Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.] 9783428426171, 9783428026173


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German Pages 130 Year 1972

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Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.]
 9783428426171, 9783428026173

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 181

Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts

Von

Rudolf Dolzer

Duncker & Humblot · Berlin

RUDOLF

DOLZER

Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 181

Recht

Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts

Von Dr. Rudolf Dolzer

DUNCKER

&

HÜMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten O 1972 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1972 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 02617 9

Meiner Mutter und dem Gedenken meines Vaters

„Gewiß lassen sich, wie w i r Heutigen mit wenigen Ausnahmen glauben, Staatsrecht und Politik nicht völlig voneinander trennen, lassen sich staatsrechtliche Fragen nur selten lösen, ohne daß die letzte Entscheidung von bestimmten politischen Werturteilen bestimmt wird. Aber es ist eben das Ziel der Wissenschaft, die Grenze aufzuzeigen, wo objektive Erkenntnisse durch subjektive Werturteile abgelöst werden; es ist ihre Pflicht, zu versuchen, diese Grenze möglichst weit hinauszuschieben, und sie hat endlich nach allgemein-gültigen Maßstäben zu forschen, nach denen sich die zur Entscheidung rechtlicher Interessenkonflikte erforderlichen Abwägungen wertenden Charakters zu vollziehen haben." Heinrich

Triepel

anläßlich der Gründung des Vereins der deutschen Staatsrechtslehrer i m Jahre 1922

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 1971 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. I h r Thema stellt für einen noch unerfahrenen Juristen ein Wagnis dar: liegt das Bundesverfassungsgericht doch i m Schnittpunkt der Strukturen von Demokratie und Rechtsstaat — der beiden zentralen Pfeiler unseres Staatsgefüges, die jeweils selbst weder von der Rechtsprechung noch von der Wissenschaft m i t einem einmaligen, feststehenden Inhalt ausgefüllt werden konnten. Beide Begriffe sind historisch gewachsen und, obgleich i m Grundgesetz enthalten, auch heute noch i m Fluß. Gerade w e i l sie so komplex und i n ihren Konturen nicht scharf sind, und eine Vielzahl von rechtlichen, politischen und historischen Ideen i n sie eingegangen sind, fällt es besonders einem jungen Juristen schwer, den Ort des Bundesverfassungsgerichts i n ihrem Spannungsfeld abstrakt zu erörtern. Wenn das Wagnis dennoch unternommen wurde, so geschah dies weniger i n der Hoffnung, i n den Bahnen der traditionellen juristischen Diskussionen einen neuen Weg zu finden. Vielmehr bestand die Aussicht, durch einen Rechtsvergleich m i t dem i n dieser Hinsicht für die Bundesrepublik relevantesten Staat eine neue Sicht zu gewinnen. Dabei w a r sich der Verfasser durchaus bewußt, daß ein Rechtsvergleich des Bundesverfassungsgerichts m i t dem Supreme Court wegen der Verflochtenheit der beiden Institutionen m i t dem jeweiligen Rechtssystem, m i t den verschiedenen politischen Faktoren und m i t der Historie des betreffenden Landes nur i n beschränktem Umfang i n sinnvoller Weise vorgenommen werden kann. Dennoch ist der Verfasser — nach Abschluß der Arbeit mehr denn je — der Ansicht, daß es einen zentralen, der Institution als solcher zukommenden Bereich gibt, der einem fruchtbaren Vergleich zugänglich ist. Die jeweilige Ausgestaltung dieses Bereichs sollte i n dieser Arbeit erörtert, gegenübergestellt und auch bewertet werden. Es ist selbstverständlich, daß bei einem solchen Thema der Rat von erfahrener Seite besonders w e r t v o l l sein konnte. Mein Dank gilt deshalb den Professoren Carl J. Friedrich und Paul A. Freund von der

10

Vorwort

Harvard University, die m i r den Einstieg ins amerikanische Verf assungsrecht erleichtert haben, vor allem aber Herrn Professor Dr. K a r l Doehring von der Universität Heidelberg für seine allzeit verständige Betreuung der Arbeit. Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Broermann danke ich für die freundliche Aufnahme der Arbeit i n sein Verlagsprogramm. Cambridge, i m Oktober 1971

Rudolf Dolzer

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Darlegung des Problems

15

Zweites Kapitel

Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit der Weimarer Zeit A. Die Entwicklung des richterlichen Entstehung des Grundgesetzes

Prüfungsrechts

von 1924 bis zur

22 22

1. Deutscher Juristentag 1926

22

2. Staatsrechtslehrertagung 1928

22

a) Triepel

23

b) Kelsen

23

c) Beurteilung der Positionen

23

3. Die literarische Auseinandersetzung

24

a) Carl Schmitt

24

b) Beurteilung

25

4. Zusammenfassung der Diskussion

26

5. Der Prozeß Preußens gegen das Deutsche Reich

26

6. Verfassungsgericht i m Dritten Reich

27

B. Die Entstehung des Bundesverfassungsgerichts

27

1. Die Rolle der W R V i m Parlamentarischen Rat

27

2. Die Einordnung des BVerfGG ins Grundgesetz

30

3. Die Ausgangsposition des Parlamentarischen Rats

32

4. Die Modellfunktion des Supreme Court

32

5. Die systematische Gesamtkonzeption i m Parlamentarischen Rat

33

6. Die literarische Kritik

39

7. Die politische Einordnung der Kritiker des BVerfG

41

12

Inhaltsverzeichnis

8. Das Selbstverständnis des BVerfG

43

9. Der Wiederbewaffnungsstreit vor dem BVerfG

48

10. Die nationale Eigenkomponente der Verfassungsgerichtsbarkeit

50

Drittes Kapitel

Staatstheoretische Betrachtungen zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit

51

1. Die Forderung nach „politisch offener" Betrachtung

51

2. Das Verhältnis von „Recht" und „Politik"

51

a) Kaufmann

53

b) Bachof

53

c) Roellecke

54

d) Statusbericht

54

e) Eigener Ansatz

56

3. Die „politische" Betrachtung des Supreme Court in den U S A

59

a) Shapiro

59

b) Schubert

59

4. Strukturell-funktionale Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit

65

a) Traditionelle Betrachtungen

65

b) Der strukturell-funktionale Ansatz

68

5. Die vier Fallgruppen

71

6. Fall 2: „statisches" Verfassungsgericht

73

a) Rechtsstaat und Demokratie 7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht a) Der Fall Brown

76 80 81

b) Formale Betrachtung — das Dilemma von Cox

83

c) Institutionelle Betrachtung

83

d) Politische Betrachtung

84

e) Rechtstheoretische Betrachtung f) Der Sonderbereich der formalen Demokratie 8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3

86 86 88

a) Gewaltenteilung

89

b) Selbstverantwortlicher Gesetzgeber

95

c) Auswechselbarkeit der Verantwortlichen

96

9. Fall 1 und 4: „Legitimierungseffekt"

97

Inhaltsverzeichnis Viertes

Kapitel

Beiträge zur besonderen Grenzproblematik des Bundesverfassungsgerichts 1. Die Political-Question-Doktrin

99 100

a) Rolle in den USA

100

b) Anwendungsfeld

101

c) Inhalt

101

d) Begründung

102

e) Dogmatische Einordnung

102

f) Anwendbarkeit i m G G

107

g) Staatstheoretischer Wert

109

2. Die Rolle der Öffentlichkeit in der verfassungsgerichtlichen Interpretation 111 3. Die Nichtigkeitserklärung als Grenze des verfassungsgerichtlichen Bereichs 113 4. Die abstrakte Normenkontrolle

114

5. Die Organklage

118

6. Die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten i m Rahmen der Artikel 18 lind 21 I I G G 119 7. Einzelprobleme des § 31 BVerfGG Literaturverzeichnis

121 124

Erstes Kapitel

Darlegung des Problems " I t is emphatically the province and the duty of the judicial departs ment to say what the law is. Those who apply the rule to particular cases must of necessity expound and interpret that rule. I f two laws conflict w i t h each other, the courts must decide on the operation of each." „ . . . die Vorschriften der Reichsverfassung können nur durch ein ordnungsgemäß zustandegekommenes verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetzt werden. Sie bleiben daher auch gegenüber abweichenden Bestimmungen eines späteren, ohne Beachtung der Erfordernisse des A r t . 76 erlassenen Reichsgesetzes für den Richter verbindlich und nötigen ihn, die widersprechenden Bestimmungen des späteren Gesetzes außer Anwendung zu lassen." Beide Zitate stehen jeweils am Beginn einer verfassungsrechtlichen Entwicklung, deren Verlauf heute seinen Höhepunkt i n der zentralen Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit für zwei Staatswesen erreicht hat: das erste stammt aus dem w o h l i n den Vereinigten Staaten von Amerika berühmtesten U r t e i l Marbury vs. Madison 1 , das andere aus einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 19242. Die Tragweite der beiden Urteile wurde erst m i t der historischen Entfaltung ihrer Dynamik sichtbar. Heute w i r d der Supreme Court als Organ m i t der Macht eines „ h y b r i d organ of state" 3 , das Bundesverfassungsgericht als „über den anderen Staatsorganen stehender pouvoir neutre" 4 bezeichnet. Die rechtliche — und damit auch die politische — Ausformung der beiden Staaten trägt heute die Züge der beiden Verfassungsgerichte. Sie stellen i n einem realen Sinn die Mitte der beiden Staatsgefüge dar. Die Parallelität i m Gedankengang der beiden angeführten Urteile ist nicht zu übersehen: gehen w i r von der Verfassung als dem rang1

Marbury vs. Madison; 1 Crandi 137. 2 R G 111, 324. 3 Kauper, Hybrid Organ, S. 537. * Doehring, S. 201 ff.

16

1. Kap.: Darlegung des Problems

höchsten Gesetz i m Staat aus, so kann ein niederes Gesetz die Verfassung nicht außer Kraft setzen. Der Richter darf dann nur das höhere Gesetz beachten, wenn das niedere einen dem höheren Gesetz widersprechenden Inhalt hat. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt darin, daß das richterliche Prüfungsrecht weder i n der amerikanischen Verfassung noch i n der Weimarer Verfassung verankert wurde. Die öffentliche Diskussion war sowohl 1802 i n den Vereinigten Staaten als auch 1924 i n Deutschland geteilt; vor Erlaß der beiden Urteile wurde sie i n beiden Ländern mit außerordentlicher Heftigkeit geführt; i n beiden Urteilen haben die Richter m i t dem Hinweis auf die Hierarchie der Normen ein richterliches Recht i n Anspruch genommen, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit h i n zu prüfen 5 . Die genauere Betrachtung zeigt aber, daß beide Urteile nicht nur Gemeinsamkeiten haben. Die amerikanischen Richter haben 1802 m i t der Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts i m allgemeinen nicht halt gemacht, sondern zugleich auf die systemimmanenten Grenzen eines solchen Prüfungsrechts hingewiesen; i m U r t e i l des Reichsgerichts ist darüber nichts ausgesagt. Auch die historische Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts ist i n den beiden Ländern verschieden: der Supreme Court besteht heute noch und prüft Normen; das U r t e i l des Reichsgerichts wurde i m Dritten Reich nicht mehr beachtet, erst i m Grundgesetz und i m Anschluß daran i m Gesetz über das Bundesverfassungsgericht setzt sich die Linie des reichsgerichtlichen Urteils fort. Hier soll aber vor allem auf die Tatsachen eingegangen werden, daß der Unterschied i n den beiden Urteilen notwendigerweise — auch — derjenige v o m europäisch-kontinentalen Rechtsdenken und vom System des common l a w sein muß. Inwieweit sich die Richter von 1924 am Supreme Court orientiert haben und inwieweit sie sich der Implikationen des Systemunterschieds bewußt waren, soll hier dahingestellt bleiben. Die Väter des Grundgesetzes u n d auch des Bundesverfassungsgerichts orientierten sich bei der Konstruktion der Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem beträchtlichen Ausmaß an den amerikanischen Verhältnissen 6 . Das richterliche Prüfungsrecht w a r nach seiner Entwicklung i n der Weimarer Zeit offenbar schon so weit verfestigt, daß man sich über Systemunterschiede keine Gedanken mehr machte; die Zeit, die dem Parlamentarischen Rat 6 Für die USA, vergleiche Bichel, The Least Dangerous Brandl, S. 4 ff., mit abwägenden Argumenten; ferner Berger für die historische Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts in den USA bis 1802. Für Deutschland, vergleiche Maurer, S. 683 ff. « Vgl. dazu unten B, 4; S. 32.

1. Kap.: Darlegung des Problems zur Verfügung stand, erlaubte es wohl auch kaum, sich darüber i m einzelnen klar zu werden. Erste Hinweise auf diesen Fragenkomplex kamen 1951 i n der Literatur, als das Bundesverfassungsgericht m i t einem judge-made-law i n Verbindung gebracht wurde 7 . Hier liegt i n der Tat ein Schlüssel zum Verständnis der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Worin aber besteht dieser Systemunterschied und wie w i r k t er sich aus? Die Frage ist eng verbunden m i t der Methodik der Verfassungsgesetzgebung, mit der Präzision sachlicher Regelungen i n den meisten Verfassungen, m i t der Funktion einer Verfassung überhaupt, m i t der sprachlichen Gestaltung von Verfassungstexten, und vor allem mit der Stellung des Richters i m Rechtssystem. Die Integrationsfunktion und — i m Zusammenhang m i t i h r — das plakative Element i m sprachlichen und sachlichen Bereich sind nicht die alleinigen Gründe dafür, weshalb sich die Klarheit des üblichen juristischen Ausdrucks nicht für die Verfassung eignet; auch der bunte Strauß der bei der Verfassungsgesetzgebung vertretenen Interessengruppen läßt oft nur Formulierungen zu, welche nicht mehr als eine breite Basis bilden, von der aus die politischen Kräfte in Zukunft die weitere Gestaltung des politischen Lebens unternehmen werden. Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz bilden i n bezug auf diese allgemeinen Erscheinungen keine Ausnahme 8 . Eine scharfe Analyse der an der Entstehung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte steht zwar heute noch aus; aber schon ein erster oberflächlicher Blick auf das Grundgesetz zeigt die Spuren von Liberalismus und Sozialismus, von christlichem Wertdenken und weltanschaulicher Indifferenz. Die für unsere Zeit zentrale Antinomie von Freiheit und Gleichheit w i r d zum Beispiel i n den A r t i k e l n 2 und 3 des Grundgesetzes ebensowenig zu einer Lösung geführt wie i n A r t i k e l 14 oder i n der Formulierung des sozialen Rechtsstaats i n A r t i k e l 28. Diesen Feststellungen einen vorwurfsvollen Ton zu geben wäre eine grobe Mißachtung der Leistung der Väter des Grundgesetzes; ein anderes ist es, sich Gedanken zu machen über die Konsequenzen für die Relevanz der Verfassungsgerichtsbarkeit auf einem solchen Hintergrund. Es liegt immerhin nahe zu fragen, wo bei der Auslegung einer solchen Verfassung der Bereich einer noch so kunstvoll geschaffenen Hermeneutik aufhört und derjenige der richterlichen Subjektivität beginnt. Auf die Fragen, ob hier ein beachtenswerter Unterschied zur übrigen Rechtsprechung liegt und ob sich hier Auswirkungen ergeben, die das 7 Vgl. Apelt, JZ 54, S. 404. 8 Vgl. Grosskreutz, S. I f f . ; Achterberg, S. 159ff. 2 Dolzer

18

1. Kap.: Darlegung des Problems

verstärkte Interesse der Staatsrechtslehre später zurück.

verdienen, kommen

wir

Hier soll einmal der Blick auf das Verhältnis des Richters zum Recht i m kontinental-europäischen und i m anglo-amerikanischen Recht gelenkt werden. I m axiomatischen Denken eines Kodifikationssystems ist die Bedeutung des Richters für die Entwicklung des objektiven Rechts sicherlich geringer als i m Falldenken des common law. Auch wenn sich die Positionen hier an einigen Stellen aufweichen 9 , so gelten sie doch i m Prinzip für die Gegenwart immer noch, nicht nur als theoretischer Unterschied, sondern auch als konkrete Basis für die Methodik der beiden Systeme. Wenn der amerikanische Richter i m Wege der Auslegung die Verfassung immer wieder fortentwickelt, so stellt dies innerhalb des gesamten Rechtssystems des common law keine Ausnahme dar, sondern die Regel. Wie aber ist die Situation des deutschen Verfassungsrichters, wenn w i r davon ausgehen, daß der juristische Gehalt des Grundgesetzes an einigen zentralen Stellen nicht allzu hoch veranschlagt werden kann? Die A n t w o r t muß w o h l lauten, daß die Stellung des Richters am Bundesverfassungsgericht nicht i n derselben Weise beinteilt werden kann, als w i r dies i m Kodifikationssystem gewohnt sind. Der Spielraum des Richters am Bundesverfassungsgericht gleicht sich durch die Breite der möglichen Interpretation vielmehr demjenigen an, welchen das allgemeine Rechtsdenken i m common law dem Richter zuweist. I n der aktiven Rolle des Verfassungsrichters bei der Fortbildung des Rechts erfährt unser Kodifikationsdenken eine Ausnahme, welche einer Anleihe vom System des common law gleichkommt. Die Konsequenzen dieser Feststellung umreißen das Problem der Verfassungsrechtsprechung der Bundesrepublik i n seinem rechtlichen und seinem staatstheoretischen Aspekt. Sie bilden, i n ihrer Verflechtung mit politischen Implikationen, den Gegenstand dieser Arbeit. Die hier angedeutete Position des Richters am Bundesverfassungsgericht ist i n der bisherigen Diskussion der Staatsrechtslehre nicht m i t der Aufmerksamkeit beachtet worden, die diesem Problem gebührt. A n einzelnen Ansätzen hat es nicht gefehlt, insbesondere stellt die Staatsrechtslehrertagung i m Jahre 1963 eine erfreuliche Ausnahme dar 1 0 . Die Wirkungen dieser Ansätze auf die gesamte Staatsrechtslehre sind bisher jedoch gering geblieben. 9 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 77 ff. 10 Die vorliegende Arbeit geht in wichtigen Aspekten von dort gehaltenen Referaten aus.

1. Kap.: Darlegung des Problems

19

Als die Richter am Reichsgericht 1924 das U r t e i l zum Aufwertungsgesetz fällten, waren die Folgen seiner Entscheidung deshalb beschränkter als die heutige Verfassungsrechtsprechung, w e i l das Bundesverfassungsgericht heute ein Normverwerfungsmonopol mit breitangelegten Kompetenzen besitzt. Immerhin hat es damals bereits ebenso viel Aufsehen erregt wie das Urteil Marshalls i m Jahre 180211. Hier soll nun keineswegs den Richtern von 1924 eine juristische Rüge erteilt oder die Diskussion u m dieses U r t e i l fortgesetzt werden. Letzteres schon deshalb nicht, w e i l das richterliche Prüfungsrecht sinnvollerweise nicht als isoliertes Institut gesehen werden kann, sondern nur als Teil eines juristischen Gesamtsystems, welches seinerseits wiederum i n politische, soziologische und historische Gegebenheiten eingebettet ist — und sich die Situation seit 1924 insofern entscheidend verändert hat. Was aber auch heute noch von Bedeutung ist, ist die Betonung der für unser Problem wichtig erscheinenden Strukturunterschiede des common law und des kontinental-europäischen Rechts, sowie die Folgen dieser Unterschiedlichkeiten i n ihrer Relevanz für das richterliche Prüfungsrecht, welches w i r als eine A r t Enklave des common law i n unserem Kodifikationssystem erkannt haben. Josef Esser 12 hat für das Zivilrecht gezeigt, i n welchem Maße topisches Denken den Bereich des common law beherrscht, u n d wie sehr andererseits axiomatische Hermeneutik vom Ansatzpunkt her unser kontinentales Kodifikationsrecht bestimmt. Für das öffentliche Recht gelten diese Grundaussagen i n unveränderter Form 1 8 . Daraus folgt aber, generell formuliert* daß die üblichen Interpretationsregeln eines Kodifikationssystems für unsere Verfassungsrechtsprechung nur von geringem Wert sind 1 4 . Bedenkt man weiter, daß topisches Denken i n sich gestaltendes Denken ist, so w i r d bald klar, daß an einem gewissen Punkt topischer Verfassungsrechtsinterpretation die Grenze zur primären politischen Gestaltung, zur Politik erreicht wird. Auch dann ist an diesem Punkt ein Strukturunterschied von topischem und axiomatischem Denken zu sehen, wenn man sich darüber i m klaren ist, daß auch i m Kodifikationssystem die Rechtsprechung eine politische

11

Zu den Reaktionen, vergleiche Maurer, S. 683 ff., Warren, Bd. 1, S. 232 ff. 12 Esser, Grundsatz und Norm. is Vgl. dazu Ehmke, W d S t R L 20. 14 Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß die allgemeinen Lehren Kelsens nur schwer auf den Bereich der Verfassungsrechtsprechung anwendbar sind, da sie den Blick für die spezifische Rechtsnatur der Verfassung kaum ermöglichen.

2*

20

1. Kap.: Darlegung des Problems

Funktion hat, w e i l nämlich, i n den Worten Radbruchs, „Interpretation immer ein zu-Ende-Denken der Norm ist" 1 5 . M i t Radbruchs Formel w i r d immerhin deutlich, daß die Norm mindestens einen sicheren Anfangspunkt darstellt, eine starke Starthilfe gibt. Der Unterschied zum topischen Denken mag letztlich nur als ein gradueller erscheinen; aber auch wenn die methodischen Differenzen nur quantitativer Natur sind, so haben sie doch für unsere Lehre der Verfassungsinterpretation enorme Bedeutung, vor allem wegen der sachlichen Nähe von Verfassungsrecht und Politik. Wenn Marshall 1802 zugleich m i t der Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts betont hat, daß die Normenkontrolle die Grenzen zur Politik nicht überschreiten darf, so ist dies für unsere verfassungsrechtliche Betrachtung deshalb ein Punkt von besonderem Interesse, w e i l dieser Aspekt auf dem Hintergrund der — unser Verfassungsrecht beherrschenden — zivilrechtlichen Hermeneutik nur sehr schwer erfaßt werden kann. E i n weiterer struktureller Unterschied betrifft die Tatsache, daß topisches Denken ein Fallrechtsdenken ist. Dem entspricht es nämlich, wenn die Formulierung des Urteils i m common law nicht unter dem Zwang steht, m i t abstrakten Formeln ein generell gültiges Prinzip aufzustellen. Vielmehr hat das U r t e i l i n erster Linie eine interessengerechte Lösung des konkreten Falles zum Ziel. Der Umfang der Selbstbindung soll möglichst gering gehalten werden; nicht nur, damit keine allgemeine Versteinerung des Rechtslebens eintritt, sondern auch, u m jede geringe Abweichimg i n der Interessenlage i n zukünftigen Fällen sachgerecht auffangen zu können. N u n stellt zwar die Lehre von der Rechtskraft i n jedem Rechtssystem einen eigenen unabhängigen Faktor dar; es bleibt aber die Notwendigkeit, eine sachliche Interdependenz von topischem Denken und Rechtskraft i m betreffenden Rechtssystem zu berücksichtigen. Auf den ersten Blick liegt es nahe, daß der Eigenart des topischen Denkens ein relativ geringer Umfang der Rechtskraft entspricht. Ferner besteht ein Unterschied von axiomatischem und topischem Denken i n der Methodik der Fallösung. Bei der axiomatischen Auslegung eines Gesetzes gehen w i r i m allgemeinen davon aus, daß das Gesetz relativ deutlich gefaßt ist und w i r m i t den herkömmlichen Methoden der Interpretation zu einem klaren Ergebnis kommen. Beim topischen Denken indessen muß der Ausgangspunkt für die Fallösung i m Sinne der Abwägung von Interessen zuerst einmal vom Richter, nicht vom Recht bestimmt werden. Daß bei einer solchen persönlichen Einordnung des Falles durch den Richter die generelle Gefahr der Subjektivität höher ist als beim Gesetzesdenken ist klar. Sie w i r d i m iß Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 211.

1. Kap.: Darlegung des Problems System des common law durch die Lehre von den precedents stark reduziert 16 . Wie aber stellt sich das Problem, wenn w i r zivilistische Interpretationsmethoden i n den Bereich topischen Denkens hineinnehmen? Wird hier nicht der Zufall gefördert? A u d i der Umfang und die Ausgestaltung der Kompetenzen eines Gerichts m i t topischer Ausgangslage bedarf i m generellen Kodifikationssystem eines besonderen Hinweises. Dieses Problem stellt sich vor allem dann, wenn das Gericht i n den Bereich des Politischen hineinragt. Hier soll noch nicht i n die Diskussion u m den Begriff des Politischen eingestiegen werden; es sei aber schon jetzt darauf hingewiesen, daß das Abwägen von Interessen als fundamentales Element topischen Denkens i n die unmittelbare Nähe des Begriffs des Politischen kommt. Wenn das aber zutrifft, dann dürfen w i r i m Hinblick auf ein sinnvolles System der Gewaltenteilung die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts nicht übermäßig weit bemessen. Für die Ausgestaltung der Klageformen ergibt sich hier noch ein weiteres. Wenn topisches Denken, Interessenabwägung und der Begriff des Politischen auf einer gemeinsamen Linie liegen, dann ergibt sich für den Kreis der möglichen Antragsteller die Frage, bei welchem Antragsteller politische Motivationen i m Vordergrund stehen könnten und inwiefern dies für das Gesamtsystem als wünschenswert erscheinen mag. Schließlich sei hier noch die Frage angesprochen, ob nicht topisches Richterdenken i m politischen Raum Auswirkungen allgemeiner A r t hat, welche beim axiomatischen Denken nicht auftreten. Ergeben sich Probleme für die Dauer der Amtsperiode der Richter? Welche Auswirkungen ergeben sich durch die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts für eine allgemeine Konzeption der Verfassung? Welche Theorie der Demokratie steht hinter der Existenz des Bundesverfassungsgerichts? Inwiefern w i r d die Institution des Bundesverfassungsgerichts vom Begriff des Rechtsstaats gefordert? Natürlich kann die vorliegende Arbeit nicht alle diese Probleme beantworten, nicht einmal andeutungsweise. Sie muß sich vielmehr auf wenige zentrale Komplexe beschränken. Diese können i n ihrem juristischen Gehalt oft nicht losgelöst von den angedeuteten staatstheoretischen Fragen gesehen werden; insofern muß diese Arbeit über den juristischen Bereich hinausgehen.

Zur erheblichen Weite des verbleibenden Spielraums vergleiche Bischoff, S. 76 ff.; Kauper, Hybrid Organ, S. 579 f.

Zweites Kapitel

Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit der Weimarer Zeit A. Die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts von 1924 bis zur Entstehung des Grundgesetzes Bevor aber die bestehende Lage untersucht werden soll, ist es angebracht, den weiteren Weg des richterlichen Prüfungsrechts bis zur Institution Verfassungsgericht und seiner Ausformung näher zu betrachten. W i r werden später sehen, daß die Arbeit des Parlamentarischen Rats gerade i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit sehr stark von historischen Überlegungen bestimmt war. Z u m Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ist eine Darlegung der geschichtlichen Hintergründe unerläßlich. 1. Deutscher Juristentag 1926

Die Diskussion u m den Sinn des richterlichen Prüfungsrechts war mit dem Urteil des Reichsgerichts keineswegs beendet. Die Stimmen i n der Literatur waren w o h l i m ganzen gesehen eher kritisch als freundlich 1 . Einen ersten Höhepunkt i n dieser Auseinandersetzimg stellten die Diskussionen während des 26. deutschen Juristentages i m Jahre 1926 dar. Damals wurden zum ersten M a l Stimmen für die Einführung einer Klageform „Organklage" laut. Die fehlende Justiziabilität der Tätigkeit von Staatsorganen i n bezug auf die Einhaltung ihrer jeweiligen Kompetenzen wurde „entdeckt", das berühmte Wort von der „Lücke i n der Verfassung" fiel damals zum ersten Mal. 2. Staatsrechtslehrertagung 1928

I m Jahre 1928 wurde die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit schließlich zum Gegenstand der i n Wien stattfindenden Staatsrechtslehrertagung gemacht. Die Schärfe der damaligen Diskussion bis i n den emotional-persönlichen Bereich hinein ist heute i n diesem Gremium

i Vgl. Maurer,

S. 683 ff.

A. 2. Staatsrechtslehrertagung 1928

23

kaum mehr denkbar. Sie war nicht nur für den allgemeinen politischen Zustand Deutschlands, sondern auch für die Umstrittenheit der Verfassungsgerichtsbarkeit kennzeichnend 2 . I n den beiden Referaten von Kelsen und Triepel kamen dann auch die beiden grundsätzlichen Positionen, u m die es i m wesentlichen ging, i n zugespitzter Form zum Ausdruck. a) Triepel Triepel ging i n seinem Referat davon aus, daß die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Antithetik von Recht und Politik nur schwer einzuordnen sei. Seine skeptische Haltung gipfelte i n den Worten 8 : „Verfassungsstreitigkeiten sind immer politische Streitigkeiten. I n dieser Tatsache liegt das Problem der Einrichtung."

b) Kelsen Kelsens Referat stand dem Triepels nicht nach, was die Schärfe der Gedankenführung und der Argumentation betraf. Seine Thesen fußten auf der Grundlage, daß alles Recht eine politische Funktion habe und sich die Verfassung insofern keinesfalls vom übrigen Recht unterscheidet Zur Wirksamkeit der Verfassung als oberster Norm schien ihm, nach seinen eigenen Worten, die gerichtliche Prüfung ebenso erforderlich wie zur Durchsetzung einer Verordnung des Landratsamts. Aus seiner Sicht gab es für die Staatsrechtslehre keine andere Alternative neben der, die Verfassung i m geschlossenen Stufenbau der Normen zu sehen4. Eine besondere Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit konnte sich auf diesem Hintergrund für Kelsen nicht ergeben; i m Gegenteil, seine Lehren forderten i n jeder Hinsicht ein Verfassungsgericht. c) Beurteilung

der Positionen

Die Analyse der Grundpositionen der beiden Referate zeigt, daß Kelsen und Triepel i n ihrer Basis insofern ziemlich nahe beieinander lagen, als die politische Relevanz der Verfassungsgerichtsbarkeit von 2 Die Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit, zumindest um das richterliche Prüfungsrecht war schon beträchtlich älter; 1907 unterschied Kahn zwischen solchen Staatsrechtslehrern, die über das richterliche Prüfungsrecht geschrieben haben und solchen, die es noch nicht getan haben (zitiert bei Konschegg, S. 1). s Triepel, W d S t R L 5, S. 8. 4 Kelsen, W d S t R L 5, S. 53.

24 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar keiner Seite geleugnet wurde 5 . Die fundamentalen Unterschiede lagen erst i n der Frage der Bewertung dieser Gegebenheit. Daß Kelsens Reine Rechtslehre keine Einwendungen gegenüber einer politischen Funktion des Gerichts haben würde, folgerte unmittelbar aus ihrem System. Triepel ging weniger juristisch-dogmatisch an das Referat heran, sondern versuchte, die Verfassungsgerichtsbarkeit sinnv o l l in das politische Gesamtgefüge einzuordnen und kam auf diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit i m Sinne des Rechtsstaats i n begrenztem Umfang wünschenswert sei, daß sie aber keinesfalls zu einem politischen Zentrum werden sollte. Erstaunlich war, daß nur einer der beiden Referenten versuchte, die Verfassungsgerichtsbarkeit i n ihren demokratischen Aspekten zu durchleuchten. Noch erstaunlicher mutet an, daß dies Kelsen und nicht Triepel war, und daß Kelsen versuchte, eine allgemeine Theorie der Demokratie für seine Konzeption fruchtbar zu machen. I n der Diskussion hatte Triepel w o h l die Mehrzahl der Anwesenden auf seiner Seite. Z u m Teil ließ allerdings die Schärfe der Auseinandersetzung den Wert des sachlichen Arguments i n den Hintergrund treten. 3. Die literarische Auseinandersetzung Die literarische Auseinandersetzung u m die Verfassungsgerichtsbarkeit spitzte sich noch weiter zu. Sie gipfelte i n zwei kontroversen Schriften, einerseits Carl Schmitts „Der Hüter der Verfassung", andererseits Kelsens „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?". Die politisch verschiedenen Ausgangspunkte von Schmitt und Kelsen hatten zur mehr oder weniger notwendigen Folge, daß es sich letztlich i n dieser Auseinandersetzung mehr u m zwei Monologe als um ein Streitgespräch handelte. a) Carl Schmitt Hier soll diese Kontroverse nur insofern erörtert werden, als die Position Carl Schmitts i n der zentralen Frage des Verhältnisses von Verfassungsrechtsprechung und Politik eine neue Variante i n der allgemeinen Diskussion war. Kelsens Ansicht hatte sich seit dem Jahre 1928 nicht verändert. Die Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Kelsen war eng verflochten m i t den historischen politischen Realitäten und Problemen. Beide Seiten hatten m i t ihrer juristischen Argumentation 5 Der Begriff des Politischen wurde allem Anschein nach von Kelsen und Triepel in gleichem, zumindest in ähnlichem Sinne verwendet.

A. 3. Die literarische Auseinandersetzung

25

mehr oder weniger aktuelle politische Nebenabsichten; insofern sind sie heute nur mehr von rechtsgeschichtlichem Interesse. Carl Schmitt ging davon aus, daß das Recht der Politik untergeordnet ist; seine Freund-Feind-Theorie ließ ihn das Recht nur i m unmittelbaren Bezug zur politischen Auseinandersetzung sehen. Die kontroversen gesellschaftlichen Fragen, so folgerte er, können nicht vom Recht, sondern nur von der Politik her ihre Entscheidung und ihre Befriedung finden. Da sich das Verfassungsrecht i m politischen Raum bewegt, ergab sich seine Ablehnung der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit zwangsläufig. Eine „justizförmige Entscheidung politischer Fragen" pervertiert nach seiner Ansicht die Aufgaben, Möglichkeiten und immanenten Grenzen der Justiz. b) Beurteilung W i r hätten es heute leicht, wenn uns der Rückblick auf die politische Entwicklung Deutschlands i n den dreißiger Jahren und die Haltung Carl Schmitts zum Dritten Reich zeigen würden, daß die Ansichten Carl Schmitts zur Verfassungsgerichtsbarkeit durch unsere geschichtlichen Erfahrungen überholt und obsolet geworden sind. I n der Tat gibt es Autoren, die dieser Ansicht sind, was uns später noch eingehender beschäftigen wird. Eine genauere Betrachtung der Schriften Carl Schmitts zeigt aber, daß Carl Schmitt i n seinen Ansichten eine Entwicklung durchgemacht hat, die eine Differenzierung i n der Beurteilung seines Gedankenguts i n seinen verschiedenen Phasen sinnvoll erscheinen läßt 6 . Hier kann auf dieses Problem nicht i m einzelnen eingegangen werden; festzuhalten ist aber, daß eine Beurteilung der Schmittschen Ansichten zur Verfassungsgerichtsbarkeit bis 1932 als „nazistisch" sicherlich am K e r n vorbei ginge. Wie w i r wissen, hielt Carl Schmitt auch damals ein politisch starkes, anti-parlamentarisches Staatsgefüge für wünschenswert. Daß er sein Gedankengut später i n den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hat, ist insofern nicht erstaunenswert. Eine andere Frage ist es aber, wenn w i r die gesamten Ansichten Schmitts aus all seinen Phasen als „nazistisch" i n der heutigen Diskussion außer Betracht lassen wollen. Hier geht es nicht u m die Person Carl Schmitts, sondern darum, daß es unsinnig wäre, wenn sachliche Gedankengänge heute deshalb außerhalb der juristischen Diskussion stehen sollten, w e i l sie früher i n einer ähnlichen Form von Carl Schmitt geäußert worden sind. Dem sachlichen Problem wäre damit nicht gedient, vielmehr wäre die Diskussion dann i n einer sachlichen Dimension tabuisiert. Das kann, heute zumindest, nicht i n unserem Interesse sein. « Vgl. dazu die Darstellungen von Fjalkowski

und Schmitz.

26 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar Diese Ausführungen haben keinesfalls den Zweck, eine Neuauflage des Schmittschen Gedankenguts zur Verfassungsgerichtsbarkeit vorzubereiten. Sie sind aber von der Sache her notwendig, wenn w i r die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik i n ihrer Vielschichtigkeit verstehen und beurteilen wollen. Die juristische Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Nachkriegszeit w i r d dies zeigen. 4. Zusammenfassung der Diskussion I n einer Zusammenfassung der prinzipiellen Positionen der literarischen Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Weimarer Zeit ist davon auszugehen, daß die damaligen Ansichten zwangsläufig nicht losgelöst von den historischen, politischen und soziologischen Bezügen der damaligen Zeit gesehen werden können. Dennoch läßt sich für den allgemeinen Bereich des Staatstheoretischen folgendes sagen: die Diskussion w a r sich darin einig, daß man die Verfassungsgerichtsbarkeit m i t dem Dualismus von Recht und Politik nicht eindeutig erfaßt werden kann, daß vielmehr beide Bereiche durch die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit angesprochen sind. I n den Konsequenzen, welche aus dieser gemeinsamen Aussage für den Sinn der Verfassungsgerichtsbarkeit entstehen, w a r man sich nicht einig; i n den extremen Positionen von Schmitt und Kelsen wurden diametral entgegengesetzte Schlüsse daraus gezogen. Inwieweit die Erkenntnisse während der Weimarer Zeit auch für die heutige Zeit noch fruchtbar gemacht werden können, w i r d uns später noch näher beschäftigen. 5. Der Prozeß Preußens gegen das Deutsche Reich Z u r Vollständigkeit einer Darstellung der wichtigsten Züge der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Weimarer Zeit soll hier noch erwähnt werden, daß sich der Staatsgerichtshof i m Jahre 1932 m i t einer Klage Preußens gegen das Deutsche Reich zu beschäftigen hatte. I n diesem verfassungsrechtlich w o h l bedeutsamsten Prozeß der Weimarer Zeit ging es u m die Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. J u l i 1932. Darin ernannte der Reichspräsident den Reichskanzler unter Berufung auf A r t . 48 zum Reichskommissar für Preußen. I m Einklang m i t dieser Verordnung enthob der Reichskanzler i n seiner Eigenschaft als Reichskommissar i n der folgenden Zeit acht preußische M i n i ster ihrer Ämter 7 . 7 Zu einer staatstheoretischen Diskussion dieses Falles, vgl. PoetzschHeffter, DJZ 1932, S. 1373 ff.

B. 1. Die Rolle der WRV im Parlamentarischen Rat

27

6. Verfassungsgericht im Dritten Reich Wie zu erwarten, konnte sich die Weimarer Verfassung nach 1933 auch nicht durch den Staatsgerichtshof Geltung verschaffen. Ein Zitat aus Ipsens „Politik und Justiz" mag dies verdeutlichen 8 : „Die Legitimation der Regierung . . . resultiert aus ihrer Berufung, die Führung i m Bereich des Staatlichen zu verwirklichen, und ist erkennbar in ihrer autonomen Kompetenz zur Normsetzung. Diese Ordnung muß in jedem Rechtssystem möglichst intensiv verwirklicht sein, und wo es nottut, jederzeit konkret verwirklicht werden können. Danach muß die Gerichtsverfassung organisiert sein."

B. Die Entstehung des Bundesverfassungsgerichts I m folgenden Kapitel der Untersuchung soll die Genesis des Bundesverfassungsgerichts i m Grundgesetz und i m Gesetz über das Bundesverfassungsgericht dargelegt werden. 1. Die Rolle der WRV im Parlamentarischen Rat Zur Freilegung der Motivationen und Intentionen der Väter des Grundgesetzes werden w i r dabei das System der Weimarer Verfassung nicht aus dem Blick lassen dürfen. Daß die allgemeine Stimmimg i m Parlamentarischen Rat gegenüber der Weimarer Verfassung nicht günstig war, ist hinreichend bekannt und läßt sich bereits durch einen oberflächlichen Vergleich der beiden Verfassungen erläutern. Die Festlegung der Kompetenzen des Bundespräsidenten, die Stellung des Bundeskanzlers, die Verteilung der Gewichte i m föderativen Bereich, die Voranstellung bindender Grundrechte sowie die Finanzverfassung beschreiben einen thematischen Hintergrund, welcher das Grundgesetz zu einem großen Teil umfaßt und charakterisiert. I n all diesen Bereichen aber hat die politische Geschichte der Weimarer Verfassung das Grundgesetz mitgeformt, indem sie als negatives Beispiel gedient hat. I m allgemeinen ist w o h l davon auszugehen, daß der Parlamentarische Rat zu einem großen Teil unter dem Eindruck stand, die politische Entwicklung Deutschlands i n den dreißiger Jahren habe die Unzulänglichkeit der Weimarer Verfassung als Gesamtsystem evident gemacht. Inwieweit hier die Vorstellung, daß eine „gute" Verfassung ein w i r k samer Riegel zur Verhinderung des Vordringens eines totalitären Staatswesens gewesen wäre, läßt sich heute nicht mehr i m einzelnen klären. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß der Parlamentarische 8 Ipsen t Politik und Justiz, S. 215.

28 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar Rat die Weimarer Verfassung als ein — i m politischen Bereich — gescheitertes Experiment angesehen hat, dessen politische Folgen i n der Zukunft durch die Ausformung des Grundgesetzes unmöglich gemacht werden sollten. Der Einbau der Vorschrift des A r t i k e l 79 Absatz 3 deutet ebenfalls darauf hin, daß i m Parlamentarischen Rat vom Ansatz her der Versuch unternommen wurde, die zukünftige politische Entwicklung Deutschlands auf dem Wege der Gestaltung der Verfassung i n den Griff zu bekommen 9 . Sieht man die Verfassung i n dieser Weise als aktives M i t t e l zur politischen Gestaltung an, so kann das geschichtliche Urteil über die juristische Qualität der Weimarer Verfassung i n der Tat nicht günstiger ausfallen, als es i n der Arbeit des Parlamentarischen Rates zum Ausdruck kommt. Sicherlich wäre es auch töricht, dem Nachkriegsdeutschland Vorwürfe darüber zu machen, daß es auf verschiedensten Gebieten einen politischen Neubeginn m i t langfristigen Perspektiven angestrebt hat. Fraglich bleibt dabei aber, ob die starren Bindungen, die das Grundgesetz an manchen Stellen den politischen Kräften angelegt hat, als optimaler Beitrag zu diesem Bemühen gewertet werden können. W i r müssen uns heute nicht nur fragen, ob die Wirkungskraft einer Verfassung (und damit auch einer Verfassungsgerichtsbarkeit) per se überhaupt so weit reichen kann, wie dies offenbar i m Parlamentarischen Rat angenommen wurde; die Frage, die damals sicherlich sekundärer Natur war, ist darüber hinaus, ob nicht das Staatswesen sogar Schaden nehmen kann, wenn der Bereich juristischer Bindung der Politik eine gewisse Linie überschreitet. Hegel 1 0 hat diese Bedenken einmal so formuliert: die Rechtspflege tritt ganz aus ihrer Natur, wenn Staatsgewalt ihr Gegenstand werden soll, weil hiermit sie, die wesentlich nur ein Theil des Staats ist, über das Ganze gesetzt würde."

Hier kommt keinesfalls eine Skepsis gegenüber einer durchgehenden rechtlichen Ordnung des Staatswesens zum Ausdruck; es geht hier um die staatstheoretische Frage, i n welchem Ausmaß Politik als dynamische, freie Gestaltung i n jedem Staatswesen notwendig ist 1 1 . Wer heute i n der Retrospektive Tadel an der Arbeit des Parlamentarischen Rates üben möchte, w e i l dieser den politischen Spielraum i m Sinne der Eingrenzung durch das Recht möglichst stark beschränken ® Die Rolle der Alliierten in diesem Zusammenhang ist heute noch nicht geklärt; Ridder, Arndt-Festschrift, S. 332 meint, die Alliierten haben nur wegen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf ein Vetorecht in der deutschen Gesetzgebung verzichtet (ohne näheren Beleg). G. W. F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands, zitiert bei Massing, S. 211. 11 Damit wird keinesfalls der Dualismus von Recht und Politik neu aufgebaut; wir kommen auf die beiden Begriffe und ihre Beziehung später zurück.

B. 1. Die Rolle der WRV im Parlamentarischen Rat

29

wollte, der verkennt die historische Situation unseres Verfassungsgesetzgebers 12. Eine gewisse historische Distanz von der Zeit des Dritten Reiches sollte uns indessen heute dazu anregen, die Frage nach der sinnvollen Ausgestaltung des Verhältnisse von Recht und Politik i n der Sicht des Grundgesetzes neu zu überdenken. Die negative Sicht der Weimarer Verfassung i m Parlamentarischen Rat mag i n einzelnen Aspekten gerechtfertigt sein. I m Gesamtbild bleibt aber die Frage, ob nicht i n der Anti-Reaktion des Grundgesetzes auf die Weimarer Verfassung das Pendel zu weit auf die andere Seite ausgeschlagen hat. Das moderne demokratische Staatswesen lebt von einer Balance verschiedener, zum Teil gegenläufiger Prinzipien. Wenn der Akzent dann zu stark auf ein besonderes Strukturelement gelegt wird, kann die allgemeine Harmonie i m Aufbau des Staatswesens gestört werden; auch dann, wenn dieser Bereich i n der vorhergehenden geschichtlichen Periode vernachlässigt worden ist. Es scheint, daß diese allgemeinen Betrachtungen des Verhältnisses von Grundgesetz und Weimarer Verfassimg i n besonderem Maße i m Komplex der Justiz und dort wiederum i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit relevant werden. I n der Diskussion i m Parlamentarischen Rat u m die Verfassungsgerichtsbarkeit fiel der oft zitierte Satz des Abgeordneten Süsterhenn (s. Pari. Rat, 2. Sitzung 8.9.1948; Ber. S. 25): „Wir haben keine Angst vor der . . . Gefahr einer sogenannten justizförmigen Politik."

Es scheint so, als ob der Geist dieser Aussage die gesamte Arbeit des Parlamentarischen Rates zur Verfassungsgerichtsbarkeit mitbestimmt habe. Ob der Ausspruch Süsterhenns i n einem pathetischen Ton die Verfassungsgerichtsbarkeit i n ihrer ganzen Komplexität differenziert genug erfaßt, ist zweifelhaft. Sicherlich mag es politisch opportun gewesen sein, Carl Schmitt als den Widersacher der eigenen Konzeption genannt zu haben; Widerspruch war dann kaum zu erwarten. Ob politische Opportunität und sachliche Notwendigkeit i n diesem Falle aber übereinstimmten, muß dahingestellt bleiben. Hier kann die Diskussion i m Parlamentarischen Rat über die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in ihrer ganzen Breite dargestellt und kritisch überarbeitet werden. Vielmehr soll uns hier vorerst nur ein Aspekt näher beschäftigen, der i n sich aber symptomatisch für große Teile der Arbeiten des Parlamentarischen Rats zur Verfassungsgerichtsbarkeit w a r und auch heute noch weitreichende Konsequenzen hat. 12 Man muß in diesem Zusammenhang auch bedenken, daß das G G nur als Ubergangslösung gedacht war.

30 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar

2. Die Einordnung des BVerfGG ins GG Es geht dabei u m die Kontroverse über die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Grundgesetz. I n dieser Diskussion spiegelten sich die verschiedenen möglichen grundsätzlichen Perspektiven einer Verfassungsgerichtsbarkeit i m staatlichen Gesamtgefüge wider. Die konkrete Frage w a r damals, ob die Bestimmungen über das Bundesverfassungsgericht i n den neunten Abschnitt „Rechtsprechung" eingereiht werden sollten oder ob man nicht besser für das Bundesverfassungsgericht einen eigenen Abschnitt schaffen sollte. Für die Vertreter der Ansicht, daß sich Verfassungsrechtsprechung von der übrigen Rechtsprechung i n nichts wesentlich unterscheidet, für die Anhänger der Lehre Kelsens also, w a r die A n t w o r t i m vornherein klar. Wer Kelsen i m prinzipiellen nicht folgte, w a r dadurch i n seiner A n t w o r t noch nicht gebunden; er mußte aber bedenken, ob seine besondere Bewertung der Verfassungsgerichtsbarkeit sich nicht i n der systematischen Einordnung dokumentieren sollte. A m Ende der Diskussion neigt sich die Waage schließlich auf die Seite der rein juristischen Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn auch nur m i t leichtem Übergewicht. Damit waren auch die theoretischen Weichen für die weitere Ausgestaltung des Bundesverfassungsgerichts gestellt. Hier soll nicht vorgegriffen werden, doch es sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit als gewöhnliches Rechtsprechungsorgan nur mehr sehr vereinzelt vertreten wird. Doehring 1 3 hat den Versuch unternommen, das Bundesverfassungsgericht systematisch i n die Gesamtstruktur unseres Gewaltenteilungsschemas einzuordnen. Sein Titel „Das Bundesverfassungsgericht als pouvoir neutre" nimmt sein Ergebnis vorweg. Die Begründung dafür ist, daß das Bundesverfassungsgericht — i n seinem Kompetenzbereich, seinem Gegenstand und seiner Methodik — nicht ohne schwere Bedenken m i t der übrigen Rechtsprechimg auf eine Ebene gestellt werden kann. Die Frage, welche sich i m Anschluß an diese bisher nicht bestrittene Analyse stellt, müßte an sich lauten: Wenn das Bundesverfassungsgericht durch das Grundgesetz eindeutig als rechtsprechendes Organ gewollt ist, wie seine Einordnimg zeigt, wie steht es dann m i t der Verfassungsmäßigkeit seiner Arbeit, wenn diese i n den Kategorien der Rechtsprechimg nicht mehr realistisch begriffen werden kann? I n der Literatur w i r d diese Frage bisher noch nirgends angesprochen; der Grund hierfür liegt w o h l darin beschlossen, daß das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeiten des Bundesverfas13 Doehring,

S. 201 ff.

B. 2. Die Einordnung des BVerfGG ins GG

31

sungsgerichts abschließend geregelt hat, und w o h l eine Diskussion u m die Verfassungsmäßigkeit der Arbeit des Verfassungsgerichts auch deshalb keine praktischen Bezüge hätte, w e i l die Autorität, die das Bundesverfassungsgericht durch seine bisherige Arbeit i n weiten Kreisen genießt, eine größere Änderung dieses Gerichts nicht zuließe. Damit ist weder gesagt, daß das Bundesverfassungsgericht und seine Tätigkeiten verfassungswidrig seien, noch daß eine umfassende Strukturänderung des Bundesverfassungsgerichts als wünschenswert erscheint. Vielmehr sollen diese Hinweise nur dazu dienen, die Arbeit des Parlamentarischen Rates i n ihrer Zielrichtung auszuleuchten. I m Licht des oben Gesagten erscheint es nämlich n u n nicht mehr ganz unproblematisch, ob die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n den neunten Abschnitt des Grundgesetzes eine richtige und konsequente Entscheidimg war. Die Lehren Kelsens von der Natur der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie er sie i n seinen Schriften i n der Weimarer Zeit niedergelegt hatte, haben hier i n sehr weitem Umfang Eingang i n das Grundgesetz gefunden. Dies ging bis i n Einzelheiten hinein. Auf der Staatsrechtslehrertagung 1928 hatte Kelsen vorgeschlagen, daß Entscheidungen des Verfassungsgerichts i m Gesetzesblatt veröffentlicht werden sollten; dieser Vorschlag wurde 1952 fast wörtlich i n das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht aufgenommen. Süsterhenns erwähnter Ausspruch bezieht sich w o h l nur auf Carl Schmitt. Wenn w i r die Gesamtarbeit des Parlamentarischen Rates überblicken, so scheint allerdings, daß die Ablehnung der Schmittschen Ansichten dazu geführt hat, die Thesen Kelsens als Gegenposition mit der Vermutung der Richtigkeit zu versehen. Der weite Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichts kann w o h l kaum i n einem anderen Sinne zu verstehen sein. Das Heidelberger internationale Kolloquium über die Verfassungsgerichtsbarkeit 14 hat gezeigt, daß der Umfang der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts i m internationalen Vergleich einmalig ist. Von den deutschen Staatsrechtslehrern wurde damals immer wieder angeführt, daß die Erfahrungen i n der Vergangenheit i n unmittelbarem Zusammenhang m i t der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit und seiner jeweiligen Ausgestaltung stehen und das Bundesverfassungsgericht nur aus dieser Sicht zu begreifen ist 1 5 . I n diesem Licht muß man wohl i n der Tat die Klageformen Organklage und abstrakte Normenkontrolle, die. Regelung der §§ 31, 35 BVerfGG und andere Einzelheiten begreifen, welche i n internationaler Sicht besonders ins Auge stechen. 14

Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart. 15 Verfassungsgerichtsbarkeit, vgl. etwa Bachof, S. 831; Scheuner, S. 836; Werner, S. 845.

32 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar 3. Die Ausgangsposition des Parlamentarischen Rats Der systematisch übergreifende Gesichtspunkt für eine solch starke Verfassungsgerichtsbarkeit war i m Parlamentarischen Rat w o h l der, die politische Dynamik des Staates auf verschiedene unabhängige Zentren zu verteilen. Die Kompetenzverteilung i m föderativen Bereich, die Vorschriften über den Bundespräsidenten, die Stellung des Kanzlers zum Parlament (vergleiche etwa A r t . 59 II) auf der einen Seite und die Verstärkung der Justiz auf der anderen Seite lassen auf diese Intention schließen 16 . Das „Versagen" der Weimarer Verfassung war, wie w i r gesehen haben, noch ein zusätzliches gewichtiges Argument für eine verstärkte Verfassungsgerichtsbarkeit. Unter diesen Umständen erscheint es kaum verwundernswert, daß die eigentlichen Erfahrungen m i t der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Weimarer Zeit so gut wie keine Rolle gespielt haben. Apelt 1 7 hat darauf hingewiesen u n d bedauert, daß selbst die negativen Erfahrungen des Prozesses des Reichs gegen Preußen keinen Niederschlag i n den Arbeiten des Parlamentarischen Rates gefunden haben. 4. Die Modellfunktion des Supreme Court Wollte man eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit aufbauen, so konnte die Weimarer Verfassung also nicht als Vorbild dienen. Das Modell, das sich angeboten hat, w a r der Supreme Court der Vereinigten Staaten. I n der Tat gibt es i n den Materialien zum Grundgesetz und zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Hinweisen darauf, daß dem Supreme Court immer wieder zumindest ein Seitenblick gegolten hat. Uber eine direkte Einflußnahme der Alliierten i m Hinblick auf den Einbau einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit ist nichts bekannt. Ridder weist (ohne Quellenangabe) darauf hin, daß die Alliierten auf ein Vetorecht nur unter der Bedingung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit verzichtet hätten 1 8 . Carl J. Friedrich 1 9 ist der Ansicht, die Bundesrepublik habe die Verfassungsgerichtsbarkeit i n den allgemeinen Zügen von den Vereinigten Staaten übernommen, ohne dabei auf Einzelheiten zu sehen. Die Bedenken i m Hinblick auf eine schematische Übernahme der Strukturen des Supreme Court haben w i r oben schon dargelegt. Soergel sagt, daß insbesondere die Vertreter der Justiz selber um eine Erweiterung des Bereichs der Dritten Gewalt bemüht waren (S. 139). « Apelt, N J W 53, S. 641 ff. is Vgl. Fn. 9. 18 Carl J. Friedrich, The Impact of American Constitutionalism Abroad, S. 88.

B. 5. Die systematische Gesamtkonzeption im Parlamentarischen Rat 33 Da also der Supreme Court i n gewissem Umfang das Vorbild für das Bundesverfassungsgericht w a r 2 0 , liegt ein Vergleich dieser beiden Gerichte nahe. Bereits auf den ersten Blick zeigt sich uns dabei, daß der Umfang der Kompetenzen und die Ausgestaltung der Klageformen das Bundesverfassungsgericht m i t mehr Macht ausstattet, als sie dem Supreme Court zur Verfügung steht. Der fundamentale Unterschied besteht darin, daß der Supreme Court die Normenkontrolle als inzidentPrüfung vornimmt, während das Bundesverfassungsgericht abstrakte Rechtsfragen entscheidet. Hiermit steht dann die Existenz der Organklage ebenso i m Zusammenhang wie das abstrakte Normenkontrollverfahren, der Umfang der Rechtskraft und einige andere Erscheinungen, auf die w i r später noch zu sprechen kommen. Paul Kauper, einer der besten Kenner des amerikanischen Verfassungsrechts, stellt i n einem Aufsatz 21 , welcher den Supreme Court und das Bundesverfassungsgericht vergleicht, als besonderen Unterschied auch noch fest, es komme i n der Bundesrepublik immer wieder vor, daß man heikle politische Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit aufbürdet („passing of the buck") 2 2 . Wo diese Erscheinimg ihre systematischen Wurzeln hat, werden w i r später noch genauer sehen. A n diesem Punkt wollen w i r uns mit der Feststellung begnügen, daß die Väter des Grundgesetzes und des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht sich i n ihrem Bestreben nach einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit oft am Supreme Court orientiert haben, i n wichtigen Fragen aber die Macht des Bundesverfassungsgerichts noch umfassender konzipiert haben, als es beim Supreme Court der Fall ist. Die Frage, die sich i m Anschluß daran stellt, ist, welche grundsätzlichen Erwartungen an die zukünftige Arbeit des Bundesverfassungsgerichts i m Parlamentarischen Rat geknüpft worden sind, wie ein solches Bundesverfassungsgericht i m Rahmen des Gesamtsystems gesehen worden ist, und welche Sicht der Demokratie hinter dieser Konzeption stand. 5. Die systematische Gesamtkonzeption im Parlamentarischen Rat

Gehen w i r diesem Komplex i n so erhalten w i r über diese Fragen man bedenkt, daß die Arbeit des druck stand, ist doch erstaunlich, deutung und die Auswirkungen erörtert worden sind.

den Materialien i m einzelnen nach, relativ wenig Aufschluß. Auch wenn Parlamentarischen Rates unter Zeiti n welch geringem Umfang die Beder Verfassungsgerichtsbarkeit dort

20 Vgl. dazu die Hinweise bei Lauf er, Kapitel 13, S. 93 ff. 21 Kauper, West German and U.S. Constitution, S. 1091 ff. 22 Kauper, ibid, S. 1179. 3 Dolzer

34 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar Es ist das Verdienst von Heinz Laufer, dem Komplex u m die Entstehung des Bundesverfassungsgerichts zum ersten M a l nachgegangen zu sein und die verschiedenen Teilaspekte übersichtlich dargestellt zu haben 23 . Seiner Arbeit sei hier i m engen Bereich der historischen Fakten gefolgt 24 . Demnach ist klar, das der Parlamentarische Rat der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit i m Vergleich zu anderen Bereichen wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat, das Interesse der einzelnen Mitglieder am Verfassungsgericht w a r gering. Die Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit ist weitgehend von einem unreflektierten dualistischen Verhältnis von Politik einerseits und Recht andererseits bestimmt worden. So wurde etwa die personelle Verbindung der Institutionen Verfassungsgerichtsbarkeit und Oberstes Bundesgericht einmal m i t dem Hinweis abgelehnt, daß sich das Oberste Bundesgericht i n der „reinen Rechtssphäre" bewegen müsse, was beim Bundesverfassungsgericht vielleicht manchmal nicht der F a l l sein werde 2 6 . Eine andere Richtung i n der Diskussion ging etwa dahin, zwar ein Verfassungsgericht zu schaffen, alle Streitigkeiten mit politischer N a t u r von vornherein nicht i n den Kompetenzkatalog aufzunehmen 26 . Da Deutschland damals nicht viel historische Erfahrungen m i t der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit hatte und auch keine besondere Detailkenntnis aus dem Ausland vorhanden war, mag diese dualistische Einstellung verständlich sein 27 ; i m historischen Rückblick erscheint jedoch gerade dieser Punkt als besonders bedeutsam. Die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit kann nur dann adäquat konzipiert und verstanden werden, wenn man i m Bereich des Verfassungsrechts die Antithetik von Recht und Politik aufgibt zugunsten einer Sicht, die Verbindungslinien von Verfassungsrecht und Politik deutlich erkennt. Die Unebenheiten, die jedem Verfassungsgericht innewohnen, haben meist i n diesem fundamentalen Bereich ihre letzten Wurzeln. Damit sei nicht gesagt, daß sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gar keine Gedanken über die staatsrechtliche Problematik eines Verfassungsgerichts gemacht haben. Die Änderungen i m Vergleich zu den Entwürfen von Herrenchiemsee zeugen i m Ansatz von einem ernsten Bemühen u m eine angemessene 23 Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit. 24 Die einseitige sachliche Betrachtung bei Laufer, auf die wir noch zu sprechen kommen, fällt in diesem Bereich der Fakten nicht besonders stark ins Gewicht. 25 Lauf er, S. 59. 26 Vgl. dazu Lauf er, S. 77. 27 Trotz der oben erörterten Kontroverse in der Weimarer Zeit.

B. 5. Die systematische Gesamtkonzeption im Parlamentarischen Hat 35 Lösung der verfassungsgerichtlichen Probleme und sind zum Teil von erheblicher Tragweite. So wurden die Kompetenzvorschläge von Herrenchiemsee durchaus nicht immer unbesehen hingenommen; vor allem wurde auch, schon von der ersten Sitzung i m Parlamentarischen Hat an, die Frage erörtert, ob das Bundesverfassungsgericht — entsprechend den Vorschlägen von Herrenchiemsee — einen eigenen A b schnitt i m Grundgesetz erhalten sollte. Die Entscheidung des Rechtspflegeausschusses wurde schließlich vom Plenum übernommen, das Bundesverfassungsgericht wurde i n den neunten Abschnitt hineingenommen 28 . Hiermit fiel eine grundsätzliche Entscheidung darüber, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit funktionell als Rechtspflege aufgefaßt werden muß. M i t dieser Entscheidung war auch klar, daß das Bundesverfassungsgericht strukturell nicht aus dem Schema der Gewaltenteilung von A r t . 20 Absatz 2 ausgenommen ist. Diese Tatsache bleibt auch dann von Bedeutung, wenn das Bundesverfassungsgericht i n mancher Hinsicht nur m i t Schwierigkeiten i n das System der Gewaltenteilung eingeordnet werden kann. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind positivrechtlich normiert, die Frage nach der Einordnung insofern irrelevant. Der Grund für die Bedeutung dieser klaren Entscheidung über die Einordnung des Verfassungsgerichts liegt i n einem anderen Bereich: i m Rahmen der Erörterung von Interpretationsfragen einzelner Normen muß die grundsätzliche Entscheidung des Grundgesetzes als Richtschnur bei der Auslegung herangezogen werden. A u f die Konsequenzen dieser Erkenntnis — sie betreffen i n erster Linie das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Legislative und zur Exekutive — werden w i r später noch stoßen. Abgesehen von diesen wenigen, wenn auch zum Teil bedeutsamen Teilaspekten hat der Parlamentarische Rat i m wesentlichen die Vorschläge von Herrenchiemsee über eine Verfassungsgerichtsbarkeit übernommen. Indessen zeigen auch die Materialien von Herrenchiemsee, daß auch dort der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht allzuviel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Z u einer einheitlichen Konzeption kam es i n Herrenchiemsee nicht, was der Konvent aber wegen seines technischen, unpolitischen Selbstverständnisses nicht als besonderen Nachteil betrachtet hat. Die allgemeine Diskussion über das Verfassungsgericht bestand i n Herrenchiemsee i m wesentlichen darin, daß Anträge „rasch und ohne nennenswerte Einwände" 2 9 angenommen wurden. Die Arbeit 28 Vgl. dazu Laufer, S. 57 ff. 29 Vgl. Laufer, S. 42.



36 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar von Laufer hat gezeigt, daß die Formeln von Herrenchiemsee als A r beitsgrundlage für den Parlamentarischen Hat zwar i n einzelnen Bereichen verändert wurden, daß große Teile aber auch ohne Überprüfung Eingang i n das Grundgesetz gefunden haben. Zusamenfassend ist über die Arbeit des Parlamentarischen Rates zu sagen, daß es an einer durchgehenden Konzeption über die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gesamtstruktur des Staates gefehlt hat. Der Ausgangspunkt für die Errichtung des Verfassungsgerichts lag primär w o h l i m negativen: i m Gefühl, daß Exekutive und Legislative i n ihrer Macht beschränkt werden sollen und dies durch die Verfassungsgerichtsbarkeit geschehen kann. Darüber hinaus gibt es nur wenige Anzeichen dafür, daß der Parlamentarische Rat die Problematik der neugeschaffenen Institution konstruktiv aufgearbeitet hat. Die Erklärung für die Arbeit des Parlamentarischen Rates i n diesem Bereich liegt dabei w o h l i m wesentlichen i n den historischen Erfahrungen m i t der politischen Führung durch Exekutive und Legislative 3 0 . Süsterhenns zitierte Feststellung kann zwar nicht als symptomatisch für die Einstellung aller Mitglieder des Parlamentarischen Rates herangezogen werden. Gelegentlich ist die Frage nach den politischen Implikationen des neuen Verfassungsgerichts angeschnitten worden. Die dualistische Konzeption von Recht und Politik i m Sinne der Ausschließlichkeit hat dann jedoch den Zugang zur wirklichen Problematik oft verschlossen. Die i n der Diskussion auftauchenden Stichworte vom „politisch akzentuierten Gericht" 3 1 und vom „Gericht mit einem politischen A k z e n t " 3 2 hätten einen Ansatz zur fruchtbareren Diskussion liefern können. Soweit dies aber heute noch nachzuprüfen ist, sollte aber auch m i t diesen Formeln keinesfalls dem politischen Element der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Sinne einer politischen Instanz, Rechnung getragen werden, sondern nur eine allgemeine thematische Uberschneidung von Verfassungsrecht und Politik angedeutet werden. Selbst diese Hinweise sind aber i n der allgemeinen Diskussion nicht auf viel Gegenliebe gestoßen 33 . Blickt man i n dieser Weise zurück auf die Diskussionen i m Parlamentarischen Rat und seine Entscheidungen, insbesondere die Zuordnung zur dritten Gewalt, so muß man wohl annehmen, daß die Väter des Grundgesetzes überrascht wären, wenn sie die politische Dynamik i n der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts nachträglich sehen würden. 30 Arndt hat einmal gesagt, das ganze GG bestehe aus Angst vor Demokratie, vgl. Ridder, Arndt-Festschrift, Fn. 13. 31 Abg. Zinn vgl. Läufer, S. 60. 32 Abg. Dehler; vgl. Lauf er, S. 42. 33 Vgl. Lauf er, S. 61, S. 65.

B. 5. Die systematische Gesamtkonzeption im Parlamentarischen Rat 37 Das Bundesverfassungsgericht ist einer der Faktoren, welche die politische Entwicklung i n der Bundesrepublik wesentlich mitgestaltet haben. Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob man i m Parlamentarischen Rat die notwendig i n der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit angesiedelte politische Ausstrahlungskraft verkannt hat, oder ob sich das Bundesverfassungsgericht i n seiner historischen Entwicklung politischer entfaltet hat, als dies institutionell notwendig war. M i t diesem Komplex werden w i r uns später noch zu befassen haben. Hier soll lediglich festgehalten werden, daß die Einordnung des Verfassungsgerichts i n den neunten Abschnitt — und damit auch die systematische Einordnung i n das Gewaltenteilungsschema des A r t i k e l 20 Abschnitt 3 — symptomatisch für die Arbeit des Parlamentarischen Rates war: das Bundesverfassungsgericht wurde als Träger der Rechtspflege, nicht aber als politische Entscheidungsinstanz konzipiert. Damit ist klar, daß die Diskussion Schmitts und Kelsens u m die Funktion eines Verfassungsgerichts i n der Gesamtheit des Staatsgefüges i n ihrem theoretischen Aspekt keinen Einfluß auf das Grundgesetz gehabt hat. Waren sich Schmitt und Kelsen zumindest i n der Frage einig, ob ein Verfassungsgericht „politische" Entscheidungen trifft, so hat der Parlamentarische Rat insofern wieder einen Schritt nach rückwärts getan und diese Erkenntnis unbeachtet gelassen. Apelts Bemerkungen 3 4 gelten also nicht nur für den praktischen Aspekt, auch die theoretischen Erkenntnisse aus der Weimarer Zeit wurden nicht berücksichtigt. Nicht nur die Erfahrungen i m Prozeß Preußen gegen das Reich, sondern auch die Diskussion der Staatsrechtler i n der Weimarer Zeit hätten als Warnzeichen für die potentielle politische Brisanz einer verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung, und damit auch der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit dienen können. Man kann heute nur noch spekulieren darüber, weshalb man i m Parlamentarischen Rat gerade i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit ernst machen wollte m i t einer historisch relativ neuartigen Konzeption. Vielleicht wäre es zum Nutzen des Grundgesetzes gewesen, wenn man die historische Kontinuität zumindest insofern nicht ganz aufgegeben hätte, als man sich m i t den Erfahrungen während der Weimarer Zeit etwas mehr beschäftigt hätte. Die Frage nach den anderweitigen Vorbildern des Bundesverfassungsgerichts ist insofern interessant, als man dabei vielleicht zusätzliche Rückschlüsse auf die generelle Zielrichtung der Arbeit des Parlamentarischen Rats ziehen könnte. I n personeller Hinsicht ist i n diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Hans Nawiasky für die bayerische Delegation i n Herrenchiemsee 34 vgl. Fn. 17.

38 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar einen Arbeitsentwurf für die Schaffung eines neuen Verfassungsgerichts vorgelegt hat. Zwar wurde dieser offiziell nicht akzeptiert, dennoch wurde aber i n der Diskussion auf i h n Bezug genommen. Nawiasky hat als Schüler von Kelsen i n diesem Arbeitsentwurf dessen Thesen fast unverändert verwirklichen wollen. Die erwähnte Übereinstimmung der Verkündigungsmodalitäten i n den Vorschlägen von Kelsen und i m Gesetz über das Bundesverfassungsgericht mag w o h l auf diesem Hintergrund erklärt werden. Inwiefern die Lehren von Kelsen, über die Person von Nawiasky, i n ihren Details noch mehr Eingang i n das Grundgesetz gefunden haben, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Da aber aus den Materialien zum Grundgesetz eine überragende Position Kelsens i n der Diskussion selbst nicht hervorgeht — was den direkten Einfluß betrifft —, so soll hier die Rolle des Supreme Court bei der Entstehung des Verfassungsgerichts noch ein wenig näher erörtert werden. Walter Strauß 3 6 hat i n einer Denkschrift konkrete Vorschläge über das Aussehen des neuen Verfassungsgerichts gemacht. Seine Konzeption orientierte sich deutlich und explizit am Supreme Court. Die Arbeit von Strauß hat dem zuständigen Ausschuß von Beginn an vorgelegen und hat durchaus Beachtung gefunden. Ferner zeigt der Verlauf der Diskussion i m Plenum des Parlamentarischen Rates, das Strauß wiederholt i n prononcierter A r t und Weise i n die Diskussion eingegriffen hat und die endgültigen Entscheidungen durch seine Anträge und seine Diskussionsbeiträge beträchtlich beeinflußt worden sind. Bereits auf der Konferenz i n Herrenchiemsee haben verschiedene Teilnehmer, die später auch Mitglieder i m Parlamentarischen Rat waren (so etwa der Vorsitzende des Hauptausschusses Carlo Schmid), auf das amerikanische Vorbild verwiesen. Zwar fanden sie teilweise Widerspruch durch das Argument, ein internationaler Rechtsvergleich sei i n diesem Bereich schon i n sich selbst nicht sinnvoll 3 6 . Gerade Mitglieder wie Küster, Zürcher und Schmid — alle orientiert am Supreme Court — haben aber schon i n Herrenchiemsee eine entscheidende Rolle gespielt. Wenn also später i n Detaildiskussionen erneut das Argument auftauchte, eine Übernahme amerikanischer Strukturen i n die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts sei ein „oktroyieren" 3 7 und nicht sinnvoll, so findet diese Ansicht also vom historischen Werdegang des Bundesverfassungsgerichts her keine Unterstützung; das Bundesverfassungsgericht war bereits i n seiner Entstehung am Supreme Court orientiert.

3ß Vgl. Laufer, S. 54 ff. 36 Vgl. Lauf er, S. 35 ff. 37 Friesenhahn, W d S t R L 20, S. 120.

B. 6. Die literarische Kritik

39

Es würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten, hier i n weiteren Einzelheiten i n sachlicher und personeller Hinsicht die Modell-Funktion des Supreme Court für das Bundesverfassungsgericht nachzuweisen. I n vielen Detailfragen, wie etwa der Bindungswirkung oder der Zwangsvollstreckung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ließen die jeweils verschiedenen Rechtssysteme ohnehin keine Parallelität zu. Auch die Materialien zeigen aber, daß der Blick auf den Supreme Court ohnehin nicht den Einzelheiten galt, sondern der Idee einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, welche sich praktisch durch lange Zeit hindurch bewährt hatte. Insofern lag es nahe, den Supreme Court heranzuziehen, welcher bereits durch die amerikanische Verfassung i m Jahre 1789 geschaffen wurde und seither i n wechselvollem Auf und A b 3 8 einen relativ sicheren Ort i m amerikanischen Staatsgefüge eingenommen hat. I n der globalen Idee eines richterlichen Prüfungsrechts durch ein m i t starken Kompetenzen versehenes Verfassungsgericht ist der Supreme Court i n der Tat als das historische Vorbild des Bundesverfassungsgerichts zu betrachten. Sicherlich gibt es auch i n wichtigen Fragen Unterschiede zwischen dem Supreme Court und dem Bundesverfassungsgericht. Betrachtet man die unterschiedlichen Komplexe näher, so fällt auf, daß sie fast alle zur Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit beitragen. I n diesem Sinne könnte man sagen, daß das Bundesverfassungsgericht ein perfektionierter Supreme Court ist. Die These, daß es i m Parlamentarischen Rat keine klare Konzeption der Rolle einer Verfassungsgerichtsbarkeit gegeben hat, darf also nicht so verstanden werden, daß man sich über die Ausgestaltung des neuen Gerichts überhaupt keine durchgehenden Gedanken gemacht hat. Es ist offensichtlich, daß man dem Bundesverfassungsgericht möglichst viel Kompetenzen und Macht geben wollte. Der Mangel an Konzeption lag also nicht i n diesem Bereich, sondern vielmehr i m Fehlen von Gedanken über die generelle Rolle einer solch starken Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gesamtheit des Staatsgefüges, insbesondere i m aktuellpolitischen Prozeß. 6. Die literarische Kritik Man hätte erwarten können, daß sich die Wissenschaft dieser Fragen bald annehmen würde. I n der Tat haben sich auch i n den ersten Jahren des Bundesverfassungsgerichts einzelne Stimmen gemeldet, welche sich m i t der Rolle einer sehr starken Justiz, vor allem i m Bereich des Ver88 Vgl. dazu die wohl beste historische Darstellung von McCloskey, Supreme Court.

The

40 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar fassungsrechts, innerhalb des Gesamtstaates auseinandergesetzt haben. I m ganzen gesehen hat sich aber keine lebhafte Diskussion über den Sinn und die Rolle des Verfassungsgerichts ergeben. Immerhin lohnt es sich, die vorhandenen Ansätze anzusehen und ihr Schicksal zu verfolgen. Hans Schneider 39 und Richard Thoma 4 0 waren w o h l m i t A p e l t 4 1 die ersten, die sich i n bemerkenswerter Weise skeptisch gegenüber einer m i t viel Macht ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit geäußert haben. Die Ansichten dieser Autoren sollen hier nicht i m einzelnen wiedergegeben werden. Dennoch wollen w i r uns kurz m i t einzelnen Aspekten dieser Diskussionsbeiträge beschäftigen. Es sind i m wesentlichen drei Dinge, die symptomatisch für den weiteren Verlauf der Diskussion waren. Erstens waren es keine umfangreichen und umfassenden Arbeiten. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeiten lag nicht i n einer Gesamtanalyse der neuen Verfassungsgerichtsbarkeit; vielmehr wurden Detailfragen i m einzelnen erörtert, wobei dann aber auch jeweils eine kurze Gesamtbeurteilung abgegeben wurde. Daß diese Globalurteile dann mehr den Charakter einer Behauptung als den einer wissenschaftlichen Analyse getragen haben, w a r unter diesen Umständen kaum zu vermeiden. Der zweite auffallende Punkt von symptomatischer Bedeutung i n dieser Zeit ist die überwiegende Einstellung zur Frage der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit. Zur Beantwortung dieser Frage wären vielleicht fundamentale Erörterungen zur Rolle des Verfassungsgerichts i m gesamten Staatsgefüge zu erwarten gewesen. I n Wirklichkeit versuchte man aber damals häufig, die Grenzen des Verfassungsgerichts m i t der Frage nach der Existenz einer einschlägigen Norm zu kennzeichnen 42 . Daß auf diese A r t und Weise aber keine A n t w o r t gegeben werden kann, sondern lediglich die Frage weitergeschoben wird, werden w i r später noch sehen. I n diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, daß der Verein der deutschen Staatsrechtslehrer bereits i m Jahre 1951 das Thema „Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erörterte, also noch vor Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Die Referenten Kaufmann und Drath vertraten verschiedene Standpunkte. Während Drath die Nichtbindung der Verfassungsgerichtsbar39 40 41 «

Schneider, Der Gerichtsfreie Hoheitsakt. Thoma, Rechtsgutachten. Apelt, s. Fn. 17. Apelt, NJW 53, S. 641 ff.

B. 7. Die politische Einordnung der Kritiker des BVerfG

41

keit an die Norm als charakteristisch kennzeichnete, betonte Kaufmann die Bindung an die Norm. Die Diskussion i m Anschluß an die beiden Referate erfüllte die Erwartungen nicht, die man nach den beiden Referaten hätte hegen können. Insbesondere kam es auch bei dieser Gelegenheit nicht zu einer Diskussion um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Staatsgefüge. Bei Drath waren einige Ansätze hierzu vorhanden; er betonte, daß ein Verfassungsgericht keinen „Demokratieersatz" darstellen könne. 7. Die politische Einordnung der Kritiker des BVerfG Der dritte und letzte Punkt bei der Betrachtung der kritischen Stimmen zur Verfassungsgerichtsbarkeit zu Beginn der fünfziger Jahre scheint m i r i n vielerlei Hinsicht der wichtigste zu sein. Er betrifft die — zumindest von der Öffentlichkeit vermutete — Grundhaltung der betreffenden Autoren. Die meisten der kritischen Stimmen zum Bundesverfassungsgericht kamen aus dem konservativen Lager. I n der allgemeinen Diskussion wurde daraus häufig der Schluß gezogen, daß eine kritische Haltung gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit i n politischer Hinsicht eine Forderung des Konservatismus sei. Damit aber wurde die Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine Ebene geschoben, welche der Tendenz nach jenseits von wissenschaftlicher Haltung und Analyse i n einen aktuellen politischen Bezugsrahmen führt. Kennzeichnend für diese unglückliche Entwicklung, die bis zur Gegenwart anhält, ist die Haltung, wie sie etwa H. Laufer i n seiner Schrift zur Verfassungsgerichtsbarkeit einnimmt 4 3 . Noch vor der Darstellung der vertretenen Ansichten belegt Laufer die K r i t i k e r des Bundesverfassungsgerichts m i t dem A t t r i b u t „autoritär" 4 4 und fährt kurz danach fort 4 5 : „Diese und ähnliche Verlautbarungen, die hier nicht ausführlich wiedergegeben werden können, sind zumeist obrigkeitsstaatlichen oder totalitären Vorstellungen entsprungen oder sind bloße Ressentiments."

I n diesen Sätzen spiegelt sich die A r t und Weise eines großen Teiles der Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i n bizarrer Form wider. Sie erhalten i h r Gepräge dadurch, daß eine Seite der wissenschaftlichen Diskussion als politisch verdächtig dargestellt wird. Die eigentliche Auseinandersetzung u m die sachlichen Probleme erstickt dann oft schon i m Keime. 43 Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit. 44 Laufer, S. 22. 45 Lauf er, S. 23.

42 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar Vor der oben zitierten Passage findet sich bei Laufer der Name des Mannes, der die Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Nachkriegszeit mitgestaltet hat, ohne daran teilzunehmen: Carl Schmitt. I n exemplarischer Form führt Lauf er die gesamte K r i t i k am Bundesverfassungsgericht auf das Gedankengut v o n Carl Schmitt zurück und bezeichnet ihn als den „geistigen Ahnherrn dieser Gruppe von Rechtswissenschaftlern" 46 . Der politische Werdegang des Menschen Carl Schmitt w i r d hier zum Bezugspunkt für wissenschaftliche K r i t i k gemacht W i r werden später noch nachprüfen, i n welchem Verhältnis konservatives politisches Gedankengut zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit steht, und an welchem Punkt eine kritische Analyse der A n sichten Carl Schmitts zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit einsetzen muß. A n dieser Stelle der Arbeit soll aber schon ein kurzes Resümee der wissenschaftlichen Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Nachkriegszeit gezogen werden. Indem man Carl Schmitt häufig als Kristallisationspunkt für k r i tische Stimmen gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit charakterisiert hat, ist die Diskussion vom sachlichen Gehalt her oft einseitig verschüttet worden. Das politische Element, das der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnt, ist auf diese A r t und Weise an den Rand der Diskussion geraten, obwohl gerade hier der Angelpunkt des staatstheoretischen Interesses an der Institution liegt. Es ist das Verdienst einer kleinen Gruppe junger Politikwissenschaftler, i n neuester Zeit die sachliche Analyse von Carl Schmitt — an diesem einzelnen Punkt — erstmals i n klarer Form wieder aufgegriffen und i n die Diskussion eingeführt zu haben 47 . I n diesem Sinne ist hier festzustellen, daß eine echte Fortführung der wissenschaftlichen Diskussion u m die Möglichkeiten und die sinnvolle Rolle der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Nachkriegszeit nicht mehr stattgefunden hat. Hier w i r d keineswegs übersehen, daß es i n Einzelfragen durchaus zu einer kritischen Auseinandersetzung m i t der Verfassungsgerichtsbarkeit kam. So gab es auf der Tagung des Vereins der deutschen Staatsrechtslehrer i m Jahre 1963 eine meist auf sehr hoher Ebene geführte Auseinandersetzung u m eine zentrale Frage, nämlich die der „Prinzipien der Verfassungsinterpretation". Auch an anderen Stellen finden sich verstreut kritische Hinweise zu Teilaspekten des Bundesverfassungsgerichts. Z u m Teil geht die vorsichtig formulierte K r i t i k vom sachlichen Standpunkt gesehen relativ weit. So hat sich vor allem Horst « ibid. 47 Vgl. etwa Massing.

B. 8. Das Selbstverständnis des BVerfG

43

Ehmke 4 8 immer wieder i n pointierter Form m i t möglichen Alternativen und m i t den politischen Implikationen des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt. Insofern ist die Euphorie, wie sie etwa an verschiedenen Stellen der Schrift des Bundesverfassungsgerichts aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens zum Ausdruck kommt 4 9 , nicht i n vollem U m fang von der wissenschaftlichen Diskussion getragen. Dennoch w i r d eben dieser Optimismus oft so überwältigend, daß die zur wissenschaftlichen Analyse notwendige Distanz dabei verloren geht. Die Arbeit Heinz Laufers ist das beste Beispiel hierfür. Die historisch zu erklärenden Erwartungen, welche an das Verfassungsgericht i m Zusammenhang m i t der Überwachung der Exekutive und Legislative geknüpft werden, verdecken hier die Sicht für die Eigenprobleme der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit. Seit der Zeit des Parlamentarischen Rates hat sich also insofern nicht viel geändert. 8. Das Selbstverständnis des BVerfG Neben der wissenschaftlichen Diskussion ist das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts von besonderem Interesse. W i r sind dabei i n der glücklichen Lage, daß w i r diese nicht der Gesamtheit der Entscheidungen entnehmen müssen. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die Roalle, i n der es sich sieht, zweimal explizit erörtert; einmal gleich zu Beginn seiner Existenz, zum zweiten Mal 1963 aus Anlaß seines zehnjährigen Bestehens. Beide Selbstdarstellungen sind staatsrechtliche Dokumente von erstrangiger Bedeutung. Es ist m. E. eines der bemerkenswertesten Phänomene i n der Geschichte der deutschen Staatsrechtslehre seit 1949, daß diese beiden Dokumente nur sehr wenig Widerhall gefunden haben. Der offizielle Rahmen der Selbstdarstellung ist schon für sich alleine i n unserem Staatswesen nichts Alltägliches. Schon insofern hätten die beiden Schriften mehr Beachtung verdient. Noch mehr verwundert das fehlende Echo i n der Wissenschaft, wenn w i r den sachlichen Gehalt dieser beiden Dokumente näher betrachten. Laufer 6 0 überschreibt sein Kapitel über die Dokumente aus dem Jahre 1951 m i t der zutreffenden Formel: „Der Kampf des Bundesverfassungsgerichts u m seinen neuen Status". Die beschriebene, ein wenig oberflächliche Behandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Parlamentarischen Rat und bei der Ausarbeitung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht hatte zur Folge gehabt, daß verschiedene 4

® Vgl. insbesondere W d S t R L 20, Referat Ehmke. Das BVerfG. Zum Zehnjährigen Bestehen, so Lauf er, S.278. 49

44 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar Organisationsfragen unzureichend geregelt worden waren. Es handelte sich dabei u m Dinge von sehr unterschiedlicher Bedeutung, von der Regelung der Residenzpflicht bis zu Fragen des Etatrechts. Laufer 5 1 beschreibt, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts noch i m Jahre 1968 u m protokollarische Details wie die Nummernschilder an Fahrzeugen der Richter des Bundesverfassungsgerichts kämpfte. Den Richtern am Bundesverfassungsgericht mißfielen vor allem die Tatsache ihres Beamtenstatus sowie die fehlende organisatorische Eigenständigkeit, ferner forderten sie einen eigenen Etat 5 2 . Schon wenige Monate nach der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts konstituierte sich ein Ausschuß seiner Mitglieder, welcher sich m i t den oben angedeuteten Fragen beschäftigen sollte. Z u einer Einstimmigkeit i n der Beurteilung dieser Fragen kam es nicht. Der damalige Präsident, Höpker-Aschoff, und Geiger distanzierten sich von der Meinung der Mehrheit. Diese ließ sich aber nicht beeinflussen und entschloß sich zu einem überraschenden Schritt. Sie formulierte ihre Forderungen nach einer Veränderung des bestehenden Zustands i n einem offiziellen Schreiben — der sog. Denkschrift — an den Bundespräsidenten, den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung. Der Präsident legte bald danach, ebenfalls i n offizieller Form, seine abweichende Ansicht getrennt vor. Zur Form dieses Vorgehens ist zu bemerken, daß es sicher nicht ganz unproblematisch ist, wenn sich 20 der 22 Richter am höchsten deutschen Gericht zusammentun und an die anderen obersten Bundesorgane rechtspolitische Forderungen zur Verstärkung ihrer eigenen Macht richten, insbesondere wenn die Richter i n amtlicher Eigenschaft handeln. Richard Thoma 5 3 hat auf diese Bedenken i n einem Gutachten für die Bundesregierung ebenfalls hingewiesen. Sicherlich war dies kein glücklicher Start für das Bundesverfassungsgericht. Hier soll nicht die Berechtigung der Forderungen der Denkschrift i m einzelnen untersucht werden. Eine gründlichere Analyse der staatsrechtlichen und staatstheoretischen Aussaeen zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts scheint aber angebracht. Die materiale Argumentation der Denkschrift läuft i m wesentlichen unter den Stichworten „Organqualität" und „Gerichtscharakter des Bundesverfassungsgerichts". M i t dem Begriff der „Verfassungsorganqualität" war die staatsrechtliche Gleichrangigkeit des Bundesverfassungsgerichts m i t dem Bundesßi Lauf er, S. 334, Fn. 62. 52 Lauf er, S. 306 ff. 53 Thoma, Rechtsgutachten.

B. 8. Das Selbstverständnis des BVerfG

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Präsidenten, dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung gemeint. M i t der „Gerichtsqualität" wurde vor allem die klare Einordnung i n die Judikative und den daraus folgenden Regelungen der Justizverwaltung angesprochen. I n diesem Zusammenhang äußerte sich die Denkschrift über das Verhältnis von Recht und Politik i n der Verfassungsgerichtsbarkeit. A m klarsten werden die entsprechenden Gedanken i m „Statusbericht" dargelegt, welchen Leibholz als Berichterstatter dem Plenum vorgelegt hat. Die zentralen Formulierungen von Leibholz wurden 1963 i n den offiziellen Statusbericht übernommen, sie müssen somit als offizielle Selbstdarstellung des Bundesverfassungsgerichts bewertet werden. I n erster Linie soll hier auf die Formel hingewiesen werden, welche die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach der i m Statusbericht vertretenen Ansicht beschreibt und eingrenzt: bei verfassungsgerichtlichen Prozessen handle es sich nicht um einen „Streit u m das Recht", sondern u m einen „Streit nach dem Recht". W i r haben bereits oben angedeutet, welchen Aussagewert die Feststellung hat, daß das Verfassungsgericht nur Rechtsnormen zum Maßstab seiner Beurteilung habe und mache. Das Recht steht hier ja doch zuerst einmal i n Frage und w i r d von der Interpretation durch das Gericht maßgeblich mitbestimmt. I n einem berühmt gewordenen Satz hat Justice Frankfurter einmal so formuliert: "The Supreme Court is the Constitution 5 4 ." Indessen hat auch Leibholz nicht den Bezugsrahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Politischen übersehen. Er hat i h n aber darin erblickt, daß die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts „ins Politische hineinragt". Das politische Element i m Entscheidungsprozeß verneint der Statusbericht. Er geht vielmehr davon aus, daß i n verfassungsgerichtlichen Prozessen das Politische am Maßstab von Normen gemessen wird. Leibholz war übrigens 1963 der einzige Teilnehmer eines internationalen Kongresses von Politikwissenschaftlern über „The Role of the Constitutional Court", der diese Ansicht vertrat 5 5 . Den inneren Gegensatz von „Recht" und „Politik" sieht der Statusbericht i m „dynamisch-irrationalen" Aspekt der „Politik" einerseits, i m „statisch-rationalen" Element der „Rechts" andererseits. Der Gedanke, daß m i t der Gegenüberstellung von „irrational" und „rational" auf die Geschichte der deutschen Politik und einer dadurch kontrastier54

s. Ogg and Ray, American Government, S. 544. M Vgl. PVS 4, 1963, S. 213 ff.

46 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar ten „Ewigkeit des Rechts" Bezug genommen werden sollte, liegt nicht fern. Die teilweise Affinität von Recht und Politik w i r d dabei aber übersehen. Das Begriffspaar „dynamisch" und „statisch" erscheint i n unserem Zusammenhang von vornherein wenig brauchbar, w e i l eine „statische" Gesellschafts- und Staatsordnung weder empirisch anzutreffen ist noch als erstrebenswertes Ziel erscheint. Die Redensart von der „Statik" des Verfassungsrechts w i r d vom amerikanischen Beispiel ad absurdum geführt, wo eine i m wesentlichen gleichbleibende Verfassung seit nahezu 200 Jahren vom Supreme Court den wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen angepaßt wird. Was die Notwendigkeit der „Dynamik" einer Verfassungsrechtsprechung betrifft, so unterscheiden sich insofern die USA und die Bundesrepublik nicht. Daß das Vorhandensein einer anwendbaren N o r m wie dies vom Statusbericht ebenfalls gefordert wird, keine brauchbare A n t w o r t auf die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, haben w i r bereits oben gesehen. I m Statusbericht fällt weiter auf, daß davon ausgegangen wird, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit kein „natürlicher politischer Integrationsfaktor" sei. Wenn m i t „natürlich" gemeint wäre, daß hier nicht der institutionelle Bereich angesprochen wird, so wäre die Bemerkung w o h l überflüssig. Der Akzent liegt deshalb wohl auf „politisch". Soll der Begriff des Politischen — auf den w i r später noch zu sprechen kommen — überhaupt einen Sinn haben, dann (neben anderen Inhalten) doch darin, daß damit auf ein Phänomen m i t gesamtgesellschaftlicher, staatlicher Relevanz Bezug genommen wird. Die politische Philosophie hinter der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit besteht m. E. unter anderem aber gerade darin, daß durch verfassungsgerichtliche Urteile (in noch näher zu kennzeichnenden Fragen) eine gewisse gesellschaftliche Befriedungsfunktion wahrgenommen wird, letztlich also die Funktion der politischen Integration ein zentraler Faktor ist 6 6 . I n amerikanischen staatsrechtlichen Abhandlungen ist der Faktor der politischen Integration i n der Arbeit des Supreme Court immer mehr i n den Vordergrund getreten 67 . Dabei w i r d nicht nur betont, daß die Integrationsfunktion politischer Natur ist, sondern auch, daß der Supreme Court i n diesem Integrationsprozeß zwangsläufig eine aktive Rolle spielt 5 8 : «6 Vgl. Smend, Das BVerfG, S. 23 ff. 57 Vgl. Bichel, The Least Dangerous Branch, S. 239; Freund, The Supreme Court, S. 25. 58 Rostow, S. 167.

B. 8. Das Selbstverständnis des BVerfG

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"The discussion of problems and the declaration of broad principles by the courts is a vital element i n the Community experience through which American policy is made. The Supreme Court is, among other things, an educational body, and the Justices are inevitably teachers in a vital national seminar."

Der Statusbericht 1963 unterscheidet sich von dem von 1952 prinzipiell nicht, manchmal wurden die Formulierungen wörtlich aufgegriffen. Eine Passage, welche teils neu eingefügt worden ist, sei hier wegen ihres zentralen Aussagewerts wörtlich zitiert 6 9 : „Ob ein Richter aber bei Streitigkeiten, Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten eines Verfassungsgesetzes oder eines anderen Gesetzes rechtsgestaltend zu entscheiden hat, ist nicht von Belang. Die Wertungen, die ein Verfassungsrichter bei der Urteilsfindung einzuhalten hat, unterscheiden sich von denen des ordentlichen Richters nur dadurch, daß die ersteren gegenständlich an den in der Verfassung enthaltenen politischen Rechtsentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers, die letzteren dagegen an dem in concreto auszulegenden Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgesetz orientiert sind."

I n diesen wenigen Sätzen offenbart sich die gesamte Problematik des Statusberichts. Hier w i r d nicht gesehen und beachtet, daß sich das Verfassungsrecht i n der Struktur seiner Normen wesentlich vom übrigen Recht unterscheidet. Es bleibt unerwähnt, daß staatstheoretisch und staatsrechtlich ein fundamentaler Unterschied zwischen Wertungen des Zivilrichters und Wertungen des Verfassungsrichters besteht. Auf der Staatsrechtslehrertagung 1951 hat Kaufmann 6 0 das zentrale Merkmal des Politischen i m Abwägen von Interessen gesehen. Sicherlich ist damit noch keine Definition des Begriffs des Politischen gewonnen, aber Kaufmanns A n satz t r i f f t i n den K e r n des Politischen. Der Unterschied i n der Tätigkeit des Zivilrichters und des Verfassungsrichters liegt somit darin, daß der Verfassungsrichter unmittelbar i n den Bereich des Politischen gerät, wenn er i m Verfassungsrecht Interessen gegeneinander abwägt, während der Zivilrichter von seinem Gegenstand her keine Berührung m i t dem Politischen hat. Dieser zentrale Aspekt w i r d vom Statusbericht völlig übersehen. A u f diesem Hintergrund gewinnt die Bemerkung Richard Thomas, daß die Richter am Bundesverfassungsgericht nicht, wie der Statusbericht es formuliert, „Herren", sondern „Diener" sind, mehr als stilistische Bedeutung 61 . Trotz all diesen schweren Einwänden zur Denkschrift haben sich die Richter am Bundesverfassungsgericht i m Jahre 1951 m i t ihren Fordeso Statusbericht, in: Das BVerfG, S. 69 (Kursive vom Verfasser). 60 Kaufmann, W d S t R L 9, S. 6 ff. ei Thoma, Rechtsgutachten, S. 166.

48 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar rungen durchgesetzt. Z u m einen w o h l deshalb, w e i l die konkreten Forderungen als solche sachlich meist gerechtfertigt waren; der andere Grund lag w o h l darin, daß die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit am Beginn ihrer Tätigkeit vom besonderen Vertrauen der öffentlichen Meinung, auch der Wissenschaft getragen war. Nur dieses Vertrauen und die Hoffnung auf eine starke Ausstrahlungskraft zur Erhaltung der politischen Stabilität durch die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts können w o h l auch erklären, daß der Statusbericht 1963 nicht kritischer von der Wissenschaft untersucht wurde. 9. Der Wiederbewaffnungsstreit vor dem BVerfG Nicht nur die Haltung der Wissenschaft gegenüber dem Verfassungsgericht, sondern auch das Verhältnis der Parteien, und damit auch von Regierung und Opposition, zum Karlsruher Gericht verdient eine kurze Darlegung. A u f Antrag der SPD mußte sich das Verfassungsgericht i m Jahre 1952 m i t der Verfassungsmäßigkeit eines möglichen Beitritts der Bundesrepublik zur geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft beschäftigen. Hier wurde vom Gericht die Entscheidung über eine Frage von fundamentaler Bedeutung für die Weiterentwicklung des gesamten Staatswesens erwartet. Hätte das Bundesverfassungsgericht tatsächlich eine Entscheidung i n der Sache treffen müssen, so wäre es vor folgender Alternative gestanden: bei einer Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit hätte die Regierung — gegenüber der Opposition und vor allem der Öffentlichkeit — die gerichtliche Legitimierung für ein Konzept erhalten, welches grundlegende politische Relevanz für die gesamte staatliche W i r k lichkeit hatte; die politische Auseinandersetzung wäre damit w o h l abgebrochen worden zugunsten der Ansicht der Regierung. Staatstheoretisch noch weniger erfreulich als diese Möglichkeit wäre wohl die andere Alternative gewesen: ein Urteil m i t dem Ergebnis „verfassungswidrig" hätte der damaligen deutschen Außenpolitik zu einem großen Teil den Boden unter den Füßen weggezogen. Für die Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts war es ein Glücksfall, daß das französische Parlament seine Zustimmung zum Beitritt zur E V G verweigerte und die Klage somit gegenstandslos wurde. Die Opposition hat damals das Bundesverfassungsgericht durch ihren Antrag i n eine sehr schwierige Lage gebracht. Das Bundesverfassungsgericht befand sich durch diesen Antrag mitten i n einem politischen Streit, welcher quer durch das ganze Volk ging. Zweifellos konnten auch zwischen dem Grundgesetz und der Frage der Wiederaufrüstung sinnvolle Bezüge hergestellt werden. Letztlich war der

B. 9. Der Wiederbewaffnungsstreit vor dem BVerfG

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Streit doch eine Kernfrage der Außenpolitik u n d keine Auseinandersetzung m i t typisch verfassungsrechtlicher Natur. Diese Zusammenhänge waren sicherlich auch dem Antragssteller bekannt. Dennoch wurde die Klage aus politischen Motiven heraus erhoben, das Risiko schwerer Nachteile für das Bundesverfassungsgericht wurde dabei i n Kauf genommen. Hier kam die grundlegende Einstellung der Opposition zum Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wurde funktional als eine der möglichen Formen politischer Auseinandersetzung betrachtet. Daraus wurde auch der Öffentlichkeit gegenüber kein Hehl gemacht 62 . Dem Bundesverfassungsgericht wurde damit kein guter Dienst erwiesen. Es ist eine Sache, die politischen Implikationen eines verfassungsgerichtlichen Urteils anzuerkennen; eine andere Frage ist es aber, ob die „politische Verwendung" des Bundesverfassungsgerichts als strukturgerecht angesehen werden kann und ob damit i n langfristiger Hinsicht der Sache der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht Schaden zugefügt wird. Indessen war dies keineswegs der einzige Fall, i n dem von politischer Seite aus politischen Motiven eine politische Frage vor das Bundesverfassungsgericht gebracht wurde. Als die Opposition 1955 nicht m i t der Wiederbewaffnung einverstanden war, ließ sie i n Hamburg und i n Hessen Volksbefragungen über diesen Komplex abhalten. Die Regierung reagierte darauf nicht m i t politischen Mitteln, sondern m i t einer Klage vor dem Verfassungsgericht. A u f das Verhalten des Gerichts werden w i r später zurückkommen. Auch die Regierung hat sich m i t ihrem Entschluß zur Klage damals sicher i n staatstheoretischer Hinsicht kein Lob verdient. Sie zwang das Verfassungsgericht dazu, sich schließlich doch noch, wenn auch indirekt, i n den Streit u m die Wiederaufrüstung einzuschalten. Es bleibt zu erörtern, wo diese keinesfalls „systemgerechten" Prozesse ihre theoretischen Wurzeln haben. Hier soll nur festgehalten werden, daß einzelne Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht haben, daß die Struktur des Verfassungsgerichts die Möglichkeit „politischer" Prozese zuläßt, und daß sich die politischen Organe dieser Möglichkeit durchaus auch bewußt geworden sind. Die Entwicklung i n der Personalpolitik ist ebenfalls nicht frei von Erscheinungen dieser „politischen" Betrachtung des Verfassungsgerichts durch die übrigen Staatsorgane. Der „ F a l l Wagner" und die Vorgänge 62 Ridder, Arndt-Festschrift, S. 347, Fn. 69 berichtet davon, daß der Oppositionsführer offiziell davon sprach, den „Weg zum Bundesverfassungsgericht voll zu nutzen". 4 Dolzer

50 2. Kap.: Hist. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit Weimar bei der Benennung seines Nachfolgers sind dabei wohl von symptomatischer Bedeutung für die Einstellung der politischen Organe gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. I n den bisherigen Ausführungen ist fast nichts über die eigene Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts gesagt worden. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit i n einen politischen Rahmen eingefügt ist, der hier vorab untersucht werden sollte. Eine gedeihliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist nur dann zu erwarten, wenn die Haltung der übrigen Staatsorgane und die der Öffentlichkeit gegenüber dem Bundesverfassungsgericht dem systematischen Standort der Verfassungsgerichtsbarkeit entsprechen. 10. Die nationale Eigenkomponente der Verfassungsgerkhtsbarkeit Wenngleich es sehr viele Fragen gibt, die m i t der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit als solcher verbunden sind, die den internationalen Vergleich also durchaus als fruchtbar erscheinen lassen, so muß für das Verständnis einer Verfassungsgerichtsbarkeit doch auch der politisch-historisch-soziologische Gesamtkomplex eines jeden einzelnen Staatswesens i n Betracht gezogen werden. Die juristische Ausgestaltung einer Verfassungsgerichtsbarkeit entzieht sich eines sinnvollen Vergleichs nicht, insofern m i t der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Eigenproblematik, wie m i t jeder anderen Institution, verbunden ist. Von dieser rechtstechnischen Seite ist aber die rechtspolitische zu unterscheiden: die Beurteilung der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit muß insofern den nationalen Rahmen mitbetrachten. A m deutlichsten w i r d dies, wenn man die Gründe für die jeweilig verschiedenen nationalen Ausgestaltungen der Verfassungsgerichtsbarkeit i m einzelnen betrachtet. Der historische Ausgangspunkt i n der Motivation des Parlamentarischen Rates macht dies deutlich 6 3 . Auch auf diesem Hintergrund bleibt aber die Notwendigkeit bestehen, die technischen Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts i m Hinblick auf die rechtspolitischen Erwartungen zu überprüfen. Aus der Sicht des Parlamentarischen Rates muß das Bundesverfassungsgericht als ein Versuch bewertet werden, nämlich als ein Versuch einer starken Bindung der Politik an das Recht zur Verhinderung extremer politischer Entwicklungen. Nach 20jähriger Existenz des Bundesverfassungsgerichts erscheint es nun angebracht, dieses Experiment neu zu überdenken.

63 Vgl. Fn. 15.

Drittes

Kapitel

Staatstheoretische Betrachtungen zur Institution Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Die Forderung nach „politisch offener" Betrachtung Eine der wichtigsten Aspekte dieser Aufgabe w i r d es sein, die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit i n ihren spezifischen Problemen zu betrachten — und dabei die politischen Vorbetrachtungen und Vorurteile erst einmal zurückzustellen. Es ist zweifellos legitim, die politische Stoßrichtung einzelner verfassungsgerichtlicher Urteile und einzelner Richter zu untersuchen. Etwas ganz anderes ist es, wenn man auch die Institution selbst auf einem politischen Maßstab irgendwo zwischen Konservatismus und Liberalismus einordnet. W i r werden später noch untersuchen, ob eine Verfassungsgerichtsbarkeit als solche strukturell-funktional einer solchen Wertung überhaupt zugänglich ist. Fürs erste müssen w i r davon ausgehen, daß die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit politisch (im oben beschriebenen Sinne) ebensowenig dem Konservatismus oder dem Liberalismus zugeordnet werden kann wie etwa das A m t des Bundeskanzlers oder der Bundesrat. Noch weniger als eine politische Klassifizierung dient es der Diskussion, wenn w i r sie auf dem Hintergrund früherer Diskussionen sehen und heutige staatsrechtliche Aussagen auf politische Haltungen früherer Diskussionsteilnehmer beziehen. N u r m i t einer nüchternen Sachanalyse kann der Verfassungsgerichtsbarkeit gedient werden; die oben beschriebenen „Verschüttungstendenzen" müssen zugunsten einer nach allen Seiten offenen Haltung aufgegeben werden — zum Nutzen der Institution und des Gesamtwesens. 2. Das Verhältnis von „Recht" und „Politik" Eine kritische Bewertung der Arbeit des Verfassungsgerichts (und der entsprechenden Diskussion i n der Staatsrechtslehre) muß sich dabei i n erster Linie nochmals m i t dem Begriffspaar „Recht" und „Politik" auseinandersetzen, dem Mittelpunkt der Auseinandersetzung u m Sinn und Möglichkeit des Verfassungsgerichts i n der Nachkriegszeit. 4*

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

Der Begriff des „Rechts" steht i n dieser Diskussion weniger i m Vordergrund; daß es ein Gericht m i t dem Recht zu t u n hat, ist nichts Erstaunliches. Das „Recht" erhält i n diesem Kontext seine Brisanz und seine Wertigkeit erst i n seiner Gegenüberstellung und Beziehung zum anderen Begriff, dem der „Politik". Die Rolle des Phänomens „Politik" stellt das eigentliche Zentrum i n der Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit dar — sowohl i n der Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n die institutionelle Gesamtordnung als auch i m Hinblick auf die praktische Tätigkeit des Gerichts. (Insofern ist die Richtung i n der Diskussion unter dem Grundgesetz dieselbe geblieben; verändert hat sich die Bewertung des Verhältnisses von Recht und Politik i n der Arbeit des Verfassungsgerichts.) Schon ein oberflächlicher Seitenblick auf die Situation des Supreme Court zeigt, daß die Fragen, die sich bei uns u m das Begriffspaar „Recht und Politik" i n der Verfassungsgerichtsbarkeit ranken, auch dort von zentraler Bedeutung sind. Der Supreme Court ist die Institution der Vereinigten Staaten, die während ihrer Geschichte am öftesten i m Kreuzfeuer der K r i t i k stand, nicht nur wegen seiner Spruchpraxis, auch wegen der grundlegenden institutionellen Einordnung. Über kein Gebiet des Rechts ist i n den USA mehr geschrieben worden als über den Supreme Court. Es ist heute schwierig, die amerikanischen Diskussionen um den Supreme Court i m einzelnen zu übersehen, so weit sind sie verzweigt. Sie hier darzustellen wäre räumlich unmöglich und auch sachlich von wenig Nutzen. Die allgemeine Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit und der amerikanischen Wissenschaft gegenüber dem Supreme Court war am Ende der 60er Jahre gespalten. Sie reicht von der Ablehnung der Institution als solcher bis zur Annahme, daß die amerikanische Demokratie ohne den Supreme Court i n seiner derzeitigen Form überhaupt nicht funktionsfähig wäre. Dazwischen liegt eine Vielzahl kritischer Stimmen, welche die Institution als solche uneingeschränkt bejahen, für ihre derzeitige praktische Arbeit aber Änderungen für wünschenswert halten 1 . Die einzelnen Vorschläge sind hier schon deshalb nicht von Interesse, w e i l sie speziell auf dem amerikanischen Hintergrund gemacht worden sind. Die Problematik der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist i n vieler Hinsicht ähnlich der des Bundesverfassungsgerichts. Die Auseinandersetzung u m die Verfassungsgerichtsbarkeit w i r d indessen meistens unter anderen Stichworten geführt. Der Begriff „politics" taucht zwar auch gelegentlich auf, hat aber nur untergeordnete Bedeutung. 1 Zu einem ersten Überblick, vgl. dazu Bichel, Branch, and Black, The Supreme Court.

The Least Dangerous

2. Das Verhältnis von „Recht" und „Politik"

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I m Vordergrund der K r i t i k und der Verteidigung stehen Begriffe wie „undemocratic" und „countermajoritarian" 2 . Es scheint, daß dieser amerikanische Ausgangspunkt einen besseren Einstieg i n die Sachproblematik ermöglicht als die Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik". Verwendet man nämlich dieses Begriffspaar, so w i r d damit die Vorstellung erweckt, daß „Recht" und „ P o l i t i k " sich auf jeweils verschiedene Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit beziehen, welche klar voneinander getrennt werden können. Die Kontrastierung von „Recht" und „ P o l i t i k " legt nahe, dann von einem „rechtlichen" Problem zu sprechen, wenn man der Ansicht ist, daß der angesprochene Fall durch den Gesetzgeber auf dem üblichen normativen Wege gelöst worden ist und somit einer weiteren „politischen" Betrachtung nicht mehr bedarf. Die oben angedeutete topische Struktur des Verfassungsrechts entzieht sich jedoch oft einer solchen „rechtlichen" Betrachtung, w e i l die verfassungsrechtlichen Normen eben i n vielen Fällen keine eindeutige Lösung eines bestimmten Falles ermöglichen 8 . Die Betrachtung der bisherigen Definitionsversuche für „Recht" und „Politik" i m Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt, daß diese Terminologie für das entscheidende Problem der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit eine fruchtbare Diskussion nicht zuläßt. a) Kaufmann Kaufmann 4 w i l l dann von „politischen Streitigkeiten" sprechen, wenn keine Norm für ihre Lösung auffindbar ist. Diese Definition ist sicherlich nicht falsch; sie leistet aber auch nichts für die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit. I h r Zirkelschlußcharakter ist offensichtlich;sie beantwortet die Frage nach der Abgrenzung von „Recht" und „Politik", indem sie den Begriff des Rechts voraussetzt. b) Bachof Die Unterscheidung von „politischen Direktiven" und „Rechtsnormen", wie sie etwa Bachof 5 vorgeschlagen hat, leidet an demselben 2 Vgl. etwa Bichel, The Least Dangerous Branch, S. 7 ff.; Kauper, Hybrid Organ, S. 585; Rostow, S. 173. 3 Inwiefern die deutsche Ideengeschichte bedingt, daß die Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik" auch Vorstellungen wie „gerecht" und „schmutzig" mitschwingen läßt, sei hier dahingestellt. 4 Kaufmann, W d S t R L 9, S. 3 ff. s Bachof, W d S t R L 9, S. 118.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

Mangel. Sie läßt die entscheidende Frage offen, welches die faßbaren Kriterien für die beiden Kategorien sind. c) Roellecke Roellecke 6 geht von der Unterscheidbarkeit von Recht und Politik aus, u m schließlich die Grenzen richterlicher Tätigkeit doch nach anderen Kriterien zu entwickeln. Eine Definition der Begriffe Recht und Politik findet sich bei i h m nicht, wiewohl er sie auch am Ende seiner Abhandlung noch i n wichtigem Zusammenhang verwendet. d) Statusbericht Daß der Statusbericht ebenfalls an zentraler Stelle die Unterscheidung von „juristischen" u n d „politischen" Fragen trifft, wurde bereits oben dargelegt 7 . Trotz der idealtypischen Trennung des „statisch-rationalen" Rechts und der „dynamisch-irrationalen" Politik erkennt der Statusbericht ein gewisses Spannungsverhältnis von „Recht" und „Polit i k " i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit an. Die Folgerungen, die der Statusbericht aus diesen Zusammenhängen zieht, sind jedoch nicht funktionaler A r t . Der Statusbericht vermeidet die Auseinandersetzung m i t der Grenzproblematik der Verfassungsgerichtsbarkeit. Er begnügt sich i m folgenden m i t Ausführungen darüber, daß die politischen Auswirkungen eines Urteils mitbedacht werden müssen, und m i t der Frage, welche Qualifikation der einzelnen Richterpersönlichkeit durch diese Natur der Tätigkeit gefordert werde. A n einem späteren Punkt greift der Statusbericht indessen die oben nicht beantwortete Frage nach der Abgrenzung von Recht und Politik wieder auf. Er betont nun, daß das Bundesverfassungsgericht dort seine Grenzen habe, wo keine Norm mehr besteht. A n diesem Punkt, so fährt der Statusbericht fort, schlägt die Rechtsprechung u m i n Politik. A n dieser Stelle findet sich dann das berühmte Wort vom „Streit um das Recht" und dem „Streit nach dem Recht", welches schließlich als Endformel für die Abgrenzung von „Recht" und „ P o l i t i k " i n der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts dargelegt wird. Zur Unterstützung dieses zentralen Punktes zieht der Statusbericht die Rechtsprechung des Supreme Court heran. Er verweist dabei auf die Entscheidungen des Supreme Court, welche die sog. „political question doctrine" als die entscheidende Grenzlinie zwischen Rechte Roellecke, S. 48. 7 Statusbericht, S. 43 ff.

2. Das Verhältnis von „Recht" und „Politik"

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sprechung und Politik i n der Tätigkeit des Supreme Court herausarbeiten. Diese Rechtsprechung spricht m. E. i n der Tat die entscheidenden Grenzprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit an. Das Erstaunliche am Statusbericht ist aber, daß er gerade diejenigen Entscheidungen für seine Ansicht zitiert, i n welchen sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Supreme Court an einem sehr wesentlichen Punkt unterscheidet. Das Bundesverfassungsgericht hat es nämlich gerade abgelehnt, die „political question doctrine" i n seiner Rechtsprechung zu berücksichtigen 8 . Der Statusbericht ist i n seinem methodischen Aufbau von einer Dialektik gekennzeichnet, die kaum nachvollziehbar ist. Während einerseits der politische Charakter der Verfassungsgerichtsbarbeit anerkannt w i r d , w i r d er letztlich doch wieder verneint und i n den Schlußfolgerungen nicht mehr berücksichtigt. M i t der Formel vom „Streit u m das Recht" und vom „Streit nach dem Recht" ist das Bundesverfassungsgericht i m Grunde an derselben Stelle stehengeblieben wie Kaufmann. Zur entscheidenden Frage nach der Abgrenzung von Recht und Politik trägt auch die Formel des Bundesverfassungsgerichts nichts bei. Die Charakterisierung der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit, ihre Beschreibung und ihre Eingrenzung w i r d also auch m i t dieser Formel nicht erleichtert. Eine weitere, an sich für den Juristen naheliegende Abgrenzungsmöglichkeit scheint auf den ersten Blick i n der Bezugnahme auf das System der Gewaltenteilung zu liegen. Zumindest i m traditionellen Schema der Gewalten war das „Recht" dem Richter zugeteilt, die Politik der Legislative und der Exekutive. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß auch dieser Definitionsansatz zu keinem Ziel führt. Der Grund liegt darin, daß die Charakterisierung der Kompetenzbereiche der verschiedenen Gewalten nur auf einer so abstrakten Ebene möglich ist, daß daraus für eine brauchbare Definition der Begriffe „Recht" und „ P o l i t i k " nur wenig gewonnen werden kann. Ob sich das System der Gewaltenteilung i n anderer Form zur Eingrenzung der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit eignet, muß noch untersucht werden. I m Rahmen der Begriffsdefinition von „Recht" und „Politik" führt jedenfalls auch dieser Ansatz nicht weiter. Roellecke 9 zieht aus all diesen erfolglosen Versuchen den Schluß, daß die Schwierigkeiten bei der Definierung des Begriffs „ P o l i t i k " entmutigend sind. M. E. liegt das „Entmutigende" nicht so sehr i n den Definitionsschwierigkeiten i m speziellen Begriff des Politischen. Der Mangel an all den angeführten Ansätzen liegt i n etwas anderem. Er 8 Vgl. BVerfGE 2, 86—98. « Roellecke, S. 53.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

liegt bereits i n der Tatsache der Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik" zum Zwecke der Beschreibung und Eingrenzung der Tätigkeit des Verfassungsgerichts. Die Ursache für die Erfolglosigkeit der dargestellten Definitionsversuche ist weniger i n den beiden Begriffen „Recht" und „ P o l i t i k " zu sehen, als gerade i n ihrer Kombination und Kontrastierung. e) Eigener

Ansatz

Der eigentliche Grund für die Unfruchtbarkeit dieses Ansatzes liegt i m wesentlichen darin, daß das Objekt von Recht und Politik i m hier verwendeten Sinne weithin identisch ist. Die Aufgabe des Rechts und die Zielsetzung der Politik ist die Formung und Veränderung des Gemeinwesens, m i t anderen Worten der Gesetzgeber und der Richter beschäftigen sich m i t demselben gesellschaftlichen Phänomen, wenn der Gesetzgeber das Gesetz erläßt und der Richter es anwendet. Diese Identität des Objekts von Gesetz und Politik bedingt, daß diese beiden Begriffe zur Eingrenzung der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit nur wenig leisten können. Da die Begriffe „Recht" und „ P o l i t i k " aber offensichtlich nicht i n vollem Umfang synonym sind, ist der Unterschied w o h l weniger i n der objektiven Komponente als i m subjektiven Teil zu sehen. Hier unterscheiden sich die Begriffe deutlicher, und hier liegt m. E. auch die einzige Möglichkeit eines Ansatzes, die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu beschreiben und einzugrenzen. Zuerst soll auf diesem Hintergrund untersucht werden, welche I m plikationen das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts für die subjektive Komponente der verfassungsgerichtlichen Arbeit hat. Indem der „irrational-dynamischen" Politik das „rational-statische" Recht gegenübergestellt wird, erhält die logische Komponente des Rechts eine zentrale Bedeutung. M i t der Betonung der Rationalität — und somit auch der Logik — des Rechts soll w o h l auch das Augenmerk auf den Prozeß der Rechtsanwendung gelenkt werden. Wer dem Recht den dynamischen Charakter der Politik gegenüberstellt, für den liegt es sehr nahe, i m Recht das „Ein-für-alle-Mal-Entschiedene" zu sehen, worauf sich dann auch wohl die Charakterisierung „statisch" bezieht. Für die Rechtsanwendung ergibt sich aus einer solchen Betrachtung ein einfaches Bild, nämlich das der simplen Subsumtion des zu entscheidenden Sachverhalts (oder der niedrigen Norm) unter die Norm (oder die höhere Norm). Die Vorstellung von der Möglichkeit der logi-

2. Das Verhältnis von „Recht" und „Politik"

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sehen Deduktion des Urteils aus der vorhandenen Norm — durch die Technik der Subsumtion — steht i n engstem Zusammenhang m i t dieser Grundauffassung. Was i m Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts anklingt, ist letztlich die Vorstellung Montesquieus vom Richter als einer Macht „en quelque facon nulle", dessen Tätigkeit sich i n der logischen Anwendung des vorgegebenen Rechts erschöpft. Hier soll nun keinesfalls der unsinnige Versuch gemacht werden, die rationale Komponente des Rechts und die enge Gebundenheit des Richters an das Gesetz zu leugnen. Andererseits gehört es spätestens seit der berühmten Rektoratsrede Bülows 1 0 i m Jahre 1885 zum allgemeinen Bestand des juristischen Wissens, daß auch i m Kodifikationssystem die Rolle des Richters nur unzulänglich m i t dem des reinen Rechtstechnikers beschrieben werden kann. Isay 1 1 und Esser 12 haben i n neuerer Zeit die Gedanken Bülows modifiziert und fortentwickelt. A n diesem Punkt liegt letztlich der Schlüssel dafür, weshalb die Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik" schon vom Ansatz her nicht viel für das Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere ihrer Grenzproblematik beitragen kann. Die Möglichkeit der Subjektivität der richterlichen Entscheidung i m Rahmen der objektiven Auslegung drückt sich i n der Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik" nicht aus, zumindest nicht scharf genug. I n dieser Möglichkeit liegt aber ein fundamentales Problem jeder Verfassungsgerichtsbarkeit. Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Supreme Court zeigt, daß hier der Punkt ist, an dem die Verfassungsgerichtsbarkeit am leichtesten verletzt werden kann. Der Vorwurf der Subjektivität traf den Court immer wieder, sei es zu Recht oder zu Unrecht 18 . Die beiden Fälle, i n denen der Supreme Court am heftigsten kritisiert und bis zum Rande der Existenz bedroht wurde, haben ihren Angelpunkt i n der Subjektivität der beiden Urteile, i n der fehlenden Gebundenheit an den Text der Verfassung. Als der Supreme Court 1856 entschied, daß Dred Scott als Neger kein Bürger der USA i m Sinne der Verfassung sei, und daß dies klar aus dem Verfassungstext hervorgehe, war das Prestige des Supreme Court i n weiten Teilen des Landes so weit gesunken, daß die Arbeitsfähigkeit des Gerichts i n Zweifel gestellt war 1 4 . io n 12 13 14

Bülow, Gesetz und Richteramt. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung. Esser, Grundsatz und Norm. Vgl. etwa Kauper, Hybrid Organ, S. 581 ff. VgL McCloskey, S. 93 ff.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

I n den ersten Jahren der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt wurde dessen Wirtschaftspolitik durch eine konservative Auslegung der Verfassung durch den Supreme Court blockiert. Der Court war der Ansicht, daß der Verfassungstext den Eingriff des Staates i n die W i r t schaft nur i n sehr begrenztem Umfang zuläßt. Roosevelts A n t w o r t darauf w a r jener berühmte Court-packing-plan, m i t der er eine personelle Umstrukturierung des Gerichts erreichen wollte. M i t den obigen Erläuterungen w i r d deutlich, daß das Begriffspaar „Recht" u n d „Politik", das unsere Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit beherrscht, dann keinen fruchtbaren Ansatz darstellen kann, wenn es sich auf die jeweilig objektiven Sphären der beiden Begriffe beziehen soll. Nicht die Materie als solche, sondern die Natur des Entscheidungsprozesses bedingen die Abgrenzung von „Recht" und „ P o l i t i k " i m Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit. Daß politische Vorgänge am Recht gemessen werden können, wie der Statusbericht sagt, ist i n einem gewissen Sinne sicherlich richtig. Hier liegt aber auch nicht die Schwierigkeit i n der Abgrenzung von „Recht" und „ P o l i t i k " . Sie liegt vielmehr i n der Natur des Rechts und insbesondere des Verfassungsrechts, insofern es eine absolute Bindung des Richters an das Recht nicht zuläßt. Durch die Struktur des Verfassungsrechts gewinnt der Verfassungsrichter i n besonderem Umfang die Möglichkeit, verschiedene Urteile i n einem Fall m i t der Verfassung i n Einklang zu bringen. I n dieser Situation aber muß sich der Richter dennoch für ein U r t e i l entscheiden. Die A r t und Weise, auf die sich der Richter dann für ein bestimmtes Urteil entscheidet, ist nicht mehr i n vollem Umfang durch die Rechtstechnik zu erfassen. I n diesem subjektiven Bereich w i r d die Abgrenzung von „Recht" und „ P o l i t i k " relevant. Das Abwägen der Interessen, i n dem Kaufmann das Charakteristikum der Politik sieht 1 5 , stellt für den Verfassungsrichter eine vertraute Erscheinung dar. Die staatstheoretische Frage, die sich daraus ergibt, ist die nach dem wünschenswerten Verhältnis von A b wägung und Subsumtion, von Freiheit und Bindung, von Politik und Recht. Die Beantwortung dieser Frage hängt von vielerlei Faktoren ab, deren Gewicht keinesfalls eindeutig festliegt. Daß das Ausmaß der Wertung durch den Verfassungsrichter ohne Belang ist, wie der Statusbericht es meint, kann aber auch bei einer Diskrepanz i n der Bewertung dieser Faktoren nicht angenommen werden. Der Statusbericht verkennt insofern das zentrale staatstheoretische und staatsrechtliche Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die subjektive Abwägung der Interessen durch den Verfassungsrichter ist der Punkt, an dem die

* 5 Vgl. Kapitel 2, Fn. 60.

3. Die „politische" Betrachtung des Supreme Court in den USA

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Gegenüberstellung von „Recht" und „Politik" ihren eigentlichen staatsrechtlichen Sinn hat. I n der Möglichkeit der persönlichen, intersubjektiv nicht kontrollierbaren Entscheidung des Verfassungsrichters hat die Unterscheidung von „Recht" und „Politik" ihren Grund; sie stellt das politische Phänomen der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. N u r von dieser Sicht aus ist die Grenzproblematik der Verfassungsgerichtsbarkeit besser als bisher sichtbar zu machen 16 . 3. Die „politische" Betrachtung des Supreme Court in den USA Eine beachtliche Zahl amerikanischer Politikwissenschaftler hat an die Tatsache, daß der Supreme Curt i n seinen Urteilen faktisch einen gewissen Spielraum hat, weitreichende Konsequenzen geknüpft. a) Shapiro Martin Shapiro geht i n seinem Buch „The Supreme Court and the Administrative Agencies" von vornherein davon aus, daß der Supreme Court als „political agency", als politische Instanz betrachtet werden muß 1 7 . Eine eingehende Begründung glaubt er für diese Annahme nicht mehr geben zu müssen. Hier findet eine Linie des Denkens ihren Ausdruck, welche i m letzten Jahrzehnt immer mehr Anhänger i n den Fakultäten der politischen Wissenschaft i n den USA gefunden hat 1 8 . b) Schubert A m klarsten und eindringlichsten kommt diese Grundauffassung i n den Werken von Glendon Schubert zum Ausdruck. Aus diesem Grunde sollen sie hier kurz vorgestellt werden. I m Vorwort zu seinem ersten großen Werk „Constitutional Politics" 1 9 beschreibt Schubert die traditionelleren Ansichten vom Supreme Court, welche nur die Ergebnisse darstellen, und fährt dann fort 2 0 : „In diesem Buch gehe ich davon aus, daß ein sinnvoller Ansatz (zur Analyse des Supreme Court, R. D.) in einer eindringlichen Untersuchung 16 Diese Ansicht ist keinesfalls neu; vgl. etwa Bachof, Der Verfassungsrichter, S. 107 ff.; Döhring, S. 215. Es erscheint aber erforderlich, diese Problematik schärfer als bisher in den Vordergrund zu stellen. Nur so kann ihre zentrale Bedeutung klar gemacht werden. 17 Shapiro, The Supreme Court. « Vgl. Schubert, Judicial Policy-Making, S. 158 ff. is Schubert, Constitutional Politics. 20 ibid., Introduction, S . V I .

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

des Entscheidungsprozesses der Verfassungsrichter und in der politischen Rolle . . . der Richter als Gruppe und als formelle Leiter einer Regierungsbehörde besteht."

Aus der Einleitung sei ferner der folgende Satz zitiert 2 1 : „Aus der Annahme, daß die Verfassungsrichter eine politische Gruppe sind, folgt, daß das Verhalten der Richter unter Gesichtspunkten betrachtet werden kann, welche mit verschiedenen Forschungsmethoden der Sozialwissenschaft wie etwa »Gruppentheorie 4, »Rollentheorie', ,Elitetheorie', usw. i m Zusammenhang stehen."

M i t diesen beiden Zitaten ist i m wesentlichen das Forschungsprogramm beschrieben, dem sich Schubert i n den letzten Jahren intensiv gewidmet hat. Schubert gliedert seine Forschungsmethode i n fünf Punkte auf 2 2 : 1. Der politische Ansatz sieht die Richter als offizielle Entscheidungsträger, welche fortwährend m i t der Formulierung und Modifizierung öffentlicher Politik befaßt sind, die eine mehr oder weniger autoritative Umordnung der Werte, Güter und der staatlichen Leistungen zur Konsequenz hat. 2. E i n psychologischer Ansatz versucht zu verstehen, w a r u m die Richter, als Individuen, sich für die eine und nicht für die andere Alternative i n ihrem Urteil und ihrer Urteilsformulierung entschließen. 3. E i n soziologischer Ansatz betrachtet die Richter i n ihrem offiziellen Handeln als Mitglieder einer kleinen, elitären Primärgruppe. 4. E i n staatstheoretischer Ansatz sieht das Gericht als einen öffentlichen Entscheidungsträger, dessen Willensbildungsprozeß ebenso wie i n anderen staatlichen Bereichen einer Kontrolle unterzogen werden kann und muß. 5. E i n statistischer Ansatz ist notwendig, damit die systematische Beobachtung und Auswertung sowohl der Entscheidungen des Gerichts als auch der einzelnen Richter erfolgen kann. Dieses Programm führt Schubert i n seinem umfangreichen Werk durch. Er untersucht die Ernennungsvorgänge, den Willensbildungsprozeß innerhalb des Gerichts (hier insbesondere gruppendynamische Aspekte bei den einzelnen Entscheidungen), das Verhältnis des Supreme Court zu den anderen Gewalten, die Rolle der precedents, die Frage der Stabilität einzelner Entscheidungen unter den obengenannten Gesichtspunkten. I m Anschluß daran befaßt er sich m i t der Rechtsprechung i n den einzelnen Sachbereichen. 21 Introduction, S . V I I . 22 Schubert , Constitutional Politics, S. 9 ff.

3. Die „politische" Betrachtung des Supreme Court in den USA

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1963 gab Schubert unter dem Titel „Judicial Decision-Making" 2 8 ein Buch heraus, i n dem verschiedene Autoren einzelne Aspekte der Rechtsanwendung untersuchen. Die Beiträge behandeln so verschiedene Fragen wie „Private Handlungen der Richter" und „Die Haltung des Supreme Court unter Warren i n Fragen der Wirtschaftsrechtsprechung". Das Buch ist dreiteilig aufgebaut; Teil eins befaßt sich m i t „Sozialpsychologie und der Richter", Teil zwei m i t „Statistische Vorhersagen und juristische Urteile" und Teil drei m i t „Politische Soziologie und die Gerichte". I m darauffolgenden Jahr erschien Schuberts „Judicial Behavior" 2 4 . I n 41 Beiträgen gibt Schubert darin einen breiten Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Erörterung der Probleme und Strukturen der Rechtsanwendung. Einige der enthaltenen Aufsätze stammen von Juristen, die meisten Autoren kommen von den Politischen Wissenschaften, daneben kommen auch noch Soziologen, Psychologen und Anthropologen zur Sprache. I n diesem Band spiegelt sich die Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung m i t der Rechtsanwendung i n den USA i n ihrer vollen Breite. A m Beginn steht ein Auszug aus der historischen Vorlesung „The Nature of the Judicial Process", m i t welcher Benjamin N. Cardozo die Ä r a der rechtssoziologischen Betrachtung i n den USA eingeleitet hat 2 5 . Sein psychologischer Realismus war der erste Schritt zur modernen amerikanischen Betrachtung der Rechtsanwendung, wie sie etwa i n dem letzten der Beiträge „Vorhersagen i m Recht m i t Hilfe eines psychometrischen Modells" erscheint. Schubert untersucht darin die Möglichkeiten, die Entscheidung des einzelnen Richters vorherzusagen. Er fragt, welcher A r t eine solche Vorhersage sein kann, auf welchen Teil des Willensbildungsprozesses sie sich sinnvollerweise beziehen kann, und wie groß die Sicherheit der Vorhersage sein kann. Zwischen dem Aufsatz Cardozos und dem Beitrag Schuberts findet sich eine breite Streuung von Themen, die sich alle m i t Fragen der Rechtsanwendung beschäftigen, von gruppentheoretischen Modellen bis zu statistisch-mathematischen Ansätzen, von Untersuchungen der ethnischen und religiösen Herkunft der Verfassungsrichter bis solchen über das unterschiedliche Prestige einzelner Revisionsgerichte. 1965 erschien Schuberts Buch „Judicial Policy Making" 2 6 . I n dieser kürzeren Abhandlung findet sich wahrscheinlich die beste Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse Schuberts. 28

Schubert, Judicial Decision-Making. 24 Schubert, Judicial Behavior. 25 Cardozo, The Nature of the Judicial Process. 26 Judicial Policy Making.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

I m Rahmen einer strukturell-funktionalen Theorie erörtert Schubert die Arbeitsweise der Richter, die Position des Richters i n der Gesamtheit des politischen Systems und die Natur der möglichen Beziehungen des Richters zum Gesamtsystem. Er geht von diesem Gesamtsystem aus und definiert i m Anschluß daran die Rolle des Richters. Z u diesem Zweck beschreibt er zunächst den Aufbau der verschiedenen Instanzenzüge, die Modalitäten der Richterernennung und die prozessualen Vorschriften. Nach diesem empirisch orientierten Teil entwickelt er ein allgemeines Modell der Willensbildung, m i t Hilfe dessen die richterliche Urteilsfindung analysiert wird. Dieses Modell arbeitet i m wesentlichen m i t den wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien input-conversion-output. Unter die sich gehören Anträge

„input" ist dabei die Gesamtheit der Faktoren zu verstehen, dem Richter darbieten, bevor er die Entscheidung trifft. Dazu solch vielfältige Dinge wie das Gesetz, die Formulierung der und das Vorhandensein von Stellungnahmen i n der Literatur.

„Output" ist das Urteil des Richters. Die Verarbeitung der inputs zu den Outputs ist die „policy conversion". Ihre Analyse stellt ein zentrales Problem für den sog. behavioral approach dar. Diese fragt danach, welche Motive, welche Werte den einzelnen Richter dazu bewegen, i m Rahmen der Norm sich für die Entscheidung A und nicht für die Entscheidung B zu entscheiden. Die Häufigkeit der 5 : 4 Entscheidungen des Supreme Court ist das klarste Indiz dafür, daß es überhaupt so etwas wie einen individual conversion process gibt. Die Untersuchung der Gesamtheit der Entscheidungen des einzelnen Richters und der Vergleich m i t den Ergebnissen anderer Richter zeigt dabei ferner, daß es bei fast allen Richtern gewisse Grundtendenzen i n der persönlichen Philosophie gibt, welche sich i n den Urteilen niederschlagen. Nicht nur persönliche Grundmotive allein entscheiden den conversion process. Bindungen an befreundete Kollegen z. B. spielen gelegentlich eine gewisse Rolle. Der große Vorteil der strukturell-funktionalen Theorie Schuberts ist seiner Ansicht nach, daß sie alle drei Faktoren — input, conversion und Output — i n Betracht zieht und damit ein umfassendes B i l d der richterlichen Tätigkeit gibt. Während die traditionelle Ansicht sich ausschließlich auf den Output konzentriert, zieht die sog. conventional theory zwar die input analysis m i t i n Betracht, geht aber dennoch an einem entscheidenden P u n k t fehl, indem sie zwischen input und output eine kausal determinierte Funktion annimmt und auf diese Weise den zentralen Komplex der conversion übersieht.

3. Die „politische" Betrachtung des Supreme Court in den USA

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Anhand der oben beschriebenen Gesamtuntersuchungen beurteilt Schubert die Wertskalen der einzelnen Richter i m Hinblick auf w i r t schaftliche, politische und soziale Fragen. I n einem weiteren Kapitel „Ideologie und Normenkontrolle" untersucht Schubert, i n welcher politischen Richtung sich der Tendenz nach die Normenkontrolle auswirkt. Allgemeine Aussagen sind nach Schubert i n diesem Zusammenhang nicht möglich. Seine einzige These ist die, daß die soziale Herkunft der Richter eine gewisse konservative Tendenz bedingt (die aber, daran sei erinnert, m i t der Normenkontrolle als solcher nichts zu t u n hat). Ferner geht Schubert kurz darauf ein, welche Implikationen eine liberale Grundeinstellung für die Ergebnisse der Normenkontrolle hat. Schubert geht dabei von einem Liberalitätsbegriff aus, der „liberal" i n engstem Zusammenhang m i t der Entscheidungskompetenz der unmittelbar vom Volk gewählten Machthaber sieht. Unter diesem Gesichtspunkt der Liberalität untersucht Schubert dann die Tendenzen des Supreme Court i n seinen verschiedenen Epochen. I n einem weiteren Absatz krepanz der Entscheidungen seits und des Supreme Court der Normenkontrolle also — faßt werden kann 2 7 .

geht die Arbeit darauf ein, wie die Disdurch Exekutive und Legislative einerandererseits — die zentrale Problematik m i t Hilfe einer funktionalen Theorie er-

I n einem letzten Kapitel setzt sich die Arbeit schließlich m i t den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen auseinander, welche bisher zur Analyse der sozialen Funktion des Rechts angeboten worden sind. Ebenfalls i m Jahre 1965 erschien Schuberts Buch „The Judicial M i n d " 2 8 . Das Ziel dieser Arbeit ist eine Untersuchung der Haltungen und Werte, die die Richter des Supreme Court i n den Jahren 1946 bis 1963 individuell gekennzeichnet haben. Wer das Buch i n die Hand nimmt und durchblättert, w i r d sich wahrscheinlich nochmals des Titels auf dem Deckblatt versichern; die Fülle von Tabellen, Modellen und Koordinatenkreuzen weist für den unbefangenen Betrachter eher auf ein wirtschaftswissenschaftliches Werk hin. Die Übernahme sozialpsychologischer Modelle bedingt diesen Aufbau. M i t diesen Modellen analysiert Schubert das Verhalten der einzelnen Richter. Sein Ziel ist die Darstellung und Beschreibung der persönlichen politischen Grundhaltungen der Richter. Das Ergebnis ist, daß eine einfache Kennzeichnung wie liberal oder konservativ nur für wenige Richter sinnvoll ist, daß die «7 Vgl. hierzu S. 65 ff. 28 Schubert, The Judicial Mind.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

Beschreibung aber schon viel brauchbarer wird, wenn man Liberalismus i n politischer und i n wirtschaftlicher Hinsicht unterscheidet. 1969 hat Schubert ein Buch herausgegeben, i n dem verschiedene Autoren m i t modernsten soziologischen und sozialpsychologischen Methoden die Strukturen und Arbeitsweisen der höchsten Gerichte i n verschiedenen westlichen und fernöstlichen Ländern untersuchen. Die Bundesrepublik wurde dabei nicht berücksichtigt 29 . M i t der kurzen Darstellung von Schuberts Werken sollte keinesfalls impliziert sein, daß die Fragestellungen Schuberts immer sinnvoll sind, daß die Methoden immer einer kritischen Prüfung standhalten oder daß die Ergebnisse immer den Forschungsaufwand rechtfertigen. Schuberts Werke haben sich noch keinesfalls i n vollem Umfang durchgesetzt und werden w o h l auch i n der Zukunft i n einzelnen Aspekten korrigiert werden müssen 80 . Der Sinn dieser Darlegungen besteht aber auch nicht i n der Erörterung von Detailfragen. Was aus Schuberts Werken für den Gang unserer Untersuchung relevant wird, ist die schlichte Tatsache, daß die Bindung an das Gesetz — vor allem i m Verfassungsrecht — dem Richter durchaus einen gewissen Entscheidungsspielraum läßt, i n dem seine persönlichen Wertvorstellungen notwendig zum Tragen kommen. Ferner zeigen die Arbeiten Schuberts — auch bei Berücksichtigung möglicher Einwände gegen sie i n Detailfragen —, daß es nicht unmöglich ist, die über logische Deduktion hinausgehenden Interpretationsmomente i n gewissem Maße zu erfassen und zu bewerten. Der wissenschaftliche Ansatz Schuberts zur Bewältigung dieser Frage führt dabei über die Generalität einer Aussage des Inhalts hinaus, „daß Verfassungsrichter manchmal auch politisch tätig werden". Die strukturellfunktionale Theorie Schuberts zeigt, i n gewissen Grenzen, wo das Politische zu suchen ist, wie es wirksam w i r d u n d gibt auch gewisse Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer staatstheoretischen Bewertung des politischen Moments i n der Tätigkeit des Verfassungsrichters. W i r werden i n Einzelfragen gelegentlich noch auf Schuberts Werk zurückkommen. Hier sei als vorläufiges Ergebnis festgehalten, daß die oben erörterte Definition des Begriffs des Politischen i n der Arbeit der Verfassungsrichter i n sinnvoller Weise nur auf den persönlichen Entscheidungsprozeß des einzelnen Richters bezogen werden kann, und daß es sozialwissenschaftliche Ansätze gibt, u m diesen Entscheidungsprozeß darzulegen, zu analysieren und seine Beurteilung als „politisch" zu rechtfertigen. 29

Schubert, Judicial Structures. so Vgl. etwa Freund, The Supreme Court, S. 116.

4. Strukturell-funktionale Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit

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4. Strukturell-funktionale Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit Haben die obigen Erörterungen gezeigt, daß die Ansicht Montesquieues von der dritten Gewalt als einer Macht „en quelque facon nulle" zumindest für den Verfassungsrichter heute nicht mehr gelten kann, so soll i m folgenden darangegangen werden, die staatsrechtlichen I m p l i kationen des politischen Aspekts der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Hinblick auf die Tätigkeit des Gerichts näher zu zeigen. Ferner soll i n diesem Zusammenhang die Frage nach der Rechtfertigung des politischen Aspekts des Verfassungsgerichts i n unserem Regierungssystem gestellt werden. Dabei ist davon auszugehen, daß es keinen abstrakt-theoretischen „Ort der Verfassungsgerichtsbarkeit" gibt. Jedes Verfassungsgericht ist jeweils Teil eines bestimmten, i n sich verzahnten und geschlossenen Regierungssystems. Die besonderen Eigenschaften jedes Regierungssystems und auch Abweichungen i n einzelnen Detailfragen innerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeiten selbst bedingen für jede Verfassungsgerichtsbarkeit eine jeweilig verschiedene Gesamtansicht. Innerhalb dieses Rahmens zeigt sich jedoch, daß die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit eine gewisse Eigenproblematik hat, die sich überall stellt, und die überall gewisse Fragen hervorruft. I m folgenden w i r d vor allem von solchen Problemen die Rede sein, welche sich generell für die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit i n einer Demokratie des westlichen Typus stellt. Dies ist der Grund und die Rechtfertigung dafür, daß dabei häufig auf die Verhältnisse am Supreme Court Bezug genommen wird, daß die historischen Erfahrungen m i t dem Supreme Court zum Teil m i t herangezogen werden, und daß die amerikanische Literatur i n unserer Untersuchung berücksichtigt wird.

a) Traditionelle

Betrachtungen

Die Erkenntnis vom politischen Element der Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet nicht unbedingt, daß das traditionelle B i l d eines Gerichts strukturell nicht für das Bundesverfassungsgericht paßt. Vorsicht ist auch gegenüber der Ansicht geboten, daß das Bundesverfassungsgericht wegen seiner relativen Entscheidungsfreiheit das herkömmliche Schema der Gewaltenteilung sprengt — und somit die Lehre von der Gewaltenteilung keinen sinnvollen Zugang zu seinen Problemen ermögliche. Schließlich erfordert die genauere Betrachtung des politischen Elements der Verfassungsgerichtsbarkeit auch keineswegs den Schluß, die Verfassungsgerichtsbarkeit stelle schon rein institutionell gesehen die „Mitte des Verfassungsstaates" dar, wie Marcic es sieht, 5 Dolzer

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

wenn damit gesagt sein soll, daß das Bundesverfassungsgericht das Wesen des Staates und seiner Tätigkeit an erster Stelle bestimme 31 . Alle diese Aussagen über die Verfassungsgerichtsbarkeit sehen dieses richtig: daß die Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzlich einen sehr weiten „politischen" Spielraum hat, der — wenn er v o l l ausgenützt würde — i n der Tat das traditionelle B i l d vom Gericht nicht zuließe, der einen fundamentalen systematischen Einbruch i n das Konzept der Gewaltenteilung m i t sich bringen würde, und der, auf dem Hintergrund der üblichen demokratischen Staatstheorien, eine starke Verschiebung der politischen Gewichte i m gesamten Bereich des Staatswesens bedeuten würde. I n einer Zeit, i n welcher der Bereich der rechtlichen Regelungen m i t der Ausdehnung staatlicher Tätigkeit immer breiter wird, haben die Verfassungsgerichte auf dem Wege ihrer Kontrollfunktion die Möglichkeit, auf verschiedenste Gebiete der staatlichen Betätigung einzuwirken und somit die politische Entwicklung maßgeblich zu beeinflussen. Die Wirtschaftsrechtsprechung des Supreme Court von 1890 bis 1937 oder die Entscheidung der Verfassungswidrigkeit rassisch getrennter Ausbildungsstätten sind i n den USA von historischer Bedeutung für die gesamte staatliche Entwicklung gewesen. McCloskey ist der Ansicht, daß der amerikanische Staat i n seiner gesamten historischen Entwicklung untrennbar m i t den Entscheidungen des Supreme Court verbunden ist 8 2 . Man hat oft gesagt, daß die Frage der politischen Macht des Verfassungsgerichts dadurch entscheidend entschärft wird, daß das Verfassungsgericht nur auf Antrag tätig werden kann, und daß es nur m i t „Ja" oder „Nein" urteilen kann, daß damit also die positive Gestaltungsfreiheit, wenn überhaupt vorhanden, dann jedenfalls gering sei. Bei genauerer Betrachtung erscheint dieses Argument aber nur als bedingt richtig. Der Bereich des Rechts dehnt sich materiell immer weiter aus, die rechtsfreien Sphären i m staatlichen Leben werden zur Ausnahme. A u f diese Weise erhält die Rolle desjenigen, der über das Recht zu bestimmen hat, immer mehr Gewicht. Es gibt heute nur mehr wenige Bereiche des staatlichen Lebens, die nicht i n ihren wesentlichen Zügen rechtlich geregelt sind. V o r allem bei dem weiten Kompetenzbereich, wie er dem Bundesverfassungsgericht i m Grundgesetz zugewiesen worden ist, bedeutet der Zugang zum Recht heute potentiell den Zugang zur Macht. Sicherlich w i r d durch das Erfordernis des An-

31 Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, S. 7 ff. 32 McCloskey, S. 226 ff.

4. Strukturell-funktionale Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit

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trags i n zeitlicher Hinsicht die Entscheidungsfreiheit des Verfassungsgerichts eingeengt. Immerhin ist doch aber auch i n diesem Zusammenhang zu bedenken, daß eine kontroverse Regelung sehr häufig nach einer gesetzlichen Festlegung zum Bundesverfassungsgericht gelangen wird, insbesondere dann, wenn man das Bundesverfassungsgericht ohnehin zum Instrumentarium der politischen Kampfmittel rechnet. Auch wenn es einige Zeit dauert, ehe sich das Bundesverfassungsgericht m i t einer strittigen Frage beschäftigen wird, ist es eben gegenüber den anderen staatlichen Organen doch nur eine zeitlich verschobene Entscheidungsmacht, deren Auswirkungen i n ihrer Bedeutung für die Zukunft nicht geringer w i r d . Auch der Hinweis, das Bundesverfassungsgericht könne nur m i t „Ja" oder „Nein" entscheiden und werde somit nicht gestaltend tätig, hat grundsätzlich nicht viel Gewicht. I n einer Vielzahl von Fällen gibt es von der Sache her nur zwei Alternativen. Die Entscheidung für eine Lösung bedeutet dann die Ablehnung der anderen Lösung; die A b lehnung der vom Gesetzgeber vorgezogenen Alternative läßt sachlich dann nur eine andere übrig. Die Entscheidung für non-A bedeutet i n einem solchen F a l l oft nicht eine Ablehnung i m Sinne der Nichtentscheidung, sondern implizit eine positive Entscheidung für B. Als der Supreme Court i m Jahre 1954 entschied, daß die separatebut-equal doctrine verfassungswidrig sei, war darin positiv das Urteil zugunsten der Gleichheit der Rassen vor dem Gesetz, die Anordnung zur Umstrukturierung der Schulen enthalten. Als das Bundesverfassungsgericht entschied, daß eine staatliche Parteienfinanzierung generell verfassungswidrig sei, bedeutete dies positiv, daß die Parteien weiterhin aus anderen Quellen finanziert werden müssen. Natürlich gibt es auch Fälle, i n denen die Verneinung der Verfassungsmäßigkeit dem Gesetzgeber noch mehr als eine einzige andere Lösung offen lassen. Empirisch ist das wohl aber nicht die Mehrzahl der Entscheidungen. Schließlich sei auch noch auf jene dritte Fallgruppe hingewiesen, welche dadurch gekennzeichnet ist, daß das Bundesverfassungsgericht selbst eine relativ differenzierte Lösung des Problems erarbeitet. I m Apotheken-Urteil wurde z. B. nicht nur die Entscheidimg über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes getroffen, sondern das Gericht legte detaillierte Richtlinien für die Gestaltung der Berufsfreiheit vor, welche keinen großen Spielraum für den Gesetzgeber offenlassen. Das Fazit dieser Betrachtungen ist, daß die technisch-prozessuale Situation das Bundesverfassungsgericht i n vielen Fällen zwar ein wenig einengt, daß i m wesentlichen dadurch aber nichts an der generellen Entscheidungsmacht des Gerichts verändert wird. Es liegt i n der Natur der Verfasse

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

sungsgerichtsbarkeit, daß ihre Grenzen sehr weit gesteckt sind. I n der amerikanischen Verfassungslehre ist diese Erkenntnis durchaus geläufig. Sie kommt wohl am zutreffendsten i n dem berühmten Ausspruch von Frankfurter 8 3 zum Ausdruck: "Our only limitation is our self-limitation." Der politische Aspekt der Verfassungsgerichtsbarkeit i n Verbindung m i t dem relativ unbeschränkten Kompetenzbereich i m oben beschriebenen Sinne machen das aus, was hier als die „Eigenproblematik der Verfassungsgerichtsbarkeit" bezeichnet wird. Ihre Beschreibung und Analyse führt uns dazu, nicht nur auf den — unbestrittenen — Wert der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Gesamtsystem zu sehen, sondern auch auf den Bereich, i n dem das Verfassungsgericht von seiner Natur her unter bestimmten Voraussetzungen die Harmonie des Gesamtsystems beeinträchtigen könnte. U m zu einer abgewogenen Beurteilung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu gelangen, bedarf es nicht nur der Würdigung seines positiven Beitrags, sondern auch des Blicks für die Grenzprobleme, für die Verzahnung der Staatsaufgaben u n d der daraus entstehenden Konsequenzen für die Verfassungsgerichtsbarkeit. Gerade zur schärferen Erfassung dieses Bereichs leistet die traditionell-juristische Sicht der Tätigkeit des Verfassungsgerichts nur sehr wenig. Wer die Gesamtheit der Normen als abgeschlossenes System sieht, aus welchem der Richter auf rein rational-technischem Wege nach juristischen Methoden das U r t e i l ableitet, für den ergibt sich meistens die „Grenzproblematik" des Verfassungsgerichts schon gar nicht 3 4 . Für i h n ist die Sache oft m i t dem Hinweis erledigt, daß das „Recht" der „Politik" vorgehe 85 , und daß die Ausdehnung des Rechts zur Sicherung des Individuums eine begrüßenswerte Tendenz sei. Die fehlende Analyse des Rechts und seiner Anwendung verdeckt dann den Blick für den Grenzbezirk von Recht und Politik, welcher bei der Verf assungsgerichtsbarkeit den problematischen Bereich ausmacht. b) Der strukturell-funktionale

Ansatz

Hier kann nur der mehr am Phänomen des Politischen orientierte Ansatz etwas leisten, wie er der Tendenz nach i n den Werken von Schubert gegeben ist. Durch die Einbeziehung des politischen Elements i n die Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht es uns dieser Ansatz, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts i m Gesamtsystem näher zu betrachten. Wer die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit isoliert unter Zugrundelegung der Montesquieueschen Auffassung vom Gericht 33 United States v. Butler, U.S. 1, 79 (diss. op.). 34 Vgl. dazu die Schriften Kelsens und seines Schülers Marcic. 35 Vgl. das Referat Kelsens auf der Staatsrechtslehrertagung 1928.

4. Strukturell-funktionale Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit

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sieht, kann keinen geeigneten Zugang für Fragen des Grenzbereichs der Verfassungsgerichtsbarkeit finden, w e i l schon vom Ansatz her der Bezug zu den übrigen Staatsorganen nicht erfaßt werden kann. Der strukturell-funktionale Ansatz hingegen stellt die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine Ebene m i t der Exekutive und der Legislative, indem er i n der Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso wie i n der Exekutive und Legislative ein eigenständiges Entscheidungszentrum sieht. Die „strukturelle" Komponente dieses Ansatzes besteht darin, daß er die Verfassungsgerichtsbarkeit als einen Teil der staatlichen Gesamtstruktur betrachtet und sie i n diese einordnet, indem er sie i n Beziehung zu den übrigen Staatsorganen setzt. Die „funktionale" Komponente besteht i n der Analyse des Verhältnisses der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den übrigen Staatsorganen. Hier geht es darum, die Funktion des Verfassungsgerichts i m Gesamtsystem zu beleuchten. Indem die strukturell-funktionale Theorie die Verfassungsgerichtsbarkeit als eigenständigen Entscheidungsträger sieht, geht sie davon aus, daß das Verfassungsgericht „politische" Entscheidungen i m oben beschriebenen Sinne trifft, daß sie also bei ihren Urteilen einen Entscheidungsspielraum vorfindet, den sie durch bestimmte Wertungen ausfüllen muß und ausfüllt. Wer diesen Ausgangspunkt nicht teilt, muß die strukturell-funktionale Theorie als sinnlos ansehen. Wer — wie es hier geschieht — i m politischen Element der Verfassungsgerichtsbarkeit ein Charakteristik u m dieser Institution sieht, für den eröffnet dieser Ansatz einen sinnvollen Zugang zu einer staatsrechtlichen und staatstheoretischen Betrachtung und Bewertung dieser Institution. Schubert hat den methodischen Ansatz der strukturell-funktionalen Theorie dem Bereich der soziologischen Theorien entlehnt 3 6 . I n der Soziologie stellt sie den Versuch dar, die einzelnen Teile der Gesellschaft i m Hinblick auf ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz zu durchleuchten. Die Übernahme dieser Theorie i n den juristischen Bereich und ihre Anwendung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit sollte nicht ganz so bedenkenlos vorgenommen werden, wie Schubert es tut. Das reale Ausmaß der Bindung der Verfassungsrichter an das Recht läßt sich m i t dieser Theorie nicht erfassen. Die strukturell-funktionale Theorie birgt i n der von Schubert angewandten Form die Vorstellung i n sich, daß das Maß der EntscheiVgl. etwa Parsons, Towards a System of Social Action.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

dungsfreiheit für die Verfassungsrichter ebenso hoch ist wie für die Amtsträger der Legislative und der Exekutive. Der Bereich, i n welchem die Richter strikt an das Recht gebunden sind, w i r d vom theoretischen Ansatz her dem Entscheidungsbereich der Richter zugeschlagen, Dadurch erhält die Arbeit des Verfassungsgerichts einen politischen Akzent, der i h m i n diesem Ausmaße real nicht zukommt. Die strukturell-funktionale Theorie Schuberts muß dahingehend modifiziert werden, daß die Bindung des Verfassungsrichters an das Gesetz als konstante Größe vorausgeschickt wird. Welchen Stellenwert die Bindung des Richters einerseits und der Entscheidungsspielraum andererseits i m konkreten Urteil haben, läßt sich von der Natur der Sache her nicht generell erfassen. Trotz dieser Korrektur erscheint aber der allgemeine Ansatz der strukturell-funktionalen Theorie weiterhin sinnvoll und fruchtbar. Bei der gebotenen Beachtung der partiellen Bindung des Verfassungsrichters an das Gesetz dient die strukturell-funktionale Theorie dazu, den politischen Aspekt der Verfassungsgerichtsbarkeit gleichsam vergrößernd zu erfassen — und somit auch jene Grenzproblematik der Verfassungsgerichtsbarkeit, welche den eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung bildet. Die Gleichstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit m i t den übrigen Staatsorganen ermöglicht es uns insbesondere auch, jene Fälle näher zu betrachten, welche rechtspolitisch den w o h l wichtigsten Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit ausmachen, nämlich die Fälle des Auseinanderklaff ens der Haltung des Verfassungsgerichts einerseits und der übrigen Organe andererseits. Wenn i n einem Normenkontrollverfahren das Verfassungsgericht zur Ansicht kommt, daß ein bestimmtes Gesetz verfassungswidrig sei, so besteht — nach dem Ansatz der strukturellfunktionalen Theorie — ein politischer lag, eine Differenz i n der politischen Haltung des Gesetzgebers und des Verfassungsgerichts. Die oben angeregte Korrektur der strukturell-funktionalen Theorie bedeutet, daß es nicht i n jedem Fall eine Frage der politischen Grundhaltung sein muß, wenn das Verfassungsgericht eine Norm für verfassungwidrig erklärt. Hier geht es jedoch nicht so sehr u m das Erfassen einer einzelnen Entscheidung, sondern u m die Beschreibung und Kennzeichnung langfristiger Tendenzen. Die Entstehungsgeschichte des Bundesverfassungsgerichtes hat uns gezeigt, daß seine Väter den politischen Sinn dieser Institution zu einem beträchtlichen Teil darin sahen, politische Extrementwicklungen zu verhindern und auf diese Weise die demokratische Staatsordnung abzusichern. Indem die strukturell-funktionale Theorie die Fälle der unterschiedlichen Haltung des Verfassungsgerichts und der anderen

5. Die vier Fallgruppen

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Staatsorgane betrachtet, beleuchtet sie auch die politischen Möglichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit — und ihre politischen Grenzen. Die strukturell-funktionale Theorie Schuberts ordnet das politische Verhalten eines Staatsorgans i n zwei Kategorien ein: sie kennzeichnet ein politisches Verhalten als entweder „statisch" oder „dynamisch". „Statisch" handelt ein Organ dann, wenn es am bestehenden Zustand festhalten w i l l , „dynamisch", wenn es den bestehenden Zustand verändern w i l l , gleichgültig i n welche Richtung. Die beiden Begriffe statisch und dynamisch haben den methodischen Vorteil der Wertneutralität. Damit ist nicht gesagt, daß hier nur beschrieben, nicht aber bewertet werden soll. M i t den Begriffen „statisch" und „dynamisch" soll lediglich erreicht werden, daß faktische Verhaltensweisen staatlicher Organe i n weitest möglichem Umfang sinnvoll kategorisiert u n d beschrieben werden können. Die übersichtliche Beschreibung w i r d die staatstheoretische Auswertung erleichtern. Die Begriffe „statisch" und „dynamisch" sind nicht identisch m i t „konservativ" und „progressiv". „Dynamisches" Verhalten kann konservativ sein, wenn die bestehende Ordnung i m Sinne früherer Zustände verändert werden soll; „statisches" Verhalten kann progressiv sein, wenn die übrigen Staatsorgane „dynamisch" i m eben beschriebenen Sinne orientiert sind. Das Begriffspaar statisch-dynamisch hat gegenüber progressiv-konservativ erstens den Vorteil, daß die verwendeten Begriffe einer relativ einfachen und klaren Definition fähig sind, was für „konservativ" und „progressiv" w o h l nicht g i l t 8 7 ; zweitens sind „statisch" und „dynamisch" m i t weniger politischen Emotionen belastet und erleichtern damit die wissenschaftliche Diskussion. Sicherlich sind nicht alle Urteile eines Verfassungsgerichts leicht oder überhaupt m i t den Begriffen „statisch" und „dynamisch" zu erfassen. Dieser Nachteil w i r d dadurch aber abgeschwächt, daß es hier i m wesentlichen nicht u m die Erfassung einzelner Urteile geht, sondern u m die Beschreibung langfristiger politischer Entwicklungstendenzen. Zur Beschreibung politischer Grundentwicklungen sind die Begriffe statisch und dynamisch aber durchaus sinnvoll. 5. Die vier Fallgruppen Folgt man also der Einteilung der politischen Verhaltensweisen i n „statisch" und „dynamisch", so ergeben sich i m Verhältnis des Ver37 vgl. Rossiter, Conservatism.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

fassungsgerichts zu den anderen politischen Organen folgende vier Möglichkeiten 8 8 :

statisch

dynamisch

statisch

1

2

dynamisch

Verfassungsgericht

Andere Entscheidungsträger

3

4

Die Fälle 1 u n d 4 sind dadurch gekennzeichnet, daß es keinen „political lag" zwischen dem Verfassungsgericht u n d den übrigen Staatsorganen gibt, daß das Verfassungsgericht also die v o m Gesetzgeber vorgesehenen Maßnahmen aufrechterhält. (Bei Fall 4 ist dies zwar nicht unbedingt notwendig, da sich die „ D y n a m i k " i n verschiedene Richtungen bewegen kann. Dieser Zustand soll hier aber unter die Fälle zwei u n d drei gefaßt werden, die dadurch charakterisiert sind, daß es unterschiedliche Haltungen zwischen dem Verfassungsgericht u n d den anderen Staatsorganen gibt.) A u f den ersten Blick scheint es, als ob die Fälle 1 u n d 4 wegen der vorhandenen Ubereinstimmung der Staatsorgane i n politischer H i n sicht keiner besonderer Betrachtungen auf Seiten der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit bedürfen. W i r werden aber später noch sehen, daß dies i m Hinblick auf die freie Entwicklung des allgemeinen Willensbildungsprozesses nicht ganz zutrifft. Vorerst wollen w i r uns den Fällen 2 und 3 zuwenden. Sie haben beide gemeinsam, daß sich die Haltung der Verfassungsgerichtsbarkeit m i t der des Gesetzgebers nicht deckt. Da das Verfassungsgericht also eine aktive Rolle i m Verhältnis zu den übrigen Organen einnimmt — und somit auf die Richtung des staatlichen Handelns Einfluß nimmt —, fallen die Fälle 2 und 3 unter den Begriff des „judicial activism" 8 9 . 38 Schubert, Judicial Policy-Making, S. 154. 39 Die amerikanische Diskussion verläuft in den Bahnen von „judicial activism" und „judicial self-restraint"; die beiden Bezeichnungen sind nicht

. Fall : „aisches" Verfassungsgericht

73

Die Fälle 2 und 3 zeigen, daß es sinnlos ist, die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit oder ihre Befürworter und K r i t i k e r m i t einem allgemeinen politischen Etikett zu versehen. I m Fall 2 w i r k t sich die Tätigkeit des Verfassungsgerichts i m staatlichen Gesamtbild gesehen dynamisch aus, i m Fall drei blockiert die Verfassungsgerichtsbarkeit eine dynamische Entwicklung. Die Einordnung „liberal" oder „konservativ" mag gelegentlich zur Kennzeichnung eines einzelnen Urteils sinnvoll sein, es gibt aber keine immanente Beziehung der Institution als solcher zu einer politischen Richtung. I n diesem Zusammenhang w i r d auch klar, daß es wenig Sinn hat, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „permanente Revolutionsinstanz" aufzufassen, durch welche die Unebenheiten demokratischer Politik ständig eine rationale K o r r e k t u r erfahren. Es ist eine durch nichts begründete Vermutung, daß sich die Urteile der Richter immer i n den Bahnen weiser Gerechtigkeit bewegen werden. Sicherlich sind die Richter nicht dem vielseitigen Druck der Politiker ausgesetzt 40 ; das heißt aber keinesfalls, daß von den Richtern immer das politisch klügere Urteil zu erwarten wäre. Friesenhahn 41 v e r t r i t t die These, daß m i t der richterlichen Institution zwangsläufig eine Objektivierung des Urteils verbunden sei und verbindet damit die Erwartung, daß der richterliche Spruch auch i m politischen Bereich eine wohltuende W i r k u n g haben werde. Er übersieht dabei, daß man gerade i m engeren Bereich der Politik nur sehr selten i n sinnvoller Weise von „objektiven" Entscheidungen sprechen kann. Gerade die historischen Beispiele zu Fall zwei zeigen, daß die Urteile des Verfassungsgerichts durchaus nicht immer weise oder progressiv sind, daß m i t der richterlichen Institution keine bestimmte „sachliche Sachpolitik" verbunden sein muß. 6. Fall 2: „statisches" Verfassungsgericht Man kann keinesfalls davon ausgehen, daß die hemmende Wirkung, welche i m Fall 2 von der Verfassungsgerichtsbarkeit für das ganze System ausstrahlt, immer negativ zu beurteilen ist. I m Falle einer extremen politischen Entscheidung zur Veränderung der bestehenden Zustände kann das Verfassungsgericht i m F a l l 2 durchaus die heilsame Funktion haben, die politische Extrementscheidung vorerst zu blockieren. Idealtypisch ist das w o h l die Situation, welche die Väter des Grundgesetzes auf Grund der vorausgegangenen Zeit immer wieder ganz glücklich, da ja auch die Anhänger des „self-restraint" gewisse Werte durchsetzen wollen, nämlich die der Beachtung der gerichtlichen Grenzen. 40 Man kann aber auch nicht davon ausgehen, daß es keinen „Druck" auf die Richter gibt. 41 Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 826.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

vor Augen hatten. Auf der Suche nach einer möglichst starken Verankerung der Demokratie waren sie w o h l der Ansicht, daß das „Veto" der Verfassungsgerichtsbarkeit viel zur Verhinderung einer politischen Extrementwicklung beitragen könne. Die Frage ist, ob das hohe Vertrauen des Parlamentarischen Rates i n die Verfassungsgerichtsbarkeit i n dieser Hinsicht gerechtfertigt war. Sicherlich kann die Verfassungsgerichtsbarkeit dazu dienen, die Öffentlichkeit aufzurütteln, wenn die politische Entscheidung zu weit entfernt von den i m Grundgesetz festgelegten Werten getroffen wird. Mehr als eine „Warnfunktion" kann aber von der Verfassungsgerichtsbarkeit i n einer solchen Situation bei realistischer Betrachtung nicht erwartet werden. Judge Learned Hand, einer der größten Kenner des amerikanischen Verfassungsrechts, hat dies einmal so formuliert 4 2 : " . . . the judges should not have the last word in those basic conflicts of 'right and wrong — between whose endless jar justice resides*. You may ask what then w ü l become of the fundamental principles of equity and fair play which our constitutions enshrine; and whether I seriously believe that unsupported they w ü l serve merely as counsels of moderation. I do not think that anyone can say what w ü l be left of those principles; I do not know whether they w ü l serve only as counsels; but this much I think I do not know — that a society so riven that the spirit of moderation is gone, no court can save; that a society where that spirit flourishes, no court need save; that in a society which evades its responsibility by thrusting upon the courts the nurture of that spirit, that spirit in the end w ü l perish."

Vielleicht muß man sogar sagen, daß ein minimales Maß an innerer Geschlossenheit des Staatsvolkes eine Bedingung für eine wirksame Arbeit eines Verfassungsgerichts ist. Louis Hartz 4 8 hat die Ansicht vertreten, daß nur die Geschlossenheit Amerikas u m die Philosophie von John Locke die sinnvolle Tätigkeit des Verfassungsgerichts ermöglicht. "Looked at from a slightly different angle, however, it is this unanimity around the Lockean idea which makes the institution of judicial review, apart again from the matter of federalism, a meaningful thing. When half of a nation believes in Locke and half in Filmer or Marx, the result is not law but philosophy. Inter arma leges süent. But when the whole of a nation agrees on Locke, the idea of settling ultimate issues of public policy through adjudication logically arises, since the problem is then not one of principle, but of application. America's famous legalism is thus the reverse side of its phüosophic poverty in politics, both of which, like its pragmatism, trace back in large part to a deep and implicit liberal general wül."

A m Ende seiner historischen Betrachtung des Supreme Court kommt McCloskey zur Ansicht, daß der Supreme Court nur dann fruchtbar 42 Zitiert bei Rostow, S. 164. 43 Freund, The Supreme Court, S. 124.

. Fall : „aisches" Verfassungsgericht

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arbeiten kann, wenn die Distanz der Rechtsprechung zur Haltung der Öffentlichkeit relativ gering ist 4 4 . Die ironische Bemerkung „The Supreme Court follows the elections" 46 gewinnt auf diesem Hintergrund ihre eigentliche staatstheoretische Bedeutung, ebenso wie Ehmkes A u f forderung an das Bundesverfassungsgericht, es möge sein politisches Vorverständnis der Verfassung mehr als bisher am allgemeinen Gedankengut der Öffentlichkeit orientieren 4 6 . I n langfristiger Hinsicht gelten die Aussagen Learned Hands sicherlich auch für die Bundesrepublik. Beim Aufkommen einer massiven extremen politischen Bewegung kann das Verfassungsgericht die Entwicklung allenfalls ein wenig verzögern, sie aber keinesfalls aufhalten. Es kann seine Entscheidungen nicht selbst vollstrecken, sondern hängt dabei von den übrigen Staatsorganen ab. Sicherlich kann es an die öffentliche Meinung appellieren und die Verfassungswidrigkeit bestimmter Maßnahmen rügen; wenn i n diesem Falle aber die Öffentlichkeit derselben Meinung ist wie die übrigen Staatsorgane — und nur dann w i r d die verfassungswidrige Entwicklung von Dauer sein —, dann geht der Schlag des Verfassungsgerichts ins Leere. Kaufmann hat bereits 1952 darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht kein Ersatz für eine gewachsene demokratische Staatsordnung sein kann 4 7 . Die Demokratie westlicher Prägung w i r d nicht nur durch eine Anzahl technischer Spielregeln getragen, wie es i n Schumpeters Definition 4 8 erscheinen mag; hinter diesen Spielregeln steht material eine bestimmte Konzeption der staatlichen Ordnung 4 9 . Der allgemeine „spirit of freedom" 5 0 entzieht sich der gerichtlichen Kontrolle. Eine weitere politische Konstellation, bei der Fall 2 von besonderer Bedeutung werden kann, ist die, daß eine Regierung zwar nicht undemokratischen Einstellungen verfällt, daß sie aber einzelne zusammenhängende Maßnahmen trifft, welche nach Ansicht des Verfassungsgerichts nicht i m Einklang m i t dem Grundgesetz stehen. Man w i r d dabei w o h l insgesamt wieder an die allgemeine Situation der USA i n den dreißiger Jahren denken müssen, als die Regierung Roosevelt zur Behebung der Wirtschaftskrise eine Reihe von damals unkonventionellen Gesetzen erließ. I n einem solchen Falle, i n dem die Regierung i n einer Krisensituation zur Behebung der mißlichen Lage 44 McCloskey, S. 227. 45 Zitiert bei Swisher, S. 25. 46 Vgl. Kapitel 4, 2; S. 111. 47 Kaufmann, W d S t R L 9, S. 4. 48 Schumpeter, S. 269. 4® Habermas, S. 94 ff. so Scheuner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 878.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

„dynamische" Gesetze, gelegentlich auch experimenteller Natur, erläßt, kann es w o h l nicht die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit sein, die Regierungsmaßnahmen i n weitem Umfang zu blockieren, wie dies i n den USA i n den dreißiger Jahren geschehen ist. Daß i n Krisenzeiten härtere Maßnahmen erforderlich sind, welche i m allgemeinen auch stärker i n den Bereich des Individuums eingreifen, muß das Verfassungsgericht anerkennen. Justice Brandeis hat dies i n einer dissenting opinion bereits i m Jahre 1932 betont 5 1 : "This Court has the power to prevent an experiment. We may strike down the statute which embodies it on the ground that, in our opinion, the measure is arbitrary, capricious or unreasonable. We have power to do this, because the due process clause has been held by the Court applicable to matters of substantive law as well as to matters of procedure. But in the exercise of this high power, we must be ever on our guard, lest we erect our prejudices into legal principles. I f we would guide by the light of reason, we must let our minds be bold."

Scheuner 62 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man den Gesetzgeber weniger als Vollstrecker der Verfassung denn als Organ der demokratischen Willensbildung betrachten sollte. a) Rechtsstaat und Demokratie I n diesem Zusammenhang stellt sich die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie. Werner K ä g i 5 8 hat einmal gesagt, daß die Synthese von Rechtsstaat und Demokratie die große Aufgabe unserer Zeit sei. Böckenfördes Aussage 54 , daß der Begriff des Rechtsstaats „blind" sei gegenüber der Dimension Herrschaft, zeigt die Richtung des Problems ebenso zutreffend wie Talmons Feststellung, daß das Konzept der Demokratie den K e i m des Totalitarismus i n sich trägt 5 5 . Bevor ein wenig näher auf das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat eingegangen werden soll, sei hier kurz dargelegt, inwiefern die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie der Umfang ihrer Tätigkeit begrifflich vom Rechtsstaat gefordert wird. Smend 56 und Wintrich 5 7 haben die Ansicht vertreten, daß das Bundesverfassungsgericht die Krönung des Rechtsstaates sei. I m Statusbericht findet

52 55 54 55 56 57

Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, S. 107. Scheuner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 872. Freund, The Supreme Court, S. 124. Böckenförde, S. 76. Talmon, The Origin. Smend, in: Das BVerfG, S. 23 ff. Wintrich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 648.

. Fall : „aisches" Verfassungsgericht

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sich diese Ansicht ebenfalls 58 . Kelsen vertritt die Meinung, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit notwendiges Element des Rechtsstaats sei 69 . Die Ablehnung dieser Ansichten m i t dem Hinweis, daß es z.B. i n England keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt und man England gleichwohl als Rechtsstaat bezeichnen muß, t r i f f t dabei die Sache nicht vollständig. Der Begriff des Rechtsstaats ist spezifisch deutsch (er läßt sich nicht zufriedenstellend übersetzen) und nur auf dem Hintergrund der deutschen Rechtsgeschichte vollständig zu begreifen 60 . I n engstem Zusammenhang damit steht die Schwierigkeit, den Begriff zu definieren. Insbesondere die historisch nie einheitlich beantwortete Frage, ob der Rechtsstaat formell oder materiell zu verstehen sei, läßt die Konturen des Begriffs immer wieder verschwimmen. Dennoch ist der Begriff des Rechtsstaats auch heute keinesfalls i n haltslos. Hier kann nicht der Versuch unternommen werden, die historisch i n den Begriff eingegangenen politischen Gehalte näher darzulegen; dennoch sei hier, i n stark vereinfachender Sicht, der Rechtsstaat i n seinem K e r n m i t dem Verbot staatlicher W i l l k ü r gekennzeichnet 61 . Die Überschneidung des Rechtsstaats m i t den Prinzipien der Demokratie liegt potentiell dort, wo die Demokratie, als Herrschaftsform, die Freiheit der Entscheidung für das Volk und seine Vertreter postuliert. Der Herrschaftsaspekt der Demokratie gerät dann i n Widerspruch m i t dem Rechtsstaat, wenn die Herrschaft so viel Freiheit beansprucht, daß sie die gegebenen Bahnen des Rechts nicht mehr einhält; umgekehrt stößt sich die Rechtsstaatsidee dann m i t der Demokratietheorie, wenn der rechtliche Bereich soviel Macht von den Entscheidungszentren der Exekutive und der Legislative i n den judiziellen Bereich überträgt, daß die Entscheidungsfreiheit des Volkes und seiner Vertreter über einen bestimmten Punkt hinaus eingeschränkt w i r d . I n dieses Spannungsverhältnis ist die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeordnet. Eine magische Formel für die Auflösung dieser Dualität gibt es nicht; entsprechend den jeweiligen politisch-historisch-sozialen Bedingungen w i r d die A n t w o r t immer verschieden ausfallen. I n einer historisch gewachsenen Demokratie wie i n England benötigt das demokratische Element keine allzu strikten rechtlichen Gegengewichte zur Erhaltung der Balance; die historischen Erfahrungen haben i n der Bunas JöR, Bd. 6, S. 120. 5» Vgl. Kelsens Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 1928. 60 Vgl. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, S. 54; Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats, S. 229. 61 Vgl. dazu die klassische Definition bei Stahl, S. 137: „ . . . der Rechtsstaat soll die Bahnen und Grenzen seiner (i. e. des Staates) Wirksamkeit in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern . . . "

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

desrepublik zur stärksten rechtsstaatlichen Absicherung der demokratischen Grundwerte geführt. Die politische Hoffnung, die sich m i t einer solchen Absicherung verbindet, ist wohl, daß sich das demokratische Potential unter dem einstweiligen Schutz des Verfassungsgerichts so weit ausweitet, daß die technische Absicherung mehr und mehr überflüssig wird. Wenn die Organklage dem einzelnen staatlichen Organ gleichsam ein subjektives Recht zuordnet, welches gegen die übrigen Organe desselben Staates gerichtet ist, so steht w o h l die Auffassung dahinter, daß die Möglichkeit der gütigen Beilegung der Streitigkeit zwischen den Organen derselben Rechtsperson nicht immer erwartet werden kann; i n einer harmonischer gedachten Gesamtordnung wäre die „Vorsichtsmaßnahme Organklage" nicht notwendig, sie wäre überflüssig. Gerade eine nähere Betrachtung der Organklage zeigt, daß die A u f fassung vom Bundesverfassungsgericht als der institutionellen A b sicherung des Rechtsstaates zumindest schief ist. Der Rechtsstaat hat seinen kennzeichnenden zentralen Bereich i m Verhältnis von Staat und Individuum, die Organklage ist somit keine Perfektion rechtsstaatlicher Tendenz; ihr Charakteristikum ist vielmehr die Eingrenzung politischer Organe i n ihren gegenseitigen Beziehungen. Sicherlich läßt der an den Grenzen schillernde Begriff des Rechtsstaates auch noch eine Interpretation zu, welche selbst die Organklage noch als Klageform zur Sicherung des Rechtsstaates verlangt. Soll der Begriff aber nicht seinen zentralen Sinn verlieren, dann w i r d er wohl für unsere Belange zur Klarheit auf das Verhältnis von Staat und Individuum eingeschränkt werden müssen. Die Organklage ist demnach eine Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts i n das politische Leben, welche m i t dem Begriff des Rechtsstaates weder gefordert ist, noch zufriedenstellend erklärt werden kann 6 2 . W i r werden später noch auf die Organklage zurückkommen; hier sei darauf hingewiesen, daß auch die Klageform der abstrakten Normenkontrolle dogmatisch nicht sinnvoll vom Begriff des Rechtsstaates her erfaßt werden kann. Die konkrete Normenkontrolle erfüllt alle Erfordernisse, welche vom Rechtsstaat her i m Bereich der Normenkontrolle aufgestellt werden können. I m Zusammenhang der Beziehung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaat sei hier noch kurz auf ein Phänomen eingegangen, welches Freund als das der „Sentimentalität" bezeichnet 63 . I n seinem "Portrait of a liberal Justice" schreibt Freund über Justice Brandeis 6 4 : 62

Zumindest nach der herkömmlichen Definition des Rechtsstaatsbegriffs. 63 Freund, The Supreme Court, S. 130. 64 Freund, The Supreme Court, S. 131.

. Fall : „aisches" Verfassungsgericht

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„Sicherlich war er ein humanitärer Mensch, wie seine Bewunderer es gerne betonen. Aber er war es i m Sinne Lincolns . . . Seine Hochschätzung für einen harmonischen Bundesstaat konnte — wie bei Lincoln — den Vorrang vor Gefühlswerten haben . . . Niemand hätte mehr als er ein Recht, oder wäre weniger geneigt, die Worte des deutschen Historikers auf sich zu beziehen: ,Ich habe schlaflose Nächte verbracht, in denen andere sich ausruhen konnten/ Manchmal verlangt eine humanitäre Einstellung eine harte Wahl zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. I n einem großen Richter — wie bei allen, die mit Erfolg die Verantwortung der Macht auf sich genommen haben — ist der Sinn für das Gemeinwohl stärker als die momentanen Gefühle. Für einen jimsentimentalen 4 Richter führen harte Entscheidungen zu gutem Recht."

Der deutsche Rechtsstaatsbegriff hat seine historische Stoßkraft i n der Ausweitung der individuellen Rechte gehabt. Scheuner 66 betont aber zu Recht, daß auch das Gesamtwohl durchaus Raum hat i m Begriff des Rechtsstaats. Hesse 66 sieht, was die staatliche Sphäre betrifft, den Rechtsstaat historisch nicht als ein den Staat schwächendes Element: „Die Mäßigung staatlicher Macht, für traditionelles Rechtsstaatsdenken das Zentrum des Rechtsstaatsprinzips, ist in ihrem Kern gerade nicht Inhalt rechtsstaatlicher Gestaltungsformen — vollends, weil sie nicht durch nachträgliche Beschränkung einer i m Prinzip unbeschränkten Staatsgewalt, sondern durch die Art der Konstituierung der einzelnen Gewalten bewirkt wird, nicht etwas ,Antistaatliches4."

Die heutige Tendenz der Auslegung des Begriffs des Rechtsstaats — und die Ausstrahlung dieser Auffassung i n den Bereich der Grundrechte hinein — sieht gelegentlich das Interesse des jeweilig betroffenen Individuums soweit i m Vordergrund, daß die Belange der Allgemeinheit nicht genügend Berücksichtigung finden 67. A u f dem Hintergrund historischer Erfahrung ist diese Tendenz verständlich, und sicherlich unendlich erfreulicher als das andere Extrem, welches den Staat i n den Vordergrund rückt. Dennoch w i r d auch i n diesem Bereich eine ausgewogene Balance m i t mehr Aufmerksamkeit anzustreben sein, als dies bisher gelegentlich der F a l l war. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit ist dies von besonderer Bedeutung, w e i l gerade ihre Entscheidungen häufig die Interessenabwägung zwischen dem Bereich der A l l gemeinheit einerseits und dem Individuum andererseits zum Inhalt haben. Nicht nur bei der Interpretation einzelner Normen werden diese Fragen relevant; i n der Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Individuum sind oft Interessen abzuwägen, die inkommensurable Werte beinhalten. Die juristische Methodik kann i n solchen Fällen oft Argumente liefern; sie kann aber selten klare Maßstäbe für das Ergebnis der Abwägung angeben. Natürlich gilt dies nur für einen 65 Scheuner, Die neuere Entwicklung, S. 229 ff. 66 Hesse, Der Rechtsstaat, S. 92. 67 Vgl. Rumpf, S. 31.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

gewissen Mittelbereich. Bei einer extrem einseitigen Abwägung durch die Legislative dürfte es dem Juristen nicht allzu schwer fallen, die NichtVereinbarkeit m i t der Verfassung darzutun. I m Rahmen dieser Grenzen aber sollte das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber weiten Spielraum lassen. Thayers Ansicht 6 8 , daß das Verfassungsgericht nur dann Maßnahmen anderer Organe aufheben sollte, wenn kein „rational man" sie getroffen hätte, löst i m konkreten F a l l meist wenig Probleme; als erste Leitlinie bleibt sie aber durchaus brauchbar. Zusammenfassend ist für Fall 2 zu sagen, daß das Verfassungsgericht nur geringe Einwirkungsmöglichkeiten hat, wenn die übrigen Staatsorgane die bestehenden Zustände radikal verändern wollen, und daß es i m allgemeinen nur unter besonderen Umständen eingreifen sollte, wenn es u m Maßnahmen der Regierung zur Veränderung der bestehenden Ordnung geht. Insbesondere i n Krisensituationen w i r d das Verfassungsgericht den übrigen Staatsorganen weiten Raum zur Behebung einer schwierigen Lage lassen müssen. Die wichtigste positive Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Fallkonstellation 2 w i r d es w o h l sein, einerseits die Warnfunktion i m Falle extremer politischer Gesamtentwicklungen wahrzunehmen und andererseits vereinzelte Maßnahmen der Regierung für verfassungswidrig zu erklären, wenn diese m i t der Regelung des Grundgesetzes offensichtlich i m Widerspruch stehen. 7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht Haben w i r uns bisher m i t dem Fall beschäftigt, daß die Regierung eine dynamische Politik betreibt und das Verfassungsgericht diese blockiert, so wollen w i r jetzt die Lage betrachten, die sich bei einer statischen Politik der Regierung und einer dynamischen Auffassung der Verfassungsrichter ergibt. Das typische Beispiel für diese Situation ist w o h l die Rechtsprechung des Supreme Court seit 1954. (Es scheint, als ob diese Periode nun zu Ende gegangen ist; der Burger Court hat jedenfalls bisher keine auffallend liberalen Auffassungen vertreten.) Seit 1954 ergingen i m Bereich der Rassenfrage, i m Bereich des Strafprozeßrechts und auf dem Gebiete des Wahlrechts Urteile des Supreme Court von fundamentaler Bedeutung für das amerikanische Staatswesen. Ihren gemeinsamen Nenner hatte diese Periode i n der Betonung der Rechte des Individuums. Zumindest i n der Regierungszeit Eisenhowers entsprach die Ansicht der übrigen Staatsorgane nicht der liberalen Grundauffassung des Supreme Court. Man w i r d wohl sagen müssen, daß das innenpolitische B i l d der 68 Vgl. bei Cox, The Warren Court, S. 9.

7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht

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USA i n den Jahren 1954 bis 1969 entscheidend vom Supreme Court m i t geprägt worden ist. I n einer solchen Konstellation unternimmt es das Verfassungsgericht, seine eigenen Maßstäbe — zumindest nicht die der übrigen Staatsorgane — an die gesellschaftliche Ordnung anzulegen u n d diese entsprechend seinen eigenen Vorstellungen zu ändern. Sicherlich kann sich diese Lage unter verschiedenen Umständen ergeben. Der für diese Fallgruppe typische Hintergrund dürfte aber w o h l eine politisch immobile Periode sein, i n welcher die Untätigkeit der Regierung und des Parlaments zu einer allgemeinen Verhärtung und Verkrustung der gesellschaftlichen Strukturen geführt hat, wobei der Grund entweder i n der Regierung selbst, i n der parteipolitischen Lage oder aber i n einer allgemein statischen Auffassung überwiegender Teile der Gesellschaft liegen kann. a) Der Fall Brown Der F a l l B r o w n v. Board of Education 6 9 zeigt w o h l am eindringlichsten die staatstheoretischen Implikationen eines sog. activist Court. Z u Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Supreme Court entschieden, daß die Neger zwar grundsätzlich gleiche Rechte wie die Weißen hätten, daß dieser Grundsatz jedoch durch eine Trennung der Rassen i n Fragen der Ausbildung nicht verletzt sei. I n einzelnen Gesellschaftsschichten wurde diese Entscheidung i m Laufe der nächsten Jahrzehnte zwar immer stärker abgelehnt, doch die Mehrheit des Volkes erhob keinen Widerspruch. Insbesondere der südliche Landesteil, i n dem die meisten Neger ansässig sind, stemmte sich gegen eine gemeinsame Ausbildung von Negern und Weißen. I n der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde aber immer offensichtlicher, daß m i t der sog. separate-but-equal doctrine effektiv eine klare Benachteiligung der Neger verbunden war, welche gesellschaftspolitisch weitreichende Folgen hatte. Von den Südstaaten selbst w a r keine freiwillige Veränderung dieser Situation zu erwarten. Als Eisenhower an die Regierung kam, war auch an Initiative seiner Regierung kaum zu denken. Erstens war Eisenhower i n der Negerfrage selbst nicht ganz entschieden; zweitens war seine Partei traditionell konservativ i n Rassenfragen und drittens hätte ein Eingriff der Regierung i n die Rassenpolitik des Südens w o h l einen solch enormen Stimmenverlust zur Folge gehabt, daß schon deshalb kein Eingriff der Regierung zu erwarten war. I n dieser Situation entschied sich der Supreme «9 347 U.S. 483. 6 Dolzer

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

Court zum Handeln. 1954 erklärte er, daß nur die Möglichkeit der gemeinsamen Ausbildung dem Gleichheitssatz entspricht. Die Entwicklung der Schulpolitik i n den folgenden Jahren entsprach nicht ganz den Erwartungen des Supreme Court. N u r m i t viel Widerstand macht sich der Süden daran, die Entscheidung von 1954 zu vollstrecken. Noch heute wartet das U r t e i l B r o w n v. Board of Education i n vielen Schulen auf seine Umsetzung i n die Wirklichkeit. Indem der Supreme Court den vagen Gleichheitssatz zum Maßstab einer modernen Gesetzesauslegung genommen hatte und auf diese Weise eine gesellschaftspolitisch kontroverse Frage entschied, ist er bis zu den Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Die Rassenfrage hat die USA i m vergangenen Jahrzehnt immer wieder i n lodernde Unruhe versetzt. Eine hypothetische Beurteilung der Frage, wie sich das Verhältnis der Rassen untereinander entwickelt hätte, wenn eine liberale Regierung ein Jahrzehnt später an das Problem herangegangen wäre, kann nur eine vage Vermutung darstellen. M i r scheint aber, daß bei einer klaren Entscheidung der Regierung, zu einem Zeitpunkt, i n dem die öffentliche Meinung mehr zugunsten der Rassenintegration verschoben war, den USA vielleicht ein Teil der Unruhen i m vergangenen Jahrzehnt erspart geblieben wäre — und daß dann die Entscheidung m i t mehr Macht hätte vorangetrieben werden können. W i r d die Diskrepanz zwischen den dynamischen Ansichten des Verfassungsgerichts und den übrigen Staatsorganen, insbesondere auch der Wählerschaft, zu groß, so gefährdet das Verfassungsgericht seine eigene Autorität. I n der Vollstreckung seiner Urteile hängt ein Verfassungsgericht von der Bereitschaft der übrigen Organe ab, die Entscheidung zu akzeptieren. Wenn die Entscheidung nur m i t viel Widerwillen und Verzögerung vollstreckt wird, so dient dies nicht der Autorität des Verfassungsgerichts. Ein mehrmaliges „Abnutzen" des Ansehens aber kann auf die Dauer weitreichende Nachteile für die gesamte Institution haben. Das allgemeine Vertrauen der Staatsorgane und der Bevölkerung ist auf die Dauer gesehen die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren der Verfassungsgerichtsbarkeit. W i r d dem Verfassungsgericht dieses Vertrauen i n hohem Maße entzogen, so ist die Möglichkeit parlamentarischer Maßnahmen zur Beschneidung seiner Macht nicht auszuschließen. I m Gefolge des Urteils von 1954 gab es 1956—57 i n der Tat Bestrebungen dieser A r t i n den U S A 7 0 . Sieht man sich Fall 3 näher an, so liegt es nicht ganz fern, die Verfassungsgerichtsbarkeit doch als „permanente Revolutionsinstanz" zu betrachteten, i m Sinne der Tätigkeit von Weisen, die jene Unebenheiten 70 Vgl. McCloskey, S. 218.

7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht

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der Politik ausbügeln, welche durch die Niederungen des praktischen politischen Prozesses bedingt sind. Indessen erscheint eine solche A n ordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit bei näherer Betrachtung, auch des Falles 3, als nicht ganz ausgewogen. b) Formale Betrachtung

— das Dilemma von Cox

Vom formalen Aspekt her muß sich der kritische Betrachter darüber i m klaren bleiben, daß i m Falle 3 die Verfassungsgerichtsbarkeit einen weiten Spielraum politischer Gestaltung für sich i n Anspruch nimmt. Eine Garantie dafür, daß sich die Tätigkeit des Verfassungsgerichts immer i n derselben Richtung „politischer Weisheit" bewegt, gibt es nicht. Der Aktivismus des Gerichts i m Falle 3 hat m i t dem i n Falle 2 formal gemeinsam, daß das Gericht i n weitem Umfang gegenüber den anderen Organen eine divergente Haltung einnimmt. Die Annahme, daß der Aktivismus des Gerichts sich nur zur Durchsetzung der Gerechtigkeit verwenden lassen werde, ist durch nichts gerechtfertigt. Wer dem Verfassungsgericht i n einer Richtung weite Freiheiten lassen w i l l , der muß sich darüber i m klaren sein, daß Freiheit auch i m Bereich des Verfassungsgerichts nicht richtungsorientiert ist, und daß er formal damit dem Verfassungsgericht auch die Macht und Möglichkeit zugesteht, politische Entscheidungen zu treffen, die i n eine weniger wünschenswerte Richtung gehen. Der Solicitor General unter Kennedy, Archibald Cox, hat sich 1970 zum Warren Court geäußert. Die Lektüre seines Buches 71 zeigt das hier angesprochene Dilemma klar an. Einerseits ist Cox der Ansicht, daß der Warren Court seine aktivistische Haltung zum Wohle der Nation eingenommen hat; andererseits sieht Cox die staatstheoretischen I m p l i kationen seiner Betrachtungen klar vor sich und weist i m abschließenden Kapitel darauf hin, daß für die Zukunft w o h l ein weniger aktivistischer Court von größerem Vorteil sein würde. Was Cox seinen politischen Freunden am Court zugestanden hat, w i l l er ihren Nachfolgern, deren Schattierung anders sein dürfte, verweigern. c) Institutionelle

Betrachtung

Der zweite Aspekt, der zur Vorsicht gegen einen Court als Hort platonischer Weisheit mahnen sollte, ist der institutionelle. Das Vertrauen der übrigen Staatsorgane, insbesondere des Staatsvolks, ist eine fundamentale Voraussetzung für ein erfolgreiches Arbeiten des Verfassungsgerichts. Vertritt das Verfassungsgericht i n verschiedenen Fragen wäh7i Archibald Cox, The Warren Court.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

rend einer längeren Zeitdauer politisch kontroverse Ansichten — und darum dürfte es sich i m Falle 3 oft handeln, w e i l sonst ohnehin die Regierung die Initiative ergreifen würde —, so macht sich das Verfassungsgericht hierdurch immer wieder Feinde. Ein hohes Vertrauen i n die Gerechtigkeit der Arbeit des Verfassungsgerichts w i r d auf diese Weise nicht geschaffen, vielmehr w i r d m i t jeder politisch unpopulären Entscheidung die Allianz politischer Feinde des Gerichts größer. Sicher kann sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Supreme Court Zeiten politischer Anfechtung ohne dauernden Schaden durchstehen; langfristig dürfte aber eine solche Entwicklung nicht sein, w e i l sonst die Institution als solche Schaden nehmen würde. d) Politische

Betrachtung

Der dritte Aspekt, unter welchem Fall 3 hier noch erörtert werden soll, ist der politische. Freund geht (mit Hartz) davon aus, daß eine fruchtbare Arbeit des Verfassungsgerichts nur gewährleistet ist, wenn i m Volke eine gewisse Einheit i n fundamentalen philosophischen Fragen herrscht. Man könnte diese These noch weiter formulieren: es ist politisch nicht gesund, wenn das Verfassungsgericht ideale Maßstäbe an die gesellschaftliche Wirklichkeit anlegt, die keine Grundlage i m allgemeinen Denken haben. Klaffen i m Volke und unter den Politikern die Ansichten über ein gewisses Problem weit auseinander, so dient es der Sache durchaus nicht immer, wenn das Verfassungsgericht seine eigenen Auffassungen i m Urteil durchzusetzen versucht — auch dann, wenn das Urteil moralisch eindeutig zu rechtfertigen ist. Der politische Standort der Mehrheit der Bevölkerung und der Politiker läßt eine gewisse Lösung oft auch dann nicht zu, wenn diese Lösung unter idealen Gesichtspunkten die beste wäre. Der Zustand der amerikanischen Gesellschaft im Jahre 1954 hat m i t bedingt, daß das BrownUrteil die Rassenfrage nicht viel entschärft, i n mancher Hinsicht noch verschärft hat. Der politische Fortschritt eines Volkes muß i m wesentlichen aus dem Volke selber kommen; die Lösung kontroverser Fragen ist politisch oft nur Schritt für Schritt möglich. E i n plötzliches Eingreifen der Justiz i n solchen Bereichen dient oft weder der politischen Sache noch der Sache der Justiz. Aus Gründen des inneren Zusammenhalts eines Volkes ist es oft nicht möglich, eine ideale Lösung einer Frage auf irgendeinem Wege schnell durchzusetzen, weder auf politischem noch auf juristischem. Durch die politische Lage w i r d der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Bereich der Normauslegung und der Normenkontrolle somit oft eine gewisse Grenze gesetzt. Sicherlich kommt dem Verfassungsgericht mehr als eine rein passive Rolle zu i n Fragen, die politisch ungelöst sind, aber die politischen Strukturen erlauben es

7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht

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d e m Verfassungsgericht d a n n andererseits auch n i c h t ü b e r m e h r als n u r e i n A n d e u t e n der L ö s u n g hinauszugehen. A l e x a n d e r B i c k e l s erste A n a lyse des W a r r e n C o u r t t r ä g t d e n bezeichnenden T i t e l „ T h e S u p r e m e C o u r t a n d t h e I d e a of P r o g r e s s " . F ü r B i c k e l zeigt die B e t r a c h t u n g des W a r r e n C o u r t e i n d e u t i g , daß es n i c h t z u m W o h l e des V o l k e s ist, w e n n der S u p r e m e C o u r t seine I d e e des F o r t s c h r i t t s a u f d e m W e g e v e r f a s sungsgerichtlicher U r t e i l e durchsetzen w i l l . B i c k e l w e i s t a u f die b e m e r k e n s w e r t e E r s c h e i n u n g h i n , daß die p o l i t i s c h e n Z i e l e des W a r r e n C o u r t h e u t e s t a r k i n d e n H i n t e r g r u n d g e t r e t e n sind. D e r S u p r e m e C o u r t k o n n t e sich — so scheint es i m M o m e n t — p o l i t i s c h n u r i n sehr b e grenztem U m f a n g durchsetzen72. "If my probe into a near-term future is not wildly off the mark, therefore, the upshot is that the Warren Court's noblest enterprise — school desegregation — and its most popular enterprise — reapportionment — not to speak of school-prayer cases and those concerning aid to parochial schools, are heading toward obsolescence, and in large measure abandonment. And, if this assessment has any validity, it must be read as a lesson." D i e abschließende B e u r t e i l u n g des W a r r e n C o u r t b e i B i c k e l 7 8 d i e n t es, h i e r i n i h r e r g a n z e n L ä n g e w i e d e r g e g e b e n z u w e r d e n .

ver-

"The lesson is not that there has been a basic malfunction in the judicial process. Better analysis, better history, a greater measure of pragmatic skepticism would have produced more caution, and less speedy development of doctrine. But ultimate doctrine could very well have been no different. The principles the Court has adopted are not irrational, they are not unfit for judicial pronouncement; the Court did not pluck them out of thin air, they do connect with strands in the tradition of our society. The lesson, rather, is that in dealing with problems of great magnitude and pervasive ramifications, problems with complex roots and unpredictably multiplying offshoots — in dealing with such problems, the society is best allowed to develop its own strands out of its tradition; it moves forward most effectively, perhaps, in empirical fashion, deploying its full tradition, in all its contradictions, not merely one or another self-contained aspect of it, as it retreats and advances, shifts and responds in accordance with experience, and with pressures brought to bear by the political process. The only abiding thing, as Brandeis liked to say, is change, and in those broad realms of social policy where that is so, judicial supremacy, we must conclude, is not possible. The judicial process is too principle-prone and principle-bound-it has to be, there is no other justification or explanation for the role it plays. I t is also too remote from conditions, and deals, case by case, with too narrow a slice of reality. I t is not accessible to all the varied interests that are in play in any decision of great consequence. I t is, very properly, independent. I t is passive. I t has difficulty controlling the stages by which it approaches a problem. I t rushes forward too fast, or it lags; its pace hardly ever seems 72 Bickel , The Idea of Progress, S. 134. ™ op. cit., S. 174 f.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

just right. For all these reasons, it is, in a vast, complex, changeable society, a most unsuitable instrument for the formation of policy."

e) Rechtstheoretische

Betrachtung

Hier soll auch noch kurz auf den allgemeinen rechtstheoretischen Aspekt des Verhältnisses von Richter und Recht i m Falle 3 eingegangen werden. Es ist e i n e Sache, die politische Natur der richterlichen Funktion anzuerkennen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt, daß die Richter, sobald sie sich ihrer politischen Funktion bewußt worden sind, die Aufgabe haben, g u t e politische Entscheidungen zu treffen; dieser Standpunkt verkennt die Rolle des Rechts und seiner Diener i n einer demokratischen Gesellschaft. Die Kenntnis der politischen Funktion des Rechts und der Gerichte muß i m Rahmen demokratischer Theorie gesehen werden. Dies bedeutet nicht, daß w i r n u n die Augen vor der politischen Funktion des Richters wieder verschließen sollten; aber es muß heißen, daß i n jenen Bereichen des Rechts, welche i n enger Verbindung zur Politik stehen, die Grenzlinie zwischen Recht und Politik schärfer als zuvor gezogen werden sollten. Das Verfassungsgericht arbeitet von der Natur seines Gegenstandes her an den Grenzen zwischen Recht und Politik. Aus diesem Grunde ist es für die Verfassungsrichter von höchster Bedeutung, eine klare Auffassung über ihre Methoden und Ziele zu haben. „Judicial seif — restraint" ist der einzige Weg, auf welchem die Tätigkeit des Verfassungsrichters innerhalb der demokratischen Ordnung bleibt, wenn w i r nicht bereit sind, unser Regierungssystem zu ändern und die Politik zu einem beträchtlichen Teil den Richtern zu überlassen. Die politische Natur der richterlichen Funktion fordert i n der Tat, wie es öfter gesagt worden ist, Richter m i t hohem politischen Einfühlungsvermögen; dies aber nicht i n erster Linie deshalb, w e i l w i r von der Verfassungsgerichtsbarkeit „gute" politische Entscheidungen erwarten, sondern w e i l die Richter bereit und fähig sein müssen, die Grenzlinien zwischen Recht und Politik i n einer demokratischen Ordnung klar zu sehen. Eine gewisse Fermentrolle ist dem Verfassungsgericht zuzusprechen; aber formale, institutionelle und demokratie-theoretische Aspekte ziehen dieser Funktion enge Grenzen. f) Der Sonderbereich der formalen

Demokratie

I n einem Sonderbereich indessen kommt der Verfassungsgerichtsbarkeit eine weitere als die eben beschriebene Rolle zu: i m Bereich der

7. Fall 3: „dynamisches" Verfassungsgericht

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formalen Demokratie. Die elementaren Spielregeln der Demokratie zu hüten, ist eine zentrale Funktion des Verfassungsgerichts. Wenn die in Art. 38 GG statuierte Gewissensfreiheit des Abgeordneten i m engeren Bereich behindert wird, wenn die Gleichheit der Wählerstimme i n eklatanter Weise verletzt wird, wenn die Freiheit der Wahl nicht mehr gewährleistet ist, so ist es die besondere Aufgabe des Verfassungsgerichts, die Formen unserer Demokratie wiederherzustellen. Häufig ist i n einem solchen Fall keine Lösung von der Regierungsseite her zu erwarten, meist deshalb, w e i l die Regierung entweder selbst die betreffenden Zustände herbeigeführt hat, oder aber weil sie zumindest glaubt, davon profitieren zu können. Der formale Aspekt begründet i n diesem „formellen Bereich" keinen besonderen Grund zur Vorsicht für das Verfassungsgericht, w e i l der Verfassungsgerichtsbarkeit durch eine Korrektur von Verhärtungen kein Zugang zu erhöhter politischer Macht gegeben wird, mindestens nicht i m Sinne eigener substantieller Entscheidungen. Die institutionellen Bedenken fallen i n diesem Bereich auch nicht sonderlich ins Gewicht. Von der politischen Perspektive her könnten sich die erwähnten Probleme nur dann ergeben, wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts einen tiefen Eingriff i n die bestehenden Zustände bedeuten würde, d. h. wenn die Spielregeln schon i n intensiver Weise gebrochen worden sind. Gerade dann wäre aber zu hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht zur Wahrung unserer Staatsform eingreifen würde. Dies gilt selbst dann, wenn die Autorität des Gerichts dadurch i n Gefahr geriete; wenn die Formen der Demokratie gegenüber dem B i l d des Grundgesetzes schon stark verändert wären, dann bestünde w o h l ohnehin die Gefahr, daß auch die Existenz des Verfassungsgerichts nicht mehr gesichert wäre. Zum Wohle der Allgemeinheit müßte i n einem solchen Falle das Verfassungsgericht sein ganzes Gewicht i n die Waagschalen werfen, u m die politische Demokratie zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht kann hierzu beitragen; es sollte i n diesem Bereich ohne langes Zögern schon bei geringen Abweichungen von den i m Grundgesetz vorgeschriebenen Formen eingreifen. Die Hoffnung der Väter des Grundgesetzes, das Bundesverfassungsgericht könne die Extrementwicklung i m engen politischen Bereich verhindern, war überspannt; dies gilt aber nicht für die Formalien unseres Staatswesens. I n dieser Sphäre kann das Bundesverfassungsgericht i n der Tat zu einem Hort der Stabilität werden, wenn es darauf bedacht ist, Abweichungen von den Normen des Grundgesetzes nicht zu dulden. Hier geht es nicht so sehr u m das oft diffizile Verhältnis der Staatsorgane zueinander, sondern vielmehr u m die fundamentalen Rechte des Staatsvolkes, jenen Bereich, welchen man m i t D ü r i g 7 4 als den „ U r 74 Dürig, unveröffentlichtes Manuskript einer Vorlesung.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

bestand der demokratischen Formen" bezeichnen kann: die Gleichheit der einzelnen Stimme, den Grundsatz der Majorität, die Möglichkeit der Wahl verschiedener Kandidaten verschiedener Parteien, sowie die Chance der unterlegenen Partei, nach der folgenden Wahl die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. I n diesem formalen Kernbereich der Demokratie liegt eine zentrale Aufgabe des Verfassungsgerichts, vielleicht sogar seine wichtigste. Die Probleme, die sich i m „materiellen Bereich" der Rechtsprechung 76 stellen, liegen hier nur i n begrenztem Umfang vor. Insbesondere ergeben sich bei der Auslegung der Verfassung i m Bereich des formalen Rechts meist auch weniger Schwierigkeiten als i m „materiellen" Teil; ob eine Stimme nur den halben Zählwert einer anderen Stimme hat, ist leichter festzustellen als die Frage, ob ein gewisses Gesetz m i t den Erfordernissen des Sozialstaats i n Einklang steht. Zweifellos ergeben sich auch hier i m Grenzbereich schwierige Interpretationsprobleme 76 . Bei der Abwägung der verschiedenen Prinzipien sollte die Aufgabe des Verfassungsgerichts aber durch die Kenntnis erleichtert werden, daß die rein formalen, institutionellen Bedingungen die Demokratie erst funktionsfähig machen. Das Urteil, i n welchem das Bundesverfassungsgericht m i t aller Entschiedenheit darauf bestanden hat, die i n Unordnung geratene Wahlkreiseinteilung zu reformieren, kann als positives Beispiel für die hier angesprochene Funktion gelten. Auch i n den USA hat sich der Supreme Court i m Jahre 1961 entschlossen, entgegen seiner traditionellen Rechtssprechung die Ungleichheiten i m Wahlrecht für verfassungswidrig zu erklären 7 7 . 8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3 Zu einer abschließenden Betrachtung der Fälle 2 und 3 gehört nicht nur eine Analyse aus der Perspektive der Möglichkeiten und Grenzen des Verfassungsgerichts, sondern auch das Bemühen, die Tätigkeit des Verfassungsgerichts i m Zusammenhang m i t den Grundprinzipien unserer Demokratie zu sehen. Der erwähnte Dualismus von Demokratie und Rechtsstaat w i r f t die Frage nach der Herrschaft und ihrer Einschränkung i n der Demokratie auf. Für das Staatsrecht stellt sich dieses Problem i n der Form der Abgrenzung des Bereichs einerseits der Regierung und des Parlaments und andererseits der Justiz. 75 Die Abgrenzung von „formalem" und „materialem" Recht ist in diesem Bereich sicher nicht einfach; in Grenzgebieten verwischt sich der Unterschied stark; dadurch wird die Unterscheidung aber nicht wertlos. 76 Vgl. den Grenzbereich von Art. 21 und Art. 38 GG. 77 Insofern wird Bichels Bewertung hier nicht gefolgt.

8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3

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Eine völlig ungehemmte Tätigkeit der Regierung und des Parlaments w i r d heute wohl niemand mehr wünschenswert erscheinen. Die Möglichkeiten des Unrechts durch Parlament und Regierung sind dafür zu offensichtlich. Sicherlich besteht andererseits auch Einigkeit darüber, daß der Bereich der gerichtlichen Kontrolle geringer ist als das Arbeitsfeld der Regierung. Eine Stimme, welche den Ermessensbereich der Regierung ablehnt, ist nicht ersichtlich. Wo aber die Grenzen zwischen dem Bereich der Regierung und der Justiz i m einzelnen verlaufen, ist eine i m deutschen Staatsrecht erstaunlich wenig erörterte Frage. A n diesem Punkt w i r d wieder einmal klar, daß die deutsche Staatsrechtswissenschaft das Verhältnis der Interdependenz von Staatsrecht und Politik bisher zu wenig beachtet hat. Scheuners Abhandlung „der Bereich der Regierung" aus dem Jahre 1953 ist wohl noch der klarste Versuch, die vorhandene Kasuistik i m Sinne einer umfassenderen staatstheoretischen Konzeption zu durchbrechen. Bevor i m einzelnen auf die Verbindung zwischen der Theorie der Demokratie einerseits und den Prinzipien des Rechtsstaats andererseits eingegangen werden soll, muß hier noch auf die Schwierigkeit hingewiesen werden, welche sich daraus ergibt, daß es „die" Demokratie nicht gibt. Wohl haben die westlichen Demokratien ihre Grundzüge gemeinsam, die Abweichungen sind dennoch beträchtlich. Wenn hier i m folgenden von „der Demokratie" die Rede ist, so w i r d damit staatstheoretisch auf einen Demokratiebegriff Bezug genommen, welcher die allgemeinen Grundprinzipien der Demokratien westlicher Prägung umfaßt, und welcher insbesondere auch diejenigen Züge entfalten soll, welche i m Grundgesetz enthalten sind. Die Aufgabe dieser Abhandlung kann es nicht sein, eine umfassende abstrakte Theorie der Demokratie zu entwickeln. Dennoch sei es hier i m folgenden erlaubt, i n obigem Sinne auf die „Theorie der Demokratie" zu verweisen. a)

Gewaltenteilung

I n erster Linie ist i n diesem Zusammenhang an die Gewaltenteilung zu denken. W i r haben bereits oben gesehen, daß der Versuch, das Verfassungsgericht deshalb als ein gewöhnliches Gericht zu qualifizieren, weil es i n das System der Gewaltenteilung eingefügt werden muß, wenig Erfolg verspricht. Durch die Normierung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts hat sich der Parlamentarische Rat für ein bestimmtes Verfassungsgericht ausgesprochen, m i t all den strukturellen Implikationen, die dieses Gericht m i t sich bringt. M i t Doehring 7 8 w i r d 78 Doehring, S. 201 ff.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

man w o h l davon ausgehen müssen, daß sich das traditionelle Konzept der Gewaltenteilung nur i n modifizierter Form m i t den modernen Erkenntnissen i m Bereich der Rechtsanwendung vereinbaren läßt. Auch bei einem Zivilgericht w i r d man heute nicht mehr davon ausgehen, daß es nur die Norm „anwendet", daß es „en quelque facon nulle" sei. Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit treten nun, wie w i r oben gesehen haben, diejenigen Merkmale besonders hervor, welche das ursprüngliche historische Konzept der Judikative i n der Gewaltenteilung als nicht mehr haltbar erscheinen lassen. Die normative Struktur der Verfassung erlaubt keine mechanische Auslegung, wie sie i m Konzept Montesquieus gedacht war. Diese Besonderheit des Verfassungsrechts ist w o h l die Ursache dafür, daß das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung bisher nur selten und kurz erörtert worden ist. Die Schwierigkeit bei der Erörterung dieses Verhältnisses liegt aber nicht nur i n der besonderen Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch i n einem beträchtlichen Maße i n der mangelnden theoretischen Bereitschaft, generell vom Konzept der Judikative als „en quelque facon nulle" abzugehen und das ihr zukommende Maß an Gestaltungsfreiheit i n Betracht zu ziehen. Sicherlich verliert das Konzept der Gewaltenteilung durch die hier angedeutete Modifikation ein wenig von seiner Klarheit; das heißt aber nicht, daß damit der politische Sinn, welcher hinter der Lehre der Gewaltenteilung steht, hinfällig würde. Welche Konsequenzen also ergeben sich, wenn man die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n das Schema der Gewaltenteilung von A r t . 20 I I I GG zu beachten versucht? Formal gesehen ergibt sich daraus eine wechselseitige Bezogenheit des A r t . 20 I I I GG und des Normkomplexes, welcher das Bundesverfassungsgericht zum Gegenstand hat. Das Schema der Gewaltenteilung, wie es i n A r t . 20 I I I GG erscheint, läßt sich i n reiner Form bei Vorhandensein des Verfassungsgerichts, wie es i m Grundgesetz vorgesehen ist, nicht durchführen; andererseits stößt sich die Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit m i t den Grundlagen des A r t . 20 I I I GG, wenn man die Normen und die Tätigkeit des Verfassungsgerichts ohne Berücksichtigung des A r t . 20 I I I GG zugunsten einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit auslegen w i l l . Bei einem solchen Spannungsverhältnis der beiden Normkomplexe kann man nur dann zu einer relativ harmonischen und durchgehenden Interpretation des Grundgesetzes kommen, wenn man jeweils bei der Auslegung des einen Normkomplexes den anderen Bereich m i t einbezieht. Sicherlich besteht dieses Spannungsverhältnis nicht i n bezug

8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3

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auf alle Detailfragen, auch nicht ganz generell i m Bereich der theoretischen Konzeptionen der Gewaltenteilung und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Vielmehr w i r d der Wechselbezug nur an gewissen Schnittpunkten von Bedeutung, an denen sich die Normbereiche berühren und — für sich gesehen — i n gewisser Hinsicht nicht miteinander vereinbaren lassen. Diese Schnittpunkte ergeben sich bei einer jeweils einseitigen Auslegung i m Bereich des „Politischen". Einerseits haben w i r oben gesehen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit bei extremer Ausnutzung ihrer Kompetenzen weit i n die Sphäre des Politischen hineingeraten kann, indem sie bei der Norminterpretation den vorhandenen weiten Spielraum m i t nicht juristisch erfaßbaren Gehalten ausfüllt. Andererseits geht das Schema der Gewaltenteilung, wie es i n A r t . 20 I I I GG durch den Wortlaut klar zum Ausdruck kommt, von den traditionellen Inhalten und Bezügen der Begriffe Regierung, Gesetzgebung und rechtssprechende Gewalt aus. Man hat gelegentlich darüber nachgedacht, ob diese Einteilung sinnvoll ist 7 9 . Vorerst ist aber einmal davon auszugehen, daß es sich i n den A r t . 20 I I , H I u m geltendes Verfassungsrecht handelt, welches bei der Interpretation des geltenden Rechts m i t berücksichtigt werden muß. Der politische Gehalt der Gewaltenteilung bestand historisch nach K ä g i 8 0 darin, die Tätigkeit der drei Funktionen auf verschiedene Organe zu verteilen, u m sie dann gegenseitig einer Kontrolle zu unterwerfen. Die historische Entwicklung hat dazu geführt, die Kontrollfunktion der Gewaltenteilung i n den Vordergrund zu schieben; daneben ist die andere staatstheoretische Absicht, nämlich der Sinn der generellen Aufteilung der drei Funktionen auf verschiedene Organe etwas i n den Hintergrund gerückt 81 . E i n Grund hierfür mag wohl gewesen, sein, daß der Sinn der Verteilung der Staatsauf gaben auf drei Funktionsträger i n Deutschland i n neuerer Zeit nie ernsthaft i n Frage gestellt worden ist. Heute scheint es nun fast so, als ob das generelle Konzept der Verteilung der Funktionen auf verschiedene Träger kaum mehr Beachtung findet. Hier sei aber die These vertreten, daß es sich zum Wohle des Staatswesens auswirken würde, wenn die Funktionsverteilung wieder mehr betont würde. Dies gilt insbesondere für den hier angesprochenen Bereich des Politischen. Zwar hat die Entwicklung des modernen Parteiwesens die ursprüngliche Trennung von Exekutive und Legislative zu 7» Vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Rdn. 77 zu Art. 20. 80 Vgl. Kägi, Zur Entstehung und Wandlung des Gewaltenteilungsprinzips, S. 2 ff. 81 ibid.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

einem nicht unerheblichen Teil überlagert und verwischt. Wenn aber schon diese Erscheinung eine Gewaltenhäufung zur Folge hatte, so sollte deshalb eine weitere „Entpolitisierung" des Parlaments — und damit letztlich des öffentlichen Lebens — durch eine verstärkte politische Macht des Verfassungsgerichts nicht m i t weniger Aufmerksamkeit verfolgt werden. Die Zusammenfassung der primären politischen Funktion i n einer einzelnen Gewalt, wie sie dem Konzept der Gewaltenteilung zugrunde liegt, hat auch heute noch einen staatstheoretisch beachtlichen Zweck. Dabei ist insbesondere an Madisons Beobachtung 82 zu denken, daß die Reflektion sich i n erster Linie auf die Form der Regierung und erst i n zweiter Linie auf die A r t und Weise der Kontrolle richten sollte. Die Komplexität der modernen Gesellschaft verleiht diesem Argument vielleicht noch mehr Gewicht, als es ursprünglich hatte. Eine weite Zersplitterung der politischen Gewalt hat den Vorteil, daß keines der Machtzentren durch übermäßigen Einfluß zu stark i n den ¡Bereich des Individuums eingreifen kann; daneben hat sie aber auch den schwerwiegenden Nachteil, daß es unter Umständen zu einer starken Führung durch ein Organ gar nicht kommen kann 8 3 . Die politische Führungsaufgabe kann sinnvollerweise nicht beliebig auf die einzelnen Gewalten verteilt werden. Die Anhänger der These, daß gerade das moderne Parteiwesen (als gemeinsame Spitze von Exekutive und Legislative) eine politische Kontrolle durch die dritte Gewalt wünschenswert erscheinen läßt 8 4 , berücksichtigen diesen Aspekt nicht i n seiner vollen Bedeutung. Auch die Staatsform Demokratie bedarf heute einer kraftvollen politischen Spitze, welche die vielfältigen, ineinander verschlungenen Probleme der modernen Gesellschaft übersieht und sie m i t einer — i m Rahmen demokratischer Grenzen zulässigen — umfassenden Perspektive zu bewältigen versucht. Eine zusammenhängende politische Konzeption bedarf heute eines hohen Grades an Information und Koordination. Die organisatorische Bewältigung dieser Voraussetzungen einer geschlossenen Ausübung der Regierungsgeschäfte kann w o h l nur dann erfolgreich sein, wenn die verschiedenen Fäden der Politik i n einer Spitze zusammenlaufen. Immer wieder ist i n den letzten Jahren von der politischen Seite die Klage zu hören, wie schwierig es heute ist, Reformen nicht nur zu planen, sondern auch zu verwirklichen. Darin w i r d deutlich, daß die moderne Industriegesellschaft stärkere Methoden des Regierens benötigt, als dies etwa i m „Nachtwächterstaat" des 19. Jahrhunderts der F a l l war. Die Ineinander- und Rückkopplung einer Menge politischer, institutioneller 82 Federalist, Nr. 51. 83 vgl. Scheuner, Politische Koordination in der Demokratie. 84 Vgl. Bachof, Die richterliche Kontrollfunktion, V I , 1.

8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3

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und sozialer Faktoren macht den modernen Staat der Tendenz nach schwerfällig. Dieser Entwicklung kann nicht erfolgreich dadurch aus dem Wege gegangen werden, daß man m i t einem Fingerzeig auf die Vergangenheit die Gefahren einer stärkeren Regierung heraufbeschwört. Hier geht es nicht darum, die demokratische Staatsform zu schwächen, sondern vielmehr u m ihre Anpassungsfähigkeit an moderne Gregebenheiten. James McGregor Burns 8 6 hat für die amerikanischen Verhältnisse dargelegt, welch negative Konsequenzen eine Zersplitterung der staatlichen Kräfte auf das gesamte Staatswesen haben kann. Sein Buch „The Deadlock of Democracy" ist ein dringender Appell zu Verstärkung der Führungsspitze der Demokratie. Es ist sicherlich kein Zufall, daß ein anderes Buch m i t demselben Anliegen eines der meist beachteten Werke über das amerikanische Staatswesen i m letzten Jahrzehnt war: Richard Neustadt hat i n seinem Buch „Presidential Power" 8 6 dargelegt, daß nur der Präsident den modernen gesellschaftlichen Gegebenheiten gerecht werden kann, der seine Quellen der Macht i m Rahmen der demokratischen Grenzen durch neuartige Methoden v o l l ausschöpft. Eine der wichtigsten Aufgaben der modernen Demokratie ist es, der Immobilität zu entgehen, welche bei einem Übermaß an Kontrollmechanismen und Zuständigkeiten i n ihr wachsen kann. Ralf Dahrendorf 8 7 hat sich mit der Vorstellung auseinandergesetzt, daß das Ausmaß an politischer Auseinandersetzung und Führung dadurch reduziert werden kann, daß i m Staatswesen übergeordnete abstrakte Prinzipien mehr zur Geltung gebracht werden sollen. Wenn man seiner Meinung Glauben schenken darf, so ist diese Neigung i n Deutschland besonders groß. Sicherlich hat Dahrendorf m i t seiner „Theorie des sozialen Konflikts" an dem Punkte recht, wo er davon ausgeht, daß es für eine gesunde Demokratie von hohem Interesse ist, eine klare Form der Führung — u n d damit verbunden offene Formen politischer Auseinandersetzung zu haben. Juristisch gesehen müssen sich diese staatstheoretischen Erkenntnisse i n einer Betonung der Zuordnung des Politischen zu einer einzelnen Gewalt niederschlagen. Der ursprüngliche Gedanke einer Gewaltenteilung — die vom Ansatz her i n der klassischen Form übernommen wurde —, daß die politische Führungsaufgabe von der gesetzgebenden Gewalt wahrgenommen werden muß, erhält durch die oben angedeutete Situation erneut ein besonderes Gewicht. Die Verbindung von Parlament und Regierung durch das Parteiwesen bedingt heute eine Modi-

85 Burns, The Deadlok of Democracy. 86 Neustadt, Presidential Power. 87 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, Kapitel 5, S. 112 ff.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

fikation i n der Festlegung des Orts dieser Führungsaufgabe, nicht aber eine Veränderung des allgemeinen Prinzips. Bezieht man diese Seite einer modernen Demokratie-Theorie auf das Verhältnis von Parlament sowie Regierung zur Verfassungsgerichtsbarkeit, so ergibt sich hieraus die Forderung nach praktischem „selfrestraint" des Verfassungsgerichts. Das politische Urteil muß das Verfassungsgericht um der Effizienz der Demokratie w i l l e n i n hohem Maße den übrigen Staatsorganen überlassen. Sicherlich ist das Bundesverfassungsgericht nicht der einzige Ort, von dem her der Demokratie ein gewisses Maß von Immobilität droht; keinesfalls aber darf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts i n dieser Hinsicht unterschätzt werden, wenn die Verfassungsrichter die ihnen zur Verfügung stehende Macht v o l l ausnützen. Die übrigen Staatsorgane haben von ihrer natürlichen Position her bessere Voraussetzungen, was Information, Koordination und Durchsetzungskraft betrifft. I n der Kenntnis der gegenseitigen Bezogenheit von Gewaltenteilung und Verfassungsgerichtsbarkeit muß das Verfassungsgericht diese Strukturen anerkennen, damit das Schema der Gewaltenteilung heute i n der erforderlichen Form wirksam werden kann. Nicht nur ist das juristische Konzept der Gewaltenteilung i m Grundgesetz verankert und fordert eine „self-restraint-policy" des Verfassungsgerichts; auch das politische Konzept hinter der Gewaltenteilung w i r d heute von einer modernen Auffassung der Demokratie erneut gefordert. Eine verstärkte Macht der politischen Führungsspitze bringt eine gewisse Grefahr des Mißbrauchs der Macht mit sich. Wirksame politische Kontrollmechanismen werden dadurch notwendiger als bei einer schwachen Regierung. Rauschning 88 hat i n seiner Arbeit gezeigt, daß das Grundgesetz eine Fülle von Kontrollen i n den politischen Prozeß eingebaut hat; werden sie alle verantwortlich wahrgenommen, so dürfte die Gefahr eines Machtexzesses auf ein Mindestmaß reduziert werden. Von der institutionellen Seite her rüstet das Grundgesetz unsere Demokratie durchaus m i t den notwendigen Vorkehrungen gegen eine neuerliche Abwertung der Demokratie aus. M i t Rauschning 89 w i r d man aber davon ausgehen müssen, daß die institutionelle Seite letztlich nicht über das Schicksal unserer Staatsform entscheiden kann u n d wird. Die demokratischen Institutionen stellen lediglich die formalen Voraussetzungen für das Gedeihen des demokratischen Prozesses dar. Rauschning bezeichnet am Ende seiner Untersuchimg die „politische Dynamik" als den entscheidenden Faktor für den Fortbestand unserer Verfassung; was Rauschning i m einzelnen m i t dieser „politischen Dynamik" meint, 88 Rauschning, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht. 8» Rauschning, S. 285.

8. Demokratische Theorie und die Fälle 2 und 3

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w i r d nicht ganz klar; i m wesentlichen kann er sich aber auf nichts anderes beziehen als eine demokratische Haltung der Öffentlichkeit und eine entsprechende Einstellung der Staatsorgane. Nicht so sehr der Blick auf die Kontrolle durch die übrigen Organe und die Öffentlichkeit, sondern das interne Bewußtsein der eigenen politischen Verantwortlichkeit sollte i n erster Linie das Handeln der politischen Führungsspitze bestimmen. Gerade i n dieser Hinsicht aber bedarf das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Führung mehr Aufmerksamkeit, als dies bisher der Fall war. b) Selbstverantwortlicher

Gesetzgeber

Bei einer wenig flexiblen Interpretation des einfachen Gesetzes durch das Verfassungsgericht entsteht eine Tendenz des Gesetzgebers, die Frage der Gerechtigkeit seines Handelns i n erster Linie dem Verfassungsgericht und nicht sich selbst zuzuschreiben. Thayer hat i n den USA schon zu Ende des 19. Jahrhunderts auf diesen Aspekt hingewiesen, welcher den Sinn für die Verantwortlichkeit beim Gesetzgeber schwächt 90 : . . people become careless as to whom they send to the legislature; too often they cheerfully vote for men whom they would not trust with an important private affair, and when these unfit persons are found to pass foolish and bad laws, and the courts step in and disregard them, the people are glad that these few wiser gentlemen on the bench are so ready to protect them against their more immediate representatives."

I n den vergangenen Jahren ist diese Erscheinung i n den USA immer wieder betont worden. Rauschning 91 kommt i n seiner Untersuchung zur Ansicht, daß diese Gefahr i n der Bundesrepublik zur Wirklichkeit geworden ist, und daß heute der Gesetzgeber weniger darauf achtet, welches die gerechteste Lösung ist, als auf die Frage, ob die gewählte Lösung vom Bundesverfassungsgericht wohl noch als verfassungsmäßig anerkannt wird. Der Sollenscharakter, der der Verfassimg gegenüber dem Gesetzgeber zukommt, ist nach der Ansicht Rauschnings deshalb weitgehend verlorengegangen, w e i l sich der Gesetzgeber zu oft darauf verläßt, daß eine „falsche" Lösung ohnehin v o m Bundesverfassungsgericht korrigiert wird. Wenn auch diese Thesen vielleicht etwas weit gehen, so deuten sie doch die oben beschriebene Tendenz an. Die A n t w o r t auf dieses Problem kann i m wesentlichen nur i n einer Richtung gesucht werden: durch „seif restraint" des Verfassungsgerichts. Wenn der Gesetzgeber nicht unmittelbar damit rechnen kann, daß eine ungerechte oder teilweise »o Zitiert bei Rostow, S. 152. 91 Rauschning, S. 96.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

ungerechte Lösung vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wird, so w i r d er selber seine Anstrengungen u m eine bessere Lösung verstärken müssen. Für die allgemeine Tätigkeit des Gesetzgebers aber kann sich ein stärker ausgeprägter Sinn für gerechte Lösungen nur segensreich auswirken. c) Auswechselbarkeit

der

Verantwortlichen

Haben w i r bisher i m Rahmen der Demokratietheorie die Fragen der Gewaltenteilung sowie das Problem des selbstverantwortlichen Gesetzgebers i n seinem Bezug zur Verfassungsgerichtsbarkeit erörtert, so sei jetzt noch auf einen dritten Aspekt der Demokratietheorie eingegangen, dem der Auswechselbarkeit der Träger politischer Entscheidungen durch das Staatsvolk. Von einigen Theoretikern der Demokratie w i r d i n diesem Grundsatz der zentrale Vorteil der westlichen gegenüber der östlichen Herrschaftsform gesehen. Hier geht es nicht darum zu erörtern, ob der eigentliche Unterschied w i r k l i c h gerade i n diesem Punkt liegt. Jedenfalls kann aber davon ausgegangen werden, daß die freie Wahl verschiedener politischer Alternativen zentral für das Funktionieren jeder Demokratie westlicher Prägung ist. Der theoretische Grund für die These der notwendigen Auswechselbarkeit der politischen Führung liegt für die westliche Demokratie i n ihrer fundamentalen Annahme, daß niemand Zugang zur absoluten Wahrheit hat, und es für das Gemeinwesen deshalb am günstigsten ist, wenn sich das Handeln des Staates i m Wege rationaler Diskussion und Entscheidung durch die Gesamtheit der Individuen bestimmt. I m Sinne dieses Aspekts einer Demokratietheorie ist es wünschenswert, wenn die politische Führung relativ klar an einem organisatorischen Ort konzentriert ist, von welchem aus die Staatsgeschäfte gelenkt werden — und der vom Staatsvolk als verantwortliche Stelle gesehen, beurteilt und gegebenenfalls durch Wahlen neu bestimmt werden kann. Sicherlich ist dieses Prinzip i m Grundgesetz nicht klar durchgeführt. Der Bundeskanzler z. B. w i r d nicht vom Staatsvolk, sondern erst vom Parlament gewählt. Immerhin hat die Bundestagswahl aber entscheidenden Einfluß auf die Kanzlerwahl. I m Vergleich zum Supreme Court ist ferner die demokratische Legitimation unserer Verfassungsrichter stärker als die ihrer amerikanischen Kollegen; während die Richter am Supreme Court vom Präsidenten ernannt werden, geschieht die Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht durch den Bundestag und den Bundesrat. Die neu eingeführte Beschränkung der Amtszeit für alle Verfassungsrichter ist insofern eine weitere Verschärfung des demokratischen Elements der Verfassungsgerichtsbarkeit.

9. Fall 1 und 4: „Legitimierungseffekt"

97

A n der generellen Wünschbarkeit der Konzentration der politischen Verantwortlichskeit ändert sich durch diese Einschränkungen aber wenig. Einerseits ist die generelle Transparenz des politischen Prozesses eine unabdingbare Forderung i m demokratischen Staat 9 2 . Sie ist eine Bedingung für die Möglichkeit der allgemeinen rationalen Diskussion, auf welcher die Entscheidimgsträger ihr Urteil weitgehend aufbauen. Andererseits fordert auch das Prinzip der politischen Gleichwertigkeit der Individuen die Möglichkeit rationaler Entscheidimg und damit möglichst v i e l Transparenz. Der Glaube an die politische Einsichtsfähigkeit des „common man" fordert, daß i h m relativ klare Alternativen gestellt werden, für die er sich nach der einen oder der anderen Seite entscheiden kann. Nach demokratischer Theorie pendelt sich dann i n der Vielzahl der Stimmen auf diese Weise die für die Gesellschaft beste Lösung ein. Abschließend kann gesagt werden, daß eine Untersuchung des Verhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie zeigt, daß das freie Spiel der politischen Kräfte, wie es für die Demokratie kennzeichnend und notwendig ist, durch die Verfassungsgerichtsbarkeit möglichst wenig eingeschränkt werden sollte. Die Effizienz der Demokratie, der Sinn für die Verantwortlichkeit beim Gesetzgeber und die Forderung nach Transparenz und Austauschbarkeit der politischen Führung weisen i n diese Richtung. 9. Fall 1 und 4: „Legitimierungseffekt"

Haben w i r uns bisher i m Rahmen der strukturell-funktionalen Theorie mit den Fällen 2 und 3 beschäftigt, i n denen die Haltungen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der anderen Staatsorgane nicht übereinstimmen, so wollen w i r zum Schluß noch auf die Fälle 1 und 4 eingehen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß das Verfassungsgericht die nachzuprüfenden Entscheidungen der Staatsführung aufrecht erhält. I m Falle 1 vertreten sowohl das Verfassungsgericht als auch die politische Spitze eine statische Auffassung, i m Falle 4 nehmen beide Seiten eine dynamische Haltung ein. Fall 1 und 4 unterscheiden sich i n ihrer staatsrechtlichen Problematik nicht voneinander. Sie können deshalb gemeinsam behandelt werden. Auf den ersten Blick scheint, daß i n den Fällen 1 und 4 keine besonderen Fragen für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts entstehen: das Verhalten der Staatsführung w i r d nicht beeinflußt, insofern erscheint ein Einfluß des Verfassungsgerichts nicht vorhanden zu sein.

Vgl. Zweigert, 7 Dolzer

S. 51.

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3. Kap.: Staatstheoretische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit

Dieses B i l d verändert sich jedoch ein wenig, wenn man die sog. Legitimierungsfunktion eines bestätigenden Urteils des Verfassungsgerichts näher betrachtet. Diese Legitimierungsfunktion besteht darin, daß die i n Frage stehende Regelung durch die Bestätigung des Verfassungsgerichts den Stempel der Gesetzmäßigkeit und somit auch i n gewisser Hinsicht den Anschein der Gerechtigkeit und Endgültigkeit bekommt. Die Konsequenz dieses Effekts ist, daß die Position desjenigen Organs, welches die anstehende Frage i m nun bestätigten Sinne geregelt hat, i n der öffentlichen Diskussion enorm gestärkt wird. Die Gewichte i n der allgemeinen Auseinandersetzung werden durch die Bestätigung des Verfassungsgerichts neu verteilt, sie verändern sich zugunsten der bestätigten Meinung. I n vielen Fällen dieser A r t bedeutet deshalb das bestätigende U r t e i l das Ende der Diskussion. Diejenigen Teile der öffentlichen Meinung, welche eine andere als die bestätigte Lösung bevorzugen würden — oft die parlamentarische Opposition —, sehen durch das U r t e i l des Verfassungsgerichts meist w o h l die Hoffnungen auf eine Veränderung der bisherigen Situation zerstört und geben es dann auf, sich weiter u m eine Korrektur zu bemühen. Die damit verbundene Pazifizierung der Lage stellt sicherlich meist einen Beitrag zur Herbeiführung des allgemeinen Rechtsfriedens dar. Neben diesem Vorteil kann aber auch die nachteilige Folge des Legitimierungseffekts i n einigen Fällen nicht übersehen werden. Sie besteht darin, daß die politische Auseinandersetzung gelegentlich an einem Punkt gestoppt werden kann, an dem eine weitere politische Diskussion möglich und sinnvoll sein könnte. Eine allgemeine Aussage, wann dies der F a l l ist, kann wohl nicht gemacht werden; der Tendenz nach besteht die nachteilige Seite des Legitimierungseffekts i n all den Fällen, i n denen politisch kontroverse Fragen vom Verfassungsgericht entschieden werden, i n denen die öffentliche Diskussion zum Zeitpunkt des verfassungsgerichtlichen Urteils noch nicht abgeschlossen ist. Die unerwünschten Seiten des Legitimierungseffekts sind lange nicht so stark, daß man deshalb allgemeine Folgerungen i n bezug auf den staatstheoretischen Wert der gesamten Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit ziehen sollte. I m allgemeinen sind die Konsequenzen des Legitimierungseffekts nicht von übermäßiger Bedeutung. I n gewissen Fällen sollte man der Legitimierungswirkung aber doch mehr Bedeutung zumessen, als dies bisher geschehen ist 9 3 . Der weite Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichts gibt vor allem deshalb dazu Anlaß, weil durch i h n die Verflechtung der Tätigkeit des Verfassungsgerichts mit der Politik enger w i r d als bei einem m i t weniger Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsgericht. 93 Frank, in: Cohn, Supreme Court, S. 121.

Viertes Kapitel

Beiträge zur besonderen Grenzproblematik des Bundesverfassungsgerichts Ist bisher das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum Politischen i m Rahmen der strukturell-funktionalen Theorie erörtert worden, so soll nun i m letzten Teil auf dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse die bestehende institutionelle Ausformung des Bundesverfassungsgerichts und seine juristische Arbeitsweise i m Lichte der obigen Erörterungen untersucht werden. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß es hier keinesfalls darum gehen kann, das Bundesverfassungsgericht i n der ganzen Breite seiner Form und Tätigkeit zu erfassen; insbesondere ist es hier nicht unser Anliegen, die bisherige praktische Tätigkeit und ihre Auswirkungen i m einzelnen i m Hinblick auf das Politische zu untersuchen. Wenn dies überhaupt möglich wäre, so würde es doch den Rahmen — dieser i m allgemeinen staatstheoretisch orientierten Erörterung — bei weitem sprengen. Ferner muß auch jetzt schon darauf hingewiesen werden, daß es keinesfalls einfach ist, die bisherigen Erkenntnisse i n ihrer allgemeinen Form auf die praktische Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts anzuwenden. Der Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht i n seiner Tätigkeit hat, läßt i n der täglichen Arbeit oft verschiedene Möglichkeiten offen. Die bisherigen Erkenntnisse des Verhältnisses des Bundesverfassungsgerichts zum Politischen haben insofern einen eigenen praktischen Wert, als sie nicht näher konkretisiert werden können: i n einem weiten Bereich ist es eine Frage des allgemeinen Bewußtseins der Verfassungsrichter von den Möglichkeiten und Grenzen der Institution, inwiefern die generellen staatstheoretischen Erkenntnisse verwertet werden können. Eine informierte und aufmerksame Öffentlichkeit kann ebenfalls dazu beitragen, daß die Grenzen zum Bereich des Politischen i n der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts i m wesentlichen eingehalten werden. I m folgenden soll aber — darüber hinaus — untersucht werden, ob der bisherige institutionelle Rahmen und die juristische Methodik des 7*

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Bundesverfassungsgerichts der Grenzproblematik von juristischer Arbeit und politischer Gestaltung gerecht werden. Zur Übersichtlichkeit der Arbeit werden w i r dabei i m wesentlichen nur auf die Aspekte eingehen, welche i m Lichte des bisherig Gesagten als problematisch erscheinen. 1. Die Political-Question-Doktrin I m Bereich der Interpretationsmethodik soll an erster Stelle untersucht werden, inwieweit die political-question-Doktrin des Supreme Court für die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts fruchtbar gemacht werden kann. Ehrnke 1 hat sich 1963 auf der Staatsrechtslehrertagung dafür ausgesprochen, die political-question-Doktrin i n die deutsche Rechtsprechung zu übernehmen. I n der Diskussion seines Referats fand sein Vorschlag nicht viel Widerhall. Uberwiegend waren die wenigen Bemerkungen der Diskussionsteilnehmer negativ. Z u einer ausführlichen Diskussion dieser Frage ist es nicht gekommen. Bevor w i r niun i m einzelnen auf die Anwendbarkeit der politicalquestion-Doktrin i m System des Grundgesetzes eingehen können, muß der Inhalt der political-question-Doktrin dargestellt werden. Dies ist u m so erforderlicher, als gerade auch die Diskussion der Staatsrechtslehrer 1963 eine gewisse Unkenntnis von der Natur der politicalquestion-Doktrin verraten hat. a) Rolle in den USA I m allgemeinen kann für die Einzelheiten der Anwendung der Doktrin durch den Supreme Court auf die übersichtliche Arbeit von W. Scharpf 2 verwiesen werden, i n der er die gesamte Rechtsprechung des Supreme Court in diesem Bereich untersucht hat. Hier müssen w i r es dabei bewenden lassen, die political-question-Doktrin i n den Zügen darzustellen, die für die staatsrechtliche Einordnimg entscheidend sind. Die Anerkennung der political-question-Doktrin findet sich substant i e l l für den Supreme Court bereits i m ersten Urteil zur Normenkontrolle, i n Marbury vs. Madison. Nachdem Marshall i n seinem Urteil ausgeführt hatte, daß die Normenkontrolle ein unabdingbares Element i n der Tätigkeit des Supreme Court sein müsse, fährt er fort 3 : 1 Ehmke, W d S t R L 20. 2 Scharpf, Die Grenzen richterlicher Verantwortung. 3 1 Cranch 137.

1. Die Political-Question-Doktrin

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"By the Constitution of the United States, the President is invested with certain important policy powers, in the exercises of which he is to use his own discretion, and is accountable only to this country . . . and whatever opinion may be entertained of the manner in which executive discretion may be used, still there exists, and can exist no power to control that discretion."

I m Verlauf seiner Rechtsprechung hat der Supreme Court diese Auffassung nie mehr aufgegeben. Die Tendenz des Warren-Court war, den Bereich der political-question-Doktrin einzuengen 4 . Hier besteht ein gewisser allgemeiner Zusammenhang zum allgemeinen activism des Warren Court. Auch unter Warren ist die Doktrin jedoch niemals i n Zweifel gezogen worden, sie wurde vielmehr ausdrücklich bestätigt 6 . Heute erscheint es wahrscheinlich, daß der Supreme Court unter Burger der political-question-Doktrin wieder mehr praktische Bedeutimg zumessen wird. Die Doktrin als solche ist heute i n den USA so unangefochten wie je zuvor. b) Anwendungsfeld Der Supreme Court hat die political-question-Doktrin i m Verlauf seiner Geschichte auf vielfältige Sachverhalte angewandt. Man kann aber davon ausgehen, daß sich i m wesentlichen folgende Sachbereiche als Anwendungsfeld der political-question-Doktrin herausgebildet haben 6 : I m Bereich der auswärtigen Gewalt ist die political-question-Doktrin i n Fragen der Gültigkeit internationaler Vereinbarungen, der Grenzen der amerikanischen Gebietshoheit, ferner i n Fragen der diplomatischen Anerkennung und i m Problemkreis der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern angewandt worden. I n diesen Zusammenhang gehören auch noch die political-question-Entscheidungen i m Kriegs- und Notstandsrecht. I m Feld der Innenpolitik findet sich die political-question-Doktrin i m Bereich der Regelung von Indianerfragen, der demokratischen Regierungsform der Einzelstaaten, des Verfahrens bei Verfassungsänderungen und darüber hinaus noch i n Fällen, welche das Gesetzgebungsverfahren und die Wahlkreiseinteilung betreffen. c) Inhalt Der Inhalt einer political-question-Entscheidung ist der, daß sich das Gericht keine eigene Meinimg zu der i n Frage stehenden Regelung 4 Vgl. Powell v. Cormack; Mora v. McNamara; « Vgl. Powell v. Cormack. ß Vgl. die Darstellung von Scharpf.

US v. Sisson.

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

bildet, sondern die Entscheidung alleine den politischen Organen überläßt. Die D o k t r i n kann sich dabei entweder auf den gesamten Fall oder auch nur auf einen Teilaspekt beziehen. d)

Begründung

Die Begründung für das Anwenden der political-question-Doktrin nimmt der Supreme Court meist i n lapidaren Sätzen vor, welche auf die Zuweisung der Materie an die politischen Organe verweisen: "Such matters are so exclusively entrusted to the political branches of the government as to be largely immune from judicial inquiry or interference 7 ." " . . . these conditions are appropriate for the considerations of the political departments of the Government. The questions they involve are essentially political and not justiciable 8 ." "Especially it the definition of our relations to foreign nations confided not to the courts, but to another branch of government®."

Wiewohl diese Begründungen, ebenso wie fast alle anderen, i n ihrer Substanz nicht w e i t voneinander abweichen, ist es doch m i t gewissen Schwierigkeiten verbunden, den dogmatischen Ort der political-question-Doktrin genau festzulegen. Wenn auch die pragmatische Ausrichtung i n der amerikanischen Staatsrechtslehre nie dazu geführt hat, den Wert der political-question-Doktrin wegen dogmatischer Schwierigkeiten zu bezweifeln, so ist die Doktrin i n den vergangenen zwanzig Jahren doch immer wieder von der wissenschaftlichen Systematik her beleuchtet und kritisch analysiert worden. Z u einer einheitlichen Meinung ist es dabei noch nicht gekommen. e) Dogmatische

Einordnung

Die traditionelle Ansicht geht davon aus, daß die political-questionDoktrin keine Diskretion des Verfassungsgerichts voraussetzt, daß das Verfassungsgericht keinen Spielraum hat, welcher i h m erlaubt, zu entscheiden oder nicht zu entscheiden. Wenn die Anhänger dieser traditionellen Auffassung dennoch die political-question-Doktrin anerkennen, so deshalb, w e i l der Supreme Court i n diesen Fällen zu der ihrer Ansicht nach zutreffenden Interpretation gelangt, daß für den betreffenden F a l l die Verfassung als Gesamtordnung die alleinige Entscheidung einem anderen Zweig zuweist. Das Verfassungsgericht enthält sich also — nach dieser Ansicht — keinesfalls der Verfassungsinterpretation, wenn es die political-question-Doktrin anwendet, nur führt 7 342 U.S. 588 f. 8 307 U.S. 454. » 235 N.Y. 258.

1. Die Political-Question-Doktrin

103

diese Verfassungsinterpretation dazu, daß das Verfassungsgericht die alleinige Kompetenz eines anderen Organs feststellt und sich i n der Sache deshalb keine eigene Meinung bildet, sondern sich dem kompetenten Organ anschließt. Die traditionelle Ansicht wurde i n neuerer Zeit hauptsächlich von Weston 10 , Wechsler 11 , und w o h l auch vom Supreme Court i n Baker v. Carr 1 2 , vertreten. Eine andere Auffassung findet sich bei Finkelstein 1 8 , Post 14 und wohl auch Rupp 1 6 . Danach hat die political-question-Doktrin die Funktion, den Supreme Court i n politisch besonders delikaten Fällen von einer Entscheidimg zu entbinden, einerseits i n dem Fall, i n welchem die Rechtsfrage sehr kontrovers ist, andererseits, wenn die Durchsetzbarkeit des an sich richtigen Urteils nicht garantiert erscheint. Field 1 8 vertritt die Ansicht, daß die political-question-Doktrin dort Anwendung findet, wo keine Normen mehr vorhanden sind. Auch Justice Brennan und Justice Frankfurter begründen i m Falle Baker vs. Carr 1 7 ihre dissenting opinion damit, daß es i m vorliegenden Falle an „judicially discoverable and manageable Standards" fehle und somit die political-question-Doktrin Anwendung finden müsse. Bickel 1 8 geht davon aus, daß der Supreme Court generell nie zu einer Entscheidung gezwungen ist, daß es i n den Entscheidungen des Supreme Court nur darum gehe, die Prinzipien der Verfassung wirksam zu machen. Auf diesem Hintergrund sieht Bickel die political-questionDoktrin als eine Technik (neben anderen wie standing, ripeness oder mootness) der Nicht-Entscheidung. Der Grund für die fehlende Entscheidung liegt nach Bickel i n den Anwendungsfällen der politicalquestion-Doktrin darin, daß zwar rechtliche Maßstäbe vorhanden sind, es aber i m konkreten Fall für die Entscheidimg außerrechtliche Faktoren von solch großer Relevanz gibt, daß die rechtlichen Maßstäbe die Entscheidung nicht tragen können. Scharpf 19 schließlich hat noch eine weitere Theorie hinzugefügt. Nach i h m ist die political-question-Doktrin sinnvoll nur funktional zu verstehen, i m Kontext der „Verteilung der 10 11 i* is 14 is 1« 17 is

Weston, Political Questions. Wechsler, Toward Neutral Principles, 369 U.S. 186, 246. Finkelstein, Judicial Self-Limitation. Post, Political Questions. Rupp, Some Remarks on Judicial Self-Restraint. Field, The Doctrine of Political Questions. 369 U.S. 186. Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 26 ff.

io Scharpf, S. 404.

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Aufgaben der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsfortbildung auf die verschiedenen Verfassungsorgane" 20 . Nach Scharpf sind political-question-Entscheidungen die Beurteilung von Rechtsfragen, für deren Entscheidung das Gericht die Verantwortung nicht übernehmen kann 2 1 . Hier w i r d die Ansicht vertreten, daß die klassische Theorie am besten dazu geeignet ist, die political-question-Doktrin dogmatisch zu erfassen. Die verfassungsrechtliche Zuweisung einer Sachfrage an ein politisches Organ ist jeweils der letzte Grund für die Anwendimg der politicalquestion-Doktrin. Diese Zuweisung ist eben systematisch durchaus auch dann möglich, wenn es sich nicht u m rechtsfreien Raum handelt. Wann diese exklusive Zuständigkeit der politischen Organe i m einzelnen gegeben ist, läßt sich abstrakt nicht leicht festhalten. I m Anschluß an Frank 2 2 lassen sich jedoch vier Fallgruppen bilden, die diesen Rahmen des Anwendungsfeldes der political-question-Doktrin ausmachen: 1. I m Falle des Bedürfnisses einer einheitlichen Politik der Staatsorgane: unter diesem Aspekt ist w o h l i n erster Linie der Bereich der Außenpolitik zu sehen. Dort wiederum w i r d es sich insbesondere um die Problemkreise der diplomatischen Anerkennung oder der Beendigung des Kriegszustandes handeln. 2. Der Fall „judizieller Inkompetenz": darunter sind etwa Fälle zu verstehen, i n denen es u m die Beurteilung und Ausfüllung des Begriffs „angemessene Zeitdauer" innerhalb der Verfassung geht. Frank führt für das amerikanische System den Fall an, daß zwischen der Zustimmung der einzelnen zuständigen Organe zu einer Verfassungsänderung eine längere Zeitspanne liegt. Nach der Verfassung muß die Zustimmung aller zuständigen Organe innerhalb einer „reasonable time" abgegeben werden. Der Supreme Court und fast die gesamte Lehre waren i n einem entsprechenden F a l l der Ansicht, daß es bei der Ausfüllung des Begriffs „reasonbale time" u m eine solche Vielzahl relevanter Faktoren geht, daß sich ihre Einschätzung und Abwägung dem spezifisch juristischen Denken entzieht und deshalb die politischen Organe dafür zuständig seien. I n allgemeinerem Rahmen könnte man wohl unter diese Fallgruppe all diejenigen Fälle rechnen, i n denen die Informationslage ungünstig für das Verfassungsgericht ist, wie es vor allem auch i m Bereich der Außenpolitik der Fall sein kann. (Scharpf bildet unter diesem Gesichtspunkt sogar eine eigene Fallgruppe 28 .) so 21 22 23

ibid. Scharpf, S. 405. Frank, in: Cohn, The Supreme Court, S. 38 ff. Scharpf, S. 405.

1. Die Political-Question-Doktrin

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Für die bundesdeutsche Situation wäre — i m Anschluß an das Beispiel von Frank — an den Fall des Verfassungsauftrags zu denken, den der Gesetzgeber i n angemessener Zeitdauer auszuführen hat. 3. Der F a l l eindeutiger Prärogative eines anderen Staatsorgans: m. E. überschneidet sich diese Fallgruppe i m wesentlichen m i t der von Fall 1, sie hat ihre besondere Bedeutung i m Bereich der Außenpolitik. 4. Der Fall der Verhinderung von staatlichem Chaos: Frank führt für diese Gruppe die Rechtsprechung des Supreme Court zu Indianerfragen an 4 4 . Es ging dabei insbesondere u m Gebietsansprüche, welche die Indianer an den Staat Illinois richteten. Damals w a r klar, daß die politische Führung unter keinen Umständen eine Entscheidimg zugunsten der Indianer hingenommen hätte. Man könnte diese Fallgruppe vielleicht damit umschreiben, daß durch sie die Fälle des „fiat iustitia, pereat mundus" i m Sinne einer pragmatischeren Haltung vermieden werden. Auf den ersten Blick mag fraglich erscheinen, ob i n diesen Fällen eine exklusive Zuweisung der Verfassung an ein anderes Organ vorliegt. Bei einer Gesamtschau der Verfassung läßt sich aber durchaus die Ansicht vertreten, daß für diejenigen Fälle, i n denen durch ein gerichtliches Urteil die staatlichen Fundamente aus den Angeln gehoben würden, das Gericht nicht mehr zuständig ist. W i r haben i m theoretischen Teil unserer Erörterungen gesehen, daß i n funktioneller H i n sicht die Justiz nur einen begrenzten A n t e i l für die Verantwortung am staatlichen Leben trägt. Folgt man dieser Ansicht, so würde das Gericht i n den oben beschriebenen Fällen seine Grenzen überschreiten, wenn es ein Urteil i n der Sache treffen würde. Man könnte vielleicht daran denken, daß i m Jahr 1961, als das Bundesverfassungsgericht nachträglich über die Gültigkeit der Bundestagswahlen zu entscheiden hatte, ein F a l l dieser A r t vorgelegen hat. M i t einem Urteil des Inhalts, daß die Wahl nichtig war, hätte das Bundesverfassungsgericht das gesamte Staatswesen erschüttert — man denke nur an die Fragen der Kompetenz für die Neueinteilung der Wahlkreise. Als das Bundesverfassungsgericht damals wegen „mangelnder Evidenz der Ungleichheit der Wahlkreise" die Wahlen aufrecht erhielt, hat es dem Recht ebensowenig zum Siege verholfen wie m i t einer political-question-Entscheidung. Der Unterschied hätte w o h l darin gelegen, daß das Bundesverfassungsgericht m i t einer politicalquestion-Entscheidung das Recht nicht hätte „verbiegen" müssen, son24

Vgl. etwa Cherokee Nation v. Georgia; 5 P e t 1.

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d e m die Sachlage offener i m U r t e i l hätte darstellen können. Der H i n weis auf die absolute Notwendigkeit der Neueinteilung wäre auch i m Rahmen einer political-question-Entscheidung möglich gewesen. M i t diesen vier Fallgruppen erscheint i n genügend differenzierter Form dargelegt, was unter der „verfassungsmäßigen Zuweisung an ein politisches Organ" gemeint ist, wenn damit der Bereich der politicalquestion-Doktrin beschrieben wird. Sicherlich bedürfen die einzelnen Fallgruppen i m konkreten Anwendungsfall einer genauen Betrachtung; sicherlich ergeben sich i n gewissen Randfällen gelegentlich Schwierigkeiten bei der Anwendung. Dies ist aber keine Besonderheit der political-question-Doktrin, der Jurist hat täglich m i t Konkretisierungsund Abgrenzungsproblemen zu tun. Soweit dies hier ersichtlich ist, w i r d die political-question-Doktrin i m oben beschriebenen Sinne genügend klar, u m rechtlich praktikabel zu sein. Die oben erörterten Grenzen der political-question-Doktrin sind insbesondere auch hart genug, u m den Einwand zu widerlegen, die political-question-Doktrin diene nur dazu, politisch „heiße Eisen" unberührt zu lassen. Rupp kommt i n seinem Beitrag „Some remarks on Judicial Self-Restraint" 2 6 offensichtlich zur Ansicht, daß hier der eigentliche Inhalt der political-question-Doktrin zu suchen sei. Dieser Ansicht ist zuzugestehen, daß es sich i n den Anwendungsfällen der political-question-Doktrin häufig u m politisch kontroverse Fragen handeln wird. Unzutreffend ist aber sicherlich, wenn die D o k t r i n dadurch gekennzeichnet werden soll, daß sie eine generelle juristische Technik sei, welche es — ohne juristische Rechtfertigimg — erlaube, politische Fragen i n ihrem rechtlichen Aspekt ungelöst zu lassen. Die Rechtsprechung des Supreme Court erkennt die political-questionDoktrin an, und sie ist sicherlich nicht arm an Entscheidungen, i n denen i m politisch kontroversen Bereich rechtliche Urteile ergangen sind. Die oben beschriebenen Fallgruppen erscheinen differenziert genug, um der political-question-Doktrin Konturen zu verleihen, die genügend verfestigt sind, u m einen Mißbrauch zu verhindern. Sicherlich kann die D o k t r i n von einem entsprechend disponierten Gericht dazu benutzt werden, auch solche Fragen nicht zu entscheiden, welche verfassungsmäßig i n seinen Kompetenzbereich gehören. Aber auch diese allgemeine Gefahr ist keine Besonderheit der political-question-Doktrin. Ihre Anwendimg erfordert manchmal w o h l politisches Fingerspitzengefühl; generell ist sie aber nicht i n stärkerem Maße dem juristischen Mißbrauch ausgesetzt als andere Institute oder Interpretationsprinzipien. Die ablehnenden Ausführungen haltbar. 25 Vgl. Fn. 15.

Rupps erscheinen deshalb

nicht

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Die Ansicht Fields vom rechtsfreien Raum der political-questionDoktrin w i r d durch die Darstellung von Scharpf eindeutig widerlegt. Gerade dort, wo Rechtsnormen bestehen, findet die political-questionDoktrin Anwendung. Z u Scharpfs eigener Ansicht ist w o h l zu sagen, daß sie sich von der hier vertretenen klassischen Theorie nur i n Nuancen unterscheidet. Sie ist deshalb letztlich abzulehnen, w e i l i h r theoretischer Ansatz zur dogmatischen Erfassung der political-question-Doktrin — die Grenzen richterlicher Verantwortung — i m Zusammenhang m i t der i n Frage stehenden Doktrin eine petitio principii bedeutet. Scharpfs Antwort greift u m einen Schritt zu kurz. Dadurch verzichtet sie praktisch auf eine dogmatische Einordnung der political-question-Doktrin. Scharpfs Ansatz bietet zudem weniger die Möglichkeit zur Konkretisierung der Doktrin und zur Kategorisierung möglicher Anwendungsfälle als die klassische Theorie. Der Einwand Scharpfs gegen die klassische Theorie t r i f f t kaum zu. Scharpf lehnt die klassische Theorie deshalb ab, weil sie nicht erklären kann, weshalb i n einem einzigen Kompetenzbereich, z. B. der auswärtigen Gewalt, sowohl materiell-rechtliche als auch political-questionEntscheidungen ergangen sind 26 . Der political-question-Doktrin geht es aber nicht um den gesamten Kompetenzbereich, sondern spezifischer u m einzelne Aspekte der jeweiligen Bereiche. Bickels Analyse der political-question-Doktrin ist nur auf dem Hintergrund seiner dogmatischen Ausgangsposition zu verstehen. Wenn der Supreme Court, wie Bickel es annimmt, in der Tat einen weiten, relativ Undefinierten Bereich der Diskretion über Entscheidung oder NichtEntscheidung eines Falles hätte, dann wäre es sicherlich auch seine Aufgabe, die entsprechenden juristischen Techniken zu entwickeln. Die Frage bleibt aber, wie Bickels dogmatischer Ansatz m i t dem richterlichen Prüfungsrecht als solchem vereinbar ist. Schon i m Marbury case ist der Supreme Court nicht nur von einem Recht zur Prüfimg, sondern auch von einer entsprechenden Pflicht ausgegangen. M i t diesem Ausgangspunkt ist Bickels Grundposition letztlich w o h l nicht übereintsimmend. f) Anwendbarkeit

im GG

Ist somit der dogmatische Ort der political-question-Doktrin hinreichend genau beschrieben, so kann nun untersucht werden, inwieweit das Grundgesetz Raum für sie bietet. 2« Scharpf, S. 391.

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Der generelle Ansatz i n der political-question-Doktrin, die Verteilung der verschiedenen Funktionen auf verschiedene Organe, findet sich sicherlich auch i m Gewaltenteilungsschema des Grundgesetzes. Bedenken gegen die Anwendbarkeit der political-question-Doktrin i m Rahmen des Grundgesetzes könnten sich bei einer Betrachtung der umfassenden Rechtsschutzgarantie des Art. 19 I V GG ergeben. A r t 19 I V GG w i r d durch die D o k t r i n i n seinem verfahrensrechtlichen Aspekt nicht berührt, da die Klage nicht unzulässig wird. I m materiell-rechtlichen Bereich ist von der oben gewonnenen Erkenntnis auszugehen, daß sich das Gericht nicht einer Auslegung der Verfassung enthält, wenn es die political-question-Doktrin anwendet. Es kommt lediglich zum Schluß, daß die i n Frage stehende Regelung von der Verfassung nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern einem politischen Organ zugeordnet worden ist. Eine weitere Interpretation aber erfordert auch A r t . 19 I V GG nicht. Auch diese Vorschrift ist i n diesem Zusammenhang i m Gesamtsystem des Grundgesetzes, also auch i m Rahmen der Gewaltenteilung, zu sehen. Da die Gewaltenteilung aber eine Kompetenzverteilung auf verschiedene Organe zum Inhalt hat, kann A r t . 1 9 I V nicht dahingehend interpretiert werden, daß sich die Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzlich alle materiellen Entscheidungen vorbehält. Z u einem beträchtlichen Teil sind diese Gedanken bereits i n die Lehre vom Ermessen eingegangen; die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zum Gnadenrecht 27 kann letztlich ebenfalls nur auf diesem Hintergrund verstanden werden. Auch i n diesen Fällen schließt sich das Gericht, zumindest teilweise, dem U r t e i l eines anderen Organs an, ohne es materiell nachzuprüfen. Die Einwände, die gegen eine Anwendbarkeit der political-questionDoktrin i m Rahmen des Grundgesetzes vorgetragen worden sind, überzeugen demgegenüber nicht. Wenn Leibholz 2 8 dagegen geltend macht, die political-question-Doktrin bedeute ein Ausweichen vor der Entscheidimg, so hat er damit — wie w i r oben gesehen haben — Unrecht, wenn er meint, das Bundesverfassungsgericht könne bei der Anwendung der political-question-Doktrin jeweils opportunistisch entscheiden, ob es die Sachfrage beurteilen w i l l oder nicht. Leibholz verweigert an diesem Punkt die staatstheoretische Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die er sich andernorts bezogen hat 2 9 .

27 Vgl. BVerfGE 25, 352. 28 Leibholz, W d S t R L 20, 118. 29 Vgl. Statusbericht.

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Draht ist der Ansicht, daß A r t . 59 GG zeige, daß die political-question Doktrin für das Grundgesetz nicht anwendbar sei 30 . Eine nähere Begründimg gibt Draht für diese These nicht. Wenn er damit meint, daß Art. 59 I I GG zeige, daß das Bundesverfassungsgericht die Kompetenzeinteilung überwachen muß, so t r i f f t dieser Hinweis die Anwendbarkeit der political-question-Doktrin nicht. Die Doktrin kann — bei zutreffendem Verständnis — nicht dazu benutzt werden, Kompetenzkonflikten aus dem Wege zu gehen. Scharpf 31 hat dies für die Rechtsprechung des Supreme Court überzeugend dargetan und m i t Recht darauf hingewiesen, daß die political-question-Entscheidung i n einem Falle des Kompetenzstreits keine „Nicht-Entscheidung", sondern eine verfassungsrechtliche Sachentscheidung wäre, die von der politicalquestion-Doktrin nicht getragen würde. Friesenhahn hat sich ohne nähere Gründe gegen die Anwendbarkeit der political-question-Doktrin i m System des Grundgesetzes ausgesprochen 32 . Scharpf scheint die Anwendung der political-question-Doktrin für das Grundgesetz zu befürworten. Daß sich das Problem dogmatisch auch unter dem Grundgesetz stellt, hält Scharpf ausdrücklich fest 33 . Seine Schlußausführungen lassen w o h l auch keinen Zweifel daran, daß er die Anwendung der political-question-Doktrin auch i n Deutschland begrüßen würde 3 4 : „Eine so durch sachliche Notwendigkeiten bedingte und begrenzte und den Kernbereich der Verfassungsjudicatur nicht tangierende Rechtsprechung kann, so wird man abschließend feststellen dürfen, die Legitimität des richterlichen Prüfungsrechts nicht in Frage stellen. Sie kann auch nicht zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Theorie der richterlichen Selbstbeschränkung gemacht werden. I n der political-question-Doktrin respektiert das Gericht die Grenzen, jenseits derer es eine Entscheidung nicht mehr verantworten könnte oder nicht zu verantworten braucht. Nicht mehr — aber auch nicht weniger."

Ergibt sich aus unseren obigen Erörterungen, daß die politicalquestion-Doktrin auch i m System des Grundgesetzes anwendbar ist, so soll schließlich noch untersucht werden, wo die staatstheoretischen Vor- und Nachteile der political-question-Doktrin liegen. g) Staatstheoretischer

Wert

Gegenüber einer Ermessensentscheidung liegt der Unterschied einer political-question-Entscheidung zuerst einmal darin, daß die Frage so 31 32 33 34

W d S t R L 20, 127. Scharpf, S. 412. W d S t R L 20, 121. Scharpf, S. 350, Fn. 145. Scharpf, S. 417.

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der Ermessensgrenzen bei der political-question-Doktrin nicht auftritt, da die jeweilige Frage nach der Doktrin jeweils exklusiv dem politischen Organ zugeordnet worden ist. Schneider 36 hat schon frühzeitig auf die enormen Schwierigkeiten hingewiesen, die sich bei einer strikten Anwendimg der Ermessenslehre ergeben, wenn das Gericht i m Bereich anderer Staatsorgane tätig w i r d : das politische Organ muß seine Motive i n vollem Umfang darlegen, und das Gericht muß sie i n völliger Beherrschung der Materie auf ihre Sachbezogenheit nachprüfen. Abgesehen von der prozessualen Schwierigkeit des Gerichts, die Motivationslage i m einzelnen zu ermitteln, w i r d dem Gericht auf diese Weise zugemutet, daß es — m i t mehr Fachverstand als das politische Organ — darüber urteilt, welche Motive und Schritte der Sache angemessen sind. Insofern liegt hier sicherlich ein Vorteil der politicalquestion-Doktrin gegenüber der Ermessenslehre, wenn das praktische Urteil ganz dem politischen Organ überlassen wird. Der Einwand, daß auf diese Weise die Grenzen des Ermessens nicht mehr erfaßt werden können, schlägt demgegenüber nicht durch. Er w i r d oft getragen von einem tiefen Mißtrauen gegenüber den politischen Organen. Sicherlich hat dieses Mißtrauen i n unserer Zeit reale Gründe Diesen kann aber nicht dadurch wirksam begegnet werden, daß man i n justizieller Form den politischen Prozeß kontrollieren w i l l , wo er von der Verfassung als solcher vorausgesetzt und gefordert wird. Bereits die prozessualen Schwierigkeiten bei der Motivationsermittlung machen die Ermessenslehre i n den fraglichen Fällen zu einem wenig geeigneten Instrument der politischen Kontrolle. Schwerer und entscheidender ist aber, daß i n den Anwendungsfällen der politicalquestion-Doktrin der politische Sachverstand — die Frage nach der Relevanz eines Motivs — von der Natur der Sache her den politischen Organen überlassen werden sollte. Ist schon aus dieser Sicht die political-question-Doktrin wünschenswert, so w i r d ihr staatstheoretischer Wert noch dadurch verstärkt, daß sie i m Gegensatz zu einer Ermessensüberprüfung nicht den oben beschriebenen „Legitimierungseffekt" hat. Indem das Gericht bei Anwendung der Ermessenslehre die Entscheidung substantiell überprüft, ist m i t dem Ausspruch der Verfassungsmäßigkeit auch immer die politische Stellung desjenigen Organs verstärkt, welches die Entscheidung getroffen hat. Gerade aber i m Sachbereich der political-question-Doktrin w i r d es sich oft u m politisch kontroverse Fragen handeln, deren freie öffentliche Austragung wünschenswert erscheint. 35 Schneider, Der gerichtsfreie Hoheitsakt, S. 33 ff.

2. Die Rolle der Öffentlichkeit in der Verfassungsinterpretation

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Wägt man abschließend staatstheoretisch die Vor- und Nachteile der political-question-Doktrin ab, so zeigt sich ein deutliches Übergewicht zugunsten der Anwendung der Doktrin. Dem — i n Wirklichkeit wegen prozessualer Schwierigkeiten oft nicht vorhandenen — Vorteil der Überprüfung der Ermessensgrenzen i n der Ermessenslehre stehen bei der Anwendung der political-question-Doktrin die schwerer wiegenden Aspekte der „richtigen" Plazierung des politischen Sachverstandes und das wichtige Vermeiden des Legitimierungseffekts gegenüber. Die Anerkennung der political-question-Doktrin stellt einen wichtigen Beitrag zur praktischen Anerkennung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. I m Sinne unserer obigen theoretischen Ausführungen ist sie eine interpretationsmäßige Ausformung der systematischen Erkenntnisse zur staatstheoretischen und staatsrechtlichen Stellung des Bundesverfassungsgerichts. 2. Die RoUe der Öffentlichkeit in der verfassungsgerkhtlichen Interpretation Der zweite Aspekt i n bezug auf Interpretationsfragen beschäftigt sich mit der Erkenntnis, daß der politische Spielraum — i m Sinne einer weiten Gestaltungsfreiheit — dem Bundesverfassungsgericht oft verschiedene Auslegungen des Grundgesetzes ermöglicht, die letztlich jeweils auch von politischen Präferenzen bestimmt sind. Ehmke 3 6 hat hieran die Mahnung an das Bundesverfassungsgericht geknüpft, es solle sich eines eigenen politischen Vorverständnisses enthalten und sich dafür mehr nach dem „allgemeinen Konsens" richten. Kauper 8 7 zielt wohl i n dieselbe Richtung, wenn er den Supreme Court vor zu viel Subjektivismus warnt. Worum es hierbei letztlich geht, ist die oben erörterte Grenzproblemat i k i n den Fällen, i n den die politischen Organe und das Verfassungsgericht verschiedener Ansicht sind. Oben haben w i r gesehen, daß es i m Sinne einer Demokratietheorie gesund ist, wenn das Verfassungsgericht nur i n seltenen Fällen sein eigenes politisches U r t e i l zur Geltung bringt, i m wesentlichen liegt seine Aufgabe i m Bereich der formalen Demokratie. Hesse hat sich i n diesem Sinne dagegen gewandt, daß das Bundesverfassungsgericht für sich i n Anspruch nimmt, i n erster Linie für die Fortbildung des Verfassungsrechts — und damit der politischen Grundstrukturen — zuständig zu sein 38 . Ehmkes Vorschlag ist vom Ansatz her geeignet, die politische Funktion des Bundesverfassungsgerichts i m oben beschriebenen Sinne zu sc Ehmke, W d S t R L 20. 37 Kauper, Hybrid Organ, S. 581. 38 Hesse, Grundzüge, S. 24.

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

reduzieren, indem er die Interpretation der Verfassung auf eine breite öffentliche Grundlage stellen w i l l . Seine Darlegungen können nicht als strikte Interpretationsprinzipien aufgefaßt werden, hierzu sind sie zu wenig faßbar. Leibholz' V o r w u r f aber, daß sie wegen ihrer psychologisierenden Tendenzen unbrauchbar seien 89 , kann sie aber nicht treffen. Der erwähnte Spruch „TheSupreme Court follows the elections" bringt zum Ausdruck, daß sich der Supreme Court i n vielen Fragen immer wieder nach der öffentlichen Meinung umsieht und diese i n ihren Grundgedanken berücksichtigt. Darin liegt eine weise Beschränkung i m Selbstverständnis der politischen Funktion des Verfassungsgerichts i m Gemeinwesen. Sicherlich gibt es nicht i n jeder Frage eine ausgeprägte öffentliche Meinung und sicherlich braucht sich ein Verfassungsgericht nicht täglich an demoskopischen Umfragen zu orientieren. Dennoch entspricht es der strukturell-fimktionalen Rolle des Verfassungsgerichts, wenn es seine juristischen Interpretationen immer wieder am Maßstab der Grundströmungen der breiten Öffentlichkeit überprüft. W i r haben oben gesehen, daß es bei schweren, offensichtlich unheilvollen politischen Haltungen der Staatsführung eine wichtige Funktion des Verfassungsgerichts ist, die Allgemeinheit eindringlich zu warnen. Abgesehen von solchen Fehlentwicklungen aber verlangt die Synthese von Demokratie und Rechtsstaat, daß das Bundesverfassungsgericht die politische Meinimg der Staatsführung u n d der Öffentlichkeit respektiert u n d sie bei seinem notwendigen politischen Verständnis der Verfassung berücksichtigt. Als Beispiel für einen Anwendungsfall dieser Erkenntnisse sei hier auf das Parteienfinanzierungsurteil 40 verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil i n diesem Falle auf eine dogmatische Grundlage gestellt, i n dem es die Richtung des Willensbildungsprozesses von unten nach oben i n der Demokratie als Entscheidungsgrundlage genommen hat. Die weit verbreitete Ansicht, daß den Parteien i n der W i r k lichkeit innerhalb dieses Prozesses eine zentrale Funktion zukommt und zukommen soll, wurde dabei aus Gründen der politischen Gesamtkonzeption nicht berücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht hat i n diesem für das Gemeinwesen sehr bedeutsamen F a l l sein eigenes politisches Vorverständnis der Verfassung zugrundelegt, wiewohl es eine wenn zwar nicht eindeutige, aber doch erkennbare öffentliche Meinung gab, welche ein anderes Verständnis unseres Staatswesens hatte. Der Text der Verfassung wäre auch einer Entscheidung nicht i m Wege gestanden, die den Vgl. Fn. 28. 40 BVerfGE 20, 57.

3. Die Nichtigkeitserklärung als Grenze des Verfassungsgerichts

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Parteien ein größeres Gewicht bei der allgemeinen Willensbildung zugemessen hätte. Die Annäherung des Rechts an die soziologischen Verhältnisse wäre i n diesem Falle sicherlich nicht zum Nachteil des Gemeinwesens geschehen. Abschließend kann gesagt werden, daß die Interpretationsregeln i m hier angedeuteten Sinne weniger frei sind — oder frei sein sollten — als z. B. die eines Zivilgerichts; i n der Interpretation der Verfassung muß die oben erörterte Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n staatliche Gesamtordnung ihren Niederschlag finden. Aus diesem Grunde muß das politische Eigengewicht des Verfassungsgerichts, die Rolle seines politischen Vorverständnisses bei der Interpretation weitgehend zugunsten der Auffassungen der Öffentlichkeit und der Staatsführung reduziert werden. Diese Grundkonzeption ist nicht nur bei Fragen des staatlichen Aufbaus von Bedeutolg; sie betrifft ganz allgemein die Frage der verfassungsrechtlichen Interpretationsmethodik. Wenn z. B. der Begriff „Kunst" i n A r t . 5 GG ausgelegt werden soll, dann kann der Verfassungsrichter subjektiv seine eigenen Vorstellungen zurate ziehen, dann kann er auch den Rat von Experten hören, aber es ist auch i n einem solchen Falle eine legitime Frage von besonderem Gewicht, wie die Mehrheit der Bevölkerung i n der betreffenden Frage denkt. 3. Die Nichtigkeitserklärung als Grenze des verfassungsgerichtlichen Bereichs I n engem Zusammenhang damit die hier noch besprochen werden Verfassungsgericht i m Falle der dazu übergehen soll, seine eigenen näher zu entwickeln.

steht die letzte Interpretationsfrage, soll. Es geht dabei darum, ob das Nichtigkeitserklärung einer Norm Maßstäbe i n diesem Zusammenhang

Naturgemäß muß das Verfassungsgericht, wenn es die Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Norm untersucht, die Verfassung i m fraglichen Bereich auslegen und auf diese Weise i n gewisser Hinsicht auch minimale positive Vorstellungen über den angesprochenen Sachbereich vortragen. Davon ist hier aber nicht die Rede. Es handelt sich vielmehr darum, ob es die Aufgabe des Verfassungsgerichts sein kann, über die konkrete Erörterung der fragwürdigen Norm hinaus die Verfassung zu interpretieren und zu konkretisieren — und auf diese Weise die betreffende Gesetzesmaterie schon durch seine Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des bestehenden Zustands zu einem gewissen Grade festzulegen. Sicherlich ist es nicht immer leicht zu sagen, wo die Erörterung über die konkrete Norm aufhört und die darüber hinausgehende Konkretisierung anfängt. Dadurch ändert sich aber nichts an der generellen Frage. 8 Dolzer

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Nach den obigen theoretischen Erörterungen kann es über ihre Beantwortung wenig Zweifel geben. Indem das Verfassungsgericht seine eigenen Vorstellungen entwickelt, greift es zu einem Zeitpunkt i n den politischen Prozeß ein, i n dem die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Rechts und der politischen Lage wieder alleine beim Gesetzgeber liegt. Das Verfassungsgericht muß sich als Teil der dritten Gewalt darauf beschränken, unrechtmäßige Normen für verfassungsw i d r i g zu erklären. A n diesem Punkt endet seine Funktion i n bezug auf die Entwicklung des Rechts. Wenn es darüber hinausgeht, verläßt es den i h m staatsrechtlich zugeordneten Bereich. Die oben dargelegten Prinzipien demokratischer Theorie zeigen, daß es weder für das Gesamtwesen noch für das Verfassungsgericht selbst von Vorteil sein kann, wenn das Bundesverfassungsgericht i m Rahmen des Normenkontrollverfahrens über die notwendigen Ausführungen hinaus seine eigenen Auffassungen vorträgt und auf diese Weise den Spielraum der politischen Führung vor dessen erneuter Entscheidung einengt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht immer an diese Erkenntnis gehalten. I n den Fällen der Verfassungsbeschwerde auf Grund von Unterlassen des Gesetzgebers ist das Bundesverfassungsgericht gelegentlich dazu übergegangen, nicht nur das Unterlassen des Gesetzgebers zu rügen, sondern es hat auch i n differenzierter Form seine eigenen Vorstellungen von der Konkretisierung der Verfassungsnorm vorgelegt 41 . 4. Die abstrakte Normenkontrolle I m Bereich der institutionellen Ausformung des Bundesverfassungsgerichts sei hier an erster Stelle auf die Form der Normenkontrolle eingegangen. Diese geschieht bei uns dadurch, daß das Verfassungsgericht nicht über den F a l l entscheidet, sondern nur über die Rechtmäßigkeit der Norm. Der F a l l ist dann vom jeweiligen Instanzgericht unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu beurteilen. I m amerikanischen System entscheidet der Supreme Court nicht i n erster Linie über die Gültigkeit der Norm, sondern über den konkreten Fall. A u f den ersten Blick ergibt sich dadurch kein großer Unterschied, w e i l unser „Normenkontrollverfahren" i n den USA faktisch auch stattfindet, indem der Supreme Court über die jeweilige Gültigkeit der Norm i m Rahmen des konkreten Falles entscheiden muß. 41 Anderer Ansicht wohl Rupp-von Brünneck, in: Festschrift für Gebhard Müller, S. 355 ff.

4. Die abstrakte Normenkontrolle

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Dennoch besteht durch die verschiedene prozessuale Ausgestaltung ein gewisser Unterschied. I m wesentlichen kann dieser m i t einem Satz von Professor Freund umschrieben werden 4 2 : „Fragen von allgemeiner und abstrakter Natur stellen jenen Bereich gerichtlicher Entscheidungen dar, welche der Tendenz nach die am wenigsten zufrieden stellenden Ergebnisse mit sich bringen."

Freund bezieht diesen Satz speziell auf die verfahrensrechtliche Ausformimg des verfassungsgerichtlichen Prozesses. I m Hinblick auf die Trennung der Entscheidung über die Norm und der Fallentscheidung fährt Freund i n bezug auf das bundesrepublikanische System fort 4 8 : „Diese Ausgestaltungen (i. e. der Trennung von Fallentscheidung und Entscheidung über die Norm, R. D.) sind in nachteiliger Weise so eingerichtet, daß sie die Tendenz zur abstrakten Behandlung verfassungsrechtlicher Fragen nochmals verstärken; sie führen auch dazu, die Möglichkeiten des Verfassungsgerichts im Hinblick auf das Formulieren oder Vermeiden bestimmter verfassungsrechtlicher Fragen i m Gesamtzusammenhang des Falles zu beschneiden."

Die gemeinsame topische Struktur des deutschen und des amerikanischen Verfassungsrechts erlaubt i m angesprochenen Bereich i n der Tat einen sinnvollen Vergleich; Freunds Beurteilung der deutschen Situation ist i m wesentlichen sicher zutreffend. Vorsicht ist zwar geboten, wenn Freund auf die Möglichkeit des Ausweichens vor einer Frage Bezug nimmt. I m amerikanischen System hat der Supreme Court einen weiten Bereich der Diskretion, insofern als er durch verschiedene juristische Techniken einer sachlichen Betrachtung ausweichen kann 4 4 . Sicherlich hat dies Vorteile 4 5 , doch können gewisse Nachteile hier nicht übersehen werden: durch die weite Diskretion hat das Gericht die Möglichkeit, Sachfragen auszuweisen, die nach deutscher Auffassung i n den Kompetenzbereich gehören, i n dem es nach traditioneller Auffassung keine absolutia ab instantia gibt. Hier geht es jedoch nicht u m den Fall des Ausweichens, sondern u m die A r t und Weise der jeweiligen juristischen Betrachtung, welche die beiden prozessualen Ausgestaltungen jeweils der Tendenz nach mit sich bringen. Wenn das Gericht eine N o r m i m Rahmen eines konkreten Falles beurteilen muß, dann besteht — das ist w o h l auch der Kern der Argumentation Freunds — eine geringe Neigung dazu, den Fall „abstrakt", 42 Freund, A Supreme Court in Fedaration, S. 612. 43 0 p . cit. S. 617. 44 i m wesentlichen geht es dabei um den writ of certiorari, um standing, ripeness und mootness. 4ß Kutscher, in: Müller-Festschrift, S. 161, bedauert, daß es bei uns kein certiorari gibt.



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und damit i m Hinblick auf die politische Tendenz zu betrachten und zu beurteilen. Dies gilt m. E. schon deshalb, w e i l das Gericht dann zwangsläufig mehr „am Fall" argumentiert Wenn das Gericht, wie es bei uns i m Rahmen des Normenkontrollverfahrens der Fall ist, nur die Vereinbarkeit einer Norm m i t der Verfassung prüfen muß, dann steht es von der Ausgangsposition her i n einer ähnlichen Situation wie der Gesetzgeber. Damit w i r d aber auch die Gefahr größer, daß es zur „dritten legislativen Kammer" wird, w e i l es von der prozessualen Gesamtlage her leicht i n Versuchung kommen kann, sich selbst i n der Rolle des Gesetzgebers zu sehen und Betrachtungen anzustellen, die über den juristischen Bereich hinausgehen. I m einzelnen handelt es sich dabei u m schwer faßbare psychologische Momente, die sich w o h l für die Praxis weder genau beweisen noch widerlegen lassen. I m ganzen gesehen ist aber der Argumentation von Freund sicher zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, daß es die Verfassungsgerichtsbarkeit möglichst immer m i t konkreten Fällen zu t u n haben sollte, w e i l bei einer abstrakten Betrachtungsweise verfassungsrechtlicher Fragen allzuleicht die persönlichen Auffassungen der Verfassungsrichter zur Geltung kommen. Imboden 4 6 hat sich, aus etwas anderer Perspektive heraus, i m wesentlichen aber m i t derselben Begründung gegen das System der fallunabhängigen Normenkontrolle ausgesprochen. Vielleicht fallen die angegebenen Nachteile bei der konkreten Normenkontrolle nicht allzu schwer ins Gewicht. Immerhin entsteht dieses Normenkontrollverfahren ja i m Rahmen der Entscheidung eines konkreten Falles. Wenn das Verfassungsgericht dann über die Gültigkeit der Norm entscheidet, kann es sich immerhin den i n Frage stehenden Fall genau ansehen und seine Entscheidung i m Lichte dieses Falles durchdenken. Bickel hat den Vorzug des amerikanischen Systems einmal damit beschrieben, daß der Rahmen des Falles zuträglich sei für einen „sober second thought", eine erneute, nüchterne Betrachtung des Gesetzes. I m konkreten Normenkontrollverfahren ist die Ausgangslage des Bundesverfassungsgerichts der des Supreme Court zumindest insofern vergleichbar, daß es die konkreten Auswirkungen seiner Entscheidimg durch die Anwendung auf den schwebenden Fall genau überblicken kann. Der Tendenz nach ändert sich aber dadurch nichts daran, daß unser Normenkontrollverfahren durch seine Abstraktheit mehr zur politischen Betrachtung einer Norm beiträgt, als dies bei einer Entscheidung über die Norm i m Rahmen eines gewöhnlichen Prozesses der F a l l ist. 46 Imboden, Normenkontrolle und Normeninterpretation.

4. Die abstrakte Normenkontrolle

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Haben w i r also gesehen, daß beim konkreten Normenkontrollverfahren ein gewisser Bezug zu einem praktischen Fall die Abstraktheit etwas reduziert, so entfällt dieses Argument für das abstrakte Normenkontrollverfahren gänzlich. I m abstrakten Normenkontrollverfahren w i r d die Abstraktheit insofern auf den Gipfel getrieben, als das Bundesverfassungsgericht dort nicht aus Anlaß eines konkreten Falles entscheidet, sondern wegen abstrakter Zweifel eines Staatsorgans. Der Blick auf den konkreten F a l l ist dann nicht mehr möglich, die Argumentation „am Fall" ausgeschlossen. Sind mit der abstrakten Normenkontrolle schon alle jene Nachteile verbunden, die sich generell bei einer Trennung von Fallentscheidung und Normenprüfung ergeben, so kommt beim abstrakten Normenkontrollverfahren noch ein weiteres hinzu. I n diesem Verfahren w i r d das Bundesverfassungsgericht nicht von einer neutralen gerichtlichen Instanz aufgefordert, eine Norm auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, sondern ein politisches Organ gibt m i t seinem Antrag zu erkennen, daß die betreffende Norm aus seiner Sicht heraus verfassungsw i d r i g ist. Der Tendenz nach w i r d es sich dabei u m Sachgebiete handeln, an denen der Antragssteller politisch interessiert ist. I n den Fällen des abstrakten Normenkontrollverfahrens w i r d es auf diese Weise immer wieder vorkommen, daß das Bundesverfassungsgericht als letzter Ort für die Austragung politischer Meinungsverschiedenheiten betrachtet w i r d — nachdem die Entscheidung auf parlamentarischer Ebene bereits gefallen ist. Von der politischen Realität her steht das abstrakte Normenkontrollverfahren häufig i m Einzugsbereich des Politischen, den der Antragsteller auf das Bundesverfassungsgericht ausdehnt, u m seine Ansicht vielleicht doch noch durchsetzen zu können. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich auf diese Weise i n einer Situation, i n der es sich durch sein U r t e i l — i n rechtlicher Form — auf die Seite eines politischen Organes stellen muß, gegen ein anderes politisches Organ. Dieser Situation kann das Bundesverfassungsgericht i m abstrakten Normenkontrollverfahren nicht ausweichen, gleichgültig wie es entscheidet. Daß eine solche Prozeßlage den politischen Aspekt der Verfassungsgerichtsbarkeit stark akzentuiert, ist evident. Durch das Gegenüberstehen zweier politischer Opponenten i m Prozeß w i r d das Verfassungsgericht schon vom äußeren B i l d her i n den politischen Kampf hineingezogen. Für die Autorität des Gerichts bei den politischen Organen ist dies wenig zuträglich; für das allgemeine Ansehen des Gerichts in der breiten Öffentlichkeit kann sich eine solche Lage ebenfalls nicht vorteilhaft auswirken. Darüber hinaus besteht i n der Entscheidung über die Gültigkeit der Norm i n einer solchen Situation w o h l für jeden

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Richter die Versuchung, seine politische Herkunft, seine allgemeinen politischen Ansichten ins Spiel zu bringen. Nicht jeder Richter w i r d der Versuchung unterliegen, aber es kann auch anders sein. Die abstrakte Normenkontrolle ist aus diesen Gründen eine Prozeßform, welche der allgemeinen Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Staatsganzen unangemessen ist. 5. Die Organklage Die Organklage hat m i t dem abstrakten Normenkontrollverfahren gemeinsam, daß sie nicht vom Rechtsstaat gefordert wird. Ihre Existenz i m Grundgesetz kann nur i m Rahmen der historischen Situation des Jahres 1949 erklärt werden; damals waren die Mitglieder des Parlamentarischen Rates offensichtlich der Ansicht, durch die Organklage könne das harmonische Zusammenspiel der politischen Organe gefördert werden. Was oben für die abstrakte Normenkontrolle gesagt worden ist, t r i f f t zu einem gewissen Ausmaß auch auf die Organklage zu: durch eine Organklage w i r d das Verfassungsgericht — von der prozessualen Situation her — zwischen zwei politische Organe gestellt. Auch bei der Organklage w i r d es sich bei den Prozeßparteien meist u m politische Opponenten handeln. Die eben dargelegten Nachteile einer solchen Prozeßlage sprechen auch hier gegen die Organklage. Die Organklage stellt, mehr noch als die abstrakte Normenkontrolle, das Bundesverfassungsgericht mitten i n die politische Auseinandersetzung hinein. Dem Bundesverfassungsgericht als Institution ist damit sicherlich nicht gedient; noch verbessert sich durch die Existenz der Organklage der Stil der Auseinandersetzung der politischen Organe. Die Organklage fordert die politischen Organe geradezu heraus, die politische Auseinandersetzung an einem Punkt auf die juristische Ebene zu verlagern, an dem die politische Vernunft zu einem „internen" politischen Arrangement mahnen müßte. Hier soll nicht die Rede sein von den dogmatischen Schwierigkeiten, die hinter der Vorstellung liegen, daß ein Staatsorgan gegen ein anderes klagt; es sei lediglich darauf hingewiesen, daß diese Klageform i m internationalen Rechtsvergleich sehr selten anzutreffen ist. Die Praxis i n der Bundesrepublik hat seit 1962 nicht mehr auf die Organklage zurückgegriffen. Hier w i r d keinesfalls verkannt, daß die Kompetenzabgrenzung eine wichtige Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit sein kann; es geht nur darum, welche Prozeßform i m Hinblick auf allgemeinere staats-

6. Zuständigkeiten im Rahmen des Art. 18 GG und Art. 21 I I GG

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theoretische Gesichtspunkte hierzu am besten geeignet ist. Nach den theoretischen obigen Ausführungen w i r d deutlich, daß es gesünder ist, wenn die i n Frage stehende Maßnahme von einem betroffenen Individuum gerügt wird. Meistens w i r d es sich nämlich ohnehin um Maßnahmen m i t „Außenwirkung" handeln, welche i m Wege einer anderen Klageform vom Gericht nachgeprüft werden können. Es sind auch Fälle denkbar, i n denen kein Individuum berührt w i r d ; gerade i n diesen Fällen aber handelt es sich dann um den engen politischen Bereich, oft letztlich u m Fragen des politischen Stils. Hier aber kann es nicht zum Nachteil des Bundesverfassungsgerichts und des Gemeinwohls sein, wenn die Auseinandersetzung auf der politischen Ebene bleibt. Kauper 4 7 hat i n einer rechtsvergleichenden Arbeit darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht „is likely to be passed the buck", daß man i h m also jene unangenehmen Dinge zuschiebt, für die sich i m politischen Bereich nur schwer eine Lösung finden läßt. Die Organklage ist eine Prozeßform, welche diese Tendenz fördert. Das Mißtrauen gegenüber den politischen Organen, welches i n der Organklage zum Ausdruck kommt, ist nicht dazu geeignet, den Stil der Auseinandersetzung zwischen diesen Organen zu verbessern. Wenn man den politischen Organen nicht zutraut, daß sie ihre Beziehungen i n angemessener Form unterhalten und ihnen deshalb einen juristischen Weg zur Verfügung stellt, dann darf man auch nicht verwundert sein, wenn diese Organe i n der Tat zu juristischen Formen der Auseinandersetzung greifen 48 . Wenn man m i t dem obigen Ergebnis übereinstimmt, daß die politischen Tendenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit i m allgemeinen auf einem M i n i m u m gehalten werden sollten, so erscheint die Abschaffung der Organklage aus diesen Gründen als wünschenswert. 6. Die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten im Rahmen der Artikel 18 und 21 I I GG Das Grundgesetz hat sich dafür entschieden, zum Schutze der Demokratie den extremen politischen Parteien die Anerkennung zu versagen. Nach A r t . 21 I I GG sind solche Parteien verfassungswidrig, „die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden". 47 Vgl. Kapitel 2, B, Fn. 22. 48 Wildenmann, Die Rolle des BVerfG, hat in allgemeiner Form auf die Gefahr der self-fulfilling prophesy hingewiesen, wenn man den Politikern den Umgang mit der Macht entziehen will.

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4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Zum Schutze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hat sich der Parlamentarische Rat i n ähnlicher Weise entschlossen, demjenigen die Grundrechte abzusprechen, welcher sie i m Kampfe gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verwendet (Art. 18 GG). I n beiden Fällen hat nach bestehender Rechtslage das Bundesverfassungsgericht darüber zu entscheiden, ob eine Partei oder ein Individuum unter die beschriebenen Tatbestände fallen. Von der Auslegung der Verfassung her ergeben sich dabei insofern Schwierigkeiten, als der Inhalt des Begriffes „freiheitlich-demokratische Grundordnung" i n seinen Konturen nur schwer zu fassen ist. Bei der Interpretation dieses Begriffes ist es geradezu unerläßlich, i m Ansatz eine politische Theorie der Demokratie zu entwickeln, aus welcher dann die Rückschlüsse auf den Begriff „freiheitlich-demokratische" Grundordnung gezogen werden. Indes führt nicht nur die abstrakte Formulierung des zu schützenden Rechtsgutes das Bundesverfassungsgericht an den äußersten Rand seiner Möglichkeiten. Auch die Erfassung des zu beurteilenden Sachverhalts bedarf i n den Fällen der A r t . 18, 21 I I GG der Beurteilung hochpolitischer Faktoren. Welche Äußerungen von Individuen sind den Parteien noch zuzurechnen? I n welchen Elementen ist die politische Zweckrichtung i m Verhalten eines Individuums zu sehen, auf die es bei A r t . 18 GG ankommt? Fragen dieser A r t sind vom juristisch-technischen Standpunkt her nur sehr schwierig zu beurteilen. Aber auch wenn der Sachverhalt zutreffend ermittelt ist, ergibt sich i m Rahmen der A r t . 18, 21 I I GG noch das sehr diffizile Subsumtionsproblem. Welches Verhalten ist i m Rahmen des A r t . 21 I I GG noch als Protest zu bewerten, wo fängt dagegen der politische Kampf an? A n welchem Punkt schlägt der i m Rahmen der Demokratie übliche politische Kampf um, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung" i m Sinne des A r t . 21 I I GG zu gefährden? Die juristisch-technischen Regeln reichen zur Beantwortung der i m Rahmen der beiden Tatbestände und ihrer Anwendung auftauchenden Frage oft kaum aus. Vielmehr erfordert die Erörterung der beiden Tatbestände, zumindest i n einzelnen Aspekten, i n abstrakten und i n konkreten Fragen das Vorhandensein eines politischen Gesamtkonzepts. Indem diese aber vom Bundesverfassungsgericht gefordert ist, w i r d i h m ein Maß an politischer Verantwortung aufgebürdet, das für die dritte Gewalt kaum wünschenswert sein kann. Der Zuschnitt der allgemein i m Rahmen von A r t . 18 und 21 I I GG auftretenden Fragen ist von einer A r t , die es nahegelegen erscheinen läßt, die Verantwortung mehr als i n der bisherigen Regelung der politischen Staatsführung der Exekutive zu übertragen 4 9 . Dies würde wohl am besten dadurch er40 Vgl. Schneider, N J W 1953, 802.

7. Einzelprobleme des § 31 BVerfGG

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reicht, daß der Verbotsausspruch von der Exekutive käme und vom Verfassungsgericht nachgeprüft werden könnte. Die Staatsführung hat auch jetzt schon einen gewissen A n t e i l an der Verantwortung für die Entscheidungen i m Rahmen der A r t . 18, 21 I I GG, indem sie darüber entscheidet, ob sie einen entsprechenden Antrag stellt. Ohne einen solchen Antrag kann kein Verfahren eröffnet werden. Nach der herrschenden Meinung 5 0 handelt es sich bei der Frage nach der Verpflichtung für das Stellen des Antrags u m eine Ermessensentscheidung. Für A r t . 18 dürfte dasselbe wie für A r t . 21 I I GG anzunehmen sein. I m Sinne einer politischen Entlastung des Bundesverfassungsgerichts wäre es wünschenswert, wenn die Beteiligung der Staatsführung vom Erfordernis der Antragsstellung auf die eigentliche Entscheidung ausgedehnt würde. Die Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts würde sich dann darauf beschränken, ob die Exekutive i h r Ermessen pflichtgemäß angewandt hat. Das Mißtrauen gegenüber der politischen Staatsführung, welches i n der derzeitigen Kompetenzregelung zum Ausdruck kommt, ist nur auf dem Hintergrund der historischen Erfahrung zu verstehen; aus heutiger Sicht erscheint es überspannt. A r t . 18 und A r t . 21 I I GG sind wohl die beiden Fälle, i n denen am augenfälligsten wird, daß die historische Situation der Väter des Grundgesetzes gelegentlich dazu geführt hat, politische Verantwortung i n allzu hohem Maße von der Staatsführung wegzunehmen und sie der Verfassungsgerichtsbarkeit zuzuschlagen. (Durch die hier vorgeschlagene Regelung wäre auch eine flexiblere Handhabung des Parteienverbots möglich. Unter der bestehenden Regelung bedingt die Bindungswirkung von § 31 BVerfGG, daß ein einmal ausgesprochenes Parteienverbot nicht mehr zurückgenommen werden kann. Da die Frage des Parteienverbots von der jeweiligen gesamtpolitischen Situation mitbeeinflußt wird, wäre es angemessener, die sich verändernden politischen Umstände bei der Uberprüfung eines Parteienverbots berücksichtigen zu können. Der obige Vorschlag würde dies ermöglichen.) 7. Einzelprobleme des §31 BVerfGG Schließlich sei hier noch auf einen Problembereich hingewiesen, der unter den oben erörterten Gesichtspunkten ebenfalls eine besondere Bedeutung erhält: die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG.

so Vgl. Maunz-Siegloch-Bleibtreu-Schmidt,

Klein,

Nr. 8 zu § 43.

122

4. Kap.: Zur besonderen Grenzproblematik des BVerfG

Hier kann nicht die gesamte, teils sehr schwierige rechtspolitische Problematik dieser Norm dargestellt werden. (Sie ist wohl vom Wortlaut her die unglücklichste des Gesetzes.) Es sei lediglich darauf hingewiesen, daß der politische Akzent i n der Tätigkeit des Verfassungsgerichts hier insofern besonderer Berücksichtigung bedarf, als die Bindungswirkung so flexibel gehandhabt werden muß, daß sie eine „Lähmung des Verfassungsrechts" 61 und somit auch der politischen Szenerie verhindert. Daraus ergibt sich i m wesentlichen i m Hinblick auf § 31 BVerfGG die Forderung, daß eine Selbstbindung des Verfassungsgerichts i n möglichst weitem Umfang verneint werden muß. Das Bundesverfassungsgericht muß die Möglichkeit haben, frühere Entscheidungen i m Lichte neuerer Erkenntnisse oder neuerer Entwicklungen zu überprüfen und abzuändern. Die Rechtssicherheit w i r d auf diese A r t und Weise vermindert; dieser Preis muß aber u m der Möglichkeit einer jeweils die politischen Lebensverhältnisse berücksichtigenden Verfassungsrechtsprechung bezahlt werden. Die dogmatische Schwierigkeit, daß das Bundesverfassungsgericht auch ein Staatsorgan ist und — dem Wortlaut von § 31 BVerfGG entsprechend — auch an seine Entscheidung gebunden sein könnte, muß m i t dem Hinweis auf die besondere Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Verflechtung m i t dem politischen Leben überwunden werden. Einer der Fälle, i n denen diese Erkenntnis zum Ausdruck kommen muß, liegt vor, wenn es darum geht, ob das Verfassungsgericht eine früher von i h m als verfassungsmäßig anerkannte Norm nochmals überprüfen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber noch keine Entscheidung getroffen, sondern diese Frage ausdrücklich offengelassen 62 . Die oben dargelegten Zusammenhänge sprechen dafür, eine erneute Überprüfung zuzulassen. Dieselbe Problemstellung ergibt sich auch i m Rahmen der Frage, inwieweit der Gesetzgeber ein Gesetz erlassen darf, welches früher vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet worden ist. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber nach § 31 BVerfGG an die frühere Entscheidung des Verfassungsgerichts gebunden. Dennoch muß — ebenso wie i m ersten Fall — dem Bundesverfassungsgericht ermöglicht werden, i m Lichte der sich verändernden Lebensumstände eine Fortent-

Zeuner, DÖV 1955, S. 340. 52 BVerfGE 20. 56. 87.

7. Einzelprobleme des § 31 BVerfGG

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Wicklung des Verfassungsrechts festzustellen und das betreffende Gesetz nunmehr als rechtmäßig anzuerkennen. Aus diesem Grunde muß auch dem Gesetzgeber das Recht zugesprochen werden, ein früher als verfassungswidrig deklariertes Gesetz neu zu erlassen.

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