nicht nur vom moralischen Vermös•

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1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

gen des Menschen, sondern auch von seiten der Neigung angestrebt werden kann. Der zehnte Paragraph wirft nochmals die Frage auf, worauf sich die Fortschrittsthese stützen kann. Diesmal wird nicht ein spezifisches menschliches Vermögen als Ursache bezeichnet, sondern die "oberste Staatsmacht" und die "Weisheit von oben herab" oder die "Vorsehung". Von familiärer und schulischer Erziehung wird der "erwünschte Erfolg" nicht erhofft, vom "überlegten Plane" der "Staatsmacht" hingegen eine zusammenhängende "Bildung" sowie eine ständige Verfassungsreform. Die Hoffnung auf die Staatsmacht wird relativiert zugunsten der Vorsehung als dem letzten Geschehensgrund: In menschlicher Macht steht die Gründung einer Rechtsordnung, die zum Frieden führt; das "Hindernis des Moralischen" wird dadurch ausgeräumt, der Fortschritt des Moralischen von der Vorsehung selbst gewährleistet gesehen. In einem "Beschluß" gibt Kant der Hoffnung auf Fortschritt mit einem von Hume übernommenen Argument Ausdruck: Vom Klugwerden durch üble Erfahrung, von den "Nachwehen des gegenwärtigen Krieges" erwartet er die "Wendung des menschlichen Geschlechts zum Besseren". Dieses Argument fügt sich wie die zwei letzten Paragraphen nicht schlüssig an die vorangegangenen Paragraphen an, in denen der Fortschritt stärker in bezug zum moralischen Fortschrittsvermögen und zur Moralisierungstendenz des Menschengeschlechts gebracht wurde. Dem Fortschrittsskeptiker bringt Kant schließlich ein Verständnis entgegen, das den Gewißheitsansprüchen früherer Aussagen nicht entspricht. Die Unstimmigkeit der Gedankenführung nimmt gegen das Abschnittsende zu, sie läßt sich wenigstens zum Teil durch eine systematische Analyse der wichtigsten Aspekte beheben, die in Kants Revolutionsdeutung relevant sind. Die systematische Analyse soll mit einem Zitat eingeleitet werden, in dem der Philosoph sein Urteil über die Revolution konzis zum Ausdruck bringt. Den Kontext des Zitats bildet die These, die Französische Revolution leite einen kontinuierlichen geschichtlichen Fortschritt ein. Der nachstehend zitierte Satz begründet die These: "Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen

Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte4 ." 4

Streit A 149 f.

1. Teil:

Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

37

Damit dieser Satz verständlich wird, müssen die Prämissen verstanden sein, die ihm zugrunde liegen. Auf folgende Prämissen ist aus dem Text zu schließen:

Erstens: Die Geschichte ist eine Kausalreihe, die Finalität aufweist. "Natur und Freiheit" sind die beiden Kausalitätsweisen, die "allein" als Wirkfaktoren der Geschichte in Frage kommen. Auf sie ist die Französische Revolution als Glied der Geschichte zurückzuführen. Die Annahme eines Finalitätscharakters der Kausalreihe wird aus mehreren Wendungen des Zitats deutlich. Wenn Kant sagt, die Revolution sei "verheißen" gewesen, so wird sie als Ergebnis der Finalität der Geschichte verstanden. Infolge der Finalität mußte sie sich notwendigerweise ereignen, zufällig war sie nur hinsichtlich der Zeit ihres Eintretens. Kausalität und Finalität lassen demnach einen Spielraum offen für den Zufall. In gleicher Weise setzt die These der Unvergeßlichkeit der Revolution sowie die Begründung der Unvergeßlichkeit mit dem Offenbarwerden des menschlichen Vermögens "zum Besseren" voraus, daß die Geschichte einen Finalzusammenhang bildet. Nur wenn die Vorstellung einer zielgerichteten Entwicklung vorhanden ist, kann eine These mit einem Schluß von der Gegenwart auf die Zukunft insgesamt aufgestellt werden. Kant bezeichnet an dieser Stelle das Ziel der Geschichte: Wenn das, was die Revolution unvergeßlich macht, die "Aufdeckung" des menschlichen Vermögens "zum Besseren" ist, so ist das Ziel der Geschichte die Realisierung des "Guten". Solange das Ziel nicht erreicht ist, bewegt sich die Geschichte jeweils "zum Besseren" hin. Ferner bringt Kant die Kausalprinzipien in bezug zu "Rechtsprinzipien"; dieser Bezug ist für das "Menschengeschlecht" überhaupt, infolgedessen auch für die Französische Revolution relevant. Das Recht hat die Funktion in der Geschichte, die Realisierung ihres Ziels zu fördern. In der Revolution liegt eine solche Förderung vor. Ihren Anstoß erhält die Rechtsentwicklung wie die Geschichte überhaupt durch die beiden Kausalitätsweisen "Natur und Freiheit".

Zweitens: Kausalität und Finalität haben Gott als transzendenten Urheber. Zum Schluß auf diese Prämisse bietet das Zitat einen geringen Anhaltspunkt. Kant gebraucht das Wort "verheißen", um das Vorherbestimmtsein des in der Französischen Revolution Realisierten zu bezeichnen. Dieses aus dem religiösen Sprachbereich stammende Wort5 5 Zur Anwendung des Wortes im religiösen Sprachgebrauch zur Zeit Kants vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff., Band 12, I, S. 558.

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1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

deutet darauf hin, daß Kausal- und Finalreihe Medium für den Willen einer letzten, einer transzendenten Instanz sind. Drittens: Kausalität und Finalität der Geschichte können Gegenstand menschlichen Wissens sein. In der Prophezeiung der Unvergeßlichkeit der Revolution ist der Anspruch enthalten, daß ein Wissen über Verlauf und Ziel der Geschichte vorhanden ist. Das Wissen von der Geschichte beruht auf einem Wissen vom Menschen, da die geschichtliche Entwicklung darauf beruht, daß im Menschen die Bewegung auf ein Ziel hin angelegt ist. Das Wissen um den Gang der Geschichte hat Rückwirkung auf die Geschichte; durch die Erkenntnis des Ziels der Geschichte wird der Fortschritt kontinuierlich. Die Bedeutung der Französischen Revolution liegt darin, daß sie dieses Wissen universal verbreitet und damit den kontinuierlichen Fortschritt eingeleitet hat. Das Wissen um die "menschliche Natur", das die Revolution "aufgedeckt hat", war vorher nicht in jedermanns Besitz. "Kein Politiker" hätte es nach Kant "aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt". Damit disqualifiziert er verallgemeinernd das Wissen und die Denkweise der Politiker. Er spricht auch dem Handeln der Politiker entscheidende Bedeutung ab, wenn er "Natur und Freiheit" als eigentliche Wirkfaktoren der Geschichte bezeichnet. Kausal- und Finalreihe laufen nach den ihnen immanenten Gesetzen ab, obgleich die Politiker dies nicht erkennen und ihr Handeln nicht danach ausrichten. Mit dem Aufweis der Prämissen, die dem zitierten Urteil über die Französische Revolution zugrunde liegen, ist ein Verständnis des Satzes noch nicht erreicht; zur Interpretation des Zitats gehört die Interpretation der Prämissen. Als methodischer Leitfaden der Interpretation bietet sich der Kausalbegriff an, da sich alle Prämissen auf ihn beziehen lassen.

I. Kapitel: Die Ursachen der Französischen Revolution I. Die Französische Revolution als Wirkung der Natur

Kant definiert im "Streit" die Französische Revolution als "Phänomen ... der Evolution einer naturrechtliehen Verfassung" 1 • Folglich wird sie als Glied im Finalzusammenhang der Rechtsgeschichte verstanden. Die Frage nach der Kausalverbindung zwischen Natur und Freiheit und der Französischen Revolution läßt sich demnach allgemeiner formulieren: Was heißt: Natur und Freiheit stehen in Kausal1

Streit A 148 f.

I. Kap.:

Ursachen der Französischen Revolution

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beziehung zur Rechtsgeschichte? Die Unterscheidung von zwei Kausalitätsweisen (Natur und Freiheit) ermöglicht es, die Kausalverbindung in zwei Schritten darzustellen, wodurch die jeweilige Wirkungsart der Kausalfaktoren deutlich wird. Zunächst soll die Frage beantwortet werden, in welcher Weise die Natur als Ursache der Französischen Revolution Geltung hat. Um Kants These zu verstehen, die Natur sei Ursache der Französischen Revolution bzw. der Rechtsgeschichte, ist ein Rekurs auf seine philosophischen Hauptwerke erforderlich. Die Begriffe "Natur" und "Naturkausalität" sind Gegenstand der theoretischen Philosophie. Für "Natur" gibt es eine Reihe von Synonyma: das "Ganze aller Erscheinungen", die "Sinnenwelt", die die Gegenstände äußerer und innerer Sinne umfaßt2, "Phaenomena"3 • Wenn Kant im "Streit" die Französische Revolution ein "Phänomen" nennt\ so bringt er damit zum Ausdruck, daß er sie als Teil der Natur versteht. Der Kausalzusammenhang zwischen Natur und Revolution ist demnach nichts anderes als ein Einzelfall aus der im Naturgeschehen allgemein vorliegenden Kausalreihe. In der "Kritik der reinen Vernunft" definiert Kant den Begriff der Naturkausalität als "die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt" 5• Naturkausalität liegt demnach vor, wenn Ursache und Wirkung empirisch wahrnehmbar sind und die Aufeinanderfolge der beiden Erscheinungen gesetzmäßig ist. In dieser Definition zeigt sich das mechanistische Verständnis der Naturkausalität. Kant selbst gebraucht den Begriff "mechanistisch" zur Bezeichnung der Wirkungsweise der Natur6 • Das hier formulierte Gesetz gilt für den gesamten Bereich der Natur, für die Gegenstände des inneren wie des äußeren Sinnes. Die menschliche Natur ist in diesem Bereich inbegriffen. Zwischen dem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der menschlichen Natur (der Geschichte, sofern sie durch die menschliche Natur hervorgebracht wird) und dem Naturgeschehen überhaupt gibt es hinsichtlich des geltenden Kausalgesetzes keinen prinzipiellen Unterschied. Neben der Definition des Begriffs "Naturkausalität" ist die Abgrenzung des Geltungsbereichs dieser Kausalitätsweise erforderlich. Die Abgrenzung muß gegenüber der zweiten Kausalitätsweise erfolgen, die für die Französische Revolution und die Geschichte relevant ist, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga 1786, S. III. Kritik der reinen Vernuft A 235 und allenthalben. 4 Streit A 148, A 149. 5 Kritik der reinen Vernunft A 532. ' Kritik der Urteilskraft A 280: "Mechanism der Natur"; A 282: "mechanistisch wirkende Natur"; A 283: "Naturmechanism" u. a. 2

8

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1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

der Freiheit. Von dem Verhältnis der beiden Kausalprinzipien handelt Kant in der dritten Antinomie der "Kritik der reinen Vernunft" sowie der dazugehörigen Auflösung. Die Antinomie stellt der Thesis, es sei neben der "Kausalität nach Gesetzen der Natur ... eine Kausalität durch Freiheit" in den "Erscheinungen der Welt" anzutreffen, die Antithesis gegenüber, alles Geschehen erfolge nach Naturgesetzen7 • Kants Auflösung der Antinomie zielt darauf ab, beide Sätze als wahr nachzuweisen. Er sagt, eine Wirkung in der Erscheinungswelt könne "in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei" und "zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur" angesehen werden8 • Diese Auflösung der Antinomie mit Hilfe von Kategorien einer dualistischen Metaphysik ist widersprüchlich. Charakteristisch für die Wirkung einer intelligiblen Ursache ist die Unabhängigkeit von einer Kausalkette nach Naturgesetzen; dieselbe Wirkung will Kant dennoch als durchgängig bestimmt durch die Sinnenwelt verstanden wissen. Durch diesen unakzeptablen Lösungsversuch der Antinomie ist eine Abgrenzung des Geltungsbereichs der Naturkausalität gegenüber dem der Freiheit in der Erscheinungswelt nach dem Wortlaut von Kants Lehre nicht möglich. Da er an der Relevanz von Freiheit für die Sinnenwelt festhält (wofür das einleitende Zitat ein Exempel ist), entspricht es seiner Philosophie, wenn der Geltungsbereich der Naturkausalität reduziert wird auf das Geschehen, das nicht aus Freiheit hervorgegangen ist. Im Folgenden ist von diesem reduzierten Bereich die Rede. Der Bereich der in der Geschichte wirksamen Naturkausalität ist nicht identisch mit dem Geltungsbereich der Naturkausalität im allgemeinen. Durch den Bezug der Geschichte auf den Menschen ist die Naturkausalität der Geschichte auf die menschliche Natur und auf die übrige Natur nur, soweit diese für menschliches Handeln aus Natur von Belang ist, bezogen. Die empirischen Bestimmungsgründe des menschlichen Handelns, die ihren Ursprung in der menschlichen Natur haben, sind als Kausalfaktoren verantwortlich für das Wirken der menschlichen Natur in der Geschichte. Im Lehrsatz II der "Kritik der praktischen Vernunft" faßt Kant die empirischen Bestimmungsgründe, bei denen der Mensch Glied einer Kausalkette nach Naturgesetzen ist, in einem Prinzip zusammen: "Alle materiale praktische Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit9." 7

8 9

Kritik der reinen Vernunft A 444 f. Kritik der reinen Vernunft A 537. Kritik der praktischen Vernunft A 40.

I. Kap.: Ursachen der Französischen Revolution

41

Das Streben nach Glückseligkeit ist die Formel zur Bezeichnung der Wirkungsweise der Naturkausalität im Menschen. Da der Mensch Träger der Geschichte ist, ist es auch die Formel zur Bezeichnung des auf Naturkausalität beruhenden Geschichtsverlaufs. Die Frage nach der Kausalverbindung zwischen menschlicher Natur und Rechtsgeschichte läßt sich nun neu formulieren: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Streben nach Glückseligkeit und der Entwicklung des Rechts? Die Antwort auf diese Frage gibt die Teleologie, die sich mit dem Verhältnis von Kausal- und Finalprinzip befaßt. Die "Kritik der Urteilskraft" verneint die Frage, ob das aus dem Streben nach Glückseligkeit resultierende Geschehen ein teleologisches System bilde, mit der Begründung, Glückseligkeit sei ein "schwankender" und "willkürlicher" Begriff. Sie sei ferner nicht realisierbar, denn die menschliche Natur sei "nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden" 10 • Im Streben nach Glückseligkeit werden zwar Zwecke gesetzt, aber diese Zwecksetzungen sind derart heterogen, daß sie keine Finalreihe hervorbringen, in der jeder Zweck Mittel für einen höheren Zweck wäre. Dennoch spricht Kant von einem letzten Zweck der Natur. Indirekt bewirkt das Streben nach Glückseligkeit nämlich eine zielgerichtete Entwicklung in der Geschichte. Durch die ständige Zwecksetzung und Zweckrealisierung verändert sich die Beschaffenheit der menschlichen Natur. Die "Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen" wird in einem geschichtlichen Prozeß ausgebildet. Die Tauglichkeit als "formale, subjektive Bedingung" des Strebens nach Glückseligkeit ist der letzte Zweck der Natur; sie bezeichnet Kant mit dem Begriff "Kultur". Kultur definiert er als die "Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken" 11 • Ihre völlige Entfaltung sei der "Menschengattung" vorbehalten. Diese Entfaltung bildet eine Finalreihe: Kultur ist die Fähigkeit, die erst am Endpunkt des geschichtlichen Prozesses in vollem Umfang besessen wird. Ebenso wie zwischen dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit und der Kultur eine Kausalverbindung besteht, aus der eine Finalreihe hervorgeht, gibt es zwischen Kultur und Recht eine Kausalbeziehung, die der Entwicklung des Rechts zugrunde liegt. Die "formale Bedingung" dafür, daß die Natur "ihre Endabsicht ... erreichen kann", ist nach Kant eine bestimmte staatliche Verfassung, durch die "der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt

° Kritik der Urteilskraft A 384 f.

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11

Kritik der Urteilskraft A 386 f.

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1. Teil: Geschichtsphilosophische Beurteilung der Revolution

... entgegengesetzt wird". Neben der richtigen Verfassung einer "bürgerliche(n) Gesellschaft" ist eine zweite Bedingung des kulturellen Fortschritts zu erfüllen: es muß "ein System aller Staaten", ein "weltbürgerliches Ganze(s)" geschaffen werden12• Die rechtliche Entwicklung wird von Kant wie die kulturelle auf die gesamte Menschheit bezogen. Am Ende der jeweiligen Finalreihe sieht er eine mit gleichen Fähigkeiten ausgestattete und unter gleichen rechtlichen Bedingungen lebende Menschheit. Kants These, die Natur sei Ursache der Französischen Revolution, ist damit analysiert. Das Ergebnis der Analyse lautet: Die mechanistisch wirkende Natur kommt im menschlichen Bereich im Streben nach Glückseligkeit zur Geltung; das Streben nach Glückseligkeit erfordert ständige Zwecksetzung und Zweckrealisierung; dadurch wird die Kultur, die Fähigkeit der Zweckrealisierung, hervorgebracht; die Entwicklung der Kultur hat die Entwicklung der staatlichen Verfassung im Gefolge; die Französische Revolution ist ein Ergebnis und Bindeglied dieser Entwicklung. Zur Interpretation der These wurden Werke verschiedenen Themas und verschiedener Entstehungszeit herangezogen. Es wurde also davon ausgegangen, daß diese Werke eine einheitliche Konzeption aufweisen und daß diese Konzeption noch für den 1798 erschienenen "Streit" Gültigkeit hat. Die Berechtigung dieser Voraussetzung muß durch die Darstellung der Entwicklung der für die Interpretation wichtigsten Theoreme erwiesen werden. Das Moment der Entwicklung ist bereits daraus zu erkennen, daß auf die nacheinander entstandenen Hauptwerke der theoretischen und praktischen Philosophie sowie der Teleologie rekurriert werden mußte. Von den Theoremen, denen eine weitere Betrachtung zukommen soll, stehen zwei in Korrelation zum Kausalprinzip: das mechanistische Naturverständnis und die Glückseligkeitslehre und zwei zum Finalprinzip: kulturelle und rechtliche Entwicklung.

a) Der Mechanismus der Natur Wenn man die Annahme einer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge von Erscheinungen als mechanistisches Naturverständnis bezeichnet, so kann gesagt werden, daß Kant die Natur stets mechanistisch verstanden hat. In der näheren Bestimmung dieser Gesetzmäßigkeit und ihrer Begründung zeigt sein Werk eine Entwicklung auf. Auf eine Darstel12

Kritik der Urteilskraft A 389 f.

I. Kap.: Ursachen der Französischen Revolution

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lung dieser Entwicklung kann verzichtet werden13, da die Untersuchung, die insbesondere der Anwendung des Mechanismusbegriffs auf die Geschichte nachgeht, mit der unprofilierten Definition des Begriffs auskommen kann. Schon in den frühesten Schriften über physikalische und astronomische Themen liegt obiger Mechanismusbegriff zugrunde. Kant fragt nach der Beschaffenheit der Naturgesetze, daß eine Gesetzmäßigkeit vorhanden ist, wird ohne Bedenken vorausgesetzta. In der "Kritik der reinen Vernunft" geht es ihm um eine transzendentalphilosophische Begründung der Gesetzmäßigkeit. Der Satz: "Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" zählt zu den Grundsätzen des reinen Verstandes. Die Annahme der Gesetzmäßigkeit der Natur wird als Denknotwendigkeit begriffen. Diese Begriffskonzeption ist für die kritische Philosophie kennzeichnend15. Die Anwendung des Mechanismusbegriffs auf die Geschichte ist in der "Idee" zu finden. Gegenstand der Geschichte qua Geschichtsforschung ist nach ihr die Erzählung menschlicher Handlungen, die als Erscheinungen wie "jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt" seien18• Der Mechanismus der Natur ist identisch mit dem der Geschichte. In der "Kritik der praktischen Vernunft" wird das Kausalprinzip der Natur speziell auf menschliclles Handeln bezogen. Hier sagt Kant, "alle praktische Verknüpfung der Ursachen 13 Vgl. hierzu ToneHi, Giorgio: Die Anfänge von Kants Kritik der Kausalbeziehungen und ihre Voraussetzungen im 18. Jahrhundert, in: Kantstudien, 57. Jg., 1966, S. 417-456, sowie Maier, Anneliese: Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie. Die Mechanisierung des Weltbilds im 17. Jahrhundert; Kants Qualitätskategorien, 2. Aufl., Rom 1968. 14 Z. B. in: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise derer sich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen, Königsberg 1746, sowie in: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, Königsberg und Leipzig 1755. Abgekürzte Zitierweisen: "Wahre Schätzung" und "Allgemeine Naturgeschichte". Zum Mechanismusbegriff der vorkritischen Zeit vgl. Düsing, Klaus: Die Teleologie in Kants Weltbegriff(= Kantstudien. Ergänzungsheft 96), 1968, S. 32. 15 Kritik der reinen Vernunft A 190. Daß die Begriffskonzeption der Naturkausalität in der ersten Kritik auch für die Geschichtsphilosophie maßgebend ist, wird von Menzer 271 und Nieschmidt 49 ff. ebenfalls gesehen. 18 Idee A 385. Auf den mechanistischen Naturbegriff dieses Zitats weist auch Kaulbach 433 hin: Kautbach, Friedrich: Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Kant, in: Kongreßbericht. Vorträge gehalten auf dem II. Internationalen Kantkongreß 1965. 25. bis 30. Juli in Bonn und Düsseldorf, Köln 1966, S. 430 - 451.

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und der Wirkungen in der Welt" müsse sich nach "der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen", richten17• Aus der Allgemeingültigkeit des Naturgesetzes folgert Kant, daß menschliches Handeln an diese Gesetzmäßigkeit gebunden sei und daß ein Wissen von den Naturgesetzen nur zu einem Handeln führen könne, in dem die Gesetzmäßigkeit der Natur in der Planung berücksichtigt sei, nicht aber zu einem Handeln, das sich über die Gesetzmäßigkeit hinwegsetze. Während im Kontext der Zitate aus der "Idee" und der "Kritik der praktischen Vernunft" die Vereinbarkeit der Allgemeingültigkeit der Naturgesetze mit Freiheit vertreten wird, stellt Kant in der "Kritik der Urteilskraft" die These auf, mechanistisches und teleologisches Prinzip seien in der Natur miteinander vereinbar. Nach der Feststellung, "unsere Vernunft" begreife nicht die "Möglichkeit einer solchen Vereinigung" von mechanistischem und teleologischem Prinzip, fährt er fort: "Aber das Prinzip: alles, was wir als zu dieser Natur (phaenomenon} gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken zu müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft; weil, ohne diese Art von Kausalität, organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden18." Zu den "organisierten Wesen" gehört auch der Mensch. In der teleologischen Struktur der Welt ist seine Position übergeordnet: "er ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden1' . " Als letzter Beleg zum Nachweis der Kontinuität von Kants mechanistischer Auffassung von Natur und Geschichte sei eine Stelle im "Frieden" angegeben. Wie in der "Kritik der Urteilskraft" bezieht er das mechanistische Prinzip auf ein Finalprinzip, hier die Entwicklung der staatlichen Verfassung. Die Regelung und Einrichtung der zwischenmenschlichen Rechtsbeziehungen wird von einem "Mechanism der Natur" 20 erwartet. Inhaltlich enthält der Mechanismusbegriff nicht die Forderung nach Verwirklichung einer bestimmten gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Formal ist er von politischer Relevanz, insofern er Argumentationen zuläßt, in denen eine Berufung auf Naturgesetzlichkeit erfolgt. In dieser Berufungsmöglichkeit liegt bezüglich der politischen Praxis zur Zeit Kants etwas Revolutionäres. Während der relativierte Kritik der praktischen Vernunft A 204 f. Kritik der Urteilskraft A 370. 19 Kritik der Urteilskraft A 378. 2° Frieden A 60 f. 17

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Mechanismusbegriff noch andere Argumentationen zuläßt, etwa teleologische oder theologische, schließt sie der materialistische, der die Na... turgesetzlichkeit verabsolutiert, aus. In der Zerstörung der herkömmlichen Legitimationsbasis war der revolutionäre Gehalt der materialistischen Lehre größer. In der Französischen Revolution war diese Lehre von Bedeutung21. Das Geschichtsverständnis entsprach dem kantischen in der Annahme einer naturgesetzliehen Entwicklung, jedoch nicht, sofern die Naturgesetzlichkeit im Sinne des Materialismus hypostasiert wurde. Die marxistische Geschichtsschreibung würdigt die materialistische Lehre, die Bedeutung überbetonend und ideologisch wertend, als für den Fortschritt entscheidende Weltanschauung. Gemessen am französischen Materialismus gilt Deutschland als rückständig22. b) Das Glückstreben als Naturtrieb Im vorigen Abschnitt wurde der Mechanismus der Natur naturwissenschaftlich verstanden; zu seiner näheren Definition hätte eine mathematische Beschreibung gehört. In diesem Abschnitt geht es um eine Interpretation des Mechanismus aus psychologisch-anthropologischer Sicht, und seine nähere Bestimmung erfolgt durch Begriffe. In der "Kritik der praktischen Vernunft" werden die empirischen Bestimmungsgründe des menschlichen Handeins unter dem Prinzip des Strebens nach Glückseligkeit zusammengefaßt. In der vorkritischen Zeit bezeichnet Kant mit dem Begriff "Gefühl" das, was in der Terminologie der kritischen Philosophie "Natur", "Sinnlichkeit" oder "empirische Bestimmungsgründe" heißt. Dieses Gefühl wird jedoch nicht auf die Formel "Streben nach eigener Glückseligkeit" gebracht, sondern es kann von einer uneingeschränkten Selbstliebe bis zur Gleichheit von Selbst- und Nächstenliebe reichen. Diese Skala ist zugleich ein Wertmaßstab, dessen Pole die Begriffe "Laster" und "Tugend", "böse" und "gut" markieren. Dem letzteren Pol nähert man sich durch das "Gefühl von der Schönheit und Würde der menschlichen Natur". Aus ihm leitet sich das Prinzip der Nächstenliebe und der Tugend ab23. Die Neigung der menschlichen Natur zum Bösen wird von Kant als Gegebenheit in Rechnung gestellt: 21 Göhring II 1, 158. 22 Krauss 455. Eine Ausnahmeerscheinung in Deutschland war Karl Spazier, der ohne Anklang zu finden eine materialistische Weltanschauung vertrat. 23 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Königsberg 1764, S. 23 f. Abgekürzte Zitierweise: vBeobachtungen".

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"In der menschlichen Natur finden sich niemals rühmliche Eigenschaften, ohne daß zugleich Abartungen derselben durch unendliche Schattierungen bis zur äußersten Unvollkommenheit übergehen sollten24." Jeder Tugend entspricht ein Laster, das in der "Schwäche der menschlichen Natur" begründet ist25 • Aufgrund der Ambivalenz des Strebens der menschlichen Natur ist die Wertung des Strebens ambivalent. Die Aufhebung der Ambivalenz der Natur erfolgt mit der Unterscheidung von Natur und Freiheit in der "Kritik der reinen Vernunft". Die Beweggründe, die dem Handeln aus Natur zugrunde liegen, werden mit folgenden Begriffen charakterisiert: "Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit", "pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert" 26, "sinnliche Anreize" 27• Diese Beweggründe werden schon hier als Glückstreben zusammengefaßt. "Glückseligkeit" wird definiert als "Befriedigung aller unserer Neigungen". Sofern die Glückseligkeit Motiv ist, liegt ein Handeln aus Natur vor; für dieses Handeln gilt die "Klugheitsregel", es ist "pragmatisch". Sofern nicht Glückseligkeit, sondern Glückwürdigkeit Motiv ist, liegt ein Handeln aus Freiheit vor und kein empirischer Bestimmungsgrund; für dieses Handeln gilt das "Sittengesetz", es ist "moralisch" 28 • Die Gegenüberstellung zeigt nicht nur, daß Glückstreben ein Beweggrund der menschlichen Natur ist, sondern enthält auch eine Wertung. Das Handeln aus Natur ist im Vergleich zu dem aus Freiheit abgewertet. Es hat mit Moral, also mit dem Guten und der Tugend, nichts zu tun, wird aber auch noch nicht schlichtweg als böse bezeichnet. In der "Idee" werden die Wirkungen beschrieben, die sich aus dem Streben der menschlichen Natur in der Gesellschaft und für die Geschichte ergeben. Die Wirkungen bestehen darin, daß der Mensch "alles bloß nach seinem Sinne richten" will. Er handelt in "selbstsüchtigen Anmaßungen", erfährt "allerwärts Widerstand" und ist selbst "zum Widerstande gegen andere geneigt"; er wird "getrieben" durch die Laster "Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht" 29• Daß aus diesem Antagonismus "viele Übel entspringen", ist unausweichlich. In der Zurückführung des Bösen auf die menschliche Natur ist die "Idee" deutlicher als die "Kritik der reinen Vernunft", jedoch sind nicht alle BewegBeobachtungen A 15 f. Beobachtungen A 24. 28 Kritik der reinen Vernunft A 534. 27 Kritik der reinen Vernunft A 548. 28 Kritik der reinen Vernunft A 806. Das Glückstreben ist kein konstanter Faktor der menschlichen Natur, da es eine mehr oder weniger relativierende Alternative zu diesem Streben gibt: das moralische Handeln. 29 Idee A 392 f. 24

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gründe der Natur nach Kant böse, sondern es ist ein Streben nach "Eintracht" vorhanden, wenn auch die "'Zwietracht" dominiert30. Die Wertung der menschlichen Natur wird dadurch relativiert, daß sie Finalreihen (kulturelle und rechtliche Entwicklung) mit positiven Konsequenzen in Gang setzt. Die Rückwirkung der kulturellen und rechtlichen Entwicklung ist nämlich die Aufhebung der gegenseitigen Zerstörung31. Mit dieser erst am Ende der Geschichte erreichten Aufhebung gelangt die menschliche Natur zur Realisierung dessen, was ihr ursprünglicher Beweggrund war, der "Glückseligkeit" 32• Unmittelbar führt das Glückstreben nicht zum Ziel. Im "Gemeinspruch" wird das "Prinzip der Glückseligkeit" mit der Begründung, es richte "Böses" in der Moral und im Staatsrecht an, abgewertet33. Im Naturzustand, d. h. dort, wo die menschliche Natur ohne staatlichen Zwang eigenmächtig wirken kann, herrscht nach der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793/94)u und dem "Frieden" 35 Krieg oder ständige Kriegsgefahr. Im "Frieden" wird den "selbstsüchtigen Neigungen" sowohl Wirksamkeit für die gegenseitige. Zerstörung als auch für die Aufhebung der Zerstörung durch die rechtliche Entwicklung zuerkannt38• Daß der Krieg und mit ihm seine Ursache nicht nur ein Übel, d. h. etwas Unangenehmes, sondern etwas Böses, also moralisch Verwerfliches, ist, bringt Kant im "Streit" damit zum Ausdruck, daß er ihn als "das größte Hindernis des Moralischen" bezeichnet37, denn ein Übel ist für ihn als moralisches Hindernis keine hinreichende Ursachess. Die angeführten Belege machen deutlich, daß Kant das Handeln aus Natur, das Streben nach eigener Glückseligkeit, ständig moralisch abwertet, das Böse also auf die menschliche Natur zurückführt. In der "Kritik der praktischen Vernunft" will er jedoch das Böse auf Freiheit zurückführen39 • Auf diesen Versuch ist die "Kritik der praktischen Vernunft" nicht genügend ausgerichtet. Die Beziehung zwischen dem Bösen und den empirischen Bestimmungsgründen ist nicht genügend kommentiert. Kant bleibt bei der Feststellung stehen, das MoralischIdee A 394. Idee A 401 ff. 32 Idee A 390 f. 33 Gemeinspruch A 261. 34 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793, S. 126 f. ( = A), Königsberg 1794 ( = B). Abgekürzte Zitierweise: "Religion". 35 Frieden A 18. Noch im opus postumum spricht Kant vom Zerstörungstrieb der menschlichen Natur (Akademie-Ausgabe XXI 13). 38 Frieden A 59. 37 Streit A 160. 38 Kritik der praktischen Vernunft A 104-106. 39 Kritik der praktischen Vernunft A 114-117. 30 31

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Böse sei die Negation des Moralisch-Guten. Er unterläßt es zu sagen, daß die Konsequenzen dieser Negation ein Handeln aus Sinnlichkeit ergeben. Diese Negation, die das Handeln aus Natur freisetzt, muß im Intelligiblen erfolgen, da eine intelligible Ursache wiederum nur durch eine intelligible, aber entgegengesetzte, aufgehoben werden kann. Da das "moralische Gesetz" als "Faktum der reinen Vernunft ... uns a priori bewußt" ist40, muß jedem Handeln aus empirischen Bestimmungsgründen dieser Akt vorausgehen. Wider besseres Bewußtsein wird gegen das Sittengesetz gehandelt. Wenn Kant das Handeln aus Natur mit einem moralischen Akzent versieht, dann setzt er die Kenntnis dieses Denkschemas voraus. Folglich ist es kein Widerspruch, wenn einmal die "Kausalität der reinen Vernunft" Bestimmungsgrund von gut und böse sein soll41 , ein anderes mal aus der reinen Vernunft allein das Sittengesetz abgeleitet wird42 • Das Böse leitet aus Freiheit nichts ab, es negiert sie bloß. Die "Kritik der praktischen Vernunft" ist auf den Dualismus von Natur und Freiheit hin angelegt. Da das Böse in der Natur seine positive Bestimmung erhält, das Gute durch die Freiheit, fügt sich der Begriff des Bösen in den Kontext der Philosophie. Der Gegenbegriff zur Sittlichkeit ist in dieser Schrift nicht das Böse, sondern die Glückseligkeit. Die Aufhebung der Polarität von Sittlichkeit und Glückseligkeit wird von Kant konzipiert im Begriff des höchsten Gutes. Wenn Sittlichkeit allein das Handeln bestimmt und Glückwürdigkeit erreicht wird, wird das höchste Gut erreicht43 • Das gleiche Problem wie in der "Kritik der praktischen Vernunft" begegnet ausführlicher in der "Religion". Der Begriff "Natur", der z. B. in den Abschnittsüberschriften "Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur" 44 und "Der Mensch ist von Natur böse" 45 verwandt wird, bezeichnet hier den "subjektive(n) Grund des Gebrauchs" der Freiheit durch den Menschen46 • Er ist also nicht wie gewöhnlich Gegenbegriff zu "Freiheit", sondern identisch mit diesem Begriff. Allerdings hält Kant nicht an einer scharfen Distinktion fest, da er auch von Anlagen in der menschlichen Natur spricht, die dem Menschen als empirischem Wesen zukommen47 • 4

° Kritik der praktischen Vernunft A 81 f.

Kritik der praktischen Vernunft A 114. Kritik der praktischen Vernunft A 56, A 83, A 128 u. a. 43 Kritik der praktischen Vernunft A 254 ff. u Religion A 13. 45 Religion A 24. 46 Religion A 6. 47 Religion A 13 ff. führt Kant aus, inwieweit die menschliche Natur (Natur im üblichen Sprachgebrauch verstanden) moralisch wertneutral ist und wie sie eine Tendenz zum Moralisch-Bösen hat. 41

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Wenn Kant vom bösen und guten Prinzip in der menschlichen Natur spricht, so wiederholt er die These der "Kritik der praktischen Vernunft", nach der das Böse und das Gute im Intelligiblen letztlich ihre Ursachen haben. Wie das Intelligible überhaupt hält er den Ursprung des Bösen in der Natur für "unerforschlich" 48, Daß das Glückstreben als Summe empirischer Bestimmungsgründe dem Bösen zuzuordnen ist, bleibt auch in der "Religion" ein unangetastetes Theorem49 • Obwohl Kant die Beziehung des Bösen zu Natur und Freiheit nicht mit der erforderlichen Klarheit traktiert, kann die Deutung des Mechanismus der menschlichen Natur als Glückstreben und seine Wertung in der kritischen Philosophie als einheitlich bezeichnet werden. Die vorkritische Konzeption einer ambivalenten Natur ist aufgegeben. Die These Schmuckers50, die Prinzipien der kritischen Ethik seien bereits in den Schriften der ersten Hälfte der 60er Jahre zu finden, so daß für die moralphilosophische Entwicklung die Zäsur um 1770 bzw. 1781 fragwürdig sei, läßt sich im vorliegenden Fall nicht bestätigen. Wenn Kant die Natur als Ursache der Französischen Revolution bezeichnet, so ist daraus zu entnehmen, daß er im menschlichen Glückstreben einen Faktor sah, der zur Revolution geführt hat. Aus seinem Werturteil über das Glückstreben ist zugleich seine Diagnose der Ursache der negativen Begleiterscheinungen der Revolution zu erschließen. Es kann gesagt werden, wie er deren "Elend und Greueltaten" begründet. Sie sind auf "Selbstliebe" oder "Streben nach eigener Glückseligkeit" zurückzuführen51 • Die Wirksamkeit des Glückstrebens wird von Kant erkannt, aber nicht gutgeheißen. Trotz der Bejahung der Revolution sagt er, "daß ein wohldenkender Mensch ... zum zweiten Male ... das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde" 52• Die Verwirklichung von Glück ist für Kant kein anerkennenswertes Motiv, eine Veränderung der politischen Ordnung zu fordern und durchzusetzen. Von seiner Glückseligkeitslehre her konnte in Deutschland kein Impuls für eine Revolution ausgehen, wohl von denen, die das Glückstreben positiv bewerteten. Mit einem positiven Wertakzent war der Glücksbegriff der Französischen Revolution versehen, was die "Erklärung der Menschen- und Religion A 43. Religion A 31. so Schmucker 24. 51 Streit A 143. Weitere Urteile: Die Hinrichtung Ludwigs XVI. charakterisiert Kant als moralisch-böse, womit auf den Bezug des Bösen zur Freiheit angespielt wird (Metaphysik A 177 ff.). Ebenso verurteilt er die Tätigkeit des Wohlfahrtsausschusses in der "Anthropologie" (A 215). s2 Streit A 143 f. 48

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Bürgerrechte" von 1789 zum Ausdruck bringt, in der die Aufgabe des Staates darin gesehen wird, sich "das Glück aller" ("le bonheur de tous") zur Richtschnur zu machen53• In der Verfassung von 1793 bestimmt der erste Artikel der Deklaration in gleicher Weise, das Ziel der Gesellschaft sei das allgemeine Glück ("le bonheur commun")54• Die Frage, ob die Glückseligkeitslehre als Stimulans der Revolution zu gelten habe, ist zu bejahen. Es war eine Diskrepanz zwischen Forderung und Wirklichkeit vorhanden, die es auszugleichen galt. Der positiven Wertung des Glücks und dem Streben nach seiner Verwirklichung stand das Bewußtsein gegenüber, daß das bestehende gesellschaftliche und staatliche System diesem berechtigten Streben hinderli