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German Pages IX, 221 [198] Year 2010
Wolfgang Wildgen Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts Versuch einer Bilanz
Wolfgang Wildgen
Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts Versuch einer Bilanz
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022850-2 e-ISBN 978-3-11-022851-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Wildgen, Wolfgang. Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts : Versuch einer Bilanz / by Wolfgang Wildgen. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022850-2 (hardcover : alk. paper) 1. Linguistics – History – 20th century. I. Title. P77.W55 2010 410'.9'04 – dc22
2010022767
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / New York Einbandabbildung: Leonardo da Vinci: Illustration zu „De Divina Proportione” von Luca Pacioli. Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig, www.da-tex.de Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meiner Frau zu unserem 40. Hochzeitstag und meiner Mutter zu ihrem 90. Geburtstag
Inhaltsverzeichnis 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts? Wozu eine Bilanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skizze der Gesamtentwicklung der Sprachwissenschaft von der Antike bis Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlinie der Entwicklung einer Wissenschaft der Sprache von der Antike bis in die Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innovative Entwicklungen vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Skizze) . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die romantische Sprachwissenschaft der Brüder Grimm und die Konstitution einer Deutschen Sprachwissenschaft . . . . . . . . . Exkurs: Die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts (am Beispiel von Karl Ferdinand Becker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachwissenschaft im Feld der neuen (Natur-)Wissenschaften . . Vorstrukturalistische Reflektionen bei William Dwight Whitney (1827–1894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachwissenschaft zwischen Psychologie und Kulturanthropologie (bei Brugmann und H. Paul) . . . . . . . . . . . Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die originalen Schriften von Ferdinand de Saussure . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Vergleich mit dem „Cours“ von 1916 . . . . . . . Beiträge des System-Gedanken von F. de Saussure zur Lexikologie und Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung zu den Begriffen „strukturell“ und „Strukturalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeiten von N. S. Trubetzkoy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Werk Roman Jakobsons (im Überblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikalische „Bedeutung“ bei Jakobson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische „Bedeutungen“ bei Jakobson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jakobson als Semiotiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jakobson als Literaturtheoretiker: die poetische Funktion . . . . . . . . . .
1 7 7 10 12 15 18 20 21 25 26 30 31 33 34 35 39 41 42 44 44
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VIII 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6 6.1 6.2
Inhaltsverzeichnis
Der Kopenhagener Strukturalismus (Hjelmslev) und die Einführung strukturalistischer Methoden in die Grammatik des Deutschen (Weisgerber, Glinz) . . . . . . . . . . . . Die formale Syntax von Jespersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Louis Hjelmslev – Kasustheorie 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Louis Hjelmslev – Prolegomena 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Leo Weisgerber: Inhaltsbezogene Sprachanalyse . . . . . . . . . . . Exkurs: Glinz – „Die innere Form des Deutschen“ und der Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 47 50 53 55 57
6.3 6.4 6.5
Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen . . . . . . . . . . . . . Die historische Stellung von Tesnière . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassische Vorgänger der Dependenz-Relation (Valenz) in der Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charles Sanders Peirce und die Logik der Valenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Tesnières Valenzgrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Valenz und Dependenz im Kontext neuerer Entwicklungen . . . . . . . .
7 7.1 7.2
Edward Sapir und die amerikanische Ethnolinguistik . . . . . . . . . . . . 74 Edward Sapirs Monographie „Language“ (1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
8 8.1 8.2
Bloomfield und der Amerikanische Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . Leonard Bloomfield: Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Axiomatik der linguistischen Grundbegriffe in Bloomfield (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bloomfields Hauptwerk „Die Sprache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonologie oder praktische (angewandte) Phonetik . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syntax-Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Analyse von Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Amerikanische Deskriptivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.4 9
60 60 63 64 66 72
81 82 84 85 86 86 88 89 91
Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 9.1 Textanalyse und Transformation bei Z. S. Harris . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 9.2 Mathematische Linguistik im Stil von Harris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 9.3 Harris als politischer Intellektueller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 9.4 Die transformationelle Grammatik von Noam Chomsky . . . . . . . . . . 101 9.4.1 Die Anfänge bis zur Publikation von Syntactic Structures (1957) . . . . 102 9.4.2 Argumentationsskizze zum Buch „Syntactic Structures“ und Überlegungen zu dessen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
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Inhaltsverzeichnis
IX
9.4.3 Exkurs: Die „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ und die Grammatik des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 9.4.4 Weitere Entwicklungen nach 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9.5 Chomsky als politischer Intellektueller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung . . . . . . . . . . . . . . . 120 Die Erfassung der sozial bedingten sprachlichen Variation (Labov) . . . 120 Nachbarschaftsnetze und sprachliche Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . 124 Sprachvariation und Sprachwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Bernsteins Codetheorie: Entwicklung und Kontexte . . . . . . . . . . . . . 129 Soziolinguistische Gesprächsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
11
Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus: Greimas und Halliday . . . . . . . . . . . . 133 11.1 Die strukturale Semantik (Greimas): Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . 134 11.2 Das semiotische Quadrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 11.3 Die systemisch-funktionale Grammatik von M. A. K. Halliday . . . . . . 141 12 12.1 12.2 12.3 12.4
Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik . . . . . . . . 146 Kognitive Modelle und Metaphern (Lakoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Konstruktionsgrammatik, Korpusanalysen und der Spracherwerb . . . . 152 Die Raum- und Prozess-Semantik (Talmy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Kognitive Bildsemantik (Langacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
13
Neurolinguistik, Biolinguistik, Protosprache und Selbstorganisation: Perspektiven für das 21. Jahrhundert . . . . . . 160 Neurokognitive Modelle der Sprache und Grammatik . . . . . . . . . . . . 160 Biolinguistik und die genetische Basis der Sprachfähigkeit . . . . . . . . . 165 Die Wiederaufnahme der Sprachursprungsdebatte: Gab es eine Protosprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Von der biologischen zur kulturellen Selbstorganisation . . . . . . . . . . . 173 Einige langfristige Tendenzen und Ausblicke für die Zukunft . . . . . . . 179
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 14
Anhang: Tendenzen der Mathematisierung in der Linguistik des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
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1 Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts? Wozu eine Bilanz? In der Gegenwart wird Wissenschaft weitgehend als etwas ewig Junges, ständig Voranschreitendes, das Vergangene hinter sich Lassendes gedacht. Ein Zurückblicken, um sich des Fortschrittes zu vergewissern, scheint überflüssig und ein Vorausblicken nutzlos. Der aktuelle Stand des Wissens scheint nur von kurzer Dauer zu sein, denn neues, besseres Wissen löst das vorherige unwiederbringlich ab. Die Halbwertzeit wissenschaftlichen Fortschritts wird ständig kürzer; war es früher eine Frage des Generationenwechsels (also 30–40 Jahre), so verschwinden Fachbücher heute bereits nach fünf aus den Regalen der Buchhandlungen und Restauflagen werden nach 7–10 Jahren makuliert. Im InternetZeitalter werden Entdeckungen (soweit sie überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich werden) schon ins Netz gestellt, bevor sie gesichert sind. Professoren sollen ewig 35jährig sein und Nobelpreise für 60jährige lösen Befremden aus. Was nützt also Wissenschaftgeschichte? Kann Wissenschaftsgeschichte den Gang der Dinge beeinflussen, können wir aus ihr lernen? Bei Geschichte denkt man zuerst an gesicherte Fakten. Welche Schlachten gewann (wann, wo) Alexander der Große, Cäsar oder Karl der Große? Wenn stattdessen nähere Ereignisse, so der letzte Weltkrieg, der Vietnam-Krieg oder die noch anhaltende Wirtschaftskrise befragt werden, treten häufig Meinungen, politische Positionen an die Stelle von Fakten. Wie Bruno Latour (2007: 163 f.) feststellt, befasst sich die Wissenschaftsgeschichte / -soziologie / -wissenschaft am liebsten mit Positionen, die überwunden wurden. Sie blickt quasi von der Höhe der gegenwärtigen Wissenschaft nach unten. Insbesondere bei den Naturwissenschaften, der Mathematik oder der Technik muss ein Geisteswissenschaftler, der Wissenschaftsgeschichte betreibt, mit Widerstand, Protest oder Hohn rechnen, falls er die aktuelle Wissenschaft hinterfragt, ihre Auswahl- und Erfolgsbedingungen aufzuklären versucht. Das dominante Beschreibungsmuster geht vom erfolgreichen Paradigma aus; allerdings dauert es wie im Falle des Copernicus Jahrhunderte bis eine Innovation in die universitären Curricula Eingang findet und auch 150 Jahre nach Darwins Schrift gibt es in vielen Teilen der Welt Widerstände gegen seine bzw. die weiterentwickelte Evolutionstheorie. Unter den Heroen der Wissenschaft wie Copernicus, Galilei, Descartes, Newton, Darwin, Einstein erscheinen quasi im Übergang zur Hölle die „Dunkelmänner“, welche ihre Fortschritte aufzuhalten versuchten (die Inquisition, die Scholastiker usw.). Die Hierarchie
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Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts?
wird auf dem gegenwärtigen Stand der Disziplin, z. B. der Physik etabliert; jene Menschen, die etwas eingeführt haben, was Teil des gegenwärtigen Wissens geworden ist (und als solches noch ausgezeichnet ist) werden als Wegbereiter anerkannt und posthum geadelt.1 Dieses Muster, das man das „Johannes-derTäufer-Syndrom“ nennen mag, ist aber auf Wissenschaften, die erst 150 Jahre alt sind, wie die meisten im 19. Jh. konstituierten Wissenschaften (Biologie, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie) schlecht anwendbar und degeneriert leicht zu einer public relations-Masche. Jeder ehrgeizige Innovationsversuch, und die Versuche mehrten sich, sucht nach Wegbereitern, welche das neue Evangelium vorbereitet haben. Im Gegensatz zur Geschichte der Naturwissenschaft wird der Erfolg gar nicht abgewartet, es wird vielmehr durch die Nennung von Wegbereitern suggeriert, dass sich dieser Erfolg notwendigerweise einstellen muss. So konstruiert Chomsky (1966) kurz nachdem sein Modell eine gewisse Konsolidierung und Verbreitung gefunden hatte, eine Vorbereitung durch Descartes (genauer die Port-Royal-Grammatik) und Humboldt. Eine Schar von Nachahmern fand bald zahlreiche Vorbereiter der generativen Bewegung ab der Neuzeit (nach dem „dunklen Mittelalter“). Die Geschichte der Sprachwissenschaft wurde gerade durch diese teilweise zweifelhaften Reinterpretationen zumindest quantitativ bereichert. Man kann den Erfolg dieser Vorreitersuche aber auch ganz anders interpretieren. Wie Giordano Bruno schon sagte: Es gibt nicht Neues unter der Sonne. Der Fundus an Themen und Einfällen ist insgesamt begrenzt, zumindest solange keine neue Technik Einblick in andere Welten gibt (wie das Fernrohr und das Mikroskop). Deshalb tauchen trivialer Weise manche Ideen immer wieder auf oder lassen sich bei entsprechender Interpretation als Varianten auffassen. Man sollte daraus lernen, dass ein willkürliches Wiedererkennen aktueller Themen bei früheren Autoren ebenso wie ein den eigenen Erfolgsabsichten dienender Nachweis berühmter Vorläufer keine lohnenswerte Aufgabe für den Wissenschaftgeschichtler darstellt. Aber kann man etwas aus der Wissenschaftsgeschichte lernen, was für die weitere Entwicklung wichtig ist? Kann man als Wissenschaftler Wissenschaftsgeschichte betreiben, ohne Eigenwerbung oder Werbung für eine Gruppe nahe stehender Kollegen zu betreiben? 1
Wie einseitig die Auswahl selbst in der Geschichte der Naturwissenschaften ist, kann anhand von Bruno und Kepler gezeigt werden (vgl. Wildgen, 1998a). Bruno war der entschiedenste Vertreter des Copernicanismus und wurde (u. a.) wegen seiner davon abgeleiteten Vielwelten-Lehre 1600 verbrannt. Aber erst Galiliei, der sich lange opportunistisch verhielt, seinen Copernicanismus verborgen hielt und schließlich (1633) abschwor, wird als Held in dieser Geschichte aufgeführt. Kepler, der in Prag Teil der Kultur der Spätrenaissance war und eine entsprechend manieristischen Schreib- und Denkstil pflegte, wird von Newton, der die von Kepler aufgestellten Gesetze der Planetenbewegung zur Grundlage nimmt, nicht erwähnt. Man musste dem modernen Typ von Wissenschaftler (wie er sich ab dem 17. Jh. herausbildete) entsprechen, um als Vor reiter Anerkennung zu finden.
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Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts?
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In diesem Buch wird der Schwerpunkt auf jene Entwicklungen gelegt, die (teilweise kontroverse) Positionen vertreten, die immer noch zur Debatte stehen, die also ein Potential für die Zukunft haben. Die Festlegung auf das 20. Jh. ist nicht zu eng zu sehen. Es gibt einen gewissen Konsens, dass der posthum erschienene „Cours“ von de Saussure einen Anfangspunkt bildet. Die Biographie Saussures verweist uns aber in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts; deshalb setzt das erste Kapitel mit dieser Vorgeschichte ein. Die großen Einteilungen der „strukturalistischen Schulen“ sind auch Konsens. Ich habe die Valenzgrammatik von Tesnière gesondert behandelt und zwei Schulen des späten Strukturalismus: Greimas und Halliday in einem Kapitel behandelt. Auch Harris und sein Schüler Chomsky werden zusammen behandelt; bei beiden werden auch die kultur- und gesellschaftskritischen Arbeiten miteinbezogen. Waren diese Richtungen hauptsächlich an Fragen der Grammatik / Lexik mit Erweiterungen zum Text interessiert, so wird in einem separaten Kapitel die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung in ihrer jüngeren Entwicklung vorgestellt. Sie ist noch nicht abschließend zu beurteilen; ihre Höhepunkte lagen aber zwischen 1966 und 1980, weshalb dieses Kapitel zwischen die Trans formationsgrammatik von Harris / Chomsky (grob ab 1950; Höhepunkt um 1970) und die Kognitive Grammatik von Lakoff / Langacker (ab 1980) eingeschoben wurde. Gerade bei Labov gibt es Annäherungsversuche aber auch Konflikte mit der generativen Grammatik; kognitive Aspekt bleiben aber marginal. Für das späte 20. Jh., das in seinen Wirkungen noch sehr präsent ist, war die Auswahl schwierig. Zwischen den Ansätzen von Chomsky und Lakoff, der sich in Lakoff (1987) gegen Chomsky und die Montague Grammatik2 absetzt, gibt es viele Zwischentöne (McCawley sprach einmal polemisch von „one million grammars“). Ich gehe nur in Nebenbemerkungen und Fußnoten auf parallele Bewegungen ein; 3 einige kognitive Modelle wie das Modell mentaler Karten von Fauconnier oder die Blending-Hypothesen von Turner und Brandt verbinden kognitive mit logischen Modellansätzen (vgl. Wildgen, 2008: Kap. 7 für eine nähere Behandlung). In den Schlusskapiteln diskutiere ich drei weiter greifende und deshalb zukunftsweisende Ansätze: Den Beitrag neurowissenschaftlicher Analysen, die Perspektiven evolutionstheoretischer (und genetischer) 2
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Für eine Anwendung der Montague Grammatik siehe Bartsch und Vennemann (1972) und Zifonun, Hoffmann und Strecker (1997: Bd. 2: Teil E). Da Montague und Nachfolger diese Grammatiken aber eher als Ausarbeitungen formaler Sprachen sehen, erscheint deren Behandlung besser in einer Geschichte der Logik (oder der Philosophie) aufgehoben zu sein. Von den funktionalistischen Modellen wird außer der Prager Schule (vgl. Kapitel 4) nur die „Systemic Functional Grammar“ von Halliday (vgl. Kap. 11.3) kurz dargestellt; weitere funktionalistische Ansätze sind die von André Martinet, Simon Dik und Talmy Givon. Zu nennen wäre auch die „Lexical Functional Grammar“ von Joan Bresnan und Ronald Kaplan und die „Relational Grammar“ von Edward Keenan, Paul Postal u. a. Die Skalen und Kontinua der letzteren werden in Kap. 7.1 kurz angesprochen.
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Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts?
Ergebnisse für die Sprachwissenschaft, sowie das Potential einer (mathematisch fundierten) Selbstorganisationstheorie der Sprache für die Linguistik (des 21. Jh.s). Die das 20. Jh. prägende Mathematisierung wird in einer kurzen Skizze im letzten Kapitel behandelt. Es gibt einige Bereiche, die in den meisten Einführungen in die neuere Sprachwissenschaft vorgestellt werden, aber hier eher am Rande behandelt werden. Dies sind zuerst Forschungsrichtungen, die ihre Entstehung anderen Disziplinen verdanken und deshalb im Rahmen der Geschichte dieser Disziplinen besser zu verorten sind. Dies sind die Sprechakttheorie und Pragmatik, die einen philosophiegeschichtlichen Hintergrund zum tieferen Verständnis benötigt. Auch die Erforschung des Spracherwerbs erfolgte seit Beginn dieses Jahrhunderts hauptsächlich in der beobachtenden und dann der experimentellen Psychologie (auch im Kontext früher kognitionswissenschaftlicher Ansätze bei Piaget). Da die Soziolinguistik wesentlich von Labov, der in einer linguistischen Forschungstradition (der Dialektologie und Sprachwandelsforschung) steht, betrieben wurde und da sie eng mit der Sprachkontaktforschung, die eine linguistische Disziplin ist, zusammenhängt, wurde dieser Richtung ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Textlinguistik ist aus anderen Gründen nicht in einem eigenen Kapitel behandelt worden. Sie taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf, teilweise schon im Rahmen traditionell philologischer Arbeitsrichtungen (z. B. in der „romantischen Sprachwissenschaft“), teilweise mit Bezug auf eine der in den Kapiteln dieses Buches dargestellten Richtungen; siehe Kapitel 4.4.4 (Jakobson), 9.1 (Harris), 10.5 (Labov), 11.3 (Halliday) und 12 (Talmy und Lakoff). Es handelt sich also eher um die Ausweitung der Methoden zur Beschreibung sprachlicher Strukturen auf Wort- und Satzebene auf den Text als um eine eigenständige und neue Forschungsrichtung des 20. Jh.s. Die Gefahr einer Manipulation zum Vorteil eigener Arbeiten oder Gruppen zugehörigkeiten ist natürlich schwer auszuschließen. Ich möchte deshalb zumindest meine Schwerpunkte und persönlichen Bezüge im Verlauf meiner Laufbahn offen legen. Ich habe mit dem Studium der Linguistik 1966 in München begonnen und dabei zuerst Vertreter der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft (auch der Indogermanistik) kennen gelernt. Indirekt über das Alter der Lehrer (bis 70 Jahre) und die verarbeitete Literatur wurde ein Bezug zur Linguistik seit 1910 hergestellt. In Köln (bei Hansjakob Seiler 1968–1970) erschloss sich mir der amerikanische Strukturalismus mit seinen Folgen bis Pike und in Bonn (bei Gerold Ungeheuer) die generative Grammatik, zusätzlich verschaffte mir der Linguistische Sommerkurs in Kiel 1968 einen Überblick zur jüngeren Linguistik-Szene und gab mir einen exzellenten Einblick in aktuelle Entwicklungen. Die mathematische Linguistik war mir in München (Informationstheorie und Logik) und in Besançon (bei Gentilhomme u. a.) nahe gebracht worden (wichtige Vertreter traf ich 1976 beim Sommerkurs zur mathematischen und computationellen Linguistik in Pisa). In Regensburg (ab 1970 bei Herbert Brekle und Franz von Kutschera) wurde mir die generative Seman-
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Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts?
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tik und die logische Semantik nahe gebracht und in meiner 1970 begonnenen Dissertation wählte ich den Ansatz von Labov als Ausgangspunkt, brachte später dann Methoden der Transformationsgrammatik von Harris und der Semantik von Montague zur Anwendung. In meiner Arbeit in Heidelberg (bei Wolfgang Klein am DFG-Projekt: Pidgin-Deutsch ausländischer Arbeiter) erprobte ich eine probabilistische generative Grammatik und Erzähl- bzw. Diskursanalysen. In meiner Habilforschung (ab 1976 in Regensburg) ging ich ganz andere Wege in Richtung topologisch-dynamischer Modellbildungen. Ich habe diese Ansätze erst im allerletzten Teilkapitel (13.3) kurz angesprochen. Im Frühjahr 1988 verbrachte ich sechs sehr lehrreiche Wochen am Institute of Linguistics der Universität Berkeley und konnte in Seminaren und Gesprächen mit Fillmore, Talmy, Lakoff, Kay, Zimmer, Slobin u. a. die Entwicklung der kognitiven Semantik verfolgen. In einigen Tagungen, die Per Aage Brandt organisiert hat und in der Sommerschule in Sion (Schweiz) traf ich mehrfach Talmy, Lang acker und Lakoff, so dass ich auch für die Darstellung in diesem Kapitel auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen kann. Philosophische Aspekte der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie wurden im Rahmen des „Zentrums Philosophische Grundlagen der Wissenschaften“ der Universität Bremen (dessen Mitglied ich seit 1983 bin) diskutiert und in Symposien des Zentrums öffentlich vorgestellt. Es gibt bereits eine Anzahl von Werken, die eine gute Einführung in die Geschichte der Sprachwissenschaft geben. Ich möchte exemplarische auf Arens (1969), Helbig (1974, 2002), Brekle (1985), Koerner und Asher (1995), Jungen und Lohnstein (2007) und natürlich das Handbuch zur Geschichte der Sprachwissenschaft (3 Bde) von Auroux u. a. (2000–2006) verweisen. Das Lexicon grammaticorum von Stammerjohann u. a. (1999) gibt jeweils einen kurzen Abriss von Leben und Werk wichtiger (verstorbener) Sprachwissenschaftler. Eine Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland seit dem Mittelalter bietet Gardt (1999). Dagegen ist meine Absicht weniger eine historiographische als eine Darlegung der historischen Grundlagen für die heutige und die zukünftige Sprachwissenschaft. Ziel ist es vorrangig, eine noch aktuelle Problemgeschichte des Fachs zu entwickeln, welche uns erlaubt, vorhandene Lösungsansätze zu überblicken und Trends aber auch Sackgassen oder schwierige, noch nicht beschrittene Wege zu diagnostizieren.4 Wenn im Titel von „Bilanz“ 4
Die Historiographie der Linguistik ist selbst zu einem etablierten Feld geworden und ich habe nicht die Absicht einen Überblick über diese Teildisziplin zu geben (also eine Geschichte der Geschichte der Sprachwissenschaft). Ich selbst wurde von Herbert Brekle auf die Historiographie aufmerksam gemacht und meine erste Publikation (gemeinsam mit Brekle) war der Geschichte der Phonetik gewidmet (vgl. Brekle und Wildgen, 1970). Einen ersten historiographischen Abriss der Semiotik und Linguistik aus einer speziellen Perspektive enthält Wildgen (1985b). Ende der 90er Jahre habe ich mich im Rahmen einer philosophischen Arbeitsgruppe intensiv mit dem gedächtnistheoretischen und semiotischen Werk Giordano Brunos auseinandergesetzt (vgl. Wildgen,
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Wozu eine Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts?
die Rede ist, so ist damit eine behutsame Rückschau mit der Tendenz, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, gemeint. Ein Gesamturteil wäre vermessen; immerhin kann ein großer Reichtum an Ideen, methodischen und empirischen Neuansätzen festgestellt werden. Einige Unterkapitel, die speziell auf die Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland bezogen sind oder exemplarisch Sonderentwicklungen behandeln, werden als Exkurs im Titel markiert. Die kurze Skizze der Mathematisierungsansätze in der Linguistik des 20. Jh.s (Kap. 14) wurde als Anhang gekennzeichnet, da keinerlei Vollständigkeit oder Ausführlichkeit beabsichtigt ist.
1998a). Weitere Schwerpunkte bildeten die Geschichte der kognitiven Linguistik (vgl. Wildgen, 2001) und die Rezeption der Sprachwissenschaft bei Cassirer (Wildgen, 2003a). Zur Metatheorie einer Historiographie der Sprachwissenschaft und Sprach philosophie siehe Wildgen (1998b).
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2 Skizze der Gesamtentwicklung der Sprachwissenschaft von der Antike bis Ende des 19. Jahrhunderts 2.1 Grundlinie der Entwicklung einer Wissenschaft der Sprache von der Antike bis in die Neuzeit Eine Wissenschaft der Sprache (Sprachwissenschaft bzw. Linguistik) im eigentlichen Sinn gibt es erst mit der Entstehung des heutigen Kanons der geisteswissenschaftlichen Disziplinen: Soziologie, Psychologie, Sprach- und Literaturwissenschaft u. a. Diese haben sich aus dem Verband der propädeutischen Lehrinhalte für die Fakultäten: Medizin, Recht, Theologie herausgelöst. Die vorher gültige Ordnung war die der „septem artes“, die sich in zwei Gruppen gliederten. Die „artes sermonicales“, d. h. Grammatik, Rhetorik, Dialektik bilden Hintergrund der heutigen Geisteswissenschaften, wobei Grammatik und Rhetorik in etwa den Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaft umfassen; die Dialektik entspricht der heutigen Logik (in einem weiten Sinn, der die forensische Logik, die mathematische Logik und die Psychologie der Gesprächsführung und des Gedächtnisses umgreift). Demnach ist vor dem 19. Jh. die Grammatik die hauptsächliche Vorgängerdisziplin der Sprachwissenschaft. In Teilbereichen der heutigen Sprachwissenschaft spielen die Erkenntnistheorie als Voraussetzung einer Sprachphilosophie, die Rhetorik als Basis einer Textwissenschaft und die Dialektik als Lehre des richtigen Schließens eine wichtige Rolle.1 Im Folgenden werde ich mich für eine Skizze der Entwicklung auf die Grammatik konzentrieren und dabei in besonderem Maße auf die Syntax, da diese im 20. Jh. von zunehmender Bedeutung wurde.2 Die Grammatik-Technik (Téchné grammatiké) ist hauptsächlich in der philosophischen Schule der Stoa (griechisch-römische Antike) entwickelt worden. Eine erste Synthese dieser Tradition enthält das Werk mit eben diesem Titel von Dionysios dem Thraker, der um die Wende von 2. zum 1. vorchristlichen Jh. gelebt hat. Bei ihm und bei seinen Kommentatoren findet sich auch die Trennung von Syntax (sýntaxis) und Synthese (synthesis). Erstere bezeichnet die Zusammenfügung von Wör1
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Für die sprachphilosophische Entwicklung seit der Antike verweise ich auf mein Buch von 1985 „Dynamische Sprach- und Weltauffassungen von der Antike bis heute“ (auf meiner Homepage ist eine leicht veränderte Fassung des vergriffenen Buches noch zugänglich: http: / / www.fb10.uni-bremen.de / homepages / homepagebyid.asp?id=34) und auf andere Arbeiten zur Historiographie der Semiotik und Linguistik (vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang der genannten Schrift auf meiner Homepage) Für eine klare Darstellung der Geschichte der Syntax siehe Thümmel (1993a).
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tern (Lexemen), die gleichzeitig gedacht werden und damit eine Ganzheit bilden. Letztere betrifft die Realisation einer solchen Ganzheit, z. B. unter einer Tonkurve, in einem Atemzug, zwischen zwei Pausen. Diese Trennung von intellektueller Struktur und aktualer Realisierung findet sich immer wieder bis heute (siehe die Unterscheidung von langue / parole bei de Saussure). Seit der Kategorienschrift des Aristoteles (4. vorchristliches Jahrhundert) wird bereits der negierbare / affirmierbare Satz als die besonders ausgezeichnete Ebene jeder Syntax betrachtet. Der Aussagesatz ist für den Aufbau einer Syllogistik, d. h. eines Systems von Schlussregeln, die aus Prämissen (Sätzen) eine Conclusio (Satz) ableiten, die notwendige Voraussetzung. Das Prinzip der Zusammenfügung gilt aber auch für den Übergang vom Laut zur Silbe, von der Silbe zum Morphem, vom Morphem zum Wort, vom Wort zum Syntagma (zur syntaktischen Gruppe unterhalb der Satzebene). Dabei wird auch bereits in der Antike unterschieden, ob bedeutungstragende Einheiten (Morpheme, Wörter, Syntagmen) oder Einheiten ohne eigene Bedeutung (Laute, Silben) zusammengefügt werden. Die moderne Trennung von Phonologie, Morphologie (Wortbildung) und Syntax spiegelt diese Einteilung wider. Spätestens seit dem spät-antiken Klassiker Priscianus (er wirkte im 6. Jh. n. Chr. in Byzanz) ist von den Beziehungen als dem wichtigsten Gegenstand der Syntax die Rede. Man dachte dabei im Rahmen der griechischen und lateinischen Grammatik hauptsächlich an Kasusbeziehungen, Flexionsendungen, Präpositionen und Konjunktionen.3 Mit dem Sprechen über Beziehungen wurde implizit auch deren Wertigkeit, d. h. die Frage, wie viele Elemente verbunden werden und eine Darstellungstechnik mittels Graphen eingeführt. Es dauerte aber lange, bis diese beiden Konsequenzen explizit ausgearbeitet waren. Die Tendenz zu dyadischen Beziehungen bzw. zu einer minimalen Anzahl von Einheiten, die in Beziehung zueinander stehen, bestand durchweg und ist bis in die Gegenwart zu beobachten, z. B. in der Syntax der unmittelbaren Konstituenten (immediate constituents = IC), auch IC-Syntax genannt. Die Architektur der Beziehungen kann am einfachsten durch Baumgraphen dargestellt werden, wobei die Richtung der Beziehung unterschieden werden kann (vgl. Thümmel, 1993a: 135). Charakteristisch für die Baumstrukturen ist der verzweigende und nicht-zyklische Charakter der Beziehungen. Erlaubt man dagegen gegenseitige (symmetrische) Beziehungen, erhält man Zyklen. Bei einer weiteren „Öffnung“ entstehen Netzwerke mit vielen Wegen. In der konkreten Grammatik-Debatte stellt sich z. B. die Frage, ob der Satz vom Subjekt (im Deutschen erstplazierte Nominalphrase im Nominativ) oder vom Verb regiert wird. Alle anderen Teile wären dann von ihnen abhängig. Falls beide Alternativen abgelehnt werden, muss entweder eine gegenseitige Abhän3
Wir werden in der Valenzgrammatik von Tesnière als Äquivalente dieser klassischen Begriffe die Termini: connexion und jonction antreffen.
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Grundlinie der Entwicklung einer Wissenschaft der Sprache
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gigkeit (d. h. ein Ring) angesetzt werden oder eine dritte (z. B. abstrakte Kategorie) muss als oberster Knoten eingesetzt werden. Eine ähnliche Konstruktionsproblematik ergab sich im 19. Jh. in der Strukturchemie (d. h. vor der Syntax-Debatte, die erst um 1930 einsetzte). Die logischen Modelle, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s für die Chemie entwickelt wurden, ließen sich relativ leicht auf die Grammatik übertragen. Dies taten als erste Charles Sanders Peirce (vgl. Wildgen, 1985b: Kap. 7.1) und später, wohl unabhängig von ihm, Tesnière (1959). Wir werden das Konzept der syntaktischen Valenz, das daraus entstand, in Kap. 6 genauer untersuchen. Vorerst wollen wir die grammatische Strukturmetapher des Baumgraphen und verwandte Metaphern betrachten. Die Baummetapher ist natürlich vom genealogischen Baum aber auch vom Baum des Wissens her bekannt. Bei Raymundus Lullus (1232–1316) wird der Stamm des Baumes zu den Wurzeln und zu den Ästen verzweigt, d. h. eigentlich ist die vollständige Strukturmetapher quasi-symmetrisch (das Wurzelwerk ist allerdings nicht strukturidentisch mit dem Astwerk). In der Grammatik-Technik treten weitere Strukturmetaphern auf (vgl. zur Metaphern-Semantik Wildgen, 2008: Kap. 3): –– Die Kastenstruktur (auf Wundt fußend von Mikuš 1947 eingeführt). Man spricht später auch von chinesischen Schachteln (vgl. zur Konstruktionsgrammatik von Fillmore, Wildgen, 2008: Kap. 6). –– Die Körperteil-Metapher. Man spricht vom Kopf einer Nominalphrase; das Kopf-Prinzip ist z. B. namensgebend für die „Head-driven-phrase-structure grammar“ (HPSG). Auch der klassische Begriff des Hauptwortes (Haupt~Kopf~Substantiv) mit der Konsequenz der Großschreibung im Deutschen benützt diese Metapher und der Begriff Satzglied geht von einer Körper-Metapher aus. –– Die Bekleidungsmetapher. Eine Grundstruktur, der nackte Körper, wird bekleidet (z. B. durch schmückende Beiwörter).4 In einem abstrakten Sinne ist von „investissement“ (Investierung; vgl. Greimas, 1966 / 1971: 165 ff.) der Variablen in einem Modell die Rede; d. h. die Werte, welche für die Variable eingesetzt werden, bekleiden diese. Die Bekleidungsmetapher (vestis = Kleidung) setzt eine Körpermetapher voraus. –– In der romantischen Sprachwissenschaft ist häufig vom Organismus der Sprache die Rede, damit werden quasi die organischen Metaphern (Pflanze, Körper, Bekleidung des Körpers) zusammengefasst. Es kommen aber dynamische Momente, wie das Wachsen, die Metamorphose, das Absterben hinzu. 4
Dieses Bild wird auch in den Gedächtnistheorien der Renaissance gebraucht (vgl. Wildgen, 1998a).
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Insgesamt zeigt die Geschichte der Grammatikschreibung einen langsamen Fortschritt von der Wortebene (Lexikologie) zur Satzebene (Syntax), wobei ein zentrales, schwieriges Problem die Beziehungen sind, die Komplexe von bedeutungstragenden Einheiten organisieren. Diese Beziehungen können außerdem statisch (als Möglichkeit im Denken) oder dynamisch (als Realisierung im Sprachgebrauch) betrachtet werden. Im 18. Jh. kommt die Ursprungsthematik, im 19. Jh. die Problematik der historischen Entwicklung hinzu.
2.2 Innovative Entwicklungen vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Skizze) Scherenschnittartig könnte man das 17. Jh. als das Jahrhundert des Rationalismus (René Descartes) und des Empirismus (Francis Bacon, John Locke) in der Erkenntnis- und Sprachtheorie bezeichnen. Aber es gab auch die Entwürfe zu einer universalen Sprache (John Wilkins in England) und die Gründung von Akademien und Sprachgesellschaften zur Pflege und Veredelung jener Nationalsprachen, die ab dem 16. Jh. eine nationalsprachige Literatur herausgebildet hatten. Auch über Sprachautomaten wurde zumindest spekuliert, d. h. wir finden bereits das ganze Spektrum moderner Fragestellungen in statu nascendi vor. Das 18. Jh. ist geprägt durch ein sich rasch vermehrendes Wissen über fremde Kulturen und Sprachen, das sich im Gefolge der Schaffung, Verwaltung und Kontrolle der Kolonialreiche (Portugals, Spaniens, Frankreichs, Englands, Hollands u. a.) angesammelt hatte, d. h. die Vielfalt von Sprachen und Kulturen der Erde wurde zum ersten Male bewusst gemacht. Ab Mitte des 18. Jh. stellten Condillac, Rousseau, Diderot, Maupertuis die Frage nach dem Sprachursprung und in diesem Zusammenhang nach der Sprache von Taubstummen und selbst von Tieren und regten eine internationale Diskussion dazu an. In Deutschland trug J. G. Herder mit seiner Preisschrift „Über den Ursprung der Sprache“ (1772) zu dieser Debatte bei. Die posthum 1765 publizierten „Nouveaux essais sur l’entendement humain“ von Leibniz (gestorben 1714) und die Arbeiten Herders und in seiner Nachfolge Wilhelm von Humboldts schlossen die Entwicklungen des 18. Jh. ab.5 Sie fanden im Verlauf des
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Für die Zeit vor 1800 sind besonders die Arbeiten der „Missionarslinguistik“ zu nennen, die z. B. im Rahmen der Bemühungen des Jesuitenordens eine Vielfalt von Erkenntnissen zu amerikanischen und asiatischen Sprachen und Kulturen erbrachte. Humboldt hat in Rom die Arbeiten von Lorenzo Hervás y Panduro (geb. 1735 in Horcajo de Santiago, La Mancha, gestorben 1809 in Rom) rezipiert. Dieser hatte versucht, den Ertrag der Missionarslinguistik zusammenzufassen; er blieb allerdings in der Frage des Sprachursprungs hinter Herder zurück und fasste theoretische Konsequenzen, wie wir sie bei Humboldt finden, nur beiläufig ins Auge (vgl. Zimmermann, 2006). Zur
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Innovative Entwicklungen vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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19. Jh.s (Steinthal) und bis ins 20. Jh. (Sprachinhaltsforschung, Ethnolinguistik) ihre Fortsetzung. Im 19. Jh., das politisch durch die Folgen der Französischen Revolution, die Eroberungen Napoleons, dann durch den Zusammenbruch der napoleonischen Domination Europas und die konservative Neuorientierung nach dem Wiener Kongress (1815) geprägt war, wurden alle Bildungsinstitutionen rasant weiterentwickelt, d. h. der breite universitäre Betrieb mit den neuen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen stellte fast einen universitären Neubeginn (für Europa und in der Folge Amerika) dar. Damit beginnt auch die spezialisierte Fachgeschichte sowohl der Sprach- als auch der Literaturwissenschaft (ebenso der Psychologie, Soziologie, Biologie und anderer Disziplinen). Man kann also von einer „Geschichte der Sprachwissenschaft“ im engeren Sinne erst ab dem 19. Jh. sprechen. Die Sprachwissenschaft des 19. Jh. kann man grob in drei Hauptströmungen untergliedern: 1) Die romantische Sprachwissenschaft. Obwohl der Begriff der „Romantik“ auf die Literatur verweist, ist es doch üblich geworden von einer „romantischen Sprachwissenschaft“ zu sprechen. Während das 18. Jh. in der Sprachursprungsfrage seinen Dreh- und Angelpunkt hatte (und somit anthropologisch orientiert war), wurde im 19. Jh. die historische Entwicklung der verschiedenen Sprachen, ihr Familienzusammenhang, ihre kulturelle Genese (nicht die anthropologische Genese) zum Leitmotiv. Die erste Phase ist der philologischen Arbeit, d. h. dem Auffinden von Sprach„Denkmälern“, deren kritischer Edition und der Kommentierung von Quellen gewidmet. 2) Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Sprachwissenschaft. Historisch zerbrach die Harmonie der Philologie aber bereits Mitte des 19. Jh.s, als sich mit der erfolgreichen Naturwissenschaft auch neue Wissenschaftsideale und -standards etablierten, die zumindest in einigen Geisteswissenschaften zur Anwendung kamen. Die romantische Wissenschaftskonzeption der Generation von Goethe und Humboldt geriet (ab 1830) zunehmend in den Verdacht, lediglich eine Art dilettantischer Schwärmerei gewesen zu sein und keine Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt zu haben (vgl. die „Lautgesetze“ der Junggrammatiker). 3) Eine dritte Richtung, die der Schulgrammatik und damit der präskriptiven Sprachwissenschaft, wird im Abschnitt 2.4 behandelt werden.
Geschichte der Sprachsammlungen im 18. und beginnenden 19. Jh. siehe Arens (1969: 134–152).
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2.3 Exkurs: Die romantische Sprachwissenschaft der Brüder Grimm und die Konstitution einer Deutschen Sprachwissenschaft In die Zeit der romantischen Sprachwissenschaft fallen einige grundlegende Fortschritte, welche die Disziplin bis heute prägen: –– Die Entdeckung der indoeuropäischen Sprachenfamilie: Ahnungen zur Verwandtschaft vieler europäischer Sprachen gab es bereits im 18. Jh. (z. B. in den „Essais“ von Leibniz). Als Startsignal der Indogermanistik und Vergleichenden Sprachwissenschaft kann jedoch Schlegels Schrift von 1808 „Über die Sprache und Weisheit der Inder. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde“ betrachtet werden. Wie der Titel schon zeigt, war die anvisierte Disziplin, die „Altertumskunde“, eine Anwendung der Methode der Geschichtswissenschaft auf das Sprachstudium. Dies ist charakteristisch für viele philologische Zielsetzungen des 19. Jh.s, bei denen das Sprachstudium nur eine Hilfsfunktion für die Geschichtsforschung darstellte. Die Leitdisziplin der Philologie war demnach auch die Geschichtswissenschaft. Die Bewusstmachung historischer Zusammenhänge, das Verstehen der Geschichte (Hermeneutik) bildeten das Leitmotiv. Die Sprachwissenschaftler wurden in dieser Perspektive zu Sammlern und Sammlungsverwertern (häufig ohne eigene theoretische Zielsetzungen). –– Die Sammlung und Klassifikation von Sprachdenkmälern. Speziell in Deutschland erhielt die romantische Sprachwissenschaft eine nationalistische Tönung, die im Werk der Brüder Grimm deutlich wird. Ähnliche Bewegungen waren auch in anderen europäischen Ländern anzutreffen. Die Reihenfolge der Hauptwerke von Jakob Grimm (1785–1863) mag diese Entwicklung belegen: • 1812 und 1815: Deutsche Märchen • 1816 / 1818: Deutsche Sagen Deutsche Grammatik • 1819 / 1837: • 1828: Deutsche Rechtsaltertümer Deutsche Mythologie • 1833: • 1840–1860: Deutsche Weistümer Diese Richtung, die in ihren Fortsetzungen die „Germanische Philologie“ (vgl. den „Grundriß der Germanischen Philologie“, Trübner, Straßburg) bildete, prägte die deutsche Sprachwissenschaft bis in die 60er Jahre des 20. Jh.s. Die neueren sprachwissenschaftlichen Konzeptionen ausgehend von de Saussure (1916), Bloomfield (1933) und der Prager Schule (30er Jahre) fanden erst nach dem 2. Weltkrieg langsam Eingang in die germanistischen Lehrpläne. Seitdem hat auch die „Germanistische Sprachwissenschaft“ andere Konturen, obwohl
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Die romantische Sprachwissenschaft
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die Ergebnisse der Philologie ihren Wert behielten (sie verloren lediglich ihre ausschließliche Relevanz). Die in der nationalen Besinnung auf die deutsche Sprache seit den Humanisten beschworene Kontinuität des Deutschen, ist jedoch ein Konstrukt oder eine identitätsstiftende Illusion. In althochdeutscher Zeit (ab 800 n. Chr.) gab es neben den immer vorhandenen kleinräumigen Sprechdialekten nur so genannte Schreibdialekte mit schwacher Normierung: Das Mittelhochdeutsche war (ebenfalls mit regionalen Variationen) eine Literatursprache der Ritterhöfe und fahrenden Sänger und war längst ausgestorben und vergessen, als das Hochdeutsche ab dem 15. Jh. entwickelt wurde. Dazwischen gab es das Mittelniederdeutsche als Schreibsprache der Hanse im Spätmittelalter, das sich am Lübbischen (Gerichts- und Vertragssprache von Lübeck, dem Zentralort der Hanse) orientierte. Es stellt die erste politisch relevante Spracheinheit im Gebiet der Hanse und in Norddeutschland dar. Diese Sprachform wurde dann als Schreibnorm im 16. und 17. Jh. von der ostmitteldeutschen Schriftsprache verdrängt. Bis zur Mitte des 19. Jh.s, also bis zu Einführung und Umsetzung der allgemeinen Schulpflicht mit dem Hochdeutschen als Schriftsprache, gab es eine hochdeutsche Sprechsprache nur in sozialen Schichten, die sich aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an der Schriftsprache orientierten. Die so genannte Spracheinheit ist also eine Erscheinung, die zeitlich erst mit der nationalen Einheit (1871) Gestalt annimmt. Im seiner Argumentation zum Wesen der Sprachwissenschaft unterscheidet Jakob Grimm zwei Arten der Sprachbetrachtung: –– Die Etymologie, d. h. die Erforschung der Entwicklung eines Wortstammes mit allen Verzweigungen der Form und der Bedeutung. Sie erlaubt immer wieder neue Entdeckungen und kann (nach Grimm) das wissenschaftliche Niveau „der vergleichenden Anatomie in der Naturgeschichte“ (Ahrens, ibid.: 198) erreichen. Diese Forschung wird „philosophisch“ genannt (wir würden heute sagen „theoretisch“), da sie allgemeine Aussagen zur Sprache ermöglicht. –– Die abstrakte auf logische Begrifflichkeiten rekurrierende Sprachanalyse. Diese wird als voreingenommen und dem spezifischen Gegenstand, z. B. dem Deutschen, nicht angemessen, kritisiert. Eine solche, auf apriorischen Voraussetzungen fußende Sprachanalyse, erzeugt nach Grimm „unausbleibliche Dürre und Verwüstung“ (ibidem) und sie ist nicht in der Lage, das charakteristische nationale Moment einer Sprache hervortreten zu lassen. In dieser kurzen Argumentationsskizze zeigen sich zwei wichtige Grundmotive, die für die weitere Geschichte der Sprachwissenschaft bedeutsam sind: a) Die Trennung von Wort- und Satzebene. Erstere lässt sich besonders aus der historischen Perspektive exakt erfassen; letztere macht philosophische, empirisch schwer prüfbare Annahmen und bleibt deshalb spekulativ. Daraus folgt
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eine Bevorzugung des Lexikons (Wortschatzes) als Gegenstand der Sprachwissenschaft und eine Vernachlässigung der Syntax. Dies sollte viele philologisch-konservative Sprachwissenschaftler bis weit ins 20. Jh. beeinflussen. Erst die distributionelle und dann die generative Grammatik amerikanischer Herkunft stellte erfolgreich die Syntax ins Zentrum der sprachwissenschaftlichen Forschung (in Ost-Deutschland ab 1962; in West-Deutschland ab 1966). Die Voraussetzungsproblematik, auf die Grimm hinweist, wurde aber nicht aufgehoben, sondern eher verschärft, denn bald stehen sich Lexikalisten und Transformationalisten fast unversöhnlich gegenüber (die beiden Richtungen trennten sich etwa nach 1966 in den USA; vgl. Kap. 12).6 Jenseits von Lexikon und Syntax gibt es aber weitere Komponenten der Grammatik, die Morphologie und Wortbildung, die Phonetik / Phonologie (Lautlehre), die eigene Anforderungen an die Theoriebildung beinhalten und bald zu Nebenschauplätzen des Diskussion über die richtige Art, Linguistik zu betreiben, wurden. b) Die Rolle der Lautlehre. In der ersten Auflage seiner „Deutschen Grammatik“, wobei „Deutsch“ = „Germanisch“ bedeutet (1819), beginnt Jacob Grimm mit der Deklination des Gotischen und endet beim Neu-Englischen; in der zweiten Auflage fügt er einen 600-seitigen Teil: „Von den Buchstaben“ ein, d. h. eine Laut- und Schriftlehre. Die Morphologie stand schon in den klassischen Grammatiken des Lateins im Zentrum: die Lautlehre war jedoch eine wichtige Ergänzung, denn auf die Lautlehre konnte sich die vergleichende Grammatik des späteren 19. Jh.s mit besonderer Sorgfalt konzentrieren (sie gibt das Fundament für die sogenannten Lautgesetze). Am Ende des ersten Buches „Von den Buchstaben“ beschreibt Jacob Grimm jene großen Lautverschiebungen, welche später als „Grimmsches Gesetz“ formuliert wurden und seinen nachhaltigen Ruhm als Sprachwissenschaftler begründeten. Jakob Grimm fasste die sprachgeschichtlichen Ergebnisse in seiner zweibändigen „Geschichte der deutschen Sprache“ (1848) zusammen. Viele Jahre seiner Lebenstätigkeit füllte die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“, das 1854 zu erscheinen begann, und das er gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm Grimm bis zum Eintrag „Frucht“ ausgeführt hat. Es wurde erst 1961 abgeschlossen. Insgesamt war die sprachwissenschaftliche Sammel- und Editionsarbeit und die Sprachreflexion im Rahmen einer organismischen, ganzheitlich-histo rischen Sprachwissenschaft bei Jacob und Wilhelm Grimm so erfolgreich gewe6
Nach McCawley (1995) waren der offizielle Startpunkt der Generativen Semantik Vorlesungen von Lakoff und Ross 1966 / 67 und eine Konferenz von 1967, deren Beiträge von Ross und Harms (1968) publiziert wurden. Ende der 70er Jahre verschwand nach McCawley diese „community“ spurlos bzw. sie verwandelte sich in eine kognitive Richtung (siehe Kap. 12 und Wildgen 2008).
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Die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts
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sen, dass sie bis weit ins 20. Jh. die sog. philologischen Disziplinen prägte. Ähnliche Entwicklungen gelten auch für die anderen europäischen Länder und die von Europa abhängigen überseeischen Gebiete. Gegen diese Tradition mussten sich alle innovativen Tendenzen des 20. Jh.s im universitären Kontext erst behaupten und schließlich durchsetzen. Sie bildete mit den Weiterentwicklungen der junggrammatischen Schule, auf die ich später eingehe, das Standardparadigma der Sprachwissenschaft aus und ist immer noch eines der wesentlichen Fundamente der modernen Sprachwissenschaft.
2.4 Exkurs: Die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts (am Beispiel von Karl Ferdinand Becker) Grammatiken der Volkssprachen, die seit dem 15. und 16. Jh. das Latein als Bildungs- und Wissenschaftssprache abzulösen begannen, wurden bereits im 16. Jh. in der Volkssprache selbst verfasst. Diese Tendenz erhielt durch die Akademien und Sprachgesellschaften im 17. Jh. großen Auftrieb. Im 19. Jh. stand als wichtigste politische Aufgabe die Alphabetisierung der Bevölkerung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht an und dazu mussten Methoden und Materialien für den Deutschunterricht bereitgestellt werden. Obwohl die dabei entstehenden Grammatiken teilweise von sprachwissenschaftlichen Laien (meist Deutsch lehrern) verfasst und entsprechend von Sprachwissenschaftlern kritisiert wurden, bildeten sie doch eine starke Tradition der Grammatikschreibung aus, die für die im 20. Jh. verfassten grammatischen Kompendien bestimmend blieb.7 Der Arzt Karl Ferdinand Becker veröffentlichte 1827 (in Frankfurt / Main) den ersten Band seiner „Deutschen Sprachlehre“ unter dem Titel „Organism der Sprache als Einleitung zur Deutschen Grammatik“. Mit dem Begriff „Organism(us)“ wird der Bezug zur romantischen Sprachwissenschaft, insbesondere zur Sprachphilosophie Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts, deutlich gemacht. Becker verkürzte Humboldts Idee eines „Vernunftinstincts“ und der „inneren Sprachform“ als Form des sprachlichen Denkens zur „logischen Form“ und bezog damit durchaus im Widerspruch zu Herder (und teilweise zu Humboldt) eine rationalistische Position, wie sie z. B. im Kartesianismus des 17. Jh.s zum
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Vgl. Frank, 1976: Kap. IV zur „Begründung des Deutschunterrichts als Unterrichtsfach“ (ibidem: 153). Demnach konnte Becker auf eine lange Diskussion seit Leibniz zurückgreifen, der in der Sprache den „besten Spiegel des menschlichen Geistes“ sah (zitiert bei Frank, 1976: 155). Die Tradition setzte Herder fort („Der Lehrer lehre denken, erzählen, bewegen“, zitiert ibidem: 157). Der Deutschunterricht musste dann häufig neben der Sprachkompetenz, die kognitive, moralische, ja später sogar die nationale Erziehung unterstützen.
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Programm erhoben worden war. Becker verdrängte dabei das Bewusstsein von der Relativität der einzelnen Sprachen, ihrer eigenen Art von Logik, und er fasste die deutsche Grammatik in konsequenter Weise teils in Anlehnung an die lateinische Grammatik, teils durch Erweiterungen des kategorialen Apparates in ein festes Regelsystem. Er führte einige Begriffe ein, die bis heute in Gebrauch sind: –– Kopula –– präpositionales Objekt –– Prädikat und Objekt
– sein – – mit dem Messer – einen Ball (O.) werfen (P.).
Auch die Einteilung der konjunktionalen Nebensätze in der deutschen Grammatik geht auf Becker zurück. Es erscheinen in der Folge: –– 1829: Der zweite Band der Deutschen Sprachlehre, –– 1831: „Schulgrammatik der deutschen Sprache“, –– 1836 / 37 / 39: „Ausführliche Deutsche Grammatik als Kommentar zur Schulgrammatik“. Diese Werke wurden durch eine Didaktik der deutschen Sprache ergänzt: –– 1833: „Über die Methode des Unterrichts in der deutschen Sprache“. Damit wurde für das 19. und auch das 20. Jh. (bis etwa zur Diskussion über Sprachbarrieren um 1970) als wichtigstes Ziel des Deutschunterrichts die Korrektur und Vervollständigung des vorschulischen Spracherwerbs festgelegt. Dies bedeutete Überwindung des „minderwertigen“ dialektalen Spracherwerbs, Sozialisation in der Hochsprache. Hervorragendes Ziel des Deutschunterrichts war: Das vollkommene Sprachverstehen ausgezeichnet durch ein klares Bewusstsein der Sprachformen. „Man versteht die Sprache vollkommen, wenn man nicht nur die Bedeutung der unterschiedlichen Redeformen klar und bestimmt erkennt“ … „man muss die Sprache auch völlig richtig sprechen.“ (zitiert aus Beckers Didaktik von Frank, 1976: 171)
Orthoepie und Orthografie wurden somit zum zentralen Ziel des muttersprachlichen Deutschunterrichts. Der Unterricht der deutschen Grammatik als Denklehre bestand zwar als Anspruch, allerdings war dieser besonders im Kontext des Elementarunterrichts, der das bevorzugte schuldidaktische Anwendungsfeld war (als Sprachunterricht ab der 2. Schulklasse), nicht erfüllbar. Was Realität wurde, waren die Übungsformen, die Raimund Jacob Wurst in seinem Lehrbuch „Praktische Sprachdenklehre“ (1836) einführte. Die Aufgabe des Schülers bestand hauptsächlich in der Analyse (seltener der Bildung) von Beispielen. Diese bestanden durchwegs aus Sätzen. Die Schüler hatten dann etwa zu bestimmen, was Subjekt sei: „nämlich ein Ding von dem man spricht“ (ibidem: 174)
und was Prädikat sei: „Etwas, das man von dem Dinge (Subjekten) aussaget oder behauptet“ (ibidem: 174 f.).
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Die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts
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Nach der Übung der Grundbegriffe an 300–400 einfachen Sätzen ging der Unterricht weiter zu dem: –– –– –– ––
„Zahlverhältnis des Subjekts“ „Personenverhältnis des Subjekts“ „Zeitverhältnis des Prädikats“ „Verhältnis der Aussageweise des Prädikats“ (Modalität); zit. ibidem: 175.
Unter dem Deckmantel der Denklehre werden den Kindern nicht nur die seit der antiken Grammatik (der Stoa) eingeführten Begriffe eingebläut, in den Beispielsätzen entfaltet sich gleichzeitig ein implizites Weltbild der „mainstream“Kultur, die damit nebenbei vermittelt wird (die abstrakten Kategorien waren ja schnell vergessen). Erst im 20. Jh. sollte die inhaltbezogene Sprachlehre eine Opposition gegen diese Tradition ausbilden (vgl. Kap. 5.4 und 5.5). Die große Stabilität der sich im Laufe des 19. Jh. mit Schulpflicht, Lehrerausbildung, Seminarbetrieb ausbildenden Sprachlehre, die ähnlich bzw. zeitverschoben in anderen Ländern Europas und Amerikas feststellbar ist, hatte zwei Konsequenzen für die Sprachwissenschaft des 20. Jh.s: 1) Der muttersprachliche Grammatikunterricht blieb den klassisch-lateinischen Grammatiken verpflichtet und war rationalistisch auf eine enge Parallelität von Denken (Logik) und Sprache (Grammatik) ausgerichtet. 2) Da alle Schüler und Studenten, auch die späteren Linguisten, diese Schulung durchliefen, blieb die normative Ausrichtung am Standard, an der Orthografie und Orthoepie bestimmend und konterkarierte die von Grimm und den Junggrammatikern geforderte Orientierung an der Gegen wartssprache und der gesprochenen Sprache. Die historisch vergleichende Sprachwissenschaft konnte leicht auf die traditionelle Schulgrammatik aufgesattelt werden (die Behandlung der gotischen Bibelübersetzung des Wulfila konnte die Tradition der lateinischen Grammatik sogar bestätigen, da die Morphologie des Gotischen dem Latein vergleichbar erscheint). Die anti-normativen Tendenzen bei Jacob Grimm und im Kontext der Dialektologie wurden in den Hintergrund gedrängt. Wichtig ist, dass auch manche Strukturalisten des 20. Jh. (so etwa der frühe Bloomfield) auf die Tradition der zergliedernden Schulgrammatik aufbauten und dass auch die generative Linguistik mit ihrer Konstituentenanalyse in die Fußstapfen der Schulgrammatik als Satz-Gliederungslehre trat. Sie löste sich aber spätestens mit dem „Aspects-Modell“ (Chomsky, 1965) von dieser Tradition. Auf dem Umweg über die Fremdsprachendidaktik sind dann in der zweiten Hälfte des 20. Jh. pragmatische, textlinguistische und andere Aspekte in den Deutsch-Unterricht eingeflossen.8 8
Für eine Darstellung der deutschen Schulgrammatiken von Becker bis Mitte der 60er Jahre siehe Erlinger (1969: Teil II).
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18 Skizze der Gesamtentwicklung der Sprachwissenschaft bis Ende des 19. Jahrhunderts
2.5 Die Sprachwissenschaft im Feld der neuen (Natur-)Wissenschaften Eine Grundtendenz in der Geschichte der Sprachwissenschaft ist ihre periodische Beeinflussung durch naturphilosophische und naturwissenschaftliche Modelle (vgl. Wildgen, 1985b). Im 19. Jh. entwickelten sich nicht nur Physik und Chemie, sondern auch die der Sprachwissenschaft näher stehende Physiologie (z. B. des Gehör- und Gesichtssinnes, der Sprachartikulation). Die Psychologie machte entscheidende Fortschritte. Eine längerfristige Wirkung auf alle Humanwissenschaften hatte das Werk von Charles Darwin über den Ursprung der Arten (1859), insbesondere das spätere Werk „The Descent of Man and Selection in Relation to Sex“ von 1871. Ich will mich im Folgenden unter dem Aspekt „Vorboten des 20. Jh.s“ nur mit August Schleicher und seiner Konzeption der Sprachwissenschaft (Glottik) als Naturwissenschaft und mit Hermann Paul, als dem Theoretiker, der Einsichten der Junggrammatiker mit solchen der Psychologie des späten 19. Jh.s verband, befassen. August Schleicher (1821–1868) löste sich Mitte des 19. Jh.s von der Tradition der Philologie, vom Einfluss W. v. Humboldts, der Brüder Schlegel und Grimm und versuchte, die sich entwickelnden Naturwissenschaften als neuen Maßstab zu nehmen. Dabei galt für Schleicher wie für die Junggrammatiker, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit ihrer Suche nach Gesetzen und in ihren akribischen Vergleichspraktiken dem naturwissenschaftlichen Qualitätsmaßstab entsprechen sollte. Die Kritik richtete sich gegen die traditionellen Philologen, denen Techniken des strengen Beobachtens und des exakten Schließens fehlten: „Subjektives Deuteln, haltloses Etymologisieren, vage Vermutungen ins Blaue hinein“ machten viele sprachliche Studien lächerlich (zitiert bei: Arens, 1969: 259). Als Hobby-Botaniker und Kollege des leidenschaftlichen Darwinisten, Ernst Haeckel in Jena, schrieb Schleicher 1863, also nur vier Jahre nach der Publikation von Darwins Buch über die Entstehung der Arten (und vor deren Anwendung auf den Menschen, 1871) einen Artikel, der die Darwinsche Theorie auf die Sprache anwandte. Voraussetzung war die romantische Konzeption der Sprache als Organismus: „Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und sterben, auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt.“ (Zitat ibidem)
Er zieht daraus die Konsequenz, dass die Sprachwissenschaft, „Glottik“ genannt, eine Naturwissenschaft sei (Ansatzpunkt: Biologie und Naturgeschichte), und dass die Sprachen wie Tier- und Pflanzenarten eine genealogische, evolutionäre Ordnung, einen Stammbaum haben. Der Sprachenbaum, den er skizziert, stellt die „ober- oder hochdeutschen“ Mundarten, d. h. die Dialekte,
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Die Sprachwissenschaft im Feld der neuen (Natur-)Wissenschaften
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die von der hochdeutschen Standardsprache überdacht werden, dem Friesischen und den englischen, niederländischen und niederdeutschen Mundarten gegenüber. Am oberen Ende, der „indogermanischen Grundsprache“, ist die erste Spaltung, die zwischen der slavodeutschen Grundsprache und der ariograeco-italo-keltischen Grundsprache. Die Grundlage seiner Klassifikation, die in dieser spezifischen Form heute nicht mehr akzeptiert wird, bildeten neben Grimms Grammatik die „Vergleichende Grammatik des Romanischen“ (Friedrich Diez, 1836–44), die „Grammatica celtica“ von Johann Kaspar Zeuß (1853) und die „Vergleichende Grammatik der slawischen Sprache“ von Franz Miklosich (1852). Schleichers mutiger Versuch, die vergleichenden Grammatiken in einer Theorie mit naturwissenschaftlicher Basis zusammenzufassen, blieb in seiner Zeit weitgehend folgenlos. Im modernen Werk von Greenberg und in der evolutionären Anthropologie heute wird diese Arbeit aber mit neuen Methoden und erweiterter Datenbasis erfolgreich weitergeführt. Schleicher ist damit einer von vielen Vordenkern, deren Anregungen (vorerst) untergegangen sind. Eine weitere Vorreiterrolle kann Schleicher beanspruchen. Er hat versucht, die Morphologie, d. h. die Lehre der Wortformen, in eine mathematische Form zu bringen. Schleicher bezeichnet den „lautlichen Ausdruck“ einer Bedeutung als Wurzel, dafür wählt er Großbuchstaben A, B, C, D. Davon zu unterscheiden ist der Ausdruck der Beziehung, der Beziehungslaut, der durch Kleinbuchstaben notiert wird: a, b, c, d. Dazwischen setzt er Wurzeln an, die „oft nur algemeine; abstracte verhältnisse, als bestimmte concrete anschauungen außdrücken“ (zit. ibidem: 255). Sie werden mit A', B', C' benannt. Die morphologische Kombination wird mit + bezeichnet. Einzelne Sprachen und Sprachtypen sind dann durch morphologische Formeln charakterisierbar. Beispiel (zitiert ibidem: 257): I (isolierender Typus) – z. B. Chinesisch A; A+A; A' + A + B', A + A' II (zusammenfügender Typus) – z. B. Türkisch, Finnisch Aa (Aabc) oder (in anderen Sprachen) aAb Asub a ( sub „in die Wurzel hineintreten“) III (flektierender Typus) – Indogermanische Sprachen Aa, Ab: die Grundformen werden verändert; dies trifft z. B. auf den Ablaut zu. Dieser Ansatz einer Mathematisierung bleibt allerdings Stückwerk. Immerhin führt er die algebraische Grundrelation, die im 20. Jh. „Konkatenation“ genannt wird, ein. Die Kritik einer unvollständigen Mathematisierung trifft aber auch auf viele Ansätze zur Mathematisierung im Vorfeld der generativen Grammatik und in der kognitiven Grammatik zu (vgl. dazu die Kap. 9, 12 und 14).
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20 Skizze der Gesamtentwicklung der Sprachwissenschaft bis Ende des 19. Jahrhunderts
2.6 Vorstrukturalistische Reflektionen bei William Dwight Whitney (1827–1894) Der zur Generation Schleichers gehörende Amerikaner Dwight Whitney, selbst Sanskritist und in der deutschen Tradition stehend, bemerkte bereits früh die theoretische Unfruchtbarkeit der deutschen Philologie und versuchte in zwei Werken, eine neue Konzeption für eine Allgemeine Sprachwissenschaft zu entwickeln. Seine Hauptwerke sind: –– 1867 – „Language and its Study“ (ins Deutsche übersetzt 1874) –– 1875 – „Life and Growth of Language“ (ins Deutsche übersetzt 1876) Da diese Werke ins Deutsche übersetzt wurden, gehören sie auch zum Kontext der theoretischen Kontroversen in Deutschland (und Europa) nach 1875. Im letzten (XV.) Kapitel seines Buches „The science of language: conclusion“ gibt Whitney zu, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft im Wesentlichen von deutschen Forschern geprägt worden sei, allerdings: „(…) die Forscher dieses Landes haben sich, (…) viel weniger darin, in dem was man die Wissenschaft der Sprache nennt, ausgezeichnet.“9 (Whitney, 1899: 318; Übers. W. W.) Die Uneinigkeit und Unsicherheit der deutschen Sprachwissenschaft wird von Whitney sogar als Ursache einer allgemeinen Stagnation der Disziplin angesehen, da jedermann auf Impulse aus Deutschland wartete. Whitney (1899: 4) gibt die folgende Bestimmung der Sprachwissenschaft (siehe den englischen Text in der Fußnote)10: „Diese Wissenschaft ist bestrebt, die Sprache, sowohl in ihrer Einheit als ein Mittel des menschlichen Ausdrucks und in Abgrenzung zur Kommunikation der Tiere, als auch in ihrer inneren Vielfalt von Material und Struktur zu verstehen. Sie versucht, die Ursache für die Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit der Sprachen zu entdecken und diese zu klassifizieren. (…) Sie versucht festzustellen, was Sprache im Verhältnis zum Denken ist und wie es zu dieser Beziehung gekommen ist. (…) und, wenn möglich, wie die Sprache überhaupt erst entstanden ist.“ (Whitney, 1899: 4; Übers. W. W.)
Diese Fragen sind zwar alte Fragen, aber erst das 19. Jh. hat einen Weg zu ihrer wissenschaftlichen Beantwortung gefunden. Damit hat sich die Sprachwissenschaft einen Platz unter den Nachbardisziplinen geschaffen. Gegen eine Vereinnahmung durch die Physik oder Psychologie verwahrt sich Whitney. Im Ge9
Whitney, 1899: 318: „But while Germany is the home of comparative philology, the scholars of that country have, as we hinted above, distinguished themselves much less in that which we have called the science of language.“ 10 „That science strives to comprehend language, both in its unity, as a means of human expression and as distinguished from brute communication, and in its internal variety of material and structure. It seeks to discover the cause of the resemblances and differences of languages, and to effect a classification of them … It seeks to determine what language is in relation to thought, and how it came to sustain this relation (…) and even, if possible, how it came into existence at all.“
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Die Sprachwissenschaft zwischen Psychologie und Kulturanthropologie
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gensatz zu de Saussure überwiegen bei Whitney aber prozessuale Aspekte. Dies zeigen nicht nur die Titelwörter „Leben und Wachstum“, sondern auch die Tatsache, dass das erste Kapitel seines Buches den Spracherwerb, das letzte den Sprachursprung thematisiert;11 die zentralen Kapitel (IV–VII) behandeln den Sprachwandel. Whitney hebt in der Konsequenz des Historismus des 19. Jh.s, aber ohne dessen Verengung, das dynamische Moment in der Sprache hervor und sieht darin die Quintessenz der Idee der Sprache als Organismus. Er vermeidet jedoch die direkte Gleichsetzung des Kulturphänomens Sprache mit den Naturphänomenen: Pflanze, Tier, Mensch.12 Diese Herausarbeitung des dynamischen Moments finden wir Ende des 19. Jh.s auch bei Charles Sanders Peirce wieder. Sie tritt erneut bei Alfred N. Whitehead in dessen Vorlesungen 1927 und 1928 in Harvard, die als „Process and Reality“ 1929 publiziert wurden, zu Tage. Es liegt also zumindest ein von 1867 bis 1927 reichender Ideen-Strang vor, dessen Fortsetzung im amerikanischen Kontext durch die Dominanz des sprach-psychologischen Behaviorismus (Skinner) und der analytischen Sprachphilosophie (Carnap, Quine, Chomsky) verhindert wurde. Betrachtet Whitney die Sprachwissenschaft als eine historische Wissenschaft (in der Breite des prozessualen Gesichtspunktes), so neigt der Theoretiker der jung-grammatischen Schule, Hermann Paul (1846–1921), zur Psychologie (historisch ist dies Herbarts Assoziationspsychologie und Vorstellungsmechanik; vgl. Paul, 1898: 13).
2.7 Die Sprachwissenschaft zwischen Psychologie und Kulturanthropologie (bei Brugmann und H. Paul) In der Generation der Sprachwissenschaftler, die hauptsächlich zwischen 1880 und 1900 aktiv waren, stechen programmatisch die sogenannten „Junggrammatiker“ hervor. Zu nennen sind insbesondere Hermann Osthoff (1847–1909), Karl Brugmann (1849–1919) und Hermann Paul (1846–1921). Die romanti11 Whitney hat sich in einem Buch von 1872: „Steinthal on the Origin of Language“ mit Steinthals Theorie des Sprachursprungs auseinandergesetzt. Im Gegensatz zur häufig kolportierten Meinung haben sich im 19. Jh. viele prominente Linguisten mit der Frage des Sprachursprungs beschäftigt. 12 Whitney hatte sich während seines Studiums in Berlin und Tübingen für Ornithologie, Botanik und Geologie interessiert und sein älterer Bruder war Geologe. 1867, also einige Jahre nach Schleichers Abhandlung zur Darwinschen Theorie und den Sprachen (Schleicher, 1863), bezeichnet er den Vergleich von Sprachen mit der Evolution von Arten als ein hellsichtiges and geeeignetes Argument. Er lehnt aber im Gegensatz zu Schleicher eine Einordnung der Sprachwissenschaft in die Naturwissenschaften ab; sie sei eher eine Geisteswissenschaft („intellectual and moral science“, siehe Whitney, 1867: 47n).
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sche Bewegung, die eine Erklärung der Sprache aus der Geschichte suchte, wird umgekehrt. Der sprechende Mensch der Gegenwart ist nun das unmittelbare Untersuchungsobjekt des Sprachwissenschaftlers. Das neue (naturwissenschaftlich motivierte) Wissenschaftsideal zeigt sich im Postulat der „Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze“. Es wird durch die Wirkung lautphysiologischer Mechanismen, die geschichtsneutral sind, begründet. Als Ausgleichsprinzip gilt die psychologisch begründete Analogisierung. Dies bedeutet, dass die allgemeine Lautphysiologie und die Assoziationspsychologie den Lautwandel bestimmen, historische Prozesse erscheinen als nebensächlich. Ich möchte diese Hinwendung zur Psychologie in ihrer damaligen Prägung durch Johann Friedrich Herbart (1776–1841) anhand von Passagen aus Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (1880 in erster Auflage erschienen) verdeutlichen.13 Wesentlich an Pauls Prinzipienlehre ist der Versuch, zur individuell-psychischen Basis vorzudringen, welche eine „historische Kulturwissenschaft“ ausmacht, zu der Paul auch die Sprachwissenschaft zählt: „Das psychische Element ist der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung, um den sich alles dreht, und die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinn gefaßten Kulturwissenschaft.“ (Paul, 1898: 6)
Die gesellschaftlichen Prozesse sind ihrerseits reduzierbar auf die: „rein psychische Wechselwirkung (die) sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht“. Dabei gilt: „Aller Verkehr der Seelen unter einander ist nur ein indirekter auf physischem Wege vermittelter.“ (ibidem: 12).
Diese eigentliche Basis bleibt aber weitgehend unbeobachtbar und muss deshalb aus dem Verhalten erschlossen werden. „Das wahre Objekt für die Sprachforscher sind vielmehr sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinander.“ (ibidem: 22)
Diese Reduktion auf psychische Einzelprozesse macht das Sprechen von Ursachen und deren Erforschung erst möglich, denn zwischen Abstraktionen gibt es keine Beziehung von Ursache und Wirkung (keine Kausalität und also keine Gesetzmäßigkeit im strengen Sinn; vgl. ibidem). „Die psychische Seite der Sprechtätigkeit ist wie alles Psychische überhaupt unmittelbar nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen.“ (ibidem: 28)
Daraus ergibt sich eine introspektive, selbstbeobachtende Fundierung der Sprachwissenschaft; eine Konsequenz, welche die Ende des 19. Jh. entstehende experimentelle Psychologie (insbesondere der spätere Behaviorismus) nicht ak13 In eine ähnliche Richtung weist Wegener (1885), der sich wiederum auf Hermann Paul, Heyman Steinthal und William Whitney bezieht (vgl. Wegener, 1885 / 1991: 6). Die starke Hervorhebung des außersprachlichen Kontextes hatte später einen Einfluss auf den Britischen Kontextualismus; siehe Kap. 11.3 und Steiner (1963: Kap. 2.3).
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Die Sprachwissenschaft zwischen Psychologie und Kulturanthropologie
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zeptierte und welche auch im amerikanischen Strukturalismus von Bloomfield bis Harris vehement bekämpft wurde (an die Stelle der Selbstbeobachtung tritt die Beobachtung des Fremdverhaltens).14 Die Kritiker Pauls vermerken denn auch süffisant, dass dieser „philosophische Überbau“ auf Pauls weitere Ausführungen (glücklicherweise) keinen Einfluss gehabt habe (wie Paul selbst in einer Fußnote, ibidem: 12, vermerkt). Der Verdacht, dass theoretische Kontroversen häufig wenig (praktische) Folgen haben, wurde von deskriptiv eingestellten Linguisten immer wieder gegen die Theoretiker erhoben; zu Unrecht, wie die langfristige Entwicklung zeigt. Allerdings sind die Auswirkungen oft sehr indirekt und manche Theorien stellen übereilte Anpassungen an theoretische (philosophische) Trends dar und sind deshalb irrelevant für die tatsächliche Entwicklung der Disziplin oder sogar störend.15 H. Paul führte auch die Begriffe: psychologisches Subjekt und Prädikat (gegen grammatisches Subjekt und Prädikat) ein und diese Begriffe werden noch heute gebraucht. „Das psychologische Subjekt ist die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschließt.“ (Paul, 1880: 111 f.)
Auf den Sprecher und den Hörer bezogen entsprechen sich: psychologisches Subjekt
das Apperzipierende (der Sprecher)
das, worüber der Hörer denken soll
psychologisches Prädikat
das Apperzipierte
das, worauf der Hörer seine Aufmerksamkeit hinleiten soll
Tabelle 1: Pauls Bestimmung des psychologischen Subjekts und Prädikats Für Paul war die Betonung der ursprünglichste Ausdruck des psychologischen Prädikats. Die Satzfrontstellung oder der Gebrauch des Nominativkasus sind mögliche Markierungen des psychologischen Subjekts; die beiden Kategorisierungen decken sich aber nicht. H. Paul bereitet mit diesen Überlegungen zwar eine psychologisch (heute kognitiv genannte) Ausrichtung der Sprachtheorie vor, zur damaligen Zeit (teilweise auch heute) sind allerdings die Möglichkeiten, diese Intuition empirisch 14 Chomsky führt ab 1955 aber wieder die „Intuition“ als legitime Beobachtungsbasis ein, insbesondere um Fragen der Bedeutung (Mehrdeutigkeit, syntaktische und semantische Akzeptabilität / Korrektheit) entscheiden zu können (vgl. Kap. 9.4). 15 Da die Linguistik mit ihrem Gegenstand, der Sprache, eine „Mitteldisziplin“ darstellt, die „Kontaktflächen“ mit vielen Nachbardisziplinen hat, ist die Festlegung autonomer Ziele und Methoden ein Balance-Akt. Es ist deshalb sinnvoll, jene Reflexionsbewegung, die mit de Saussure einen ersten Ruhepunkt fand und im Strukturalismus zwischen den beiden Weltkriegen (Trubetzkoy, Jakobson, Bloomfield, Hjelmslev) ausgebaut wurde, im Folgenden als Ausgangspunkt zu nehmen.
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zu prüfen, gering. Deshalb ist die Forschungsrichtung auch 120 Jahre später, trotz intensiver Bemühungen im 20. Jh. (z. B. in der Sprachinhaltsforschung und in der Kognitiven Grammatik), etwas unbestimmt geblieben. Ein wichtiges Element der Paulschen Sprachtheorie stellt die Verbindung des „psychischen Elements“ mit der „Kulturbewegung“ dar (vgl. das Zitat oben); es wird von Brugmann näher ausgeführt und bildet die Grundidee von Wundts „Völkerpsychologie“. Karl Brugmann veröffentlichte 1885 seine Abhandlung „Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft“. Er erwähnt darin sowohl H. Paul als auch Whitney zustimmend. In Bezug auf das Kulturleben der Sprache sagt er: „Das geistige Leben einer Volksgemeinschaft kann sich in verschiedenen Thätigkeiten und Schöpfungen offenbaren, in Sprache, in Glaube und Religion, in Sitte und Recht, in Literatur, Wissenschaft und Kunst und in der Gestaltung des öffentlichen und privaten Lebens.“ (Brugmann, 1885: 8)
Kein Volk der Erde komme ohne Sprache und Glaube, ohne Kunstsinn und Ansätze zur Wissenschaft aus. Daraus schließt Brugmann: „so hat jedes Volk ein Anrecht auf philologische Betrachtung.“ (ibidem: 8) Die „Gesamtphilologie“ in Brugmanns Wortverwendung „gliedert sich hiernach in doppelter Weise, einerseits nach den Völkern, den Trägern der geistigen Individualität, andererseits nach den verschiedenen Seiten des Geisteslebens. Diese beiden Gliederungen kreuzen sich …“ (ibidem: 8 f.). Der Volksgeist ist eine Idee, die auf W. von Humboldt verweist. Sie wird nach der Wiederbelebung der Humboldtschen Sprachphilosophie bei Hajim Steinthal (1823–1899) durch den Psychologen Wilhelm Wundt (1832–1920) in einer umfangreichen Publikationsreihe zum Thema „Völkerpsychologie“ ausgearbeitet (1900–1920). Dabei stehen „Sprache, Mythos und Sitte“ im Vordergrund. Dem Thema „Sprache“ sind die ersten beiden Bände mit über 1300 Seiten gewidmet. Dieses psychologische Werk kann auch als eine Kulturphilosophie unter Benützung psychologischer Begriffe und Erkenntnisse aufgefasst werden.16 Die Thematik der Kulturphilosophie und der vielgestaltigen Formen ihres Ausdrucks – u. a. in der Sprache – wird später in der „Philosophie symbolischer Formen“ von Ernst Cassirer näher ausgeführt (vgl. Cassirer 1923 / 1988 und Sandkühler u. a. 2003).
16 Wundt hat 1879 in Leipzig das erste deutsche Institut für experimentelle Psychologie gegründet. Die Psychologie blieb aber weiter der Philosophie intellektuell wie organisatorisch verbunden.
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3 Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus Ferdinand de Saussure (1857–1913) war Französisch-Schweizer, studierte in Genf, Leipzig und Berlin und lehrte zuerst 1881–1891 in Paris an der École des Hautes Études, später in Genf. Dort gab er 1906–1911 in seinen Einführungsvorlesungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft eine Skizze der (wünschenswerten) zukünftigen Sprachwissenschaft. 1916, d. h. nach dem Tode von F. de Saussure, fassten seine Schüler (Charles Bally und Albert Sechehaye) anhand ihrer Mitschriften seine Lehre zusammen im Buch „Cours de Linguistique Générale“. Eine deutsche Übersetzung erschien 1931 unter dem Titel „Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft“ (2. Auflage erst 1968). War und ist F. de Saussures Lehre hauptsächlich für die romanischsprachige Linguistik bestimmend, so bezogen sich doch die Prager Funktionalisten / Strukturalisten auf F. de Saussure als den Beginn des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft. In Deutschland wurde F. de Saussure in den 60er Jahren zum Vater der modernen Linguistik erklärt, d. h. eigentlich gleichzeitig mit der Rezeption der generativen Grammatik von Chomsky zuerst an der Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik, ansässig an der „Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ (Ost-Berlin). So verweist Manfred Bierwisch (1963) in seiner „Grammatik des deutschen Verbs“ in der ersten Fußnote (S. 165) auf F. de Saussure: „Zahlreiche Arbeiten haben seit de Sausures erstem großen Ansatz zu einer wesentlichen Präzisierung der linguistischen Theorie geführt.“ In derselben Fußnote wird gleich anschließend gesagt: „diese Entwicklung [wurde] von CHOMSKY zusammengefasst und erweitert“ (ibidem). Der Bezugspunkt sind die „Syntactic Structures“ von Chomsky (1957), d. h. der Autor macht einen Sprung von 1907 (Vorlesungen F. de Saussures zu den Grundlagen des Fachs) bis 1957, d. h. er überspringt die erste Hälfte des 20. Jh. Diese Traditionslücke sollte besonders die deutsche Linguistik der zweiten Hälfte des 20. Jh. charakterisieren. Die Arbeitsstelle in Ost-Berlin war in Deutschland eine innovative Keimzelle, die nach einem Kurswechsel in der Bewertung der amerikanischen Linguistik in der Sowjetunion und der DDR erst in West-Deutschland ihre Wirkungen entfaltete. Im übrigen Europa hat sich ebenfalls in dieser Zeit eine von Chomsky inspirierte Linguistik etabliert (besonders stark in Frankreich und Italien).
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Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus
3.1 Die originalen Schriften von Ferdinand de Saussure Im Verlauf der Rezeption der Ideen von F. de Saussure wurden zuerst die Mitschriften der Schüler, die als Ausgangspunkt des „Cours“ gedient hatten oder zusätzlich existierten, ediert und schließlich auch die Schriften und Manuskripte von F. de Saussure selbst, die erst Mitte der 90er Jahre entdeckt wurden. Ich will im Folgenden zuerst von den Originalschriften ausgehen. De Saussure verstand unter „Linguistique Générale“ („Allgemeine Sprachwissenschaft“) eine neue Disziplin, die er auch als „eine Philosophie der Sprachwissenschaft“ („une philosophie de la linguistique“) bezeichnete. Sie hatte als Hauptziele: –– Die Kritik der Wissenschaft „Linguistik“ (ihrer Methoden und Voraussetzungen). –– Die Analytik der Sprache und anderer semiotischer Systeme, d. h. als Sprachphilosophie. –– Die Erstellung einer Zukunftsvision für die Disziplin und die Programmatik einer noch zu entwickelnden Sprachwissenschaft (vgl. Einleitung zu Saussure, 2002: 8). F. de Saussure hatte bereits mit 21 Jahren (1879) eine Arbeit veröffentlicht unter dem Titel „Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes“, in der er die Ablautlehre begründete und die Existenz ursprünglicher Laryngale (Varianten eines konsonantischen Schwa) postulierte. Diese Hypothese wurde in der deutschen Indogermanistik erst Jahrzehnte später ernsthaft erwogen und später durch andere Forschungsergebnisse bestätigt. Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf die 1996 in der Orangerie des Genfer Stadthauses der Familie Saussure entdeckten Manuskripte stützen, die als Vorarbeiten für ein Buch zur Allgemeinen Sprachwissenschaft dienen sollten; vgl. auch die verstreuten Anmerkungen F. de Saussures zu einer Semiologie seit 1901 (Saussure, 2003a: 117 ff.).1 F. de Saussure geht generell von einer dualistischen Ontologie (in der Tradition des Kartesianismus) aus und stellt sich damit gegen die monistischen Tendenzen bei Schleicher (Glottik als Naturwissenschaft) und auch die ausnahmslosen, da naturwissenschaftlich begründeten Lautgesetze der Jung-Grammatiker (allerdings mit Einschränkungen s. w. u.). Wenn F. de Saussure das sprachliche Zeichen in seiner Heterogenität mit der Luft vergleicht, die eine ganz bestimmte Mischung von Sauerstoff und Stickstoff darstellt, ohne dass die beiden Teile eine chemische Verbindung ein-
1
Adrien Naville berichtet in seinem Buch „Nouvelle classification des sciences“ von einer sehr allgemeinen Wissenschaft, der Semiologie, die F. de Saussure vorschlage und welche die Gesetze der Schaffung und Veränderung von Zeichen zum Gegenstand habe (vgl. Saussure, 2003a: 117).
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Die originalen Schriften von Ferdinand de Saussure
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gingen, so bemerkt er doch abschließend den fundamentalen Unterschied zwischen Chemie (als Naturwissenschaft) und Linguistik (als Geisteswissenschaft): „Die zwei Bestandteile der Luft gehören in die materielle Ordnung, und die zwei Bestandteile des Wortes jeweils zur geistigen Ordnung; unser gleich bleibender Standpunkt wird sein, dass nicht nur die Bedeutung sondern auch das Zeichen selbst eine Tatsache des reinen Bewusstseins ist.“2
Damit wird der anti-positivistische Zug des frühen Strukturalismus deutlich. Das Ganze des Zeichens (z. B. des Wortes) und dessen Teilaspekte sind geistiger Natur; sowohl der „nackte“ Laut als auch der „nackte“ Inhalt erhalten ihre Figur / Form erst im Zeichensystem und sind auf der Ebene des „reinen Bewusst seins“ („conscience pure“) anzusiedeln. Daraus folgt, dass sowohl Semiotik / Semiologie als auch Linguistik Geisteswissenschaften sind.3 F. de Saussure macht allerdings ein fragwürdiges Zugeständnis an die Jung-Grammatiker, indem er sagt, dass in einer historischen Perspektive das Objekt der Linguistik, d. h. das sprachliche Zeichen, diesen Charakter verliert, nicht mehr dual, sondern einfach sei. Dies bedeutet, dass außerhalb der eigentlichen Existenz der Sprache im „Bewusstsein“ von Sprechern / Hörern das geisteswissenschaftliche Objekt zu einem naturwissenschaftlichen Objekt, z. B. beschreibbar in Begriffen der Phonetik, der Physiologie der Lautorgane wird. Man kann sich dies insofern vorstellen, als die historische Phonetik, die sich nur noch mit den Verschiebungen der Vokale und Konsonanten im phonetischen Raum beschäftigt, die Inhaltsseite ausblendet. Ihr kommt quasi die Doppelnatur der Zeichen abhanden. Eigentlich müsste dieser Verlust auch für die „forme-sens“ gelten, d. h. der geistige Inhalt würde unzugänglich. Es fehlt in diesem Falle aber der naturwissenschaftliche Rahmen, in dem die Materie des Sinns (sens) ohne seine Form verortet und in seiner Bewegung beschrieben werden könnte (lediglich die Sachkultur, auf die Sprache verweist, kann historisch rekonstruiert werden). Generell erbt F. de Saussure, wohl in der Tradition der französischen Psychologie, die durch Condillacs Sensualismus geprägt war, die Probleme eines auf die Sprache angewandten Kartesianismus: Streift man das Rationale, Bewusste, Geistige ab, so bleibt eine Maschine übrig; und wie die Entwicklung 2
3
„Les deux éléments de l’air sont dans l’ordre matériel, et les deux éléments du mot sont réciproquement dans l’ordre spirituel ; notre point de vue constant sera de dire que non seulement la signification mais aussi le signe est un fait de conscience pure.“ (Saussure, 2002: 19) Es ist natürlich ein Leichtes, eine parallele Argumentation bezüglich der Objekte der Naturwissenschaften zu konstruieren, die in ihrer Relevanz und Kategorisierung von Akten des Geistes abhängig, ja von diesen in ihrer (zu beschreibenden) Struktur erst konstituiert werden. In der Konsequenz verschwindet dann die Trennungslinie zwischen Semiotik (Linguistik) und Naturwissenschaft erneut.
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Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus
des Kartesianismus hin zum „homme machine“ bei Lamettrie (1748) zeigt, ist die Hypostasierung des Rein-Geistigen im Dualismus in unmittelbarer Nähe eines rabiaten Materialismus angesiedelt. Insofern ist die Bewegung „weg von den Jung-Grammatikern“ bei F. de Saussure viel weniger radikal als es zuerst scheinen mag. In der weiteren Entwicklung der Linguistik im 20. Jh. zeigt sich die Nähe des Strukturalismus zu einer sensualistisch-mechanischen Position zuerst bei Bloomfield und Harris (auf dem Hintergrund der in Amerika seit 1920 dominanten behavioristischen Psychologie) und erneut im Übergang vom Rationalismus von Noam Chomsky zu den Sprachautomaten der K. I. (Künstlichen Intelligenz) ab 1960. Eine Gelenk- oder Transferfunktion haben dabei die Bezüge des Strukturalismus zur Logik und Mathematik. In seiner Diskussion der Arbeiten von Whitney, der für F. de Saussure als Einziger brauchbare Verallgemeinerungen aus den Ergebnissen der sprachvergleichenden Studien zwischen 1860 und 1870 gezogen hat (Saussure, 2002: 205), sagt F. de Saussure: „Im Übrigen machen wir uns keine Illusionen. Es kommt ein Tag […], an dem man anerkennen wird, das die quantitativen Merkmale der Sprache und deren Beziehungen regelhaft durch mathematische Formeln ausgedrückt werden können, und zwar wegen ihrer fundamentalen Natur.“4
Die Sprache wird in der Folge mit einem Schachspiel verglichen. Ein Schachzug in einem Zustand des Schachspiels ist in seinen Möglichkeiten durch die Regeln des Schachspiels bestimmt. Diese sind aber nicht vage und fließend, sondern erlauben eine exakte, mathematische Bestimmung. Die Psychologie der Spieler, die äußeren Umstände des Spiels, die spezifische Abfolge der Züge ist dabei nicht das primär Wichtige, das Spiel als solches Definierende. F. de Saussure sagt von der Generation der Praktiker des Sprachvergleichs (nach Bopp), sie habe immer schon die Sprachzustände als Schach-Situationen aufgefasst, während die folgende Generation der Sprachhistoriker lediglich die Abfolge der Schach-Züge betrachtet habe. Beide Betrachtungsweisen seien falsch, da die Schachzüge von den Schachpositionen und den dabei gültigen Regeln abhängen. Auch hier zeigt sich die Doppel-Natur der Sprache, sie ist zugleich Situation (Zustand) und Zug (Wandel). In der Geschichtswissenschaft sind entsprechend besonders die Stadien (der Ruhe) und die Krisen (Wechsel, Revolutionen) von Bedeutung und bedingen sich gegenseitig.
4
„Au reste, ne nous faisons pas d’illusions. Il arrivera un jour […] où on reconnaîtra que les quantités du langage et leurs rapports sont régulièrement exprimables, de leur nature fondamentale par des formules mathématiques.“ (ibidem: 206)
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Die originalen Schriften von Ferdinand de Saussure
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F. de Saussure unterscheidet in dem Manuskript „De l’essence double du langage“ (in: Saussure 2002) vier wesentliche Gesichtspunkte in der Beschreibung der Sprache: I
Der Zustand einer Sprache als solcher wird bestimmt: = im Augenblick, = die Sprache wird als Zeichen (signe-idée) gesehen, = es dominiert ein anti-historischer Wille, = es dominiert die morphologische oder grammatikalische Perspektive, = der Schwerpunkt liegt auf der Kombinatorik der Zeichen II Die transversalen Identitäten betreffen: = diachrone Aspekte, d. h. phonetische Aspekte (figure vocale losgelöst von der Idee / Funktion des Zeichens), = die isolierten Elemente. Diese Identitäten existieren zuerst nur aufgrund von Zuständen und werden erst im Vergleich zu einer zweiten abgeleiteten Ordnung von Identitäten zu transversalen Identitäten (ibidem: 21). III Anachronische oder artifizielle Analyse als Projektion eines Zustandes (der Morphologie oder der Syntax) auf einen anderen; retrospektiv die Etymologie (im weiten Sinne). IV Historischer Gesichtspunkt; zwei aufeinander folgende Zustände werden unabhängig als Zustände bestimmt. Die Rede („parole“) ist das einzige konkret Existierende an der Sprache. Außerhalb der Identität oder Nicht-Identität, z. B. einer „figure vocale“, etwa eines gesprochenen Wortes oder Satzes, gibt es aber nichts. Erst das abstrakte durch Identität oder Nicht-Identität bestimmte Zeichen ist das erste und fassbare Objekt der Sprachwissenschaft. F. de Saussure vergleicht in dieser Hinsicht die Sprache mit der Musik. Das einzig konkrete Objekt ist die Aufführung des Musik-Stücks, dennoch ist das Musik-Stück nicht mit der jeweiligen Aufführung gleichzusetzen, es wird nicht durch seine Realisierung in seiner Identität bestimmt. Es folgt daraus, dass selbst der deskriptiv empirisch vorgehende Linguist immer eine theoretische Perspektive auf das System einnehmen muss, um sein Objekt richtig erfassen zu können. Innerhalb des Systems sind die Differenzen und damit die Relationen dasjenige, was zentral ist. Diese bestimmen eine Morphologie, und zwar auf den unterschiedlichen Ebenen (z. B. Lautfolge, Wort, Satz). Es kommt immer auf die Ordnung der Fakten (ordre de faits) zu einem Zeitpunkt an, Was zählt ist: „das Spiel der Zeichen aufgrund ihrer Differenz in einem gegebenen Moment zu kennen“.5
5
Ibidem: 35: „savoir le jeu des signes, au moyen de leur différences à un moment donné.“
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Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus
3.2 Zusammenfassung und Vergleich mit dem „Cours“ von 1916 Der Begriff des sprachlichen Zeichens ist durch eine doppelte Opposition: Laut – Sinn und Form – Figur gekennzeichnet. Dies ergibt ein Vierer-Feld: Laut – Figur
Laut – Form
Sinn – Figur
Sinn – Form
Tabelle 2: Vierer-Feld nach F. de Saussure Die Dichotomie von Figur und Form ist asymmetrisch, da erst in der Form der Laut und sein Sinn ein möglicher Gegenstand der Sprachwissenschaft sind. Die allgemeine (von der Einzelsprache unabhängige) Betrachtung des Lauts in der Phonetik wird in die naturwissenschaftliche Phonetik, die für die Sprachwissenschaft bloß Hilfswissenschaft ist, abgedrängt. Die Frage nach dem sprachunabhängigen Sinn wird der Psychologie zugeschoben. Im Vergleich zum „Cours“, den F. de Saussures Schüler zusammengestellt haben, erscheinen die dichotomischen Trennungen von langue – parole und synchron – diachron milder. Die „parole“, d. h. das spontane hic-et-nunc einer Sprachäußerung, muss natürlich in Bezug auf wiederkehrende Typen (beim gleichen, bei verschiedenen Sprechern einer Sprachgemeinschaft) klassifiziert werden. Insofern ist jede noch so konkrete Feldforschung am sprechenden Menschen spätestens in der Analysephase bereits der „langue“ zuzuordnen. Die Hypostasierung der „langue“ zur Sprechnorm eines „native speakers“ oder gar zur Schreibnorm ist so in F. de Saussures Manuskripten nicht formuliert. Die Synchronie erfasst für F. de Saussure das ganze Zeichen und nicht nur die phonetische Seite. Er sieht die Diachronie aus der Erfahrung mit den Junggrammatikern primär als Lautgeschichte. Die Kritik an der philologischen Vergleichstechnik kommt aus F. de Saussures eigener Berufserfahrung (vgl. seine Laryngaltheorie) und transportiert eine wichtige historische Einsicht. Durch die Öffnung für komplexe Zusammenhänge werden die Bereiche der Grammatik jenseits der (historischen) Phonetik, nämlich Morphologie, Lexik und Syntax, wieder in die ihnen gebührende zentrale Position gerückt. Bei F. de Saussure erscheinen allerdings Morphologie und Lexikon am wichtigsten; die Syntax wird erst im amerikanischen Strukturalismus (vgl. Kap. 7 und 8) und in Europa nach 1930 zentral. Interessanterweise wird aber zuerst die Phonologie, d. h. die der Phonetik nahe stehende Subdisziplin, zum Paradefeld für die Entfaltung und Präzisierung des Strukturalismus, indem die Lautstruktur auf ihre Funktionalität für das System befragt wird (vgl. Kap. 4).
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Beiträge des System-Gedanken von F. de Saussure zur Lexikologie und Grammatik
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3.3 Beiträge des System-Gedanken von F. de Saussure zur Lexikologie und Grammatik Der Systemgedanke hängt eng mit dem kollektiven Charakter der Sprache zusammen, dem Aspekt, den bereits 1901 Adrien Naville hervorgehoben hat, als er F. de Saussures Semiologie als Teil einer Soziologie bezeichnete. In den „Nouveaux Documents“ (Saussure, 2002: 280 f.) zeigt F. de Saussure, dass in dem Moment, wo die Kollektivität von der Sprache Besitz ergreift,6 eine Vielzahl von Wirkungen, von Kräften das System formen. Diese sind erst aus einer Analyse des Systems zu erschließen und nicht außerhalb seines Wirkungszusammenhangs zugänglich. Das bedeutet, individual-psychologische und situativhistorische Erklärungen sind irrelevant. Umgekehrt erlaubt die Betrachtung des funktionierenden Systems Rückschlüsse auf mögliche formende Kräfte7. Der von seinen Schülern herausgegebene „Cours“ gibt einige Hinweise, wie eine Sprachlehre (Lexikologie, Grammatik) aussehen sollte (jenseits der Phonetik). Im zweiten Teil des „Cours“ wird zuerst die synchrone Linguistik, d. h. die vollständige, die grundlegende Form der Sprachanalyse beschrieben. In Kapitel VII werden die Grammatik und ihre Unterteilungen behandelt. Die klassische Absonderung der Lexikologie (Wortlehre) von der Grammatik wird abgelehnt. Auch die Trennung von Morphologie und Syntax erscheint als eher willkürlich. De Saussure geht von einer einheitlichen Betrachtung innerhalb der synchronen Grammatik aus. Er unterscheidet allerdings zwischen: S yntagmatischen Beziehungen. Sie ergeben sich aus der Linearität der Sprache, d. h. einem Grundpostulat de Saussures. Syntagmatische Beziehungen sind genereller als syntaktische, da sie auch auf anderen Sprachebenen relevant sind. Diese Beziehungen bezeichnet F. de Saussure als aktuelle (in praesentia). –– Assoziative Beziehung.8 Sie haben ihren Ort im Gedächtnis und sind somit vom Redefluss unabhängig. Sie bilden einen inneren Schatz und haben ihren Sitz im Gehirn (Saussure, 1967: 171). Diese Beziehungen existieren auch außerhalb des Akts, sie sind virtuell (in absentia).
––
6 7
8
Saussure vergleicht die Sprache mit einem Schiff, das erst auf dem Ozean seine wahre Natur offenbart und nicht schon in der Werft oder gar auf dem Plan des Schiffbauingenieurs (ibidem: 289). Dass Saussure eher an ein System im Fluss als an ein statisches System denkt, macht die folgende Aussage deutlich: „Aber dieses System [einer Sprache, W. W.] besteht in einer diffusen [„confuse“] Differenz von Ideen, welche sich über die Oberfläche einer Differenz […] von Formen bewegt, ohne dass jemals eine Differenz der ersten Ordnung eine Differenz der zweiten Ordnung entspräche, noch im umgekehrten Sinne.“(ibidem: 82; Übersetzung W. W.). Jakobson spricht später von paradigmatischen Beziehungen.
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Ferdinand de Saussure und die Anfänge des Europäischen Strukturalismus
De Saussure gibt ein Beispiel aus der Architektur. Eine Säule trägt (aktuell) ein Kapitell (syntagmatisch). Dieses kann dorisch, jonisch oder korinthisch sein (assoziativ). Als Beispiele in der Grammatik führt de F. de Saussure an: –– Syntagmatische Beziehungen: re – lire (nach – lesen) contre tous (gegen alle) la vie humaine (das menschliche Leben) Dieu est bon (Gott ist gut) Zu „langue“ gehören alle syntagmatischen Beziehungen, seien sie festgefügt oder nach Regeln gebildet; der Übergang zur individuellen Bildung (Kollokation) ist fließend. –– Assoziative Beziehungen: a) De Saussure unterscheidet Wortreihen mit einem gemeinsamen Element („radical“ oder „suffixe“): enseignement, enseigner, enseignons und enseignement, armement, changement (Belehrung, Bewaffnung, Änderung). b) Andere assoziative Beziehungen beruhen auf einer Analogie der Bedeutung (signifié): enseignement – apprentissage, éducation (Unterricht – Lehre, Erziehung) c) Ähnlichkeit des Lautes (Randfälle) enseignement – justement Belehrung – Schwung Ähnliche Beziehungen gelten auch unterhalb der Morphemebene. Die möglichen Phoneme etwa am Wortende stehen in assoziativen Beziehungen. Die möglichen Konsonantenpaare (oder allgemeiner -tupel) am Wortanfang bilden eigene syntagmatische Ordnungen. Mit Ferdinand de Saussure wurde eine Neukonzeption von Sprachsystem und Grammatik entwickelt, welche als Basis für weiterreichende Innovationen dienen konnte und damit den Aufschwung der internationalen Linguistik im 20. Jh. einleitete. Zwar wurde um 1960 von Chomsky und seinen Anhängern der Anspruch erhoben, selbst eine „neue“ Linguistik geschaffen zu haben; es handelte sich aber eher um grammatisch-technische Innovationen, die für die aufkommende Ingenieurs-Linguistik und die Künstliche Intelligenz-Forschung von Bedeutung waren (vgl. Kap. 9). Ihr fehlte aber das Moment der semiotischen und philosophischen Neuorientierung. Insofern wird de Saussure zu Recht als der Vater der im 20. Jh. entstehenden „neuen“ Linguistik angesehen. Derzeit ist kein Umbruch vergleichbarer Tiefe zu erkennen und die durch de Saussure und seine Nachfolger aufgeworfenen Fragen stehen weiter zur Debatte.
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4 Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons Der Prager Strukturalismus ist durch unterschiedliche Strömungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg geformt worden. Wegen der Annexion von Teilen der Tschechoslowakei 1938 und dem Krieg wurde er zwischen 1938 und 1945 quasi unterbrochen, da seine Hauptvertreter entweder gestorben (so Trubetzkoy 1938) oder emigriert waren (so Jakobson). Die Tradition nach 1945 ist im Kontext der sowjetischen Machtentfaltung in der CSSR zu bewerten. Ich werde mich auf die Zeit vor 1938 beschränken und anhand von Jakobson die weitere Entwicklung verfolgen. Die poetologischen und sprachästhetischen Weiterentwicklungen der Prager Schule werden ebenfalls nur an der Person Jakobsons exemplarisch dargestellt.1 Im Umfeld des Prager Strukturalismus ist die Tartuer Schule, insbesondere Juri Michailowitsch Lotman (1922 bis 1993) zu erwähnen; vgl. Lotman (1975). Er geht wie Trubetzkoj vom russischen Formalismus und der Semiotik Ferdinand de Saussures aus. Die Schule von Tartu, die Lotman Anfang der 60er Jahre gegründet hat, zog die Moskauer Linguisten V. N. Toporov, V. V. Ivanov, I. I. Revzin und B. A. Uspenskij an; sie wird gegenwärtig außer in Tartu in Moskau und St. Petersburg weiter betrieben. Historisch hängt der Beginn der „Prager Schule“ mit der Diskussion nach einem Vortrag von Henrik Becker 1926 in Prag zum Thema „Der europäische Sprachgeist“ zusammen (vgl. Helbig, 1974: 48). Danach traf sich die Gruppe (Vachek, Jakobson, Trnka, Havránek) zu regelmäßigen Vorträgen. Es bildete sich der „Cercle Linguistique de Prague“, zu dem sich auch der exilierte Russe, Fürst Trubetzkoy, gesellte. Beim I. Internationalen Linguistenkongress in Den Haag 1928 trat die Gruppe das erste Mal international in Erscheinung und 1929 erschien das Publikationsorgan „Travaux du Cercle Linguistique de Prague“. Zentrale Programmpunkte wurden 1927 von Trnka u. a. als „Thèses“ veröffentlicht. Eine zentrale Aussage bestimmt die Sprache als ein System von Ausdrucksmitteln, die einem Zweck angemessen sind2. Die Sprache wird also, wie später auch bei Bühler (1934), als Werkzeug, bezogen auf außersprachliche Funktionen, die allerdings nur durch Sprachbeobachtung zuverlässig zu bestimmen sind, definiert. Dieser Schwerpunkt auf den Funktionen der Sprache 1 2
Vgl. auch Helbig, 1974, Kap. 3.2: Die Prager Schule. Die linguistische Poetik kann im Rahmen einer Geschichte der Literaturwissenschaft und Poetik ausführlicher dargestellt werden. Siehe Trnka u. a. (1929 / 1982: 7): „un système de moyens d’expression appropriés à un but“.
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
führte auch dazu, dass von „Prager Funktionalismus“ gesprochen wurde. Da die Funktionen aber durch Sprachbeobachtung, d. h. immanent bestimmt werden, steht der Funktionalismus nicht in Widerspruch zu Saussures Strukturalismus und die Mitglieder der Prager Schule sahen sich auch als Fortsetzung des Saussureschen Programms, d. h. als Strukturalisten. Andere Schulen, z. B. die Kopenhagener Schule, bestritten aber, dass die Prager Schule im Sinne Ferdinand de Saussures strukturalistisch sei (vgl. Hjelmslev, 1943 / 1974: 73). Im weiteren Verlauf der Entwicklung zeigt der Funktionalismus aber spezifische Züge, z. B. in der Klassifikation der sprachlichen Funktionen. In dieser Ausrichtung neigt er zu einer semiotischen Betrachtung. Ähnliches gilt für die strukturale Analyse der Literatur in den Nachkriegsschulen in Prag und Bratislava. Wir werden bei der Besprechung des Werks von Jakobson einige dieser Aspekte erneut aufnehmen.
4.1 Anmerkung zu den Begriffen „strukturell“ und „Strukturalismus“ Programmatisch hat erst 1928 Roman Jakobson den Begriff strukturell (strukturál’nyi) in Verwendung gebracht. Trubetzkoy setzt in einem Brief an Jakobson das Adjektiv „strukturell“ noch zwischen Anführungszeichen. In der Enzyklopädie Ottův slovník naučný nové doby (‚Ottos Enzyklopädie des Neuen Zeitalters‘) steht die folgende Definition von Havránek (vgl. Thümmel, 1993b: 257): „Strukturalismus ist eine neue wissenschaftliche Betrachtungsweise auf verschiedenen Gebieten, nach der man sich das Gesamt der Phänomene in den jeweiligen Gebieten als Struktur (als eine Ganzheit, eine Konstruktion oder ein Gefüge) vorstellt. Eine Struktur in diesem Sinne baut sich aus den Einzelphänomenen als eine höhere Einheit (eine Ganzheit) auf, und zwar so, dass diese Einheit ganzheitstiftende Eigenschaften annimmt, die ihren Teilen nicht zukommen; sie ist nicht einfach ein Konglomerat, eine Summe der Einzelteile. Die Einzelphänomene sind nicht die separaten Bestandteile eines analysierbaren Ganzen, sondern, verbunden durch wechselseitige Beziehungen, sind sie, was sie sind, immer nur in Bezug auf das hierarchisch geordnete Ganze.“ (Havránek 1943, 452).
Das Sprechen von der Struktur, der Konstruktion des Satzes ist natürlich viel älter. Thümmel (ibidem) verweist auf Linacre (1747), Høysgaard (1752), Meiner (1781), Byrne (1892) und den Zeitgenossen de Saussures Noreen (1903) sowie Wundt (1900).3 Der europäische Strukturalismus wird durch die pro-
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In den USA wurde die Psychologie Wundts als strukturalistisch bezeichnet; sie galt als Gegenpol zur „modernen“ behavioristischen Psychologie. In der Tat wird das Ganzheitsprinzip von Wundt und seinen Schülern eingeführt, das später in der Gestaltpsychologie entfaltet wurde.
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Die Arbeiten von N. S. Trubetzkoy
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grammatisch (positive) Verwendung der Begriffe strukturell, strukturalistisch, Strukturalismus und den Bezug auf Saussures („Cours“ hg. 1916) als Ausgangspunkt bestimmt. Alle auf die generative Transformationsgrammatik bezogenen europäischen Tendenzen werden in der Regel nicht mehr dem europäischen Strukturalismus zugerechnet (für die Arbeiten in Deutschland siehe Kap. 9.4.3; entsprechende Anwendungen gab es auch in den Niederlanden, Italien, Frankreich und anderen Ländern Europas). Gegenüber dem amerikanischen (z. B. Bloomfield, Bloch, Trager, Nida, Pike, am Rande Harris) und dem Kopenhagener Strukturalismus glaubt Thümmel die folgenden Unterscheidungsmerkmale auszumachen: –– Die Hervorhebung der binären Segmentation (als Erbe Wundts), besonders deutlich in Jakobsons Merkmalsliste. –– Die Reduktion des Bedeutungsaspektes auf die Funktion der Bedeutungsunterscheidung (z. B. bei Trubetzkoy), –– Eine einfache zweiteilige Zeichenkonzeption, d. h. nicht die doppelte Dualität, die neben Substanz und Form noch Inhalt und Ausdruck unterscheidet (besonders deutlich bei Hjelmslev, d. h. im Kopenhagener Strukturalismus ausgeprägt). Dennoch bleibt der Begriff Strukturalismus in der Vielfalt seiner Bestimmungen in einzelnen Schulen und bei einzelnen Autoren ziemlich offen. Die Dynamisierung des Systembegriffes, den wir schon bei de Saussure festgestellt hatten, bezieht nun auch Gebrauchskontexte und Stile mit ein.
4.2 Die Arbeiten von N. S. Trubetzkoy Fürst Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy (1890–1938) hat eine gründliche Ausbildung in der vergleichend-historischen Sprachwissenschaft erhalten, u. a. in Leipzig 1913 / 14 bei Brugmann, Leskien und Windisch (vgl. Arens, 1969: Bd. 2). Bereits in seiner Schulzeit hatte er sich mit kaukasischen Sprachen befasst und hatte später die finnougrischen, die paläoasiatischen und die indogermanischen Sprachen studiert. Wie gleichzeitig Sapir hatte er somit die Dominanz der Indogermanistik überwunden und war zu allgemeineren Einsichten gelangt, die denen der Indogermanisten z. T. diametral entgegensetzt waren. Als Beispiel mag sein Vortrag „Gedanken über das Indogermanenproblem“ (1936 gehalten, posthum 1939 veröffentlicht) gelten. Die Konzeption Schleichers einer realen (durch Rekonstruktion zu sichernden) urindoeuropäischen Sprache und der dieser zugehörenden Kultur wird als eine Hypostasierung von linguistischen Fakten abgelehnt. Die Sprachwissenschaft kann nur die Frage beantworten: Wie hängen die als hinlänglich ähnlich erkannten „indogermanischen Sprachen“ zusammen und wie ist ihr typischer Sprachbau entstanden?
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
Die voreiligen Folgerungen, es habe eine indogermanische Sprache, in einem Zeitabschnitt, in einer Region, als eine Kultur (oder gar Rasse) gegeben, wird als wissenschaftlich nicht vertretbar abgelehnt. Heute hat sich diese Ansicht im Wesentlichen durchgesetzt, auch wenn Genetiker und Archäologen glauben, zwei mögliche Zentren und Zeiträume ausmachen zu können (vgl. Cavalli-Sforza, 2001: 133).4 Im Kontext der rassistischen Diskurse der 30er Jahre ist Trubetzkoys Hypothese eine deutliche Zurückweisung der Arier-Hypothese der Nazi-Ideologen. Der Begriff „Indogermane“ ist ein linguistisches Vergleichskonstrukt und „Arier“ ist eine Selbstbezeichnung indoeuropäischer Sprecher im Raum Persien; alle rassistischen und kulturhistorischen Konstrukte, die auf diesen Begriffen aufbauen wollen, sind wissenschaftlich unseriös. Dieser Aspekt in Trubetzkoys Arbeit zeigt einerseits die kritische Distanz zur Indogermanistik im Stil der Jung-Grammatiker (um 1870) und ihren weit weniger wissenschaftlichen Nachfolger in den 30er Jahren. Wichtiger ist jedoch Trubetzkoys Beitrag zur Phonologie, denn die Phonologie war die Paradedisziplin des Prager Strukturalismus. In die Phonologie Trubetzkoys mündeten neben dem Strukturalismus von de Saussure und Meillet, zwei weitere im slawischen Bereich beheimatete Traditionen: a) Die Arbeit von Jan Baudouin de Courtenay (1845–1929), einem polnischen Gelehrten, der das Programm einer von der Phonetik weitgehend unabhängigen Phonologie formuliert hat. b) Die Experimente der russischen Formalisten und deren Reduktion kultureller Formen auf ein formales (mathematisches) Gerüst. Des Weiteren bildeten die technischen Fortschritte der Phonetik (physikalisch, physiologisch, psychologisch) eine stabile Basis, um eine (funktionale) Phonologie darauf aufbauen zu können. Als semiotischer Ausgangspunkt kann Bühlers Organon-Modell des sprachlichen Zeichens verstanden werden (ausgeführt in: Bühler, 1934). Programmatisch wurde die neue Phonologie bereits 1928 beim ersten Internationalen Linguisten-Kongress in Den Haag von Trubetzkoy, Jakobson und Karcevsky vorgestellt, wobei die ganzheitliche Betrachtung des phonologischen Systems im Vordergrund stand. 1932 definierte Jakobson das Phonem als „Verbindung derjenigen zusammenwirkenden Lauteigenschaften, die in einer Sprache benützt werden, um Wörter verschiedener Bedeutung zu unterscheiden“. Die vollständigste Form erlangte die Prager Phonologie in Trubetzkoys „Grundzügen der Phonologie“. Semiotisch übernimmt Trubetzkoy Bühlers Dreiteilung der Sprachfunktionen in: Kundgabe (Ausdruck), Appell und Darstellung; letztere wird wie bei 4
Die Kurgan-Region, nördlich des Schwarzen Meeres wird in einer der gängigen Theorien als Ursprungsregion der indoeuropäischen Sprachen angenommen. Ein anderes, eventuell früheres Zentrum könnte in Anatolien gelegen haben.
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Die Arbeiten von N. S. Trubetzkoy
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Bühler als für die menschliche Sprache (im Gegensatz zur Tierkommunikation) zentrale Funktion angesehen. Die Phonologie, die sich prinzipiell in Kundgabe-, Appell- und Darstellungsphonologie unterteilen ließe, kann spezifischer auf den letzten Bereich eingegrenzt werden. „Der Name ‚Phonologie‘ darf nach wie vor auf die Untersuchung der darstellungsrelevanten lautlichen Seite des Sprachgebildes beschränkt bleiben, während die Untersuchung der kundgaberelevanten und der appellrelevanten Elemente der lautlichen Seite des Sprachgebildes von der ‚phonologischen Stilistik‘ besorgt wird, die ihrerseits nur ein Teil der Lautstilistik ist.“ (Trubetzkoy, 1971: 29)
Die Phonologie wird, wie bereits in Saussures System vorgeprägt, als „Unterscheidungslehre“ (ibidem: 30) bezeichnet. Kernphänomene sind die Oppositionen, d. h. die direkt korrelierten Differenzen, Gegensätze. „Schallgegensätze, die in der betreffenden Sprache die intellektuelle Bedeutung zweier Wörter differenzieren können, nennen wir phonologische (oder phonologisch distinktive oder auch distinktive) Oppositionen. Solche Schallgegensätze dagegen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, bezeichnen wir als phonologisch irrelevant oder indistinktiv.“ (Ibidem: 30 f.)
Es gilt außerdem ein Minimalitätsprinzip, die Unterscheidung muss in der Lage sein, als einzige Opposition die Bedeutungen zu unterscheiden, die entsprechende Technik wird durch die Analyse von Minimalpaaren realisiert. Manche Laute bilden zwar phonetisch einen Gegensatz, wie der ich-Laut [ç] und der ach-Laut [x] im Deutschen, sie sind aber nicht im gleichen Kontext austauschbar und stellen somit keine minimale Opposition dar; man spricht von einer komplementären Variante. Trubetzkoy formuliert vier Regeln (ibidem 42–47): Regel I (S. 42) „Wenn zwei Laute derselben Sprache genau in derselben lautlichen Umgebung vorkommen und miteinander vertauscht werden dürfen, ohne dabei einen Unterschied in der intellektuellen Wortbedeutung hervorzurufen, so sind diese zwei Laute nur fakultative phonetische Varianten eines einzigen Phonems.“ Regel II (S. 44) „Wenn zwei Laute genau in derselben Lautstellung vorkommen und nicht miteinander vertauscht werden können, ohne daß sich dabei die Bedeutung der Wörter verändern oder das Wort unkenntlich werden würde, so sind diese zwei Laute phonetische Realisationen zweier verschiedener Phoneme.“ Regel III (S. 44) „Wenn zwei akustisch bezw. artikulatorisch miteinander verwandte Laute einer Sprache niemals in derselben Umgebung vorkommen, so werden sie als kombinatorische Varianten desselben Phonems gewertet.“ Regel IV (S. 46) „Zwei Laute, die sonst den Bedingungen der Regel III entsprechen, dürfen trotzdem nicht als Varianten desselben Phonems gewertet werden, wenn sie in der betreffenden Sprache nebeneinander, d. i. als Glieder einer Lautverbindung stehen können, und zwar in solchen Stellungen,
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in denen auch einer von den beiden Lauten isoliert vorkommt. Beispiel: Im Englischen darf r nur vor Vokalen, dagegen ә nur nicht vor Vokalen stehen; und da r ohne Reibe- bezw. Explosionsgeräusch und ә mit recht unbestimm ten Öffnungsgrad und Färbung gesprochen werden, so könnte man geneigt sein, engl. r und ә als kombinatorische Varianten desselben Phonems zu betrachten; dies wird aber dadurch unmöglich gemacht, daß in Wörtern, wie profession (spr. prәfešn) die Laute r und ә nebeneinander stehen und daß in anderen Wörtern in derselben Lautumgebung ein isoliertes ә vorkommt (z. B. perfection – spr. pәfekšn).“ In diesen Regeln fallen zwei Eigenschaften auf: 1) Es sind Regeln für den Phonologen, die er benützt, um ein Phonemsystem zu konstruieren und nicht Regeln, von denen man annimmt, dass der Sprecher sie implizit oder explizit beherrscht. Die Problematik des Regelbegriffs ist eine Grundkonstante der Linguistik des 20. Jh.s. So ist der Regelbegriff bei Chomsky, der auf ein implizites Wissen (implicit knowledge) verweist, ein anderer als derjenige der Prager Schule. 2) Es wird zwar streng zwischen Phonetik als „Sprechaktlautlehre“, die mit „parole“ befasst ist, und Phonologie als „Sprachgebildelehre“ unterschieden (vgl. ibidem: 15), es müssen dennoch Kriterien der phonetischen Nähe / Ferne bei der Erstellung des Phonemsystems berücksichtigt werden. Bei diesen phonetischen Kriterien soll, wie Trubetzkoy ausführt, aber „die Grenze des unbedingt Notwendigen nicht überschritten werden“ (ibidem: 17). Diese Position ist natürlich nicht so eindeutig, wie man es für die Autonomie der Systemlinguistik wünschen möchte. Daraus ergibt sich ein Konflikt, der zwei Lösungen zulässt: a) Man trennt die Phonologie (die Systemlinguistik) gänzlich von Analysen der Lautsubstanz (und entsprechend die Bedeutung vom kognitiven Gehalt). Diese Option wählt Hjelmslev. In der Tendenz wird dann die Linguistik quasi eine Formaldisziplin wie die Logik und Mathematik. b) Man integriert die Phonologie in eine erweiterte Phonetik und damit in eine naturwissenschaftliche Disziplin, d. h. in die Akustik oder Stimm physiologie. Dies geschieht in modernen Selbstorganisationstheorien oder in Robotik-Modellen. Damit hebt man aber Saussures strikte Trennung von „parole“ und „langue“ auf. In Kapitel III entwickelt Trubetzkoy eine Einteilung der Oppositionen in eindimensionale / mehrdimensionale, isolierte / proportionale, privative, graduelle, äquipollente; d. h. er entwickelt eine Logik der Oppositionen. Diese Logifizierung ist der Ausgangspunkt der mathematischen Linguistik und der informationstheoretischen Modelle der 50er Jahre (vgl. Marcus, 1965: Kap. I, II). Das bisher Besprochene betrifft nur den Grundansatz Trubetzkoys (z. B. S. 30–69
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Das Werk Roman Jakobsons (im Überblick)
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seines Buches). Die weiteren Kapitel präzisieren die distinktiven Schallgegensätze (Kap. IV), die Arten der Aufhebung dieser Gegensätze (Kap. V) und die Phonemverbindungen (Kap. VI).
4.3 Das Werk Roman Jakobsons (im Überblick) Roman Osipovič Jakobson wurde 1896 in Moskau geboren. Er wurde zweisprachig in Russisch und Französisch erzogen. Als Gymnasiast begeisterte er sich für Poesie (z. B. Stéphane Mallarmé). 1914 graduierte er am Lazarev Institut für orientalische Sprachen in Moskau, 1916 gewann er einen Preis mit seiner Arbeit zur nordrussischen Volksdichtung (Epik). Diese Arbeit wurde 1918 als Magisterarbeit akzeptiert; als 19-Jähriger veröffentlichte er einen Aufsatz zu einem nördlichen russischen Dialekt. Die dominante linguistische Methode in Moskau war die der Jung-Grammatiker. 1917 brachte Serge Karcevsky aus Genf Ferdinand de Saussures „Cours“ nach Moskau.5 Prägend war für Jakobson außerdem die Lektüre phänomenologischer Arbeiten, so Husserls „Logische Untersuchungen“ (1913) und die Sprachphilosophie Anton Martys (1908) „Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie“. Auch die Gestaltpsychologie des Jahrhundertbeginns wurde von ihm rezipiert. Der phänomenologische (antiformalistische) und der ganzheitliche Zugang blieben für seine Sprachwissenschaft und Semiotik prägend. 1915 initiierte er mit anderen Studierenden den Moskauer LinguistenKreis mit Kernpunkten der Arbeit in Linguistik, Poetik, Metrik und Volksdichtung. Er war bis 1920 Präsident dieses Kreises. In dieser Zeit gründete er mit anderen die „Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache“ in St. Petersburg. Diese beiden Organisationen waren die Keimzellen des „Russischen Formalismus“.6 1920 ging Jakobson wegen der politischen Unruhen in Russland nach Prag, wo er 1930 promovierte; 1933 lehrte er in Brno russische Philologie und alttschechische Literatur. Jakobsons Arbeiten zur Phonologie umfassen vier Perioden: 5 6
Serge Karcevsky (1884–1955) hatte 1906 bis 1917 in Genf studiert und brachte nach der Oktoberrevolution die Genfer Ideen nach Moskau (vgl. Joseph, 1995: 225). In einem Beitrag zu Coserius Festschrift hat Jakobson 1981 die Geschichte des Moskauer Linguistenzirkels kurz zusammengefasst. Er existierte demnach von 1915 bis 1924, organisierte nicht nur spontane Diskussionsveranstaltungen (weniger Vorlesungen) sondern auch Feldforschungsexkursionen um Moskau, in Südrussland und im Kaukasus. Dabei wurden Fragen der Dialektologie ebenso behandelt wie solche der mündlichen und schriftlichen Folklore. Der Höhepunkt der Aktivitäten lag um 1918. Husserls Philosophie wurde durch dessen Schüler G. G. Špet in den Kreis eingeführt. In der Folge wurden die Grenzen des Empirismus debattiert und die Rolle der Semantik problematisiert; siehe Jakobson (1981).
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
20er / 30er Jahre. Phonologische Systeme, Ende der 30er und 40er Jahre. Distinktive Merkmale und Kindersprache, 50er und 60er Jahre. Die akustische Definition der Merkmale, 70er Jahre. Die Lautgestalten als Ganzes.
Insgesamt hat Jakobson mit der Hilfe Trubetzkoys und des Prager Kreises die Phonologie zur methodischen Leit-Komponente, deren Prinzipien auf die gesamte Grammatik übertragbar sind, gemacht. 1939 floh Jakobson vor der Invasion der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach Skandinavien, wo er in Kopenhagen, Oslo (1940) und Uppsala (1941) Vorlesungen hielt; danach emigrierte er in die USA. Obwohl er Anfeindungen von Seiten der eher mechanistisch ausgerichteten amerikanischen Linguistik ausgesetzt war, wurde er von Boas, Whorf und auch Bloomfield unterstützt. Er wurde zuerst Professor an einer französisch-belgischen Exilhochschule in New York (1942–1946); 1943 gründete er mit anderen den „Linguistic Circle of New York“; 1949 wurde er in Harvard Professor für Slawische Sprachen und Literaturen und ab 1960 Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft. Von 1966–1969 gehörte er zusätzlich dem Salk-Institut für Biologische Studien in La Jolla und dem „Center for Cognitive Studies“ in Harvard an. Die Semiotik kam mit der Wiederentdeckung der Peirceschen Semiotik (um 1950) zu seinem Interessen-Profil hinzu und erweiterte jenen Theorie bereich, den er als „Kommunikationswissenschaft“ zusammenfasste; vgl. Abbildung 1 (Jakobson, 1990: 20).
Poetik Linguistik Semiotik Soziale Anthropologie, Soziologie, Ökonomie
Abbildung 1: Die Felder einer Kommunikationswissenschaft nach Jakobson
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Das Werk Roman Jakobsons (im Überblick)
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Zusammen mit dem Phonetiker Fant und dem Linguisten Halle gab Jakobson exakte Definitionen der phonetischen Merkmale auf der Basis akustisch-physikalischer, organo-genetischer und auditiver Eigenschaften an. Unter Nutzung von Gemeinsamkeiten, etwa zwischen Vokalen und Konsonanten, wurde eine minimale Liste universaler distinktiver Merkmale konstruiert. Von besonderem Interesse ist seine wissenschaftstheoretische Zuordnung der generativen Grammatik (Chomsky). –– Sie ist nach Jakobson Teil der strukturalistischen Bemühungen. –– Sie ist geprägt durch die Absonderung funktionaler, pragmatischer, sozialer und kommunikativer Aspekte. –– Sie stellt das Gehirn (brain) als besonderen Bezugspunkt des Geistes (mind) dar. –– Die Phonologie wird als eigenständige Komponente aufgelöst und zerlegt in Phonetik (Merkmale) und Morphophonologie. –– Die Transformation wird zu einem wichtigen Grundbegriff in vielen linguistischen Bereichen. –– Das Lernen erscheint weniger wichtig (relevant) als die angeborene Sprachfähigkeit (das Sprachorgan). Die funktionale Betrachtungsweise Jakobsons implizierte einen ganzheitlichen Ansatz und wurde weitergeführt durch André Martinet und Michael A. K. Halliday.7 Diese Richtung, insbesondere die von Halliday, wird in einem eigenen Kapitel behandelt (vgl. Kap. 11.3). 4.3.1 Lexikalische „Bedeutung“ bei Jakobson In einem Vortrag von 1972 in Leuwen setzt sich Jakobson mit der Frage der Bedeutung auseinander. Er geht kurz auf Bloomfield ein, der sich in einem Brief von 1945 gegen den Vorwurf gewehrt hatte, er betreibe Linguistik ohne Bedeutungsaspekt, untersuche Sprache als bloße Lautstruktur ohne Bedeutung. Jakobson sieht aber in der amerikanischen Linguistik der zweiten Hälfte des 20. Jh. (so bei Chomsky bis etwa 1972) eine verheerende Tendenz in genau diese Richtung. 7
Von Martinet führt über dessen Schüler Weinreich ein Weg zu Labov und zur Soziolinguistik (siehe Kap. 10.1). Jakobson hatte bei seiner Tätigkeit in Yale einen Einfluss sowohl auf Greenberg als auch auf Chomsky, wobei ersteres dieser Einfluss auch bereitwillig zugegeben hat. Die Arbeit von Joseph Greenberg (1915–2001) wurde u. a. fortgesetzt von Bernard Comrie (geb. 1947) und John Hawkins (geb. 1947). Die typologischen Arbeiten des 20. Jh.s. stehen einerseits in der Kontinuität mit Humboldt und den Komparatisten des 19. Jh.s, andererseits bilden sie mit den populationsgenetischen Analysen zusammen einen neuen Methoden- und Theoriehorizont, auf den ich in Kap. 13.2 kurz eingehen werde (vgl. auch Wildgen, 2003b).
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
An dem häufig genannten Beispiel „bachelor“ diskutiert Jakobson, was Bedeutung ist. Lexikalisch gibt es mindestens vier Lesarten: 1) 2) 3) 4)
unmarried man, holder of the lowest academic degree, knight serving under the standard of another king, young male fur seal without mate during breeding time.
Es handelt sich nicht um Homonyme (zufällig gleichlautende oder gleich geschriebene lexikalische Varianten). Die einzige Gemeinsamkeit ist die folgende: Alle sind (grammatisch) Nomina und (semantisch) belebt. Eine genauere Analyse zeigt ein weiteres charakteristisches Merkmal: Unvollständigkeit (sie ist mit dem but-Test feststellbar; vgl. Jakobson, 1990: 317 f.): 1) 2) 3) 4)
adult man, but unmarried, holder of an academic degree, but the lowest, knight, but without a banner of his own, young male adult seal, but without a mate during breeding time.
Durch diesen „gemeinsamen Nenner“ werden die Lesarten zu einer Familie, d. h. zu polysemen Ausdrücken eines Wortes vereinigt. Jakobson geht dann auf die logische Kategorie der Referenz, d. h. die Existenz eines Bezugsobjektes in einer Welt ein. Der Satz „Einhörner existieren“ ist unvollständig, wenn nicht spezifiziert wird, in welcher Welt er gelten soll. In derjenigen der Biologie, der Legende usw.? Die Frage des Referenten kann nicht an die Logik weitergereicht werden. Innerhalb der Linguistik ist aber der geeignete Bezugspunkt so etwas wie die Diskurs-Welt, der Kontext (der verbalisiert wird oder unausgesprochen bleibt). Mag die allgemeine Bedeutung auch ein Gegenstand der Philosophie (Logik) sein; die kontextuelle Bedeutung bleibt Gegenstand der Sprachwissenschaft. Jakobson vergleicht dazu quasi-synonyme Ausdrücke (ibidem: 320): Es ist viertel vor fünf – Es ist 16.45. Es ist dreiviertel (nach) vier – Es ist 16.45. Merkmale wie: Perspektive vorwärts (fünf Uhr), rückwärts (vier Uhr), Genauigkeit (Minutenangabe) unterscheiden diese Bedeutungen. 4.3.2 Grammatische „Bedeutungen“ bei Jakobson Jakobson kommentiert einen Artikel, den Franz Boas 1938 veröffentlicht hatte. Nach Boas wählt jede Sprache Aspekte der Erfahrung aus, klassifiziert sie und verleiht ihnen Ausdruck (ibidem: 325). Wichtig ist dabei besonders der Aspekt der obligatorischen Auswahl, d. h. die Grammatik zwingt dem Benützer eine Wahl auf und dies unterscheidet die lexikalischen und die grammatischen Bedeutungen.
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i) The man killed the bull. Topics: The man, the bull. Die Reihenfolge bestimmt die Rollen von Agens und Patiens; indirekt wird die Wahl zwischen einer Aktiv- und Passiv-Konstruktion erzwungen. ii) The bull was killed (by the man). In der Passiv-Konstruktion wird das Agens (the man) optional. iii) The man kills / killed / has killed / will kill the bull. Die Wahl der Flexionsform oder der Hilfsverb-Konstruktion öffnet Selektionsmöglichkeiten: –– Präteritum / Nicht Präteritum killed / kills –– Perfekt / Nicht Perfekt has killed / kills –– Progressiv / Nicht Progressiv killing / kills Die Sprachen unterscheiden sich wesentlich darin, welche Unterscheidungen sie erzwingen. Mögen für unser Sprachen Definitheit (the / a man), Numerus (man / men), Tempus (kills / killed) obligatorische Aspekte sein, so sind es in anderen Sprachen Unterscheidungen wie –– in der Nähe des Sprechers / anderswo, –– bekannt aus eigener Erfahrung / bekannt durch Hörensagen. Daraus kann man jedoch keine kulturellen Differenzen oder gar Defizite folgern, da lexikalische Mittel das Fehlen obligatorischer Unterscheidungen auf der morphologischen Ebene ausgleichen können. Aber die Verpackung einer Anzahl von Unterscheidungen in die obligatorische, grammatische kodierte Kategorientafel charakterisiert die einzelnen Sprachen wesentlich. Es erscheint eine grundlegende Trennung zu geben in: –– Morphologie / Syntax – Bereich der erzwungenen Strukturunterscheidung –– Lexikon / Phraseologie – Bereich der relativ freien Entscheidungen Die Hauptfrage der Linguistik für Boas und Jakobson war deshalb: „What aspects of information are obligatory for any verbal communication all over the world, and what others only for a certain number of languages?“(ibidem: 328).
Mit dieser Fragestellung öffnet Jakobson den Weg für eine funktionale Typologie oder eine Pragmatik in typologischer Hinsicht. Diese Forschungsrichtung wurde später weitergeführt im Rahmen des Projektes: „Typology of European Languages“ (EUROTYP); vgl. Bechert, Bernini, Giuliano und Buridant (1990).
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
4.3.3 Jakobson als Semiotiker Der Ursprung des Prager Strukturalismus im Russischen Formalismus und die Ganzheitsvorstellung in der Nachbarschaft zur Gestaltpsychologie der 20er Jahre ebenso wie der dominante funktionale Gesichtspunkt haben in ihrer inneren Logik eine semiotische Orientierung erzwungen. Jakobson geht zuerst von der Semiotik Saussures (signifiant – signifié) aus, später von der dreiwertigen Peirceschen Semiotik (Representamen, Interpretant, Objekt). Bald beschäftigen ihn auch nicht-lautliche (nicht-sprachliche) Zeichensysteme. 1919 schreibt Jakobson einen Aufsatz über den „Futurismus“8 und die Abkehr vom „naiven Realismus“. Er diskutiert den Impressionismus und Kubismus im Zusammenhang der Wahrnehmungstheorien des späten 19. Jh. und bezieht auch die (damals neue) Relativitätstheorie Einsteins mit ein. 1932 schreibt Jakobson einen Aufsatz zur „Musikwissenschaft und Linguistik“. Die verschiedenen kulturellen Traditionen der Musik beruhen wie die Sprachen jeweils auf der Wahl mehrerer relevanter Aspekte. So steht Tonhöhe (modernes Europa) gegen Klangfarbe (Afrika) und gegen Tonbewegung (gregorianischer Gesang). Nach Beckering, der 1932 in Prag einen Vortrag gehalten hatte, auf den Jakobson reagiert, gibt es eindimensionale bis vierdimensionale Musik systeme (in Bezug auf die Eigenschaften des Tons). Der Ton ist deshalb als „System-Ton“ zu verstehen. Diese funktionale Sicht stimmt mit der in der Phonologie Trubetzkoys ziemlich genau überein. Auch kulturgeschichtlich gibt es eine Analogie zwischen über Ethnien hinausreichenden Musikkulturen und Sprachbünden (über Sprachen hinausreichende gemeinsame Systemeigenschaften). „Musik und Sprache unterscheiden sich darin, daß die ‚langue‘ (System der Konventionen) bei der Musik primär das phonologische System betrifft und daß kein Lexikon verfügbar ist. (Jakobson, 1992: 281)
1964 / 67 vergleicht Jakobson visuelle und auditive Zeichen: „Die auditiven Zeichen der Sprache sind nicht primär gegenständlich wie die visuellen Zeichen, aber sie haben eine Struktur, die es erlaubt, mit einem zeitlichen Medium in abstrakter Weise Gegenständlichkeit zu simulieren.“ (Ibidem: 286)
4.3.4 Jakobson als Literaturtheoretiker: die poetische Funktion In einem Manifest von 1925 „Schluss mit der dichterischen Kleinkrämerei“ (Jakobson, 1992: 196–205), die eine Auseinandersetzung sowohl mit politischer Programm-Kunst als auch mit konservativen Tendenzen in Tschechien 8
Zum Futurismus vgl. Carl Carrá (1881–1966) und dessen futuristisches Manifest von 1913 „Die Malerei der Töne, Geräusche und Gerüche“.
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darstellt, fordert Jakobson eine enge Zusammenarbeit von avantgardistischer Kunst und Wissenschaft: „Die Wege des Dichters sollen bewusst sein, und seine Intuition wird nur gewinnen, wenn er sich auf den Stahlbeton der wissenschaftlichen Analyse stützt. Und umgekehrt befruchtet der Kontakt mit der neuen Kunst die Wissenschaft […].“ (Ibidem: 203)
Jakobson bezieht sich dabei einerseits auf den Strukturalismus von de Saussure: „Die Sprache ist nach der Definition der gegenwärtigen französischen Sprachwissenschaftler ein System konventioneller Werte, ähnlich einem Kartenspiel.“ (Ibidem: 198)
Andererseits verweist er auf den russischen Formalismus, der „mit Nachdruck das Recht der Dichter auf unbegrenzte Wortschöpfung proklamiert hat“ (ibidem: 202). In einem Beitrag von 1934 betont er den Vorrang der einzelnen Funktionen vor den Gattungen: „Autonomer Status der Funktionen, aber kein Separatismus der Gattungen“ (ibidem: 196). Eine wesentliche Einsicht der frühen poetologischen Arbeiten Jakobsons war, dass die poetische Funktion und Wirkung von der jeweiligen Einzelsprache abhängig ist. Im Bereich der Metrik etwa kommt es darauf an, die in einer Sprache vorherrschende Technik zu nützen. Da z. B. das Tschechische einen alle Wörter verbindenden Anfangsakzent hat, kann der Akzent nicht die einzige Grundlage des Rhythmus sein. Andere Faktoren, wie Tonhöhe und Quantität, rücken damit in den Vordergrund. Ähnliches gilt für das Lexikon. Die alltagssprachlichen Ressourcen müssen genutzt werden ebenso wie Elemente „des Kauderwelsch, der Bauernsprache und der archaischen Sprache, der Barbarismen und Neologismen“ (Jakobson, 1992: 202). International brachte Jakobson seine Theorie der poetischen Sprache auf einer Konferenz zur Linguistik und Poetik 1958 an der Indiana University zur Geltung. Diese poetologische Richtung wurde aber bald von derjenigen der amerikanischen Literaturkritik (z. B. die sog. „American New Criticism“) und vom aufkommenden Poststrukturalismus (z. B. Derrida) verdrängt. Die Frage nach der linguistisch spezifizierbaren Natur des Poetischen wurde danach aufgelöst, als irrelevant erklärt. Für die weitere Entwicklung der Kontroversen siehe Bradford (1994: 75 ff.). Im Jahre 1962 veröffentlichte Jakobson (in Zusammenarbeit mit Claude Levi-Strauss, mit dem er in New York am gleichen Institut lehrte) die poetologische Analyse des Sonetts „Les Chats“ von Baudelaire. Dabei wird nicht nur die formale Struktur (Reimschema, Strophenfolge, Syntax der Strophen), sondern auch die semantische Struktur bis ins kleinste Detail analysiert. Der poetische Text wird quasi als eine objektiv analysierbare, auf vielen Ebenen organisierte Struktur durchleuchtet. An der Komplexität und Exhaustivität der Analyse, d. h. am Anspruch, der Text allein (nicht die Leser-Reaktion in verschiedenen Kontexten) trage die Botschaft, entzündete sich die anschließende Kritik. Der strukturalistische Anspruch einer systematischen Analysierbarkeit wurde am radikalsten im Dekonstruktivismus bestritten.
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Der Prager Strukturalismus und das Lebenswerk Roman Jakobsons
Es mag angezweifelt werden, ob der strukturelle Reichtum, den Jakobson offen legt, jedem Leser oder selbst dem kongenialen Übersetzer, zugänglich wird; andererseits wird ein maximales Potential an strukturellen Interpretationen aufgewiesen, wie es durch andere Verfahren nicht offen gelegt wird. Wenn Leser-Persönlichkeiten oder Kontexte diesen maximalen Interpretationsraum dramatisch einschränken bzw. ihm ein selektives Profil aufprägen, entwertet dies die Jakobsonsche Analyse keineswegs. Poetologische Aspekte werden besonders intensiv im französischen Strukturalismus von Barthes, Greimas, Todorov und Genette untersucht (vgl. Barthes u. a., 1966 und Kap. 11 dieses Buches). In der amerikanischen Linguistik hat sich zwar auch Sapir mit Literatur befasst (siehe Kap. 7) und Labov hat mündliche Erzählungen analysiert (die man als „verbal art“ bezeichnet; vgl. Kapitel 10). In jüngster Zeit hat Turner im Rahmen der kognitiven Grammatik (besonders der Metaphern- und Blending-Theorie; vgl. Kap. 12) poetologische Analysen auf linguistischer Basis vorangetrieben. Insgesamt spielen Anwendungen auf die Literatur allerdings keine große Rolle in der Linguistik des 20. Jh.s. Dies hatte negative Auswirkungen auf die Linguistik in der Schule und die öffentliche Wahrnehmung der Linguistik (besonders in Europa, wo die Kultur industrie eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit spielt).
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5 Der Kopenhagener Strukturalismus (Hjelmslev) und die Einführung strukturalistischer Methoden in die Grammatik des Deutschen (Weisgerber, Glinz) Die dänische Linguistik hat in Rasmus Kristian Rask (1787–1832) einen der Gründungsväter der vergleichenden Sprachwissenschaft, der ebenbürtig neben seinen Zeitgenossen Jakob Grimm (1785–1863) und Franz Bopp (1791– 1867) steht. Auf diese Tradition konnte die dänische Linguistik des 20. Jh. aufbauen, wobei als erster Otto Jespersen (1860–1943) zu nennen ist. Er trat bereits 1924 mit seinem Buch „Philosophie der Grammatik“ („The Philosophy of Grammar“) als Theoretiker in Erscheinung. Louis Hjelmslev (1899–1965) und Viggo Brøndal (1887–1942), die parallel und in Konkurrenz zueinander die dänische Linguistik der ersten Jahrhunderthälfte bestimmten, führten zwar diese Tradition einer theoretischen / philosophischen Grammatik fort, wurden aber zunehmend vom Strukturalismus Saussures beeinflusst. Im Laufe der 30er und frühen 40er Jahre entwickelte sich eine eigene Variante des europäischen Strukturalismus, der Kopenhagener Strukturalismus, der sich auch gegen die funktionalistischen Tendenzen des Prager Strukturalismus (Trubetzkoy und Jakobson) wandte und den Genfer Strukturalismus der Nachfolger Saussures radikalisierte. Ich werde zuerst auf Otto Jespersen, als dem Vordenker des dänischen Strukturalismus, eingehen, insbesondere auf dessen 1937 publizierte Schrift „Analytic Syntax“, die zwar nicht stilbildend für den Kopenhagener Strukturalismus wurde, aber parallel zu ihm eine Tendenz markiert, die sich erneut im Strukturalismus von Lucien Tesnière zeigt und später im Gefolge der Transformationsgrammatik der Chomsky-Schüler neue Aktualität gewonnen hat (siehe die Neuauflage von 1984 und dort die Einleitung von McCawley [1984]).
5.1 Die formale Syntax von Jespersen Jespersen (1937 / 1984) teilt uns in der Einleitung mit, dass es seine Absicht ist, ein System von „succinct and in part self-interpreting syntactic formulas“ zu entwerfen, so dass die wichtigsten „interrelations of words and parts of words in connected speech“ (ibidem: 3) genau bezeichnet werden können. Die Formelsprache orientiert sich in ihrer Knappheit an derjenigen der Che-
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
mie. Die Vorteile der Mathematik (und Logik), welche umständliche Wort beschreibungen durch Formeln ersetzen, sollen genützt werden. Allerdings ist der Grad der Universalität der Sprache durch ihre soziale Konditionierung begrenzt (ibidem: 3 f.). Das vorgestellte System orientiert sich am Englischen und an verwandten Sprachen; es ist aber damit zu rechnen, dass z. B. exotische Sprachen gänzlich andere Strukturmuster enthalten. Dies bedeutet, Jespersen ist einerseits auf Universalität aus, will andererseits aber seine Beschreibung eher als Methode, vorfindliche Sprachen zu analysieren, denn als universale Matrix menschlicher Sprachen verstanden wissen. Diese moderate Position hebt Jespersen wohltuend von allzu weit reichenden Ansprüchen vieler (strukturalistischer) Denker des 20. Jh. ab. In dieser Beziehung war der radikal logifizierende Ansatz von Hjelmslev und Brøndal vielleicht sogar ein Rückfall in den Universalismus der Port-Royal-Grammatik (und Logik) Mitte des 17. Jh.s, der die europäische Schulgrammatik im 19. Jh. bestimmt hatte (vgl. Kap. 2.4). Ich will nur einige Grundbegriffe erläutern und exemplarisch die ersten vier Seiten seiner Abhandlung besprechen. Jespersen beschreibt die zentralen Begriffe: nexus und junction (ibidem: 120): nexus – is like a drama junction – is like a picture nexus like fusion – dynamic (life, movement) junction like agglutination – static (construction by bricks) nexus – biology – living junction – mechanics – dead „A junction serves to make what we are talking about more definite or precise, while a nexus tells us something by placing two (or more) definite ideas in relation to one another.“ (ibidem: 121)
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Die formale Syntax von Jespersen
Jespersen (1937: 121) sieht wie Tesnière das Verb im Zentrum, bestimmt die Relationen aber anders: Subject S
Predicative P
Verb V
Object O (O1)
Indirect Object O (O2)
Abbildung 2: Das Beziehungsnetzwerk der syntaktischen Basis-Kategorien bei Jespersen Die Pfeile geben die „nexus“ an. Es wird deutlich eine Differenz zu Tesnière (siehe Kapitel 6) erkennbar. Das Verb kommandiert / regiert (→) nur das Prädikativ (entspricht dem prädikativen Adjektiv oder Nomen) und das direkte Objekt. Dagegen kommandiert das Subjekt das Verb und (gleichzeitig / alternativ) zum Verb das Prädikativ. In allen Fällen ist jeweils das Subjekt notwendig, also ist es auch die V und P regierende Größe. P und O1 (verstärkt O2) sind somit Randfiguren des Feldes; eine doppelte Regens-Beziehung liegt nur bei V und S vor. Das indirekte Objekt kann weder direkt von S noch von P regiert werden, da es immer die Existenz eines direkten Objektes erfordert und somit nur vermittelt von V regiert wird. regiert
wird regiert von
V
O1, P
S
S
V, P
–
O1
O2
V
P
–
S, V
O2
–
O1
Tabelle 3: Rektionsbeziehungen zwischen den Kategorien
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
Der größte Unterschied zwischen Jespersen und Tesnière betrifft die „junction“ (Jespersen) versus „jonction“ (Tesnière), insofern Jespersen auch alle Adjunkte und Erweiterungen unter „junction“ fasst; für die Position Tesnières siehe Kap. 6. Die Hierarchie der Adjunkte wird von Jespersen als „junction“ mit verschiedenen Rängen beschrieben: old
men
Rang-Formel
2
1
2
1
terribly
cold
weather
3
2
1
3
2
1
good
enough
argument
2
3
1
2
3
1
Tabelle 4: Jespersen’s Hierarchie der Ränge Man kann, wie dies später McCawley bemerkt, in Jespersens Arbeit den Startschuss für die mathematisch präzisierte Grammatik bei Harris und Chomsky sehen; es gibt allerdings keine direkte Beziehung und man sollte nicht vergessen, dass Diskussionen zur Mathematisierung von Philosophie und Geisteswissenschaften seit der Phänomenologie Husserls und dem Wiener Kreis auf der Agenda der Wissenschaftstheorie und -philosophie in Europa standen. Dass diese Thematik ab 1936 mit der Emigration vieler Intellektueller (unter ihnen z. B. Carnap) nach Amerika kam, gehört auch mehr zu einer allgemeinen Bewegung als dass spezifische Einflüsse anzunehmen seien. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Entstehung der Informationstheorie und Kybernetik und mit dem Siegeszug der digitalen Computer gewann diese Bewegung neue Kraft; diese konnte Chomsky für seine Vorschläge nutzen (gegen den Widerstand einer konservativen Linguistik in Amerika und noch stärker in Europa, die in Ihren Wissenschaftsauffassungen noch im 19. Jh. verharrte).
5.2 Louis Hjelmslev – Kasustheorie 1935 Bereits 1928 veröffentlichte Hjelmslev, der sich neben der Indogermanistik mit finno-ugrischen und kaukasischen Sprachen beschäftigte, sein Buch „Prinzipien einer allgemeinen Grammatik“ („Principes de grammaire générale“). Im gleichen Jahr erschien auch Brøndals Buch „Partes Orationis“. In beiden Schriften ging es vornehmlich darum, für die klassische Wortartenlehre eine neue, systematische Grundlage zu schaffen.
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Louis Hjelmslev – Kasustheorie 1935
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Hjelmslev trennt sich bereits 1928 von dem psychologistischen Ansatz Saussures (der eigentlich dem bei Hermann Paul entspricht). Angewandt auf die Wortarten, heißt dies, dass semasiologische Kriterien wie etwa: „Ein Substantiv ist ein Wort, das eine Substanz bezeichnen kann“ oder gar syntaktischfunktionale Bestimmungen, wie: „Ein Substantiv ist ein Wort, das als Subjekt fungieren kann“, als Bestimmungen wertlos sind, da sie sich nicht an der Form orientieren. Bevor ich auf das theoretische Hauptwerk Hjelmslev eingehe, das 1943 in Dänisch erschienene Buch „Omkring sprogteoriens grundlæggelse“, will ich kurz grundlegende Aspekte seiner französisch geschriebenen Arbeit von 1935 „La catégorie des cas. Étude de grammaire générale“ erläutern. Der erste Band enthält eine historische Darstellung der Kasustheorien ausgehend von der griechisch-römischen Tradition, von den Lokalisten, Antilokalisten (und Halblokalisten). Der Lokalismus in der Kasustheorie nimmt an, dass die räumlichen Beziehungen (locus = Ort) grundlegend sind. So schreibt Bopp, einer der Hauptvertreter der Vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jh.s (Bopp, 1833: 136): „Die Kasus-Endungen drücken die wechselseitigen, vorzüglich und ursprünglich einzig räumlichen, von Raum auch auf die Zeit und Ursache übertragenen Verhältnisse der Nomina, d. h. der Personen der Sprachwelt zueinander aus.“
Die bereits im Mittelalter von Maximus Planudes und Theodor Gaza vorgenommene lokalistische Deutung der lateinischen Kasus nahm die folgenden Zuordnungen vor (vgl. Hjelmslev, 1935: 38): Genitiv: Entfernung Ruhe (Neutralität bezüglich der Bewegung) Dativ: Akkusativ: Annäherung Die Betrachtung von Sprachen außerhalb der indoeuropäischen Sprachenfamilie führte bereits Rask (1819 / 1834) am Beispiel des Finnischen, das zwölf Kasus aufweist, zu einer zweidimensionalen Charakterisierung des Kasussystems. Da werden die drei lokalistischen Grundkategorien (Annäherung, Ruhe, Entfernung) mit vier Kategorien der Relation, geordnet nach der Intimität der Beziehung, „multipliziert“. Es zeigt sich damit, dass die lokalistische Fundierung nur eine Komponente des Kasussystems darstellt. Dieser zu seiner Zeit wenig beachtete Vorschlag wird von Hjelmslev (1935: 130 ff.) zu einer 3 × 3 Felder-Tafel ausgebaut, wobei die drei lokalistischen Kategorien (Annäherung, Ruhe, Entfernung) mit drei Typen der Kohärenz / Inkohärenz bzw. Indifferenz kombiniert werden. Ich erwähne nur die deutschen, englischen und französischen Beispiele, die er angibt:
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
Kohärenz Annäherung + dt. in + Akk.
neutral
Inkohärenz
fr. par engl. along
dt. an + Akk.
dt. zwischen engl. between
dt. an + Dat.
Kontakt ohne Richtung
dt. in + Dat. 0 engl. within
Entfernung
dt. durch – dt. aus engl. from / within engl. through
dt. von
Tabelle 5: Hjelmslevs Gliederung der kasus-ähnlichen Beziehungen (Kasus / Präpositionen) Hjelmslev führt nach Berücksichtigung weiterer Systeme mit vielen Kasus (das Maximum wird in der Kaukasus-Sprache Tabassaran mit 52 Kasus erreicht) eine weitere Dimension, die er subjektiv vs. objektiv nennt, ein. Da die Dreiereinteilung (+, –, 0) weiter differenziert werden kann und empirisch bis zu sechs Unterscheidungen erlaubt, hat ein zweidimensionales System die (theoretische) Möglichkeit, 6 × 6 = 36 Kasus zu unterscheiden, eine dreidimensionale Tabelle erlaubt demnach 36 × 6 = 216 Unterscheidungen. Da das minimale System zwei Kasus unterscheiden muss, liegt die Bandbreite bei 2 bis 216. Ein eindimensionales System kann demnach bis zu 6 Kasus unterscheiden und Hjelmslev findet ein Beispiel, das Osmanli (Turksprache der SüdwestGruppe). Wie die Beispiele in der Tabelle schon zeigen, nimmt Hjelmslev für Kasus (morphologische Kategorien) und Präpositionen (eine eigene Wortart) ein gemeinsames konzeptuelles Raster an, das er als sublogisches System bezeichnet (ibidem: I, 127 ff.), da es einerseits Züge eines formallogischen Systems der Relationen (mengentheoretische Beziehungen zwischen Paaren von Mengen) aufweist, andererseits von prälogisch sprachlichen Strukturen geprägt ist. Der Begriff „sublogisch“ soll die Verbindung von logisch-mathematischen Strukturen und prälogischen sprachlichen Strukturen charakterisieren. Die sublogischen Konzepte finden einerseits in der Mathematik, andererseits in den Sprachen spezifische Ausformungen. Diese Konzeption kann man als einen frühen Ansatz zur kognitiven Linguistik auffassen und mit den Modellen von Piaget einerseits, Talmy andererseits vergleichen (vgl. Kap. 12 und für eine Präzisierung der Analysen Talmys Wildgen, 2009b und Petitot-Cocorda, 2010: Kap. 3.2).
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Louis Hjelmslev – Prolegomena 1943
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5.3 Louis Hjelmslev – Prolegomena 1943 Die Prolegomena wurden 1943 auf Dänisch publiziert, zuerst ins Englische (1953) und dann (1968) ins Französische übersetzt. Die Wirkungsgeschichte setzte erst mit den Übersetzungen ein. Die Sprachtheorie Hjelmslevs geht von den Vorlesungen Saussures aus, und zwar von den folgenden Grundprin zipien: 1) Das Zeichen wird nicht über seine Substanz (Materie), sondern nur über ihre Form definiert. Die Substanz ist ungeformt und erhält erst durch die Sprache (Versprachlichung) eine spezifische Form. Letztere ist damit der legitime (und einzige) Gegenstand der Sprachwissenschaft (vgl. Kap. 3.1). 2) Die Einheiten des Systems grenzen sich gegenseitig ab (als Oppositionen, Differenzen). Hjelmslev fordert zusätzlich, dass diesen Differenzen ein abstraktes System zu Grunde liegt, das er „sublogisch“ nennt und das nicht nur die sprachlichen Formen, sondern auch die Mathematik und Logik prägt (siehe den vorangegangenen Abschnitt über die Kasustheorie). Da die Form von der Substanz unabhängig ist, finden wir ähnliche formale Strukturen im Bereich der Phonologie und der Semantik (im Ausdruck und im Inhalt). Auf der Formebene ist also das Zeichen strukturell gleichartiger als auf der materiellen Ebene.1 Die spezifische Ausprägung der Sprachtheorie bei Hjelmslev wird auch „Glossematik“ genannt.2 Sie konzentriert sich noch stärker als bei F. de Saussure und im Kontrast zur Prager Schule auf die „immanente Algebra der Sprache“, d. h. auf jenes abstrakte Netzwerk von Relationen, welches die Formen (des Ausdrucks und des Inhalts) bestimmt (vgl. Hjelmslev, 1943 / 1974: 102). Die einfachsten und invarianten Formen werden Glosseme genannt (deren Bedeutungen Noeme). Der Begriff „Funktion“ wird im Gegensatz zum Prager Funktionalismus nicht auf Externes, Lebensweltliches oder auf ein (erfolgreiches) Handeln bezogen. Er ist ganz abstrakt als Abhängigkeit zwischen Teilen, Elementen und Ganzheiten bestimmt und nähert sich damit dem mathematischen Funktionsbegriff. In der letzten Konsequenz wird aus der Linguistik (und allgemeiner aus der Semiotik) eine mit den formalen Systemen Mathematik und Logik vergleichbare „sublogische“ Systemstruktur, die allerdings nicht mit diesen identifiziert werden darf, destilliert und als deren gemeinsame Grundlage postuliert.
1 2
In Begriffen der kognitiven Grammatik Ende des 20. Jh. wäre diese strukturelle Ähnlichkeit durch die Organisationsprinzipien des Gehirns erklärbar, womit allerdings eine Naturalisierung stattfindet, die Hjelmslev wohl abgelehnt hätte. Von griechisch γλῶσσα, glossa = Zunge, Sprache.
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
Eine wesentliche Unterscheidung bei Hjelmslev ist die zwischen Ausdruck und Inhalt. Beide sind Formen (nicht Substanzen) und bilden zusammen das Zeichen (als Doppel-Form). Auf den Inhalt angewandt, zeigt Hjelmslev (ibidem: 71 f.) an Adjektiven für Farben und für Nomina im Bereich der Pflanzen deren Feldcharakter in verschiedenen Sprachen und damit die relative Unabhängigkeit von der Substanz auf. Beispiel 1: Französisch – Wallisisch Französisch
Wallisisch
vert
gnyrdd
bleu
glas
gris brun
llwyrd
Beispiel 2: Dänisch – Deutsch – Französisch Dänisch trae skov
Deutsch
Französisch
Baum
arbre
Holz Wald
bois forêt
Tabelle 6: Lexikalische Felder in verschiedenen Sprachen In diesem Kontext verweist Hjelmslev auf Weisgerbers Arbeiten, die er in direkter Kontinuität zu den Ansätzen bei F. de Saussure auffasst (ibidem: 65). Da die Arbeiten von Weisgerber, die Hjelmslev zitiert, zwischen 1927 und 1929 publiziert wurden, liegen sie vor dem eigentlichen Beginn der Glossematik (ab 1936). Auf die spätere Entwicklung der „inhaltsbezogenen Grammatik“ Weisgerbers gehe ich im nächsten Abschnitt ein.3 Die Glossematik durchlief noch längere Zeit eine eigenständige Entwicklung in Dänemark. In ihrer sehr streng formalen Form fand sie aber keine direkte Nachfolge, es sein denn, man sähe in der Wende zur Logik bei Chomsky (1955) eine analoge Tendenz oder bezöge die logische Semantik von Montague auf die glossematischen Vorläufer.4 Historisch wäre dies sicher falsch, allerdings gibt es die generelle Option in der wissenschaftlichen Theoriebildung, einer starken immanenten Modellbildung den Vorzug zu geben und in der Konsequenz mathematische Modelle zu benützen. In dieser Hinsicht fallen viele linguistische Ansätze, die nicht induktiv und kontextbezogen bestimmt sind, in eine allgemeinere Kategorie, zu der auch die Glossematik gehört.
3 4
Für eine Geschichte der deutschen Grammatikforschung zwischen Hermann Paul und der Anwendung der generativen Grammatik siehe auch: Erlinger (1969: Teil I). In eine ähnliche Richtung wie Montague wies die Grammatik von Shaumjan, dessen in Russsich publizierten Arbeiten aber erst nach denen von Montague im Westen publik wurden und den „Montague-Hype“ der frühen 70er Jahre nicht beeinträchtigen konnten; vgl. zur Geschichte der „Applicational Grammar“ Miller (1995).
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Leo Weisgerber: Inhaltsbezogene Sprachanalyse
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5.4 Exkurs: Leo Weisgerber: Inhaltsbezogene Sprachanalyse Leo Weisgerber wurde 1899 in Metz (damaliges Reichsland Elsass-Lothringen) geboren. Nach seiner Kriegsteilnahme begann er das Studium der Germanistik, Romanistik und Keltologie 1918 in Bonn. Nach dem Abschluss der Promotion habilitierte er sich sechs Jahre später in Keltologie (Bonn) mit der (unveröffentlichten) Schrift „Sprache als gesellschaftliche Erkenntnisform“.5 Weisgerber sah die Sprachwissenschaft in partieller Übereinstimmung mit F. de Saussure (auch mit Cassirer) als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft. In der Tradition Herders, Goethes und Humboldts (indirekt Cassirers, der diese Tradition in seiner Philosophie der symbolischen Formen programmatisch erweitert hatte; vgl. Wildgen 2003a) legte Weisgerber den Schwerpunkt auf kulturwissenschaftliche Aspekte. Allerdings konzentrierte er sich unter dem Motto „Muttersprache“ immer stärker auf die Nationalsprache, d. h. auf das Deutsche. Kernpunkt seiner Auffassung ist die Aussage: „Es geht uns letztlich um das Weltbild der deutschen Sprache.“ (Weisgerber, 1962: 33) Die strenge Trennung von Diachronie und Synchronie bei F. de Saussure übernimmt Weisgerber nicht, da er der Humboldtschen Idee der Formung, der Dynamik Vorrang einräumt. In dieser Hinsicht ist Weisgerber auch kein Strukturalist, sondern eher ein Idealist im Sinne der vorstrukturalistischen Ansätze um 1900 bei Vossler6 und Croce. Ein charakteristisches Werk Weisgerbers ist „Die geschichtliche Kraft der deutschen Sprache“ (erste Auflage 1949, zweite hier benützte von 1959). Sie bildet den Abschluss der vierbändigen Reihe „Von den Kräften der deutschen Sprache“. Die Muttersprache ist für Weisgerber quasi das Band, welches eine Nation zusammenhält. Dass diese Diktion die fatalen „völkischen“ Redeweisen in Erinnerung ruft, liegt auf der Hand; Weisgerber grenzt allerdings seine idealistische Interpretation von einer sozial-darwinistischen, auf die Rasse bezogenen Redeweise ab (im Vorwort von 1949, ibidem: 5).7 Ich will mich aber im Folgenden auf die Diskussion des Ertrags für die Grammatikschreibung beschränken. 5 6 7
Siehe den Bericht von Bernhard Weisgerber in: Orbis Linguarum Vol. 17 / 2001; download: http: / / www.orbis-linguarum.net / 2001 / 17_01 / weisggot.html. Vossler und Bartoli bildeten die Schule der „neolinguistics“, die allerdings nach dem Tod von Vossler verschwand (vgl. Joseph, 1995: 227). Koerner (2004b: 25) spricht mit Bezug auf Weisgerber von „mother tongue fascism“. Im Originalartikel im Canadian Journal of Linguistics (2001) wurde sein Hinweis auf vergleichbare nord-amerikanische Tendenzen interessanterweise zensoriert (vgl. ibidem: 25, Fn. 9). Weisgerber teilte als Mann des christlichen Zentrums (er war nie Mitglied der NSDAP) manche nationalistische Tendenzen seiner Zeitgenossen, sah sich aber eher in der Tradition Humboldts und Wundts; die Muttersprache steht in dieser Sichtweise mit einer angenommenen „Volksseele“ in enger Verbindung. Sapir hat solche Abstraktionen, d. h. die Existenz eines sozialen Superorganismus strikt abgelehnt (vgl. Kap. 7).
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
Die inhaltsbezogene Sprachanalyse führte die Ansätze zu einer Wortsemantik und Lexikologie seit Beginn des 20. Jh. fort und setzte ihre Ergebnisse hauptsächlich für den Deutschunterricht ein. Ein großer Teil des ersten Bandes bezieht sich demnach auch auf den „deutschen Wortschatz“ (Weisgerber, 1962: 139–210) und auf die deutsche Wortbildungslehre (ibidem: 211–275). Ich will mich exemplarisch mit der „inhaltsbezogenen Syntax“ beschäftigen (ibidem: 291–402) und insbesondere mit den Satzbauplänen. Historisch verweist Weisgerber (ibidem: 372) auf Drachs „Grundgedanken der deutschen Satzlehre, 1937) und auf einige Ansätze in „Das Verstehen der Baupläne von Sätzen“ in dem Band „Die volkhaften Kräfte der Muttersprache“ von 1939. Die Grundidee besagt, dass jede Muttersprache auch in der Syntax (sowie bereits für den Wortschatz und die Wortbildung gezeigt) über einen begrenzten und wohl strukturierten Schatz an Formen verfügt. Diese sollen „Satzbaupläne“ genannt werden. Sie gelten als Vorlagen für eine unüberschaubare Fülle von konkreten Satzformen und können deren Ausformung sowohl unterstützen als auch begrenzen. Die Suche nach einer vollständigen Liste von Satzbauplänen charakterisierte die Diskussion zur deutschen Grammatik nach 1945 (bis zur Einführung der generativen Grammatik Ende der 60er Jahre). Ausgangspunkt für die deutsche Tradition war die kritische Diskussion der Satzbegriffe bei John Ries im Band III seiner Beiträge zur Grundlegung der Syntax (1927–1931): Was ist ein Satz? (1931).8 Damit der Satz mindestens gleichberechtigt neben die Formenlehre (Morphologie und Wortbildung) treten durfte, musste sein Formeninventar und die Typologie der „Wortgefüge“ (Ries, 1927: 143) systematisch dargelegt werden. Weisgerber (1962: 377 ff.) unterteilt die Satztypen (darin Vorschlägen der Duden-Grammatik von 1959 folgend) in: I: Zustands-, Vorgangs- und Tätigkeitssätze II: Handlungssätze Diese werden jeweils in 8 bzw. 9 Haupttypen (mit Untertypen 12 bzw. 17) und für die Handlungssatzbaupläne zusätzlich in zwei Sonderpläne unterteilt. Als Methode dienen: Abstrichprobe, Verschiebe- und Ersatzprobe; außerdem werden Intonation und Kausativierung als Kriterien miteinbezogen. Die inhaltsbezogene Satzlehre hat etwas darüber „auszusagen, wie man die geistige Struktur eines Satzbauplanes beschreiben kann“ (ibidem: 385). In seiner 1959 erschienenen Abhandlung „Verschiebungen in der sprachlichen Einschätzung von Menschen und Sachen“ versucht Weisgerber, den energetischen Gesichtspunkt (nach Humboldt) exemplarisch darzustellen. 8
Der erste Teil „Was ist Syntax?“ war bereits 1894 erschienen und ab 1914 vergriffen (vgl. Vorwort zu Ries 1927 / 1967). Ries stellt sich hier gegen eine hauptsächlich die Formenlehre behandelnde Grammatik wie sie seit den Junggrammatikern und insbesondere von Behaghel betrieben wurde.
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Glinz – „Die innere Form des Deutschen“ und der Deutschunterricht
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Personale Akkusativobjekte können durch folgende Mittel der Wortbildung vermehrt werden: –– K ausativierung: trinken → tränken Das Pferd trinkt → der Knecht tränkt das Pferd –– Präfixe wie: be- (bewaffnen), ent- (entwaffnen), ver- (versklaven), be- (befreien), be- (herrschen) Beispiele: Er schenkt seinem Vater (Dativ) eine Uhr (Akkusativ). Er beschenkt seinen Vater (Akkusativ) mit einer Uhr (präpositionale Ergänzung). Er droht dem Schuldner (Dativ). Er bedroht den Schuldner (Akkusativ). Ausgehend von der Hypothese eines spezifischen „Zugriffs“ des personalen Akkusativs bzw. Dativs (einer Art der „Anverwandlung von Welt“) diagnostiziert Weisgerber in dem Vormarsch von Akkusativierungen „die gedankliche (und damit auch praktische) Lösung von Aufgaben, wie sie die Massenorganisation, der Versorgungsstaat, die Technisierung stellten“ (ibidem: 87). Wegen der großen Vielfalt der Wortbildungsmittel und der Vieldeutigkeit der Präfixe bleibt diese Hypothese einer direkten Wirkung des Lebens (der Kultur) auf die Syntax höchst umstritten. In der Grundtendenz wird aber sichtbar, wie kompliziert ein funktionaler Zusammenhang von Kultur(-Entwicklung) und Grammatik (-Wandel) ist. Vergleichbare Hypothesen eines Zusammenhangs von Grammatik und Kultur (Politik) finden sich ab den 90er Jahren in Lakoffs Arbeiten zur politischen Rhetorik des Golf- und Irakkrieges (vgl. Wildgen, 2008: Kap. 3.3).
5.5 Exkurs: Glinz – „Die innere Form des Deutschen“ und der Deutschunterricht Der Titel des Buches verweist deutlich auf Humboldt (innere Form) und indirekt auf die inhaltsbezogene Grammatik. Hans Glinz ist 1913 in Rheinfelden (Schweiz) geboren, promovierte 1946 und habilitierte sich 1949 an der Universität Zürich. Seit 1965 lehrte er an der RWTH Aachen (er starb 2008).9
9
Vgl. den Nachruf von Bredel und Günther (2009: 182). Sie weisen darauf hin, dass für Glinz die Sprachdidaktik zur Sprachtheorie gehört: „Eine Sprachtheorie, die ihren Namen verdient, muss aus der erklärenden Beschreibung der Sprachstruktur heraus auch Erklärungen dafür ermöglichen, wie die Sprache in all ihren Erscheinungsformen, also auch der schriftlichen, gelernt und gelehrt wird.“
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Der Kopenhagener Strukturalismus und die Grammatik des Deutschen
Das Buch „Die innere Form des Deutschen“ beruht auf seiner Habilitationsschrift von 1948 und wurde 1951 das erste Mal gedruckt. In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage erwähnt er eine Rezension von Leo Weisgerber, der das Buch „strukturalistisch-empiristisch“ nannte und den Bezug auf Humboldt als Fehlverweis bezeichnete (Glinz hatte den Titel aber erst 1951 gewählt).10 Wie das Literaturverzeichnis zeigt, greift Glinz die Tradition des Strukturalismus auf. Er erwähnt dabei die in diesem Buch bereits besprochenen Arbeiten von Jespersen (1924), de Saussure (1916), Trubetzkoy (1939). Im Jahre 1956 konnte Glinz im Rahmen des von Leo Weisgerber angeregten Arbeitskreises „Sprache und Gemeinschaft“ ein Jahr lang (von der DFG gefördert) Grundlagenforschung zur Syntax des Deutschen betreiben (vgl. Glinz, 1962: 5). Die Ergebnisse publizierte er unter dem Titel „Der deutsche Satz. Wortarten und Satzglieder wissenschaftlich gefasst und dichterisch gedeutet“. Das Vorwort von 1956 verweist zwar auf eine „strenge Begriffsbestimmung“, „exakte Verfahren“, „geeignete Experimente“ und „Sprache der Gegenwart“ und nennt damit Schlüsselbegriffe des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus, die Hauptintention gilt aber dem schulischen Deutschunterricht, insbesondere dem Anschluss an den Literaturunterricht. Im Vorwort zur sechsten Auflage von 1969 wird darauf verwiesen, dass er selbst 1944–1948 (also in seiner Habilitationsphase) „mit konsequent angewendeter strukturalistischer Methode“, „gestützt auf die von Ferdinand de Saussure geschaffene Theorie synchroner Sprachforschung“ die deutsche Grammatik weiter entwickelt habe. Er bezieht sich gleichzeitig auf Bloomfield (taxonomische Linguistik) und die Kritik von Chomsky. In der Schrift „Deutsche Syntax“ (2. Auflage) verweist er darauf, dass dieses Buch in seiner ersten Auflage im selben Jahr wie Chomskys „Syntactic Structures“ (d. h. 1957) erschienen sei (vgl. Glinz, 1967: 60). Diese Schrift enthält einen sehr ausführlichen Teil zur Geschichte der deutschen Syntax (von Jakob Grimm bis zur Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik, ibidem: 21–103). Die Kritik, die Glinz am Neubeginn der Arbeitsstelle „Strukturelle Grammatik“ übt, ist insofern relevant, weil er die stärker operationale Phase des amerikanischen Strukturalismus vor Chomsky in Erinnerung ruft (Hockett, Harris), die in der deutschen Rezeption weitgehend übersprungen wurde. Außerdem fordert er eine Orientierung am Anwendungsfeld Schule, während die neue „Chomsky-Linguistik“ primär technisch ausgerichtet war und in ihren didaktischen Anwendungen unbedeutend blieb.
10 Die Humboldt-Interpretationen sind Legion seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. Für Glinz ist innere Form soviel wie Inhalt.
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Seine eigene Interpretation des Saussureschen Zeichenbegriffs kommt in den neu geschaffenen Begriffen: Nomosphäre und Morphosphäre zum Ausdruck: –– „… den Bereich der geltenden Inhalte (also der in der Sprache heute verbindlichen Begriffe) nenne ich die Nomosphäre.“ (ibidem: 13)11 –– „Anders ist es dagegen beim Bereich der Sprachkörper. Hier spreche ich, wenn ich die objektiven Zusammenhänge meine, von der Morphosphäre.“ (ibidem) Die Wirkungen der Kopenhagener Schule jenseits der in den beiden Exkursen behandelten deutschen Autoren Weisgerber und Glinz sind vielfältig. Da Hjelmslev auch in Französisch publizierte, wurde seine Variante des Strukturalismus (neben der von de Saussure) besonders stilbildend für die Weiterentwicklung der französischen Linguistik. Auch in Italien, insbesondere in der Schule Umberto Ecos, war Hjelmslev der zentrale Theoretiker der Moderne. Später wurden seine Ideen von Greimas aufgenommen (vgl. Kapitel 11.1). In Dänemark gab es eine gewisse Kontinuität, die z. B. anlässlich der Feiern zum 50. Jahrestag seiner Prolegomena (1943–1993) deutlich wurde. Insgesamt ist sein strenger Ansatz aber von der generativen und der logischen Grammatik beerbt und schließlich verdrängt worden.
11 Hier mögen die Form-Inhalt Dichotomie und die Noëmatik der Kopenhagener Schule Paten gestanden haben. Es gibt aber auch eine Verbindung zur Trennung zwischen Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur in den frühen Modellen Chomskys. Die Grammatik von Glinz erweist sich gleichzeitig als eklektisch und auf spezielle Anwendungen in der Schule bezogen.
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6 Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen Die Valenzgrammatik geht in ihren Grundideen auf Vorschläge, die Tesnière bereits in den 30er Jahren entwickelt hat, zurück und sie ist so gesehen als parallel zu den anderen bereits erörterten Strömungen des Europäischen Strukturalismus zu sehen. In einer fast polemischen Auseinandersetzung mit der rationalistischen Tradition der Schulgrammatiken, insbesondere den Begriffen von Subjekt und Prädikat, entwickelt Tesnière einen neuen Weg, der besonders für die anwendungsorientierten Grammatiken, z. B. solche für Lerner einer Fremdsprache, eine neue Orientierung bietet. Es gibt philosophische Vorläufer, so die diagrammatische Logik von Peirce (um 1900; vgl. Abschnitt 6.3) und parallele Entwicklungen, z. B. in der Dependenz-Grammatik (vgl. Abschnitt 6.6). Ich will exemplarisch von Tesnière und dessen posthum (1959) erschienenem Werk „Éléments de syntaxe structurale“ ausgehen.
6.1 Die historische Stellung von Tesnière Lucien Tesnière ist 1893 geboren und 1954 gestorben. Sein Hauptwerk „Éléments de syntaxe structurale“ ist aber erst 1959 (posthum) erschienen und die Wirkungsgeschichte betrifft hauptsächlich die 60er bis 80er Jahre. Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstages fand 1993 ein deutsch-französisches Kolloquium in Straßburg statt: „Lucien Tesnière – Syntaxe structurale et opérations mentales“. Dass seines Geburtstages in Frankreich und in Deutschland (es gab auch Beiträge aus dem slawischen Bereich) gedacht wurde, zeigt, dass Tesnière einerseits in der Tradition der französischen Linguistik steht (obwohl auch für ihn gilt, dass der Prophet im eigenen Land nicht genügend geachtet wird), andererseits in Deutschland (Ost und West) und in Osteuropa intensiv rezipiert wurde. Ich will zuerst einige Aspekte seiner intellektuellen Biographie hervorheben. Tesnière hat 1919 die Staatsprüfung (agrégation) im Fach Deutsch abgelegt und hatte in Leipzig (bei Sievers und Leskien) und in Wien (bei Vondrak und Recétar) studiert. Im Gegensatz zu vielen Komparatisten seiner Zeit befasste er sich mit modernen Sprachen (auch unter Aspekten der Fremdsprachendidaktik) und mit Syntax. Er lernte mehrere slawische Sprachen (Slowenisch, Serbisch, Bulgarisch) und lehrte von 1921 bis 1923 / 24 in Ljubljana (Slowenien), wo er seine Doktorarbeit „Les formes du duel en slovène“ (Die Form des Duals im
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Die historische Stellung von Tesnière
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Slowenischen, 1926) verfasste. Dabei wandte er arealtypologische Methoden an, um die Abschwächung und das Verschwinden einer indoeuropäischen Kategorie zu beschreiben. Zurück in Frankreich lehrte er 1924–1937 slawische Sprachen und Literaturen an der Universität Straßburg. Dabei gab er wöchentliche Kurse „Französisch für Sprecher slawischer Sprachen“ und zog daraus für seine allgemein-sprachwissenschaftlichen Studien Gewinn. 1937 ging er nach Montpellier, um dort Vergleichende Grammatik zu unterrichten; seit 1951 lehrte er dort auch Allgemeine Sprachwissenschaft. Auffallend an dieser Biographie ist nicht nur, dass Tesnière sich in Frankreich in der Peripherie des auf Paris ausgerichteten Systems bewegte, und dass er sich vorwiegend mit lebenden Sprachen beschäftigte (was allerdings sehr entschieden schon Ferdinand de Saussure gefordert hatte). Er machte sich außerdem Gedanken zur Vermittlung der Sprache im Sprachunterricht. In seinem erst 1953 vollendeten „Résumé de grammaire allemande“ (Abriss einer deutschen Grammatik) wirft er den existierenden Grammatiken des Deutschen vor, im Detail zu ersticken. Stattdessen sollte eine Grammatik „in einer klaren und bündigen Form die großen Linien der Theorie“ („sous une forme claire et succincte les grandes lignes de la théorie“ [zitiert in Tesnière, 1993: 9]) beschreiben. Als Vorarbeit zu seinem Buch „Éléments de syntaxe structurale“ wird ein sehr umfangreiches Manuskript „Grammaire française pour étrangers“ (Französische Grammatik für Ausländer) angesehen, das bereits 1935 zu Dreivierteln geschrieben war. Methodisch fordert er von einer Grammatik – neben Einfachheit und Klarheit – folgende Eigenschaften: –– Sie soll quasi aus der Perspektive eines Sprachfremden für Sprachfremde geschrieben sein. –– Sie soll eine Rekonstruktion des Sprachwissens ermöglichen: „Indem sie von der Beobachtung der Sprache ausgeht, soll die grammatische Regel, will sie einen Sinn haben, es erlauben, die Sprache zu rekonstruieren / wieder herzustellen.“1, d. h. die grammatischen Regeln müssen quasi die (Wieder-)Erzeugung der Sprache, ohne Zuhilfenahme der unbewusst angeeigneten Vorkenntnisse, ermöglichen. Dieses Kriterium nimmt in einer untechnischen Form die Forderung Chomskys vorweg, dass die Grammatik eine Sprache (ohne Bezug auf die Sprecherintuition) erzeugen muss. –– Der Autor sollte die Kommentare bisheriger Grammatiken ignorieren und am besten selbst eine Sprache aus einer anderen Sprachfamilie als Muttersprache haben, um die Sprachfakten objektiv beurteilen zu können. Tesnière meint, er sollte am besten aus Feuerland stammen und somit keine der in Grammatiken behandelten Sprachen sprechen. Diese Bedingung ist bei Grammatikern aus Europa (und Amerika), die eine der großen Verkehrssprachen untersuchen, meist nicht erfüllt. Der Amerikanische Strukturalis1
„Partir de l’observation de la langue, la règle grammaticale, si elle a un sens, doit permettre de reconstruire la langue“.
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
mus in der Tradition von Franz Boas hatte mit der vorrangigen Analyse nicht geschriebener Indianersprachen bereits eine entsprechende Position zuerst in Anpassung an die amerikanische Situation und dann programmatisch eingenommen. Die Intuition für einen Neuansatz in der syntaktischen Analyse stammt bei Tesnière wohl aus zwei Hauptquellen und aus einer bestimmten Aversion. Die positive Intuition betrifft einerseits seine Erfahrungen als Übersetzer (aus slawischen Sprachen ins Französische), andererseits den ganz anderen Charakter des Chinesischen, das keine (morphologisch markierten) Wortarten kennt. In diesem Falle ist eine Syntax im traditionellen Stil, die aus der Morphologie entwickelt wird, schwierig. Die Konsequenz dieser Erfahrung ist eine zweifache: 1) Es sollte eine Struktur des Satzes gefunden werden, die von den morphologischen Markierungen nicht existentiell abhängig ist. 2) Es sollte die in vielen Sprachen sehr unterschiedliche lineare Abfolge der Satzglieder von der eigentlichen „Satzstruktur“ getrennt werden. Die Aversion gegen einen Vorrang der Logik und gegen eine Grammatik, die in das vorgegebene, scheinbar universelle logische Raster gepresst wird, veranlasst Tesnière nach Orientierungskategorien jenseits der aristotelischen Tradition zu suchen. Gleichzeitig ist eine „kognitive“ Orientierung Tesnières nicht zu übersehen, d. h. die Strukturen (z. B. die Stemmata) und die Umformungen (translations) der Strukturen sollten im Geist der Sprecher eine Entsprechung haben. In beiden Hinsichten bleibt Tesnière allerdings hinter seinen Ansprüchen zurück:2 1) Die Logik hatte sich seit Leibniz und verstärkt ab der Mitte des 19. Jh. und dann wieder um die Jahrhundertwende mit den Arbeiten von Ch. S. Peirce und später von Whitehead und Russell so radikal weiterentwickelt, dass um 1930 eine Kritik an der Logik nicht mehr an Aristoteles oder dem Kartesia nismus von Port-Royal Maß nehmen durfte.3 2) Die Methode der Introspektion entsprach einem vorexperimentellen Stand der Psychologie (etwa vor dem Ende des 19. Jh.). Seit 1900 hatten sowohl die europäische Gestaltpsychologie als auch der amerikanische Behavioris2
3
Eine ebenfalls innovative und erst posthum wirksame Richtung in der französischen Linguistik hat Gustave Guillaume (1883–1960), der Nachfolger von Antoine Meillet an der École des Hautes Études in Paris, eingeschlagen. Ausgehend von der Gestaltpsychologie entwickelte er eine „psychomécanique“ der Sprache. Seine Vorlesungen wurden nach seinem Tod (1960) ab 1970 in Québec herausgegeben (vgl. Hewson, 1995 zu Guillaume). Es gab in Frankreich, Italien, Spanien und anderen europäischen Ländern so viele meist auf einzelne Linguisten und deren Schüler begrenzte Richtungen, dass ich in diesem Buch keine Vollständigkeit anstreben kann. De Morgan entwickelt 1847 eine Erweiterung der Syllogistik, behält aber noch die Subjekt-Prädikat-Struktur bei. Ab 1860 löst er sich davon und es entsteht eine Logik der Relationen; vgl. Marcel Guillaume (1986: 446) und Kap. 14.
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Klassische Vorgänger der Dependenz-Relation (Valenz) in der Sprachphilosophie
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mus andere Wege beschritten, die eine spezifische Reaktion von Seiten der Grammatiker forderte, d. h. weg von der Selbstbeobachtung oder gelegentlichen Fremdbeobachtung zur intersubjektiv abgesicherten Feldforschung und zum Experiment (im Feld oder im Labor). In Hinsicht auf die Forschungssituation der 50er Jahre ist Tesnières Grammatik von 1959 wohl ein Anachronismus und selbst bei den Entwürfen der 30er Jahre hätte die Gestaltpsychologie und Piagets Entwicklungspsychologie in die Arbeit einfließen können.4 Ich will im Folgenden zuerst anhand sprachphilosophischer Ansätze bei Bühler und Peirce den Grundgedanken der Valenzgrammatik in eine historische Perspektive rücken und dann den Gedankengang Tesnières anhand seines Hauptwerkes skizzieren. Anschließend gehe ich auf Parallelentwicklungen und die weiterreichenden Wirkungen ein.
6.2 Klassische Vorgänger der Dependenz-Relation (Valenz) in der Sprachphilosophie Karl Bühler, einer der Begründer der modernen Psycholinguistik, hat in seinem Werk „Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache“ (1934) einen Tesnières Begriff der Valenz verwandtes Konzept entwickelt. Sein entsprechender Begriff ist der der Konnotation, den er dem scholastischen Gedankengut entnimmt. Dieser greift wiederum auf Appolonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.) zurück und Appolonios führt die Arbeit von Dionysios Thrax (1. Jh. v. Chr.) fort (vgl. Arens, 1968, Bd. 1: 21 ff. und Kap. 2.1). Die Scholastiker des Mittelalters gaben als Hauptfunktion des Nomens, das „notare“, d. h. Benennen (Was-Bestimmung des Benannten) an. Einige Adjektive, wie etwa albus – weiß, nennen zusätzlich zum Aspekt (einer Eigenschaft) den Träger dieser Eigenschaft, d. h. sie „konnotieren“ das was weiß ist. John Stuart Mill (1806–1873) definiert entsprechend: Ein mitbezeichnender Ausdruck ist ein solcher, der einen Gegenstand bezeichnet und ein Attribut einschließt“ (zitiert bei Bühler, 1904: 227). Nicht mitbezeichnend sind hauptsächlich Eigennamen (es wird nur ein Individuum benannt). Verben werden in der logischen Analyse (besonders in der Tradition der Port-Royal-Logik) wie prädikativ verwendete Adjektive analysiert. Sie denotieren die Eigenschaft in einem Kopula-Satz: Hans läuft = Hans ist laufend / ein Laufender und sie konnotieren die Träger des im Verb dargestellten Gesche4
Die beiden Weltkriege (1914–1918 und dann 1939–1945) haben in vielen Ländern Westeuropas eine Art Provinzialisierung der Bildungsträger erzeugt. Dies gilt im Besonderen für Deutschland, wo seit den 20er Jahren der philologische Konservatismus herrschte, der nur wenige angepasste Nischen mäßiger Innovation erlaubte. In Frankreich blieben Neuerer, wie Tesnière oder der an die Gestaltpsychologie anknüpfende Gustave Guillaume, akademische Außenseiter.
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
hens / Handelns. Demnach konnotiert laufen denjenigen, der läuft, den „Läufer“. In einigen Fällen erscheint dies plausibel: a) Hanna wird rot. Hanna errötet. b) Hanna sitzt. Hanna ist sitzend … Bei Bewegungs- und Handlungsverben wird aber die Distanz zwischen Adjektiv / Partizip und Verb deutlicher. c) Hanna kommt. Hanna ist kommend. d) Hanna wirft einen Ball. Hanna ist einen Ball werfend … In (d) ergibt sich ein weiteres Problem. Nach der scholastischen Analyse müsste „werfen“ sowohl „Hanna“ als auch „Ball“ bzw. das Paar (Hanna, Ball) konnotieren. Dies verschärft sich, wenn das Verb drei oder gar vier Nomina regiert (d. h. deren Bedeutungen konnotiert). Die Dependenzanalyse ergibt sich quasi aus der scholastischen Konnotationslehre, wenn die komplexe, dynamische Bedeutung des Verbs ins Zentrum gerückt wird. Man könnte die kleine Revolution der Dependenz-Grammatik gegen die logisch (aristotelische) Grammatik in der Höherbewertung der Konnotationen im Kontext einer verbzentrierten Syntax sehen.5
6.3 Charles Sanders Peirce und die Logik der Valenz Der eigentliche Neuansatz erfolgte schon bei Leibniz.6 Er entwirft eine geometrische Charakteristik, welche systematisch Raumverhältnisse erfasst und damit die Grundlagen für technische Innovationen schafft. Im 19. Jh. hat Grassmann diese Idee wieder aufgegriffen und es entstand die Topologie als verallgemeinerte Raumlehre. Charles Sanders Peirce (1839–1914) hat die Semiotik als allgemeine Theorie des Zeichens über die Logik und Mathematik gestellt. In seiner diagrammatischen Logik untersucht er die „Leerstellen“ in Propositionen wie den folgenden (vgl. Peirce CP: 4.438):
5 6
Erst wenn die Dynamik explizit im Modell repräsentiert wird, wie dies in der Dynamischen Semantik passiert, kommt es zu einem Bruch mit der logischen Analyse-Tradition (vgl. dazu auch Wildgen 1994: Kap. 3). Er verweist auf den mittelalterlichen Philosophen Ramon Llull und dessen „Ars Magna“ und auf die in Raumvorstellungen begründete Mnemotechnik des 16. und 17. Jh. (vgl. Wildgen, 1998a).
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Charles Sanders Peirce und die Logik der Valenz
(1a) (1b) (1c) (1d) (1e)
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Gott gibt jedem Menschen ein Talent. ____ gibt jedem Menschen ein Talent. Gott gibt ______________ ein Talent. Gott gibt jedem Menschen _________ . ____ gibt ______________ _________ .
Die Prädikate der Proposition (z. B. das Verb in 1a–1e) werden Rhemata genannt. Solche, die kein tilgbares Element enthalten, sind nicht relativ; jene, die getilgte Elemente enthalten, sind relativ. Je nach Anzahl der Leerstellen, erhält man Rhemata folgenden Typs: Monaden (1 Leerstelle), Dyaden (2 Leerstellen), Triaden (3 Leerstellen). An dieser Stelle führt Peirce eine Analogie zur chemischen Wertigkeit (= Valenz) ein. Er fragt sich: –– Gibt es eine obere Grenze der Wertigkeit, wie sie etwa in der Chemie im periodischen System auftritt? –– Gibt es eine optimale Wertigkeit, von der die geringere und höhere Wertigkeit eine Abweichung (Degeneration) darstellt? Die maximale Wertigkeit ist für Peirce die Valenz 4. Er sagt (in Peirce, 1906 / 1993: 92): „Und dies ist der Grund, warum kein chemisches Element eine Maximalwertigkeit besitzt, die größer als 4 ist.“ 7 Die Analogie zur Chemie ist aber nicht zufällig oder oberflächlich: „Für Klassifikationen gilt allgemein, dass man es durchaus als erwiesen behaupten kann (wenn es jemals bezweifelt wurde), dass Form im Sinne von Struktur von höherer Bedeutung als Materie ist. Wertigkeit ist die Grundlage jeder externen Struktur.“ (ibidem: 93)
Hier wird deutlich, dass der strukturale Gesichtspunkt, der bereits um 1830 in der Biologie von Cuvier nachweisbar ist, die Grundlage weiterer Naturwissenschaften (etwa der Chemie) und damit bereits lange vor Saussure Bestandteil der Wissenschaftskultur war. Das neue dem Idealismus um 1900 geschuldete Moment im linguistischen (und im literaturwissenschaftlichen) Strukturalismus ist die Ablösung vom naturwissenschaftlichen Strukturalismus, der sich in der Biologie und Chemie etabliert hatte.
7
Was meint Peirce mit der Begrenzung der chemischen Wertigkeit auf 4? In der heutigen Chemie / Physik wird mit Valenz die maximale Wertigkeit benannt: „Eine Valenz gibt an, wie viele Einfachbindungen ein Atom des betreffenden Elementes eingehen kann.“ (Fachlexikon ABC Physik, Bd. 2: 1724). Im periodischen System sind sich die (Haupt-) Gruppen besonders ähnlich; dabei hängt die Wertigkeit von der Zahl der Elektronen ab, die von einem Atom abgegeben oder aufgenommen werden können, um die Elektronenstruktur des nächstgelegenen Edelgases anzunehmen. Die Edelgase (maximale Strukturen) bilden jeweils die Ränder der Periodischen Zeile. Da zwischen zwei Edel gasen acht Stufen liegen, ist die maximale Distanz zu einem Edelgas 8 / 2 = 4.
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
6.4 Tesnières Valenzgrammatik Im folgenden Abschnitt beziehe ich mich ausschließlich auf das posthum veröffentlichte Werk von Lucien Tesnière, 1959, „Éléments de syntaxe structurale“ (Deutsche Übersetzung, 1980, Grundzüge der strukturalen Syntax). Das Buch Tesnières ist auch stilistisch bemerkenswert. Er formuliert seine Thesen in einer nummerierten Folge von Sätzen, also quasi-axiomatisch, wobei man auch an Bloomfields Artikel von 1926 „A Set of Postulates for Linguistic Analysis“, den Tesnière aber nicht erwähnt, denken mag oder an Jespersens „Analytic Syntax“ von 1937 (vgl. Kap. 5.1).8 Tesnière geht von einem einfachen Satz aus: Alfred spricht. Er besteht aus zwei deutlich segmentierbaren Wörtern: Alfred und spricht. Es kommt aber ein drittes, nicht sinnlich Wahrnehmbares hinzu, die Konnexion. Erst die Konnexion macht also den Satz zu etwas Organischem und Lebendigem, sie ist so etwas wie sein Lebensprinzip“ (Tesnière, 1996: 518; Tesnière, 1959: 12; Lebensprinzip heißt dort „principe vital“). Diese nicht sichtbare Form der Konnexion rechnet Tesnière zur inneren Sprachform im Sinne von W. von Humboldt. Sie entspricht im Kern dem „Gedanken“ bei einem erwachsenen Sprecher, bei einem Kind mag die Gedankenordnung weniger klar ausgeprägt sein (vgl. Tesnière, 1996: 518; 1959: 12). Tesnière vergleicht die Konnexion mit der chemischen Bindung: Aus Chlor (Cl) und Natrium (Na) entsteht Natriumchlorid (Kochsalz), das neue Eigenschaften im Vergleich zu den Konstituenten aufweist, d. h. es emergiert eine neue Gestalt aus der Verbindung. Diese ist auch verantwortlich für die neuen Eigenschaften.9 Als Nächstes führt Tesnière die Hierarchie von Konnexionen ein, die durch asymmetrische Beziehungen geprägt ist. Es gibt bei jeder Abhängigkeit (die die Konnexion stiftet) einen übergeordneten (regierenden) und einen untergeordneten (regierten) Term.
8 9
In einer Fußnote vergleicht Tesnière sich mit Franz Bopp, dem Vater der Vergleichenden Sprachwissenschaft und mit Wilhelm von Humboldt. Ersteren nennt er einen Techniker der Sprachwissenschaft, Letzteren eine bedeutende Figur der deutschen Geistesgeschichte. Sieht man sich die Kochsalzverbindung näher an, bemerkt man, dass nicht nur NaCl als stabiles Molekül entsteht; es fügen sich solange Cl-Ionen an das Natrium-Atom, bis dieses vollständig umhüllt ist und die Cl-Ionen auch mit anderen Natrium-Atomen in Verbindung stehen. So entsteht ein weitreichendes Gitter, dessen Regularität schließlich makroskopisch in den Satzkristallen sichtbar wird. Dies ist eine elementare Form der „Generativität eines Musters“ (vgl. Wolff, 1963: 32 f.).
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Tesnières Valenzgrammatik
Im Satz: Alfred spricht ist spricht übergeordnet, Alfred untergeordnet. spricht
(1)
regiert
Regens
(2)
abhängig von
Dependens
| (i)
Alfred
Ersetzen wir Alfred durch mein Freund, so ist Freund sowohl über- als auch untergeordnet. (ii)
spricht | Freund | mein
Tesnière führt nun den Begriff „Knoten“ (nœud) ein. In ihm werden mehrere abhängige Einheiten oder Komplexe zusammengeknotet (zu einem Bündel). In der deutschen Fassung wird „nœud“ als „Nexus“ übersetzt, wodurch die topologische Operation des Verknotens verblasst. Da Tesnière dabei jeweils an reale mentale Prozesse denkt, ist dieser Verlust nicht unerheblich (wir bleiben deshalb beim Begriff „Knoten“). Es gibt in der Hierarchie der Konnexionen und Knoten einen zentralen Knoten, er bildet den Kern des Satzes. Im Allgemeinen ist er ein Verb; es kann aber auch ein substantivischer, adjektivischer Knoten im Zentrum stehen. Das Stemma entsteht, wenn die Konnexionen und Knoten in zwei Dimensionen dargestellt werden. Beispiele sind: (iii) Freund mein
zentraler Knoten
singt
alter
Lied dieses
hübsche
untergeordneter Knoten (1. Stufe) untergeordneter Knoten (2. Stufe)
Abbildung 3: Zweidimensionales Stemma Tesnière weist darauf hin, dass das Stemma eigentlich viel-dimensional ist (denn jeder Knoten versammelt unabhängig von anderen eine Mehrzahl von regierten Konstituenten). Die zweidimensionale Baumstruktur ist also nur eine grafische Bequemlichkeit und gibt keinen Hinweis auf eine zweidimensionale oder gar serielle kognitive Verarbeitung. Damit entfällt die falsche Analogie zu von
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
Computern generierten Ketten und Strukturen (vgl. zu mentalen Operationen Kap. 12 und 13). Die Struktur des Satzes ist eng mit dem verbalen Knoten verbunden. Hier führt Tesnière eine weitere Struktur-Metapher ein: Der Satz „lässt sich mit einem kleinen Drama vergleichen“ (Gréciano und Schumacher, 1996: 522; Tesnière, 1959: 102). Es entsprechen sich: Satz Verb Aktanten (actants) Angaben (circonstants)
→ → → →
Drama Geschehen Akteure Umstände der Zeit, des Ortes, der Art und Weise usw. Beispiele (Tesnière 1959: 102 ; 1980: 93):
(v)
gibt
zentraler Knoten
Alfred
Karl
das Buch
Aktant1
Aktant2
Aktant3
(vi)
steckt
Alfred
Nase
immer
Aktanten
überall hinein
seine Aktant1
Aktant2
1. Abhängigkeitsebene 2. Abhängigkeitsebene
Angabe1
Angabe2
Abbildung 4: Aktanten und Angaben Vergleicht man die Übersetzung von Tesnières Text mit dem Original, bemerkt man, dass „hineinstecken“ im Französischen „fourrer“ als Äquivalent hat, d. h. ein Teil der Angabe im Deutschen („hinein“) ist im Französischen schon im Verb-Simplex enthalten. Somit entsteht das Problem der Inkorporation, d. h. Teile des Dramas können unterschiedlich „verpackt“ werden. Die Abhängigkeits-Struktur ist damit aber nicht mehr sprachneutral. Die Aktanten gibt es in unterschiedlicher Art und Anzahl. Tesnière sagt, und dies ist zentral für einige weiterführende Ansätze: „Die Aktanten lassen sich nach Ihrer Art unterscheiden, die ihrerseits eine Funktion ihrer Anzahl innerhalb des Verbalnexus ist. Die Anzahl der Aktanten ist deshalb von grundlegender Bedeutung für die Struktur des Verbalnexus.“ (1996: 526; 1959: 106)
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Tesnières Valenzgrammatik
Tesnière unterscheidet nach der quantitativen Valenz vier Typen: „Es gibt Verben ohne Aktanten, Verben mit einem Aktanten, Verben mit zwei Aktanten und Verben mit drei Aktanten.“ (ibidem)
Beispiele: es regnet
0-wertig
fällt
1-wertig
Alfred 2-wertig a)
Subjekt (1. Aktant) b)
wirft Hans
Subjekt (1. Aktant) 3-wertig
wird geschlagen
Stein
Bernhard
von Alfred
einen
Subjekt (1. Aktant) passiv
Gegensubjekt (2. Aktant)
Objekt (2. Aktant) aktiv
gibt Bernhard
Alfred
Buch das
Subjekt (1. Aktant) aktiv
Benefizient (3. Aktant)
Objekt (2. Aktant)
Abbildung 5: Wertigkeit und entsprechende Stemmata Vierwertigkeit wird ausschließlich für die kausative Diathese angenommen, dabei wird generell die vorhandene quantitative Valenz um einen Grad angehoben. Meist ist der neue Aktant ein Anreger, Betreiber („instigateur“) der Handlung (Tesnière, 1959: 260): Alfred stirbt 1. Aktant
→
Bernhard lässt 1. Aktant
Alfred sterben 2. Aktant
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
Der neue Aktant nimmt die Rolle des Subjekts an, der ursprüngliche wird zum 2. Aktanten (passiv), d. h. zum Gegen-Subjekt oder besser zum Ko-Subjekt. Im Falle zweiwertiger Verben wird das ursprüngliche Subjekt (1. Aktant) zum 3. Aktanten: Alfred lernt die Grammatik 1. Aktant 2. Aktant Karl lässt Alfred die Grammatik 1. Aktant 3. Aktant 2. Aktant
lernen
Die kausative Konstruktion wird in diesem Beispiel periphrastisch ausgedrückt (im Deutschen steht Alfred im Akkusativ, so dass eine Konstruktion mit zwei Akkusativen entsteht; im Französischen erhalten wir dagegen: Charles fait apprendre la grammaire à Charles. Im Deutschen haben wir außerdem den nicht periphrastischen Ausdruck mit: lehren. Karl lehrt den Schülern das Ein-mal-eins 1. Aktant 3. Aktant 2. Aktant Hier wählt das Deutsche den Dativ für den 3. Aktanten. Bei dreiwertigen Verben erhalten wir eine (periphrastische) Vierwertigkeit: durch Karl Daniel lässt Alfred 1. Aktant 3. Aktant 4. Aktant (vgl. Tesnière, 1959: 261).
ein Buch 2. Aktant
überreichen
Einige Abschnitte vorher (Kap. 106, § 18) sagt Tesnière, dass es wohl in keiner Sprache nicht periphrastische Konstruktionen gibt mit einer Valenz höher als drei. Außerdem nimmt er an (ibidem), dass die wachsende Komplexität der Valenzmuster eine Funktion des Fortschrittes des menschlichen Geistes sei. Daraus lässt sich ohne weiteres eine Hypothese zur Sprachevolution bilden: Die Valenzhierarchie spiegelt eine evolutionäre Komplexitätshierarchie (vgl. für eine Ausarbeitung dieser Hypothese im Rahmen einer evolutionären Grammatik, Wildgen, 2004, Kap. 8). Neben der asymmetrisch-hierarchischen Relation der Konnexion nimmt Tesnière eine zweite Grundrelation an: die Junktion (jonction), etwa vertreten durch Konjunktionen. Obwohl die Stemmata eine Reihenfolge der Konstituenten, z. B. unter einem Knoten zeigen, ist dies ein Artefakt. Der Knoten verlangt keine lineare Abfolge, sondern nur die vertikale Dependenz. Entsprechend gibt es Variationen in der Anordnung der Aktanten und des Verbs.10
10 Wie die Typologie von Greenberg zeigt, sind bei einer Analyse zweiwertiger Sätze, d. h. mit V, A1, A2 (bei Greenberg V, S, O), alle mathematisch möglichen Folgen in den Sprachen der Welt nachweisbar (allerdings mit großen Frequenzunterschieden; die Frontstellung von A2 ist sehr selten).
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Tesnières Valenzgrammatik
Für das Deutsche, das im Hauptsatz Zweitstellung des Verbs bevorzugt, gibt es auch ohne Frage- und Imperativformen die folgenden von Tesnière (Kap. 58, § 2) angegebenen Formen: 1
2
3
4
5
Mein Sohn
besuchte
gestern
das Museum
Gestern
besuchte
mein Sohn
Mit einem besuchte Fremden Das Museum besuchte
mein Sohn
mit einem Fremden mit einem Fremden gestern
mein Sohn
gestern
Tabelle 7: Stellungsvariationen im deutschen Satz
das Museum das Museum mit einem Fremden
Die Variation der Stellungen ist ein einzelsprachliches Phänomen, dennoch ist sie nicht willkürlich, da z. B. die Zweitstellung des Verbs erhalten bleibt und die Aktanten alle von ihnen abhängen Konstituenten bei der Umstellung mit sich nehmen (ibidem: 130). Die strukturale Intuition Tesnières besagt, dass die Konnexion die Grundschemata der Satzaussage beschreibt; die zusätzlichen sogenannten Ausbauelemente werden durch die Junktion und die Translation beschrieben. Psycholinguistisch (oder gar evolutionär) betrachtet, bildet die Konnexion den Kern, während Junktion und Translation die Peripherie ausfüllen. Tesnière bezeichnet Junktive auch als „Satzwegweiser“ und empfiehlt, sie beim Lernen einer Sprache früh zu erwerben. Die Junktive können Wörter, Satzgruppen oder Sätze verbinden. Der dritte und sehr ausführliche Teil des Buches von Tesnière betrifft die sogenannte „translation“ (S. 359–637). Die Translation verwandelt ein Wort einer Kategorie in ein solches einer anderen Kategorie. Tesnière geht davon aus, dass die Grundwortarten quasi automatisch mit der Konnexion gegeben sind (sie sind somit unmarkiert; vgl. Tesnière, 1996: 536). Die Translation verändert die Wortart und bringt dazu (automatisch) eine andere Konnexion zum Tragen. Im Deutschen markiert das Genitiv-s die Translation zu einem Attribut (bei Tesnière von der Wortart Adjektiv). Beispiel: Das Buch meines Freundes. Die Translationen können mehrfach vorkommen, wie im Satz: Schreibt in das Buch eines Freundes. Die Präposition in markiert dabei eine Translation in die Wortart: Adverb / Adverbial. Auf diese Weise sind nicht nur Wortartveränderungen in der Morphologie (bei Ableitungen) sondern auch Attribute, adverbiale Ergänzungen und Angaben sowie Infinitive, Partizipien und Gerundia Resultate von Translationen (vgl. die Tabelle in Tesnière, 1959:
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Die Valenzgrammatik: Voraussetzungen und Folgen
409). Die Translation verändert auch die Valenz, z. B. wenn ein Verb wie fatiguer (ermüden) zu fatigué (müde) verändert (transferiert) wird. Tesnière geht von vier Wortarten (gemäß der Markierung durch Endvokale im Esperanto) aus: O = Substantiv, A = Adjektiv (Attribut), E = Adverb (Adverbial), I = Verb. Da die Translationen primär die Wortart und sekundär die Konnexion verändern, sind sie (in unterschiedlichem Maße) strukturinnovativ. Tesnière beschreibt also im synchronen Zustand einer Sprache deren Entstehung und Wandel, besonders in der Syntax. Die Innovationen seiner Grammatik sind die folgenden: –– Die syntaktischen Grundverhältnisse werden auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten (der Naturwissenschaften) und des Handelns (Drama) bezogen. –– Die innere Form der Sprache (nach Humboldt und gegen die Positivisten) wird mit Nachdruck in den Vordergrund gerückt: in einer modernen Sprechweise könnte man sagen, die Grammatik Tesnières ist funktional und semantisch (lexikalisch) ausgerichtet. –– Hierarchische Strukturen (Knoten) bilden den Kern der Satzstruktur; sie sind von den Junktiven zu trennen. –– Die Liste der Wortarten ist auf vier begrenzt (statt 9): Nomen, Verb, Adjektiv, Adverb; diese wirken sich über die Translationen auf weiere syntaktische Strukturen aus. Diese Idee wird später in der X-bar Theorie neu belebt (vgl. Kap. 9).
6.5 Valenz und Dependenz im Kontext neuerer Entwicklungen Da die Valenzgrammatik sehr stark auf Anwendungen im Sprachunterricht (insbesondere für Nicht-Muttersprachler) ausgerichtet war, wurde sie bei der Entwicklung formaler und auf Computer-Anwendungen ausgerichtete Modelle kaum in Betracht gezogen. Dies änderte sich im Westen erst in den 80er Jahren, als die rein syntaktisch ausgerichteten Modelle ihre Attraktivität einbüßten. Im slawischen und genereller im Einflussbereich der UdSSR war das anders. Erfolgreiche didaktisch ausgerichtete Modelle wurden in der DDR (Helbig, Schenkel u. a.) entwickelt und Mel’čuk gründete eine russische Schule der Computer-Linguistik, die mit seiner Emigration nach Kanada in den 70er Jahren auch im Westen bekannt wurde. Sie hatte als vornehmlichen Anwendungsbereich die maschinelle Übersetzung. In der Folge fanden Ideen der Valenzgrammatik auch in der technisch orientierten Linguistik Eingang. Gaifman (1965) hatte einer Formalisierung der Dependenz-Grammatik (Valenz wird als eine Art der Dependenz aufgefasst) vorgeschlagen, für die er eine schwache Äquivalenz zur kontextfreien generativen Grammatik bewies. Dies wurde häufig dahingehend interpretiert, dass die Dependenz-Grammatik lediglich eine
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Valenz und Dependenz im Kontext neuerer Entwicklungen
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notationelle Variante kontextfreier Phrasenstruktur-Grammatiken sei; dies gilt aber nur für Gaifmans Rekonstruktion und außerdem betrifft die schwache Äquivalenz nicht die durch Strukturbäume dargestellten syntaktischen Beziehungen, die einen wesentlicher Teil der grammatischen Analyse ausmachen. Mel’čuk (1988) unterscheidet drei Arten der Dependenz: morphologische, syntaktische und semantische Dependenz; den eigentlichen Kern bildet aber die semantische Dependenz. Die syntaktische Dependenz liegt (unbequem) zwischen der (eher) formalen morphologischen und der inhaltlichen semantischen Dependenz, welche z. B. den Prädikaten ihre Argumente zuordnet. Das Dependenz-Prinzip ist auch grundlegend für alle Grammatiken, die ein KopfPrinzip ansetzen (z. B. X-bar Syntax, HPSG = head driven phrase structure grammar und für das GB = Government & Binding-Modell von Chomsky). In Schneider (1996) werden auch Parser (Systeme zur automatischen Satzanalyse) auf der Basis einer Dependenz-Grammatik getestet. Sie sind mit Parsern, die auf dem Konstituenz-Prinzip basieren, weitgehend leistungsgleich. Die Leistung Tesnières besteht darin, dass er sich einerseits gegen die Dominanz logisch-rationalistischer Schematisierungen (traditionell in der Schulgrammatik, vgl. Kap. 2.4) zur Wehr gesetzt hat und andererseits aus seiner Praxis der Übersetzung und des Sprachvergleichs ein umfassendes Konzept der Analyse von Sprachen entwickelt hat, das besonders in Hinblick auf den Sprachunterricht für Ausländer sehr erfolgeich war.
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7 Edward Sapir und die amerikanische Ethnolinguistik In der historischen Reihenfolge müsste Sapir, dessen Hauptwerk 1921 erschien, nach dem Kapitel über Ferdinand de Saussure und vor dem Prager Strukturalismus, der Mitte der 30er Jahre seinen Höhepunkt erreicht, stehen. Auch Bloomfield, der im nächsten Kapitel behandelt wird, könnte wegen seines Aufsatzes von 1926 und seines Hauptwerkes von 1933 in dieser Zeitzone behandelt werden. Ich habe es vorgezogen, die amerikanische Linie, die von Sapir und Bloomfield zu Harris und Chomsky (also von Sapirs Monographie 1921 bis Chomsky Erstlingswerk, 1957 reicht) in einer Abfolge zu behandeln. Unterbrochen durch die soziolinguistischen Arbeiten (Labov ab 1963) wird dann eine weitere amerikanische Forschungsrichtung, die viele Themen von Sapir bis Chomsky weiterführt (Lakoff, Talmy, Langacker, 1976 bis heute) behandelt. Wir gehen somit insgesamt historisch und geographisch (nach kulturell-wissenschaftlichen Zentren) vor. Edward Sapir wurde in Lauenburg, jetzt Lebork in Polen, geboren (1884). Als er fünf Jahre alt war, wanderten seine Eltern nach Amerika aus, wo sein Vater als Kantor tätig wurde. 1904 schloss er sein Hochschulstudium an der Columbia University (New York) ab und absolvierte seinen Master in Germanistik.1 Nach einer Begegnung mit Franz Boas, der für fast alle sprachwissenschaftlichen Überzeugungen von Sapir Gegenbeispiele aus amerikanischen Indianersprachen parat hatte, wandte er sich Feldstudien im Staate Washington zu (Wishram Indianer). In seiner Doktorarbeit legte er eine Grammatik der Indianersprache Takelma (Oregon) vor. 1907–1908 arbeitete er in Berkeley (University of California) über die Yana-Indianer, 1909 promovierte er an der Columbia University und von 1910–1925 arbeitete er in Ottawa (Kanada) als Leiter der Anthropologie-Abteilung des Kanadischen Nationalmuseums. In dieser Zeit erforschte er viele kanadische Indianersprachen (Nootka, Athapaskan-Sprachen, Tlingit, Kutchin, Ingalik). 1925 ging er nach Chicago, wo er als Professor für Anthropo1
Die Publikation, die eine leicht veränderte Fassung seiner Master-Thesis darstellt, zeigt nicht nur Sapirs Verwurzelung in der Tradition von Herder und Humboldt, sie beweist auch seinen Ausgangspunkt in der Deutschen Philologie, die Literatur und Sprache gleichwertig behandelte. Sapirs Schrift erschien 1907 in der Zeitschrift: Modern Philology; vgl Sapir (1907 / 2008) und die Einleitung von Swiggers von 2008. Sapir soll in Deutschland auch bei Wundt Vorlesungen gehört haben (wie Wygotski und Malinowski), cf. Laucken (1998: 88 f.).
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Edward Sapirs Monographie „Language“
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logie und Allgemeine Sprachwissenschaft tätig war und zu einer der einflussreichsten Figuren der amerikanischen Linguistik wurde. Ab 1931 lehrte er in Yale. Er starb 1939, in den letzten Jahren seines Lebens hatte er zahlreiche Ehrungen erhalten. Sapir verwies auf die Verwandtschaft asiatischer und ameroindischer Sprachen und nannte die entsprechende ameroindische Gruppe Na-Dene. Er schrieb Artikel zur Psychologie und plante ein Buch „The Psychology of Culture“. Seine einzige publizierte Monographie ist das 1921 erschienene Buch „Language“ und es wurde von ihm auf der Basis von Notizen in nur zwei Monaten diktiert; dieses Buch war später eine Inspiration für Louis Hjelmslev (vgl. Mandelbaum, 1985: xi).2
7.1 Edward Sapirs Monographie „Language“ (1921)3 In seiner Einleitung schreibt Sapir, dass es ihm in der Hauptsache darum gehe zu zeigen, was Sprache eigentlich sei, „in welchen verschiedenen Gestalten sie auftreten kann, wie sie sich zu anderen wesentlichen menschlichen Belangen verhalte, nämlich zu den Problemen: Was ist Denken, Geschichte, Rasse, Kunst, Kultur?“ (Sapir, 1972: 11) Ich will nur einige Aspekte des Buches hervorheben (insbesondere in Hinblick auf noch heute diskutierte Fragestellungen). Im Titel „Language: An Introduction to the Study of Speech“ erwähnt Sapir den Begriff „Struktur“ nicht; vielmehr wird mit „speech“ die Sprechsprache ins Zentrum gerückt. Der Begriff „Struktur“ (structure) wird nicht programmatisch verwendet, der Begriff „Strukturalismus“ erscheint gar nicht. Ähnlich wie de Saussure geht Sapir von einem Prozessmodell der Kommunikation aus, das zwei Ebenen hat, bei der ersten Ebene werden aber sensorische und motorische Komponenten unterschieden): de Saussure 1916
Sapir 1921
image acoustique
auditory imagery – motor imagery (correlated)
image mentale
classification, formal patterning, relating of concepts
Tabelle 8: Vergleich der semiotischen Grundbegriffe von de Saussure 1916 und Sapir 1921 2
3
In Kap. 11.3. gehe ich kurz auf Malinowski (1884–1942) ein, der gleichzeitig mit Sapir aber in einem europäischen (vorsaussureschen) Theoriekontext ethnographische und linguistische Untersuchungen an Bevölerungen in Australien, Neuguinea und in Melanesien durchführte; vgl. dazu auch Schmidt (1984). Eine elektronische Version des Buchtextes ist verfügbar unter: www.bartleby.com / 186 / l.html (14.10.2009).
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Edward Sapir und die amerikanische Ethnolinguistik
Sapir spricht in diesem Zusammenhang statt von einem sprachlichen Zeichen von einem „truly linguistic symbolism“, der den Transfer von Botschaften zwischen zwei Sprechern ermöglicht. Er sieht aber wie Saussure die Klassifikationsleistung, die formalen Muster als zentrales Problemfeld der Linguistik. Er sagt (zitiert nach: Sapir 1921 http: / / www.bartleby.com / 186 / 1.html, Kap. 1): „Auditory imagery and the correlated motor imagery leading to articulation are, by whatever devious ways we follow the process, the historic fountain-head of all speech and of all thinking. One other point is of still greater importance. The ease with which speech symbolism can be transferred from one sense to another, from technique to technique, itself indicates that the mere sounds of speech are not the essential fact of language, which lies rather in the classification, in the formal patterning, and in the relating of concepts. Once more, language, as a structure, is on its inner face the mold of thought. It is this abstracted language, rather more than the physical facts of speech, that is to concern us in our inquiry.“
Die Festlegung von Strukturen für viele verschiedene Sprachen stellt den Linguisten vor das Problem der Vergleichbarkeit, Verallgemeinerbarkeit seiner Kategorien und Analyseraster (ibidem: Kap. 6: 128): „Strictly speaking, we know in advance that it is impossible to set up a limited number of types that would do full justice to the peculiarities of the thousands of languages and dialects spoken on the surface of the earth. Like all human institutions, speech is too variable and too elusive to be quite safely ticketed. […] Just as similar social, economic, and religious institutions have grown up in different parts of the world from distinct historical antecedents, so also languages, travelling along different roads, have tended to converge toward similar forms. […] Why similar types should be formed, just what is the nature of the forces that make them and dissolve them – these questions are more easily asked than answered. Perhaps the psychologists of the future will be able to give us the ultimate reasons for the formation of linguistic types.“
Anlässlich des 80. Geburtstages von Noam Chomsky sind Sapirs Bemerkungen zum Thema Sprachorgan und Instinkt bemerkenswert, denn auf beide Fragen gibt Chomsky deutlich bejahende Antworten. Die angeborene Universalsprache (UG = universal grammar) wird mit einem Organ verglichen; der quasi-automatisch ablaufende Spracherwerb wird mit einem instinktbasierten Erwerb von Verhaltensmustern verglichen.4 Edward Sapir spricht sich deutlich gegen beide Auffassungen aus:
4
Sapir wendet sich in dem Artikel: „Do we need a ‚Superorganic’?” gegen eine Reifizierung des Sozialen als gesonderte, nicht materielle Kraft. Er sagt: „The social is the name for those reactions or types of reactions that depend for their perpetuation on a cumulative technique of transference, that is known as social inheritance.“ (Sapir, 1917 / 1999: 36) und: „individual personality is the locus of culture“ (ibidem: 26). Eine ähnliche Abwehr einer Hypostasierung des Sozialen findet sich aktuell z. B. bei Latour (2007). Es gibt also neben dem Sprachorgan eine zweite falsche Abstraktion, die Sprachkultur.
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Edward Sapirs Monographie „Language“
„Language is a purely human and noninstinctive method of communicating ideas, emotions, and desires by means of a system of voluntarily produced symbols.“ (Sapir, 1921: 7)
Er zeigt, dass selbst die sogenannten „Sprechorgane“ eigentlich nicht für die Sprache geschaffen sind, da sie nur „beiläufig auch zur Erzeugung von Sprachlauten benützt werden“ (ibidem). Insgesamt realisiert die Sprache einen Komplex sekundärer Funktionen. Auch die Tatsache, dass Sprachwahrnehmung und -motorik in gewissen Teilen des Gehirns lokalisierbar sind, macht noch kein „Sprachorgan“ aus, da es sich um ein „weitgespanntes Netz von assoziierten Lokalisationen im Gehirn und in niedrigeren Nervenzentren“ handelt. Diese Assoziationen sind selbst noch keine Sprachelemente, da erst die stabile Wiederholung, die soziale Koordination ähnlicher Strukturen, Sprache ausmacht. Im Gegensatz zu Bloomfield (vgl. nächstes Kapitel) stehen für den Ethnolinguisten Sapir Bedeutungsbeschreibungen im Vordergrund. Im fünften Kapitel „Form und Sprache: Grammatische Begriffe“ diskutiert Sapir am Satz: the farmer kills the duckling, wie verschiedene Sprachen selbst die in diesem einfachen Satz benützten Kategorien unterschiedlich auffassen. Die deutsche Entsprechung etwa: Der Bauer tötet das Entlein fügt einen Artikel mit Markierung von Genus (mask.), Numerus und Kasus hinzu: der mit den Alternativen: die, das, den, dem, des
the
Im Verb kill → töten zeigt das Deutsche eine Ableitung des Verbs vom Adjektiv tot → töten. Im Yana wäre (in einer Morphem-zu-Morphem-Übersetzung) die folgende Struktur anzunehmen (vgl. ibidem: 90): Töt-et
er
1
2
Bauer
er
zu
2
3
Entlein
Bauer ist zu verstehen als „Boden-graben“ oder „wachsen lassen“, da die Yana keine Landwirtschaft kennen. Es gibt drei neue Beziehungsbegriffe im YanaSatz: 1) Das Suffix des Verbs steht nicht für Plural / Singular, sondern dafür, dass der Sprecher die Aussage selbst verbürgt und nicht als Behauptung eines anderen anführt. 2) „er“ sagt nichts über Kasus, Genus, Numerus aus (wie im Deutschen: er, sie, es). 3) „zu“ gibt an, dass das dem Verb folgende Wort Objekt und nicht Subjekt des Satzes ist.
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Edward Sapir und die amerikanische Ethnolinguistik
An vielen anderen Beispielen zeigt Sapir, dass manche im Deutschen und Englischen notwendigen Kategorisierungen in anderen Sprachen überflüssig sind und dass dort Kategorien auftreten, an die man bei den uns eher bekannten (westlichen) Sprachen nicht denkt. Diese Relativität der relevanten Kategorisierungen und ihrer internen Unterscheidungen ist eine der Grundeinsichten der anthropologischen Forschungen Sapirs und bildet den Grundstock, der von Sapirs Schüler Benjamin Whorf philosophisch radikalisierten Hypothese des Sprach-Relativismus (die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese; vgl. Kap. 7.2). Sapir schlägt das folgende System sprachlich ausgedrückter Begriffe vor (ibidem: Kap. 5, 19 f.): Grundlegende (anschauliche) Begriffe Gegenstände, Fähigkeiten, Eigenschaften. Abgeleitete Begriffe Weniger anschaulich als I. Sie erweitern diese lokal (durch Affixe) und sind für den Satz als Ganzes eher unwesentlich. III. Anschauliche Beziehungsbegriffe Die Beziehungen gehen in ihrer Wirkung über das Wort hinaus und sind abstrakter, aber nicht völlig unanschaulich. IV. Reine Beziehungsbegriffe (völlig abstrakt)
I. II.
Dabei sind die Klassen I und IV unentbehrlich für alle Sprachen, die Klassen II und III sind lediglich weit verbreitet und sie stellen eigentlich Übergangsformen zwischen Klasse I und IV dar. Wörter der Klasse I können ihre eigentliche Bedeutung verlieren und in das Gebiet von Klasse IV wechseln (ibidem: 99). Jahrzehnte später erhält dieses Phänomen den Namen „Grammatikalisierung“. Man könnte wie später Hansjakob Seiler auch von einer Skala mit den Extremen A und B ausgehen: A. Begriffe mit deutlich anschaulichen, der Senso-Motorik verbundenen Inhalten. B. Rein abstrakte Begriffe, die ausschließlich dem Aufbau von Komplexen und Konstruktionen dienen und deren Grundgerüst bereitstellen. Dass A-B die Extrempunkte einer Skala sind, zeigen die Übergänge (s. o.). Da die Übergangspositionen von Sprache zu Sprache, ja selbst bei verschiedenen historischen Stadien einer Sprache variieren, entsteht quasi ein Kontinuum zwischen A und B (vgl. Wildgen, 1987 / 2005: 85–89). Jede einzelne Sprache (jedes Sprachstadium) zeichnet aber Prototypen auf der Skala aus, so dass der Eindruck einer diskreten Anordnung (z. B. die Klassen I, II, III, IV oben) entsteht. Diese Konsequenz hat als erster Hansjakob Seiler und seine Forschergruppe UNITYP (vgl. Seiler, 1990) gezogen, wobei er sich auf einen Beitrag René Thoms von 1978 stützt (vgl. Seiler, 1978 und Thom, 1978). Sapir geht in einem Artikel von 1931 kurz auf einige Definitionen Bloomfields in dessen Axiomatik ein und zeigt (in Übereinstimmung mit Bloomfield,
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Die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese
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aber für eine andere Gruppe von Indianersprachen), dass die sogenannten „Lautgesetze“ auch für Sprachen außerhalb der indoeuropäischen Familie gelten, also allgemein sind. Sie sind aber nur als Grundschema allgemein, denn ein „Lautgesetz“, z. B. der germanischen Sprachen, sagt nichts aus über Regularitäten des Lautwandels in anderen Sprachen. Insofern handelt es sich auch nicht um allgemeine „Gesetze“, sondern eher um sprachspezifische Regularitäten, die sich in ein allgemeines Format einfügen lassen.
7.2 Die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese Sapir tendierte gegen Ende seiner Laufbahn dazu, die Sprache nicht nur als Spiegel von Kultur und Tradition, sondern als das Denken bestimmend anzusehen. Diese Position hat sein Schüler Benjamin Lee Whorf programmatisch vertreten und damit der Ethnolinguistik in eine philosophische Richtung erweitert. Das folgende Zitat mag seine Position illustrieren (vgl. Whorf, 1935: 212–214). „We dissect nature along lines laid down by our native languages. The categories and types that we isolate from the world of phenomena we do not find there because they stare every observer in the face; on the contrary, the world is presented in a kaleidoscopic flux of impressions which has to be organized by our minds – and this means largely by the linguistic systems in our minds. We cut nature up, organize it into concepts, and ascribe significances as we do, largely because we are parties to an agreement to organize it in this way – an agreement that holds throughout our speech community and is codified in the patterns of our language […] all observers are not led by the same physical evidence to the same picture of the universe, unless their linguistic backgrounds are similar, or can in some way be calibrated.“
Eine häufig anzutreffende Karikierung dieser Position macht die Sprache zum Gefängnis des Denkens. In Wirklichkeit will Whorf aber eher die soziale Vermittlung von Denken und Sprechen betonen und er schließt nicht aus, dass es Rationalitätsprinzipien gibt, die sowohl für den Menschen notwendig sind, als auch generell für alle Beobachter dieses Universums gelten (vgl. ibidem: 208). Insofern kann man selbst beim radikalsten Vertreter der These des Sprachrelativismus von einer gemäßigten Position sprechen, welche für eine kognitive Linguistik Raum lässt, diese aber entschlossen auf den starken kulturellen Faktor in der Sprachgestaltung verweist und Totalitätsansprüche einer biologistischen Sprachtheorie zurückweist (vgl. Kap. 12 für eine Verbindung von Sprachrelativismus und kognitiver Linguistik). Die heute häufig als Sapir-Whorf-Hypothese bezeichnete Problemstellung fragt nach einem Zusammenhang von Sprache und Denken, indirekt auch von Sprache und Kultur, in Extremfällen von Sprache und Nation (Volk) oder gar Rasse. Diese Fragestellung ist schon bei Condillac, Herder und besonders bei Humboldt, also in den Anfängen einer systematischen Sprachphilosophie klar
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Edward Sapir und die amerikanische Ethnolinguistik
konturiert. Bereits in der Zeit Humboldts und später, nachdem auch Deutschland in den Kreis der Kolonial-Imperien eingetreten war, hat diese Frage immer wieder politisch fragwürdige Nebeneffekte gehabt (vgl. das Sprechen von primitiven Völkern und Sprachen). In den rassistischen Diskursen ab 1900 (besonders 1930–1945) hat sie ihr hässlichstes Gesicht gezeigt: ein letztlich auf Sprache gestütztes Herrentum. In diesem Kontext erscheinen Sapirs Ausführungen am Ende seines Buches im Kapitel „Sprache, Rasse und Kultur“ aufschlussreich. Sapir stellt klar, dass die Sprache ihre ganz eigentümlichen Gesetze kennt. Zusammenhänge mit Staat, Kultur, Rasse können nur zufälliger Art sein, insofern Staaten, Kulturen, ethnische Entitäten, die länger in Nachbarschaft existieren, über Kontakt und Entlehnung Gemeinsamkeiten entwickeln. Sind sie langfristig getrennt, fehlen solche durch Kontakt induzierten Ähnlichkeiten, diese sind also, wenn sie auftreten, ein Epiphänomen und können nicht als Beweise für einen inneren Zusammenhang gewertet werden. Sapir hat, wie dieses Kapitel seines Buches zeigt, aus der anthropologischen Linguistik im Stile von Franz Boas gelernt, ethnozentrischen Interpretationen zu misstrauen und er hebt sich insofern gegen Humboldt ab, der trotz aller Sympathie, besonders für nicht europäische Hochkulturen (siehe seine Arbeit zum Kawi, der javanischen Traditionssprache, die bereits im 8. Jh. literarische Texte kannte), eine eurozentrische Betrachtungsweise nicht vermeiden kann. Die Autonomie des sprachlichen Systems, sowie dessen Eigengesetzlichkeit, ist auch ein Kerngedanke des Strukturalismus und war schon bei de Saussure deutlich ausgeprägt. In diesem Sinne unterscheidet sich Sapir klar von Humboldt, der in der Tradition von Herder eine enge Verbindung von Kultur, Volkscharakter und der „inneren Form“ der Sprache annimmt. Die rein epiphänomenale Beziehung wird aber von Sapir nicht auf das Paar Sprache und Denken ausgedehnt. „Sprache und Denken sind untrennbar miteinander verflochten, sie sind eigentlich nur zwei Seiten ein und desselben Vorgangs.“ (Sapir, 1921 / 1972: 193)
Sapir geht aber davon aus, dass „die Grundlagen des Denkens bei allen Rassen ungefähr die gleichen sind“, d. h. alle Menschen sind jenseits individueller, zufällig verteilter Unterschiede in ihrer kognitiven Grundausstattung gleich, da sie derselben biologischen Art angehören. Die unterschiedlichen Körper- und Verhaltensformen sind lediglich oberflächliche Variationen. Dies war und ist die Basis der modernen anthropologischen Linguistik (und auch der modernen Soziolinguistik; vgl. Kap. 10 und 13.4). Sapir begründet mit der Gleichsetzung von Sprache und Denken um 1920 auch die kognitive Linguistik, d. h. im Gegensatz zu den behavioristisch- reduktionistischen Tendenzen bei Bloomfield wird eine sehr enge Beziehung von Sprachwissenschaft und dem, was wir seit einigen Jahrzehnten „Kognitionswissenschaft“ nennen, angenommen (vgl. Wildgen, 2008: Kap. 1 und 2).
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8 Bloomfield und der Amerikanische Strukturalismus Der Amerikanische Strukturalismus ist eng mit dem Werk von Leonhard Bloomfield (1887–1949) verbunden. Er hat wie der Genfer Strukturalismus einen kritischen Bezug zu den Junggrammatikern (obwohl er ihn als Hintergrund voraussetzt). Mit dem Werke von Franz Boas (1859 Minden–1942 New York) und dessen Handbook of the American Indian Languages (1911–1922) hatte die amerikanische Linguistik eine nationale Spezifikation erhalten, die wir bereits anhand des Werks von Sapir erläutert haben.1 Der spezifischere Deskriptivismus oder (in seiner strengsten Form) Distributionalismus, der eine methodische Konsequenz der systematischen Feldforschung und der Erstbeschreibung von vielen Sprachen war, ist bis heute eine Grundkomponente der amerikanischen Linguistik geblieben und hat sich mit etwas Verzögerung ab den „Principles and Parameter Modell Chomskys“ und dann vehement in der korpusorientierten Linguistik erneut durchgesetzt. Man kann die Benennung „Strukturalist“ im Falle von Bloomfield und anderen amerikanischen Autoren in Zweifel ziehen, zumindest wurde dieser Begriff erst relativ spät programmatisch von Hockett (1947: 270 f.) verwendet.2 Die frühe Amerikanische Linguistik ist noch relativ stark auf Europa bezogen. Bloomfield hat nicht nur 1913 Wundts Sammelwerk „Völkerpsychologie“, das einen Band (in zwei Büchern) zur Sprache enthielt, rezensiert und kannte Cassirers Schriften, er hat auch die Vorlesungen von de Saussure (d. h. die posthume Veröffentlichung durch dessen Schüler 1916) rezensiert. Seine Schrift von 1914 „An Introduction to the study of language“ ist noch als traditionell im Sinne der dominanten europäischen Trends in der Sprachwissenschaft zu Beginn des 20. Jh.s (also vor Saussure) zu bezeichnen. Erst mit der Neuorganisation der linguistischen Grundbegriffe in einem axiomatischen Postulatensystem (Bloomfield 1926) und seiner Abwehr des Paulschen Psychologismus und mit der Adoption des reduktionistischen Programms der Behaviorismus löst sich Bloomfield entschlossen von den europäischen Traditionen und gibt der amerikanischen Linguistik eigene theoretische Konturen. Die Ethnolinguistik ist 1
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Die amerikanischen Linguisten und Semiotiker des späten 19. Jh.s, Withney und Peirce, haben anscheinend keinen großen Einfluss ausgeübt. Indirekt über Morris und die Enzyklopädie der Einheitswissenschaft, für die auch Bloomfield einen Aufsatz schrieb, ist dann später ein Einfluss der Sprachphilosophie und Semiotik erfolgt. Vgl. zur Diskussion des Begriffs: Amerikanischer Strukturalismus auch: Hymes und Fought (1975) sowie Thümmel (1993c: 280 ff.).
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wohl der inhaltlich bedeutsamste Unterschied, da der Europäische Strukturalismus doch eher im Bereich der klassischen, bereits komparatistisch und historisch erforschten Sprachfamilien Europas blieb. Immerhin wird die Konzeption einer Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft bei Sapir fortgeführt, der auch frühzeitig Bezüge zur Psychoanalyse und zur Literatur herstellte und damit europäische Entwicklungen der 60er Jahre (z. B. im französischen Strukturalismus) vorwegnahm. Beide Stränge des Strukturalismus sind in ihren verschiedenen Phasen an die jeweils unterschiedlich ausgeprägten Nachbardisziplinen (Psychologie, Ethnologie) gekoppelt.3 Die beiden Weltkriege und die Konzentration auf spezifische amerikanische Aufgaben (Erforschung der Indianersprachen, aber auch Orientierung nach Westen zum Pazifik, nach Japan und China) haben zwei Generationen von Linguisten zwischen 1918 und 1945 in Europa bzw. in den USA auseinanderdriften lassen. Die 68er Bewegung in Europa, welche die kulturelle Lähmung der Nachkriegszeit in Europa überwandt, führte wieder zu einer Konvergenz der unterschiedlichen Entwicklungslinien. Gleichzeitig entwickelte sich eine Dominanz der industriell / technologisch ausgerichteten „neuen“ Linguistik (vgl. das nachfolgende Kapitel). Jener spezielle Zweig, der ausgehend von Harris zur Transformationsgrammatik seines Schülers Noam Chomsky führte, muss allerdings wegen der Wendung Chomskys gegen den Empirismus / Behaviorismus Skinnerscher Prägung als separate Entwicklungslinie beschrieben werden und bleibt deshalb in diesem Kapitel ausgeklammert. Viele aktuelle Grammatikmodelle, so die Konstruktionsgrammatik von Fillmore und Kay (1987); vgl. Kap. 12.2, haben Elemente des amerikanischen Deskriptivismus absorbiert. Ich beginne mit der Person und dem Werk von Leonard Bloomfield (1987–1949), dessen Todesdatum als Markierung des in diesem Kapitel betrachteten Zeitraumes (1920–1950) gelten mag.
8.1 Leonard Bloomfield: Leben und Werk Die Biographie von Bloomfield wurde von Hall (1990) und Ernst (2002) genauer beschrieben. Ich werde nur einige für das Verständnis seines Werkes relevanten Aspekte erwähnen. Die Eltern von Sigmund Blumenfeld und Carola, 3
Die Unterschiede werden auch dadurch verschärft, dass der Europäische Strukturalismus sich eher geisteswissenschaftlich in Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften und deren reduktionistischen Tendenzen entwickelte. Die experimentelle Psychologie wurde eher in ihrer weichen Form (Würzburger Schule der Denkpsychologie und Sprachpsychologie Bühlers) als in der härteren, der Berliner Schule (Köhler, Wertheimer, Lewin) rezipiert. Die Emigration vieler Gestaltpsychologen (besonders der Berliner Schule) nach 1933 und die Verflachung des theoretisch-methodologischen Diskurses z. B. in der deutschen Sprachinhaltsforschung und ähnliche Sonderentwicklungen in anderen europäischen Ländern trugen noch zur Vergrößerung der Kluft bei.
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Leonard Bloomfield: Leben und Werk
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geb. Buber, waren 1868 aus Bielitz (heute Polen, damals Donau-Monarchie) nach Amerika ausgewandert und hatten den Namen zu Bloomfield amerikanisiert. Leonard hatte einen Onkel Maurice, der ebenfalls Sprachwissenschaftler war,4 seine Mutter war eine Kusine des Theologen Martin Buber. In der Familie Bloomfield wurde Englisch und Deutsch gesprochen und Leonard Bloomfield war zu Beginn seiner Karriere Germanist und Deutschlehrer. Das akademische Jahr 1913–1914 studierte er in Göttingen und Leipzig. Zur deutschen Linguistik, d. h. zur Philologie und zur vergleichenden Sprachwissenschaft, hatte er die Distanz eines Kenners. Am deutlichsten abgelehnt hat er (in seinen Schriften nach 1920) die Sprachpsychologie im Stile Wundts und damit indirekt auch die psychologisierende Redeweise Hermann Pauls.5 Positiv beurteilte er die Dialektgeographie in Deutschland und Frankreich. Eine besondere Beziehung zur Sprachtheorie (Semiotik) entwickelte sich an der Universität Chicago, wo Bloomfield von 1927 bis 1940 gleichzeitig mit dem Semiotiker Charles Morris (in Chicago von 1931–1947) tätig war. Morris brachte Bloomfield in Kontakt mit Vertretern des Wiener Kreises, hauptsächlich mit Rudolf Carnap (der nach seiner Emigration von 1936 bis 1952 in Chicago lehrte). Bloomfield verfasste 1939 für die Buchreihe „Encyclopedia of Unified Science“, die Otto Neurath edierte, den Beitrag „Linguistic Aspects of Science“. Auch in anderer Weise war seine Sprachwissenschaft trotz der programmatischen Orientierung an der empirischen Sprachbeschreibung von philosophischen / theoretischen Strömungen geprägt. Er legte in seinem Hauptwerk von 1933 „Language“ die behavioristischen Auffassungen zu Grunde, die Paul Weiss in seinem Buch „A Theoretical Basis of Human Behavior“ (1925) ausgearbeitet hatte.6 Da der Behaviorismus, ebenso wie die früheren Reflextheorien Pavlovs, mit Strömungen in Deutschland Mitte des 19. Jh. (z. B. der Physiologie von Johannes Müller) in Beziehung steht, kann man die Linguistik Bloomfields mit derjenigen August Schleichers vergleichen. Ebenso prompt wie Schleicher (1863) auf Darwin und Häckel reagiert hatte, orientiert sich Bloomfield am neuen Behaviorismus und an der Pragmatik eines
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Er war Professor für Sanskrit und Vergleichende Philologie an der Johns Hopkins Universität, Baltimore. Die Psychologie Wundts war in Bloomfields ersten Überblickswerk von 1914 „An In troduction to the Study of Language“ noch dominant, wurde aber zehn Jahre später abgelehnt. Hermann Paul blieb dennoch für Bloomfield in vielerlei Hinsicht ein Orientierungspunkt. Weiss behandelt in Kapitel XIII „Language Responses“ die Sprache. Sie ist in erster Linie eine Gewohnheit bzw. ein bedingter Reflex und begleitet ursprünglich nicht sprachliche Reaktionen, bis sie von diesen unabhängig wird. Zusätzlich wird eine Operation der Generalisierung benötigt, die als eine Eigenschaft von neuronalen Netzen angenommen wird. Im Kapitel XVII wird im ersten Abschnitt ein „Set of Postulates for a Behavioristic Psychology“ vorgestellt.
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Morris oder der axiomatischen Methode von Alfred Whitehead (1861–1947) und Bertrand Russell (1872–1970). Dieses Moment der Innovationsbereitschaft hat lange die amerikanischen Entwicklungen des 20. Jh.s von den europäischen unterschieden und wurde erst in den 60er Jahren auf Europa übertragen (nur zögernd; man bevorzugt es, den Erfolg amerikanischer Innovationen abzuwarten).
8.2 Die Axiomatik der linguistischen Grundbegriffe in Bloomfield (1926) Bloomfield versucht in dem 1925 gehaltenen Vortrag „A Set of Postulates for Linguistic Analysis“ (der 1926 in „Language“ erschien), die Grundbegriffe der Linguistik hierarchisch deduktiv durch Axiome (Assumptions) und Definitionen zu bestimmen und damit zu einem kohärenten System zu formen. Als Grundlage dienen ihm die Begriffsbestimmungen in de Saussures „Cours“ (bezogen auf die 2. Auflage, 1922) und Sapirs „Language“ (1921). Das eigentliche Anwendungsgebiet der Axiomatik war die Mathematik und Logik, und Bloomfield verweist deshalb auf Youngs Vorlesungen zur Algebra und Geometrie. Direktes Vorbild für Bloomfield ist aber eine Arbeit von A. P. Weiss, der ein vergleichbares System von Postulaten und Definitionen für die Psychologie veröffentlicht hatte (vgl. Weiss, 1925). In der kurzen Einleitung grenzt Bloomfield psycholinguistische Kontroversen innerhalb der Linguistik aus (sie trügen nichts Wesentliches zur Grammatik-Schreibung bei). Ebenso seien physiologische und akustische Begriffe in anderen Disziplinen anzusiedeln und auch der soziale Zusammenhalt von Sprechergruppen sei Gegenstand entweder der (Sozial-) Psychologie oder der Anthropologie. Die psychologischen Aspekte werden auf die Grundbegriffe Stimulus und Response begrenzt (weitere Details obliegen der Psychologie): –– Äußere Anreize, auf die ein Sprecher reagiert, wenn er spricht, aber auch die Sprachäußerungen anderer bilden den Stimulus. –– Das durch Sprache induzierte Verhalten des Hörers ist die Response. Diese Abtrennung bedeutet nicht, dass Bloomfield die Analyse von Bedeutungen allgemein abgelehnt habe. Im System der Wissenschaften geht er von einer Arbeitsteilung und entsprechenden Abgrenzungen aus, d. h. diese theoretische Entscheidung ist auf dem Hintergrund einer einheitliche Organisation der Gesamtheit der Wissenschaften (letztlich deren theoretischen Unifizierung; siehe das Programm einer Einheitswissenschaft) zu verstehen. In der linguistischen Praxis spielt die Bedeutung und Funktion selbstverständlich eine tragende Rolle.
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Bloomfields Hauptwerk „Die Sprache“
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8.3 Bloomfields Hauptwerk „Die Sprache“ Die Hauptschrift Bloomfields mit dem knappen Titel „Language“ wurde 1933 in Amerika, 1935 in England gedruckt (mit Korrekturen). Von der britischen Ausgabe gab es zwischen 1950 und 1969 zehn unveränderte Nachdrucke, d. h. Bloomfields Buch wurde in dieser Zeit zu einem Klassiker der Linguistik. Im Gegensatz zu Whitneys Werken, die Ende des 19. Jh. sofort übersetzt wurden, erschien die erste deutsche Übersetzung dieses Werks erst 2001. Dies zeigt deutlich, dass sich die deutsche Linguistik seit 1933 bis heute wenig mit dieser Tradition befasst hat. Als der Linguistik-Boom 1968 begann, übersprang man in Deutschland die Phase des klassischen Strukturalismus (1916–1950) und setzte gleich bei Chomsky, meist sogar beim Aspects-Modell von 1965 an. Eine gewisse Wirkung zeigte sich in den Grammatik-Konzeptionen der 50er Jahre bei Hans Glinz in der Germanistik (vgl. Kap. 5.5) oder bei Hansjakob Seiler in der Allgemeinen Sprachwissenschaft. In den USA hat die deskriptive Grammatikschreibung von Bloch, Trager und später Pike die Tradition Bloomfields weitergeführt. In den 80er Jahren greift auch die Konstruktionsgrammatik von Fillmore und Kay die Bloomfieldsche Tradition wieder auf (z. B. seinen Begriff der grammatischen Konstruktion; vgl. Kap. 12.4. und Wildgen, 2008: Kap. 6). Ich will einige Aspekte des Werkes „Language“ anhand der deutschen Erstausgabe 2001 besprechen. Die 28 Kapitel enthalten in den Kapiteln 5 „Das Phonem“ bis 16 „Formklassen und Lexikon“ einen Abriss zur Grammatikschreibung, wobei jeweils unterschiedliche Sprachen behandelt werden (insgesamt nennt das Register 146 Sprachen [Dialekte] und Sprachgruppen). Immerhin gibt es außerdem noch 16 Kapitel, die allgemeine, theoretische, diachrone, vergleichende Aspekte behandeln. Bloomfield isoliert somit die Grammatikschreibung noch nicht von anderen linguistischen Fragestellungen, er stellt sie aber quasi in die Mitte. Die Reihe der deskriptiven Kapitel beginnt mit dem Phonembegriff (5) und erörtert später auch die Problematik der Bedeutung (9). Ich werde auf beide Bereich im Folgenden näher eingehen. In Kapitel 10 wird der Morphembegriff erläutert und derjenige der „Konstruktion“ eingeführt (siehe Bloomfield, 2001: 215). Die Syntax wird in Kapitel 11 (Satztypen) vorbereitet und in Kapitel 12 (Syntax) ausgeführt. Die Morphologie bildet insofern einen Schwerpunkt, als ihr die Kapitel 13 bis 16 (teilweise) gewidmet sind; in Kapitel 16 werden aber (morphologische) Formklassen im Kontext des Lexikons behandelt. Im Hinblick auf die Tradition der Grammatikschreibung im 19. Jh. nehmen Phonetik und Phonologie eine relativ wichtige Stellung ein, es dominiert aber wie in der lateinischen Grammatik die Morphologie. Die Syntax und (weniger stark) das Lexikon gehören zwar zur Grammatik, ihnen wird aber relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Semantik bleibt, program-
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matisch gewollt, rudimentär; die Pragmatik erscheint nur implizit in den Kapiteln zum Sprachwandel und zum Sprachkontakt. 8.3.1 Phonologie oder praktische (angewandte) Phonetik Bloomfield gibt zwar zu, dass die Phonologie die signifikanten Sprachlaute einer Sprache (oder eines Dialektes) untersucht und somit die Bedeutung berücksichtigen muss. Da die für die Bedeutung zuständigen Wissenschaften, „insbesondere Psychologie und Physiologie“ (ibidem: 111), aber den notwendigen Wissensstand zur Bestimmung von Bedeutungen nicht erreicht hätten, muss sich der Linguist mit dem intersubjektiv zugänglichen Begriff: „in Form und Bedeutung gleich bzw. verschieden“ (ibidem) begnügen. Ein minimales Paar, wie z. B. die Lexeme Boot und Bad, sind in Bedeutung und Form verschieden. Die Spezifikation dieser Bedeutung ist jedoch zumindest für die phonologische Klassifikation überflüssig. Die Benennung Phonologie = praktische Phonetik verstärkt den Bezug zur Phonetik und markiert damit eine Differenz zum europäischen Strukturalismus, besonders in der Kopenhagener Ausprägung; vgl. Kap. 5. Die Anwendung der Phonologie besteht in der Verschriftung einer Sprache, da für die Frage der Orthographie das phonologische Prinzip, d. h. die Übereinstimmung signifikanter Laute (Phoneme) und Schriftzeichen (Grapheme), grundlegend ist. 8.3.2 Bedeutung Bloomfield bestimmt die Sprachlaute als Signale und markiert damit eine Nähe zur technischen Kommunikation und indirekt zu den Tiersprachen. Die reduktionistische (behavioristische) Tendenz wird auch dadurch deutlich, dass die Bedeutung mittels einer Kausalkette, die die Situation des Sprechers mit der Reaktion des Hörers verbindet, beschrieben wird: Situation des Sprechers → Sprechakt → Reaktion des Hörers Da die Reaktion des Hörers (die „response“) schwer erfassbar scheint, wird die Sprecherperspektive als Ausgangspunkt gewählt. Bedeutung = Motivation einer Äußerung durch die Situation des Sprechers Die praktische Unmöglichkeit einer Bedeutungsanalyse wird damit begründet, dass als Referenz der sprachlichen Zeichen die ganze Welt mit ihren Bestandteilen, Prozessen usw. in Frage komme. Diese sei aber gleichzeitig Gegenstand aller Wissenschaften und immer nur partiell erfassbar. Außerdem erscheint die sprachliche Einteilung im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Klassifikationen als eher willkürlich. Dies erläutert Bloomfield anhand der Einteilung der
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Fauna (Walfisch, Fledermaus; ibidem: 182), der Farbskala und der Verwandtschaftsterminologie. Diese Thematik wird in der zweiten Hälfte des 20. Jh. von Berlin und Kay (1969) und in der kognitiven Linguistik (vgl. Lakoff, 1987 und Wildgen, 2008: Kap. 2) weitergeführt. Dabei wird in der Regel eine Vermittlung (unter Einbeziehung der Naturwissenschaft) angestrebt. Als zulässige Operationen der Bedeutungsanalyse führt Bloomfield ein: –– Das Zeigen der gemeinten Objekte (als Exemplar); er spricht von Demonstration. –– Die Umschreibung des intendierten Sachverhalts; dies geschieht in der Paraphrase. –– Die Übersetzung; vorausgesetzt der Gesprächspartner und der Linguist verfügen über eine gemeinsame Sprache. Dies bedeutet, dass die Referenz des sprachlichen Zeichens den Kern der Bedeutung ausmacht (nicht die Vorstellung wie bei H. Paul oder die „image mentale“ bei F. de Saussure). Diese ist direkt nur auf dem Umweg über die Wissenschaft der äußeren Dinge und Prozesse erfassbar. Indirekte Zugänge sind nur „behelfsmäßige Kniffe“ (ibidem: 182). Bloomfield spricht von distinktiven und nicht-distinktiven (Situations-) Merkmalen einer Bedeutung. Er kritisiert danach die Anhänger einer „mentalistischen Psychologie“, die von Entitäten wie: „Gedanke, Begriff, Bild, Gefühl, Willensakt“ und Ähnlichem sprechen (ibidem: 185). Dagegen lobt er die Interpretationen der Mechanisten, die all diese Begriffe entweder auf soziale Konventionen beziehen oder als Epiphänomen des Sprechens betrachten. Beide Positionen, die der Mentalisten und der Mechanisten, betreffen aber die Praxis des beschreibenden Linguisten gar nicht, da er aus der (Feld-)Situation heraus seine Entscheidungen über Gleichheit oder Verschiedenheit anhand von Merkmalen der beobachteten Situation treffen muss. In dieser Hinsicht trifft sich Bloomfield trotz seiner Ablehnung der Begriffe: Vorstellung, Bild usw. mit F. de Saussure. Es ist die Differenz, der Kontrast bzw. die Gleichheit, die entscheidend ist; nicht die „Substanz“ der Bedeutung. Als Fazit kann man sagen, dass die behavioristische Position Bloomfields keine dramatischen Konsequenzen hat, da er weiterhin von der Praxis der Grammatikschreibung ausgeht, d. h. die konkreten Probleme der Linguistik eher methodisch als theoretisch oder philosophisch zu lösen versucht. Innerhalb anderer Disziplinen mag nach Bloomfield die Bedeutungsproblematik durchaus anders (mentalistisch oder mechanistisch) gefasst werden. Ob diese Abgrenzung allerdings so sauber funktioniert, bleibt fragwürdig, da jenseits der hypothesenfindenden Feldforschung eine Auswertung und Bewertung deskriptiver Hypothesen stattfindet, die einen größeren Theorie-Rahmen voraussetzen muss. Der damit heraufbeschworene Konflikt zwischen Praktikern und Theoretikern soll die Linguistik in den USA, besonders nach der Immigration europäischer Philosophen und Psychologen (nach 1933) und insbesondere nach dem
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Zweiten Weltkrieg prägen.7 Die Auflehnung der neuen Mentalisten (z. B. Chomsky, 1957) wird sich aber nicht gegen Bloomfield und die linguistische Feldforschung (diese funktioniert weiter wie zu Bloomfields Zeit), sondern gegen den pschologischen Behaviorismus Skinners richten.8 8.3.3 Syntax-Grundfragen Als Ausgangspunkt der Syntax dient das Lexikon der Morpheme (nicht der Wörter oder Wortformen = Lemmata). Man kann gebundene und freie, minimale und nicht minimale Formen unterscheiden. Beispiele (ibidem: 205 f.): –– –– –– ––
Bill (frei) – y (in Billy) gebunden play (frei) – ing (in playing) gebunden Haus, Maus (minimal) playing, Billy, Bill lief, Herr John bat darum (nicht minimal, da in Konstituenten zerlegbar).
Wie schon im Aufsatz „A Set of Postulates for the Science of Language“ werden aufbauend auf dem Morphembegriff mit den Begriffen frei / gebunden; minimal / nicht minimal, gleich / different alle weiteren Begriffe definiert wie: word: „minimum free form“ (Bloomfield, 1926: 72) phrase: „non-minimum free form“ (ibidem: 73) (außerdem ist ein Begriff der Ordnung notwendig) construction: „Such recurrent sames of order are constructions“ (ibidem: 74). Im Buch „Language“ unterscheidet Bloomfield vier Arten der Anordnung (Bloomfield, 2001: 208): –– Reihenfolge –– Modulation durch sekundäre Phoneme (z. B. Intonation) 7 8
Die Kriegsforschung erzwang eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, zuerst in den Technik- und Naturwissenschaften, dann in den angrenzenden Gebieten wie Biologie und Psychologie. Vgl. Chomsky (1959). In den linguistischen Instituten der USA tobte ein heftiger Streit zwischen den „God-truth-“ und den „Hokuspokus-Linguisten“. Letztlich kam es zu einer Aufspaltung zwischen eher traditionalistischen Einzelphilologien (der Fremdsprachen) und der theoretisch-technischen Linguistik. Chomskys Kritik an Skinner trat in der Linguistik offene Türen ein, da es nie zu ernsthaften Anwendungen gekommen war und sogar Skinner die Anwendung seiner Theorie auf die Sprache als gewagt ansah (sie war durch eine Wette motiviert worden). In der Psychologie wurde der Weg zu einer theoretischen und technischen Psychologie (in der AI-Forschung) durch Chomskys Kritik unterstützt, die experimentelle Psychologie blieb aber den reduktiven Verfahren mit Anschluss an die Tierpsychologie und die Physiologie weiter verpflichtet; siehe den Neobehaviorismus von Osgood (1976) und Kap. 13.1.
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Bloomfields Hauptwerk „Die Sprache“
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–– lautliche Modifikation, z. B. beim Ablaut –– Selektion, die morphologisch (König – Königin) oder syntaktisch als Kongruenz von Verb und Subjekt (Objekt) auftreten kann. Bloomfield unterscheidet streng zwischen lexikalischen (freien) und grammatischen Formen (gebundenen). Grammatische Merkmale, z. B. der Anordnung, werden Taxeme genannt. Die kleinsten grammatischen und bedeutungstragenden Einheiten heißen Tagmeme. Die zugeordneten Bedeutungen sind: Morphem (Form) – Semem (Bedeutung) Tagmem (Form) – Episemem (Funktion) Ich will im Folgenden näher auf die Analyse in (unmittelbare) Konstituenten eingehen, welche die Konstruktionen auszeichnet. 8.3.4 Die Analyse von Konstruktionen Bloomfield bezweifelt aufgrund seiner Kenntnis vieler Sprachen die Trennung von Wortbildung und Syntax. In vielen Sprachen sind komplexe morphologische Konstruktionen, Wörter, Phrasen und Sätze in der Praxis schwer zu trennen. Eine ähnliche Skepsis trägt Bloomfield gegenüber der traditionellen Wortartenlehre vor (seit der Stoa unterschied man neun Wortarten). Bloomfield akzeptiert, dass universell so etwas wie verb- und nomenartige Wortarten existieren, alle anderen Trennungen sind aber spezifisch für einzelne Sprachen oder Sprachengruppen (vgl. ibidem: 249): –– Morphologische Konstruktionen werden in der Morphologie beschrieben, wobei die Übergänge zur Syntax (siehe Komposita und Satzwörter) manchmal fließend sind. –– Syntaktische Konstruktionen sind „Konstruktionen, in denen keine der unmittelbaren Konstituenten eine gebundene Form ist“ (Bloomfield, 2001: 233). Die Anordnung der freien syntaktischen Formen (Phrasen) erfolgt durch Taxeme. So werden in der Liste: John lief, John fiel, Bill lief, Bill fiel, Unsere Pferde liefen davon zwei Formklassen unterschieden: { John, Bill, Unsere Pferde } = nominative Ausdrücke (Phrasen) { lief, fiel, liefen davon }
= verbale Ausdrücke (Phrasen)
Hinzu kommt das Tagmem der Position, das dem an erster Stelle stehenden Ausdruck die Funktion Agens, dem an zweiter Stelle stehenden Ausdruck die Funktion Aktion zuordnet. Die Analyse in unmittelbare Konstituenten („immediate constituents“) erfolgt bei Bloomfield bevorzugt binär; d. h. der Satz wird zuerst in zwei Ausdrü-
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cke (Phrasen oder Wörter) geteilt; diese wieder in zwei und so fort, bis nur noch einzelne Morpheme (M) oder Morphemkonstruktionen (MC) übrig bleiben. Beispiel: A
Poor John
ran away ↓
B
[Poor John]
[ran away]
NP
↓
[Poor]
[John]
[ran]
[away]
M / Adj.
M / N
M / V
MC / Adv.
C
VP
↓ Morphologische Konstruktion
[a]
[way]
M
M
Bloomfield unterscheidet zwischen endozentrischen und exozentrischen Konstruktionen. Die exozentrischen Konstruktionen sind koordinativ (bzw. seriell) oder subordinativ. Beispiele für koordinative Konstruktionen: → Konstruktion einer Nominalphrase
Knaben und Mädchen N Ko. N
(Ko. = Koordination)
Bücher, Papiere, Kugelschreiber … Sowohl Bill als auch John Besonders häufig sind die endozentrischen Konstruktionen, bei denen man (asymmetrisch) zwischen Haupt und Attribut unterscheidet; die Trennung ist rekursiv: armer
John
[sehr armer] John
Attribut Haupt
A
A
[diese frische] Milch
H
A
H / A H / A
H H
Generell gilt, dass die Phrasen (Syntagmen) die Wortart des Hauptes (H) „erben“. Die trifft auf die exozentrischen Konstruktionen nicht zu. Charakteristisch für dieses Phänomen sind die Agens – Aktion – Konstruktionen und jene der Relationsachse. Beispiel: a) John lief. / Der arme John lief davon. (Agens / Aktion) (Relation) b) 5 ist größer als 3
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Der Amerikanische Deskriptivismus
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Hier sagt Bloomfield, dass die Konstruktion (insgesamt) keiner der enthaltenen Wortklassen zugehört, also weder N, V, Adj., Adv., sondern eine eigene, externe Kategorie [in a) die Kategorie Satz] bildet. Der Begriff der Phrase gilt nur für endozentrische Konstruktionen und der Typus der Phrase entspricht dem Typus des Hauptes, z. B. der Wortart eines Lexems, das in der Position des Hauptes steht. Diese traditionelle Grundidee, die Bloomfield hier nur erwähnt, wird später als X-bar-Prinzip und als Grundprinzip der Head-Driven-Phrase-Structure (HDPG) zum Angelpunkt einer Familie syntaktischer Modelle.
8.4 Der Amerikanische Deskriptivismus Die Gründerfigur Bloomfield ist in vielerlei Hinsicht zukunftsweisend für die amerikanische Linguistik, für die bis heute die folgenden Maximen gelten: –– Die Linguistik ist besonders eng mit der Psychologie verbunden. Im Verlauf des 20. Jh. verschiebt sich aber das Profil der amerikanischen Psychologie vom Behaviorismus (Skinner) zur kognitiven Psychologie (welche auch Ideen der Emigranten aus Europa, besonders solche aus der Gestaltpsychologie und Semiotik integrierte), zur Künstlichen Intelligenz im Kontext der Computer-Euphorie ab 1960, verstärkt ab 1980 zur Neuropsychologie und zu den sog. „Cognitive Sciences“. –– Alle theoretischen Aussagen der Linguistik sind durch Sprachdaten und Sprecherurteile (zur Grammatikalität und Mehrdeutigkeit) empirisch zu validieren. –– Die Linguistik kann ein mathematisches Theorieformat (ähnlich demjenigen in den modernen Naturwissenschaften) erreichen. In der Tradition des Rationalismus, den die analytische Philosophie in Amerika wieder salonfähig machte, werden Logik, Algebra (und in ihrer Anwendung die Programmiersprachen) konstitutiv für jede weiterführende linguistische Theoriebildung (besonders nach Chomsky, 1957). Im amerikanischen Deskriptivismus, in seiner strengen, korpusorientierten Form auch Distributionalismus genannt, wird eine Praxis der Grammatikschreibung verallgemeinert, die für vorher nicht beschriebene und auch ohne Schrifttradition existierende Sprachen, erfolgreich erprobt worden war. Besonders hervorzuheben sind neben den Arbeiten von Bloomfield und Sapir, die methodisch richtungsweisenden Arbeiten von Fries (1940), Bloch und Trager (1942), Pike (1947), Nida (1949) und Hocket (1958).9 Auf die Arbeiten von Harris gehe ich im nächsten Kapitel gesondert ein. Ein viel benütztes Einführungsbuch verfasste 9
Eine einflussreiche Textsammlung zum Amerikanischen Strukturalismus erschien im selben Jahr wie Chomskys Erstlingsbuch (1957) Joos, Martin. Readings in Linguistics.
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Bloomfield und der Amerikanische Strukturalismus
Gleason (1955; zweite Auflage 1961 mit einem Kapitel zu den Transformationen in Chomsky, 1957), während Pike in einer Vielzahl späterer Werke seine distributionelle Analyse in der Tradition der linguistisch fundierten Verschriftung von Sprachen zu einer Theorie strukturaler Gesellschaftsanalyse (als rituelles Regelsystem) verallgemeinerte. Ich werde mich im Folgenden auf die Technik der Grammatikschreibung konzentrieren. Die wichtigsten Aufgaben eines linguistischen Feldforschers waren: –– Die Erstellung einer Phonemtabelle, auf der fußend eine „breite“ Transkription und als Konsequenz eine Verschriftung zu leisten waren. –– Die Morpheme einer Sprache und die Regularitäten für Morphemfolgen (Morphemkonstruktionen bei Bloomfield) sind festzustellen und zu dokumentieren (quasi in einem Lexikon der Morpheme, das Aufschluss über der Varianten [Allomorphe] und Kombinationsmöglichkeiten gibt). Neben diesen beiden Grundaufgaben sind Texte und Beobachtungen zu Ritualen und kulturellen Besonderheiten zu sammeln. Diese Aufgabe fällt aber eher dem Ethnolinguisten als dem Grammatiker zu. In der Konsequenz enthält z. B. die Arbeit von Gleason „An Introduction to Descriptive Linguistics“ zwei große zentrale Kapitelfolgen zur Phonetik / Phonologie (S. 239–372: 133 S.) und zur Morphemik – Syntax (S. 51–238: 187 S.). Die syntaktischen Kapitel 10–13 stehen zwischen zwei Kapiteln zur Flexion, d. h. sie sind trotz der Aufnahme der neueren Arbeit von Chomsky (1957) weiterhin in die Morphemik integriert und setzen diese fort. Der Kern, Kapitel 10–12: 128–194 (66 S.), zeigt aber schon den Übergang zur nächsten Epoche der amerikanischen Linguistik an, die Noam Chomsky programmatisch bestimmten sollte und die den intellektuellen (und kognitiven) Nucleus jeder Grammatik in der Syntax sieht und sich entschieden von der Beschränkung der Analyse durch Korpora löst. Für die Definition der deskriptiven Linguistik ist aber der Korpus-Bezug entscheidend. Gleason schreibt noch 1961 (also vier Jahre nach Chomskys „Syntactic Structures“ im Kapitel: Language and Grammars [1961: 202]): „If the linguist succeeds in generalizing properly from his corpus, he produces a descriptive grammar. This is a systematically organized set of statements about the constructional patterns that characterize grammatical statements. Properly speaking a descriptive grammar is nothing more than this …“
Die Trennung von Syntax und Morphemik wird wie bei Bloomfield eher als sprachspezifisch und damit nicht universell relevant angesehen. Im nächsten Kapitel gehe ich auf die Verallgemeinerung des distributionellen Paradigmas durch Harris ein. Mit seinen frühen Arbeiten, z. B. 1946, „From Morpheme to Utterance“, zusammengefasst in „Methods of Structural Linguistics“ (1951), steht er ganz in der Tradition Bloomfields und seiner unmittelbaren Nachfolger. Ab 1952 erweitert er aber die theoretische und empirische Basis
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Der Amerikanische Deskriptivismus
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seiner Arbeit auf Texte und Diskurse. Seine Arbeiten zu Transformationen in der Syntax (1957) leiten über zur Forschungsrichtung seines bedeutendsten Schülers Noam Chomsky. Harris hat seine Linie aber unbeeindruckt vom Erfolg Chomskys weiter verfolgt und ausgebaut.
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9 Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik Harris wurde 1919 in Balta, heute Bezirk Odessa (Ukraine), geboren und kam als Vierjähriger mit seiner Familie 1913 nach Philadelphia (Pennsylvania). Er studierte orientalische Sprachen (hauptsächlich Semitistik) und veröffentlichte 1936 seine Dissertation zur Grammatik des Phönizischen.1 1939 folgte eine Arbeit zu canaanitischen Dialekten mit Bezug zur Sprachgeschichte. Seit 1931 lehrte er an der Universität von Pennsylvania (Penn) und gründete dort 1946 die Abteilung für Linguistik. Seine Vorbilder waren Bloomfield und Sapir, der in Harris seinen eigentlichen Erben sah. Harris’ Buch „Methods of Structural Linguistics“ (1951) machte ihn berühmt.2 In ihm begründete er die Technik, grammatische Kategorien und Begriffe anhand von Daten zu entdecken (anstatt diese durch die Tradition gegeben vorauszusetzen) und grammatische Beschreibungen systematisch zu evaluieren. Sehr früh, d. h. ab den 40er Jahren, beschäftigte er sich mit linguistischen Transformationen und Diskursphänomenen. Er bezog sich dabei auf so unterschiedliche Sprachen wie Kota, Hidatsa und Cherokee (amerikanische Indianersprachen), auf das moderne Hebräische und natürlich auf das Englische. Unabhängig und zeitlich parallel zu Chomsky hat Harris seinen eigenen mathematischen Ansatz ausgebaut (vgl. Abschnitt 9.2). Posthum erschien die politische Schrift „The Transformation of Capitalist Society“ (Harris, 1997); dieser Aspekt seiner intellektuellen Tätigkeit wird in Kap. 9.3 behandelt. Die politische Thematik verband schon den jungen Chomsky und Harris, die beide linke Zionisten und damit Kritiker der israelischen Landnahme in Palästina waren. Chomskys Karriere als Regime-Kritiker nahm hier ihren Anfang. Auch das Ideal einer mathematisierten Linguistik verband Chomsky mit Harris; allerdings entschied sich Chomsky gegen die partielle, prozedurale Mathematisierung durch Harris und forderte eine holistische Systemkonstruktion, die nur global (allerdings in mehreren Stufen) evaluiert werden konnte. Ich werde im Abschnitt 9.4 bei der Behandlung des Werks von Noam Chomsky näher auf diese Aspekte eingehen.
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1932 hatte er eine Magisterarbeit zur Entstehung des Alphabets verfasst. Die Auflagen ab 1960 haben den Titel „Structural Linguistics“.
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Textanalyse und Transformation bei Harris
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9.1 Textanalyse und Transformation bei Z. S. Harris Harris entwickelte, ausgehend von Bloomfield (vgl. Kap. 8.1), eine noch strengere, positivistische Richtung und verallgemeinerte sie systematisch von der im frühen Strukturalismus bevorzugten Phonem- und Morphemebene auf die Syntax- und Textanalyse. Der Begriff der Bedeutung wird durch den der Substituierbarkeit in Kontexten ersetzt, womit das Bloomfieldsche Programm, das dieser in der Praxis häufig großzügig auslegte, radikal interpretiert wurde. Diese Tendenz zeigte sich bereits 1942 in „Morpheme Alternants in Linguistic Analyses“ (Harris, 1942). Morpheme, die innerhalb von Sätzen substituierbar sind, bilden eine Substitutionsklasse.3 Daraus entwickelt Harris eine neue Theorie der Wortklassen, die je nach Sprache abhängig von den Distributionseigenschaften in Kontexten auch ganz verschieden ausfallen. Damit entfernt sich Harris dramatisch von der antiken Tradition der universalen, funktional und inhaltlich bestimmten Wortklassen. Die Distributionsanalyse wird sodann auf Morphemsequenzen und Sätze angewandt. Der zentrale Beitrag dazu ist „From Morpheme to Utterance“ (Harris, 1946). So kann man für N (Nomen) auch AN, AAN, DAN (A = Adjektiv, D = Determiner); für V auch VN, VNPN, VNN usw. (P = Präposition) substituieren, d. h. diese Sequenzen bilden eine Substitutionsklasse. Setzt man Formeln für die Zusammensetzung eines Satzes aus Substitutionsklassen immer kleineren Ausmaßes an, kann man festlegen, welche Sequenzen einen Satz ausmachen und kann somit eine implizite Definition des Begriffes „Satz“ in einer Sprache geben. Eine Sprache kann etwa als die Menge der gemäß den Formeln generierbaren Sätze „definiert“ werden. Bereits 1952 wandte Harris diese Methode konsequent auf Strukturen jenseits des Satzes an, so in Harris (1952) „Discourse Analysis“. Die Grundoperationen der Morphem- und Satzanalyse sind mathematisch gesehen Äquivalenzrelationen, d. h. zwei sprachliche Elemente (Phone, Morphe, Morphemsequenzen) werden als äquivalent bezeichnet, wenn die Menge ihrer Umgebungen (d. h. die sprachliche Vor- und Nachtexte) identisch sind (oder sich weitgehend decken). Die Grammatik ist somit rein taxonomisch (d. h. auf Klassifikationen beruhend). Allerdings verlangt der zentrale Begriff der Umgebungsklassen, der ja die Begriffe „Funktion“ (im Prager Strukturalismus) oder „Bedeutung“, signifié (bei de Saussure) methodisch überflüssig machen soll, eine subtile (häufig nur ad hoc genauer bestimmbare) Handhabung. Abgesehen von dieser Schwierigkeit, die dann das Motiv für die Aufgabe des 3
Harris entwickelte auch ein statistisches Verfahren zur Morphemsegmentation, bei dem die Quantität zur Auswahl stehender Nachfolgephoneme (bezogen auf ein Korpus) als Hinweis für die Segmentation diente. Diese und andere mathematisch formulierbare Verfahren wurden in der mathematischen Sprachanalyse in Osteuropa weitergeführt (siehe Marcus, 1965: 93–100). Sie werden auch noch aktuell diskutiert, vgl. Goldsmith (2000).
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
ganzen Ansatzes durch Chomsky wurde, ist die Konzeption bestechend einfach. Die Sprache besteht aus einer Menge von Formklassen und deren hierarchischer Ordnung. In Harris (1952) „Discourse Analysis“ werden zum Zwecke der besseren Umsetzung des Klassifikationsprogramms Sekundäroperationen eingeführt (vgl. Trömel-Plötz, 1971: 9). Eine interessante Klasse von Operationen sind die Transformationen. Bestimmte Satzformen, die das gleiche Morphemmaterial enthalten und gleiche Relationen zwischen diesen Teilen, werden zu Äquivalenzklassen zusammengefasst. Diese Form der Regularisierung des Korpus wird vorerst als eine Menge von Transformationen angesetzt; sie erstellen das normierte Korpus für die distributionelle Analyse. In einem Aufsatz von 1957 „Cooccurrence and Transformation in Linguistic Structure“ geht Harris näher auf den Begriff der Transformation ein.4 Sein Startbeispiel ist (vgl. Harris, 1970: 434 und 441 f. oder Trömel-Plötz, 1971: 92; verkürzt): I saw him (N1 v V N2) (Ich sah ihn) → He was seen (N2 v be Ven) (Er wurde gesehen) (v = Auxiliar – oder Tempusmorphem). Als Zwischenschnitt wird angenommen: He was seen by me (N2 v be Ven by N1) Die Tilgung der by-Phrase wird durch eine weitere Transformation bewerkstelligt: S by N1 → S Voraussetzung für die Transformationen sind sogenannte Kernsätze (kernel). Für das Englische setzt Harris (1957) die folgenden Kernsätze an:5
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Goldsmith (2005: 727) verweist auf die Kritik an Harris in Bar-Hillel (1954). Dieser führte den Begriff der Transformation auf Carnap (1934) zurück, der für die Syntax Formationsregeln, für die logische Semantik Transformationsregeln als konstitutiv ansah. Harris sah allerdings in der Sprache ein multifunktionales Informationssystem, das wesentlich reicher als logische Sprachen sei. Auch Chomsky betont in seiner Doktorarbeit, dass diese kein Beitrag zur Logik sei, d. h. er trennt scharf zwischen Problemen der Logik und solchen der Sprachwissenschaft. Die Hypothese einer überschaubaren Liste von Satzbauplänen findet man auch in der Sprachinhaltsforschung (vgl. Kap. 5.4). Spätestens bei Glinz wird auch eine Verbindung zu dem Ansatz von Harris hergestellt (vgl. Kap. 5.5). Die Lehre der Kernsätze und Satzbaupläne führt zu einer lang anhaltenden Debatte in der Deutschen Sprachwissenschaft 1970–1980. Vgl. die entsprechenden Kapitel in deutschen Grammatiken der 80er und 90er Jahre, z. B. in Engel, 1988 und Duden-Redaktion, 1998.
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Textanalyse und Transformation bei Harris
NvV
Der Baum fällt
NvV PN
Berlin liegt an der Spree
NvVN
Der Lehrer ohrfeigt den Kanzler
N is N
Hans ist Lehrer
N is A
Hans ist schlau
N is PN
Hans ist in der Schule
N is D
Hans ist hier
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Als Kategorien (für das Englische) treten auf: N (Nomen), V (Verb), P (Präposition), A (Adjektiv), D (einfaches Adverb); Wenn man zwei Kernsätze nimmt: K1: Mary has a fate K2: Fate is sad bemerkt man: K2 überlappt mit K1und man erhält per Transformation: Mary has a sad fate. Außerdem kann K1: N has N transformiert werden (→) in N’s N: Mary’s fate. Wegen der Überlappung mit K2 erhalten wir: Mary’s fate is sad. Harris spricht zu Beginn des Artikels von 1957 von einer Algebra der Transformationen, insofern die Transformationen zwischen Sätzen auf Elementartransformationen und deren Kombination zurückgeführt werden können. Die Kombination von Transformationen nennt Harris deren Produkt. Dieses kann über verschiedene Folgen von Transformationen erreicht werden; sie sind also nicht eindeutig dem Produkt zugeordnet, da es verschiedene Derivationswege mit gleichem Resultat geben kann. Außerdem gibt es für jede Transformation Bedingungen ihrer Anwendung. Dies kompliziert die Algebra möglicher Abfolgen von Transformationen allerdings erheblich. Zum Schluss des Artikels geht Harris auf Fragen der Bedeutung ein (unter „Anwendungen“). Es ist intuitiv einsehbar, dass Transformationen die Bedeutung erhalten müssen. Inwieweit allerdings Transformationen bedeutungserhaltend sind, ist für Harris eine empirische Frage. „Bedeutung“ ist eine Frage der praktischen Bewertung der Sprache in Anwendungskontexten und kann nach Harris nicht außerhalb von Anwendungskontexten analysiert werden. Harris impliziert dabei eine Gebrauchstheorie der Bedeutung, ohne diese Voraussetzung aber philosophisch zu reflektieren. Indirekt ist diese Position über die Exilanten des Wiener Kreises in die USA eventuell rekonstruierbar (vgl. Wittgenstein und die Gebrauchstheorie der Bedeutung).
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
9.2 Mathematische Linguistik im Stil von Harris Harris hat vollkommen unbeeindruckt von der weltweiten Ausbreitung der Theorien seines Schülers Chomsky seine Auffassung von linguistischer Theorie und Mathematisierung weitergeführt und in zwei Büchern zu einem gewissen Abschluss gebracht: –– 1982: Grammar of English on Mathematical Principles –– 1991: A Theory of Language and Information: A Mathematical Appoach Ich will diesen Endzustand seiner Theorie in Bezug auf die Rolle der Mathematik näher betrachten und einige Ansätze zur Erklärung grammatischer Regularitäten anführen. Harris argumentiert, dass es keine Metasprache zur Beschreibung der Sprache im Sinne der Metamathematik gibt, vielmehr muss die Beschreibung innerhalb der Sprache selbst geschehen. Daraus folgt, dass direkt anhand von Sprachkorpora argumentiert werden muss. Mathematische Hilfsmittel sind auf ein Minimum zu beschränken und sie müssen in der Sprache selbst strukturanalog vertreten sein. Konkret heißt dies, dass Eigenschaften der Sprache, wie Diskretheit, Linearität, Arbitrarität, Kontiguität (Nachbarschaft von Elementen) ihre Entsprechung in diskreten Systemen der Mengenlehre, in den Kettenbildungen der Automatentheorie und in Operator-Argument-Strukturen der Logik haben müssen, damit eine mathematische Linguistik sinnvoll und möglich wird. Diese mathematischen und logischen Begriffe sind nur als Vertreter real vorfindlicher Sprachstrukturen in ihrer Funktion als Beschreibungsinstrumente akzeptabel. Sie gehören quasi zur Sprache selbst; diese enthält implizit eine mathematische Struktur und nur deshalb ist auch eine Mathematisierung der Grammatik möglich. Die Funktion der Mathematik ist nach Harris (1991: 147): „finding particular mathematical structures holding for particular aspects of the real world“.6 Es sind besonders die Kookkurrenz-Beschränkungen, die eine Mathematisierung nahe legen: „It is here that a mathematical formulation was most immediately indicated.“ (ibidem: 146). Eine Konsequenz daraus ist die Autonomie der theoretischen Syntax, da er jener Bereich der Sprache zu sein scheint, der einer Mathematisierung besonders offen steht: „no phonetic or semantic property of words is considered in determining what constraints on word combinations create sentences.“ (Fn. 2, 146). Der harte Kern der Grammatik (besonders der Syntax von Sätzen) wird durch die drei Ebenen der Operator-Argument(Operand)-Relationen gebildet. In der Einleitung sagt Harris, dass bei Vergleich einer Vielzahl von Sprachen und Sprachfamilien, diese Struktur sich als allgemein (universal) erwiesen hat: 6
Vgl. zum Thema Möglichkeiten und Grenzen einer Mathematisierung in der Linguistik: Wildgen, (2009a) (in Französisch) und 2009b (Präsentation in Englisch), sowie Kap. 14.
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Mathematische Linguistik im Stil von Harris
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a) Operatoren 1. Stufe (Argumente der 0-Stufe). Diese Struktur hat die Bedeutung / Funktion (meaning) der Prädikation. b) Operator 2. Stufe (Argumente der 1. Stufe). Dazu gehören z. B. Konnektoren (z. B. weil, because). Operatoren höherer Stufe gibt es nach Harris nicht. „There seems to be no clear case in natural language of dependence on dependence on dependence (e. g. a verb that can act only on such verbs as act only on verbs)“ (ibidem: 397). Allerdings können Operatoren 2. Stufe wiederum auf Operatoren der 2. Stufe wirken. (Ibidem: 397) Auch mehr als zwei Argumente des Operators kämen nicht vor und Harris führt als Erklärung die Evolution der Geschlechter an (männlich-weiblich), die ebenfalls bei der Opposition von zwei Typen stoppte. Immerhin geht er davon aus, dass diese Begrenzung einer Erklärung bedürfe und dass diese in der Evolution der Sprache zu finden sei (vgl. dazu auch Wildgen, 2004: Kap. 8; dort wird allerdings der Übergang zur Dreiwertigkeit als entscheidendes Moment aufgefasst). Im Hinblick auf die Sprachtheorie seines Schülers Chomsky erscheint es interessant, kurz auf Erklärungsansätze bei Harris einzugehen. Im Gegensatz zu Chomsky hat Harris keine Berührungsängste mit der Evolutionstheorie oder anderen prozessorientierten Ansätzen (er erwähnt Darwin, Marx und Freud; ibidem: 392). In Kap. 12.4.3 „A self-organizing system“ geht Harris auf eine mögliche evolutionäre Schichtung der Sprache ein und gibt folgende Phasen der Entstehung an: a) Die Selbstorganisation der Grammatik beginnt, sobald es einen (größeren) Wortschatz gibt. Dieser erzwingt wegen der besseren Trennung und Wiedererkennung (Wiederholung) der Wörter ein System phonologischer Segmente und Oppositionen und erzeugt die grundlegende Diskretheit der Sprache. b) Dependenzen zwischen Wörtern entstehen aus Beschränkungen in der Kombinatorik: „The institutionalization of the actual non-occurrence of combinations into a restriction on combining creates a structural requirement (dependence) out of a meaning-related customary behavior.“ (Ibidem: 392) c) Weitere Schritte sind die Reduktion, Ellipse von Wörtern, spezifische Restriktionen (z. B. die Trennung von Verb und Adjektiv), Operationen über Sätze statt Wörter und höhere Dependenz-Relationen. Mit diesen Schritten ist jene Basis geschaffen, die auch Gegenstand der Mathematisierung ist. Harris diskutiert auch evolutionäre Selektionseffekte in der Sprache, die er deutlich in der Phonologie (s. a) oben) am Werke sieht; andere grammatische Phänomene sind einfach eine Fortsetzung so geschaffener Tendenzen, die geringe Kosten verursachen und somit selektionsneutral sind. Auch auf einen großen Teil der zwischen den Sprachen variierenden Regularitäten
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mag dies zutreffen. Dieser Luxus ist eher unter Bezug auf das System selbst, als unter Bezug auf eine Umgebungsselektion zu erklären. Das System hat Feedback-Eigenschaften. Harris spricht von einer „accretional property“, d. h. wird eine Eigenschaft entwickelt, fördert sie die Entstehung ähnlicher Eigenschaften. Eine ähnliche Argumentation findet sich schon in Darwin, 1872. In Begriffen der Selbstorganisation (vgl. Kap. 13.4) kommt es zu relativ autonomen Strukturgenesen, die nicht mehr extern kontrolliert werden. Gleichzeitig divergieren dadurch Grammatiken in viele Richtungen, so dass die evolutionär bedingte Basis fast oder ganz unkenntlich wird (vgl. auch Wildgen, 2004: Kap. 8). Diese Argumentation macht deutlich, dass ein Sprachinstinkt oder eine angeborene Universalgrammatik für Harris überflüssige Konstrukte sind. An dieser Stelle weicht die Sprachtheorie von Harris am deutlichsten von der seines Schülers ab. Gleichzeitig bleibt er seinen Lehrern Bloomfield und Sapir verbunden; er versucht quasi eine Synthese der Theorieentwürfe seiner Lehrer zu erreichen. Ich werde im Kapitel zu Chomsky auf diesen Unterschied zurückkommen.
9.3 Harris als politischer Intellektueller Bei seinem Tode hinterließ Harris ein Manuskript, das seine Freunde 1997 unter dem Titel: „The Transformation of Capitalist Society“ publiziert haben. Als Vorbereitung der Darstellung des politischen Kritikers Chomsky am Ende dieses Kapitel, mag es interessant sein, das politische Profil seines Lehrers zur Kenntnis zu nehmen. Bei einem Vergleich muss allerdings bedacht werden, dass die Position von Harris 1992 (seinem Todesjahr), selbst wenn er bereits lange an dem Buch gearbeitet hatte, nicht unbedingt seine Position um 1950 wiedergibt, also in der Zeit, als Chomsky sein Schüler war. Das Buch zeigt, dass Harris eine profunde Kenntnis in Ökonomie, Soziologie (Anthropologie) und Politikwissenschaften (inklusive ihrer Geschichte) hat. Der Text könnte ohne weiteres als eine wissenschaftliche Publikation in diesen Disziplinen gelten, d. h. Harris respektiert deren wissenschaftlichen Status und versucht den Standards dieser Disziplinen zu genügen. Chomsky sieht sich im politischen Diskurs eher als Medienvertreter und Medienkritiker; seine wissenschaftlichen Ambitionen sind auf die Linguistik beschränkt. Außerdem ist Harris im Gegensatz zu seinem Schüler nicht polemisch (Chomsky ist ein Meister der Polemik auch in der Linguistik). Der Begriff „Transformation“, der auch im Titel erscheint, ist tatsächlich der Dreh- und Angelpunkt bei Harris. Er weiß sich mit Marx konform, der die Gesellschaft im Übergang, in der Verwandlung sieht. Allerdings stand Marx noch am Anfang der großen Sozialbewegungen (erste Hälfte des 19. Jh.s) und glaubte Evolutionsgesetze für Gesellschaften ansetzen zu dürfen. Harris blickt auf fast zwei Jahrhunderte Kapitalismusgeschichte und Sozialbe-
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wegung zurück und er glaubt nicht mehr an einfache (quasi naturgesetzliche) Transformationen, die man vorhersehen und dirigieren könnte. Er sieht die Lokalität dieser Prozesse, die nur in dieser Begrenztheit (und besonders von den Betroffenen) einsehbar sind.7 Harris analysiert sehr vorsichtig und glaubt an eine Strategie der kleinen Schritte. Die großen Mächte, den Markt unter der Kontrolle des Kapitals einerseits, und den Staat, der seinerseits die Kontrolle übernehmen will und dies im Sowjetstaat auch tut, sieht Harris gleichermaßen negativ; beide haben eine totalitäre Tendenz. Die positiven Kräfte sieht er in den kleinräumigen Strukturen, den Betriebsbeteiligungen der Arbeiter, den gewerkschaftlichen Spontanorganisationen, den weitgehend autonomen Basisorganisationen. Vorbild ist für ihn (wie für Chomsky) der spanische Anarchismus und Syndikalismus vor und im spanischen Bürgerkrieg, der dann zwischen Franco und den Marxisten zerrieben wurde, wie der Bericht Orwells aus Katalonien (Homage to Catalonia) drastisch zeigt. Die Kibuzz-Bewegung im frühen Israel hatte ähnliche sozialistische Ziele verfolgt. Harris hat entsprechend seiner dezentralen Auffassung von Transformation der Gesellschaft auch keine Patentrezepte; er setzt vielmehr auf eine Ausweitung des frei organisierbaren Feldes zwischen Staat und Markt (Kapital), wobei beiden in vielfältigen Einzelaktionen Zugeständnisse abgerungen werden müssen. Jedenfalls ist die Gesellschaft (solange sie keinem totalitären Regime unterliegt, was nur kurzfristig möglich ist) in ständigem Fluss, immer in Transformation. Das Hauptmedium dieser Transformation ist Kommunikation und in deren Zentrum steht die Sprache. So schließt sich der Kreis, obwohl keine direkte Kausalwirkung zwischen Sprache und Gesellschaft existiert.
9.4 Die transformationelle Grammatik von Noam Chomsky Noam Avran Chomsky wurde 1928 in Philadelphia geboren. Er ist Sohn eines jüdischen Gelehrten (William Chomsky). 1945 begann er an der University of Pennsylvania Linguistik und Philosophie zu studieren. Seine Hauptlehrer waren Zellig Harris und Nelson Goodman. Anfang der 50er Jahre studierte er als Fellow in Harvard, promovierte aber 1955 in Philadelphia mit einer Arbeit zum Thema: The Logical Structure of Linguistic Theory. Seit 1961 war er Professor für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology, nachdem er schon ab 1955 dort eine Position als Sprachlehrer innehatte.
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Engels hatte in England beim Besuch von Fabriken (sein Vater war Unternehmer) das soziale Elend beobachtet und sich entsprechend entrüstet; Marx studierte die Frage in der Bibliothek (im Londoner Exil).
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Chomsky ist auch als politischer Denker und Kritiker des Amerikanischen Imperialismus sehr bekannt geworden. In dieser Rolle erhielt er 2004 den Carlvon-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg (vgl.: http: / / www.uni-kassel.de / fb5 / frieden / themen / Friedenspreise / chomsky. html). Ich will mich im Folgenden darauf konzentrieren, welche Fortschritte seine Ansätze gegenüber den bisherigen strukturalistischen Schulen erbracht haben. Danach will ich kurz seine sprachphilosophischen und politischen Theorien erläutern, so dass sein intellektuelles Profil deutlicher wird. Eine Exegese seiner Forschungsrichtung ist nicht intendiert. 9.4.1 Die Anfänge bis zur Publikation von Syntactic Structures (1957) Es erscheint schwierig, der sehr eigenwilligen und originellen Persönlichkeit Noam Chomskys gerecht zu werden. Chomsky ist eine Art Wunderknabe, der zudem vom Schicksal verwöhnt wurde. Er gesellte sich zu Harris und las dessen Buch „Methods in Structural Linguistics“ Korrektur (außerdem gab Harris Privatseminare für ausgewählte Schüler, darunter Chomsky). Da Harris durch dieses Buch schlagartig berühmt wurde, bekam Chomsky ein optimales Startguthaben für den Beginn seiner Karriere. Er belegte nebenbei Philosophie bei Nelson Goodman und kam in den Sog des logischen Empirismus (Carnap, Quine), der die amerikanische Philosophie des 20. Jh.s (als „Analytische Philosophie“) dominieren sollte. Mit Bar-Hillel, der mit Carnap zusammenarbeitete (siehe Carnap und Bar-Hillel, 1952), begann er das Potential der neuen Logiken zu nützen, die bald als Basis von Computersprachen, Übersetzungsprogrammen und in der K. I. (Künstlichen Intelligenz) Furore machen sollten.8 Somit hatte er quasi alle Trümpfe in der Hand. Die weltweite Ausbreitung der 8
Die ersten Ansätze zur maschinellen Übersetzung kamen von Warren Weaver, Andrew Booth und Turing (1947–1948). 1951 wurde Bar-Hillel für diesen Aufgabenbereich am MIT in Boston angestellt, die erste Konferenz (die er organisierte) fand 1952 statt. Es wurden dort zwei Richtungen favorisiert: Frequenzwörterbücher der zu übersetzenden Sprachen und syntaktische „Parser“ (automatische Strukturanalyse). Chomskys Arbeit ist der zweiten Richtung zuzuordnen. Die Kritik von Bar-Hillel an der Machbarkeit maschineller Übersetzungen in einem Bericht von 1969 / 70 hat die „community“ der maschinellen Übersetzung kaum beeindruckt. Die weniger anwendungsorientierten Modellbildungen, wie die Chomskys, wurden dadurch aber ermutigt (vgl. Hutchins. 1995). Spätestens mit den wissensbasierten Systemen trennt sich diese Forschungsrichtung von den syntax-basierten generativen Grammatiken; mit den neuronalen Netzwerken ist sogar eine Wiederanknüpfung an die von Chomsky scharf abgewiesenen Neo behavioristen festzustellen (vgl. für eine knappe Darstellung dieser Entwicklungen Wildgen, 2008: 14–29).
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generativen Bewegung (GLOW: Generative Linguistics Over The World), die ab 1966 auch die BRD (vorher die DDR) erfasste, lässt ihn als „global player“ und leuchtenden Sieger erscheinen. In der Magisterarbeit (Master of Arts) von 1951 baut Chomsky einerseits auf seine exzellenten Kenntnisse des Hebräischen auf,9 andererseits führt er eine ganz neue Art der Grammatikschreibung ein. In der Tradition, die Panini (der indische Sprachwissenschaftler der Antike) begründet hatte und auf die Bloomfield bereits in einem Aufsatz verwiesen hatte, steht der Begriff der Einfachheit im Zentrum. Dazu hatte Chomsky, bezogen auf Goodman (1943) „On the Simplicity of Ideas“, einen unveröffentlichten Aufsatz „Some Comments on Simplicity and the Form of Grammars“ geschrieben. Die Konzeption einer allgemeinen Grammatik (d. h. ohne spezielle Anwendungsorientierungen), die er 1957 genauer ausführen sollte, ist in der M. A.-Arbeit von 1951 schon deutlich ausgeprägt. Die Grammatik einer Sprache ist eine Metasprache zu dieser Sprache, welche den Begriff grammatisch für diese Sprache implizit definiert. Während eine korpusbezogene Beschreibung nur eine Liste der (vom Linguisten registrierten) Strukturen in der Sprache liefert, soll die generative Grammatik das sprachliche Potential, d. h. die endliche oder unendliche Menge der grammatischen Sätze algorithmisch generieren. Insofern die spezielle Grammatik einer Sprache eine Metasprache zu diese Sprache darstellt, ist die allgemeine Grammatik eine Meta-Metasprache der analysierten Sprache (Chomsky, 1951 / 1979: 2 f.).10 Als zentralen theoretischen Begriff für eine solche Grammatik schlägt Chomsky den der „Transformation“ vor (ibidem: 6): „transformation statements each of which transforms a given representation into a more specific one.“ Die Transformation α → β operiert in erster Linie auf realen Konstituenten des Satzes (Satzteilen, Wörtern, Morphemen, Phonemen) bzw. auf Strukturbäumen mit den dazu gehörigen Endketten. Über (bedingte) Definitionen können kategoriale Einheiten (später Hilfssymbole genannt) eingeführt werden, die aber in der weiteren Verarbeitung in Folgen von primären Konstituenten zu überführen sind (und somit wieder verschwinden). Diese Konzeption ist konform mit der Diskussion über die Eliminierbarkeit theoretischer Terme (= Begriffe) und die implizite (operationale) Definition dieser Terme im logischen Empirismus (vgl. Kutschera, 1972: Kap. 3). Auch 9
Die Familie, in der Chomsky aufwuchs, sprach zu Hause Englisch; aber Noam Chomsky zeichnete sich sehr früh als begabter Schüler des Hebräischen aus und wäre Hebräisch-Lehrer geworden, wenn seine Karriere nicht eine andere Wende genommen hätte. Seine spätere Frau Carol lernte ebenfalls Hebräisch, bevor beide heirateten. 10 Für Harris ist jede Sondersprache (auch die der Logik) Teil der umfassenden Sprache. Insofern akzeptiert er die Typen-Logik und den Begriff der Metasprache (außerhalb formaler Systeme) nicht. Chomsky folgt hier eher Carnap und Bar-Hillel und argumentiert wie ein Logiker. Insofern verhält er sich ambivalent.
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
die Grundmuster einer Ableitung von Satzstrukturbäumen findet man in Chomsky (1951 / 1979) bereits im Ansatz:11 Satz → Elementarsatz < Konnektor + Satz > Konnektor = {und, aber, oder} Elementarsatz → NP VP → V1 + NP
{
Pron VP
PP { NP }
}
PP → Präposition + NP Eine frühe Publikation im „Journal of Logics“ (Chomsky, 1953) kann in den Kontext des ebenda 1950 erschienenen Artikels von Bar-Hillel (1948 eingereicht) gestellt werden. Er geht aus von Carnaps „The Logical Syntax of Language“ und dem Problem, wie ein erweiterter Logik-Kalkül einen Satz, wie „Aluminium wiegt fünf Kilo“, im Gegensatz zum Satz „Der Stein wiegt fünf Kilo“ als nicht wohlgeformt ausschließen kann. Das Basisproblem ist die Suche nach einem Filter für richtige (bzw. für den Ausschluss falscher) Sätze. Chomsky wird später anhand des Satzes „Colorless ideas sleep furiously“ sagen, dass dieser Satz zwar semantisch sinnlos, syntaktisch aber wohlgeformt sei. Ein Ergebnis des Aufsatzes von Bar-Hillel (1950), der von der Relation „isogen“, d. h. Ersetzbarkeit im Kontext, ausgeht, ist, dass selbst für seine primitive Kunstsprache keine Klassifikation in syntaktische Klassen gemäß der klassischen Wortartenlehre folgt. Auf die Kookkurrenz-Lehre von Harris bezogen heißt dies, der Aufbau einer Konstituentensyntax über die Operation des Austausches im Kontext erreicht sein Ziel nicht ohne Ad-hoc-Korrekturen und Anpassungen. Chomsky wird diese Sackgasse dadurch vermeiden, dass er die Kategorien vorgibt und es einer Bewertung der Grammatik überlässt, die Wahl der Kategorien über Einfachheitserwägungen zu korrigieren. Im Gegensatz zu Harris geht er also holistisch vor und hofft auf eine Korrektur in der Anwendung. Diese Strategie führt in der Folge (intern gerechtfertigt) zu einem Dominoeffekt. Immer neue Korrekturen, die zusätzlich mit wechselnden Evaluationskriterien zusammenhängen, verändern das System. Bei der Suche nach einem Stabilitätskern erscheint die UG – die angeborene Universalgrammatik – 11 Dies ist eine vereinfachte Wiedergabe der Regeln in Chomsky (1951 / 1979: 12). Die geschweiften Klammern geben Alternativen (oder) an, d. h. Pronomen oder Verbalphrase, Präpositionalphrase oder Nominalphrase. Die Satzstruktur bezieht sich auf das Hebräische. Da ich nur die Ausgabe von 1979 einsehen konnte, kann ich nicht ausschließen, dass eine spätere Anpassung an die Notation nach 1957 stattgefunden hat. Im Vergleich zum im Internet einsehbaren Manuskript der Schrift „The Logical Structure of Linguistic Theory“ von 1955 / 56 ist die Publikation von 1979 desselben Titels stark an das spätere Erscheinungsbild der Arbeiten Chomskys angepasst.
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Die transformationelle Grammatik von Noam Chomsky
als Rettungsanker. Da diese aber empirisch nicht evaluierbar ist, erhält man nur eine Scheinlösung des Problems. Ein großer Teil der philosophischen Dispute seit „Cartesian Linguistics“ (1966) bis zu Chomskys jüngeren Meinungsäußerungen zur Evolution der Sprache in Fitch, Hauser und Chomsky (2005) ringen mit diesem Problem. Die umfangreiche Schrift „The Logical Structure of Linguistic Theory“ (Juni 1955)12 zielt in eine andere Richtung, die ebenfalls bis zu den aktuellen Fassungen der Theorie Konsequenzen hat. In dieser Schrift stellt sich Chomsky (mehr als in jeder veröffentlichten) in den Schatten seines Lehrers Harris, und zwar bezieht er sich häufig auf dessen Buch „Methods“ von 1951 und die Diskursanalyse (Harris, 1952). In seiner Diskursanalyse geht Harris über die Satzgrenze hinaus und versucht, Äquivalenzen zwischen Sätzen oder gar Satzsequenzen zu bestimmen. Eine solche mag z. B. zwischen einem Aktiv- und Passivsatz bestehen. Die Operation, die der Äquivalenz entspricht, nennt er Transformation. Ein großer Teil von Chomskys Dissertation ist der transformationellen Analyse (Kap. VIII) und der Anwendung auf das Englische (Kap. IX) gewidmet (472–879 in der Fassung des Mikrofilms der Arbeit, die im Internet zugänglich ist). Die Ebene der Phrasenstrukturen (Kap. VI, 367–472) wird mit den später für die generative Bewegung markanten Phrasenstrukturregeln gebildet: φ (Sentence, Nounphrase ˆ Verbphrase). Die entsprechenden grammatischen Relationen sind: Actor – action (subject – predicate) (ibidem: 371) und die Anfangsformel (ibidem: 372) lautet: Sentence → NP ˆ VP Die klassische IC-Analyse (IC = Immediate Constituents) eines englischen Satzes wird als hierarchische Struktur (oder als Baumstruktur) dargestellt: ||| The old man | in the corner || has been reading | the newspaper ||| PP
NP1 NP
VP1
P VP
12 Handschriftliche Korrekturen 1956; nur ein Kapitel wurde als Dissertation eingereicht, eine korrigierte Teil-Fassung wurde erst 1979 veröffentlicht. Der im Hintergrund stehende Konflikt zwischen Bar-Hillel (Carnap) und Harris wird durch Chomsky nur scheinbar gelöst und mit dem Aufkommen der logischen Grammatiken (Montague u. a.) wird der Riss endgültig deutlich. Die neueren korpusorientierten Ansätze etwa in der Konstruktionsgrammatik könnte man dagegen als Fortsetzung der Harris-Linie verstehen, so dass die Chomsky-Linguistik eine zwar (für einige Jahrzehnte) reizvolle, letztlich aber instabile Zwischenlösung darstellt. Man müsste aber das ganze Feld wissenschaftstheoretisch und philosophisch ausgiebiger beleuchten, um diese Mutmaßung präzisieren zu können.
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Das Thema „Transformation“ ist Ansatz- und Wendepunkt in Chomskys Theo rie. Einerseits nimmt er die Vorlage von Harris auf, der im hierarchischen Aufbau seiner Grammatik vom Laut zum Diskurs fortschreitet, andererseits fügt er diese Idee in die eines generativen Systems ein, das die grammatischen Sätze (eine abzählbar endliche oder unendliche Menge) einer Sprache aufzählt (und damit implizit definiert). Diesen Schachzug versucht er in Chomsky (1957) systematisch zu rechtfertigen und ich werde darauf zurückkommen. In der Folge führt aber gerade die Komplexität der Transformationsoperation dazu, dass zuerst die maschinellen Systeme ohne Transformationen arbeiten und dass dann die Folgemodelle Chomskys eben diesen Aspekt bis zur Unkenntlichkeit verändern. Die ursprüngliche Intention bei Harris, für die Diskursanalyse eine Klassifikation füreinander austauschbarer Sätze zu bestimmen, geht in der Folgeentwicklung bei Chomsky völlig verloren. Ich will dieser späteren Entwicklung jedoch nicht vorgreifen und zuerst das entscheidende „Coming-out“ Chomskys mit der kleinen Schrift „Syntactic Structures“ von 1957 beschreiben. 9.4.2 Argumentationsskizze zum Buch „Syntactic Structures“ und Überlegungen zu dessen Wirkung Die 1955 eingereichte Dissertation, die ihre Entstehung Chomskys Forschung als Fellow am M. I. T. (Massachusetts Institute of Technology) zu verdanken hat, wäre für ein klassisches philologisches Gremium eine nicht hinnehmbare Provokation gewesen. Die 900 Seiten sind über hunderte von Seiten mit logischen Formeln und Abkürzungen gespickt. Die theoretischen Vorbemerkungen dazu haben Manifest-Charakter. Die Mischung aus naturwissenschaftlich ausgerichteter Philosophie und empirischer Linguistik konnte nur in der auf Interdisziplinarität und Innovation gestimmten Atmosphäre des M. I. T. (Massuchusetts Institute of Technology) in Cambridge / Boston toleriert werden. Diese Institution war indirekt ein Ergebnis der großen interdisziplinären Anstrengungen im Krieg, die z. B. zur Gründung der Kybernetik geführt hatten. Der Institutstyp wurde zu einem amerikanischen Erfolgsmodell, dessen Übertragung in Europa selbst noch in den frühen 70er Jahren durch heftige „Bedenken“ verhindert wurde; erst die massiven Universitätsgründungen öffneten das Tor für ein Umdenken. Chomskys Erfolg war deshalb der Startschuss für eine neue Generation von Geisteswissenschaftlern mit ihrer Öffnung zu den Naturwissenschaften und der Computer-Technologie. Ich will einige Grundtendenzen, die auch die weitere Entwicklung bestimmt haben, hervorheben: 1) Die Möglichkeit, induktiv aus einem Korpus von Daten eine Grammatik zu bestimmen, wird als unrealistisch abgewiesen. Es kann bestenfalls anhand gezielt ausgewählter Daten eine Evaluation zwischen unterschiedlichen Grammatiken geleistet werden (Chomsky, 1957: 50–52).
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2) Die Frage der semantischen Angemessenheit von Sätzen, die eine Grammatik beantworten soll, wird als irrelevant, da nicht exakt festlegbar, ausgeklammert. Die Opposition der folgenden beiden Sätze gilt dabei als Standardbeleg: semantisch nicht korrekt, syntaktisch wohlgeformt
Colorless green ideas sleep furiously
syntaktisch nicht wohlgeformt
Furiously sleep ideas green colorless
Tabelle 9: Semantische versus syntaktische Wohlgeformtheit (vgl. Chomsky, 1957: 15) 3) Die Typologie von generierbaren Sprachen in Chomsky (1953) wird auf vier inklusive Typen erweitert, die jeweils durch einen Typ von generativer Regel charakterisiert werden können (A → B; schreibe die Kette A als Kette B neu; Großbuchstaben bezeichnen sog. Hilfskategorien, d. h. Klassenterme; Kleinbuchstaben bezeichnen real vorkommende Elemente der Sprache, z. B. Phoneme oder Morpheme). Typ von Grammatik
Beispiele für typische Regelfolgen
rechts (links)-lineare Grammatik (Typ 3) = G3 (Es muss bei jeder Regel eine Kette von Endelementen erzeugt werden)
S → aAb A → bbA A→a
kontextfreie Grammatik (Typ 2) = G2 (Es sind auch rein kategoriale Ableitungen erlaubt)
S → AB A → aAa B→b A→a
kontextsensitive Grammatik (Typ 1) = G1 (Es kann ein Kontext X _ Y als Bedingung gefordert werden; wobei X und / oder Y leer sein können)
S → AB A → aAa / _ B B → b / A _
allgemeine Regelgrammatik (Typ 0) = G0 (Es sind z. B. auch Tilgungen möglich oder komplizierte Umorganisationen)
Keine Beschränkung bei der Wiederschreibung einer Kette (z. B. bei einer Transformations grammatik); Strukturbeschreibungen können als Bedingungen vorkommen.
Tabelle 10: Chomsky-Hierarchie (vgl. Wall, 1973: 43 f.)
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
Es gelten die folgenden Inklusionsbeziehungen für Grammatiken und Sprachen (Mengen der Folgen), die von der Grammatik generiert werden: Typ0 ⊃ Typ1 ⊃ Typ2 ⊃ Typ3 . Chomsky argumentiert (siehe Chomsky 1957: Kap. 3), dass natürliche Sprachen, z. B. das Englische, Satzmuster enthalten, die nur mit einer Typ1-(kontextsensitiv) oder einer Typ0-Grammatik (einer Transformationsgrammatik) beschreibbar sind. 4) Die Grammatik besteht aus Modulen, d. h. relativ autonomen Teiltheorien, für die lokal die Maximalforderung, dass Transformationen (Typ0) oder Kontextabhängigkeiten (Typ1) berücksichtigt werden, nicht gelten muss. a) Die Phrasenstruktur-Grammatik für grundlegende syntaktische Muster kann vom Typ2 (Typ1) sein. Man nennt sie die Basiskomponente. Die Beispielgrammatik in Chomsky (1957) enthält z. B. nur 11 Regeln und kann auf einer halben Seite niedergeschrieben werden (vgl. ibidem: 111). Diese Basis für Transformationen wird Tiefenstruktur genannt. Auf dieser Ebene der Beschreibung kann Chomsky in der Tat sein ursprüngliches Ziel maximaler Einfachheit erreichen. b) Die Vielfalt möglicher Oberflächenrealisationen auf der Grundlage der Basissätze (Tiefenstrukturen) wird durch Transformationen erzeugt, sie sind vom Typ0. c) Zur Erzeugung der gesprochenen Form wird eine morphemische Kette in eine phonologische Kette überführt, die wiederum die phonetische Realisation ermöglicht. Dabei sind auch Elisionen erlaubt, die ihrerseits Typ0-Regeln erfordern. Die generative Grammatik wurde sehr schnell international verbreitet und es kam seit 1962 zu einer breiten theoretischen und empirischen Diskussion. Aus ihr gingen neue Modelle, insbesondere das sogenannte Standard-Modell in Chomsky (1965: „Aspects of a Theory of Syntax“), hervor. Sehr früh stellte sich die Ostberliner Arbeitsstelle „Strukturelle Grammatik“ auf die „neue“ Linguistik ein und es entstanden zwischen der Publikation von „Syntactic Structures“ (1957) und dem Standard-Modell (1965) eine Reihe von Entwürfen für eine Grammatik des Deutschen auf der Basis des Programms, das Chomsky vorgestellt hatte. 9.4.3 Exkurs: Die „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ und die Grammatik des Deutschen Manfred Bierwisch hatte 1958 / 59 eine Dissertation zum deutschen Verb geschrieben. In den folgenden Jahren befasste er sich eingehend mit den Publikationen von Chomsky, Bar-Hillel und Lees („The Grammar of English Nominalizations“, 1960). 1963 erschien dann als Nr. II der Reihe: Studia grammatica seine „Grammatik des deutschen Verbs“.
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Das Basissystem enthält 61 Formationsregeln (F1–F61), eine größere Anzahl von Lexikonregeln, die teilweise komplizierte Alternativen beinhalten (vgl. Bierwisch, 1963: 82–85), 31 einfache Transformationsregeln und 8 generalisierte Transformationsregeln. Ich werde exemplarisch die Konstituentenstruktur des deutschen Satzes als Beispiel eines generativen Systems vorstellen: (F1)
Satz
→
(I) S
d. h. Satztypen (I) für Frage, Imperativ und Nebensatz
An dieser Stelle modernisiert Bierwisch den Ansatz von Chomsky (1957), insofern diese unterschiedlichen Satztypen nicht mehr transformationell erzeugt werden. (F2)
S
→
Nomo + VP
(F3)
VP
→
HV
+ Aux
Subjektlose Sätze, z. B. „Gestern ist getanzt worden“, werden transformationell (durch die Passivtransformation) erzeugt aus: „Man hat gestern getanzt“. Wie in Chomsky (1957) geschieht beim Verbalteil die erste Trennung in Auxiliar und Verb. Das Auxiliar enthält, wie bei Chomsky, alle Temporal- und Modalelemente sowie die Personalendung; diese werden damit näher an S (Satz) gerückt als dasVerb (Vb). (F4)
HV
→
(VE)
(PV)
Vb
VE trennt eine verbunspezifische (äußere) Schicht von Ergänzungen ab; PV enthält verschiedene Negations- und Affirmationspartikel. Vb ist der Verbstamm mit seinen spezifischen Ergänzungen (Komplementen); er wird später in Regel F7 näher bestimmt. (F5)
VE
→
(Adverb) (Obj.)
Adverb: Der Adverbialkomplex wird später in modale, temporale, lokale Adverbiale zerlegt. Obj.: Hier werden Kasusobjekte, die nicht ganz eng mit dem Verb (Vb) zusammenhängen, extra behandelt; die anderen sind Gegenstand der Regel F7 (die ich nicht ausführe). Die enger gebundenen Kasusobjekte werden unter Vb behandelt. Beispiel: Man überführte den Minister der Bestechlichkeit. |
|
|
Nomo
Nom unter VE
unter Vb
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Die Expansion des Verbs Vb muss verschiedene Kontextbeschränkungen (Typ1Regeln) einführen. Ab hier eskalieren die Selektionsbeschränkungen. Bierwisch (1963: 42) sagt: „Eine vollständige Beschreibung der Regularitäten liegt hier wie bei anderen Selektionsbeschränkungen nicht im Rahmen unserer Untersuchung.“ Die Regeln (F9) bis (F13) expandieren den Verbalkomplex weiter. Insbesondere werden prädikative Verben Vpr wie: sein, werden, bleiben eingeführt, sowie verschiedene Adverbiale: Adv bzw. Adv' werden später zu lokativen oder direktiven Konstituenten expandiert. Insgesamt steht Bierwisch zwischen dem frühen Modell in Chomsky (1957) und der Konsolidierung der vielfältigen Modifikationen des Ausgangsmodells, die insbesondere massiv Merkmale ins Spiel bringen, im StandardModell (Chomsky, 1965). 9.4.4 Weitere Entwicklungen nach 1965 Die schnell anwachsende Gemeinschaft von Linguisten in vielen Ländern, die auf der Grundlage von Chomskys Programm arbeiteten, brachte viele Anregungen und Veränderungsvorschläge ein. Die Verbindung zur technischen Linguistik (z. B. zu den Übersetzungssystemen) wurde gelockert, einige Mitstreiter Chomskys, so Lakoff und Fillmore, stellten das Lexikon und die lexikalische Semantik in den Vordergrund und hoben damit das Primat der Syntax auf.13 Trotz dieser Verästelungen gelang es Chomsky bis heute, sein Programm in modifizierter Form fortzusetzen und einen großen Teil seiner Anhänger zu überzeugen, diesen Weg mitzugehen.14 Einen ersten Höhepunkt und eine Grundorientierung für die folgenden Entwicklungsstufen stellte das Buch „Aspects of a Theory of Syntax“ (Chomsky, 1965) dar. Wie in Chomsky (1957) gibt es Tiefen- und Oberflächenstrukturen; der Begriff der Transformation wird aber eingeschränkt, womit auch die Beziehung von Tiefen- und Oberflächenstruktur verändert wird. Die Tiefenstruktur wird durch die sogenannte Basiskomponente bestimmt (vgl. in der deutschen Übersetzung Chomsky, 1969: 113 ff.). Diese hat jetzt drei Ebenen (nicht nur zwei, nämlich Verzweigungsregeln und lexikalische Einsetzungen). Am Satz: „Sincerity may frighten the boy“ (Ehrlichkeit mag den Jungen erschrecken) exemplifiziert Chomsky die drei Regeltypen: 13 Fillmores Kasushypothese wurde zuerst in einem Vortrag zum Thema: Präpositionen 1963 vorgestellt und 1968 mit großen Echo publiziert (Fillmore 1968); vgl. Kap. 12.4. 14 Jackendoff (2002: Kap.5) skizziert die Entwicklungen in der Architektur generativer Grammatiken von 1965 (Aspects) bis 1993 (Minimalist Program) unter dem Titel: „A short history of syntactocentrism“ (ibidem: 107–111). Außerdem geht er auf drei Varianten ein: Lexical-Functional-Grammar, Autolexical Syntax und Role and Reference Grammar (ibidem: 125–130).
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Erste Ebene: Phrasenstrukturregeln S
→
NP + Aux + VP
VP
→
V + NP
NP
→
Det + N
NP
→
N
Det
→
the
Aux
→
M
Zweite Ebene: Merkmalshierarchien (App = appellativ, benennend; Ind = Individuativ) N
→
[+ N, ±App]
[+ App]
→
[± Ind]
[+ Ind]
→
[± Belebt]
[– App]
→
[± Belebt]
[+ Belebt]
→
[± Mensch]
[– Ind]
→
[± Abstrakt]
Dritte Ebene: Lexikalische Einsetzungen (sincerity, [+ N, – Ind, + Abstr]) (boy, [+ N, + App, + Ind, + Belebt, + Mensch]) (may, [+ M]) Tabelle 11: Drei Ebenen der Analyse (vgl. Chomsky, 1969: 115) Auffällig ist erstens die Position von Aux und damit die Dreigliederung von S (Satz) und zweitens die Benützung von Merkmalen. Die Auxiliar-Kategorie wird in späteren Modellen zur INF(Inflection)-Kategorie generalisiert und nach dem Kopf-Prinzip wird der Satz als die oberste Ebene der INF-Kategorie aufgefasst (siehe die sogenannten X-bar-Ebenen). Die Einführung von Merkmalen verändert die logische Basis in Richtung auf eine Attribut-Merkmals-Logik, die auch charakteristisch für die „Information-Based Syntax and Semantics“ von Pollard und Sag (1987) und viele Modelle der 90er Jahre (z. B. die HPSGModelle; vgl. Müller, 1999) sein wird. Diese Modelle versuchen, angeregt durch Fillmore, die grassierende Vielfalt der Grammatikformate zu reduzieren (zu „unifizieren“). Auch die traditionellen Wortarten werden nun durch Merkmale wie [± nominal, ± verbal usw.] neu definiert. Ausgehend von Bemerkungen in Chomsky (1970): „Remarks on Nominalization“, schlug Jackendoff (1977) vor, ein allgemeines Prinzip einzuführen,
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nach dem jede syntaktische Kategorie mindestens eine lexikalische Kategorie des gleichen Typs dominiert. Eine beliebige lexikalische Kategorie X (etwa N, V, Adj, Adv) hat als Kopf eine syntaktische Kategorie des gleichen Typs und diese Reihe kann fortgesetzt werden. Die Hierarchie wurde ursprünglich nach den hochgestellten Querbalken („bars“) benannt. Man erhielt dann für eine lexikalische Kategorie Nomen (N): Kategorien mit einem, zwei, drei Strichen (bars) über dem N; später schrieb man auch N, N', N''‚ N''' oder No, N1, N2, N3. Als besonders schwierig erwies sich die Subkategorisierung von Verben nach ihren möglichen Ergänzungen in Anbetracht auch semantischer Selektionsbedingungen. Diese, den Kern der Valenz- und Dependenzgrammatiken ausmachende Problematik, versucht Chomsky (1969: 121 ff.) mit kontextsensitiven Subkategorisierungsregeln und der Benützung syntaktischer (± Transitiv) und semantischer Merkmale [± Belebt] zu lösen. Im weiteren Verlauf der Modellentwicklung werden jedoch (ohne explizite Bezugnahme) die Ideen von Fillmores Kasusgrammatik, die ihrerseits Grundideen der Valenzgrammatik aufgreift, in den Formalismus eingebaut. Die Transformationen wurden nach 1957 immer stärker verändert, zuerst von fakultativen (1957) zu obligatorischen, durch Strukturmerkmale festgelegte Transformationen (1965). Dies bedeutete beispielsweise, dass Aktiv- und Passivsätze nicht mehr als verschiedene Oberflächenrealisierungen einer Tiefenstruktur betrachtet wurden. Der Satz: „The man who persuaded John to be examined by a specialist was fired“ startet von zwei Sätzen mit einem by-Passiv in der Basiskomponente: VP: examine – John – by-Passiv VP: fire – the S' – man – by-Passiv Die Kategorie S' ist ein Stellvertreter, an dessen Position dann die Struktur tritt: S: the – man – Prät – persuade – John of S' (dieser Stellvertreter kann wieder ersetzt werden, so dass ein rekursives Muster entsteht). Die vollständige Analyse enthält acht Transformationen und weitere Anpassungen (vgl. Chomsky, 1969: 167). Die kurze Strukturskizze zeigt erstens, dass die Eigenschaft Passiv vorgegeben ist (nicht transformationell erzeugt wird); zweitens, dass es Stellvertreter (sogenannte „dummies“) in der Struktur gibt, die obligatorische Transformationen auslösen. Auf diesem Konzept basiert später die Idee der „Spuren“, d. h. der Leerstellen, welche Transformationen markieren und deren Aktivität nachvollziehbar machen. Schließlich werden die kompliziert verstrickten Transformationen noch radikaler reduziert, so dass nur noch die Operation move α (Bewege etwas) übrig bleibt. Mit der Government & Binding Theorie (1981) erreicht die Modellentwicklung ein neues Plateau, das zu Anwendungen auf viele Sprache führt (siehe für das Deutsche: Grewendorf, 1991). Die Rektion (Government: G) und Bindung (Binding: B) sind aber nur zwei zentrale Prinzipien der Universalgrammatik (vgl. Grewen-
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dorf, 1991: Kap. 8). Ich will kurz die wichtigsten Begriffe dieser Theorie erläutern (vgl. als kurze Zusammenfassung Smith, 1999: 69 ff.). Die drei Grundtypen referentieller Ausdrücke: Anaphern, Pronomina und referentielle Nomina (John) unterscheiden sich in den Bereichen, für die sie gebunden sind. Letztere (z. B. Eigennamen) sind generell frei (ungebunden), die Anaphern sind in einem engen Bereich gebunden (himself, sich); die Pronomina sind in diesem Bereich frei oder können sich auf Entitäten im Kontext beziehen. Im Satz: „Hans mag ihn“ ist ein Bezug von ihn auf Hans ausgeschlossen, es könnte aber eine beliebige im Kontext verfügbare Person als Bezugspunkt dienen. Die so genannten Skopus-Unterschiede begründen auch das Lokalitätsprinzip. Lokalitätsprinzip: Manche Strukturen sind an eine Nähe (Lokalität) gebunden. Man betrachtet die folgenden Sätze: (i) Ein Anstieg bei den Gehältern von Beamten wurde angekündigt. (ii) Ein Anstieg wurde angekündigt bei den Gehältern von Beamten. (iii) * Ein Anstieg bei den Gehältern wurde angekündigt von Beamten. (iii) ist entweder ungrammatisch (*) oder in seiner Bedeutung verschieden von (i) und (ii). Dieses Prinzip bezieht sich auf syntagmatische Beziehungen im Satz, die eine gewisse Reichweite haben bzw. durch Barrieren begrenzt sind. Von größerer Wichtigkeit scheinen die beiden folgenden Prinzipien zu sein, die außerdem eine inhaltliche Nachbarschaft zu Valenz- und Dependenzmodellen aufweisen (vgl. Kap. 6). Theta-Theorie: Die sogenannten Theta-Rollen kategorisieren Argumente von Verben, ohne allerdings, wie bei Fillmore, diesen Argumenten eine spezifische Bedeutung zuzuweisen. Die Beziehung von Argument und Theta-Rolle ist 1 : 1; d. h. es darf kein Argument ohne Theta-Rolle bleiben und es darf keine Theta-Rolle übrig bleiben (zu viel sein). Beispiel: Hans begleitet Maria. * Hans begleitet (zweite Rolle fehlt) Hans lacht. * Hans lacht Maria
(es ist eine Rolle zuviel)
In Sonderfällen kann aber eines der Argumente selbst eine Theta-Rolle einbringen: Hans lacht Maria von der Bühne. (John laughs Mary off the stage.) Hier bringt Maria eine weitere Theta-Rolle (sie verlässt die Bühne) ein.
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
Einige semantische Besonderheiten werden durch die Hinzunahme von ThetaRollen beschreibbar, die allein mit der Darstellung der Argumente des Verbs nicht zugänglich waren, insbesondere können scheinbar gleiche Strukturen durch verschiedene Theta-Rollen (inhaltlich gesprochen z. B. Agens-versus-Patiens) unterschieden werden. a) John undertook the surgery reluctantly. Hans ging die Operation widerstrebend an. b) John underwent the surgery reluctantly. Hans unterzog sich der Operation widerstrebend. Wie die deutsche Übersetzung schon zeigt, ist die Rolle von Hans jeweils verschieden: In (a) ist er der Arzt (Agens); in (b) ist er der Patient (Patiens). Manche Verben besetzen Positionen nicht mit Theta-Rollen; dies lässt sich am Kontrast der beiden folgenden Sätze zeigen (vgl. Grewendorf, 1991: 143). (i) Peter glaubt, dass er verliebt ist. (Peter glaubt verliebt zu sein.) (ii) Es scheint, dass Peter verliebt ist. (Peter scheint verliebt zu sein.) In (i) erhält die Subjektposition des Hauptsatzes eine Theta-Rolle, in (ii) nicht; dies ermöglicht die Es-Konstruktion in (ii). Rektion: Die Kasus-Rektion wird wegen des abstrakten Kasus-Begriffs auch auf Sprachen angewandt, die keine morphologischen Kasus besitzen. Die Wirkung zeigt sich dann an anderen Merkmalen, wie z. B. an der Wortstellung. Wie schon anfangs erwähnt, kommt das X-bar-Prinzip in der Syntax zur Anwendung. Dabei stellt sich die Frage, zu welcher lexikalischen Kategorie der Satz eine X-bar-Dominanz zeigt. Soll S vom Typ N, V sein? Chomsky entscheidet sich für die bereits 1965 angelegte dritte Möglichkeit. Er nimmt Aux als lexikalische Basis, und zwar in Form der Inflektionsmerkmale (Tempus, Modus, Person, …) des Auxiliars; daraus entsteht die Kategorie INF. Außerdem wird getrennt zwischen einer Satz-Konstituente und einer strukturell einleitenden Position (vgl. Grewendorf, 1991: 72). In den Modellen des Typs „Principles and Parameters“ (ab 1979 in den Pisa Lectures; vgl. Chomsky, 1981) werden die Verschiedenheit der Sprachen und das Lernen verschiedener Sprachen besonders thematisiert. So ist zwar das „Head-principle“ (Kopf-Prinzip) universal. Ob der Kopf links oder rechts vom Satelliten steht, unterscheidet aber die Sprachen typologisch (siehe die Anordnungen von Subjekt, Objekt, Verb: SOV, SVO, VSO usw.). Angenommen, es
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Chomsky als politischer Intellektueller
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gibt eine angeborene Universal-Grammatik und tausende möglicher Einzelgrammatiken, so stellt sich die Frage, wie das Kind seine Sprache auswählt bzw. erkennt. Chomsky stellt sich vor, dass selbst bei einer Auswahl zwischen einer Million Sprachen schon 20 Entscheidungsfragen die Auswahl erlauben (220 = 1.048.576; vgl. Smith, 1999: 82). Wenn diese Auswahl-Kaskade richtig durchlaufen wird, hat das Kind eine gute Chance, in begrenzter Zeit die Aufgabe zu lösen.15 Insgesamt hat dieser Abriss der Modellentwicklung einerseits die Kontinuität des Grundansatzes gezeigt. Es wird nach einer einfachsten Struktur hinter der Vielfalt der Sprachen gesucht, welche als gattungsspezifisches Merkmal des Menschen Geltung hat. Andererseits sind die Grundeinsichten der Grammatiker möglichst vollständig zu integrieren und das bei einer wachsenden Anzahl analysierter Sprachen.
9.5 Chomsky als politischer Intellektueller Chomsky wurde häufig gefragt, welchen Zusammenhang es zwischen seiner Sprach- und Grammatiktheorie und seinem politischen Engagement gebe. Er antwortete darauf zweierlei: Erstens sei er nur dadurch Linguist geworden, weil er mit seinem Linguistik-Lehrer politische Interessen teilte,16 zweitens hätten die beiden Bereiche gar nichts miteinander zu tun. Im Hinblick auf seine Auffassung von der Modularität des Geistes, gäbe es also zwei „Module“ seiner intellektuellen Existenz: die Linguistik und die politische Ethik. Da man für letztere nur einen gesunden Menschenverstand, eine kartesische „ratio“ benötige und keine Theorie, sei eine Verbindung auch überflüssig. Biografisch verhält es sich so, dass Chomsky bereits als Schüler einen Kommentar zum Fall Barcelonas (im Spanischen Bürgerkrieg) in der Schülerzeitung veröffentlichte (vgl. Macfarquhar und Haupt, 2003: 25). Wegweisend für seine politische Orientierung wurde George Orwells „Homage to Catalonia“, in dem dieser als Augenzeuge und Beteiligter des Spanischen Bürgerkriegs die Ideale der spanischen Anarchisten und deren kleinräumigen, egalitären Organisationsformen beschrieb. Die Anarchisten wurden schließlich zwischen autoritären Stalinisten und reaktionären Frankisten zerrieben. Diese 15 Es gab wie bei jedem Modell-Vorschlag eine Vielfalt von Kritiken, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. So ist das lernende Kind als Entscheidungsmechanismus mit einer vorgegebenen Hierarchie von Entscheidungskriterien, die sukzessiv durchlaufen werden, doch allzu sehr der Maschinenmetapher des Geistes, die in den 60er Jahren virulent war, verpflichtet. Wie Hornstein (1995) nachwies, müssen sehr viele Zusatzannahmen ad hoc eingeführt werden, um die eleganten Prinzipien an die empirische Vielfalt anzupassen; vgl. dazu auch Fanselow (2009: 138). 16 Vgl. Interview mit Black Rose in Chomsky (1987: 30).
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
Ideale und die Forderung nach Gerechtigkeit, die Kritik an den Machthabern und deren neokolonialen Herrschaftsansprüchen prägt Chomskys politisches Denken bis heute. Die Beziehung zu Zellig Harris wurzelt sehr tief. Harris’ Vater war der Beschneider der jüdischen Gemeinde, zu der Chomskys Eltern gehörten. Mit seinen Eltern hatte Chomsky im Hause der Harris’ öfter den Seder (Vorabend des Passah-Festes) gefeiert. Harris war außerdem eine Art Senior der Studentenorganisation Avukah (hebr. „Fackel“), welche der linksorientierten Kibbuz-Bewegung angehörte und die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina ablehnte (vgl. ibidem: 27 f.). Damit waren eigentlich schon die Fundamente von Chomskys politischer Arbeit gelegt: 1) Die Kritik am Faschismus und am Marxismus sowjetischer Prägung; die Utopie des freiheitlich, egalitären Zusammenlebens im Sinne der spanischen Kommunen (selbstbestimmt, dezentral, ohne Machthierarchie). Diese politische Grundrichtung wird auch Libertärer Sozialismus genannt (vgl. Chomsky, 1987). 2) Eine Kritik an der Landnahme Israels in Palästina und an deren Unterstützung durch die USA. Diese wurde auf alle Eroberungen und Kolonialbestrebungen – besonders der USA – erweitert. Die Anzahl politischer Bücher, Kommentare, Vorträge und Interviews, die Chomsky verfasst oder gegeben hat, ist mit der seiner linguistischen Werke vergleichbar. Sie sind somit kein Nebenprodukt, keine Sonntagsbeschäftigung. Mit den weltgeschichtlichen Ereignissen verschob sich auch deren Schwerpunkt. –– 1967–70. „Der Krieg mit Asien“ (1970). Kontext ist das Engagement der USA in Indochina und der Vietnam-Krieg. Bereits 1967 hatte Chomsky im Buch „American Power and the New Mandarins“ an der Vietnam-Politik der USA Kritik geübt. –– Nach 1967. Nach dem Sechs-Tage-Krieg Israels stellte sich Chomsky offen gegen Israels Politik (1953 hatte er einen Monat zur Probe mit seiner Frau Carol in einem Kibbuz in Israel gelebt, dann aber beschlossen, nicht nach Israel auszuwandern; ibidem: 43 f.). Die amerikanische Israel-Politik wird in dem Buch „Fateful Triangle: The United States, Israel and the Palestinians“ (1984; deutsch 2003) untersucht. –– Ein weiteres Aktionsfeld bildete die Mittelamerika-Politik der USA. 1985: „Intervention in Central America and the Struggle for Peace“ (Chomsky, 1985). –– Der Jugoslawien-Konflikt und der Krieg im Kosovo motivierten seine Kritik an humanitären Interventionen (1999: „The New Military Humanism: Lessons from Kosovo“).
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Chomsky als politischer Intellektueller
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–– Der Angriff auf das World Trade Center führte zum Buch „The Attack“ (2001). –– Die Rolle der Medien in den USA (und im Westen) ist Gegenstand zahlreicher Analysen. Uns interessiert im Folgenden die Frage, ob der Sprachtheoretiker und der politische Moralist Grundeinstellungen teilen, so dass sich z. B. über die politischen Argumentationen Chomskys Einsichten in seinen wissenschaftstheoretischen Standort oder seine wissenschaftliche Ethik gewinnen lassen. Da er häufig dazu befragt wurde, hat Chomsky selbst einige Überlegungen (jenseits der Verweigerung, einen Zusammenhang zu sehen) beigetragen: In einem Interview mit Le Monde Libertaire bejaht Chomsky zumindest eine gemeinsame Grundlage. Sie liege in „der rationalen Methodik, die ich für all meine Studien, Analysen und Reflektionen als unabdingbar halte“ (ibidem: 90). In seinem ideengeschichtlichen Buch „Cartesian Linguistics“ (Chomsky, 1966) verortet Chomsky seine Position bei René Descartes (1596–1650) oder genereller in der vorrevolutionären französischen Aufklärung.17 In Descartes’ klassischer Schrift „Discours de la méthode“ (1634) baut dieser den Mythos eines voraussetzungsfreien, ahistorischen philosophischen Denkansatzes auf, indem er beschreibt, wie er aus Langeweile, im Winterlager der Armee in Deutschland hinter einem Ofen sitzend, sein System einer „prima philosophia“ konzipiert habe. Foucault (in: Chomsky / Foucault, 2006) akzeptiert diesen Mythos als Wissenschaftshistoriker nicht und sieht darin die Selbststilisierung zum Original-Genie, welche mit einer gängigen Geschichtsauffassung der großen Männer korrespondiert. Den Gestus des unabhängigen Denkers übernimmt Chomsky deutlich von Descartes (der Geniekult sollte ja im 19. Jh. noch weiter eskalieren). Indirekt wirft Foucault Chomsky einen Mangel an Bescheidenheit oder Selbstreflektion vor, was sicher zutrifft. Chomsky führt aber ein politisch-mediales Argument an, weshalb er in der Politik nicht als Wissenschaftler oder Theoretiker der Sprache auftritt (er kann natürlich eine Autoritätsübertragung nicht verhindern und bezieht daraus sogar einen großen Teil seiner Glaubwürdigkeit). Er sagt: „Deshalb gebe ich mir die größte Mühe, den Eindruck zu vermeiden, mein Wissen gäbe mir die alleinige ‚Macht zur Analyse‘, die der der Mehrheit der Leute überlegen ist. Genau das will ich den Intellektuellen klar machen. Das ideologische Kontrollsystem bemüht sich, die gängige Illusion aufrechtzuerhalten, dass es zu schwierig ist, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Damit verfolgt es die Absicht, dem Volk seine Unfähigkeit für das Verständnis seiner gesellschaftlichen Realität weis zu machen, um es so weiterhin unter seiner Führung halten zu können.“ (Chomsky, 1987: 90 f.)
Es ist einzusehen, dass aus der Sicht des libertären Sozialismus jedermann Kritik und Erklärungen produzieren darf und kann und es keine intellektuellen 17 Vgl. die Bemerkungen Foucaults zu dieser historischen Analyse, insbesondere seine Kritik am Prinzip der Kreativität bei Descartes, in: Chomsky and Foucault (2006: 13 f.).
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Harris und Chomsky: Transformationen und politische Kritik
Privilegien geben darf. Es bleibt aber erklärungsbedürftig, dass trotz der Ausstattung jedermanns mit dieser Fähigkeit, Chomsky mit seinen Ansichten gegen eine geschlossene Meinungsmehrheit in den USA antreten muss. Deren rationale (angeborene) Urteilskraft müsste somit künstlich blockiert sein. Auch diesbezüglich zeigt Foucault, dass hier eine ideengeschichtliche Konstruktion, die bekannt ist, vorliegt. Der Fortschritt wird von isolierten Individuen, die schließlich eine geistige Blockade durchbrechen, bewerkstelligt. Diese Art ideengeschichtlicher Heroenkult (quasi Herkules als Intellektueller) ist aber mit Chomskys libertären Sozialismus nicht verträglich. Die Verweigerung jeder politischen Theorie durch Chomsky, die ihn davon befreit, seine Vorgänger und deren Arbeit genauer zu benennen, führt zu einem Dilemma. Auch der Linguist und Grammatiker könnte sich wie Chomsky als politischer Autor einfach auf seine rationale Praxis berufen und jede Theoretisierung, sei es die Naturalisierung des Geistes (den Bezug über die Psychologie auf die Biologie / Neurologie und schließlich die Physik), sei es die Mathematisierung der allgemeinen Grammatik verweigern. Möglicherweise nimmt aber Chomsky an, dass von allen Geisteswissenschaften allein die Linguistik (durch seine Mithilfe) ein Niveau erreicht hat, die sie vom Meinungsjournalismus unterscheidet. Sein Lehrer Harris erkennt den Nachbardisziplinen Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft oder praktische Philosophie / Ethik einen der Linguistik und anderen Geisteswissenschaften vergleichbaren Status zu und bemüht sich, im politischen Diskurs deren Standards zu erreichen (vgl. Kap. 9.4). Chomsky muss natürlich seine politische Theorie durch die Annahme von Voraussetzungen absichern, seien dies die Allgemeinen Menschenrechte oder Prinzipien der Gerechtigkeit. Diese sind aber in der Philosophie (siehe z. B. Rawls, 1999) Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses, den Chomsky eigentlich nicht ignorieren dürfte. Auch die Demokratievorstellungen und die Frage ihrer Übertragbarkeit sind Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses (vgl. Merkel u. a., 2003, „Defekte Demokratie“), den Chomsky eigentlich reflektieren müsste. Schließlich ist seine Art, direkte Fakten, meist Zitate von Autoren oder Nachrichten aus den Medien, heranzuziehen, mit seiner Kritik des kruden Empirismus in seiner Sprachtheorie unvereinbar.18 Eine systematische Erfassung dieser Daten und die notwendige Methodenkritik würde aber seine politische Aktivität in die Hörsäle verlagern und damit seine mediale Wirkung blockieren. Chomsky findet einen Ausweg, indem er seine politische Argumentation medial, d. h. auf die direkte Wirkung, scheinbar ohne Voraussetzungen gestaltet. 18 Interessanterweise fußten auch die Analysen von Marx auf Sekundäranalysen von Quellen, die er in Londoner Bibliotheken recherchiert hatte. Chomsky pflegt einen ähnlichen Stil der Sekundäranalyse, verweigerte sich aber einer politisch-ökonomischen Theorie.
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Chomsky als politischer Intellektueller
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Als argumentatives Pendant könnte er seine linguistische Theorie als ohne praktische und politische Relevanz auffassen (zumindest war sie wohl 1955 so angelegt) und könnte behaupten, dass er sich deshalb den Luxus einer Methodenkritik und mathematischen Systemkonstruktion im Hinblick auf maximale Eleganz leisten darf. In der Komplementarität von wissenschaftlicher Strenge oder gar Askese und den Auftritten als Volkstribun oder Gewissen der Menschheit scheint das Geheimnis der Faszination, die er auf viele Intellektuelle ausgeübt hat und ausübt, verborgen zu sein. Man müsste weiter ausholen und die Geschichte der europäischen Intellektuellen und ihres Verhältnisses zum politischen Geschehen (vom Marxismus bis zum Faschismus) untersuchen, um diese Frage weiter vertiefen zu können.
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10 Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung Die Vorläufer der Soziolinguistik kann man in der Dialektologie des 19. Jh.s und der Sprachatlantenbewegung finden. Die ersten großen Sprachatlanten erschienen ab 1902 (Gilliéron und Edmont, 1902); inzwischen gibt es für große Teile der Weltbevölkerung Sprachatlanten. Die Sprachkontaktforschung erhielt großen Auftrieb im Zusammenhang der Erforschung von Pidgin- und Kreolsprachen seit den Studien von Hugo Schuchardt (1842–1927)1. Eine systematisch und als Teildisziplin fungierende Soziolinguistik entstand aber erst ab 1963 (Commitee on Sociolinguistics), und 1974 wurde (nach Vorbereitungen in Evian 1966 und Varna, 1970; vgl Kjolseth, 1971: 26 f.) beim Int. Kongress der Soziologie in Toronto eine Sektion „Soziolinguistik“ gegründet). Die Sprachkontaktforschung nimmt ihren Ausgang mit dem Forschungsbericht von Weinreich (1953). Sie wurde besonders in den 60er Jahren des 20. Jh.s, im Kontext der Erforschung von Pidgin-, Kreol- und Migrationssprachen international ausgebaut. Historisch kann man also die Entfaltung dieser beiden linguistischen Subdisziplinen in den Zeitraum: 1954 bis 1966 stellen. Damit finden diese Bewegungen in etwa zeitgleich mit der Entwicklung der generativen Grammatik (Chomsky ab 1957) und neueren Fortsetzungen des europäischen Strukturalismus bei Tesnière, Greimas und Halliday statt. Die beiden in den 70er Jahren als Gegensätze diskutierten Ansätze von Labov und Bernstein sind sprachtheoretisch am ehesten einerseits der generativen Grammatik (Labov und seine Grammatik mit variablen Regeln) und andererseits der funktional strukturalen Grammatik von Halliday (Bernstein und seine Codetheorie) zuzuordnen.
10.1 Die Erfassung der sozial bedingten sprachlichen Variation (Labov) Die zentrale und innovativste Figur in der Soziolinguistik seit 1963 ist wohl Willliam Labov. Er ist 1927 geboren, studierte in Harvard (Abschluss 1948) Chemie und arbeitete 1949 bis 1961 als Chemiker in der Industrie. Danach studierte er Linguistik und schrieb eine Magisterarbeit (1963) zum Sprachwan1
Hugo Schuchardt war ein Schüler August Schleichers und befasste sich außer mit romanischen Sprachen mit dem Baskischen und mit verschiedenen Kreolsprachen. Außerdem schrieb er drei Bände zum Thema: Sprachursprung.
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Die Erfassung der sozial bedingten sprachlichen Variation
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del in Martha’s Vineyard. 1964 promovierte er bei Uriel Weinreich, lehrte 1964 bis 1970 an der Columbia University in New York und wurde Professor der Linguistik an der University of Pennsylvania (1971). In seiner Arbeit „The Social Stratification of English in New York City“ von 1966 hatte Labov die Absicht, eine Phonologie der im New Yorker Stadtteil, Lower Eastside Manhattan gesprochenen Dialekte des Amerikanischen zu schrei ben. Die herkömmlichen funktionalen und distributionellen Methoden konnten jedoch bei der starken Unterschiedlichkeit der Sprechweisen nicht zum Erfolg führen. Da die Sprachvarianten erstens nicht regional lokalisierbar sind und zweitens je nach Kontext ausgetauscht werden, ist auch eine Einengung der Sprachgemeinschaft wie in der traditionellen Dialektologie nicht möglich. Labovs Ansatz ist somit eine partielle Erweiterung der strukturellen Dialektologie.2 Das Ziel ist nach wie vor eine möglichst systematische Grammatik (in diesem Falle Phonologie) für die betrachtete Sprechergruppe. Zu diesem Zwecke führt Labov neben der aus der Dialektologie bekannten, geographischen Ebene eine soziale Skala und eine situativ-stilistische Skala ein. Das Sprachsystem nimmt nun je nach den Werten auf diesen beiden Skalen ganz spezifische Formen an. Labov untersucht z. B. die Verwendung des konstriktiven [r] in Abhängigkeit von sozialem Status (Schicht) und Kontextstilen (von informell zu formell). Die Schichten sind klar in ihren Werten getrennt, so dass man sogar von einer Markierung der Schichtzugehörigkeit durch die linguistische Variable sprechen kann. Auffällig ist das cross-over der oberen Mittelschicht, die beim formellen Sprachgebrauch (Lesestil oder Wortlisten) die Prestige-Variante der Oberschicht noch übertrifft (sie verhält sich hyperkorrekt; vgl. Labov, 1966: 240). Wie sehr Labov bemüht ist, seine Arbeit mit der Systemlinguistik in Einklang zu bringen, zeigt sein Verzicht auf statistische Prüfverfahren. Hier mag eine weit verbreitete Abneigung besonders in der formalen Linguistik gegen quantitative und statistische Verfahren mitgespielt haben.3 Stattdessen führt er einen Strukturbegriff ein, der die Regelmäßigkeit eines Zusammenhangs zwischen zwei Skalen (also im Grunde ihre Korrelation) grob (d. h. strukturell aber nicht quantitativ-statistisch) erfasst.4 2 3
4
Cf. Weinreich (1954); Labov ist ein Schüler von Uriel Weinreich, der bereits 1954 in einem Artikel die Frage gestellt und positiv beantwortet hatte: Is a Structural Dialectology Possible? So wendet sich z. B. Chomsky (1957: 17) eindeutig gegen die Anwendung statistischer Verfahren in der Grammatikschreibung. Immerhin akzeptiert er in Miller und Chomsky (1973) für die Analyse des Sprachgebrauchs (der Performanz) eine probabilistische Erweiterung, die empirisch durch statistische Analysen zu validieren ist. Das Problem der Metrisierung und der statistischen Hypothesenprüfung ist jedoch wesentlich komplexer, so wie deren Anwendungsmöglichkeiten auch wesentlich vielfältiger sind, als es die bisherige Diskussion in der Linguistik vermuten ließ. Cf. Labov, 1966: 109 f. „Struktur“ steht in diesem Kontext gegen Messung und statistische Kontinua.
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Der wichtigste theoretische Beitrag von Labov besteht in der Erweiterung des Begriffs der freien Variation aus der funktionalen Phonologie von Trubetzkoy. Den „stilistisch relevanten Varianten“5 bei Trubetzkoy entsprechen bei Labov die stilistischen oder sozialen Varianten („part of a structure of stylistic or social variation“). Labov wählt wenige herausstehende Variationsphänomene aus und untersucht deren soziale und stilistische Distribution in der Gesellschaft. Ich will zur Ergänzung der kurz erwähnten phonologischen Variation des konstriktiven [r] ein Beispiel aus der Morphophonologie geben. Bei der Untersuchung der morphologischen Variation fragt sich Labov zuerst, ob das Black Vernacular English (BEV) in New York City überhaupt eine Kopula BE hat (wie etwa das Standard-Englische) oder ob diese Kategorie gänzlich fehlt. Letzteres würden die benachbarten Kreols, z. B. die französischen Kreols der Karibik oder das englische Kreol von Trinidad nahe legen. Da die Kopula in der Vergangenheitsform (was), mit Negation (ain’t) in Verschmelzung mit I (I’m) auftritt, entscheidet sich Labov, kategorial eine Kopula anzusetzen, die dann in der phonologischen Komponente entweder gekürzt (contraction) oder getilgt wird (deletion). Im Falle der finiten Form der Kopula „is“ fand Labov zumindest in den untersuchten Jugendgruppen (Alter 9–17 Jahre) ein recht konsistentes Bild. Die Häufigkeit der Kontraktion und Tilgung der Kopula ist erstens stark abhängig vom Auftreten eines Pronomens (positiv) bzw. eines Nomens (negativ) vor der Kopula und zweitens von der Realisierung der nachfolgenden Satzteile (geordnet nach abnehmender Häufigkeit der Tilgung; vgl. Labov, 1972: 67 f:, 86 f:): –– gon: He gon’ try to get up (Futur mit going V) –– Ving: Boot always comin’ over my house to eat, to ax for food (progressive Verbform) –– PA: He fast in everything he do (prädikatives Adjektiv) –– Loc: You out the game (lokales Adverb) –– NP: She the first one started us off (Nominalphrase im engeren Sinn; später werden die Fälle PA, Loc und NP zusammengefasst) Im System der phonologischen Regeln des BEV erscheinen als Ergebnis der Modellierung zwei Regeln zur: „auxiliary contraction“ und „auxiliary deletion“ (ibidem, 112), von denen wir die Tilgungsregel kurz erläutern, die den nach der Kontraktion verbliebenen Konsonanten beseitigt, z. B. das bei , das bei und das bei . Das betroffene Element ist phonologisch durch das Merkmal konsonantisch [+cons.] charakterisiert. Die 5
Trubetzkoy (1958) spricht von stilistischen Varianten, die neben Geschlecht vor allem soziale Eigenschaften markieren können. Er weist sogar auf die Hyperkorrektheit hin: „Konventionelle lautliche Kundgabemittel bezeichnen nicht immer das, was der Sprecher in Wirklichkeit ist, sondern oft nur das, was er im gegebenen Augenblick sein will.“ (ibidem: 23).
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Regel ersetzt dieses Segment durch das leere Segment (∅), wobei diese Regel variabel ist, was durch eine eckige Klammer angezeigt wird. Als Kontexte werden die Merkmale [+Pro> (links) und [+ Vb], [+Fut.], [–NP] und einige phonologische Merkmale des vorangehenden Auslautes angeführt (vgl. ibidem: 112; Regel 13). Wenn den Merkmalen noch Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden, kann die Grammatik je nach Sprechergruppe und Stil die beobachteten Häufigkeitsverteilungen simulieren und damit den spezifischen Sprachgebrauch einer sozialen Gruppe genau beschreiben. Dazu muss allerdings ein neues Grammatikformat gefunden werden; Labov schlägt deshalb eine (generative) Grammatik mit variablen Regeln vor. Ich will kurz auf den neuen Regelbegriff eingehen. Gehen wir von der allgemeinen Form einer kontextsensitiven Grammatikregel aus:6 A → Z / X_Y; d. h. ersetze im Kontext X – Y, A durch Z. Nehmen wir eine Menge solcher Regeln an, so kommt die Regel: A → Z / X_Y zwingend zur Anwendung, wenn XAY als Kette vorliegt. Die variable Regel steuert nun die Anwendung der Regel durch einen Faktor f: 0 ≤ f ≤ 1. Dieser Faktor legt fest, in wie viel Prozent der potentiellen Regelanwendungen die Regel tatsächlich zur Anwendung kommen soll. Da nicht alle Regeln einen Faktor f erhalten, wird eine besondere Regelkonvention eingeführt. Wenn die Regel von der Form A → / X_Y ist (d. h. wenn das Ergebnis der Regel in spitzen Klammern steht), wird zuerst der Faktor f zu dieser Regel festgelegt, der dann über die Regelanwendung (ob und wie häufig) entscheidet. Der Faktor f wird aus den soziolinguistischen Werten der Sprecher / Sprechergruppe und des Kontextstils berechnet, wozu verschiedene multiplikative oder additive Formeln vorgeschlagen wurden.7 Der Anwendungsbereich dieser Technik sind besonders variable, in einem Anpassungskontinuum befindliche und prestigeschwache Sprachen. Sie befinden sich aufgrund der Spezifik der Kontaktsituation und des historischen Prozesses in einer Phase hoher Instabilität, obwohl sie als voll funktionierendes Verständigungsmittel immerhin so systematisch sein müssen, dass eine problemlose Kommunikation in den jeweiligen sozialen Netzen möglich ist. In diesen Situationen findet eine äußerst sensible Abbildung der Eigenschaften sozialer Kommunikationsnetze in die Strukturen von Sprache statt. In Labov (1972: Kap. 7) wird gezeigt, dass sogar die jeweilige Position des Sprechers in der Adoleszentengruppe (als zentrales oder als peripheres Mitglied) für sein Sprachverhalten Folgen hat und dass dieses Sprachverhalten mit der jeweils herrschenden Gruppenideologie in Verbindung steht. Solche Gruppen können sich au6 7
Cf. Chomsky, 1969: 91 f. und Kap. 9.4. Auf die unterschiedlichen Modelle der Gewichtung von Bedingungen, welche die Anwendung der Regel steuern, können wir hier nicht eingehen. Die drei diskutierten Modelle (additives, multiplikatives, logistisches Modell) sind monotone Modelle. Für eine Darstellung der mathematischen Modelle einer Variationsanalyse siehe: Sankoff (1978).
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ßerdem durch Vereinigung mit anderen Gruppen und durch den Anschluss an überörtliche Bewegungen sehr schnell verändern. Die Soziolinguistik muss in der Konsequenz Sprach- und Sprachverhaltensmodelle entwickeln, welche dieser schnellen Dynamik und den in ihr auftretenden Fluktuationen gerecht werden. An dieser Stelle zeigt sich besonders dramatisch der Kontrast zu den sprachtheoretischen Positionen innerhalb der allgemeinen Grammatikforschung. Die Sprachtheoretiker beschreiben häufig in erster Linie den eigenen Dialekt und den von Kollegen, die theoretisch mit ihnen übereinstimmen. In fast allen Fällen besteht eine große Distanz zur ursprünglichen Sprachkultur (z. B. der Kultur, in der ein Linguist als Jugendlicher eingebettet war), und der Linguist orientiert sich an sekundär vermittelten Normen.8 Es ist offensichtlich, dass sich eine Grammatik, wie sie Labov vorschlägt, in ihren Zielsetzungen von den klassischen Kompetenz-Grammatiken entfernt. Die Erfahrungen mit den Grammatiken, welche variable Regeln enthalten, zeigen deutlich, dass die Grammatik im interdisziplinären Kontext als eine Heuristik mit klassifikatorischem Potential anzusehen ist, die dazu benutzt werden kann, sprachliche Daten sehr unterschiedlicher Provenienz in einheitlicher Weise und in der Kompliziertheit ihrer strukturellen Abhängigkeit zu erfassen. Die Innovation der variablen Regeln ist in diesem Kontext nützlich, da sie eine realistischere, den Daten besser gerecht werdende Klassifikation und statistische Erfassung erlaubt.
10.2 Nachbarschaftsnetze und sprachliche Innovationen In den Jahren 1975–1981 führten James und Lesley Milroy in Belfast (Nordirland) eine soziolinguistische Studie durch, die methodisch zum Vorbild ähnlicher Untersuchungen, z. B. durch Labov in Philadelphia, wurde. Sie baut primär auf Nachbarschaftsnetze und bevorzugt die teilnehmende Beobachtung; es werden aber auch komplementäre Methoden zur Ergänzung benützt. Die zentrale Nachbarschaftsstudie (vgl. Milroy, 1980, und als Zusammenfassung Milroy und Gordon, 2003: 72–78) bestimmte fünf charakteristische Nachbarschaften im Stadtgebiet von Belfast: drei waren „low-status inner-city areas“, zwei weiter außen gelegene hatten eine Bewohnerschaft, die eher zur sozialen Gruppe der „upper-working to lower-middle class“ zählten. Außerdem gab es religiöse Unterschiede: katholisch vs. protestantisch, die sich in den beiden letztgenannten Nachbarschaften klar abgegrenzt gegenüberstanden. Die 8
„The great majority of linguists (…) were already detached from the main peer group activity in early adolescence as they pursued their own interests, and by the time they enter graduate studies in linguistics are at some distance from the majority of vernacular speakers in their community.“ (Labov, 1972: 290 f.)
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Sprachvariation und Sprachwandel
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Interviewer kamen entweder selbst aus den Nachbarschaften oder wurden über eine ausgewählte Bezugsperson als „friend of a friend“ eingeführt. Ziel war es, unauffällig und behutsam eine lose („lose-knit“) Nachbarschaft zu untersuchen und daraus dann Einsichten zur Kommunikation in der Stadt oder gar in vergleichbaren Städten zu gewinnen. Für die Anwendung ähnlicher Methoden in Philadelphia siehe Labov (1994, 2001). Es gab nur einen groben Interviewleitfaden (Beruf, Ausbildung, Familienbeziehungen, vorherige Wohnorte) und es wurden hauptsächlich Beispiele des spontanen Gesprächs bei minimaler Beteiligung des Interviewers auf Tonband aufgezeichnet. In einem zweiten Zugang wurde aus einer Wohnungsstichprobe ein Untersample (zufällig) ausgewählt. Die Interviewer machten an der Tür, im Gang ein kurzes Interview, bei dem Wortlisten mit Aussprachevariablen im Vordergrund standen (insgesamt wurden 73 Sprecher interviewt; Dauer 10–15 Minuten). Da Belfast eine Industriestadt ist, deren Bevölkerung teilweise aus dem Umland stammt, so dass sich der Einfluss der dort gesprochenen Dialekte bemerkbar macht, wurde eine Studie zum ländlichen Hinterland angeschlossen. Labov (2001: Kap. 12) geht einen Schritt weiter und erstellt „Portraits of the Leaders“, d. h. von besonders zentralen Mitgliedern einer Nachbarschaft, die sehr viele soziale Kontakte haben. Sie sind Schaltstellen des Sprachwandels und werden deshalb ausführlicher betrachtet. Vergleicht man die Nachbarschaftsuntersuchungen mit Labovs Untersuchungen zu New York City von 1966, so wird deutlich, dass sich mit der Zeit Mikroanalysen in überschaubaren Netzwerken als besonders aufschlussreich erwiesen haben, da sie die Wirkungszusammenhänge, welche Gesellschaft und Sprache verbinden, klarer hervortreten lassen.
10.3 Sprachvariation und Sprachwandel Die moderne Dialektologie, die soziolinguistisches Know-how nützt und die Städte und Ballungszentren, die Nachbarschaftsnetze und Jugendkulturen gebührend berücksichtigt, kann der Realisierung des seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehegten Traumes, endlich näher kommen und die Dynamik des Sprachwandels aufdecken. William Labov hat die Dynamik der Absonderung (des Widerstands gegen Veränderungen, insbesondere von außen) und der Anpassung bereits 1963 auf der Insel Martha’s Vineyard untersucht. In seiner Studie zur Sprachvariation in New York City (Manhattan, Lower East Side, 1966) hat er das Phänomen der Überkorrektheit, d. h. der übertriebenen Anpassung in der Mittelschicht beschrieben und damit den bevorzugten Ort des Sprachwandels, d. h. die sozial mobile Mittelschicht, hervorgehoben. Außerdem wurde die Altersschichtung der Gesellschaft, die quasi ein Spiegelbild des Sprachwandels von einer Generation zur nächsten ist, in den Mittelpunkt ge-
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Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung
rückt. Die Zeitachse des Vergleichs von Altersschichten wird dabei als „apparent time“ bezeichnet. Wenn die Gesamtbreite der Altersvariation 50 Jahre beträgt, gibt es einen mittleren Bereich und jeweils Gruppen, die bis zu 25 Jahre jünger oder älter sind. Das Zentrum wird mit dem Mittelwert der Variable belegt. Ein Vektor gibt dann die Richtung der Veränderung an. Die Spitze des Vektors steht für die Sprecher, die bis zu 25 Jahre jünger sind, der Schwanz des Vektors für diejenigen, die 25 Jahre älter sind. Zusätzlich markiert Labov (2001: 143) mit der Dicke des Pfeils das Signifikanzniveau der Veränderung (P < 0.10 [Tendenz] bis P < 0.001 für hochsignifikant). Abbildung 6 erläutert diese Konventionen grafisch.
ältere Sprecher (+25)
junge Sprecher (−25) Mittelwert
Stärke des Vektors: Signifikanzniveau der Unterschiede (von p < 0,10 bis p < 0,001) Länge des Vektors: Stärke der Veränderung im Verhaltensraum Richtung des Vektors: Was wird in was verändert? Abbildung 6: Erläuterung der Vektorkonventionen in Labov (2001) In Abbildung 7 wird eine Auswahl der von Labov (ibidem: 143) gefundenen Veränderungen, soweit sie sich in der Alterschichtung abzeichnen, dargestellt. Den Rahmen bilden die beiden Hauptformanten (Intensitätsmaxima der Frequenzen F1 und F2) für Vokale. Das zugrunde liegende Vokalssystem des Dialektes in Philadelphia unterscheidet einfache kurze Vokale, verschiedene Typen von Diphthongen (glide): vordere (front glide) [iy], [ay], hintere (back glide) [aw], [uw], und so genannte „inglides“ [æh], [oh], die häufig in einer Längung des Vokals bestehen (ibidem: 128). Außerdem werden einige Allophone berücksichtigt, z. B. in offener Silbe (F), geschlossener Silbe (C), vor Nasal (N) oder [r] (R). Die vektorielle Darstellung veranschaulicht das Bewegungsfeld des Sprachwandels, der in dieser Population abläuft anhand der Alterschichtung („apparent time“).
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Sprachvariation und Sprachwandel
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F2
>
2600 2400 2200 2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 400 iyC 450 uwC ohr 500 550 æhN 600 F1 650 700 aw ay0 750 800 850 900
Abbildung 7: Vektorielle Darstellung des Wandels einiger Vokale in Philadelphia (Ausschnitt) In den Untersuchungsfeldern, für die seit Jahrzehnten genaue Messungen vorliegen, etwa seit Labovs Untersuchungen in Martha’s Vineyard (Labov, 1963) und New York (Labov, 1966), können auch Analysen in „real time“ erfolgen, d. h. als Vergleich von Sprechern oder Sprecherpopulationen (mit gleichem Sozialstatus, Geschlecht, ethnischem Hintergrund) zu verschiedenen Zeitpunkten; idealerweise alle 10, 20 Jahre. Labov hat versucht, den Fehler einer Analyse in „apparent time“ gegenüber einer solchen in „real time“ abzuschätzen (vgl. ibidem: Kap. 3). Er kommt zu dem Schluss, dass die Altersschichtung zumindest eine wesentliche Komponente des Sprachwandels in realer Zeit wiedergibt. Allerdings spielt beim Sprachwandel der soziale Ort der Sprecher eine wesentliche Rolle. So sind sozial zentralere Gruppen (mit Zugang nach oben und unten in der sozialen Hierarchie) eher Orte des Wandels und entsprechend ist auch die Altersschichtung dort stärker ausgeprägt. Dabei sind folgende Phänomene wichtig: – –
–
Sprachwandel von unten (selten von den Extrempunkten der sozialen Skala ausgehend). Die Veränderung breitet sich quasi epidemisch und unbemerkt aus. Korrektur von oben. Dem Sprachwandel von unten kann ab einem Punkt, wo er als Wandel oder Differenz zu einer Norm wahrgenommen wird, Widerstand entgegengesetzt werden; damit wird der Prozess verlangsamt. Der Widerstand geht meistens von den eine Norm stützenden Schichten aus (also von oben). Stigmatisierte Sprechweisen können von Randgruppen (z. B. von Jugendlichen oder von älteren Leuten, die einer gewohnten Sprechweise treu bleiben) gepflegt und erst bei stärkerem Widerstand, der von einer (neuen oder alten Norm) ausgeht, aufgegeben werden.
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Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung
Jenseits einer immer genaueren Analyse des Beitrages der sozialen Schicht, der Altersgruppen, des Geschlechts und der ethnischen Zugehörigkeit (u. a.) zum Sprachwandel gibt es Fragen, die einerseits die großräumige Verteilung und die historischen Konsequenzen des Sprachwandels betreffen, andererseits das Sprachsystem, das z. B. durch den lautlichen Wandel destabilisiert wird, indem distinktive Funktionen verschwinden, Mehrdeutigkeiten durch Verlust der Unterscheidung (mergers) erzeugt werden, wodurch quasi das Gebäude der Sprache „erodiert“. Die erste Frage wird von Labov anhand so genannter Kettenveränderungen (shifts) behandelt. Der 2006 von Labov u. a. herausgegebene Sprachatlas der Vereinigten Staaten zeigt einige großräumige Veränderungen, etwa den North ern City Shift, der die Großstädte südlich der kanadischen Grenze betrifft, auf. Labov kann nachweisen, dass diese, eine historische Dimension erreichenden Erscheinungen des Lautwandels sich entlang alter, seit der Erstbesiedlung bestehender Migrationsrouten ausbreiten, d. h. langfristige Bevölkerungsverände rungen prägen sich der Sprachstruktur auf, unabhängig davon, wie zufällig und sozial variabel die Veränderungen im Einzelnen sind. Abbildung 8 zeigt, wie sich die Vokale im Vokaldreieck in einem zentralen und einem peripheren Feld verschieben. Da viele solche Verschiebungen gleichzeitig stattfinden, spricht man auch von Kettenverschiebungen.9 In der Folge gibt es Mehrdeutigkeiten, da manche Wörter in ihrer Aussprache zusammenfallen (mergers). Die Sprache toleriert durchaus einen gewissen Anteil von solchen Nichtunterscheidbarkeiten (dies begrenzt übrigens das Funktionalitätsprinzip der Phonologie Trubetzkoys; vgl. Kap. 4.2). In Abbildung 8 werden exemplarisch einige der Ketten im Vokaldreieck dargestellt; dabei spielen verschiedene Bewegungsrichtungen und die Zentralität bzw. die Dezentrierung eine Rolle.
bit i
6 bet e 1 cat
4
æ
but 5 ^ 2
o
3
oh caught
cot
Abbildung 8: Kettenverschiebungen in den östlichen Städten der USA (Northern City Shift; vgl. Labov, 2007: 372) 9
Historische Äquivalente in der Geschichte der deutschen Sprache sind die erste und zweite Lautverschiebung.
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Bernsteins Codetheorie: Entwicklung und Kontexte
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Gleich zu Beginn des zweiten Bandes von „Principles of Linguistic Change“ vergleicht Labov die Sprachvariation und den Sprachwandel mit der biologischen Evolution nach Darwin; er spricht von einem „Darwinian Paradox“. Oberflächlich scheint eine Parallelität vorzuliegen, die in den Gleichungen Mutation = Variation, Selektion = soziale Anpassung zum Ausdruck kommt. Labov zieht aus seinen soziolinguistischen Studien aber den Schluss, dass diese Analogie in die Irre führt. Sprachwandel und Sprachvariation sind für Labov leistungsinvariant, d. h. sie verbessern die Sprache nicht, machen sie aber auch nicht schlechter; das System bleibt insgesamt (seiner Meinung nach) im Gleichgewicht. Die Hypothesen Bernsteins, die im Folgenden skizziert werden, widersprechen dieser Ansicht, allerdings geht es dabei weniger um den Sprachwandel als um Code-Unterschiede, d. h. um den situativen Sprachgebrauch. Auf die Frage einer längerfristigen Sprachevolution, welche erst die zentralen Leistungsmerkmale menschlicher Sprachen entstehen ließ, kommen wir in Kap. 13.3 zurück.
10.4 Bernsteins Codetheorie: Entwicklung und Kontexte Basil Bernstein (1924 bis 2000) betreute nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst Jugendliche im „boy’s club“, einer jüdischen Einrichtung für neun bis achtzehn Jahre alte Jugendliche. 1947 begann er sein Studium an der London School of Economics: Richtung Soziologie. Die Lektüre der klassischen Arbeiten von Emile Durkheim bildete einen seiner Schwerpunkte.10 Er wechselte zum Lehrerstudium, das er 1954 zum Abschluss brachte. Danach unterrichtet er berufstätige Jugendliche und experimentiert mit Dichtung, wobei ihn „die Faszination der Verdichtung des Impliziten“ beeindruckt. 1956 liest er die Werke von Edward Sapir, Benjamin Lee Whorf und Ernst Cassirer. Bernstein veröffentlicht 1959 einen Aufsatz zur „öffentlichen Sprache“, dem späteren „restringierten Code“. Vorbild für die empirische Arbeit Bernsteins war eine amerikanische Arbeit von Strauss und Schatzmann (1955), die Personen interviewten, welche vor einem Tornado flohen. Dabei wurden verschiedene „modes of communication“ registriert und deren Kontext- bzw. Erlebnisabhängigkeit aufgezeigt. Aus Arbeiten der sowjetischen Psychologen Wygotsky und Lurya übernimmt Bernstein die Idee von Sprache als einem regulierenden und orientierenden System. Ab 1960 (bis 1962) arbeitete Bernstein am Institut für Phonetik unter der Leitung von Frau Goldmann-Eisler (London University College) und lehrte weiter am City College. In dieser Zeit veröffentlichte er die zentralen Artikel zu 10 Siehe den Begriff der organischen und mechanischen Solidarität bei Durkheim: http: / / www.dhm.de / lemo / html / biografien / DurkheimEmile
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Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung
seiner Codetheorie in der Zeitschrift: „Language and Speech“. Der Code wurde als Maß der Nützung einer Grammatik und eines Lexikons (nicht als Variante einer Grammatik) bestimmt. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Vorhersagbarkeit und die Denkpausen (hesitation phenomena). Die Kritik an seinen Hypothesen (z. B. durch Lawton, 1969) betraf u. a.: –– Die Vernachlässigung der Situationen des Sprachgebrauchs, –– Die Überbewertung der Vorhersagbarkeit. In der weiteren Entwicklung spielten (aufgrund der neuen institutionellen Einbettung) soziologische und pädagogische Aspekte die Hauptrolle: –– Verfeinerung des Begriffs der sozialen Klasse durch den der Familien- Rollensysteme, –– Orientierungsformen: Objektbezug versus Personenbezug. Die in London favorisierte Grammatik war die funktionale Grammatik nach Halliday (vgl. Kap. 11.3). In diesem Kontext hatten Halliday und Hasan (1976) eine Theorie der Textkohäsion entwickelt. Bernstein sah jetzt im Text eine bessere Realisierung seiner Code-Idee als im Lexikon oder auf der Satzebene. Sekundär beeinflusst aber die Textstruktur auch die Verwendung der Lexik und der Grammatik. Bernstein adaptierte zum Zwecke dieser Erweiterung ein System von Sprachfunktionen nach Halliday, das er von sieben auf vier vereinfachte: –– –– –– ––
regulierend, lehrend, interpersonal, imaginativ
Diese Funktionen sind mit unterschiedlichen Sozialisationskontexten korreliert. Für jede der Funktionen nimmt Halliday eine eigene „Grammatik“ an. Diese Bernstein-Thesen werden in der Halliday Schule bis heute weiter diskutiert (z. B. in einer Reihe von Kongressen)11. In Deutschland waren die Versuche seine Hypothesen zu prüfen nicht sehr erfolgreich, d. h. die von Bernstein in London vorgefundene Sprachsituation hat in deutschen Städten kein Äquivalent. Außerdem wurden seine Methoden als unzureichend angesehen; alternative Messverfahren z. B. in Oevermanns Untersuchung von 1970: „Sprache und soziale Herkunft“ waren zu sehr an der Norm orientiert und zu zufällig in der Auswahl der Messwerte. Ein Modell zur Messung von semantischer und pragmatischer Variation und von Explizitheitsunterschieden wurde in Wildgen (1977a) entwickelt
11 Das 6. Internationale Basil Bernstein Symposium findet in Brisbane (Australien) vom 30. Juni bis 3. Juli 2010 statt: http: / / www.griffith.edu.au / conference / bernsteinsymposium-2010.
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Soziolinguistische Gesprächsanalyse
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und in Wildgen (1977b) angewandt. Insgesamt scheint der Code als Form des situativ abhängigen, sozial motivierten Sprachgebrauchs sehr variabel und mit den verfügbaren Instrumenten nur schwer erfassbar zu sein.
10.5 Soziolinguistische Gesprächsanalyse Dass Sprache im Gespräch stattfindet, dass sie in Lebenszusammenhänge einge bunden ist, mit sozialen Prozessen (in Familie, Ausbildung, Beruf, Freizeit) einhergeht oder für diese konstitutiv ist, dies erscheint offensichtlich. Erst im 20. Jh.s, und dies auch erst recht spät, wurde das Gespräch als einheitlicher wissenschaftlicher Gegenstand wieder entdeckt.12 Dies geschah in teilweise voneinander unabhängigen Bewegungen –– Der philosophische Pragmatismus (besonders in den USA) versuchte sowohl die Wissenschaft als auch die Sprache wieder an Zwecke, an eine Praxis, an zielgerichtetes Handeln anzubinden. Charles Morris entwarf die Idee einer Pragmatik. Sie umfasst Sprecher, Hörer (deren Motivationen, Intentionen, Verstehenshorizonte) und die Situation, in welche die Sprech handlung eingebettet ist. –– Die von Husserl ausgehende phänomenologische Soziologie und Ethno methodologie führten in den USA (Sacks, Schegloff) und England (Garfinkel) zu einer, am Gespräch als grundlegendem Phänomen gesellschaftlichen Handelns ausgerichteten Soziologie. Die empirischen Arbeiten dieser Autoren sehen Sprache primär als Aktualisierung mikrosoziologischer Prozesse (in Familie, Kleingruppe, Nachbarschaft) an. Dabei werden grundlegende Mechanismen, wie der Sprecherwechsel und das Aushandeln von Alltagsinterpretationen aufgedeckt. –– Neben der soziologischen Konversationsanalyse entstanden die Ethnogra phie des Sprechens (Hymes 1964) und die Interaktionsanalyse von Goffmann. Goffmann (1967) untersuchte besonders Ritualisierungen im Alltag und spezielle Diskurse, z. B. in der Psychiatrie: Wie interpretiert der Therapeut oder die Familie das Tun und Sprechen eines psychisch Kranken? In der Ethnographie des Sprechens werden Sprechweisen, Intonationsmuster, paralinguistische Signale systematisch als Hinweise genützt, die dem Analysierenden (teilweise den Beteiligten) Aufschluss geben über das „was pas12 Eine frühe, später im französischen Strukturalismus (siehe Kap. 11.1) wieder aufgenommene Thematik, stellt neben „langue / parole“ (nach de Saussure) die „énonciation“, d.g..h. die situationsspezifische Realisierung, die prinzipiell diskursiv ist. Als erster hat wohl Bakhtine Ende der 20er Jahre den Gegensatz von Bedeutung in der „langue“, er spricht von „signification“, und im Diskurs, in der Situation, er spricht von „thème“, herausgearbeitet; vgl. dazu Todorov (1981).
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Die Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung
siert“. In dieser Tradition stehen auch Arbeiten der feministischen Linguistik, so Lakoff, Robin (1975) und Tannen (1984, 1989 und 1990). Die letztgenannte, eher populärwissenschaftliche Arbeit: „You Just Don’t Understand Me!“ stellt wohl den größten Verkaufserfolg eines linguistischen Buchs im 20. Jh. dar. Die Sprachwissenschaft der 70er und 80er Jahre griff diese vielfältigen Ansätze auf, konzentrierte sich aber stärker auf die sprachlichen Aspekte, d. h. auf das Wie der sprachlichen Realisierung. Die folgenden zentralen Aufgaben bleiben dabei eher im Fokus der Sprachwissenschaft als der anderen Disziplinen: –– Die Semantik und Syntax von Sprechaktverben und die der speziellen Ge sprächsindikatoren. –– Die grundlegenden Regularitäten des Gesprächs (sozusagen deren Diskursgrammatik), wobei der wesentlich offenere Charakter dieser „Regeln“ zu beachten ist. –– Die soziolinguistische Variabilität von Diskursregularitäten (in Abhängigkeit von regionalen / dialektalen Traditionen, Geschlechts- / Schicht- und Altersunterschieden). Die einzelnen Richtungen der Soziolinguistik und Kontaktlinguistik sind bisher nur ungenügend integriert worden, was einerseits am Fehlen einer Theorie der Interaktion von Sprache und Gesellschaft, andererseits an der Disparität der aus verschiedenen Traditionen „ausgeborgten“ Methoden und Begrifflichkeiten liegt. Die auf die Grammatik zentrierten Hauptbewegungen der Linguistik (die ja auch in diesem Buch im Vordergrund stehen) haben ihrerseits nicht auf die Herausforderung der neuen Teildisziplinen von der Sozio- bis zur Biolingusitik reagiert (vgl. zur Biolinguistik Kap. 13.2).
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11 Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus: Greimas und Halliday In den 60er und verstärkt ab den 70er Jahren des 20. Jh.s kamen zwei Schulen zu einer auch über Europa hinausreichenden Wirkung. Eine davon ist die „École Sémiotique de Paris“, gegründet auf die Arbeiten von Greimas, die andere geht auf den Briten Halliday zurück. Ich werde das frühe (1966) Hauptwerk von Greimas „Sémantique structurale. Recherche d’une méthode“ (1971 in deutscher Übersetzung „Strukturale Semantik“ erschienen) und Aspekte seines späteren Werks sowie Vorschläge seiner Anwender (Floch) und konstruktiven Kritiker (Petitot-Cocorda, Brandt) kurz darstellen. Dies kann nur als eine knappe Hinführung zum Werk von Greimas verstanden werden. Zu dem im romanischsprachigen Raum einflussreichen Greimas gibt es ein englisches Pendant, insbesondere was die Eigenständigkeit gegenüber der ab 1970 dominanten Chomsky-Bewegung und die semiotische Orientierung angeht. Dies ist die funktionale und soziosemiotische Grammatik von M. A. K. Halliday. Sie hat als nationale Bezüge die Arbeiten zur englischen Phonetik und Angewandten Linguistik von John Sweet (1845–1912) und der „London School of Linguistics“ von John Rupert Firth (1890–1960).1 Besondere Bedeutung für Halliday hatten auch die Arbeiten des Kopenhagener Strukturalismus (Hjelmslev, Brøndal), und man kann darin, also in der Verwurzelung im Europäischen Strukturalismus, eine Gemeinsamkeit der beiden Schulen sehen, die sich im Übrigen gegenseitig fast vollständig ignoriert haben.2 Indirekt gibt es eine Gemeinsamkeit dadurch, dass beide auf strukturale Grammatiken eines neuen Typs aufbauen. Halliday bezieht sich auf die Stratifikationsgrammatik von Lamb, Greimas auf die Dependenz-Grammatik von Tesnière. Auch der starke Anwendungsbezug mit Hervorhebung des Sozialen und Semiotischen ist beiden Schulen gemeinsam. Sieht man von der späteren Tätigkeit Hallidays in Australien ab, kann man anmerken, dass in Paris und London (heute nur durch zwei Stunden Zugfahrt 1
2
Er stellte die kontextuelle Bedeutungstheorie, die Kollokation und das Zusammenwirken unterschiedlicher Systeme (Polysystemizismus) in den Mittelpunkt. In der Phonologie legte er einen Schwerpunkt auf die Prosodie und suprasegmentale Eigenschaften; einige dieser Aspekte finden sich auch in Hallidays Werk wieder. Eine Eigenart der Nachkriegslinguistik in Europa ist, dass sie in allen Ländern nach Amerika ausgerichtet wurde, die jeweiligen nationalen Richtungen dagegen innereuropäisch kaum registriert wurden.
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
getrennt) vollkommen getrennte Theorie-Imperien entstanden sind. Das „Greimas-Imperium“ dehnte sich auf die romanischsprachigen Regionen der Welt (bis Südamerika) aus, das „Halliday-Imperium“ dagegen über das ehemalige Commonwealth. Dass die beiden Schulen nie zusammengearbeitet haben, bleibt ein Kuriosum der Europäischen Geistesgeschichte (beide „Territorien“ gehörten gleichzeitig zum Expansionsgebiet der „Generative Linguistics over the World“ [GLOW]).
11.1 Die strukturale Semantik (Greimas): Grundprinzipien Der Litauer Algirdas Julien Greimas studierte in Frankreich (Licence in Grenoble 1939) und schrieb seine Doktorarbeit (Thèse) an der Sorbonne (1948). Seine ursprüngliche Orientierung war eher traditionell philologisch; in seiner zwölfjährigen Lehrtätigkeit im Nahen Osten (Alexandria, Ankara, Istanbul) erarbeitete er sich aber mit seinen Studierenden die neue Linguistik in der Tradition des Europäischen Strukturalismus (Genfer, Prager, Kopenhagener Schule) und bezog auch neuere amerikanische Strömungen einer eher logisch orientierten Linguistik (Bar-Hillel, Chomsky) mit ein. Insgesamt dominiert aber ein methodologischer Eklektizismus, der mit der Bemühung um literaturwissenschaftliche Anwendungen verbunden ist. Für die konkrete Ausführung seiner Modelle waren besonders wirksam: –– die Valenztheorie von Tesnière (siehe Kap. 6), –– die morphologische Märchenanalyse von Vladimir Propp, 1928 (erste Übersetzung ins Englische 1958, zweite verbesserte russische Auflage 1969),3 –– die Komponenten- oder Sem-Analyse nach Pottier.4 Von Tesnière übernimmt Greimas die Einteilung in Aktanten und Zirkumstanten; als Typen von Aktanten übernimmt er das Subjekt (1. Aktant) und Objekt (2. Aktant). Das „Objekt“ wird zwar semantisch interpretiert (ähnlich einem Patiens) aber syntaktisch definiert, z. B. „objet directe ≈ Akkusativobjekt“. Der 3
4
Die Tatsache, dass Propp seine typologische Analyse als Basis für eine diachrone Analyse aufgefasst hatte, und die unvollständige und verzögerte Tradierung, machen es schwierig, deren Wirkung in den 50er und 60er Jahren zu präzisieren. So bleibt unklar, wie viel Lévi-Strauss vor dem 1955 erschienenen Artikel „L’analyse structurale du mythe“ von Propps Arbeit kannte (die erste Übersetzung in Englische erschien erst 1958). Bernard Pottier (*1924) hat zur Linguistik des Spanischen und Französischen publiziert und wurde durch seine Arbeiten zur Semantik auch international bekannt, vgl. Pottier (1992). Es gilt als einer der Vertreter des Strukturalismus in Frankreich und hat sich später auch mit Themen der kognitiven Linguistik befasst; vgl. http: / / fr.wikipedia. org / wiki / Bernard_Pottier.
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Die strukturale Semantik: Grundprinzipien
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3. Aktant (indirektes Objekt) erscheint im Paar Adressant – Adressat als zweites Glied der Opposition. Der Adressant kann mit dem Subjekt zusammenfallen, d. h. die Aktanten sind wie Seme zu Komplexen kombinierbar. Von Propp übernimmt Greimas die sekundären Aktanten: Adjuvant und Opponent. 5 Dies ergibt eine Liste von sechs Aktanten (Greimas, 1971: 142). Subjekt
––––––
A1
Objekt
––––––
A2
Adressant
––––––
A3
Adressat
––––––
A4
Adjuvant
––––––
A5
Opponent
––––––
A6
Im „mythischen Aktanten-Modell“ (ibidem: 165) werden die sechs Aktanten in einem dynamischen Kontext interpretiert. Im Zentrum steht das Objekt des Begehrens (Objekt). Adressant
→
Objekt
←
Adressat
←
Opponent
↑ Adjuvant
→
Subjekt
Tabelle 12: Das mythische Aktantenmodell (ibidem: 165). Die Dynamik resultiert aus der Energetik der Aktanten, z. B. dem Begehren des Subjekts (ibidem: 171). So begehrt etwa im Kontext des Märchens der Held (Subjekt) das Wertobjekt („objet de valeur“), etwa den Schatz oder die Prinzessin. 5
Der historische Kontext wird in Métélinski (1969 / 1970) dargestellt. Den Aktanten bei Greimas entsprechen demnach bei Propp: Subjekt > Held, Objekt > Prinzessin, der Adressat ist ebenfalls der Held, während der Adressant der Vater der Prinzessin oder der Auftragsgeber ist. Dem Helfer entsprechen das magische Hilfsmittel bzw. dessen Spender. Métélinski, dessen Analyse im Nachtrag der zweiten verbesserten Auflage von Propp 1969 erschien, diagnostiziert bei Greimas eine Mischung aus Kategorien von Lévi-Strauss, Propp und Tesnière, wobei der konkrete Bezug zu einer spezifischen Gattung (etwas den russischen Zaubermärchen bei Propp) verloren geht. Außerdem muss die Arbeit von Propp als Basis für eine kulturhistorische, d. h. diachrone Analyse gesehen werden, die zuerst in einem zusätzlichen Kapitel des Buchmanuskripts, das dann weggelassen wurde, thematisiert worden war und dann 1946 als eigenes Buch: „Historische Wurzeln des Zaubermärchens“ herausgegeben wurde (Propp, 1946). Propp sah die Mythen als einen historischen Hintergrund von Märchen, während Lévi-Strauss die Märchen als abgeschwächte Mythen verstand. Die Geschichte dieser Entwicklung ist komplex und besser in einem literatur- oder ethnologiehistorischen Kontext als in einem linguistischen darstellbar.
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
Die Prädikate, die zusammen mit den Aktanten den Satz konstituieren, werden unterteilt in Funktionen (F) und Qualifikationen (Q). Außerdem führt Greimas Prädikatsoperatoren ein. Dabei unterscheidet er (operational, d. h. vorläufig) Modalitäten (m) und Aspekte (a). Die folgenden Beispiele mögen diese Herangehensweise illustrieren: i) Hans spielt gerne Gitarre (gerne = m). ii) Peter ist überstürzt aufgebrochen (überstürzt = a). Die Prädikatsoperatoren gehen meistens dem Prädikat voraus, dies ist auch bei den folgenden Beispielen der Fall: iii) Die Erde scheint rund (scheint = m). iv) Jean aime jouer le piano (Hans liebt es Klavier zu spielen; aime = m) Für jeden Satz muss implizit eine Modalität vorausgesetzt werden; sie wird durch (m) lediglich näher spezifiziert. Die Aspekte modifizieren das Prädikat, wie die folgenden Beispiele zeigen: v) Der Weg ist sehr lang (sehr = a). vi) Der Berg ist ziemlich hoch (ziemlich = a) Die Qualitäten im Prädikat können durch Quantitätsaspekte ergänzt, bzw. genauer festgelegt werden. In der aktuellen Terminologie spricht man in diesem Zusammenhang von sekundären Prädikaten, die eventuell auf einer Skala der Nähe zur Prädikation (bzw. zu einem der Aktanten) angeordnet werden können. Insgesamt erhalten wir für den Satz die folgende Strukturformel (vergleichbar mit der Strukturformel, die Vladimir Propp für die russischen Märchen angibt): F / Q (m; a) [A1; A2; A3; A4; A5; A6] Das Problem des Wortartenwechsels, dem Tesnière einen ganzen Teil seines Buches (unter dem Begriff der „translation“) gewidmet hat, „löst“ Greimas dadurch, dass er für alle Lexeme die neutrale Wortart „Substantiv“,6 und damit die Rolle von Aktanten (A), ansetzt. Die Derivationen (häufig mit Wortartenwechsel) werden als Funktionen bzw. Qualifikationen beschrieben: Lösung wird als -ung [lös-] = F[A] beschrieben Einsamkeit wird als -keit [einsam] = Q[A] beschrieben Im Vergleich zu Tesnière bleibt das Beschreibungsverfahren skizzenhaft. Die Anwendungen zeigen außerdem, dass Greimas das Verfahren weniger zur Formulierung einer Grammatik als zur Erfassung von Satzvorkommnissen (tokens) in Texten benützt, also zum Zweck einer strukturbezogenen Textanalyse. Sein Verfahren ist somit eher für eine Stilanalyse geeignet. Dabei stehen zuerst lite-
6
Ob bewusst oder unbewusst stellt Greimas sich damit in die französische Tradition der Port-Royal-Grammatik, die nur ein Einheitsverb „être“ ansetzte und alle Verben in Verbindungen von „sein“ + nominalem Prädikat analysierte.
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Die strukturale Semantik: Grundprinzipien
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rarische Texte im Vordergrund; später werden Gebrauchstexte, z. B. der Werbung (vgl. Floch, 2001) und semiotische Gebilde jenseits des Textes (soziale Strukturen, Semiotik der Städte, vgl. Greimas, 1976) oder visuelle Aspekte der Werbung (vgl. Floch, 2000) exemplarisch analysiert. Das grobe Analyseraster seiner strukturellen Analysen erweist sich im Hinblick auf diese Anwendungen als Vorteil, da die analysierten Texte bzw. semiotischen Gebilde meistens sehr komplex sind und eine fein-grammatische Analyse leicht zu einem „Formel dickicht“ entarten würde. Neben der Komponentenanalyse, die Greimas mit anderen Ansätzen der strukturellen Wortsemantik verbindet (sie werden seit 1956 in der Anthropologie, seit 1960 in der Lexikologie verwendet),7 sind zwei zentrale Innovationen hervorzuheben: –– die Konstruktion von semiotischen Quadraten, –– die generativen Wegverläufe durch eine (statische) Struktur, auch „parcours génératif“ genannt. Insgesamt bleibt das System sehr stark dem lexikologischen Denken und der lexem-orientierten Semantik der ersten Hälfte des 20. Jh. verhaftet.8 Die Syntax, die seit 1930 allmählich ins Zentrum sprachwissenschaftlicher Betrachtungen gerückt wurde (vgl. Kapitel 8) wird lediglich als eine Ausbeutung lexikologischer Strukturen angesehen, welche Isotopien aufbaut. Die semiotische Inhaltsanalyse auch jenseits verbaler Texte bleibt im Bereich des lexikalischen Wissens und der gedächtnisbezogenen Prozesse, welche dieses Wissen in der Zeit (im Satz und Text) entfalten.9
7 8
9
Greimas (1971) verweist außer auf Hjelmslevs Prolegomena (vgl. Kapitel 5), auf Merleau-Ponty (1960), auf Lévi-Strauss (La Pensée Sauvage, 1967) und auf Ansätze zur komputationellen Semantik (Pottier, 1963). Wir haben in dieser historischen Darstellung die Wortfeldtheorie, die Mitte der 20er Jahre entstanden ist, nicht eigens als Kapitel aufgeführt, da sie teilweise von Hjelmslev und Weisgerber (vgl. Kap. 5) oder von Jakobson in der Fortsetzung des Prager Strukturalismus (siehe Kap. 4) abgedeckt wird, teilweise als assoziative Beziehungen schon bei Saussure (siehe Kapitel 3) angelegt war. Die lexikalische Semantik ist quasi ein Grundthema, das ab Beginn des 20. Jh. bis heute alle Ansätze begleitet, die sich ernsthaft mit Bedeutungsstrukturen auseinandersetzen. Außerdem gibt es bereits im Mittelalter und in der Neuzeit Vorläufer einer Feldtheorie der Wörter, vgl. Wildgen (2000). In den größeren Kontext des französischen Strukturalismus gehören die Arbeiten von Roland Barthes, Gérard Genette, Tzvetan Todorov und Christian Metz (indirekt auch diejenigen von Umberto Eco). Sie sind in der Sondernummer der Zeitschrift: Communications (Nr. 8) von 1966 vertreten (siehe Barthes 1966 / 1981). Todorov (1981) verweist auf die Vorreiterrolle von Mikhail Bakhtine und seine Theorie von Text und Diskurs. In der französischen Tradition spielte deshalb die „énonciation“, die aktuelle Realisierung von Sprache in einem diskursiven Kontext eine große Rolle; vgl. auch Kap. 10.5.
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
11.2 Das semiotische Quadrat Grundlegend ist der in Greimas (1966 / 1971) eingeführte Begriff der Isotopie (gleiches Topos oder Thema). Zwei lexikalische Einheiten können ein semantisches Merkmal gemeinsam haben, im einfachsten Falle geschieht dies bei der Negation: (lexikalisch) Mensch – Unmensch (phrasal) ein Mensch – kein Mensch Auch polyseme Lesarten sind isotop, da z. B. Auge (eines Menschen) – Auge (des Wirbelsturms) ein oder mehrere Merkmale gemeinsam haben, wie runde Öffnung im Zentrum. Die Isotopie wird von Greimas (1971: 61 f.) an Witzen demonstriert, da hier häufig mit Oppositionen (die etwas gemeinsam haben) gespielt wird. Der Übergang zum semiotischen Quadrat erfolgt über Systeme von Oppositionen (mit Isotopie). Diese Systeme müssen ein Homologieprinzip erfüllen, d. h. gleiche Struktur haben. So kann man von der Opposition Leben – Tod ausgehend homologe Paare bilden: Tag Jugend Agrikultur oder Feuer Freude heiß weiß
– – –
Nacht Alter Krieg (vgl. Greimas, 1966 / 1971: 155)
– – – –
Wasser Langeweile (ibidem: 207) kalt schwarz (ibidem: 209)
Solche Homologien erlauben die Bildung metaphorischer Sätze: Der Tod ist schwarz. Der Tod ist kalt. Verbindet man Kontrarietät (z. B. Leben – Tod) mit Kontradiktion (Negation), erhält man eine Korrelation zweier binärer Kategorien (ibidem: 217), z. B. Leben
–
Tod
Nicht-Leben
–
Nicht-Tod
Ordnet man diese Korrelation über Kreuz, erhält man eine Struktur, welche dem logischen Quadrat der klassisch aristotelischen Logik sehr ähnlich sieht (vgl. Sandkühler, 1999: 1106). Abbildung 9 zeigt diese klassische Struktur, wobei gemäß Aristoteles Sätze aus Subjekt (S) und Prädikat (P) und den Quantoren: alle (a), einige (i), kein (e) und einige nicht (o) bestehen, d. h. SaP = alle S sind P usw.
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Das semiotische Quadrat
SaP (alle)
konträr
SeP (kein)
kontradiktorisch subaltern
SiP (einige)
subaltern
sub-konträr
SoP (einige nicht)
Abbildung 9: Das logische Quadrat Varianten des logischen Quadrats sind: das Quadrat der Modalitäten (epistemisches Quadrat): notwendig – möglich unmöglich – möglich, dass nicht oder das deontische Quadrat (ibidem) obligatorisch – erlaubt verboten – erlaubt, dass nicht Diese logischen Konzeptionen liegen vor der modernen Logik (seit etwa 1850: Boole, Peirce, Frege, Russel) und sogar vor der Kantschen Logik und verweisen somit auf mittelalterliche Traditionen, die von der modernen Logik abgelöst wurden. Ins Zentrum der Greimasschen Semantik und Semiotik rückte das semiotische Quadrat erst ab 1970 (vgl. Greimas, 1970, Du Sens). Petitot-Cocorda (1985: 224) sieht die privativen und qualitativen Oppositionen Jakobsons als Quelle dieser Idee. Er zeigt auch den fundamentalen Unterschied zwischen dem logischen Quadrat, das er mit Hilfe einer modernen Booleschen Logik neu formuliert, und dem semiotischen Quadrat. Er kommt zu dem Schluss, dass das semiotische Quadrat logisch inkonsistent ist (ibidem: 225 ff.). In einer 1977 veröffentlichten Arbeit schlug er vor, das semiotische Quadrat topologisch im Rahmen einer katastrophentheoretischen Semantik zu formulieren. In dem ergänzenden zweiten Band von Greimas und Courtès (1986: 37 f.) fasst er diese Position kurz zusammen; sie hatte aber keinen entscheidenden Einfluss auf die weitere Verwendung dieses Modells, das man daher besser als ein heuristisches Instrument der Textsemantik und Semiotik betrachten sollte. Im selben Kontext beschreibt Jacques Fontanille die Mehrheitsauffassung der Greimas-Schule (ibidem: 34–37). Die Grundoppositionen des Quadrats er-
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
zeugen Spezifikationen, die das phänomenologisch Interessante (und sprachlich primär Relevante) enthalten. Er zeigt dies an der Opposition Sein – Schein (être – paraître). Abbildung 10 gibt sein semiotisches Quadrat mit den Spezifikationen wieder. Wahrheit Sein
Schein(en)
Geheimnis
Illusion
Nicht-Sein
Nicht-Schein(en)
Falschheit Abbildung 10: Das Quadrat Sein – Schein nach Fontanille (1986) Am Beispiel des Geheimnisses kommt die unterschiedliche Gewichtung von Sein bzw. Nicht-Scheinen zum Tragen: Das Okkulte
Das Versiegelte
Das Geheimnis
Das „Sein“ dominiert
Gleichgewicht von „Sein“ und „NichtScheinen“
Das „Nicht-Scheinen“ dominiert
Tabelle 13: Verschiedene Arten verdeckter Wahrheit Das abstrakte Grund-Quadrat hat eher einen verallgemeinernden Charakter, die Spezifikationen dagegen können kulturell gedeutet werden, insofern etwa eine Wissenschaftskultur die Opposition Wahrheit (positiv bewiesen) – Falschheit (experimentell falsifiziert) hervortreten lässt. Eine andere Wissens-(Sub)Kultur
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Die systemisch-funktionale Grammatik
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stellt die Wahrheit dem Geheimnis / Rätsel gegenüber. Letzteres soll aufgelöst / gelöst werden (ibidem: 34). Für weitere Ausführungen, insbesondere zum Quadrat der Modalitäten, siehe Brandt (1992: Kapitel 1 und 2). Das semiotische Quadrat wird in Floch (2001: Kapitel 1) zur Typisierung von U-Bahn-Benützern herangezogen. Seit 1970 gab es eine Flut von Anwendungen des Quadrats, das quasi als semiotischer Universalschlüssel fungierte und zum Erkennungszeichen der Greimas-Schule wurde (sowie Strukturbäume und Transformation bzw. deren Spuren zum Markenzeichen der Chomsky-Schule wurden).
11.3 Die systemisch-funktionale Grammatik von M. A. K. Halliday In einem Interview beschreibt Halliday einerseits den Bezug zu seinem Lehrer Firth, bei dem er zwischen Phonologie / Phonetik und Situationsanalyse eine systematische Lücke vorfand, die eigentliche Grammatik; diese Lücke (d. h. Morphologie, Syntax, Semantik) wollte er schließen.10 Andererseits sieht er sich aber in der englischen Tradition oder generell in der des Europäischen Strukturalismus. Auch zu amerikanischen Schulen, wie der von Sapir (Whorf ) oder zu Pike, sieht er eine gewisse Nähe. Der amerikanische Generativismus habe ihn aber nur deshalb nicht definitiv aus der Linguistik vertreiben können, weil ein Ozean zwischen Amerika und England liege. Soziolinguistik und Pragmatik seien immer schon integraler Bestandteil seiner linguistischen Arbeit gewesen und deshalb nicht als eigene Binde-Strich-Disziplinen notwendig geworden. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf seine Zusammenarbeit mit Basil Bernstein und auf die repressiven Kommentare, denen dieser ausgesetzt war. Den neuen Schwerpunkt seiner Forschungsrichtung sehe er aber in der Kognitiven Linguistik, in der Untersuchung des Zusammenhangs von Sprache und Gehirn, Sprache und Evolution. 10 Der so genannte „Kontextualismus“ von Firth und der „London School of Linguistics“ wurde wesentlich von dem Ethnolinguisten Malinowski mitgeprägt. Firth (1957 / 1968: 176) schreibt: „Malinowski regarded the context of situation as a sort of behaviour matrix, in which language had meaning, often a ‚creative‘ meaning.“ In einer Fußnote verweist Firth außerdem auf Wegeners „Situationstheorie“, vgl. Wegener (1885). Malinowskis ethnographische und linguistische Arbeiten beginnen um 1920. Er entwickelte seine ethnolinguistischen Ideen somit in etwa gleichzeitig mit Sapir und Whorf (vgl. dazu Schmidt 1984: 56–60). Sein Beobachtungsfeld war aber Südost-Asien und Polynesien. Firth benützt als Strukturmetapher für eine semantische Analyse die physikalische Fourier-Analyse eines Spektrums. Die semantischen Komponenten überlagern sich also anstatt sich mengentheoretisch zu addieren wie in der Merkmalssemantik. Lyons (1966: 290) bemerkt dazu: „The analogy is not very helpful.“ In einen neurolinguistischen oder einen dynamischen Kontext ist diese Metapher durchaus präzisierbar (vgl. Wildgen, 2002).
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
Michael Alexander Kirkwood (M. A. K.) Halliday wurde 1925 geboren. Er wuchs in England auf, machte seinen B. A. in chinesischer Sprache und Literatur an der University of London, studierte drei Jahre in China und promovierte über chinesische Linguistik in Cambridge. Er lehrte einige Jahre chinesische Linguistik und wechselte dann zur Allgemeinen Sprachwissenschaft. 1961 trat er das erste Mal mit seinem eigenen Modell in Erscheinung, wobei er vom Europäischen Strukturalismus (Kopenhagener und Prager Schule) beeinflusst war. 1965 wurde er Professor für Linguistik an der University of London. 1976 wechselte er nach Australien an die University of Sydney, wo er bis zu seiner Emeritierung 1987 lehrte. Er ist einer der Pioniere der Ökolinguistik. Die Richtung der Sprachwissenschaft, die er international betreibt, heißt „Systemic Functional Grammar“.11 Die systemisch funktionale Grammatik unterscheidet drei Analyseebenen, die allerdings aufeinander bezogen sind: –– Die „ideationale“ (d. h. kognitive) Ebene. Sie ist mit der Wahrnehmung der Welt um uns und in uns verbunden. Bedeutung wird konstruiert, wobei die Einheiten der Bedeutung als Konfigurationen von Funktionen (Rollen) auf verschiedenen hierarchischen Ebenen auftreten. Grundbegriffe sind hier: Prozess, Partizipant und Umstände (circumstances). –– Die interpersonale oder soziale Ebene des Diskurses. Sie enthält pragmatische und soziolinguistische Analyse-Ebenen. –– Die textuelle Ebene. Sie liegt quasi zwischen der ideationalen und der interpersonalen Ebene (vgl. Halliday und Matthiessen, 2001: 11–13).12 Die Konstruktion oder besser Semiogenese erfolgt auf drei zeitlich gestaffelten Stufen (Strati): –– Logogenese (im Text wird das System zur Anwendung gebracht), –– Ontogenese (im Individuum wird das System entwickelt), –– Phylogenese (die Evolution des Sprachsystems mit der Spezies Mensch) Die Lexiko-Grammatik (lexicogrammar) setzt Funktionen (Rollen) und Konfigurationen in syntaktische Strukturen mit lexikalischer Füllung um. Außerdem werden semantisch noch Relatoren unterschieden, die als Konjunktions-Gruppe (conjunction group) realisiert werden.
11 Es gibt in allen Kontinenten Vertreter dieser Richtung, siehe: http: / / www.isfla.org / Systemics /. 12 Diese Dreiteilung wird z. B. in Halliday (2002: 174 f.) als ein dreifaches Bedeutungspotential eingeführt.
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Die systemisch-funktionale Grammatik
Semantik
Lexiko-Grammatik
Prozess Partizipant Umstand (circumstance)
Verbal-Gruppe Nominale Gruppe Adverbiale Gruppe und Präpositionale Gruppe
Relator
Konjunktionale Gruppe
Tabelle 14: Realisationen der Semantik (ibidem: 55, 177) Die Klassifikation der Partizipanten ist allerdings von Prozesstypen abhängig (ibidem: 179). Dabei treten die folgenden Gruppen von Partizipanten auf: Actor Sayer
Goal Receiver
Carrier Senser
Range Verbiage Attribute Phenomenon
Tabelle 15: Die Plurifunktionalität der Partizipanten (vgl. ibidem: 179) Dieses Grundschema soll anhand von Beispielen illustriert werden, dabei werden vier Arten des Prozesses berücksichtigt (ibidem: 129): Handeln (doing), Wahrnehmung (sensing), Sprechen (saying), Sein und Haben (being and having). Beispielanalysen
Participants
Handeln Sie spielt Piano Sie putzt das Piano
Actor Actor
Sie gibt
ihrem Bruder
ein Buch Actor
Recipient Goal
Sie baut
ein Haus
für ihren Actor Bruder
Goal
Sie kennt ihren Vater Wahr nehmung Sagen
Range Goal
Sie sagt
Sein und Sie ist Haben Sie ist
ihrem Bruder Rechtsanwältin seine Rechtsanwältin
einige Worte
Client
Actor
Phenomenon
Sayer
Receiver Verbiage
Carrier Attribute Token Value
Tabelle 16: Konkrete Satzanalysen mit Partizipanten-Zuordnung (vgl. ibidem: 129)
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Zwei semiotisch-funktionale Schulen des späten Europäischen Strukturalismus
Im Jahre 1963 fand in Los Angeles eine interdisziplinäre Konferenz statt, auf der Halliday Sidney Lamb traf und dessen Firma zur maschinellen Übersetzung besuchte (vgl. Lamb, 1998 / 2004: 32). Beide stellten Übereinstimmungen in ihren Auffassungen fest, die wohl im gemeinsamen Bezug auf den Europäischen Strukturalismus (z. B. auf Hjelmslev) beruhten. Lamb ging wie Halliday davon aus, dass die Sprache genuin (nicht nur beschreibungstechnisch) verschiedene Ebenen, auf diesen allerdings eine ähnliche Syntax, aufweist. Diese Ebenen nennt Lamb „Strati“. Die Syntax auf den unterschiedlichen Strati nennt er „tactics“ (der etymologische Kern ist auch in „Syntax“ enthalten). In Lamb (1966: 20) werden sechs Strati unterschieden, die sich paarweise bedingen:
} } }
Hypophonemic Phonemic
Phonology
Morphemic Lexemic
Grammar
Sememic Hypersememic
Semology
Diese drei Strati können in überlappender Weise interagieren, d. h. es können Strukturen auf einem Stratus analysiert werden, während gleichzeitig andere Strati aktiv sind. In Lamb (2000 / 2004: 273) werden sogar Gehirnregionen angegeben für die Strati. So sind z. B. die Konzepte des Stratus: sememic stark verteilt, ebenso der Stratus phonemics (phonologische Produktion und Rezeption). Das Konzept etwa von Katze ist z. B. mit den visuellen, den taktilen und den auditiven Wahrnehmungszentren verbunden. Für Prozesse, auf die Prädikate verweisen, ist eine Region im Frontalhirn ausgewiesen. Lamb ist zwar offen für soziolinguistische und semiotische Fragestellungen, sieht diese aber besser und vollständiger von Halliday vertreten. Das diagrammatische Notationssystem für syntaktische Strukturen unterscheidet neben Linien (dem Nexus) und Knoten: UND bzw. ODER, die Richtungen aufwärts, abwärts und geordnete sowie ungeordnete Paare (n-tupel). Die Beziehung dieser quasi-logischen Netze zu Synapsen und Neuronen hat Lamb Ende der 60er Jahre erst im Nachhinein konstatiert, d. h. es stand eher die Schalt-Logik als die Neurophysiologie Pate. Seit 1998 sieht er aber den Bezug der Knoten eher zu Kolumnen im Kortex als zu einzelnen Synapsen (Lamb, 1998 / 2004: 42).13 Die Valenz, in Lambs Sprechweise die „participant roles“, ergeben sich mit dem Erwerb des Konzepts. Lernt ein Kind das Verb „essen“, so weiß es aus seiner motorischen und perzeptuellen Erfahrung, dass zu eat die Rollen EATER 13 Die zu Grunde liegende Schaltlogik setzt die Boolesche Logik voraus; vgl. Boole (1854) und Guillaume (1986: 442 f.). Es scheint weder eine Beziehung zur diagrammatischen Logik von Peirce noch zu den Stemmata Tesnières zu existieren.
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Die systemisch-funktionale Grammatik
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und FOOD gehören. Es muss nur noch die syntaktische Abfolge lernen. Die Partizipanten sind so gesehen für Lamb gar keine Kategorien der Sprache, sie sind Teile des Prozesses, den das Kind schon kennt, bevor es ihn versprachlicht (vgl. Lamb, 2002 / 2004: 310 f.). An dieser Stelle geht Lamb über die taxonomischen Ansätze sowohl bei Tesnière als auch bei Halliday hinaus. Allerdings müsste in der Konsequenz die Semantik einen Anschluss an die nicht-sprachliche Kognition erhalten, wie dies z. B. in der kognitiven und in der Neuro-Semantik geschieht (vgl. Kap. 12 und 13, sowie Wildgen, 2008: Kap. 8). Die „Systemic Functional Linguistics“ (SFL) hat ähnlich wie die Semiotik und Linguistik von Greimas (oder auch die Valenzgrammatik von Tesnière, vgl. Kap. 6) zu einer Vielfalt von Anwendungen geführt. Neben den soziolinguistischen Arbeiten von Bernstein und seiner Schule (vgl. Kap. 10.3) sind insbesondere die Arbeiten von Martin zu Diskursanalyse (vgl. Martin und Rose, 2003), durch Kress und van Leeuwen (1996) zur Analyse von Bildern (in Kunst und Medien) und die Filmanalysen von Bateman (2009) und Tseng (2009) zu nennen. Aus der Sicht der SFL ist die Angewandte Linguistik konstitutiver Bestandteil der Linguistik und kein nachrangiges Unterfangen. Auch diese Position wird von anderen Linguisten, z. B. von Tesnière und Glinz (vgl. Kap. 5.5) entschieden vertreten. Mit der Annahme dieser Position verschieben sich die Bewertungsmaßstäbe für linguistische Modelle nicht unerheblich. Außerdem ist natürlich entscheidend, welche Anwendungen vorrangig sind: didaktische Anwendungen (Glinz), Anwendungen in den Medien oder im Diskurs / Text (Greimas, Martin), Anwendungen in der Computerlinguistik, etwa automatisches Übersetzen oder automatische Strukturerkennung (Harris, Chomsky, Lamb u. a.) usw. Es öffnen sich sehr komplexe Bewertungsräume für linguistische Theorien, die teilweise nicht kommensurabel sind, so dass eine Gesamtbewertung unmöglich wird. Eine Differenzierung und Gesamtsicht der Evaluationsbedingungen könnte durchaus zu einer realistischeren Einschätzung des linguistischen Fortschrittes führen. Ein weiteres Phänomen ist auffallend. Obwohl die Grundlagen einer neuen Linguistik von F. de Saussure zu Anfang des Jahrhunderts gelegt wurden und diese neue Bewegung im Europäischen und Amerikanischen Strukturalismus in den dreißiger und vierziger Jahren einen Höhepunkt erreicht hatte, konnte dieser Erfolg nicht in einen konsequenten und konsensfähigen Fortschritt umgemünzt werden. Die Gründe dafür zu eruieren, würde ein eigenes wissenschaftshistorisches Projekt erfordern, das aber den Rahmen dieser vergleichenden Methoden-Analyse übersteigt.
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12 Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik Zentrale Fragestellungen der kognitiven Semantik (Langacker spricht von „kognitiver Grammatik“) finden wir bereits seit John Locke und Wilhelm Leibniz gut ausgeprägt (vgl. Wildgen, 2008: Kap.1). Nachdem (besonders ab dem 18. Jh.) nicht-westliche Kulturen genauer untersucht wurden und seitdem exakte, experimentelle Forschungen zu Wahrnehmungs- und Denkprozessen (seit Ende des 19. Jh.) durchgeführt wurden, wurde die spekulative Phase überwunden, und es ging nicht mehr darum, ob Sprache und Denken sich gegenseitig oder einseitig beeinflussen (oder gar determinieren). Die beiden Phänomene werden jetzt als Aspekte eines komplexen Phänomenbereiches aufgefasst, der seit etwa vierzig Jahren die Bezeichnung „Kognitionswissen schaften“ („Cognitive Sciences“) trägt.1 Im Folgenden soll die engere Geschichte der Herauslösung der kognitiven Semantik aus dem Paradigma der generativ transformationellen Grammatik (vgl. Kap. 9.4) thematisiert werden. Da sehr unterschiedliche Personen beteiligt sind, die sich hauptsächlich negativ bezüglich der Anhängerschaft von Chomsky als Gruppe bestimmen lassen (z. B. Lakoff, Katz, Postal, Fillmore, MacCawley; später Langacker; Talmy; Turner u. a.), ist eine einheitliche Geschichte dieser Bewegung kaum möglich. Außerdem wird in einigen Fällen die Grenze zwischen Wissenschaftsgeschichte und Ideologiegeschichte überschritten (vgl. dazu Huck und Goldsmith, 1995, die von „linguistic wars“ sprechen). Grob lassen sich die folgenden Teilbewegungen unterscheiden:
1
Es gibt natürlich Vorläufer im Rahmen der Psychologie, so die Denk- und Sprachpsychologie Karl Bühlers und der Würzburger Schule der Gestaltpsychologie, oder die genetische Psychologie von Jean Piaget. Der Schweizer Biologe und Psychologe (1896– 1980) entwickelte ein Stufenmodell der kognitiven Entwicklung, in die er auch den Erwerb der Sprache einbettete. Er gab dem Strukturalismus eine dynamische Orientierung (vgl. Piaget, 1968) und sprach von einem autoregulativen System. Damit nahm er spätere Selbstorganisationstheorien der Kognition und der Sprache vorweg (vgl. Kap. 13.3). Seine Übernahme des Bourbaki-Programms der strukturellen (auf die Mengenlehre aufbauenden) Mathematik war zwar vorübergehend sehr erfolgreich, blieb aber umstritten. Als er 1968 bei einem Zusammentreffen mit Chomsky diesem eine gemeinsame Basis vorschlagen wollte (angeborene Fähigkeiten ja, aber Entfaltung in der Entwicklung), lehnte Chomsky einen solchen Kompromiss ab (vgl. Piatelli-Palmerini, 1979). Der Konstruktivismus von Piaget sei mit seinem Inneismus nicht vereinbar.
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
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–– Chomsky sieht sich gerade nach dem (unerwarteten) Erfolg seine Schrift von 1957 einer starken Opposition des linguistischen Establishments in den USA gegenüber. Mit seiner Anstellung am MIT erhält er aber eine finanzkräftige Unterstützung (durch Stipendien für Doktoranden) und kann viele junge Linguisten für sein Programm begeistern. Es entsteht eine Streitkultur und eine enge Gruppensolidarität der Modernen / Chomskianer gegen die Alten / Deskriptivisten. –– Mit der Semantik von Katz und dem Programm von Katz und Postal (1964) entsteht eine Alternative zum strikt syntaktischen und formalen Programm Chomskys. Postal und seine Schüler verlassen 1965 das MIT, Lakoff postuliert eine „natürliche Logik“ als Basis der Semantik. Das Lexikon tritt in den Vordergrund des Interesses. Als Chomsky nach einem Sabbatjahr in Berkeley ans MIT zurückkehrt, nimmt er diese Gruppe als feindlich wahr. Andererseits ermutigen seine strukturalistischen Gegner die Opponenten Lakoff und Ross. Es kommt zu einer Bewegung „out of the world of ‚anything but Chomsky‘“ (Huck und Goldsmith, 1995: 100). Anfangs der 70er Jahre gibt es dann eine eigenständige Bewegung, die „Generative Semantik“ genannt wird.2 Da sich Lakoff als zentrale Gegenfigur zu Chomsky stilisiert hat, will ich zuerst auf seinen Werdegang eingehen. George P. Lakoff ist 1941 geboren, machte 1962 einen Abschluss in Mathematik und Englischer Literatur am MIT, promovierte in Linguistik an der Indiana University (was ihn der Gruppe der MIT-Doktoranden als suspekt erschienen ließ), 1969 ging er an die Universität Michigan und 1971 nach Berkeley, wo er 1972 Professor für Linguistik wurde. Dort arbeitet er mit den Kollegen Fillmore und Kay am gleichen Institut (später Talmy) und sie waren parallel zur Linguistik dem neu gegründeten Institut für „Cognitive Studies“ zugeordnet. Dort arbeiteten auch Philosophen, Informatiker, Psychologen, Ethnologen und Biologen; die kognitive Orientierung seit Ende der 70er und bis heute ist also auch eine Folge dieser interdisziplinären Reorganisation innerhalb der University of California (und an anderen Universitäten der USA). Eine für viele theoretische Linguisten radikale Neuorientierung nahm Lakoff gemeinsam mit dem Philosophen Mark Johnson in ihrem Buch „Metaphors We Live By“ 1980 vor. Man könnte dies einen „rhetoric turn“ nennen, denn die zentralen Operationen Metapher und Metonymie sind aus der klassischen Lehre der rhetorischen Figuren importiert und gehörten schon immer zum Begriffs-Inventar der Literaturwissenschaft. Die Anwendungen erfolgten konsequent auch in der Poetik (Lakoff und Turner, 1989), und in der politischen Diskursanalyse (vgl. Lakoff und Wehling, 2008). Es ist wissenschaftspsychologisch interessant, dass Lakoff fast zwanghaft Gegenpositionen zu Chomsky bezieht: In Lakoff (1987) verwirft er den Objektivismus und Formalismus, in Lakoff und Nuñez (2000) wird quasi 2
Der Name taucht bereits in einem Artikel von 1963 auf.
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
als Gegenentwurf zur mathematischen Linguistik eine Mathematik, die erst mit Hilfe der kognitiven Semantik begründbar ist, skizziert, und in seiner politischen und ethischen Kritik (als Liberaler) macht er dem politischen Kritiker Chomsky Konkurrenz (vgl. Kap. 9.5). Allerdings tut er dies im Gegensatz zu Chomsky als Semantiker und versucht damit seiner Metaphernsemantik eine breitere, vorwiegend mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Bei aller Gegnerschaft bleibt doch eine gemeinsame Basis mit der von Chomsky angestoßenen Innovationswelle. Dies betrifft neben der Orientierung an der Psychologie, später den Kognitionswissenschaften, den Versuch, die Linguistik als Leitdisziplin innerhalb der Humanwissenschaften zu etablieren und dies aufgrund des wissenschaftstheoretischen und philosophischen Niveaus, das sie seit Chomskys Innovationsanstoß erreicht hat. Obwohl Charles Fillmore lange Jahre am gleichen Institut wie Lakoff (und im gleichen interdisziplinären Umfeld) tätig war, ist sein Profil und dessen Entwicklung doch wesentlich anders. Charles J. Fillmore (geb. 1929) hat 1961 in Michigan in Linguistik promoviert und lehrt seit 1971 an der Universität Berkeley. Berühmt (auch in Europa) wurde er durch seinen Aufsatz „A Case for Case“ von 1968, der allerdings bereits 1963 auf einer Tagung über Präpositionen vorgetragen worden war. Ab Mitte der 70er Jahre hat er sich verstärkt den Kognitionswissenschaften zugewandt, besonders mit seinen die Kasushypothese generalisierenden Aufsätzen zur „frame semantics“ und „frame and scenes semantics“. Obwohl nicht explizit erwähnt, stehen die kognitionswissenschaftlichen Modelle der visuellen Wahrnehmung Pate, die wiederum eine späte Rehabilitation der Gestaltpsychologie in den USA eingeleitet haben. Für die unterschiedlichen Ansätze Fillmores und der Künstlichen Intelligenzforschung der 70er Jahre vgl. Wildgen (1985a: Kap. 2). Seit Ende der 80er Jahre entwickelte Fillmore gemeinsam mit Paul Kay die Konstruktionsgrammatik (vgl. Kap. 12.2). Im Gegensatz zu Lakoff versucht Fillmore die Grammatikmodelle, die seit den 60er entwickelt wurden, zu vereinheitlichen und sein Partner Paul Kay hat deshalb eine Kooperation mit der „Information Based Syntax and Semantics“ von Pollard und Sag im nahen Stanford angeregt. Alle phonologischen, morphologisch-syntaktischen und semantischen Klassifikationen werden als „Informationen“ in einem einheitlichen Format, einer Attribut-Merkmals-Logik formuliert und der Streit der Lexikalisten und Syntax-Theoretiker verschwindet quasi in diesem Einheitsformat.3 In den Fortsetzungen der Konstruktionsgram3
Die sehr idiosynkratischen Theorieentwürfe von Lakoff, Langacker und Talmy lassen sich dieser „Friedensstrategie“ natürlich nicht zuordnen. Sie beanspruchen in Analogie zu Chomskys Strategie in den 50er Jahren eine Neufundierung des Faches. Es gibt im Feld dieser Ambitionen viele Unternehmungen, auf die ich nicht detailliert eingehen kann. Eine größere Wirkung besonders in Deutschland hatte Hans Heinrich Liebs „Integrational Linguistics“; vgl. Lieb (1983) und als eine Anwendung den „Grundriss der deutschen Grammatik“ von Peter Eisenberg (2006).
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
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matik bei Goldberg oder Tomasello werden korpusstatistische Verfahren und Daten zum Spracherwerb in den Vordergrund gerückt, d. h. die Tradition der deskriptiv-induktiven Grammatik mit partieller Mathematisierung (siehe Harris und Kap. 9.1 und 9.2) wird nach deren scheinbaren Aufhebung durch Chomsky neu belebt. Man könnte sagen, Lakoff versucht die theoretischen Höhenflüge Chomskys durch eigene, innovative Entwürfe zu übertrumpfen; Fillmore versucht das zu retten, was an brauchbaren Einsichten und Ergebnissen im Streit der Schulen unterzugehen droht. Leonard Talmy hat 1972 an der Universität Berkeley in Linguistik über Verbklassifikationen in der kalifornischen Indianersprache Atsugewi promoviert. Von 1972 bis 1975 gehörte er zur Projektgruppe des Universalienforschers Joseph Greenberg in Stanford. Außerdem hat er in Los Angeles und San Diego an Projekten zur klinischen und kognitiven Linguistik gearbeitet. Im Gegensatz zu Lakoff und Fillmore kannte er also die Kognitionswissenschaften aus eigener interdisziplinärer Arbeit; er hat sich auch mit vielen verschiedenen Sprachen beschäftigt, was ihn insgesamt von den Autoren der Chomsky- und NachChomsky-Ära unterscheidet. Dort galt oft Chomskys legendärer Spruch: „Take any language, e. g. English“, d. h. die meisten theoretischen Arbeiten vor dem Principles and Parameters Modell sind am Englischen oder nahe liegenden Kultursprachen entwickelt worden und gaben damit die seit Boas gepflegte Bevorzugung noch nicht beschriebener Sprachen auf (vgl. Kap. 7 und 8). Seit Anfang / Mitte der 80er Jahre entstanden Aufsätze zu Bewegungsverben und Raumpräpositionen und genereller zur Semantik von Raum und Bewegung (Kraft). Diese wurden im Jahr 2000 in zwei Sammelbänden (Talmy 2000a und b) zusammen ediert (mit leichten Anpassungen). Talmy hat sich am deutlichsten in Richtung einer interdisziplinären Integration bewegt, lehnt aber wie Lakoff eine Mathematisierung ab (und das obwohl viele Begriffe wie „rubber sheet semantics“ und Vektor eine mathematische Motivation erkennen lassen). Ronald Langacker (geb. 1942) hat an der Universität von Illinois studiert und dort promoviert (1966). Seitdem ist er Professor für Linguistik an der University of California, San Diego (La Jolla). 1969 erschien ein Einführungsbuch in die strukturale Linguistik, die auch ins Deutsche übersetzt wurde (1971 und 1976 in zweiter Auflage). In den Jahren nach 1971 schrieb er hauptsächlich Bücher zu verschiedenen ameroindischen Sprachen. 1976 erschien in La Jolla ein Aufsatz zur „Image Grammar“ und 1982 der Aufsatz „Space Grammar“. Damit begann eine Serie von Publikationen zur kognitiven Semantik in theoretischer Abstimmung mit dem Programm von George Lakoff. Der Name „Space Grammar“ wurde in „Cognitive Grammar“ geändert. Konzeption und Anwendung werden in den beiden Bänden mit dem Titel: Foundations of Cognitive Grammar (Langacker, 1987 und 1991) ausführlich dargestellt. Der erste Band erschien fast zeitgleich mit Lakoffs programmatischem Buch: Women, Fire and Dangerous Things (1987). Charakteristisch ist eine durchgehende Verbildlichung grammatischer Prozesse. Die Bezüge zu kognitionswissenschaftli-
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
chen Begriffen bleiben noch impliziter als bei Talmy; es wird quasi ein Grammatikkompendium in die neue Bildersprache übersetzt, wobei programmatisch alle grammatischen Prozesse als semantisch motiviert und erklärbar angesehen werden. Lakoffs Wendung zur Rhetorik (seit Lakoff und Johnson, 1980) hat Langacker zumindest in seinen Publikationen nicht mit vollzogen. Ich will in Folgenden die zentralen Begriffsbildungen in den vier Teilparadigmen der Kognitiven Semantik, die mit den Autoren Lakoff, Fillmore, Talmy und Langacker etikettiert werden können, kurz herausstellen. Für eine ausführliche Beschreibung siehe Wildgen (2008).
12.1 Kognitive Modelle und Metaphern (Lakoff) In seinem Buch „Women, Fire, and Dangerous Things“ nimmt Lakoff eine neue Standortbestimmung der Linguistik vor, die er in Anlehnung an Putmans „internal realism“: „experiental realism“ nennt. Der Mensch in seiner leiblichen Gebundenheit („embodiment“) und seiner Erfahrungs- / Lebenswelt gilt als Ausgangs- und Zielpunkt jeder Bedeutungsanalyse. „Experiental realism characterizes meaning in terms of embodiment, that is, in terms of our collective biological capacities and our physical and social experiences as being functioning in our environment […] Experientalism claims that conceptual structure is meaningful because it is embodied, that is arises from, and is tied to, our preconceptual bodily experiences.“ (Lakoff, 1987: 267)
Wie der Untertitel seines Buches: „What Categories Reveal about the Mind“ andeutet, steht die Kategorisierungsleistung der Sprache im Mittelpunkt. Sie ist für ihn durch die folgenden (kognitiven) Leistungen ausgezeichnet (ibidem: 56 f.): –– Die menschlichen Kategorien sind körper- und kulturbezogen. –– Wenn es eine Hierarchie von Kategorien (mit Ober- und Unterbegriffen) gibt, so ist die mittlere Ebene ausgezeichnet, da sie stärker besetzt und feiner differenziert ist, früher gelernt und sicherer beherrscht wird. –– Einige Kategorien wie die von „groß“ und „rot“ sind gestuft („graded“), und es gibt zentrale und periphere Mitglieder der Kategorie.4 –– Andere Kategorien haben zwar scharfe Grenzen, z. B. „Vogel“, innerhalb dieser Grenzen gibt es jedoch Prototypeneffekte, d. h. wenige „beste“ Vertreter sind ausgezeichnet.
4
Vgl. die Fuzzy-Semantik von Zadeh (1971). In Wildgen (1983) wird dessen Modell mit anderen Konzeptionen von Vagheit verglichen.
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Kognitive Modelle und Metaphern
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Die Kognitive Semantik interpretiert die klassischen rhetorischen Figuren kognitionswissenschaftlich neu. –– Die Metapher: Sie erlaubt den Übergang von körper- und erfahrungsnahen konzeptuellen Strukturen zu allgemeinen, abstrakteren Bereichen. Als Wegweiser dienen Redensarten und globale Metaphern, wie „love is a journey“ oder „argument is war“. –– Die Metonymie, der Schluss vom Teil auf das Ganze und umgekehrt. Diese Figur ist auf andere generalisierende oder spezialisierende Schlüsse erweiterbar. Aus der klassischen Erkenntnistheorie (besonders bei Kant entwickelt) importiert Lakoff so genannte Schematheorien. Einige der konzeptuellen Schemata möchte ich an Beispielen erläutern (vgl. Lakoff, 1987: 272–275): 1) Das Behältnis-Schema. Es gibt ein Innen und ein Außen und entsprechend eine Grenzfläche zwischen beiden. Der eigene Körper wird als solch ein Behältnis-Schema wahrgenommen mit der Haut als Grenzfläche; er befindet sich wieder in größeren Behältnissen (Räumen) usw. Selbst so abstrakte Entitäten wie Klassen und Mengen in der Logik und Mathematik werden als Behältnisse interpretiert. 2) Das Teil-Ganzes-Schema. Der Körper mit seinen Teilen: Kopf, Rumpf, Gliedern ist das Urbild einer Gesamtstruktur aus zusammenhängenden Teilen. Das Schema wird übertragen auf: Familien,5 Vereine, Belegschaften, Einwohnerschaften (z. B. einer Stadt), Gesamtgesellschaften. 3) Das Ursprung-Weg-Ziel-Schema: Die körperliche Fortbewegung stellt einen Prozess zwischen der Ruhe am Ausgangspunkt – über eine Bewegungs phase – zu einer Ruhe am Zielort dar. Eine weitere Säule vieler Detailanalysen bildet die seit etwa 1970 entwickelte natürliche Logik. Die formale (logische) Semantik wird dagegen als „objektivistisch“ abgelehnt. Insgesamt ist Lakoffs Theorie aus unterschiedlichen Versatzstücken zusammengesetzt, die Bezüge zu den Kognitionswissenschaften (denen er sein Unternehmen immer wieder zuordnet) bleiben relativ blass. Er optiert zwar gelegentlich für die konnexionistischen Ansätze, da diese den klassischen, auf explizite Programmierung der simulierten Systemeigenschaften bauenden Konzeptionen, denen auch die generative Grammatik verpflichtet war, widerspricht, kann
5
In einem im Netz einsehbaren Vortrag von 2005 versucht Lakoff, die Unterschiede zwischen den Konservativen (Republikanern) und Liberalen (Demokraten) durch unterschiedliche Familienvorstellungen zu begründen: Familie mit dem Vater als Autorität und Richter über Gut und Böse (Konservative) vs. (beide) Eltern als Ernährer und Helfer (Liberale). Cf. http: / / www.youtube.com / watch?v=5f9R9MtkpqM.
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
diese dynamischen und probabilistischen Ansätze aber nicht mit seiner „Natürlichkeitsphilosophie“ in Einklang bringen.6
12.2 Konstruktionsgrammatik, Korpusanalysen und der Spracherwerb Ideengeschichtlich nimmt die Konstruktionsgrammatik im Grunde die syntaktische Konzeption Bloomfields und den Begriff der „construction“ in Bloomfield (1926) wieder auf. Auch die Basissätze von Harris, die Satzbaupläne von Weisgerber oder die Grundtypen der Valenz bei Tesnière stehen diesem Ansatz sehr nahe. Unmittelbar bilden die Kasushypothese Fillmores und deren Ausarbeitung in der Frames-Semantik den theoretischen Hintergrund. Auch viele Beschreibungen für syntaktische Phänomene in der Chomsky-Schule oder in einer Vielzahl syntaktischer Modelle zwischen 1965 und 1980 werden wieder aufgenommen. Insofern handelt es sich im Ganzen weniger um eine innovative kognitionswissenschaftliche Modellbildung als um eine Reform der Grammatikschreibung mit dem Ziel einer Vereinheitlichung unter kognitionswissenschaftlichen Vorzeichen. Die Gruppe von Personen, welche sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit dem Konzept einer „Konstruktionsgrammatik“ beschäftigt haben, sind Charles Fillmore, Paul Kay und deren Mitarbeiter. Seit etwa 1992 hat Adele Goldberg, eine Schülerin von George Lakoff, die Ausarbeitung dieses Typs von Grammatikmodellen wesentlich beeinflusst (vgl. Goldberg, 1995). Danach hat sich die Gemeinschaft der Konstruktionsgrammatiker international ausgeweitet. Der allgemeinste Nenner für Konstruktionsgrammatiken ist die Konzentration auf „medium-scale“-Konstruktionen, d. h. auf syntaktische Erscheinungen, die weder allein oder wesentlich auf der Ebene des Lexikons (des sprachlichen Wissens der Teilnehmer) festgelegt sind, noch auf allgemeinen sprachenübergreifenden Organisationsprinzipien beruhen. Diese Skala wird von Goldberg und Jackendoff (2004: 532) wie folgt formuliert: „There is a cline of grammatical phenomena from the totally general to the totally idiosyncratic.“ Die Mittelposition erklärt, weshalb diese Grammatik weder auf allgemeine, generative Mechanismen noch auf logiksprachliche Weltrekonstruktionen großen Wert legt. Anstatt direkt die holistische Kategorie Satz zu beschreiben, erfasst die Konstruktionsgrammatik Zentren (zentrale Konstruktionstypen) der Grammatik und um sie herum die peripheren Nebenkon6
Die konnexionistischen Modelle führen die neo-behavioristische (siehe die Arbeiten Osgoods) Richtung der Kognitionspsychologie fort und zeigen damit, dass die AntiSkinner-Revolution Chomskys ein Sturm im Wasserglas war. Lakoff will aber nicht so konsequent hinter Chomskys Weichenstellung zurückgehen, wie dies neuere datenund korpusorientierte statistische Ansätze tun.
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Die Raum- und Prozess-Semantik
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struktionen. Die semantische Beschreibung bezieht sich klarer und genereller auf die zentralen Konstruktionen. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Konstruktionsgrammatik Fillmores und den Vorschlägen von Goldberg (die Cognitive Construction Grammar) besteht in einer Orientierung der letzteren am Sprachgebrauch, wobei unter Sprachgebrauch die durch Korpora repräsentierten sprachlichen Erscheinungen und der Erwerb der Fähigkeit diese Sprache zu verwenden verstanden wird. Es wird also angenommen, dass die Sprecher die Konstruktionen als erworbene Generalisierungen im Sprachgebrauch entwickeln und benützen. Nach Tomasello (2003) sind erste Ansätze zu syntaktischen Konstruktionen noch mit häufig gehörten Wörtern und deren Kontexten verbunden. Die späteren semantischen Rollen sind dabei noch an lexikalische Elemente gekoppelt. So ist etwa die Instrument-Rolle mit Ausdrücken wie X öffnet Y mit, X zeichnet Y mit verbunden. Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von Konstruktionsinseln. Besonders wichtig für den Syntax-Erwerb scheinen verbzentrierte Konstruktionsinseln zu sein. Empirische Studien belegen zum Beispiel, dass bitransitive Konstruktionen anhand von Äußerungen mit geben gelernt werden; ähnliche Konstruktionen werden mit anderen Verben nach diesem Muster gebildet. Eine Studie von Campbell und Tomasello (2001) führt diesen Effekt auf die Häufigkeit bestimmter Verben in der Sprache der Eltern zurück. In einer späteren Phase treten in den lexemabhängigen Inselkonstruktionen erste syntaktische Markierungen für die beteiligten Rollen auf. Das Endstadium dieses Prozesses wird dann erreicht, wenn die Kinder abstraktere, der Erwachsenen-Grammatik vergleichbare Konstruktionen erwerben. Der Erwerb der Konstruktion ist somit inputabhängig, d. h. die Erwachsenen-Sprache, die an das Kind gerichtet ist, ist ausschlaggebend. Zumindest ein Teil der Last, die in den generativen Theorien auf die U. G. (Universal Grammar) oder ein angeborenes und lediglich ausreifendes „Sprachorgan“ gelegt wurde, wird in diesem Theoriekontext von Diskursen zwischen Erwachsenen und Kind (oder zwischen Kleinkind und älteren Kindern) und von allgemeinen Lernstrategien getragen.
12.3 Die Raum- und Prozess-Semantik (Talmy) In seinen frühen Arbeiten, z. B. in Talmy 1976 wird noch die generative Semantik mit Transformationen, die schrittweise von einer Tiefenstruktur zur Oberflächenstruktur ableiten, vorausgesetzt. Allerdings fordert Talmy, dass jede Ableitungsstufe zumindest in einer Sprache als Ergebnis realisiert sei. Dadurch sollen theoretische Artefakte minimiert werden. In dieser Hinsicht ist Talmy ein Schüler von Sapir und Harris. Dieser Hintergrund wird dann zu Gunsten einer semantischen und kognitiv interpretierbaren Beschreibung aufgegeben oder
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
r evidiert. Mit der „force-dynamics“ findet schließlich um 1983 eine Dynamisierung des Beschreibungsapparates statt,7 der ihn zumindest innerhalb der Kognitiven Grammatik heraushebt.8 Talmy hat in exemplarischen empirischen Studien speziell die Konzeptualisierung von Raum und Dynamik (Kraft) und die damit verbundenen sprachlichen Inhalte analysiert. Als besonders innovativ können seine Analysen der Verben der Bewegung, der kausalen Konstruktionen (z. B. mit Konnektoren) und der verschiedenen Vorstellungssysteme gelten. Verben der Fortbewegung Talmy setzt zur Beschreibung von Bewegungssituationen die folgenden Situationskomponenten an: Motion situation:
figure
motion
path
ground
sM:
F
M
P
G
Tabelle 17: Die Komponenten der Bewegungssituation nach Talmy Zur Beschreibung der Bewegungsverben führt Talmy zwei Tiefenprädikate ein, die allerdings nur die Extrempunkte einer Skala angeben, d. h. es könnten weitere Prädikate dazwischen treten: Zustand (statisch)
sich bewegen (dynamisch)
BELOCATED
MOVE
Tabelle 18: Zweiteilung der Grundkomponente 7
8
Die auf Thom zurückgehende topologisch-dynamischen Semantik war Talmy und auch Lakoff sehr wohl bekannt (wie ich aus Gesprächen mit ihnen 1988 weiß). Thoms Ansatz und in der Folge Petitot-Cocorda (1982; publiziert in Petitot-Cocorda 1985 / 2003) und Wildgen (1979; teilpubliziert in Wildgen (1982 und 1985a) sowie Wildgen und Mottron, 1987) nehmen Bezug auf die Semiotik von Greimas (Petitot-Cocorda) und die Kasusdiskussion bis Fillmore (Wildgen). Thom selbst ging vom Valenzbegriff Tesnières aus (vgl. Kap. 6 und Thom 1972; wichtige Aufsätze zur Linguistik und Semiotik sind in Thom, 1983 ins Englische übersetzt worden). Es gab Ende der 80er Jahre eine Reihe paralleler Bewegungen, z. B. im Werk von Thomas Ballmer und Michael Leyton. Beide waren gleichzeitig mit Talmy um 1980 in Berkeley tätig. Ballmer (1982) versucht, Themen der logischen Semantik im Rahmen einer Bio- und Öko-Linguistik neu zu behandeln; Leyton (1986) versucht, die Transformationen Chomskys mit einem geometrischen Modell der Wahrnehmung zu verbinden. Beide Ansätze waren anscheinend in die größeren Paradigmen der Linguistik in den 80er Jahren nicht integrierbar.
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Die Raum- und Prozess-Semantik
Verschiedene Sprachen oder auch Varietäten innerhalb einer Sprache realisieren unterschiedliche Kombinationen des Basis-Schemas: F + M + P + G; dabei werden häufig zwei der Konstituenten: Figure (F) + Motion (M) + Path (P) + Ground (G) eventuell mit einem weiteren Satellit eines bestimmten Typs zusammengefügt. Ich will diese Kombinatorik anhand der Beispiele, die Talmy anbietet, erläutern (vgl. Wildgen, 2008: Kap. 4.1). F+M Beispiel: Deutsch / Englisch
(Es) regnet / (it) rains
F = RAIN
M = MOVE
Atsugewi
– qput – (es wird dreckig)
F = DIRT
M = MOVE
Deutsch / Englisch
nachhause / home
P = TO
G = his HOME
Atsugewi
– ict (verflüssigend)
P = INTO
G = LIQUID
P+G Beispiel:
Viele komplexe Orts- und Bewegungsangaben enthalten P + G-Amalgamie rungen, d. h. sie verschmelzen Angaben zum Weg (P) und zum Hintergrund (G). M + Satellite Ein spezifisches Verb kann die Bewegungssituation (BEL bzw. MOVE) und eine Art und Weise zum Ausdruck bringen: Beispiel: BEL + AFLOAT MOVE + AFLOAT
→
float (in)
schwimmen (in)
→
float (into)
schwimmen (hinein)
P + Satellit (genannt „conflation“) Die Wegkomponente (P = Path) wird komplexer dargestellt, als dies in der P-Komponente möglich ist, indem ihr Satelliten beigefügt werden, die den Weg genauer spezifizieren. Beispiele: (← steht für „conflation“) fire
←
‚mis‘ ist der Satellit:
Ergebnis = misfire
start
←
‚over‘ ist der Satellit (als feste Verbindung)
Ergebnis = start over (durchstarten)
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
Kraft-Dynamik (force-dynamics) Es gibt zwischen Objekten wirksame Kräfte, denen diese widerstehen oder nachgeben. Als kognitive Basis nimmt Talmy kinästhetische und somato-sensorische Modalitäten an (ibidem: 257; 2000a: 219). Beispiele: –– Der Ball rollte über den Rasen. (The ball rolled along the green.) –– Der Ball rollte weiter über den Rasen, wegen des Windes, der ihn blies. (The ball continued to roll along the green from the wind blowing on it.) –– Der Ball rollte weiter über den Rasen (den Hang hinab), trotz des hohen Grases, das ihn bremste. (The ball continued to roll along the green (down the slope) despite the tall grass hindering it.) Talmy nimmt an, dass diesen Beispielen alltagssprachliche Konzeptualisierungen von Kraft zugrunde liegen. a) Der Ball hat eine Tendenz zur Ruhe zu kommen (als natürliche Kategorisierung des Energieverlustes). b) Externe Kräfte (Antagonisten) wirken positiv (bewegungsfördernd) oder negativ (bewegunghemmend) auf den Ball. c) Die Bilanz der Kraftwirkungen kann zugunsten des Betroffenen oder zu seinen Ungunsten ausfallen. Talmy verwendet zwar den mathematischen Begriff des Vektors, führt dann aber normalsprachliche Begriffe und eine Reihe bildhafter Schematisierungen ein9.
12.4 Die Kognitive Bildsemantik (Langacker) Das auffälligste Merkmal der Vorschläge Langackers lässt sich schon der Benennung seines Ansatzes als „Grammatik“ entnehmen. Er versucht, innerhalb des erneuerten Programms, das er vorschlägt, möglichst die gesamte Grammatik in dem neuen Format bzw. gemäß den neuen Prinzipien zu schreiben. Ich gehe nur auf einige Aspekte ein (vgl. für eine ausführliche Einführung Wildgen, 2008: Kap. 5).
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Für eine kurze Darstellung seiner Notationen siehe Wildgen, 2008: Kap. 4. Eine Integration dieser, an die physikalische Dynamik erinnernde Notation in die bereits eingeführte tiefensemantische Notation versucht Talmy nicht.
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Die Kognitive Bildsemantik
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Die Wortarten und die Prädikation Auf die Wortarten-Charakterisierung in kognitiven Begriffen wendet Langacker einerseits das Konzept des Prototyps an, d. h. die kognitive Beschreibung gilt zuvorderst für zentrale Vertreter. Für die Kategorien Nomen und Verb (die als universal angesehen werden) wird ein Prototyp angenommen: Nomen ≈ Ding, Verb ≈ Prozess. Er sagt (Langacker 1987: 183): „A symbolic structure whose semantic pole designates a thing is categorized as a noun.“
Langacker diskutiert einige Kriterien für das Ding, dazu gehören: die raumzeitliche Begrenzung, die Abtastvorgänge bezüglich der räumlichen Begrenzungen eines Dinges, sowie die interne Homogenität, da manche Dinge weniger durch die äußere Kontur, die sehr variabel sein kann, als vielmehr durch den inneren Zusammenhalt, die Kohäsion bestimmt sind. In der Grammatik trifft dies z. B. auf die Kategorie der Substanznomina (mass noun) zu. Beispiele: Wasser, Milch, … / / Gas, Wolke, / / Erde, Salz, … / / Fleisch, Brot
Nominalisierungen Viele Nomina sind das Ergebnis eines grammatischen Prozesses, der die Wortart verändert, z. B. vom Verb zum Nomen, vom Adjektiv zum Nomen usw. Die Kognitive Grammatik verneint die inhaltliche Äquivalenz zwischen den „Nominalisierung“ genannten Nomina und den Ausgangswörtern, z. B. zerstören → Zerstörung. Die Morpheme, die eine Nominalisierung markieren (-ung, ∅-Morphem) sind nicht bedeutungslos; der Bedeutungsunterschied kann z. B. das Profil in Bezug auf die kognitiven Kategorien trajector und landmark betreffen; aber auch implizierte Instrumente, Ergebnisse, Situationen können in der Nominalisierung ins Profil rücken (d. h. ihr Profil dominiert in der zusammengesetzten Struktur; vgl. Langacker, 1991: 24). Beispiele (vgl. für entsprechende englische Beispiele vgl. ibidem: 23 ff.): –– Trajector im Profil (als inneres Subjekt):10 Tänzer (das sich bewegende / handelnde Subjekt steht im Profil) –– Landmark im Profil (inneres Objekt): der Angeklagte (das Objekt des Verbs steht im Profil)
10 Das Begriffspaar: Trajektor – Landmark entspricht in etwa den gestaltpsychologischen Grundbegriffen: Vordergrund – Hintergrund. Da die Begriffe aber nur grammatikintern spezifiziert werden, wird dieser Bezug nicht fruchtbar.
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Kognitiv motivierte Modelle der Sprache und Grammatik
Als weitere innere Objekte (Landmark-Varianten) treten auf: –– Instrument im Profil: Bohrer (das, womit man bohrt, steht im Profil) Die anderen klassisch unterschiedenen Wortarten werden sekundär eingeführt (Langacker, 1987: 242 f.). –– Adjektive: Sie haben ein Ding als „trajector“, ihr „landmark“ kann auch nicht elaboriert sein (ibidem). –– Adverbien: Sie haben eine Relation als „trajector“, ihr „landmark“ wird normalerweise nicht weiter ausgeführt. –– Präpositionen: Sie können je nachdem, ob der „trajector“ ein Ding (a girl like Sally) oder eine Relation (walk with a lamp) ist, adjektivischen oder adverbialen Charakter haben. Das „landmark“ wird typischerweise realisiert (elaboriert). –– Verbpartikel: Sie werden semantisch wie Präpositionen behandelt, deren „landmark“ aber nicht realisiert (elaboriert) ist. Zur semantisch-grammatischen Darstellung von Prozessen führt Langacker als zentralen Begriff den des Zeitprofils („temporal profile“) ein: „The span of time during which its [= the process; d. A.] evolution is tracked is referred to as the temporal profile of the process.“ (ibidem: 244).
Mit dem Argument, dass der Prozess im Wesentlichen aus einer OUT-Relation, einer IN-Relation zwischen „trajector“ und „landmark“ sowie einem Übergang zwischen ihnen besteht, beschränkt Langacker sich in der Standardwiedergabe auf drei Zustände. Der Übergang vom Prozess zum Ding lässt sich an Nominalisierungen zeigen. So ist „entrance“ gegenüber „enter“ insofern verschieden (nach ibidem: 247) als das zeitliche Profil (markiert als Verdickung der Zeitachse) wegfällt und die einzelnen Relationen (Zustände) nicht im Profil sind, sondern eher ihre Gesamtheit; dies wird durch die Erfassung in einem hervorgehobenen Ring gezeigt (vgl. ibidem).
Konstruktionen Das imaginale Äquivalent einer Konstruktion von zwei Elementen nennt Langacker „superimposing“, „merging“. Die Konstruktion „erbt“ dabei die imaginalen Konfigurationen der Teile. Das generelle Schema der Konstituentenstruktur ist eher valenz- als reihenfolgenorientiert. Ein zweiwertiges Verb, das „trajector“ und „landmark“ hat, füllt seine Valenzpositionen so auf, dass sie in der Satz repräsentation transparent bleiben. In Langacker (1987: 317) wird der Satz: The arrow hit the target allerdings (ohne graphische Wiedergabe der Konstituentenstruktur) in drei Teilschemata zerlegt:
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Die Kognitive Bildsemantik
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–– HIT (das abstrakte Format der Annäherung mit Berührung), –– HIT-TARGET (Ausfüllung des target), –– ARROW-HIT (Ausfüllung des trajector) Die zusammengesetzte Struktur: ARROW-HIT-TARGET füllt die schematischen Orte in HIT durch nicht-schematische (im Beispiel durch bildhafte) aus. Dabei wird keine Subjekt-Präferenz angezeigt. Diese Analyse in drei Schemata, die dann amalgamiert werden, steht in deutlichem Gegensatz zur amerikanischen Tradition der Konstituentenanalyse (von der Schulgrammatik über Bloomfield bis Chomsky). Langacker sagt (ibidem: 318): „The notion that constituency might be fluid, variable, and relatively inessential to grammatical relationships is quite at odds with generative theory, which treats it as a basically fixed and constant aspect of grammatical organization that serves as foundation for the definition of grammatical relations.“
Betrachtet man die Entwicklung innerhalb der von Chomsky ausgehenden intellektuellen Bewegung in den USA, so haben Fillmore und Lakoff seit etwa 1963 eine neue Richtung eingeschlagen und damit die generative Bewegung (in einem ersten Schritt) gespalten. Es folgten viele weitere Spaltungen. Insgesamt kommt Fillmore dabei eine integrative Funktion zu, d. h. er hat versucht, die spalterischen und in viele Richtungen sich verzweigenden Bewegungen wieder zusammen zu führen, da wie McCawley bemerkt hat, eine Disziplin, die sich unendlich aufspaltet, eigentlich den Beweis des Misserfolgs aller Innovationen liefert. Die Anpassung an neue Tendenzen, die aus Nachbarwissenschaften kommen, welche ebenfalls Sprache thematisieren, ist Segen und Fluch zugleich. Der Sprachtheoretiker darf diese Anregungen nicht ignorieren, aber die Disziplin kann sich auch nicht alle drei Jahre neu definieren, ohne zumindest in der Öffentlichkeit (und bei den Studierenden) ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Aufgabe einer Integration, die große Persönlichkeiten immer wieder auf sich nehmen müssen, ist schwierig und wird von den vielen, die sich auch noch durch Innovationen profilieren wollen, nur selten dankbar registriert.
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13 Neurolinguistik, Biolinguistik, Protosprache und Selbstorganisation: Perspektiven für das 21. Jahrhundert Ich will im Folgenden einen Schritt weiter gehen und eine neuere Generation von Modellen betrachten, die konsequent von Theorien und Methoden ausgehen, die außerhalb der Sprachwissenschaft entstanden sind oder deren Techniken und Methoden größten Teils auf Nachbardisziplinen Bezug nehmen. Sie greifen teilweise uralte Fragen auf, wie z. B. die Frage nach dem Sprachursprung, teilweise spiegeln sie Fortschritte in Nachbardisziplinen, die gegen Ende des 20. Jh.s Ergebnisse erzielt haben, die sich als bedeutsam für die Linguistik herausgestellt haben. Dies trifft zu auf die Neurolinguistik, die Biolinguistik und auf die evolutionäre Anthropologie. Einen breiteren Skopus haben allgemeine Systemtheorien, insbesondere Selbstorganisationstheorien, die sich aus Entwicklungen in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) ergeben haben und eine mathematische Fundierung haben.
13.1 Neurokognitive Modelle der Sprache und Grammatik Obwohl es seit der Phrenologie1 im frühen 19. Jh. ein Programm der Kartierung menschlicher Sprachfähigkeiten im Gehirn gab und mit den Arbeiten von Paul Broca (1884–1920) und Carl Wernicke (1840–1905) zwei Sprachzentren im Gehirn ausgezeichnet wurden, blieb die Idee einer Neurogrammatik, d. h. einer Architektur menschlicher Grammatiken, die neurologisch zu verankern ist, ein Wunschtraum.2 Seit etwa 30 Jahren stehen Instrumente zur Beobach1 2
Die Phrenologie wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Arzt Franz Josef Gall (1758–1828) begründet. Der Name leitet sich her von gr. φρήν, phrēn, d. h. Geist, Gemüt und λόγος, logos, Wissen. Roman Jakobson hielt 1980 an der University of New York Vorlesungen zum Thema: „Brain and Language. Cerebral Hemispheres and Linguistic Structure in Mutual Light“. Damals ging es noch um die verschiedenen Funktionen der Hemisphären für Denken und Sprechen. Dieses Forschungsfeld war insbesondere durch die Arbeiten von Roger Sperry (1913–1994), der dafür 1981 den Nobelpreis für Medizin erhielt, vorangebracht worden. Jakobson zitiert eine Arbeit von Sperry von 1975. Die Reaktion auf diese Er-
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Neurokognitive Modelle der Sprache und Grammatik
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tung am lebenden menschlichen Gehirn zur Verfügung, die unser Wissen über die Lokalisation kognitiver und sprachlicher Leistungen sprunghaft erweitert haben.3 Auch in der Gehirnchirurgie werden vor Operationen am bewussten Patienten sprachliche Leistungen getestet, bevor etwa ein Tumor entfernt oder andere folgenreiche, aber notwendige Eingriffe vorgenommen werden. Dennoch konnte das 20. Jh. den entscheidenden Durchbruch zu einer neurologisch fundierten Grammatik nicht erzielen. Dies hat einerseits ethische, andererseits technische Gründe. Technisch ist die zeitliche Auflösung von Computertomographien zu gering, um die schnellen Planungs- und Entscheidungsprozesse bei der Sprachgenerierung und beim Sprachverstehen auflösen zu können. Die Tomographen registrieren außerdem sekundäre Effekte wie den Stoffwechsel, den Blutfluss und Ähnliches, aber nicht die im Gehirn ablaufenden chemo-elektrischen Prozesse. Die zeitlich besser auflösenden Gehirnstrommessungen (EEG) haben eine zu geringe räumliche Auflösung, um den Ort des Geschehens festlegen zu können. Eine direkte Messung von Gehirnströmen in begrenzten neuralen Bereiche ist bei Tierversuchen möglich, verbietet sich aber beim Menschen, da Sonden implantiert werden müssen, die Gehirngewebe zerstören (auch die Tierversuche sind ethisch umstritten). Immerhin weiß man heute viel mehr als Broca und Wernicke, die auf klinische Berichte oder post mortem Analysen des Gehirns angewiesen waren. Diese Mehr an Wissen ließ aber eher vermeintliche Lokalisierungen und Funktionskreise als voreilige Generalisierungen erscheinen, als dass neue Sicherheiten geschaffen wurden. Dies bleibt also eine Aufgabe des 21. Jh.s. Im Folgenden will ich immerhin zusammenfassen, auf welche Ergebnisse und Modellentwürfe des 20. Jh. die weiterführende Forschung aufbauen kann.4 Für die konkrete Modellierung einfacher kognitiver Prozesse war die Arbeit von McCulloch und Pitts (1943) „A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Neural Nets“ das Programm. 1947 gelang den beiden Forschern ein Durchbruch. Sie konnten einen Apparat für Blinde konstruieren, der diesen ermöglichte, eine gedruckte Seite mit Hilfe einer akustischen Umsetzung des Schriftbildes zu lesen (vgl. Wiener, 1948 / 1968: 44). Ihr Schaltbild zeigte eine Analogie zur Struktur des Gehirns und sie entwickelten eine Theorie, welche Eigenschaften der Anatomie und Physiologie des Sehzentrums mit einer technischen Simulation des Leseprozesses verband, d. h. von ihnen stammen die ersten neuronalen Netzwerke, d. h. abstrakte Analoga von Gehirnstrukturen in der maschinellen Simulation.
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gebnisse machte die erste Welle neurolinguistischer Forschungen aus, die auch durch den Bedarf an Neurolinguisten in der Aphasie-Therapie befördert wurde. Vgl. zu Techniken des „Neuroimaging“ Part II von Stemmer und Whitaker (2008). In Jackendoff (2002: Kap. 2) werden die Bemühungen skizziert, innerhalb des generativen Paradigmas auf die Herausforderung der „Cognitive Sciences“ angemessen zu reagieren und Sprache als ein mentales Phänomen zu interpretieren.
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
Die weitere Entwicklung verlief in den folgenden Etappen: 1) Ende der vierziger Jahre fasste der Psychologe Donald Hebb die Ansätze zu einer Netzwerktheorie des Denkens in seinem programmatischen Buch „The Organization of Behavior“ zusammen. Als Träger höherer neuraler Prozesse treten Zellverbände und deren Interaktion in Netzen auf. 2) Aufbauend auf frühe Konzepte von von Neumann konstruierte man im Rahmen der Kybernetik (vgl. Wiener, 1948 / 68) einfache lernende Maschinen, die meistens über Verstärkermechanismen, d. h. mit Erfolgsmessungen und Adaptationen, verfügten. 3) Angestoßen durch die theoretischen Konzepte Chomskys gab es in den 60er Jahren den Versuch, Grammatik und Psycholinguistik in Einklang zu bringen. Pylyshyn (2009: 255 f.) führt Jerry Fodor und Allan Newell / Herbert Simon als Vertreter eines Realismus der neuralen Repräsentationen an. Dieser Ansatz sei aber im zweiten Drittel des 20. Jh.s aus der Mode gekommen. Als Vorläufer benennt er: Hilbert, Turing, Church und Markov (vgl. Kap. 14). Fodor postulierte eine „language of thought“, die sprachähnlich sei.5 4) Die Fortschritte in der Erforschung und Modellierung des visuellen Systems brachte das Phänomen des Ausfüllens visuell verdeckter Aspekte durch das Gehirn oder gar der erwartungsgesteuerten Vervollständigung zum Bewusstsein. Diese Einsicht schien eine Parallele im „framing“ der Syntax zu haben. Deshalb kam es zu einem Transfer mit der generativen, später der kognitiven Semantik (vgl. Kap. 12). Die Vertreter der Modularitätsthese bestritten diese Parallelität. 5) In den 80er Jahren wurde das Interesse an neuronalen Netzwerken und einer gehirnanalogen Simulierung kognitiver Prozesse wieder aktuell (unter den Stichwörtern: massiv parallele Verarbeitung, PDP – parallele, distribuierte Prozesse, neuronale Netzwerke, Neurocomputer). Keines der vorgeschlagenen Modelle kann jedoch beanspruchen, die Sprachprozesse im Gehirn insgesamt darzustellen oder zu simulieren.6 Zahlreiche Versuche, die Syntax- und Semantikformate an die Kognitionswissenschaften anzupassen, stoßen auf ein Problem, das von der Malsburg (1999) aufgezeigt hat. Die Frage derjenigen, die von einem universalen (grammatischen) Mechanismus ausgehen, lautet nämlich: Gegeben: Ein Problem der kognitiven Verarbeitung (etwa von Sprache). Ist dafür eine Modellstruktur angebbar? Die Frage des Neurowissenschaftlers ist jedoch eine andere: Gegeben: Ein neurales Netzwerk. Wie ist ein gegebenes Problem mit den gegebenen Mitteln 5 6
Für eine Darstellung und kritische Diskussion der Kontroverse zwischen Fodor / Pylyshyn und Vertretern des Konnexionismus siehe Petitot-Cocorda (2010: Kap. 4.5). Vgl. Minsky und Papert (1988: vi–xv), die als Vorspann zum Reprint des Buches „Perceptrons“ von 1969 eine kurzen geschichtlichen Überblick geben.
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Neurokognitive Modelle der Sprache und Grammatik
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(des in der Evolution entstandenen) Netzwerkes zu lösen? Teile des Systems hatten in einem bestimmten Stadium der Evolution bestimmte Probleme zu lösen, die aber später unter Umständen irrelevant waren. Das bestehende System kann deshalb gar nicht problemspezifisch in Bezug auf jetzige Verwendungen konzipiert sein; es musste vielmehr zur Lösung neuer (aktueller) Probleme angepasst werden.7 Zentral für die Grammatik sind Operationen, die von Langacker construal, von Lakoff mapping und von Fauconnier und Turner (2002) blending genannt wurden.8 Dabei geht es im Kern um die Bindung zweier Inhalte, wobei das Ganze mehr (durch Emergenz neuer Struktur) und weniger (durch Selektion) als die Summe der Teile ist. Die Grundform des Kompositionsproblems in der Wahrnehmung war bereits Thema der Gestaltpsychologie. Wenn einige Teile gegeben sind, z. B. Kandidaten für Hintergrund und Vordergrund, wie wird der Zusammenhalt des Ganzen gefunden oder konstruiert? In Abbildung 11 werden zwei klassische Beispiele aus der Gestaltpsychologie gezeigt: links der sog. NeckerWürfel, rechts die Vordergrund-Hintergrund-Ambiguität. Aus der zweidimensionalen Information des Neckerwürfels muss eine dreidimensionale Figur gebildet werden; diese ist instabil. Die Figur rechts kann als Gesichter (im Vordergrund) oder als Pokal (im Vordergrund) gesehen werden. Diese Phänomene zeigen, dass bereits die visuelle Wahrnehmung semantisch konstruktiv ist.
Abbildung 11: Zwei klassische ambige Bilder der Gestaltpsychologie
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Eine entscheidende Rolle spielen (enge) Zeitfenster. Da das Gehirn mit Leitungsgeschwindigkeiten im Bereich von ca. 70 m / sec arbeitet, ist der Druck auf einfache Prozesse entscheidend für jede echte Lösung eines Problems. Generell ist das „timing“ im Gehirn eher der Schlüssel zum Verstehen der Sprachprozesse als die Lokalisation; vgl. Beretta (2008). Die historische Wurzel dieses Begriffes geht bis auf den Psychologen Johann Friedrich Herbart (1776–1841) zurück, der von „Verschmelzung“ sprach. Dieser Begiff wurde durch den Mathematiker Riemann (vgl. Kapitel 14) aufgenommen und war die Grundintuition seines Begriffs der „Mannigfaltigkeit“. Husserl, der auch Mathematiker war, nahm diese Idee 1900 / 1901 in dem Begriffspaar: Verschmelzung - Sonderung, auf und über Merleau-Ponty ist sie wohl in die kognitive Grammatik gelangt. Vgl. PetitotCocorda (2010: 55 ff.).
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
Die moderne Gehirnforschung mit bildgebenden Verfahren hat die Fragestellung der Gestaltpsychologen präzisiert. Man nennt das Problem jetzt das Bindungs(binding)-Problem. Wenn das Gehirn zwei Objekte oder Objektaspekte registriert, wie werden diese Muster zu einem neuen Gesamtmuster mit neuer, komplexerer Bedeutung zusammengefasst? In dieser Perspektive gewinnt das Phänomen der kortikalen Synchronisation / Desynchronisation eine entscheidende Bedeutung. Die Bindung erfolgt demnach primär (in gewissen Zeitfenstern) temporal, und zwar dadurch, dass Populationen von Neuronen (etwa 500–1000 Zellen) synchron feuern. Die Synchronisierung kann sogar über größere Distanzen im Gehirn erfolgen. Besonders relevant für die Synchronisierung ist das γ-Band (30–50 Hz); deshalb wird im Zusammenhang des Bindungsproblems auch von der 40 Hz-Problematik gesprochen. Für die Sprachverarbeitung hat dasselbe Problem die folgende Form: Gegeben zwei simultan verfügbare Inhalte (in der Wahrnehmung von Sprache oder im Gedächtnis), wie können sie so zusammengeführt werden, dass ein neues sinnvolles Ganzes entsteht. Dieses soll außerdem so stabil sein, dass es auch im Gedächtnis behalten und kommuniziert werden kann, d. h. zum Gedächtnisinhalt eines Anderen wird. Ein zentrales Problem ist dabei die Komplexität des Ganzen, d. h. wenn die Zusammenfügung eine gewisse Schwelle der Komplexität überschreitet, wird das Ergebnis der Zusammenfügung instabil und somit für das Denken und die Kommunikation wertlos. Die Komposition von bedeutungstragenden Einheiten wird in unterschiedlicher Weise realisiert: In der Nominalkomposition, z. B. in: Haustüre, Geldregen; in der Nominalsyntax, z. B. das blaue Dreieck, die große Liebe. Die Frage stellt sich, ob auch die Verbindung von Subjekt und Prädikat oder gar transitive und bitransitive Sätze nach dem gleichen Prinzip funktionieren. In der logischen Semantik (Lambda-Kalkül) wird diese Frage bejaht; die generativen Grammatiken bevorzugen eine Dreiteilung mit Auxiliarkomponente, später der Inflektion (INFL) im Zentrum. Das Problem wäre somit anderer Natur als eine einfache Bindung. Auch das Phänomen der Valenz (vgl. Kap. 6) verlangt nach einer andersartigen neuralen Erklärung, welche dynamische Momente in den Vordergrund rückt.9
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René Thom hat von der Katastrophentheorie ausgehend eine topologische Semantik der Valenz vorgeschlagen, deren neurologische Interpretation aber noch Schwierigkeiten bereitet; vgl. als Erweiterung seiner Vorschläge Wildgen (1994) und mit Bezug zur Neurodynamik Petitot-Cocorda (1995). In der Synergetik Hakens werden ebenfalls Modelle der neuralen Strukturbildung entwickelt, vgl. Kelso, 1995 und Haken, 1996; es fehlt aber eine Anwendung auf die Sprache jenseits der Phonetik.
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Biolinguistik und die genetische Basis der Sprachfähigkeit
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13.2 Biolinguistik und die genetische Basis der Sprachfähigkeit Eine Biolinguistik konnte natürlich vor der disziplinären Konsolidierung der Biologie und der Sprachwissenschaft (beide in der ersten Hälfe des 19. Jh.s) nicht entstehen. Dennoch sind viele Fragestellungen, z. B. zur Natürlichkeit der Sprache (oder ihrer Konventionalität) spätestens seit dem Dialog Kratylos von Platon Thema der Sprachphilosophie gewesen. Der Zusammenhang von Sprachverlust und Gehirnverletzungen war sogar schon den ägyptischen Ärzten bekannt (vgl. Changeux, 1984). Im 18. Jh. war die Sprachfähigkeit von Tieren, insbesondere von Vögeln und Affen Thema lebhafter wissenschaftlicher Debatten, das Kaspar Hauser Phänomen wurde an Fallbeispielen diskutiert und die Entwicklung der Phonetik führte neben einer systematischen Beobachtung der Artikulationsbewegungen auch zum Versuch, Sprache maschinell zu simulieren (eine gute Zusammenfassung der Diskussion im 18. Jh., bietet von Kempelen, 1781). Die Sichtweise der „romantischen Sprachwissenschaft“, dass die Sprache ein Organismus sei, und die schnelle Reaktion Schleichers auf Darwins Evolutionstheorie (vgl. Kap. 2.5) waren ebenfalls Vorbereiter einer Biolinguistik. Entscheidend und in der Theorie ein Neustart war das Werk von Charles Darwin zur Evolution der Arten (1859) und sein späteres Werk zum Ausdruckverhalten von Tier und Mensch (1872). Die Kontroversen zum Darwinismus ebenso wie die Fehlentwicklungen des Sozialdarwinismus wurden schließlich in der so genannten Synthese um 1930, als die genetischen Mechanismen der Mutation klarer erkannt wurden, zumindest in der Wissenschaft beendet. Damit wurde eine solide Basis für die evolutionäre Anthropologie geschaffen, die durch die Entschlüsselung des Genoms des Menschen Ende des 20. Jh.s ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Die Hoffnungen, damit auch die genetische Basis der menschlichen Sprachfähigkeit näher bestimmen zu können, wurde nach anfänglichen Erfolgsmeldungen, wieder gedämpft. Immerhin gibt es einen heißen Kandidaten, das FOXP2-Gen. Es wurde 1998 als Ursache der erblichen Sprachstörung in einer Londoner Familie diagnostiziert. Es handelt sich dabei hauptsächlich um eine Störung in der Entwicklung der Artikulationsfähigkeit. Das Gen, das auf Chromosom 7 liegt, kommt auch bei Tieren vor und hat auch dort etwas mit der Regelung komplexer Motorik zu tun. Von der Artikulationsfähigkeit zur Sprachfähigkeit ist aber noch ein weiter Weg. Eine andere Endeckung, die der so genannten Spiegelneuronen, hat Ende des 20. Jh.s. Furore gemacht. Sie wurden vom Giacomo Rizzolatti und seinen Mitarbeitern 1995 bei Affen im Tierversuch entdeckt (vgl. Rizzolatti u. a., 1998); sie spielen auch im Großhirn des Menschen eine Rolle und werden mit dem Erkennen von Handlungsmustern und ihrer Nachahmung in Verbindung gebracht. Das entsprechende kognitive System erleichtert das Erlernen von Be-
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
wegungen (etwa der Hand aber auch des Mundes beim „Mundlesen“ des Säuglings). Auch Aspekte des Bewusstseins (theory of mind) und der Empathie könnten mit dem Wirken dieses Systems zusammenhängen. Analysen der geographischen Verteilung von Blutgruppen, Rhesusfaktoren und anderen Faktoren, zu denen später auch die Verteilung von Allelen (Genvarianten) in verschiedenen Bevölkerungen kamen, habe neues Licht in die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sprachgemeinschaften gebracht. Durch statistische Analyse der Verteilungen und anhand einer genetischen Uhr (der Mutationsrate) konnten Migrationswege und Faktoren der genetischen Zusammensetzung etwa der europäischen Bevölkerungen gefunden werden, welche die linguistische Typologie und Genealogie bereichert und vertieft haben (vgl. Cavalli-Sforza, 2001). In diesem Zusammenhang sind die quantitativen Verfahren der Typologie, die Joseph Greenberg entwickelt hat und mit deren Hilfe er die Gliederung der afrikanischen und ameroindischen Sprachen erhellt hat, zu erwähnen. Parallel dazu haben die Forschungen der Genetiker um CavalliSforza u. a. (1996) genetische Stammbäume erzeugt, die mit den linguistischen verglichen werden können. Gemeinsam mit archäologischen Ergebnissen lässt sich jetzt ein wesentlich zuverlässigeres Bild der Sprachverzweigungen und Sprachkontakte erstellen.
13.3 Die Wiederaufnahme der Sprachursprungsdebatte: Gab es eine Protosprache? Zur Geschichte der Sprachursprungsdebatte gibt es eine ausführliche Literatur, auf die ich nicht eingehen kann. Der erste Innovationsschwung geschah im 18. Jh., als sich die französische Aufklärung um eine natürliche Erklärung des Sprachursprungs, d. h. ohne einen ad hoc Eingriff Gottes, bemühte. Diese Bewegung begann mit dem „Essai“ von Condillac (1746), wurde von Diderot, Maupertuis, Rousseau aufgegriffen, und von Herder (1772 und 1781) zusammengefasst. Im 19. Jh. stand die historische Genese schriftlich überlieferter Sprachen im Vordergrund (siehe Kap. 2), dennoch verfassten fast alle wichtigen Linguisten und Philosophen noch Abhandlungen zum Sprachursprung: Jakob Grimm, Heyman Steinthal, William Whitney, Hugo Schuchart, Adam Smith, Ernest Renan, Wilhelm Wundt u. a.10 Die Hervorhebung synchroner Fragestellungen und damit indirekt die Abwertung der Fragen des Woher, Warum?, die
10 Das immer wieder angeführte Verbot der Société de linguistique de Paris 1865 kam also nicht allgemein zum Tragen. So leicht lassen sich zentrale Fragen einer Disziplin nicht verbieten.
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Die Wiederaufnahme der Sprachursprungsdebatte
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besonders im „Cours“ von 1916, nicht so sehr in Saussures originalen Schriften (vgl. Kap. 3.1), zum Programm wurde, hat bei vielen Linguisten eine Abkehr von diachronen und evolutionären Fragestellungen bewirkt. Mit der apodiktisch festgelegten Universalsprache Chomskys schien jede Frage einer evolutionären Herleitung obsolet und es entstand fast eine Blockade-Situation wie vor der Aufklärung. Erst die Aufsehen erregenden Erfolge der evolutionären Anthropologie und der Genetik seit den 70er Jahren bewirkten ab den 80 Jahren ein Wiedererwachen des Interesses (vgl. die „Cradle of Language“ Konferenz und Botha und Knight, 2009). Selbst Computersimulationen erlauben inzwischen eine Evaluation von Hypothesen zum Sprachursprung, womit der Nimbus einer „verstaubten“ Fragestellung weggewischt wurde (vgl. den ausführlichen Forschungsbericht in Wildgen, 2004 und Johansson, 2005). Ich will die Entwicklung der Forschung in den letzten Jahrzehnten, besonders die Diskussion zur Form einer möglichen Protosprache in Grundzügen darstellen (vgl. Wildgen, 2004: Kap. 8). Der Begriff „Protosprache“, den Bickerton (1990) erstmals genauer beschrieben hat, umfasst alle der (aktuellen) menschlichen Sprache evolutionär vorangehenden Stufen einer sprachähnlichen Kommunikation. Die zeitlichen Grenzen sind durch den letzten Verzweigungspunkt der Linien, die zum Schimpansen einerseits und zum Menschen andererseits führen, also vor 5 bis 7 Millionen Jahren, gegeben. Wenn man davon ausgeht, dass die heutigen Schimpansenpopulationen keine menschliche Sprachfähigkeit besitzen (trotz des erstaunlichen Verständigungspotentials in geschickt angelegten Trainingsprogrammen) und dass dies ähnlich für unsere gemeinsamen Vorfahren galt,11 dann stellt die Periode vor 5 bis 7 Millionen Jahren die Stufe 0 dar: keine menschliche Sprache, auch keine Protosprache12. In der Zeit dazwischen müssen (nach der Kontinuitätshypothese Darwins, die Phasen der Beschleunigung nicht ausschließt)13 entscheidende Vorformen entstanden sein. Es kommen drei (eventuell vier) Zeit-Zonen in Betracht, die in Tabelle 19 gezeigt werden.
11 Natürlich könnte eine komplexe Sprachfähigkeit der Ur-Chimpansen in 7 Millionen „ausgemendelt“ worden sein, da frühe und unvollkommene Formen der Sprachkompetenz nicht ausreichend selektionswirksam waren. Dies ließe sich an Fossilien der Evolution in der Chimpansenlinie nachweisen, dazu liegen aber kaum Funde vor. 12 Unter „Sprache“ wird menschliche Lautsprache verstanden; die sog. „Tiersprachen“ sind tierische Kommunikationsformen, die allgemein in der Zoosemiotik zu behandeln sind. 13 Vgl. die Hypothese des „punctuated equilibrium“ von Gould (2002: Kap. 9); die in Tabelle 11 erwähnten Stufen können solche Gleichgewichte im Übergang gewesen sein.
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
Zeitraum
Arten
Verhaltens merkmale
Sprachevolution
3–4 Mill. J.
Australopithecus
aufrechter Gang
Verbessertes Gehör der Savannen bewohner
ab 2,3 Mill. J. (in Rückzugsgebieten bis 15.000 v. h.)
Homo Erectus (als Anfangsstufe: Homo Habilis; 2.3 Mill.)
Werkzeugkultur, Protosprache Ausbreitung über (Zwischenstufe die Welt der Sprach evolution)
ab 400.000 bis 40.000 v. h.
Homo Sapiens (ab 70.000 Bewegung Out-of-Africa)
verfeinerte Werkzeugkultur, Schmuck, Kunst
Prämoderne Sprache, durch kulturelle Evolution weiter ausdifferenziert
Höhlenmalerei, Skulpturen, Religion, weiträumige Kulturen
Moderne Sprachen, Schriftsysteme, verallgemeinerte Medien
40.000 bis heute Cro-MagnonMenschen des späten Paläolithikum (Mutation des FOXP2 Gens?)1
Tabelle 19: Größere Phasen in der Evolution der menschlichen Sprache und dazu gehörige Sprachtypen Im Falle des Australopithecus liegt zu wenig Material (z. B. keine Werkzeugkultur) vor, um auf die Entwicklungsstufe der Sprache schließen zu können. Calvin und Bickerton (2000) gehen aber davon aus, dass das Leben im Übergang zur Savanne und die starke Bedrohung durch andere Raubtiere eine Evolution des auditiven Apparates und damit die Anbahnung einer Lautsprache (ergänzend zu einer gestisch-motorischen Kommunikation) bewirkt haben. Da auch Affen über referentiell differenzierte Warnrufe verfügen, könnte deren Fähigkeit in Richtung auf ein kleines „Lexikon“ pragmatisch bedeutsamer Lautungen weiterentwickelt worden sein (vergleichbar der Einwortphase des Spracherwerbs). Der Homo erectus hat sich (ab 1,7 Mill.) ähnlich erfolgreich wie der moderne Mensch über die ganze Welt (in Amerika fand man bisher keine Spuren) ausgebreitet, hatte eine differenzierte Werkzeugkultur und bildete eine Art Paläospezies, d. h. er hat sich in 2 Mill. Jahren sehr stark ausdifferenziert. Wegen des langen Zeitraumes und der weltweiten Ausdehnung hat die Protosprache des Homo erectus mannigfaltige Ausprägungen gehabt. Letztlich sind sowohl die Neandertaler als auch der archaische Homo sapiens aus dieser Paläospezies hervorgegangen.
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Die Wiederaufnahme der Sprachursprungsdebatte
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Die ab 70.000 sich über Afrika hinaus ausbreitende Spezies „Homo sapiens“ zeigt anatomisch so große Ähnlichkeiten mit heute lebenden Menschen, dass wir ihr eine direkt unseren Sprachen zu Grunde liegende prämoderne Sprache zuordnen müssen.14 Wenn wir deren Kernbereich nach der Spezies-Bildung und vor der Out-of-Africa-Bewegung (z. B. vor 200.000 J.) als stabil ausgeprägt ansehen, erhalten wir einen Prototyp der prämodernen Sprache. Eine dritte Stufe (ab 40.000 J.) erscheint aus evolutionsbiologischer Sicht unplausibel, da die stabilen, vererbbaren Züge einer Sprachfähigkeit in so kurzer Zeit nur unter extremem Selektionsdruck entstehen können. Bereits der Zeitraum von 200.000 J. ist für grundlegende genetisch stabile Veränderungen recht klein, so dass die Protosprache des Homo erectus den besten Kandidaten für eine Zwischenstufe darstellt. Auf diese werde ich mich im Folgenden konzentrieren. Als Ebenen einer Protosprache nehme ich provisorisch folgende Bereiche an: –– Protophonetik (Phonologie), wobei die auditive von der produktiven Phonetik / Phonologie zu unterscheiden sind,15 –– Protosemantik, die wahrscheinlich situativ und pragmatisch verankert ist,. –– Protosyntax (sowohl von Wörtern als auch von Sätzen). Protophonetik Die Audition ist bei den Primaten und selbst bei höheren Säugetieren sehr gut entwickelt und bei Tests mit dem Schimpansen Kanzi und dem Gorilla Koko (vgl. Savage-Rumbaugh und Lewin 1994 und Patterson und Cohn, 1990) wurde ein Satzverständnis (Englisch) von 70–80 % gemessen, was der Leistung eines zweijährigen Kindes entspricht. Neuerdings hat ein am Max-Planck-Institut in Leipzig untersuchter Hund einen passiven Wortschatz von 250 Einheiten gezeigt, d. h. er kann korrekt auf 250 Schlüsselsätze reagieren. Die Disposition zum akustischen Sprachverstehen lag demnach bereits auf der 0-Stufe vor. Allerdings kann die Verfeinerung der auditiven Diskriminierung und Kategorisierung bei den Australopithicinae die Entwicklung einer leistungsfähigen Lautsprache angebahnt haben.16
14 Inwiefern die heute existierenden Sprachen sich von der Protosprache stärker unterscheiden als untereinander, bleibt offen. Die Migration mit der Folge einer genetischen Diversität durch Trennung könnte der heute feststellbaren Variation innerhalb der Sprachen entsprechen. Aus evolutionsbiologischen Gründen ist eine spätere Entstehung der modernen Sprachfähigkeit auszuschließen. 15 Da keine Spuren dieser Sprachen vorliegen, ist es nicht möglich, eine Phonologie (mit Minimalpaaren und Oppositionen) zu formulieren. Es ist aber davon auszugehen, dass es viele verschiedene Realisierungen spezieller Phonemsysteme gab, d. h. einzelsprachlich spezifische Lautsysteme. Deshalb ist der Begriff Phonetik / Phonologie angemessen. 16 Vgl. auch die Lautdiskriminierung von Säuglingen und die Hörfähigkeit des Menschen im Mutterleib.
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Bei der Lautproduktion verhält es sich offensichtlich anders, da z. B. S chimpansen die Lautlichkeit menschlicher Sprachen nicht produzieren können. Die Lautproduktion von Neandertalern, die man auf der Basis ihrer Anatomie rekonstruiert hat, ist ein Streitpunkt. Liebermann und Crelin (1971) schlossen aus ihren Rekonstruktionen auf einen verkleinerten Vokalraum; die Methode der Berechnung wurde aber kritisiert, da Daten aus der Physiologie der Schimpansen zu Grunde gelegt wurden. MacNeillage und Davis (2000) haben eine Hypothese für die Form der Silben einer Protosprache entwickelt. Die Autoren gehen von einfachen Bewegungen der Backenmuskulatur und der Lippen aus, wie sie für das Kauen, Beißen, für Lippenbewegungen des Saugens, bei Schimpansen auch für die Lippengestik vor der Sprache verfügbar waren. Sie schlagen vier Silbentypen vor. CV – koronaler Konsonant + frontaler Vokal, z. B. te – te – te CV – labialer Konsonant + zentraler Vokal ba – ba – ba CV – dorsaler Konsonant + hinterer Vokal go – go – go CVC – labialer Konsonant – Vokal – koronaler Konsonant: bat, bod, pet, … Diese einfachsten motorischen Muster treten als häufige Produktionen sowohl beim Babbeln von Kleinkindern als auch als Silbenmuster der Sprachen der Welt auf und bilden einen Teil der von Ruhlen (1994) Proto-Welt-Wortschatz genannten Liste (der allerdings als viel rezenter angenommen wird). Experimente haben gezeigt, dass bei gegebenen artikulatorischen Bedingungen Lautsysteme und, über eine Optimierung, auch echte phonologische Systeme mit Oppositionen durch Selbstorganisation entstehen können (de Boer, 2001). Da die Sprachproduktion des Menschen auch bei organischer Behinderung möglich bleibt und da unter gewissen Bedingungen eine extrem vereinfachte Sprache erfolgreich benützt werden kann (etwa die Pfeifsprache der Kanaren), ist anzunehmen, dass die Evolution eher die Schnelligkeit und Präzision als das grundlegende Muster verändert hat. Die kombinatorische Phonetik jenseits der Silbe ist im Prinzip auf frühen Evolutionsstufen möglich, was sowohl beim Vogelgesang, der Lautung von Walen und bei Affen-Signalen gezeigt wurde. Der kritische Punkt ist die Kombination von Bedeutungen, die Teilsegmenten zugeordnet sind. Dies scheint auf Stufe Null (entsprechend der vergleichenden Verhaltensforschung) nicht wahrscheinlich zu sein. Ich werde diesen Aspekt unter der Rubrik Protosemantik diskutieren. Fazit: Die Phonetik (Phonologie)17 der Protosprache funktionierte ähnlich wie die der heutigen Sprachen, war aber in ihrer Bandbreite und ihrem Differenzierungsgrad (insbesondere über alle Varianten gerechnet) wohl geringer. 17 Um die Ebenen von Form und Inhalt nicht zu verwischen, ist die Phonologie als ein System von einzelsprachlichen Lauttypen (statistischen Prototypen) im Artikulations-
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Bei der großen Variation, z. B. der Vokal- oder Konsonantensysteme heutiger Sprachen (vgl. Crothers, 1978), ist es aber wahrscheinlich, dass die Protosprache nicht signifikant verschieden waren. Protosemantik Waren die evolutionären Grundlagen der Phonetik eher Präadaptationen zu verdanken, d. h. im Dienste anderer Prozesse im allgemeinen Selektionsprozess entstanden (Ortung von Fressfeinden und Beute bei der Audition; Kauen, Beißen, Schmecken bei der Artikulation) und anschließend in den Dienst der Lautsprache gestellt worden, so muss für die Evolution der Semantik ein (dramatischer) Selektionsvorteil während der Nutzung und weiteren Entfaltung gefunden werden, damit sie im Rahmen des modernen Darwinismus erklärt werden kann. Aber selbst in der Semantik gibt es große Bereiche, die der Mensch mit anderen Primaten teilt. Die Kategorisierung von Wahrnehmungen in situ unterscheidet uns nicht wesentlich von anderen Säugetieren und selbst Vögeln (z. B. Tauben). Auch Tiere außerhalb der Säugetierfamilie haben ausgezeichnete Systeme der wieder benutzbaren Umweltkategorisierung. Diese Fähigkeit gehört somit der NullEbene an. Wie schon Piaget am Phänomen der Objekt-Permanenz gezeigt hat, ist ein erster (in der Ontogenese rekapitulierter) Schritt die Trennung von situativer Wahrnehmung und deren Verstetigung zu kognitiven Erwartungsmustern (z. B. des abwesenden Objektes). Auf den ersten Blick erscheint es vollkommen unrealistisch, dass ein vielfältiges und umfangreiches System arbiträrer Zuordnungen von Zeichen und Bedeutung stabil memoriert und sozial koordiniert existieren kann. Gerade die Willkür-Beziehung öffnet Zufallsschwankungen Tür und Tor und das Fehlen einer Kontrolle der Zeichenrelation macht die Stabilisierung individuell und kollektiv ganz unwahrscheinlich. Hier liegt somit das zentrale Problemfeld der Sprachevolution. Eine gewisse Lösung erscheint greifbar, wenn man die Saussuresche Arbitrarität durch Formen der Natürlichkeit oder einer vielfältigen Motivation ersetzt. Die Ikonizitäts-Debatte und die Natürlichkeitstheorien, die vom Jakobsonschen Markiertheits-Begriff ausgingen, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s den Weg für eine solche Theorie gebahnt (vgl. dazu Mayertaler, 1981 und Dressler, 1987). Eine weiter reichende Hypothese enthält die auf Husserl und MerleauPonty zurückgreifende Embodiment-Debatte von Johnson, Lakoff u. a. Die Grundhypothese besagt, dass die sprachliche Semantik eine Architektur hat, die ihre stabile Basis in der Kategorisierung des eigenen Körpers und desjenigen des Anderen (z. B. der Mutter) hat. Sie wird zuerst erweitert auf die Körperteile und deren Kontrolle (z. B. die Hände und Füße), deren Bewegungen und und Auditionsraum zu verstehen. Die bedeutungsunterscheidende Funktion bleibt, wegen der empirischen Nichtzugänglichkeit des Lexikons, unberücksichtigt.
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Handlungen und auf den sich entfaltenden Handlungsraum (dies hat bereits Lewin 1935 in seiner Topologischen Psychologie ausgeführt; vgl. Wildgen, 2001). Wir erhalten demnach die folgenden, biologisch begründeten Basisebenen der Semantik: –– Eigener Körper (schon im Mutterleib erfahren). –– Eigener Körper in Bezug zur Mutter (Ego-Alter); grundlegende Bedürfnisse und Handlungen des Säuglings. –– Kontrolle und intentionaler Einsatz der Körperteile (besonders der Hand). –– Objektkontrolle mit Auge und Hand. –– Bewegungsraum (Augenbewegungen, Handbewegung, Fortbewegung). Diese Architektur ist quasi-vorsprachlich gegeben, bzw. sie wird parallel zu einer Vorbereitungsphase des Spracherwerbs entfaltet. Die weitere Entwicklung nach der sukzessiven Einführung sprachlicher Benennungen und erster Feldbeziehungen (paradigmatisch und syntagmatisch) ist nach Lakoff und Johnson (1980) durch die rhetorisch-semantischen Operationen der Metonymie und Metapher zu erklären. Die Operationen Metonymie und Metapher gehören eigentlich zu einer komplex-innovativen Sprachpraxis und wurden erst im Nachhinein als Fundierung der Semantik umgedeutet. Außerdem haben die Operationen Metonymie und Metapher einen Grad der Willkür, der die Stabilität, Effektivität und damit Selektionsrelevanz des sich ergebenden Systems unerklärt lässt. Der Übergang von der Protosprache zur modernen Sprache könnte auch indirekt über parallel existierende symbolische Formen oder in Koevolution mit diesen erfolgt sein. In diese Richtung weist die Kulturtheorie, die Ernst Cassirer in den 20er Jahren des 20. Jh.s. entwickelt und in den 40er (in seinem „Essay on Man“) weiter ausgebaut hat. Seine Basishypothese besagt: Es gibt eine allgemeine kulturelle Basis: die „symbolische Form“ und es gibt eine Transfermöglich keit zwischen ihren Ausprägungen: Sprache, Mythos, Wissenschaft; später fügte er hinzu: Kunst, Technik, Politik. Da Technik (in Stein) und Kunst (Fels zeichnungen, Höhlenmalerei) früher dokumentiert (ab 2 Mill. v. h.) sind als die Sprache, können Aspekte der Protosemantik auf der Basis von paläolithischer Technik und Kunst rekonstruiert werden. Daraus ergibt sich eine evolutionäre Pragmatik, d. h. die Evolution des Handelns erzeugt eine konzeptuelle und sprachliche Evolution oder begleitet diese zumindest strukturbildend (vgl. Wildgen, 2007b). Wie der Anthropologe Mauss (1936) erläutert, ist das Geben der Prototyp einer weit reichenden gesellschaftlichen Interaktion, besonders jenseits der Dyade Mutter–Kind, die wie die Brutpflege teilweise angeboren und erst danach sozial reguliert ist. Wir können somit das Drei-Aktantenschema als Horizont der frühen Entwicklung annehmen. Da die spätsteinzeitlichen Kulturen der modernen Menschen in Europa (wohl auch auf anderen Kontinenten) komplexe Kontakte und Transferleistungen zeigen, ist diese Stufe um 40.000 v. h. erreicht gewesen. Für die Protosprache dagegen wird das Zweiak-
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tantenschema (vgl. Kap. 6) die obere Grenze der Komplexität dargestellt haben. Für weitere Details siehe Wildgen (2004: Kap 8). Protosyntax In Johansson (2005: 230 f.) werden die Argumente für eine Protosyntax zusammengefasst. Er kommt zu dem Schluss, dass zwei der vier für die Syntax wesentlichen Eigenschaften eher spät entstanden sein müssen, da sie in einzelne Sprachen und in vielen Sprachverwendungen verzichtbar sind: –– Rekursivität (wie Mehrfachattribute und wiederholte Subordinationen).18 –– Positionelle Flexibilität im Sinne der Transformationsgrammatik. Als zentrale Eigenschaften einer Protosyntax bleiben: –– Struktur: Der Satz ist keine zufällige Abfolge von Elementen; es gibt Regeln der Satzordnung (die Techniken können verschieden sein). –– Hierarchie: Es gibt mehr als eine Ebene, auf der solche Strukturen (siehe oben) existieren. Ein wichtiger Punkt betrifft die Größe des Inventars am Sprachzeichen und die daraus folgende Belastung für den Sprecher und Lerner. Mit dem Anwachsen des Vokabulars kann ein Selbstorganisationsprozess ausgelöst worden sein, der sowohl die interne Struktur von Wörtern und Phrasen als auch die Struktur der Sätze, also die Bedingung der Möglichkeit einer differenzierteren Kommunikation, erzeugt hat (dies ist mit Harris’ Sichtweise noch kompatibel aber nicht mit der von Chomsky; vgl. Kap. 9.2). Die Protosyntax wäre einerseits die Folge des Anwachsens des Lexikons, andererseits hätten die Gestaltprinzipien der Protosemantik die Grundlinien der Entfaltung festgelegt.
13.4 Von der biologischen zur kulturellen Selbstorganisation Theorien der Selbstorganisation, dynamische Systemtheorien sind ein großer ideengeschichtlicher Bereich, der sich ausgehend vom Wiener Kreis um 1920 und den Bestrebungen um 1930, eine Einheitswissenschaft zu etablieren, über weitere Bereiche der Wissenschaften ausgebreitet hat. Stand zuerst die Biologie im Vordergrund, so in der Allgemeinen Systemtheorie des Biologen von Bertalanffy (1932), entwickelten sich bald technische Paradigmen wie die Kybernetik Wieners oder die Theorie dissipativer Strukturen von Prigogine (beide nach 1945). Es kamen Ansätze in der Psychologie und Erkenntnistheorie, z. B. bei von Förster und Maturana hinzu. Die Geschichte dieser interdisziplinären 18 Dies widerspricht der Annahme von Fitch, Hauser und Chomsky (2005), dass die Rekursivität den harten Kern der menschlichen Sprachfähigkeit ausmacht.
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Bewegung muss anderen Orts geschrieben werden (eine Skizze enthält Wildgen, 1987 / 2005: Kap. 1). Wenn man sich auf einige zentrale Merkmale konzentriert, dann heißt „Selbstorganisation“: –– Das Ganze zeigt eine einfache Dynamik trotz der unüberschaubaren Vielfalt einzelner Teile und Prozesse. –– Die kausalen Wirkungen erfolgen in viele Richtungen gleichzeitig und ihre Effekte überlagern sich, wobei neue Strukturen hervortreten (Emergenz). –– Es gibt Kreisprozesse, d. h. die Wirkungen werden mit den Ursachen zurückgekoppelt; dabei können neutrale Vermittler (so genannte Katalysatoren) auftreten.19 Folgende Bereiche sind offensichtlich eher selbstorganisiert als von außen gesteuert: 1) Evolutionäre Prozesse. Sieht man von der Hypothese einer göttlichen Detailsteuerung ab, so sind nur Selbstorganisationsprozesse vorstellbar. Dabei herrschen allerdings komplizierte Randbedingungen, die im Rahmen einer modernen Evolutionstheorie zu beschreiben sind. 2) Der Spracherwerb wurde schon seit den Arbeiten von Piaget als Selbstorganisationsprozess verstanden (er spricht von „Formen kognitiver Selbstregulationen, die flexibel und konstruktiv sind“ (Furth, 1972: 275). 3) Der Sprachwandel: Die romantische Sprachwissenschaft verglich Sprachen mit Organismen. Die Selbstorganisationstheorie kann diese Gründerintuition der Philologen des frühen 19. Jh.s in einem geeigneten Rahmen neu formulieren und als Basis einer Theorie des Sprachwandels und der Kreolgenese nützen (vgl. Wildgen, 2010b). 4) Grammatikalisierungsprozesse: In der neueren komparatistischen Forschung stehen Prozesse im Vordergrund, durch die grammatische Strukturen herausgebildet werden. Insbesondere entstehen grammatische Mittel wie Präpositionen, Konjunktionen, Pronomina, Affixe u. a. aus lexikalischen in einer Art Metamorphose, die sowohl kognitive Prinzipien aktiviert als auch globale Systemanforderungen umsetzt. Diese Prozesse werden nicht bewusst von den Sprechern eingesetzt und sind so gesehen selbstorganisiert. 5) Untersuchungen zum Sprachwandel „in progress“ behandeln das Zusammenwirken von inneren und äußeren Kräften beim Sprachwandel oder wählen die „hidden hand“-Metapher, die ein historischer Vorläufer der Selbstorganisationstheorien ist (siehe Keller, 1994). 19 Das Anwendungspotential von Selbstorganisationsmodellen in der Sprachwissenschaft wurde in Wildgen (1987 / 2005), Wildgen und Plath (2005) und Wildgen (2010c) erläutert. Von „Katalyse“ in einem weiteren Sinn, durch welche Analyseprozesse ermöglicht werden, spricht bereits Hjelmslev (1943 / 1974).
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6) Bei der Reifung des Gehirns spielen sich komplizierte Selbstorganisations prozesse ab. Es ist keineswegs so, dass das Wachstum direkt durch den genetischen Code gesteuert ist, vielmehr werden Neuronen „im Überschuss“ produziert, durch deren Selektion eine plastische und funktional adaptierte Struktur entsteht. Diese Struktur des Gehirns ist der Ausgangspunkt für eine interaktive, soziale Formung des Denkens und der Sprache in den Prägungsphasen. 7) In der Lautproduktion und -rezeption spielen sich komplexe, hochkooperative Prozesse ab. In diesem Bereich können gut entwickelte Modelle der Selbst organisation angewandt werden (vgl. Kelso, 1995 und Oudeyer 2006). 8) Ziemlich einfach lässt sich der Selbstorganisationscharakter bei der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher Strukturen beobachten. Dazu gehören sowohl Innovationen im Lexikon als auch Makroformen wie die Erzählung und der Diskurs. Gemäß einer bereits kurz nach Darwins Schrift (1859) von August Schleicher (1863) formulierten These verhalten sich Sprachen scheinbar wie Spezies, d. h. Wörter und sprachliche Konstruktionen werden verdrängt, ersetzt (ausgelesen). Es ist aber die fast einhellige Meinung moderner Typologen (Humboldt sprach wie Herder noch von einer Höherentwicklung der Sprachen), dass sich Sprachen insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit nicht unterscheiden, also nicht direkt oder nachweisbar einem Adaptations- oder Selektionsdruck unterliegen. Greenberg (1959: 69) sagt: „Taking linguistic change as a whole, there seems to be no discernible movement toward greater efficiency such as might be expected if in fact there were a continuous struggle in which superior linguistic innovations won out as a general rule.“
Labovs Analysen (vgl. Kap. 10) fassen den Sprachwandel in erster Linie als eine Anpassung an Moden, als Technik der sozialen Markierung (positiv oder negativ) auf. Dabei ist aber zweierlei zu bedenken: Erstens beschreibt Labov am präzisesten den Lautwandel und nur indirekt dessen Auswirkungen, z. B. den Verfall morphologischer und lexikalischer Unterscheidungen; zweitens sind die betrachteten, mit soziolinguistischen Methoden erfassbaren Prozesse zeitlich auf maximal drei Sprechergenerationen begrenzt (die Distanz vom jugendlichen zum alten Sprecher beträgt ca. 50–60 Jahre). Die „Evolution“ von Kulturen und Sprachen seit der Out-of-Africa-Bewegung liegt aber eher im Skalenbereich von 60.000 Jahren als im Bereich von 60 Jahren. Dunbar (2003: 227) argumentiert, dass bereits für die Entwicklung der Sprachfähigkeit weniger externe Faktoren (etwa die ökologische Nische) als vielmehr die Veränderung der Sozialstruktur maßgeblich war: „It is difficult to see how anything in the physical world of the later hominids could have been so different from that of their forebears (or indeed most other primates) to fulfill the condition [z. B. größeres Lexikon, d. A.], but the demands of an increasingly large social world seem to do so admirably.“
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Wenn dies bereits bei der Evolution der Sprachfähigkeit, also vor der Speziesbildung, der Fall war, so erscheint die Annahme plausibel, dass auch die soziale Evolution im späten Paläolithikum und im Neolithikum die Bedingungen und Formen der Kommunikation verändert hat. Entsprechend müsste ein ähnlicher Evolutionsdruck, der die Entwicklung der menschlichen Sprache forciert hat, auch bei der sozialen Evolution gewirkt haben. Ich nehme deshalb eine Kontinuität des Prozesses über die Spezies-Bildung hinaus an. Die Frage ist jedoch: Handelt es sich dabei immer noch um eine Form der Selbstorganisation? Die Selbstorganisation von sozialen Systemen hängt einerseits von Rahmenbedingungen ab (der Ökologie, dem geographischen Raum mit Adern intensiven Kontakts und Barrieren, ökonomische Ungleichheiten und Zeit zum Lernen und Kulturschaffen), andererseits braucht es Akteure (deren Willen, Fähigkeiten). Diese sind z. B. Personen in Schlüsselpositionen der Familie oder der Institutionen, Leitfiguren in peer-groups oder Mediatoren in Nachbarschaftsnetzwerken. Ein Akteur ist per definitionem willensgesteuert (er handelt mit Absichten) und somit frei (selbstbestimmt); seine Rolle im Netzwerk hängt aber von der Reaktion der Anderen, vom feedback seiner Handlungen ab. Durch diese Rückbezüglichkeit entsteht ein selbst-organisiertes Netz, in dem die Akteure zwar der Motor sind, das Gesamtgeschehen und das Ergebnis aber durch Prozesse der Selektion im Netzwerk bestimmt werden (siehe auch die noch weiter reichende soziologische Analyse in den Akteur-Netz-Theorien in Latour, 2005). Selbstorganisationsmodelle, die in den Naturwissenschaften sehr erfolgreich waren und die sich neuerdings in der Psychologie etablieren, sind in der Sprachwissenschaft noch Neuland oder kommen meist ohne das vorhandene Modellbildungspotential zur Anwendung.20 Dies liegt daran, dass körperliche, psychische und soziale Aspekte in der Sprache in komplexer Weise verschränkt sind. Es fehlt kurz gesagt das empirische Wissen zur Sprachdynamik, während sich unser Wissen über vorfindliche Sprachprodukte (Sprachen, Grammatiken, Lexika) ständig erweitert. Viele dem Selbstorganisationsansatz entgegen gesetzte Fragestellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten als Sackgassen erwiesen und bieten damit eine indirekte Bestätigung für die Notwendigkeit eines Selbstorganisationsansatzes:
20 Die Modellbildungsmöglichkeiten wurden allerdings von Wildgen (1987 / 2005) sowie in Plath und Wildgen (2005) dargelegt. Die „invisible hand“-Theorie des Sprachwandels in Keller (1994) sagt nichts über den Mechanismus der Selbstorganisation aus. Als größerer Rahmen können so genannte „Komplexitätstheorien“ gelten, die allerdings selbst eine große Vielfalt aufweisen; siehe etwa die Sammlung von Antworten bekannter Komplexitätsforscher in Gershenson (2008).
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1) Dass die Sprache keine nachträglich eingesetzte Ausstattung des Menschen durch Gott ist, hat bereits Herder (1772) überzeugend dargestellt. Sie ist auch keine vom angeborenen Sprachorgan physikalisch determinierte Struktur (wie Chomsky bis in die 90er Jahre meinte). 2) Der Sprachwandel verläuft nicht nach ewigen Gesetzen, die in Physik und Physiologie ihr Fundament haben (siehe die Lautgesetze der Junggrammatiker um 1870). 3) Die Aktualgenese und generell jede Verwendung von Sprache ist mehr als ein instinktives Regelbefolgen, oder das mechanische Ausfiltern der richtigen Sätze aus der unendlichen Vielfalt der möglichen. Die Neurodynamik wird dazu wahrscheinlich bald neue Zugänge schaffen (vgl. Kap. 13.1. und Wildgen 2006). Innerhalb der modernen Selbstorganisationstheorien gibt es durchaus kontroverse Positionen.21 Ich will die Kontroverse auf drei Positionen begrenzen: 1) Die Position einer abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit, die dem klassischen Strukturalismus (F. de Saussure, L. Hjelmslev) implizit ist. Demnach wäre etwa das System Sprache ein geschlossenes System, das sich zwar unter äußeren Einflüssen selbst neu organisiert und einen Grad der Ökonomie und Ordnung (Symmetrie, Regelhaftigkeit) anstrebt, insgesamt aber nicht aus größeren Systemzusammenhängen hervorgeht oder bezüglich solcher emergent ist. Charakteristisch für die Position, die auch Chomsky seit Jahrzehnten hartnäckig vertritt, ist die Weigerung, Fragen zur historischen (sozialen, kulturellen) Genese oder gar zur Evolution zu behandeln. Für Chomsky ist jedes Sprachsystem ein optimales System und deshalb nicht extern erklärbar. Lediglich der Spracherwerb, als Eintritt des Kindes in das bestehende System, ist begrenzt relevant. Dass die Kinder dabei partiell die Sprache neu erfinden, wird ausgeschlossen. Phänomene, wie die Kreolgenese, wo eine neue Sprache entsteht, werden als Effekt einer Biogrammatik verstanden (vgl. Bickerton u. a., 1984).22 In neueren Kontroversen unter Chomskys Beteiligung wurden kleinere Zugeständnisse an die Evolutionsbiologie gemacht. Indem sich Fitch, Hauser und Chomsky (2005) aber auf die Fähigkeit zur Rekursion als Merkmal einer Sprachfähigkeit im engeren Sinn 21 Es wird oft bemängelt, dass der Begriff „Selbstorganisation“ nicht nur vage, sondern sogar widersprüchlich sei. Vage insofern die Begriffsbestimmungen häufig von Autor zu Autor variieren und dabei nicht selten eine metaphorische Redeweise, insbesondere beim Bezug auf mathematische Konzepte, vorliegt. Widersprüchlich weil Subjekt und Objekt des zweiwertigen Prozesses „Organisieren, Gestalten“ identisch sind. 22 Piaget hat in „Le structuralisme“ (Piaget, 1968: 13–16) auf den autoregulativen Charakter der Sprache hingewiesen und somit den klassischen Strukturalismus für Fagen der Selbstorganisation geöffnet. Das Sprachsystem befände sich demnach in einem Fließgleichgewicht und wäre kein in sich geschlossenes System.
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
zurückziehen, bleibt die Berührung mit einer Selbstorganisationstheorie im Sinne der modernen Naturwissenschaften marginal. 2) Die Morphogenese-Position, die René Thom in Anlehnung an den Biologen Charles Waddington vertreten hat. Thom nimmt an, dass es sehr grundlegende Formgebungsprinzipien gibt, die sozusagen „hinter“ den Darwinschen Mechanismen wirksam sind und welche mögliche Evolutionsrouten vorbestimmen. Die Evolution wählt quasi über einen Zufallsgenerator und einen Selektionsfilter (der sich selbst sehr variabel mit den ökologischen Nischen verändert) aus der durch morphogenetische Gesetzmäßigkeiten beschränkten Alternativenmenge aus. Die längerfristig hervortretenden Muster spiegeln deshalb weniger den Zufallsprozess oder die Umgebungsvariation, als die Beschränkungen für mögliche Evolutionswege wider. 3) Das Modell für die Evolution von Leben von Eigen und Schuster (1969) stellt das Konzept des Hyperzyklus ins Zentrum. Prozesse der Katalyse und der Autokatalyse ermöglichen eine schnelle und radikale Selbstorganisation auf molekularer Ebene. Inwieweit dieses molekulare Modell auf höhere Lebensformen und die Sprache übertragbar ist, wird in Wildgen (2007a) geprüft. Letztlich muss aber der Begriff der Katalyse soweit verallgemeinert werden, dass er auf Phänomene der Sprache und Kultur anwendbar ist. Die Art, wie Zeichen und Symbole zwischen Geist und Welt vermitteln, muss genauer aufgeklärt werden. Während die Position Thoms (2) in eine breit gefasste Selbstorganisationstheorie passt, ist eine streng strukturalistische Position (1) nur im Synchronen selbstorganisiert. Die sehr vielgestaltige Landschaft funktionaler Sprachtheorien (von Jakobson bis Halliday) ist, weil der Funktionsbegriff als Spezialisierung des Selektionsbegriffes aufgefasst werden kann (vgl. Wildgen, 2007c), im Prinzip kompatibel mit Selbstorganisationstheorien. Die Position 3), die zur Erklärung der Entstehung von Leben (und nicht der Evolution von Sprache und Kultur) entwickelt wurde, ist mathematisch am besten ausgearbeitet; diese ausgearbeitete Form ist aber nur in der Biochemie anwendbar. Selbstorganisationstheorien stehen und fallen aber: –– mit der Verfügbarkeit von exakten mathematischen Modellen oder Simulationen des Systemverhaltens; –– mit der experimentellen Validierung dieser Modelle in einer quantitativ arbeitenden Wissenschaft; –– mit der Möglichkeit einer Übertragung auf relevante geistes- und sozialwissenschaftlichen Phänomene (jenseits einer unverbindlichen Metaphorik). Über längere Perioden sind Formgebungsprinzipien wichtige Kanalisierungen für mögliche Entwicklungen, aus denen selektive Prozesse aufgrund zufällig entstehender Varianten ein speziestypisches Profil bilden. In einem mittleren
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Einige langfristige Tendenzen und Ausblicke für die Zukunft
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Bereich, wo stabile Nischen existieren oder sich zyklisch verändern (siehe die Eiszeitzyklen), kann eine schnelle Selektion (siehe das run-away-Szenario) zur dominanten Form der Selbstorganisation werden. In kürzeren Zeitabständen, beim Menschen aber seit der neolithischen Revolution stark beschleunigt, sind stabile Kulturen, Religionen und Sprachen das Ergebnis sozialer Selbstorganisationsprozesse, für die kritische Statusübergänge (Kindheit, Jugend, Erwachsensein) gestaltbildend wirken. Insgesamt erzeugen diese Prozesse – zuerst unter der Bedingung regionaler Isolation – eine große Vielfalt von Verhaltensformen, die sich in Begriffen der biologischen Selektion aber nicht unterscheiden.
13.5 Einige langfristige Tendenzen und Ausblicke für die Zukunft Betrachtet man die Zeitspanne, welche dieses Buch abdeckt, d. h. die Vorgeschichte im 19. Jh., besonders seit 1870, und das 20. Jh. und als Perspektive das erste Jahrzehnt des 21. Jh.s, so lassen sich neben der signifikanten regionalen Aufsplitterung drei größere zeitliche Entwicklungsphasen unterscheiden: a) Die Ablösung von philologisch-historischen und junggrammatischen Paradigmen. Dies zeigt sich gegen Ende des 19. Jh.s und wird programmatisch im „Cours“ von Ferdinand de Saussure ausformuliert. Diese erste Innovationswelle umfasst neben Saussure und seinen Schülern (Genfer Schule) den europäischen und amerikanischen Strukturalismus (siehe die Kapitel 3 bis 8). b) Der zweite Weltkrieg und die danach schnell ausgebauten neuen Technologien verändern das interdisziplinäre Umfeld der Linguistik und führen zu ersten Anpassungen in den Modellkonzepten Chomskys und seiner Schüler. Dies führt in den USA und dann international zu einer vielfältigen Innovationslandschaft, die in den Kap. 9 und 12 behandelt wird. In Europa kommt es (neben der Übernahme der Chomsky-Innovationen) zu einer Art Neostrukturalismus und Neofunktionalismus, die einzelne Anregungen der ersten Hälfte des 20. Jh.s. wieder aufnehmen und fortführen. Dies gilt zuerst für die Valenzmodelle Tesnières (vgl. Kap. 6), die allerdings bereits um 1935 in Grundzügen vorlagen und deshalb eine Zwischenstufe bilden. Die Ansätze bei Saussure, Propp und Hjelmslev werden in der „École sémiotique de Paris“ (Greimas) erneuert und fortgeführt, wobei auch der Anthropologe Claude Lévi-Strauss eine wichtige Rolle spielt. Ansätze von Malinowski bis Firth werden in der „London School of Linguistics“ und in der „Systemic Functional Grammar“ von Halliday u. a. weitergeführt und in neuen Anwendungsfeldern erprobt. Man könnte diese Phase post- oder neo-strukturalistisch nennen; sie umfasst einen Wirkungszeitraum von 1960 bis zum Ende des 20. Jh.s.
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Perspektiven für das 21. Jahrhundert
c) In den Nachbardisziplinen der Linguistik: Psychologie, Soziologie und Biologie entstehen im betrachteten Zeitraum viele neue und erfolgreiche Ansätze, welche auf die linguistische Modellbildung zurückwirken, die Methoden erweitern und auch die Fragestellungen modifizieren. Dies macht sich bereits seit 1960 bemerkbar, nimmt aber gegen Ende des 20. Jh.s. an Vehemenz zu. Die post- und neostrukturalistischen Ansätze (siehe b) reagieren in Randbereichen darauf; es entstehen aber auch neue Teildisziplinen, wo die Interaktion mit den Nachbardisziplinen auch für den Kern der Linguistik relevant wird. Dies gilt für die Soziolinguistik (siehe Kap. 10) und die in Kap. 13 kurz behandelte Neurolinguistik, Biolinguistik, evolutionäre Linguistik und die Selbstorganisationstheorien der Sprache. Da in diesen Bereichen die Geltung strukturalistischer Herangehensweisen vermindert, wenn nicht gar negiert wird, begegnet eine Mehrheit der Linguisten diesen Entwicklungen mit Skepsis. Einige Entwicklungen, wie etwa die Sprachwandelsforschung und die Sprachatlanten bei Labov können sich jedoch auf frühere Traditionen, die bereits Ende des 19. Jh.s akzeptiert wurden, berufen und ihren Platz beanspruchen. Dagegen erwiesen sich die Ansätze von Bernstein oder Garfinkel (vgl. die Kap. 10.3 und 10.4) als „widerspenstig“ und blieben Randbereiche. Den neurolinguistischen, genetischen, evolutionären und Selbstorganisations-Ansätzen wird eine gewisse Faszination zuerkannt (da sie interdisziplinär als relevant anerkannt sind); es wird aber in Frage gestellt, ob sie für das linguistische Handwerk (die Grammatikschreibung) in naher Zukunft Gewinn bringend sind. Hier zeigt sich, dass die Technik der Grammatikschreibung (seit der Antike, siehe Kap. 2.1) mehrheitlich als Kern des Faches angesehen wird. Die explanativen Bemühungen werden dagegen häufig als zweitrangig wahrgenommen23 und damit im Endeffekt den Nachbardisziplinen, soweit diese die Sprache thematisieren, überlassen. Dies birgt natürlich die Gefahr, dass der wissenschaftshistorisch wertvollere Teil ausgelagert und damit das wissenschaftliche Prestige des Faches dramatisch verringert wird. Die Mehrheitstendenz des Abwarten und Weitermachens wie bisher, wurde von Featherston (2009) als „relax, lean back, and be a linguist“ auf den Punkt gebracht. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass der enorme Prestigegewinn der Linguistik ab den 60er Jahren (womit die Disziplin in den USA erstmals aus der institutionellen Bedeutungslosigkeit gehoben wurde) mit den theoretischen und mathematisch-formalen Ansprüchen Chomskys zu begründen ist. In ähnlicher Weise haben die Ansprüche der Junggrammatiker „Gesetze“ zu formulieren und damit das Niveau der Physik erreichen zu können, die Anerkennung der Sprachwissenschaft im euro23 Chomsky hat zwar systematisch gegen diesem Trend gearbeitet (vgl. Chomsky 1957), musste sich aber dem zunehmenden Druck auf deskriptive Zuverlässigkeit beugen, bzw. seinen Modellkern im Minimalist Program so verschlanken, dass dieser Druck erträglich wurde.
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Einige langfristige Tendenzen und Ausblicke für die Zukunft
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päischen Bildungssystem begründet. Der Rückzug auf einen handwerklichen Deskriptivismus wird deshalb einen hohen Preis kosten. Ich will zwar keine Ökonomie oder Soziologie des linguistischen Forschrittes schreiben, glaube aber, dass eine theoretische Zurückhaltung oder gar Abstinenz weder dem Geist der Väter des Strukturalismus entspricht (im Gegenteil), noch in der Sache begründbar ist. Wie steht es aber mit der Zukunft der Linguistik? Eigentlich könnte eine Geschichte der Linguistik im 20. Jh. den Anstoß geben für eine Zukunftsvision (zumindest für die nächsten Jahrzehnte). Wenn wir uns aber die Vielfalt der im 20. Jh. entstandenen Modelle und empirischen Zugriffe vergegenwärtigen, wird klar, dass eine Prognose gewagter ist als die für das Wetter im nächsten Jahr. Ich habe in diesem Kapitel einige, aus meiner Sicht losen Enden aufgezeigt, die eventuell weiter geführt werden sollten. Die Fortsetzung der Geschichte der Sprachwissenschaft wird aber noch stärker als im 20. Jh. von der Entwicklung anderer Humanwissenschaften abhängen, d. h. die zu prognostizierende Bewegung wäre die eines ganzen Disziplinen-Feldes und der Interaktionen zwischen diesen. Wollte man diese Aufgabe ernsthaft angehen, müsste man auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen für die Entwicklung dieser Disziplinen einbeziehen. Es bleibt zu hoffen, dass die menschlichen und gesellschaftlichen Ressourcen für die linguistische Forschung zumindest erhalten bleiben. Unter diesen Umständen wird das nächste Jahrhundert Linguistik sicher genau so spannend werden, wie es das 20. Jh. war.
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14 Anhang: Tendenzen der Mathematisierung in der Linguistik des 20. Jahrhunderts Das mathematische Denken hat einerseits etwas mit dem Zählen und Messen, oder praktisch mit Buchhaltung und Landvermessung oder Bautätigkeit zu tun. Andererseits geht der Blick des Menschen zu den Gestirnen und den Bewegungen am Himmel. Dabei spielen mytisch-religiöse Motivationen (Himmelsgötter, Kalender für heilige Tage) eine Rolle. Für den Seefahrer ist der Himmel auch eine Orientierung, da räumliche Indikatoren ausfallen. Eine dritte Säule bilden die Systeme der Schriftzeichen, da diese häufig auch als Zahlzeichen interpretiert werden, d. h. die Mathematik ist auch eine Schrift. Wie diese sehr knappen Bemerkungen zur (Vor-) Geschichte der Mathematik zeigen, gibt es über die Schrift eine recht enge Beziehung zwischen Mathematik und Sprache, erstere erfüllt aber durchaus Orientierungsaufgaben, welche jenseits der Sprache liegen.1 In Begriffen der Philosophie symbolischer Formen von Ernst Cassirer hat die Mathematik (Cassirer spricht von „reinen“ Bedeutungen) Beziehungen nicht nur zur Sprache sondern auch zum Mythos (Religion), zur Technik und zur Kunst. Sie nur auf eine symbolische Form zu beziehen, wäre demnach eine Verkürzung. Im 20. Jh. hat Piaget die Mathematik direkt mit der kognitiven Entwicklung verknüpft und dann die Sprache einer Phase dieser kognitiven Entwicklung zugeordnet; letztere wäre quasi ein Nebenprodukt. In Lakoff und Nuñez (2002) wird dagegen die Mathematik aus der Semantik ent1
Zu den historischen Wurzeln der Mathematik siehe Bunt u. a. (1976). Das Zählen kann einerseits bereits sehr früh im Kontext ritueller Handlungen, bezogen auf Gruppen auftretender Personen oder bei der Kontrolle von Herden (nach deren Domestikation) als soziale Technik weiterentwickelt worden sein. Dabei spielten die Prinzipien der Fortsetzung (siehe die natürlichen Zahlen) und der Gruppierung bzw. der Basis (Zweier-, Fünfer-, Zehner-, Zwanziger-, Sechziger-Basis) eine zentrale Rolle. Eine einfache Geometrie war bereits zur Konstruktion stabiler Behausungen praktisch notwendig; spätestens in Ägypten gab es dann Landvermesser, die in Skulpturen mit ihren Mess-Seilen dargestellt sind. Der nach Pythagoras benannte Lehrsatz war bereits den Babyloniern bekannt und die Formel der so genannten pythagoräischen Zahlen (x2 + y2 = z2) konnte zur Triangulation mit Knotenseilen verwendet werden. Die Sprache des Zählens wurde zuerst als Bilderschrift neben oder unabhängig von der eigentlichen Schrift entwickelt; mit den Alphabetschriften wurde das Alphabet gleichzeitig als Zahlenschrift genützt, indem 27 (3 × 9) Alphabetzeichen für drei Reihen von Einser-, Zehner- und Hunderterzahlen benützt wurden (also von 1–900). Ein syntaktisches (Stellungs-)Prinzip wurde mit den so genannten arabischen (ursprünglich indischen) Zahlen eingeführt.
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wickelt; sie wäre damit nur eine Spezialisierung der Sprache. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, wo genau ist nicht eindeutig auszumachen. Außerdem ist die Mathematik kein einheitlicher Block: Geometrie und Topologie sind stärker mit der Wahrnehmung und Kategorisierung des Raumes verbunden, Algebra und Kombinatorik eher mit Gliederungsarchitekturen und für die Sprache gilt dasselbe. An und für sich ist es umständlicher mit sprachlichen Mitteln den Raum zu beschreiben als gestisch oder durch eine Skizze und auch arithmetische Operationen werden sprachlich schnell verwirrend. So ist es nicht verwunderlich, dass die Anwendung von mathematischen Begrifflichkeiten zur Beschreibung von Sprache anders ausfallen wird, wenn Schrift oder Sprechen analysiert werden, anders in der Syntax als in der Morphologie, und die Semantik kann keinem Typus von Mathematik spezifisch zugeordnet werden.2 Trotz des formalen Charakters enthält die Mathematik Spuren der ursprünglichen Intentionen (z. B. Buchhaltung oder räumliche Orientierung) und unterschiedliche Felder können sich deshalb auch besser oder schlechter für die eine oder die andere Teilaufgabe in der Sprachbeschreibung eignen. Nachdem das grundlegende Dilemma einer Anwendung der Mathematik in der Linguistik skizziert wurde, will ich die Betrachtung wieder auf die in diesem Buch zentrale historische Perspektive zurückbringen. In dem hier betrachteten Zeitraum, dem 20. Jh. (mit den Jahrzehnten davor und einem Jahrzehnt danach) hat sich die Mathematik rasant entwickelt und dabei auch Grundlagenkrisen überwunden. Einerseits wurden die im 17. und 18. Jh. entwickelten Techniken (der Analysis, Algebra, Geometrie) im 19. Jh. erweitert und konsolidiert, andererseits gab es Aufsehen erregende Umbrüche: –– Die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrien (von Gauß im Prinzip erschlossen, von Riemann vollendet). –– Die Gruppentheorie, die Lehre von den Invarianten (von Felix Klein für diskrete, von Sophus Lie für kontinuierliche Gruppen erhellt). –– Mitte des 19. Jh.s entsteht die Topologie (1844 und klarer 1862 von Grassmann als Ausdehnungslehre konzipiert). Zu ihr konnte auch Charles Sanders Peirce, der Vater der modernen Semiotik einen Beitrag leisten. 2
Frühe Ansätze versuchten wie in der Port-Royal-Grammatik die Logik als Kunst des Denkens und somit als mögliche Sprache zur Beschreibung von Bedeutungen aufzufassen. Da sich Verwandtschaftssysteme wie phonologische Systeme gliedern lassen, glaubte man seit Beginn der 60ger Jahre Merkmalsmatrizen seien geeignete Repräsentationen von Bedeutungen. Als die Bildlichkeit und der abstrahierende Raumbezug vieler sprachlicher Bedeutungen deutlich wurde, dachte man an abstrakte Bilder, Schemata, Skizzen usw. (vgl. Kap. 12). Sobald sich für die Beschreibung der Neurodynamik gewisse mathematische Ansätze als fruchtbar erweisen, wird man diese auch für die Bedeutungsanalyse verwenden, da das Gehirn und seine Prozesse die zentrale Bedingung jeder Bedeutungsorganisation zu sein scheinen.
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–– Die Analysis situs, der große Durchbruch von Leibniz und Newton wurde von Henri Poincaré (etwa zwischen 1881 und 1906) zu einer breiten Synthese geführt und gab den Anlass zur Entwicklung der Differentialtopologie und dynamischen Systemtheorie im 20. Jh. Auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Paris 1900 formulierte David Hilbert 23 mathematische Probleme, die im kommenden Jahrhundert zu lösen seien; d. h. es gab zu diesem Zeitpunkt so etwas wie einen Kanon der Aufgaben der Mathematik. Eine Haupttendenz in der Mathematik des frühen 20.Jh.s bestand in der Axiomatisierung und damit Vereinheitlichung der verschiedenen Zweige der Mathematik. Frege hatte 1884 in der Schrift „Die Grundlagen der Mathematik“ versucht, die Mathematik aus der formalen Logik zu entwickeln. Diese Bewegung kam zu einem Höhepunkt in der Schrift: „Principia Mathematica“ von Whitehead und Russell (1910–1913). Hilbert präzisierte sein Programm, indem er 1917 das Problem der Entscheidbarkeit behandelte. Es besteht darin, in einer endlichen Anzahl von Schritten zu entscheiden, ob ein Ausdruck aus den Axiomen folgt oder nicht. Diese Idee liegt auch den generativen Systemen zu Grunde, durch die entschieden werden muss, ob ein Satz zu einer Spache gehört (grammatisch korrekt ist) oder nicht; vgl. Guillaume (1986: 460) und Kap. 9.4. Die von Cantor (ab 1870) entwickelte Mengenlehre wurde zur Grundlage der Graphentheorie und der Theorie formaler Automaten, die später in die theoretische Informatik einmündeten. Die Wahrscheinlichkeitstheorie wurde für die Linguistik relevant durch die Arbeiten des russischen Mathematikers Andrei A. Markov (1856–1922), der 1913 die Buchstabensequenzen in Werken der russischen Literatur berechnete. Die Markov-Ketten beschreiben die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Elementen (Phonemen, Silben, Morphemen, Wörtern) und deren Abhängigkeit von vorangehenden Ketten. Sie bilden die Grundlage der Informationstheorie, die Shannon und Weaver (1949) formuliert haben und stehen im Hintergrund nicht nur vieler sprachverarbeitender Systeme, sondern auch der konnexionistischen Modelle, die durch eine Modifikation von Übergangswahrscheinlichkeiten das System in vielen Lernschritten an ein vorgegebenes Ziel anpassen.3 Die Tradition von Poincaré wurde in der Theorie der Singularitäten, der Katastrophen (60er Jahre), und in der Chaostheorie (70er Jahre) weitergeführt. Neben frühen Anwendungen von Differentialgleichungen und Singularitätentheorie in der akustischen Phonetik (vgl. Ungeheuer, 1962) wurde dieser Bereich der Mathematik erst in Folge der Modellvorschläge von René Thom ab 1972 systematisch entwickelt (vgl. Wildgen, 1982 und 1985a).
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Dabei erfolgen diese Anpassungen aber in so genannten „hidden layers“ von Konnexionen und nicht direkt an der Oberfläche des beobachtbaren Systemverhaltens. In diesem Kontext kommen auch verborgene („hidden“) Markov-Prozesse zur Anwendung.
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Wenn man die in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches erwähnten linguistischen Modelle auf die dort enthaltenen Mathematisierung prüft, so fällt auf, dass es überall Ansätze dazu gibt; diese werden aber nur in wenigen Fällen systematisch ausgebeutet. Von den ausführlicher behandelten Linguisten haben nur Harris und Chomsky ernsthafte Bemühungen zu einer Mathematisierung der linguistischen Modelle unternommen, wobei Harris generelle Einschränkungen formulierte (vgl. Kap. 9.2) und Chomsky den 1955 und 1957 sehr deutlichen Anspruch auf eine mathematische Modellstruktur immer mehr zurückgenommen hat. Er blieb eigentlich nur in den technischen Anwendungen (d. h. in der Computerlinguistik) erhalten. Ich will die in den Kapiteln dieses Buches vorkommenden Mathematisierungsansätze kurz in Erinnerung bringen: –– Kap. 2: Schleicher schlägt eine quasi-arithmetische Notation für morphologische Prozesse vor. –– Kap. 3: Saussure und in seiner Folge der europäische Strukturalismus geht von einem System der Relationen (Oppositionen, Werten) aus; eine Idee, die am ehesten der von Leibniz vorgeschlagenen und von Ch. S. Peirce u. a. entwickelten relationalen Logik entspricht. –– Kap. 4 bis 7: Systeme von Relationen und einfachen Merkmalssystemen (in Prinzip eine Prädikatenlogik erster Stufe) bilden den mathematischen Hintergrund der Modellvorschläge von Trubetzkoy, Jakobson und Hjelmslev. Formelhafte Kürze der Grammatikregeln hat auch Jespersen propagiert. Auch die Valenz-Begriffe sind dort einzuordnen; die angedeutete Logik chemischer Systeme ist im Rahmen Boolescher Verbände mathematisch fassbar. –– Kap. 8 und 9: Bloomfield versucht in Analogie zu entsprechenden Bewegungen in der Psychologie das Programm einer Axiomatisierung aller Wissenschaften auch auf die Linguistik anzuwenden (vgl. Bloomfield, 1926). Eine detaillierte Mathematisierung der deskriptiven Begriffe und Methoden hat aber erst Harris ausgeführt. Er beschränkt die Mathematisierung auf die Anwendung der Mengenlehre und die Bildung von Äquivalenzklassen und benützt für die Segmentation den Begriff der Übergangswahrscheinlichkeiten (einen Aspekt der Informationstheorie). In der osteuropäischen mathematischen Linguistik werden diese Techniken perfektioniert (vgl. als Überblick Marcus, 1967). Ab Mitte der 50er Jahre versucht Harris auch Elemente der Gruppentheorie (siehe den Begriff der Transformation) anzuwenden. Der Logiker Bar-Hillel zeigt an Kunstsprachen, dass das Programm einer induktiven Definition der Wortarten nicht funktioniert (zumindest ergibt sie nicht die klassischen Wortarten). Chomsky vertieft diese Kritik und setzt ganz auf eine deduktive Definition des Begriffs: (wohlgeformter) Satz in einer bestimmten Sprache. Er entwirft eine Hierarchie von generativen Grammatiken (die Chomsky Hierarchie) und verankert die Grammatiktheorie in einer mathematischen Psychologie, die von diskreten dynamischen Systemen (spezieller Monoiden oder freien Halbgruppen)
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ausgeht. Für die Performanz werden endliche stochastische Systeme ins Auge gefasst (vgl. Chomsky und Miller, 1973 und Miller und Chomsky, 1973).4 Diese Linie wird zwar konsequent in der technischen Linguistik (Parser, Satzgeneratoren, Übersetzungsalgorithmen) fortgesetzt, tritt in den weiterführenden Modellen Chomskys aber in den Hintergrund. Ab dem Standardmodell führt Chomsky Merkmale ein und damit eine Merkmalslogik. Diese Tendenz charakterisiert auch die so genannten informationsbasierten Modelle. Die semantischen und diskursiven Automaten führen ähnliche mathematische Modelle ein und wurden in Richtung wissensbasierter und schließlich lernender Systeme weiterentwickelt. Die dazu passende Mathematik kommt aus der Theorie dynamischer Systeme und hat meist einen probabilistischen Charakter (siehe die neuronalen Netze und die konnexionistischen Modelle). –– Kap. 10: Die Versuche von Labov und anderen, generative Regelgrammatiken auch für Soziolekt- und Dialektkontinua zu definieren, zeitigten nicht den erhofften Erfolg. Die Soziolinguistik operierte danach entweder interpretativ (in der Gesprächsanalyse) oder statistisch und kartographisch (mit den mathematischen Techniken der Computerkartographie); dies charakterisiert die späteren Arbeiten von Labov und die Dialektometrie, die vorhandene Sprachatlanten reanalysiert (vgl. Goebl, 1980 und Narbonne, 2003). –– Kap. 11 und 12: Die Modelle, die in diesen Kapiteln dargestellt wurden, sind nur geringfügig mathematisiert oder sie lehnen prinzipiell jede Mathematisierung ab (so bei Lakoff, 1987). Dies entspricht einer Standardreaktion des Establishments in manchen Zweigen der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften. –– Kap.13: Die neurokognitiven und die Selbstorganisationsmodelle haben eine enge Anbindung an Disziplinen wie die theoretische Biologie, die Neurodynamik und an Modelle der visuellen Wahrnehmung, die in Teilen mathematisiert sind, oder an Modelle in der Physik und Chemie, die durchgehend mathematisiert sind. Ich wage zu prognostizieren, das solche Mischmodelle mit starkem naturwissenschaftlichem Einfluss das 21. Jh. prägen werden, während die strikte Verweigerung jeder Präzisierung der Begrifflichkeit und Methoden ein aussichtsloses Rückzugsgefecht darstellt und zum Scheitern verurteilt ist. Ob die jeweiligen Mathematisierungen aussagekräftig und anwendbar sind, steht auf einem anderen Blatt, d. h. die Entscheidung wird zwischen konkurrierenden Versuchen einer Präzisie4
Kontinuierliche dynamische Systeme weden systematisch ausgeschlossen: „A further limitation was to eliminate all serious considerations of continuous systems“ (Chomsky und Miller, 1973: 273). Der diskrete Charakter von Kommunikationssystemen wird durch ein „fidelity criterion“ begründet. Hörer müssen in der Lage sein, die Rekurrenz von Zeichen zuverlässig festzustellen. Innerhalb der diskreten Systeme werden nur Konkatenationssysteme in Betracht gezogen (ibidem).
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rung und einer empirischen Operationalisierung fallen und nicht im Grundsatzstreit, ob eine Mathematisierung sinnvoll ist oder nicht. Vergleicht man die Geschichte der Mathematik mit derjenigen der Linguistik oder anderer Geisteswissenschaften, so wird deutlich, dass die naturwissenschaftlichen und technischen Herausforderungen neben der internen Kohärenzsuche die Haupttriebfedern bei der Fortentwicklung der Mathematik waren und sind. Die geisteswissensschaftlichen und linguistischen Anwendungen sind quasi Nebenprodukte dieser Entwicklung. Immerhin haben die technischen Anwendungen der Linguistik (in der Computerlinguistik) das Augenwerk der Mathematiker auf diese Anwendungsfelder gerichtet. Meistens wird wie bei Harris und seinem Schüler Chomsky die Sprache (implizit als Schrift gedacht) primär mit der Algebra, Kombinatorik und generell mit diskreten generativen Systemen (Algorithmen) in Verbindung gebracht. Wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle werden bei der Grammatikschreibung erst angewandt, wenn eine induktive Strategie (mit Korpusbezug) vorherrscht oder in der Psycholinguistik oder der Soziolinguistik / Dialektologie / Sprachkontaktforschung (vgl. Kap. 10). Die ersten statistischen Sprachanalysen standen im Kontext der Frage nach dem Autor eines Textes (so schon bei Augustus de Morgan 1851 und T. C. Mendenhall 1887). Im 20. Jh. war es besonders Zipf (1949) und Herdan (1966), durch die die Lexikostatistik vorangetrieben wurde. In der Sprachtypologie war es Morris Swadesh, der in den 50er Jahren die Glottochronologie entwickelte, auf die später Joseph Greenberg aufbauen konnte (vgl. Kap. 13.2).5 Das Feld der experimentellen Psycholinguistik habe ich in diesem Buch nicht ausführlich behandelt, da die Methoden und angewandten Begrifflichkeiten eher im Rahmen einer Geschichte der Psychologie zu betrachten sind.6 Es ist aber klar, dass mit den experimentellen Methoden quantitative Verfahren und eine inferentielle (hypothesenprüfende) Statistik in den Vordergund treten. Dies gilt ähnlich für die experimentelle Neurolinguistik, die in Kapitel 13 kurz angesprochen wurde. Bei Firth (vgl. Kap. 11.3) wurde eine Analogie zu Fourier-Analysen, also aus der kontinuierlichen Schwingungslehre, benützt. Kontinuierliche dynamische Systeme sind ein Bereich, der noch kaum ausgeschöpft ist und der ein reiches Potential für Theoretisierungen gerade im Bereich der gesprochenen Sprache und der Neurodynamik von Sprache besitzt. Zweidimensionale oder mehrdimensionale diskrete dynamische Systeme, wie sie zuerst von Neumann als zelluläre Automaten eingeführt hat, und spieltheoretische Modelle, die sich in der Ökonomie bewährt haben, sind eine weitere Option, die sich z. B. für eine Rekonstruktion des Begriffs „sprachliche Konvention“ (vgl. Lewis, 1969) oder für Diskursanalysen anbietet (vgl. Wildgen, 1994: Kap. 7). 5 6
Vgl. den Artikel von Samson im Internet: http: / / www.grsampson.net / ASlj.html. Für eine Skizze dieser Geschichte siehe Knobloch (2003).
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