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German Pages [448] Year 2009
böhlau
Hans-Heinrich Nolte
WELTGESCHICHTE des 20. Jahrhunderts
BÖHLAU VERLAG W I E N · KÖLN · WEIMAR
Lektorat, Register : draft fachlektorat frieden, Wilhelm Nolte, Hamburg
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78402-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2009 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: General Druckerei, 6726 Szeged
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Der Aufstieg des Westens · Dependenztheorien · Europa als Provinz · Europäisierung und Orientalismus · Auswahlvorgänge · Synchronistische Tabelle des 20. Jahrhunderts 1. Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
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Das 19. Jahrhundert · Internationale Beziehungen und Diplomatie · Das Konzert der Mächte · Hegemon Großbritannien • Der Westen: das Zentrum · USA Das »alte Europa« · Imperien, Nationen und Imperialismus 2. Ende der Expansionen und Verlust des Gleichgewichts
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Das Zwanzigste Jahrhundert als Periode · Allerletzte isolierte Kulturen · Ende der Expansionen · Verlust des Gleichgewichts 3. Nationsbildungen und Unionen
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Uberblick · Nationalbewegungen und neue Nationalstaaten · Unionen und Bündnisse · N A T O · wvo · EU · RGW · OAU · OAS · N A F T A · Arabische Liga · A P E C · OPEC · GCC · OIC · S A A R C · A S E A N · SCO
4. Fundamentalistische Angriffe
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Begriff · Religionen · Säkulare Fundamentalismen · Liberalismus und Sozialismus · Nationalismus · Rassismus · Faschismus · Deutschland zum Beispiel · Kritik und Einordnung 5. Sozialismusversuche
Zum Verein freier Menschen · Russland und nachholende Entwicklung · Sowjetische Industrialisierung · Landwirtschaft · Zwangsarbeit · Verlauf · Erfolge und Grenzen · Die Linke im Westen · Rohstoffkonjunktur und Aufstieg der U D S S R · Polen · Prager Frühling · China · Das Scheitern des Monopolsozialismus · Das neue - alte Russland · Was wird aus Osteuropa?
77
6
Inhaltsverzeichnis
6. Globale Nation und Kalter Krieg Die USA als Sieger der beiden Weltkriege · Sowjetisches Ordnungsmodell und Widerstand · Kalter Krieg · Die Teilung Europas · Die Peripherie aus der Sicht der USA · Rüstung und nukleare Parität · Ökonomische Aufstiege der Nachkriegszeit; Ostasien · Der rheinische Kapitalismus · Das schwedische Modell
101
7. Neue Weltordnung? Die Durchsetzung der amerikanischen Hegemonie · Die Krise der 7oer-Jahre · Der Ausbau der EU · Amerikanischer Umgang mit der Macht
115
8. Der Wiederaufstieg Süd- und Ostasiens 129 Kampf der Kulturen ? · Süd- und Ostasien · Japan · China · Die Indische Union · Newly Industrialized Countries ( N I C S ) · Zentralasien, und bis wohin reicht es? 9. Islam, Afrika und Lateinamerika Islamische Welten · Homogenisierung und Säkularisierung · Arabien · Islamistische Bewegungen · Afrika · Yoruba und Bornu zum Beispiel · Lateinamerika, Übersicht · Warum nicht Lateinamerika ? · Die USA und Dependencia · Unabhängigkeit im Rahmen der Globalisierung?
157
10. Uniformierung und Differenz: Unsichere Identitäten Fortschrittsglaube und Kulturkritik · Intellektueller Habitus · Kommunikation und Ideen · Identität und multiple Persönlichkeiten · Reformation und Romantik als Bewegungen gegen das Zentrum · Überforderung und Pathos • Denken in der Halbperipherie • Ernüchterung
187
11. Beschleunigung und technischer Wandel Technologie und Fortschritt • Landwirtschaft · Mechanisch erzeugte Energie · Transport · Veränderung des sozialen Raumes · Informationstechnologie • Bevölkerungsvermehrung, Urbanisierung
203
12. Vorangehende und nachholende Industrialisierungen Revolutionen des Fleißes · England · Nachholende Industrialisierungen in Osteuropa
217
13. Vermehrung weltweiter Arbeitsteilung Haushalte und Selbstversorgung · Fernhandel · Welthandel · Postindustrielle Gesellschaft
225
Inhaltsverzeichnis
14. Wohlstand für alle? Das Weltsystem
7
237
Ubersicht - Akteure im Weltsystem · Sorgt der freie Markt für gleichmäßige Verteilung der Güter? · Das Weltsystem · Peripherien · Halbperipherien · Innere Peripherien · Die Attacke des Zentrums 1990 · Zivilisierung des Kapitalismus ? · Vorschlag 15. Ende der Ressourcen und Umweltkrise 261 Das Ausbleiben der Heringe (des Kabeljaus, des Zobels etc.) · Industrialisierung und Rohstoffe · Konsumgesellschaft und Rohstoffe · Klimawandel · Politische Optionen 16. Gewalt und Gewaltlosigkeit Gewalt im Alltag · Gewaltlosigkeit
277
17. Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus Militär und Militarismus · Die neuen Massenheere · Totaler Krieg · Eskalierte die Kriegsgewalt? · Atomkrieg und Cyberwar? · Guerilla und alter Terrorismus Neuer Terrorismus · Al Qaida und Verwandte · Kritik und Einschätzung
289
18. Exklusionen und Genozide
307
Jahrhundert der Genozide ? • Begründung Nationalhass · Begründung Klassenhass · Instrumente : Massaker · Instrumente : Hunger als Waffe · Genozid · Antisemitismus · Holocaust, Shoah · Weitere Genozide 19. Migrationen und Vertreibungen Uberblick · Fachleute · Abenteurer und Touristen · Arbeitsmigrationen unter Zwang · Arbeitsmigrationen im Markt · Illegale · Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen
327
20. Emanzipationen und Unterdrückungen Sklaverei · Kasten · Bauern · Klientel und Korruption · Frauen
343
21. Bürokratisierung und Bewegungen. Demokratisierung der Welt? Bürokratisierungen · Bewegungen · Revolten und Revolutionen · Parteien · Demokratisierung der Welt?
351
22. Freiheit und Zwang Totalitarismus · Entscheidungsfreiräume
367
8
Inhaltsverzeichnis
23. Moral und Religionen Christentum · Doppelmoral · Religionsverfolgung · Orijà · Wiederaufstieg der Weltreligionen · Kooperationen ? · Säkulare Moral
373
24. Der Kampf um eine globale Ordnung 383 Vereinte Nationen · Weltregierung? · Menschenrechte · Internationales Recht · Interventionen · Zusammenfassung Schluss ι. Lässt sich die Krise 2008 im Systemzusammenhang erklären? · 2. Thesen
399
Sigel und Literatur Abkürzungsverceichnis Register Danksagung
405 417 421 445
Vorwort
Die hier vorgelegte Weltgeschichte1 geht davon aus, dass Europa als eine der Provinzen der Welt 2 gesehen werden sollte. Kenntnis und wissenschaftliche Kritik der historischen Rolle Europas in der Welt 3 sind nicht nur unumgänglich für die Identität der Europäer, 4 sondern auch für das Selbstverständnis der Menschheit. Europäische Mächte haben im 19. Jahrhundert die Welt beherrscht, und eine europäische Siedlungskolonie, die USA, wurde zum mächtigsten Staat des 20. Jahrhunderts. Man spricht sogar von der »Europäisierung« der Welt. Doch ist unübersehbar, dass die Periode der Prägung durch Europa historisch ist, ein Ende hat, und dass Menschen aus anderen Kulturkontinenten und Großregionen - wie Indien oder China - größere Anteile an der Gestaltung der globalen Gesellschaft übernehmen. Das kommt in dem Konzept »Europa als Provinz« gut zum Ausdruck - eine Provinz unter mehreren, die miteinander in Austausch und Interaktion stehen.
1 Allgemein möchte ich auf Hilfsmittel verweisen, die ich für dieses Buch immer wieder (besonders zur Kontrolle und Veranschaulichung) herangezogen habe, ohne dies an jeder Stelle deutlich zu machen : A) Datensammlungen: Ploetz; Imanuel Geiss, Geschichte griffbereit, Bde. 1-6, Gütersloh 2002; Geiss, Uberblick; Klaus Jürgen Matz, Die 1000 wichtigsten Daten der Weltgeschichte, 4. München 2004; Albert Anderle u. a. (Hg.), Weltgeschichte in Daten, Berlin 1965 ; Hugo Ott, Hermann Schäfer (Hg.), Wirtschaftsploetz, Freiburg 1984; B) Lexika: EWH; EN; Lang Lexikon; Coppa Dictators; Brockhaus Taschenlexikon Weltgeschichte, Bde. 1-3, Mannheim 2004; C) Quellensammlungen, Dokumentationen : Heer/Freitag; Mitchell Statistics ; Janko Musulin (Hg.), Proklamationen der Freiheit, Frankfurt 1959; Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, 2 Bde. Göttingen 2008 f.; Gerstenberg Visuelle Weltgeschichte Hildesheim 2003 ; D) Erzählende Darstellungen : Bentley/Ziegler ; Gerold Niemetz, Uwe Uffelmann (Hg.), Epochen der modernen Geschichte, Freiburg 1986; F. A. Brockhaus (Hg.), Weltgeschichte der Neuzeit = Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Nr. 486, Bonn 2005 ; Edgar Wolfrum, Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007. 2 Der Terminus von Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren, in : Conrad/Randeira, S. 283-3 1 2 · 3 Europa wird hier im weiteren Zugriff einschließlich seiner Siedlungskolonien verstanden, also als eine Großregion, die von Santiago de Chile bis Wladiwostok reicht. 4 Also Europa im engeren Sinn, aber einschließlich der orthodoxen Welt.
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Vorwort
Welche Ergebnisse hatte die zu Ende gehende Periode der Vorherrschaft Europas und seiner Siedlungskolonien? Selbstverständlich sind sowohl jene Ergebnisse europäischer Geschichte, die wir als Gewinne einordnen und positiv bewerten - wie Menschenrechtskataloge, parlamentarische Verfassung, Toleranz im Umgang mit anderen (wi, S. 20I-22Ó) 5 und Anstieg der durchschnittlichen Lebensstandards in den Zentren des kapitalistischen Systems - , wie jene, die wir als Bedrohung einordnen und negativ bewerten - wie Genozidbereitschaft, Vereinzelung, ungleiche Standards, Steigerung von Ungleichheit in dem von Europa ausgehenden kapitalistischen System -, kritisch zu analysieren. Außerdem schuf Europa ein die Welt umspannendes Raumsystem von Zentrum, Halbperipherie und Peripherie, in dem einander ähnliche Prozesse mit unterschiedlichen Folgen ablaufen und zu unterschiedlichen Unterordnungen führen. Schon innerhalb Europas im weiteren Sinn (einschließlich des Ostens und der europäischen Siedlungskolonien) gilt, dass ähnliche Prozesse ungleichzeitig ablaufen und daraus Transfers und Probleme entstehen. Im Verhältnis zwischen Europa und den anderen Kulturkontinenten überkreuzen sich Überfremdung und Ungleichzeitigkeit, aber auch Bedingungen von Peripherie und Zentrum ein weiteres Mal. Was Transfers zwischen Europa und den anderen Kulturregionen bedeuten, wie viel endogene, eigene Entwicklung jeweils hinzukam und wo es zu »Transkulturation« oder sogar Ubernahmen kam, das wird im Einzelnen zu diskutieren sein; dass das Verhältnis zwischen beiden aber ein Grundthema des 20. Jahrhunderts ist, davon ist auszugehen. Vorweg muss deshalb kurz skizziert werden, welchem Konzept dieses Buch folgt. Dazu wird der Wechsel zwischen drei Autoren aufgezeigt - von William H. McNeill über André Gunder Frank bis zu Dipesh Chakrabarty.6 Hier geht es um drei »Meistererzählungen« : Der Aufstieg des Westens (The Rise of the West); Dependenztheorien (Dependencia) ; und Europa als Provinz (Provincializing Europe).
5
w i meint den ersten Band dieser Weltgeschichte - Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme, W i e n 2005.
6
Diese drei Meistererzählungen sind mit den Titeln William McNeill, T h e Rise of the West, Chicago 1963 ; André Gunder Frank, Capitalism and Underdevelopment, New York 1967, und Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe, Princeton 2000, angedeutet.
Dependenztheorien
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Der Aufstieg des Westens
Die erste Meistererzählung ist die vom Aufstieg des Westens. Sie steht in der Tradition des globalen Anspruchs des Christentums, das im Glaubensbekenntnis von Nicäa in Anspruch nimmt, katholisch, d. h. für alle gültig zu sein. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden, gestützt auf die imperialistische Macht der europäischen Kolonialstaaten, nach Afrika und Indien, Alaska und China, Australien und Polynesien Missionare entsandt, um »Heiden« zu Katholiken, Protestanten oder Orthodoxen zu machen. Dieses christliche Uberlegenheits- und Missionssyndrom wurde vom 18. Jahrhundert an säkularisiert, ζ. B. von G. W. F. Hegel zu jener Weltgeschichte, in der allein Europa zur Freiheit führt.7 Dies Konzept entsprach nicht nur dem Uberlegenheitsgefühl, sondern auch der realen Überlegenheit der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert. Nur europäische galten als »historische« Nationen, und China ζ. B. stagniere. Die geschichtsphilosophische Prämisse wurde in mehreren Einzelnachweisen ausgeführt, von denen an anderer Stelle8 sieben skizziert werden - Rechtssicherheit, individueller Besitz, Parlamentarismus, Arbeitsethos, Erfindungen, Militär und Kapitalbildung. Die Geschichten vom Aufstieg des Westens betonen die endogenen Antriebe der europäischen Entwicklung. Die Politik des Westens ging in der Nachkriegszeit davon aus, dass alle politisch freien Nationen bei einer angemessenen internen Sparrate schnell zu Industrialisierung und dann zum Massenwohlstand voranschreiten würden, wie Walt Rostow das knapp zusammengefasst hat.9 In diesem Sinn trieben die USA die Entkolonialisierung voran.
Dependenztheorien
Die Dependenztheorien betonen Beiträge aus den Peripherien für den Aufstieg des Zentrums. Karl Marx' These, dass die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals auf Kosten der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen und nicht zuletzt der Kolonien erfolgt sei, bildete eine frühe Fassung des Konzepts. Pandit Nehru schrieb, dass die britische Beute aus der Eroberung Bengalens die Industrialisierung in England er7
Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Hg.), G . W. F. Hegel, Werke, Bd. 12 (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), Frankfurt 1970, S. 29, 32.
8
Hans-Heinrich Nolte, Europa und Europäisierung im Kontext der Weltgeschichte, erscheint in : Gehler/Vietta.
9
Walt Rostow, Stages of Economic Growth, Cambridge i960, dt. Göttingen i960; vgl. Pierenkemper, Revolutionen.
12
Vorwort
möglicht habe; und Eric Williams hat ähnlich für die Profite aus dem Sklavensystem argumentiert. Diese zwei politischen Führer der Nachkriegszeit wurden jedoch im Zentrum des Systems als Marxisten marginalisiert.10 Das Konzept der Dependencia ging von der Erfahrung aus, dass die lateinamerikanischen Staaten damals schon mehr als ein Jahrhundert zwar unabhängig, aber arm geblieben waren. Lateinamerikanische Theoretiker erklärten das damit, dass ihre Länder zwar politisch unabhängig, ökonomisch aber nach wie vor abhängig waren. Die USA, Land der Kapitaleigner und Exporteur von Industriewaren, zwängen den lateinamerikanischen Staaten die Rolle eines Rohstoffexporteurs auf und beförderten zugleich die Verschlechterung der Terms of Trade zuungunsten der Rohstoffe. 11 André Gunder Frank formulierte die Kernthese als »Entwicklung der Unterentwicklung« - die westliche Entwicklungspolitik fördere nicht das Bürgertum in den Ländern der Dritten Welt, welches dann nachholende Industrialisierung durchsetzen könne, sondern Bourgeoisien, welche die Außenhandelsinteressen der USA in Lateinamerika vertreten - notfalls mithilfe von Diktatoren.12 Samir Amin plädierte deshalb für die völlige Lösung der peripheren Länder vom Welthandel, 13 Dieter Senghaas wenigstens für »Dissoziation«. 14 Eduardo Galeano argumentierte, dass es nötig sei, den Strang zwischen Zentrum und Peripherie zu kappen, da die USA sonst weiterhin über die »offenen Adern Lateinamerikas« 15 für sich herausholen würden, was ihnen günstig scheinen werde. Gegen die »Williams-These« hat Patrick O'Brien vorgerechnet, dass der Außenhandel Großbritanniens nur einen Bruchteil des BSP gebildet habe und also keineswegs die Quelle der Kapitalakkumulation für die Industrielle Revolution gewesen sein könne,16 und später die Reichweite seines Arguments selbst eingeschränkt; und William McNeill hat in einem Aufsatz für die erste Nr. des Journal of World History 1990 sein Buch von 10 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Kapitel 24 = mew 23, S. 741-791 ; Pandit Nehru, Die Entdeckung Indiens (1945), dt. Berlin 1955, S. 384-388; Eric Williams, Capitalism and Slavery, Chapel Hî11/nc 1944. Eric Williams war 1956 bis 1981 Premierminister von Trinidad. 11 Raúl Prebisch, Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer (1949), dt. Berlin 1968; Paul Baran, Unterdrückung und Fortschritt (1955), dt. Frankfurt 1966; Beiträge zu Senghaas, Kapitalismus. 12 Menzel, Entwicklungstheorie, S. 199-241 ; André Gunder Frank, The development of underdevelopment (1970), vgl., Ders., Die Unterentwicklung der Entwicklung, in: Frank/Frank, S. 92-133. 13 Samir Amin, ZurTheorie der Akkumulation, dt. in: Senghaas, Kapitalismus, S. 71-97. 14 Dieter Senghaas, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, Frankfurt 1977. 15 Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas (1971), dt. Wuppertal 1973. 16 Patrick O'Brien, European Economic Development, in: The Economic History Review 35 (1982); Hartmut Elsenhans, Nord-Süd-Beziehungen, Stuttgart 1984; vgl. die Positionen von Joachim Becker/ Hans-Heinrich Nolte in: Parnreiter/Novy, S. 35-75.
Europa als Provinz
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1963 als »Ausdruck der imperialen Stimmung der USA nach dem Krieg« relativiert. 17 Mein 1982 erschienenes Buch »Die eine Welt« gehörte in den Kontext der Dependenztheorie in der konkreten Fassung Immanuel Wallersteins,18 ging aber von François Crouzet 19 aus: Das Kapital der Gründerfirmen der Industriellen Revolution war klein. Mein Argument war, dass die englische Konjunktur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Grundlage der Industriellen Revolution bildete und auf einem weltweiten, durch politische Macht gesicherten Handel sowie auf einem niedrigen Zinsniveau beruhte, für das Gewinne aus dem Ausland eine Rolle spielten. Gewinne und Transfers aus den inneren Peripherien kamen hinzu. 20 Diese Position scheint mir auch heute noch richtig zu sein und wird z. B. von Findlay und O'Rourke gestützt, welche die Funktion des Fernhandels für die Industrielle Revolution betonen.21
Europa als Provinz Allgemein verändert wurde das historische Bild, das wir uns vom Orient machen, erst nach dem ökonomischen Aufstieg der asiatischen Länder von den çoer-Jahren an. Ein wesentlicher Teil der historiografischen Arbeit bei dieser Veränderung des verbreiteten Bildes wurde von der »California School« geleistet. Bin Wong, Kenneth Pomeranz, Jack Goldstone u. a. arbeiteten heraus, dass Bengalen, China und Japan am Ende des 18. Jahrhunderts ökonomisch nicht hinter Westeuropa zurücklagen. 22 Methodisch ist die Schlussfolgerung einfach. Weder die Meistererzählung vom »Aufstieg des Westens« noch die von der »Dependenz der Peripherien« beruhten auf umfassenden Vergleichen. Bis in die Gegenwart hinein werden vielmehr Aussagen zur Sonderrolle Europas gemacht, die nicht als komparative Aussagen angelegt sind, sondern aus der Fülle quellenimmanenten Materials heraus endogene Entwicklungslinien nachzeichnen und zu »Sonderwegen« erklären, ohne dass die Literatur zu anderen Kulturkreisen ausreichend zur Kenntnis genommen wurde. Das ist auch berühmten 17 M c N e i l l , Rise, S. x v . 18 Wallerstein, S y s t e m ; vgl. H a n s - H e i n r i c h N o l t e , D a s W e l t s y s t e m - K o n z e p t - D e b a t t e und F o r s c h u n g , in: G r a n d n e r / R o t h e r m u n d , S. 1 1 5 - 1 3 8 . 19 F r a n ç o i s C r o u z e t , D i e K a p i t a l b i l d u n g in G r o ß b r i t a n n i e n während der Industriellen Revolution, i n : Braun/Fischer, Bd. 1, S. 1 6 5 - 2 1 5 . 20 H a n s - H e i n r i c h N o l t e , W i e E u r o p a reich u n d die D r i t t e W e l t arm wurde, in : G e s c h i c h t e in W i s s e n schaft u n d Unterricht (GWU) 1 9 8 1 / 1 , S. 1 4 - 3 6 ; » N a c h G o l d e drängt, a m G o l d e hängt doch alles«, in: Gwu 1 9 8 1 / 5 , S. 2 9 3 - 2 9 6 ; N o l t e , Innere Peripherien i - n i . 21 F i n d l a y / O ' R o u r k e , S. 3 3 0 - 3 4 5 . 22 H a n s - H e i n r i c h N o l t e , A C h a n g e o f Western images of China, erscheint in : Michael Gehler, X u e w u G u (Hg.), EU - Asia - China = Historische E u r o p a s t u d i e n 4, H i l d e s h e i m 2009.
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Vorwort
Autoren so gegangen: William McNeill hat in dem schon zitierten Aufsatz im Journal of World History 1990 eingeräumt, dass er 1963 bei der Abfassung von »The Rise of the West« noch wenig zum mittelalterlichen China gelesen hatte. Das macht es leicht, sich anzuschließen. Als ich 1982 »Die eine Welt« publizierte, hatte ich noch viel zu wenig über China unter den Quing oder Japan unter den Tokugawa gelesen. Wer Weltgeschichte schreibt, überfordert sich.23 Das Konzept von Chakrabarty Europa als Provinz sieht unseren Kontinent als eine neben anderen »Provinzen«, »Großregionen«, »Kulturkontinenten« der Welt wie China, Zentralasien oder Indonesien (zur Abgrenzungsdiskussion wi, S. 11-44). Alle diese Großregionen sind unterschiedlich, selbstverständlich auch Europa so wie Indien, China oder die Yoruba in Afrika. Alle Großregionen sind im 19. und 20. Jahrhundert aber auch von der Zugehörigkeit zum Weltsystem (vgl. Kapitel 14) geprägt, die in der Regel durch Eroberung hergestellt worden war. Die Spannungen, die sich aus den Interaktionen, aber auch aus den Widersprüchen ergeben, sind Themen dieses Buchs.24 Eine »europäische Weltgeschichte«, wie Reinhard Wendt sie vorgelegt hat, 25 beschreibt »nicht nur, mit welchen Zielen und Mitteln Europa seine kontinentalen Grenzen überschritt, sondern auch, welche Zerstörungen, Uberformungen, Adaptionen und Aneignungen Expansion und koloniale Herrschaft... nach sich zogen und welchen tief greifenden Veränderungen Europa seinerseits durch sein Ausgreifen nach Ubersee unterlag.« Diese das Konzept gegenseitiger Transfers einbeziehende Gesamtdarstellung der europäischen Expansion 26 bildet eine Ergänzung der hier vorgelegten Weltgeschichte, in der darüber hinaus versucht wird, nichteuropäische Menschen im Rahmen ihrer Religionen, Kulturen, Techniken, Staaten und nichtstaatlichen Organisationen als Akteure in eigenen Kontexten darzustellen.
23 »Das wenigstens war von Anfang an unübersehbar«, vgl. Nolte, Eine Welt (1982), S. 147. 24 Irreführend könnte sein, den »Sonderweg« von vornherein zu postulieren, wie bei Rolf Peter Sieferle (Hg.), Der Europäische Sonderweg, Bd. 1 ff., Berlin 2008 ff., gefördert durch eine eigene Stiftung »zum Europäischen Sonderweg«; oder Headley, Europeanization. 25 Wendt, Kolonialismus, Zitat S. 11; R. Bin Wong, The Search for Differences and Domination. A View from Asia, in Osterhammel, Weltgeschichte, S. 141-164. 26 Frédéric Mauro, Die europäische Expansion, dt. Stuttgart 1984; Reinhard, Expansion; anschaulich Horst Gründer, Eine Geschichte der europäischen Expansion, Darmstadt 1998, vgl. Hartmut Elsenhans, Geschichte und Ökonomie der europäischen Welteroberung (1975), Leipzig 2007, und Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morissey (Hg.), Vom Mittelmeer zum Atlantik, Die mittelmeerischen Anfänge der europäischen Expansion, Wien 2001.
E u r o p ä i s i e r u n g und Orientalismus
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Europäisierung und Orientalismus
Europäisierung hieß oft, europäische Institutionen in nichteuropäische Kulturen einführen - Industrielle Betriebe (Neue Werften in Japan, Hüttenwerke in Indien) - , in Europa hergestellte Waren verkaufen (Solinger Klingen in Kolumbien) - , europäischen Habitus verbreiten (Hut, Anzug, Messer und Gabel) - , europäische Schulen an die Stelle der traditionellen setzen (französische Volksschulen an die Stelle der Koranschulen), europäische Verfassungen propagieren. Europäisierung hieß aber auch, kritische Literatur aus Europa zu verbreiten. Fast alle großen Führer der Nationalbewegungen haben im Westen studiert: Sun Yatsen auf einem christlichen College in den USA, HO Chi Minh in Paris und Nehru und Gandhi in Oxford und London. Nationalismus und Marxismus in außereuropäischen Ländern beriefen sich meist auf Texte, die in Europa oder in den USA gedruckt worden waren. Europäisierung hieß dabei niemals, dass in einem fremden Land das wiederholt wurde, was zum Vorbild diente. Algier wurde kein Klein-Paris, in Rourkela entstand eine andere Hütte als in Duisburg. Es entstanden, mit Shmuel Eisenstadt zu reden, »vielfältige Modernen« 2 7 - in Zentralasien, wo mehrere muslimische Gesellschaften nach sowjetischem Modell umgeformt wurden, entstand etwas anderes als in SaudiArabien, wo eine von muslimischen Fundamentalisten gegründete Monarchie durch Rohstoffvorkommen zu einem »global player« wurde. Europäisierung transportierte nicht nur das Bild, dass die neuere Geschichte von Europa ausgehe, sondern auch ein Gegenbild, in dem mehrere negative Topoi zusammengefasst wurden : despotischer Herrscher, stagnierende Wirtschaft, Feminisierung der Kultur. Dieser »Orientalismus« transportierte, so stellte Edward Said heraus, ein konstruiertes Bild. 28 In Wirklichkeit gibt es »den Osten« nicht, es gibt vielmehr verschiedene kulturelle Großregionen wie Indien, China, Japan, Osmanisches Reich, Maghreb etc., - deren Eliten in unterschiedlichen Formen mit den europäischen in Austausch traten und treten. Dabei entstehen für Europäer Herausforderungen, aber auch für Chinesen oder Japaner - von der überlegenen chinesischen Porzellanproduktion bis zur kursächsischen Importsubstitution in Meißen, von der Öffnung Japans durch amerikanische Kriegsschiffe bis zum japanischen Uberfall auf Pearl Harbour. Osten war ein Bild, das der Westen sich selbst machte, und so, wie William McNeill seine Position über den Aufstieg des Westens korrigiert hat, so hat André Gunder Frank seine Po2 7 Eisenstadt, Modernen. 28 Edward Said, Orientalismus (1978), dt. Berlin 1981 ; Kritik bei Wendt, Kolonialismus, S. 288f. Zu den im Orient verbreiteten Bildern vom Okzident z. B. Beate Eschment, Hans Harder (Hg.), Looking at the colonizer = Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt 14, Würzburg
2004.
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Vorwort
sition zu Entwicklung der Unterentwicklung korrigiert: Er sah sie am Schluss seines Lebens selbst als eurozentrisch an. Zusammenfassend : Das Konzept »Europa als Provinz behandeln«, als einen Kulturkontinent, erlaubt es uns, ein erklärungskräftiges Bild von der Welt zu zeichnen. Aufstieg und Expansion Europas haben das 19. Jahrhundert bestimmt, Selbstzerstörung und Hegemonie der USA das 20. Im 21. Jahrhundert sind China, Indien, Japan sowie andere Gesellschaften Asiens dabei, an ihre frühere, Jahrhunderte währende Führungsrolle wieder anzuknüpfen. Selbstverständlich ist heute nicht absehbar, wie das 21. Jahrhundert wirklich verlaufen wird. Im 20. Jahrhundert verläuft Weltgeschichte in einem Wechselspiel von Differenz und Unifizierung, Beschleunigung und Verlangsamung. Immer stärker sind selbst geografisch entfernte Gesellschaften durch Interaktionen verbunden, von den Weltkriegen bis zum Weltsport. Immer mehr nehmen zugleich Unterschiede zu - zwischen Kulturlandschaft und Versteppung, zwischen Zentren, Slumvierteln und Vorstädten, manchmal im selben Häuserblock zwischen Reich und Arm. Mauern und Wachpersonal sorgen notfalls für die Einhaltung der von den Reichen durchgesetzten Distanzen. Zugleich mehren sich die Aktionsfelder, die von vornherein globale Subsysteme bilden - Luftverkehr, Internet und Forschungszusammenhänge, ζ. B.: Ein Schlaganfallmediziner in Berlin kennt seine Kollegin in Harvard, aber nicht den Urologen seiner Klinik oder gar den Mieter der Etage über ihm.
Auswahlvorgänge Den widersprüchlichen - aber eben miteinander verbundenen, oft voneinander bedingten - Entwicklungen soll hier entsprochen werden, indem zuerst ein chronologischer Uberblick geboten wird, der sich an der Geschichte der Mächte orientiert. Dem folgt eine verdichtete Skizze zum Wiederaufstieg der asiatischen Mächte bzw. zu andauernden Problemlagen in Afrika und Lateinamerika. Auch wenn in diesen Abschnitten dem Leser die Hilfsmittel genannt werden und neuere Literatur, bleiben viele Zusammenhänge außen vor. Es bleiben sehr große Lücken. Das gilt für Großregionen oder »Kulturkontinente« wie Südostasien - mit kommenden Großmächten wie Indonesien. Es fehlt ζ. B. die Karibik als eigener Raum 29 oder auch Australien und Ozeanien. 30 Durch die Konzentration auf die USA fehlen weiter Überlegungen und Arbeiten zu Amerika als 29 Bridget Brereton (Hg.), General History of the Caribbean, Bd. 1-6, Paris 2004 ff. 30 Vgl. Mückler, Ozeanien, sowie Ewald Frie, in: Feldbauer, Globalgeschichte, Bd. 8.
Auswahlvorgänge
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einem Großraum. 31 Lateinamerika ist nur skizziert, es fehlen eigene Abschnitte zu wenigstens einigen der Länder. Die spannende und vielfaltige Literatur zu Atlantischen32 und Indischen33 Ozeanen und Meeren wie der Ostsee34 als Lebensräumen wurde nicht umfassend aufgenommen, sondern nur in Hinblick auf die hier erörterten Fragen gelesen. Es gehört durchaus zur Weltgeschichte, etwa über die Inka im globalen Rahmen zu reflektieren, gerade wegen der neuen Rolle der »Indígenas« in Lateinamerika (so wie ich das an anderer Stelle über die globale Rolle Russlands in der Geschichte versucht habe, KGR, S. 446-465) - auch so etwas fehlt. In einigen Fällen werden »Einzelgebiete geschichtlichen Lebens« (wie die Bibliografie der Deutschen Geschichte Dahlmann-Waitz das in der zehnten Auflage nannte35), also Subsysteme des Weltsystems, im globalen Zugriff vorgestellt, von der Entwicklung des Verkehrs bis zu jener der Genozide. Aber auch hier fehlt mehr, als angeboten wird - es werden nicht alle etablierten und erst recht nicht alle denkbaren Subsysteme von Geschichte und Geschichtsschreibung aufgeführt; es fehlen - um nur einige zu nennen - Gender-History, Medizingeschichte, Siedlungsgeschichte, Literaturgeschichte, Musikgeschichte oder auch, um ein neues Feld zu bezeichnen, Geschichte der Gefühle. 36 Eine Weltgeschichte ist keine Addition von Nationalgeschichten, und der Autor oder die Autoren können nicht auf alle Länder eingehen, wie Lexika das tun würden; nicht einmal auf die Geschichte aller jener etwa 25 Staaten mit heute über 50 Millionen Einwohnern, in denen drei Viertel der Menschheit leben - geschweige denn auf die Geschichte der vielen kleineren Länder, die alle ihre eigene historische Würde besitzen.37 Auch die Einzelgebiete historischen Lebens können nicht einmal alle skizziert werden. Vielmehr wird versucht, das an Argumenten und Geschichten zusam-
31 Geoökologische Regionalkunde: Rüdiger Glaser, Klaus Kremb (Hg.), N o r d - und Südamerika, Darmstadt 2006; zur Geschichte Claus Füllberg-Stolberg, Reinhold Görling (Hg.), Amerika - das andere Gesicht Europas ? Pfaffenweiler 1996 ; Friedrich Edelmayer, Bernd Hausberger, Hans-Werner Tobler (Hg.), Die vielen Amerikas, Frankfurt 2000. 32 Pietschmann, Atlantic; spannend geschrieben Holger Afflerbach: Das entfesselte Meer, München 2003. 33 Dietmar Rothermund, Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.), Der Indische Ozean, Wien 2004. 34 Komlosy, Ostsee. 35 Dahlmann-Waitz, Quellenkunde der deutschen Geschichte, 10. Auflage, H g . Hermann Heimpel, Herbert Geuss, Stuttgart 1965ff.; Mazlish/Iriye gliedern diesen Kranz von Einzelfragen nach: Periodisierung, Raum-Zeit-Verhältnisse, multinationale Unternehmen, Migrationen, Konsumgesellschaft, Umwelt, Menschenrechte, Nicht-Regierungsorganisationen, Internationalismus, globale Kultur, Globalisierung von Krankheiten und Terrorismus. 36 Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat zur Geschichte der Gefühle einen eigenen Forschungsbereich eingerichtet. 37 Hobsbawm, Gesicht, S. 58.
18
Vorwort
menzufiihren, was die Entwicklung des Zusammenhangs nachvollziehbar macht und (vielleicht) erklärt.
Synchronistische Tabelle des 20. Jahrhunderts
Als Datengerüst wird dem Leser eine synchronistische Tabelle geboten, welche nach vier großen Regionen fragt: C h r o n o l o g i s c h e Tabelle 2 0 . Jahrhundert 3 8
Amerika 1900
0 3 Wright
1905
Europa
Islam, Afrika
Asien
0 4 Entente
0 3 Kano
Boxerkrieg
Russische Niederlage
-
gegen Japan
G B gegen Osman.
Japan besetzt
Reich
Kiautschou
und Revolution 0 9 Haber-Bosch 11 Rutherford 1910
13 Fließband
12 Balkankrieg
1914
Panamakanai
1. Weltkrieg
1915/16
Verdun, Relativitäts-
1917
Kriegseintritt USA
1918
14. Punkte Wilsons
12 China Rep.
15 Genozid an Ar-
theorie
meniern
2. Revolution in Russ-
MIMieMSÄfflBBSBBB
land
1919
Niederlage der -
- Mittelmächte
Friede Versailles, Völkerbund
1921
Friede Riga
1922
•UdSSR
Türkei : Sieg,
Stalin Gensek
Säkularisierung
Mussolini P. 1924 1929
Abschaffung Kalifat Börsencrash
Kalifatsbewegung
28. 1. 5-Jahres-Plan
3 0 Gandhi »Civil
Wirtschaftskrise,
disobedience«
Autarkiepolitiken 1933 1937
Roosevelt Präsident
Hitler Kanzler
ARAMCO
Bürgerkrieg China
3 6 Francoputsch 3 8 Österreich
Italien > > Äthiopien
Japan > > China
38 Das grundlegende Konzept ist, dass bei allen Kürzungen es doch mindestens vier Großregionen gibt, die zu beobachten sind. Häufig ist chronologisch nahe liegenden Ereignissen mit den zwei letzten Ziffern das genaue Jahr vorangestellt.
Synchronistische Tabelle des 20. Jahrhunderts
Europa
Amerika
19
Islam, Afrika
Asien
Deutschland > > Polen "Kernspaltung
1939
1941
Kriegseintritt U S A
Deutschland > > UDSSR, Beginn Genozid Juden und Roma
Japan > > U S A
1942
Kernreaktor in U S A
Sowjet. Sieg vor Moskau, Auschwitz
Amerikan. Sieg bei Midway
Sowjet. Sieg in Stalingrad
1943 1944
Bretton Woods Atombombe Deutsche Kapitulation "Arabische Liga Potsdam-Konferenz
1945
1947
Teheran-Konferenz
Marshallplan 48 O A S
1849
OEEC
48 Beginn der Apartheid, "Israel
Ende Koreakrieg
Tod Stalins
1953 Sit-ins gegen Rassentrennung
1959
Kuba Revolution
1962
Kubakrise
1965
Vietnam krieg
"WVO, 56 Ungarnaufstand, 57 "EWG, Sputnik
56 Suezkrieg, 57 "Ghana 58 O A U
61 Mauerbau
63 " O A U
1968
Studentenunruhen 'Internet
Studentenunruhen Prager Frühling
69 " O I C
1972
73 Putsch gegen Allende
Moskauer, Warschauer Vertrag
73 Yom Kippur, Ölpreisschock
1979
1985
U S in Vietnam 66 China: Kulturrevolution 67 " A S E A N 70 Bangladesch unabhängig
Einnahme Saigons 78 China: Vier Modernisierungen
K S Z E Helsinki
80 Sieg Reagan, S D I
Bandung-Konferenz
Kolonien unabhängig 60 " O P E C
67 Sechstage-Krieg
1975
Unabhängigkeit und Teilung Indiens Kommunistischer Sieg in China, 50 Koreakrieg, China besetzt Tibet
"NATO "BRD + DDR "RGW
1955
Atombombe Hiroshima, Kapitulation Japans "Vietnam
Sieg Thatcher Sowj. Einmarsch in Afghanistan
Revolution Iran. Afghanistankrieg "GCC
Perestrojka
"SAARC
20
Vorwort
Amerika 1989
*APEC
1991 1992
•NAFTA
1994
Europa
Islam, Afrika
Ostmitteleuropa neu hergestellt, Deutsche Revolution
90 Bürgerkrieg in Algerien 90 1. Irakkrieg
Auflösung Jugoslawiens und der udssr
Zentralasien unabhängig
EU Politische und Währungsunion 93 "www
Asien Tian'anmen-Massaker
Genozid Ruanda, Ende Apartheid
1995
Genozid Srebrenica EU-Erweiterung Skandinavien
97 Hongkong an China 97 Finanzkrise
1998
EURO, Intervention im Kosovo
Wirtschaftskrise Indien Atommacht
1999 2000 2001
9/11 Überfall in New York
NATO in Afghanistan
•sco
2. Irakkrieg
Freihandel ASEAN
2002 2003
2. Irakkrieg
2004
EU-Erweiterung
2005 2006
Pipeline China Kasachstan
2007 2008
Wirtschaftskrise
2009 = gegründet
Wirtschaftskrise •Kosovo Georgienkrieg
Wirtschaftskrise
Wirtschaftskrise
1. Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
Das 19. Jahrhundert Man kann das 19. Jahrhundert entweder als sehr lang oder in nahezu genau 100 Jahren bestimmen: als vom Beginn der Koalitionskriege 1791 bis zum Frieden von Riga 1921 - oder vom Wiener Kongress 1815 bis zum Ersten Weltkrieg 1914. Für die erste Variante spricht, dass die vier Imperien im Osten Europas39 sich erholten und den Osten des Kontinents bestimmten, bis die Nationalstaaten Ostmitteleuropas endgültig siegten. Für die zweite Fassung spricht, dass der Frieden von 1815 auch jener der großen Banken und der Industrialisierung war, die »Belle Epoque«, die mit dem Großen Krieg zerbrach. Sicher ist, dass das gesamte 19. Jahrhundert durch die Hegemonie Großbritanniens geprägt war - anfangs gegen die erbitterte und zum Teil glanzvolle Feindschaft Frankreichs, am Ende gegen den verbissenen und manchmal unruhigen, unentschiedenen Widerstand Deutschlands.
Internationale Beziehungen und Diplomatie Europäische Imperien und Nationen standen im Rahmen des Systems stets in einem offiziellen Verhältnis zueinander. Sie verkehrten miteinander im Rahmen der internationalen Beziehungen,40 vertreten von zunehmend gelernten Diplomaten,41 sandten sich Depeschen und Demarchen, Vertragsentwürfe und notfalls Kriegserklärungen.
39 Einführend Nolte, Imperien; gemeint sind hier Russland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Deutschland. Vgl. Andrea Komlosy, Habsburgermonarchie, Osmanisches Reich und Britisches Empire, Erweiterung, Zusammenhalt und Zerfall im Vergleich, in: ZWG 9.2, S. 9-62. 40 Einführend Kleinschmidt, Internationale Beziehungen; grundlegend Heinz Duchhardt, Franz Knipping (Hg.), Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 1-9, Paderborn (Bd. 4) 1997 ff., die Bände für das 20. Jahrhundert sind noch nicht erschienen. Vgl. Peter Krüger (Hg.), Das europäische Staatensystem im Wandel, München 1996; Gabriele Clemens (Hg.), Nation und Europa, Festschrift für Peter Krüger, Stuttgart 2001. 41 Die deutschen Diplomaten, auch die der Staaten innerhalb des Deutschen Bundes bzw. Deutschen Reiches, in: Tobias C. Bringmann, Handbuch der Diplomatie 1 8 1 5 - 1 9 6 3 , München 2001.
22
Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
Harald Kleinschmidt teilt die Geschichte der internationalen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert in vier Perioden: Die durch Revolution und Kriege geprägte Periode um 1800; Nationalstaaten, Freihandelspolitik und Imperialismus 1 8 1 5 - 1 9 1 4 ; Weltorganisation und Blockbildung 1914-1989; Systemwandel ab 1989. Kennzeichen des 19. Jahrhunderts waren fortschreitende Verrechtlichung, Rationalität im Rahmen von Konkurrenz und Kooperation sowie internationale Beziehungen als Kommunikationsraum. Die Interdependenzen zwischen den vielen Akteuren (den Staaten) wurden so groß und vielfaltig, dass ein umfassendes System von Politik entstand, das aber erst am Ende des 20. Jahrhunderts institutionalisiert wurde.42
Das Konzert der Mächte
Zuerst einmal wurde 1815 jedoch eine neue, sehr stabile Ordnung des Europäischen Konzerts geschaffen, die ein Jahrhundert lang gedauert hat und damit eine der erfolgreichsten Friedensordnungen in der Geschichte des Kontinents war. Sie beruhte auf der britischen Hegemonie und stärkte sie auch wiederum. Gegen befürchtete Restitutionsversuche Frankreichs und auch um der russischen Annexion von Kernpolen zu entsprechen, wurde Preußen nach Westen verlagert, bis vor die Tore der Reichsfestung Luxemburg. Die drei christlichen Imperien spielten im Rahmen des Konzerts der Mächte trotz der britischen Hegemonie - eine notwendige Rolle. London konnte oder wollte der befürchteten Revanche Frankreichs nicht allein Paroli bieten, brauchte z. B. Berlin, um die Neutralität des 1830 gegründeten Belgien zu sichern, und brauchte Osterreich, um dem Vordringen Russlands auf dem Balkan entgegenzutreten, am deutlichsten bei der Gründung Bulgariens 1878. Trotz seiner Hegemonie konnte Großbritannien nach 1 8 1 5 die anderen Mächte nicht daran hindern, auf dem Weg der Industrialisierung zu folgen und einen ähnlichen Zuwachs an Potenzial zu suchen, wie England ihn erreicht hatte. Das gelang den Mächten des Europäischen Konzerts durch mit hohen Zöllen geschützte, nachholende Industrialisierungen. Kurz vor 1914 erreichten auch Russland und Japan durch staatliche Förderung den Aufbau der neuen Industrie. Weiter gelang es den USA, auf42 Kleinschmidt, Internationale Beziehungen, hier S. 3 9 6 - 3 9 8 .
Das Konzert der Mächte
23
grund des großen Marktes und der günstigen Vorkommen von Rohstoffen am Ende des 19. Jahrhunderts alle anderen zu überholen. In der Außenpolitik dominierten Preußen, Russland und Österreich-Ungarn nach 1 8 1 5 als konservative Großmächte im Rahmen des Konzerts den Kontinent. Die »Heilige Allianz«, welche Franz von Osterreich, Alexander von Russland und Friedrich Wilhelm von Preußen 1815 in Paris schlossen, legte fest, sich »von nicht anderem leiten zu lassen, als den Regeln der heiligen Religion ..,« 43 Dieser Versuch, die Regeln der Staatsräson außer Kraft zu setzen und drei Jahrhunderte Säkularisierung des politischen Verhaltens rückgängig zu machen, erwies sich schnell als antirepublikanische Ideologie. Schon bald ging es nur noch darum, Demokraten auch über die Grenzen hinweg zu verfolgen und Aufstandsbewegungen niederzuwerfen, wie Russland in Polen 1830 und in Ungarn 1848 oder Preußen 1850 in Hessen. 1866-1870 allerdings stellte die deutsche Einigung das vorhandene Mächtegleichgewicht infrage. So wie in anderen Staaten, in denen man über abbauwürdige Lager des wichtigsten Rohstoffs der Zeit verfügte - Kohle - und an eine alte »industriose« Tradition anknüpfen konnte, wie in Frankreich, Belgien und den USA, gelang in Preußen noch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Nachholen der industriellen Revolution.44 Dass Industrialisierung und Einigung Deutschland von der schwächsten in die stärkste Macht des Konzerts verwandelten, musste das System noch nicht aufheben, verschob aber die Balance - immer mehr wurden es nun Frankreich und Russland, die man gegen Deutschland stützen musste. Nur als Deutschland 1 9 1 4 trotz seiner miserablen seestrategischen Lage und obgleich es einen Zweifrontenkrieg fürchten musste - die Stellung Großbritanniens als globaler Hegemon herausforderte, geriet das Konzert der Mächte an sich in Gefahr. Nur wenige Jahre später allerdings hatte der Krieg um die Hegemonie die Vorherrschaft Europas selbst zerstört. Für manche asiatischen Länder wie Persien und Saudi-Arabien boten sich damit Chancen, ihre Selbstständigkeit zu wahren oder wiederherzustellen. Für die Entwicklung von globaler Politik allerdings bildete der Erste Weltkrieg eine Katastrophe. Der deutsche Einmarsch in Belgien, dessen Neutralität Deutschland selbst garantiert hatte, zerstörte die Glaubwürdigkeit deutscher Politik. Deutsche Massaker im besetzten Belgien entsetzten den Westen und wurden von ihm derartig propagandistisch aufgebauscht, dass das Vertrauen in Information über Kriegsverbrechen langfristig beschädigt wurde. Großbritannien ließ sich verleiten, eine Blockade gegen Deutschland zu verhängen, die nicht vor den deutschen Häfen, 43 F. Martens (Hg.), Recueil des Traités et Conventions conclus par la Russie, Vol. i v . i , Nr. 99; Auszug NV Nr. 1 0 6 . 44 Adelheid von Saldern, Polnische Arbeitsmigranten, in: Nolte, Migrationen, S. 1 0 2 - 1 1 3 .
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Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
sondern zwischen den Orkneys und Norwegen eingerichtet wurde und deren Ziel offensichtlich war, Deutschland durch Aushungern zu besiegen. Deutschland antwortete mit dem unbegrenzten U-Boot-Krieg. Am folgenreichsten war, dass nach dem Ende der drei christlichen Imperien 1 9 1 7 / 1 8 kein neues internationales System aufgebaut wurde, das wenigstens einige alltägliche Konflikte zwischen den Mächten hätte auffangen und regeln können - so wie das Europäische Konzert das immerhin ein Jahrhundert lang geleistet hatte.
Hegemon Großbritannien Das 19. Jahrhundert war die große Zeit Großbritanniens (wi, S. 9 6 - 1 1 1 ) . 4 5 Auf der Grundlage der schon im 18. Jahrhundert durchgesetzten Vorherrschaft im Welthandel gelang die Industrielle Revolution, welche Menschenzahl, ökonomische und auch militärische Potenz außerordentlich steigerte. Die verbreitete Sicht eines zentral geführten Imperiums ist heute »zugunsten der Betonung großer Gestaltungsräume sowohl der einheimischen Bevölkerungen (nicht nur der Eliten) als auch der aus Europa stammenden Siedler und Plantageneigner« aufgegeben. 46 Die Hegemonie Großbritanniens zur See konnte nach der Vernichtung der spanischen und französischen Flotten vor Trafalgar 1805 von niemandem infrage gestellt werden. Das erleichterte die Kontrolle Londons und machte eine Periode des »Imperialismus des Freihandels« 47 möglich, in welcher nur geringe Kontrollkosten aufgebracht werden mussten, um Regeln wie das Verbot des Sklavenhandels oder der Piraterie durchzusetzen, und man doch vielen kleineren Mächten Zugang zum Welthandel zugestehen konnte. Am 29. Januar 1903 eroberten britische Truppen Kano, die Hauptstadt des Sultanats Sokoto, einer der letzten unabhängigen Staaten in Afrika. 48 Die Fortdauer der Sklaverei im Sultanat hatte den Briten die in der europäischen Öffentlichkeit am
45 Klassisch: G. M. Trevelyan, History of England (1923), Neuausgabe London 1948; Ders., English Social History London 1948. Handbuch: G. Clark (Hg.), The Oxford History of England, Bd. 1-15, Oxford 1937-1965 2 . Darstellungen: EricJ. Hobsbawm, Industrie und Empire (1968), 2. Bde. dt. Frankfurt 1979; Niall Ferguson, Empire. How Britain made the Modern World, London 2004. 46 Helmut Bley, British Empire, in: EN, Bd. 2, Zitat Sp. 430. 47 John Gallagher, Ronald Robinson, Der Imperialismus des Freihandels (1953), dt. in Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Imperialismus, Köln 1970, S. 183-200. 48 B. A. Ogot (Hg.), General History of Africa, Ausg. Paris 1999; John Iliffe, Africans. The History of a Continent, Cambridge 1995.
Der Westen : das Zentrum
25
besten wirksame Propaganda geliefert; 49 aber die französischen Interessen an diesem Territorium brauchte man ohnedies nicht zu furchten, weil die europäischen Mächte 1884 Afrika auf dem Kongress in Berlin untereinander aufgeteilt hatten und das Sultanat (ohne dass man den Sultan gefragt hätte) den Briten zugeschlagen worden war. Der Sieg über China und die unmittelbare Machtergreifung Großbritanniens in Indien nach dem Aufstand 1857 hatten schon im 19. Jahrhundert nicht nur die englische militärische Überlegenheit, sondern auch deutlich gemacht, dass London - und Manchester - nach der Industriellen Revolution die asiatischen Märkte beliefern konnte. Gegenüber den großen asiatischen Ökonomien konnte sich England jedoch ohne den Einsatz von militärischer Gewalt nicht durchsetzen. In Indien konnte man die Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Mächten nutzen, aber in China war es nicht möglich, an territorialen Differenzen anzuknüpfen, und die Kosten einer Eroberung des fiir europäische Begriffe riesigen Imperiums waren nicht kalkulierbar. Es waren trotzdem nicht die »wohlfeilen Preise ihrer Waren«, mit denen die Bourgeoisie die chinesischen Mauern niederschoss (wie Marx 1848 sicher in gutem Glauben, aber eben falsch formulierte), 50 sondern ein agrarischer Rohstoff - Opium. Nur Japan gelang es, sich dem Zugriff der europäischen Mächte zu entziehen.
Der Westen : das Zentrum Seitdem es Staaten gibt, haben deren politische Eliten versucht, die Stärken des Gegners abzukupfern, und seitdem es Fernhandel gibt, haben Kaufleute versucht, hinter die Produktionsgeheimnisse der Konkurrenten zu kommen. Die Globalisierung, besonders die Beschleunigung der Informationen, hat diese Vorgänge verdichtet. Ekkehard Krippendorff hat dafür die treffende Bezeichnung »konkurrierende Imitation« gefunden - es geht nicht um bloße Nachahmimg, sondern um eine Form der Konkurrenz: Man lernt vom Gegner, um ihn später zu besiegen oder ihm einen Markt streitig zu machen. 51 Der Ausgangspunkt war, dass Frankreich England auf dem Weg in den modernen Nationalstaat folgte, eine breite Partizipation der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen ermöglichte und damit einen hohen Integrationsgrad in die Politik
49 Mansur I. Muktar, The Conquest of Kano-Emirate by the British, in : Μ. O. Hambolu (Hg.), Perspectives on Kano-British Relations, Kano 2 0 0 3 , S. 3 6 - 5 4 . 50 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4 , S. 4 5 9 - 4 9 3 , Zitat S. 4 6 6 . 51 Ekkehard Krippendorff, Internationales System als Geschichte, Frankfurt 1975, S. 72; Nolte, Eine Welt, S. 91-95.
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Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
erreichte. Der neue Nationalismus beflügelte die französischen Soldaten, die außerdem mit überlegenen Waffen ausgestattet werden konnten, sodass es Napoleon möglich wurde, den Aufbau eines französischen Imperiums zu beginnen. Allerdings war das französische Modell, das selbst vielfältig (wenn auch in Kritik) auf das englische zurückging, durchaus nachahmbar. Die anderen Mächte versuchten, ebenfalls auf der nationalistischen Welle zu schwimmen. Der Versuch, in der »Heiligen Allianz« einen Damm gegen Säkularisierung und Nationalismus zu errichten und das Gottesgnadentum der absolutistischen Monarchien zu verteidigen, geriet nicht nur in Schwierigkeiten, wenn die öffentliche Meinung von Nationen Abweichungen forderte - z. B. die Unterstützung des christlichen Griechenland gegen das osmanische Imperium - , sondern auch, wenn die mögliche Steigerung der eigenen militärischen Macht durch das Bündnis mit dem Nationalismus den herrschenden Eliten nicht aus dem Kopf ging (wie Clausewitz notierte). Das wichtigste politische Instrument für die neue Industrie waren hohe Außenzölle zum Schutz der eigenen Industrie vor der englischen Konkurrenz - Friedrich List nannte sie »Erziehungszölle«, in deren Schutz die neuen Industrien erwachsen werden sollten, bevor sie sich der Weltmarktkonkurrenz stellten. Die politisch unabhängigen Mächte förderten also eine nachholende Industrialisierung, in der Deutschland und die USA besonders erfolgreich waren. Die Entwicklung beschleunigte sich. Jahrtausendelang hatten sich die Geschwindigkeiten des Verkehrs kaum geändert, in der Mitte des 19. Jahrhunderts verminderte die Eisenbahn sie auf ein Fünftel, vor dem Ersten Weltkrieg auf ein Zehntel der früheren Zeit. Auch die Frachtkosten wurden verringert - in England gegenüber dem Straßenverkehr auf ein Zwanzigstel ! Hinzu kam, dass die Einführung der Dampfschifffahrt auch den Seeverkehr billiger machte.52 Von Argentinien bis Australien wurden neue Exportgebiete erschlossen, in Osteuropa vor allem die Ukraine und Rumänien. Der Telegraf übermittelte fast ohne Zeitverlust Nachrichten, welche vorher Monate und Jahre gebraucht hatten. 1855 hatte die Fa. Siemens Sankt Petersburg mit Warschau und Preußen wie Osterreich verbunden und über Moskau die Krim erreicht.53 1913 wurden in Russland über 220.000 km Telegrafenlinie mehr als 50 Millionen Telegramme versandt; Kommunikation wurde nicht nur schneller, sondern auch dichter.54 Der Anstieg des Potenzials wurde von den Regierungen eingesetzt, um dem britischen Beispiel folgend, von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Kolonial-
52 O'Brien, The Industrial Revolution Vol. I, hier S. 257; Knick, Integration, Vol. I, hier S. 277-308. 53 Wilfried Feldenkirchen, Die Firma Siemens im Russischen Reich, in: Dittmar Dahlmann, Carmen Scheide (Hg.), »... das einzige Land, das eine große Zukunft vor sich hat.«, Essen 1998, S. 167-188. 54 Arcadius Kahan, Russian Economic History, Chicago 1989, S. 34-36.
Der Westen : das Zentrum
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reiche aufzubauen, die sich über verschiedene Kontinente erstreckten, mit Mitteln des modernen Verkehrs auf das Mutterland bezogen und - im Unterschied zu den vorangehenden Jahrhunderten - nicht nur für den Gewinn privater Unternehmen, sondern auch zur staatlichen Vorsorge im Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte einheimischer Industrie errichtet wurden. Dieser Hochimperialismus löste die Periode des Freihandelsimperialismus spätestens mit dem Abschwung der Weltwirtschaft ab 18783b. 55 Auf kurze Sicht war keine dieser Kolonien gewinnbringend ; schon gar nicht die, welche der Latecomer Deutschland erwerben konnte. Nur falls Rohstoffe gefunden wurden, wie Diamanten in Südafrika oder Kupfer in Katanga, änderte sich das. Es war also ein »Vorsorge-Kapitalismus«, aus dem heraus die Briten Kano oder die NorthWestern-Frontier, die Franzosen das alte Mali und die Deutschen Kamerun besetzten: Man wollte die Hand darauflegen können, falls Gewinne möglich wurden.56 Und die Kaufleute wünschten, dass »ihr« Staat intervenierte, um betriebswirtschaftliche Gewinne bei volkswirtschaftlichen Verlusten realisieren zu können. Wo allerdings europäische Siedlung möglich schien, wurden Afrikaner aus ihren alten Siedlungsgebieten vertrieben.57 Bis 1914 haben dann neben Großbritannien und den alten Kolonialmächten - Spanien, Portugal, Frankreich und die Niederlande sowie Dänemark - auch Deutschland, Belgien, Italien und die USA sowie Japan Kolonien erworben. Großbritannien systematisierte seine Besitzungen und machte den Indischen Ozean fast zu einem britischen Mittelmeer. Frankreich eroberte große Teile Westafrikas und schuf ein zusammenhängendes französisches Territorium zwischen dem Mittelmeer und dem Kongo. Deutschland erwarb hie und da verstreute Landstücke zwischen Lomé, Windhuk und Herbertshöhe in Neuguinea. Der Kampf um die Kolonien war noch lange wichtig die USA eroberten Puerto Rico und die Philippinen aus spanischem Besitz und kauften die Jungferninseln von Dänemark, Deutschland plante die Aufteilung Angolas, England und Frankreich teilten sich 1918 die deutschen Kolonien und die arabischen Gebiete des osmanischen Imperiums. Nur Japan, China, Thailand, Afghanistan, Persien und Äthiopien waren nicht direkt von europäischen Mächten beherrscht.58 55 Vgl. auch Wendt, Kolonialismus, S. 235F.; 253-264 zum Übergang von »informal« zu »formal« Empire. 56 Nolte, Eine Welt, S. ç6f. 57 Aus der Sicht einer Siedlungskolonie Day, Conquest; kritischer schon Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, Hamburg 1968; zusammenfassend Bayly, Geburt, S. 538— 563 ; vergleichend Nolte, Grenzen. 58 David K. Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, dt. Frankfurt 1965; Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, München 1966; Rudolf von Alberdni, Europäische Kolonialherrschaft, München 1976; Bodo von Borries (Hg.), Kolonialgeschichte und Wirtschaftssystem, Düsseldorf
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Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
USA Zum Schluss des 19. Jahrhunderts wurden die U S A 5 9 zur letzten und jüngsten der imperialistischen Mächte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die USA mit der Expansion über den Kontinent befasst, danach haben sie Ausdehnung und Einflussnahme im Süden des Kontinents sowie im Pazifik vorangetrieben.60 Dieser amerikanische Imperialismus ähnelt den europäischen bzw. japanischen Ausprägungen in der Verbindimg von Kapitalinteressen, Rohstoffvorsorge, militärischer Intervention, Gewinnung von einheimischer Unterstützung und Einsatz von Beratern.61 Durch eine stetige Einwanderung und genauso stetige Vertreibung der Voreinwohner bis hin zur Auflösung des Indianerterritoriums Oklahoma 1889, durch günstige geografische Lage z. B. im Vergleich zu Russland62 und eine stabile republikanische Verfassung, durch eine protektionistische Zollpolitik und vor allem durch fleißige und einfallsreiche Bürger hatten die USA um die Jahrhundertwende die erste Stelle unter den Industriestaaten der Welt erreicht. Musste daraus folgen, dass die USA sich an der imperialistischen Expansion beteiligten ? Oder war es mehr die »Sendungsidee der Freiheit«, welche die Amerikaner antrieb ? Aus ihr entstand ein Manichäismus, eine Scheidung der Welt in Gut und Böse, welche die Außenpolitik der USA belastet, weil sie den »Bösen« (das waren diesmal die Spanier) gegenüber auch Tricks legitimiert.63 Sie begannen den Krieg, nachdem ein amerikanisches Kriegsschiff im Hafen von Havanna explodiert war, aber »niemals gab es irgendeinen Beweis, dass die spanische Regierung irgendetwas damit zu tun hatte«, wie George Kennan recht klar formulierte.64 Eine Welle nationalistischen »Jingoism« wurde entfacht, die schließlich auch Siege im fernen Manila feierte. Die USA waren zur imperialistischen Macht geworden, ohne dass irgendein vorangehender Plan in den Akten klar geworden oder deutlich gewesen wäre, wozu eigentlich die Philippinen annektiert worden waren. Das bestätigte die
1986 (Dokumentation). Zur Kritik des Ansatzes die Beiträge in: Conrad/Randeira. Chronologisch umfassender Essay Jürgen Osterhammel, Kolonialismus, München 1995. 59 Nolte, USA; Helmuth Günther Dahms, Grundzüge der Geschichte der Vereinigten Staaten, Darmstadt 1971 ; Howard Zinn, A People's History of the United States, Neuausgabe N e w York 1995 ; Junker, USA. 60 Ulrike Schmieder und (zu Alaska) Hans-Heinrich Nolte in: Nolte, USA. 61 Vgl. Fischer/Zimmermann; Christian Lekon, Die Briten und Amerikaner im Irak: Imperium, Imperialismus und/oder Hegemonie, in: Nolte, Imperien, S. 79-96. 62 Hans-Heinrich Nolte, in: Nolte, USA, S. 63-78. 63 Junker, USA, S. 10, S. i8f. 64 Kennan, Diplomacy, S. 14, außerdem bot Spanien jede Art von Untersuchung an, worauf die USA nicht eingingen. Vgl. Ulrike Schmieder in: Nolte, USA, S. 53.
Das alte Europa
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Marxisten und wurde zum Ausgangspunkt der kritischen »revisionistischen« Schule in der Diplomatiegeschichte der U S A . 6 5 1898 zwangen die USA Spanien zur Abtretung Puerto Ricos und der Philippinen, 1900 zwangen Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland China, ihnen weitere Vertragshäfen und freien Handel zuzugestehen. 1903 besetzte Großbritannien Sokoto im heutigen Nigerien, 1907 teilten Russland und England Persien in Einflusszonen, 1912 Spanien und Frankreich Marokko. 1 9 1 1 - 1 9 1 3 warfen die christlichen Nationalbewegungen und Italien das osmanische Reich (fast) aus Europa und Afrika hinaus. Die Welt war politisch vom europäischen Weltsystem beherrscht (das die USA und Japan aufgenommen hatte) und ökonomisch durch Globalisierung bestimmt.66
Das »alte Europa«
Preußen, Osterreich und Russland waren gemeinsam durch die Zugehörigkeit zum Christentum (wenn auch in drei verschiedenen Konfessionen), die Rezeption der Aufklärung und die Stellung im europäischen Weltsystem als halbperiphere Mächte gekennzeichnet. Alle drei sahen sich vor der Notwendigkeit, die Ergebnisse der Industriellen Revolution in Großbritannien zu übernehmen, was die Eliten vor allem deswegen einsahen, weil der Vorsprung der britischen Ökonomie in Macht umgesetzt wurde. Alle drei waren Großmächte und bildeten neben Frankreich und Großbritannien in der europäischen »Pentarchie« sogar die Mehrheit. Das osmanische Imperium war im Unterschied dazu durch den Islam bestimmt und wurde erst nach dem Sieg der Westmächte im Krimkrieg 1856 »zugelassen, an den Vorteilen des allgemeinen Rechts und des Europäischen Konzerts teilzunehmen.«67 Anders als in Frankreich und Großbritannien, in denen religiöse Minderheiten durch staatliche Politik weitgehend ausgeschaltet und ethnische schon weitgehend marginalisiert waren, gab es in Mittel- und Osteuropa68 viele religiöse und ethnische Minderheiten. Sowohl Islam als auch Christentum waren in den osteuropäischen Imperien verbreitet, nach der Annexion Bosniens auch in der k.u.k Monarchie. In 65 William Appleman Williams, Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie (1959), deutsch Frankfurt 1973. 66 Fässler, Globalisierung. 67 F. M a r t e n s ( H g . ) , Recueil des Traités et C o n v e n t i o n s conclus par la R u s s i e , B d . ι ff. St. P e t e r s b u r g i 8 7 4 f f . , hier Bd. x v , N r . 523 ; gekürzt übersetzt in: N V , S. 100. 68 H a n d b u c h : H a r a l d R o t h u. a. (Hg.), Studienhandbuch Ostliches E u r o p a , 2 Bde. K ö l n usw. 1999-2002. Benutzte U b e r b l i c k s w e r k e : M a n f r e d Alexander, K l e i n e G e s c h i c h t e Polens, Stuttgart 2003; T u c h t e n hagen, B a l t i k u m ; KGR; K o m l o s y , O s t s e e . Ausfuhrlicher H a n s - H e i n r i c h N o l t e i n : Feldbauer, G l o b a l geschichte, Bde. 6 - 8 .
Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
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ganz Europa gab es Juden - Sephardim im Süden der Linie Donau-Prag, Aschkenasim nördlich davon ; assimilierte oder sich assimilierende im Westen und besondere Formen im Osten. Häufig waren religiöse Grenzen auch nationale oder wurden zu solchen gemacht - orthodox und russisch gegenüber finnougrisch redenden Völkern im Norden, katholisch und protestantisch in Teilbereichen der polnisch-deutschen Grenze, ostkirchlich-monophysitisch und armenisch, türkisch und muslimisch. Die soziale Struktur Europas war durch Geburtsstände geprägt. Fürsten bildeten eine geschlossene gesamteuropäische Gesellschaft. Der Adel war in England eigentlich nur die Nobilität, weil der niedere Adel in den »Gentlemen« eingegangen war; in Frankreich gab es einen restituierten Adel, der wie in Osterreich und Preußen in verschiedene, voneinander abgeschlossene Korporationen unterteilt war - in Deutschland Herzöge, Grafen, Reichsfreiherren, gewöhnliche Freiherren etc. In Polen und Livland bildete der Adel dagegen einen einzigen Stand, der in Wappenverbänden bzw. Matrikelbüchern selbst über die Mitgliedschaft bestimmte. In Russland wurde durch den Dienst bestimmt, wer dazugehörte, ohne dass selbstverständlich alte Familien wie die Tolstoj Aufsteiger wie die Witte als gleich ansahen. Uberall gab es Erhebungen in den Adel, von Opel und Schlichau bis zu Dmitrij Uljanow, dem Vater von Lenin. In die Stände der Bürger konnten freie Leute aufgenommen werden, wenn sie das Bürgergeld zahlten. Auch zum Bauern war man geboren; in den Anfangs jähr zehnten des 19. Jahrhunderts und in Russland bis 1861 hieß das für viele (aber nirgendwo für alle) Schollenpflichtigkeit, die als Leibeigenschaft in der Öffentlichkeit immer schärfer attackiert wurde. Übrigens bildeten in Russland auch Kosaken und »Kolonisten« eigene Stände. In Westen und Osten vermehrte sich die Bevölkerung bis 1914 schnell, aber doch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten - im zisleithanischen Osterreich verdoppelte sie sich von (1818) 13,4 auf 28,6 Millionen, in Deutschland (in den Grenzen von 1971) verdreifachte sie sich fast von (1816) 22,4 auf 64,9 Millionen und in Russland (ohne Finnland, Buchara und Chiva) wuchs sie noch schneller von (1820) 48,6 auf 160,7 Millionen.69 Die Bevölkerungen Südosteuropas wuchsen ähnlich schnell.70 Wie meist wuchs die Landbevölkerung schneller als die der Städte, so dass städtische ethnische Mehrheiten durch Zuzug und Eingemeindung im Verlauf des Jahrhunderts zu Minderheiten wurden, etwa die Deutschen in Prag, die Polen in Lemberg/Lwow/ Lwiw oder die Juden in Thessaloniki/Saloniki.71
69 Mitchell, Statistics, S. 3-11. 70 J o h n R. Lampe, Marvin R. Jackson, Balkan E c o n o m i c History 1 5 5 0 - 1 9 5 0 , Bloomington/Ind. 1982, S. 281, vgl. S. i66f.; Jürgen Hoensch, Ungarn, Hannover 1991, S. 22of. 71 Z u P r a g j i r i Pesek, Development of Prague and its Population, in: Historická demografie 1 4 (1990), S. 185-204.
Das alte Europa
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Alle europäischen Staaten waren Militärstaaten; sie gaben den größten Teil ihrer Budgets für Rüstung aus und billigten dem Soldatenberuf einen hohen Status zu. Damit war die Gefahr der Fehlallokation groß - also die Gefahr, dass die Gesellschaft insgesamt über die Staatsquote mehr Mittel in Militär und Rüstung steckte, als für ein ausgewogenes Programm nachholender Industrialisierung angemessen war.72 Dabei ging es nicht darum, überhaupt nicht zu rüsten - Großbritannien war eine »militaryfiscal nation« mit großer Rüstung73 - , es ging um das Maß im Kontext anderer Möglichkeiten. Jedenfalls gelang nur dem westlichsten Imperium, Deutschland, der Aufstieg zur Industriemacht. Die Rüstungsstandards des Westens wurden aber auch in Russland übernommen. Wenn man zögerte, z. B. nicht schnell genug eine Eisenbahn von Moskau in den Süden baute, wurde das von den Westmächten abgestraft, die das Imperium 1855 auf russischem Boden besiegten - französische Truppen brauchten mit dem Dampfer von Marseille nur ein Viertel der Zeit bis zur Krim, die russische zum Marsch von Moskau aus benötigten. Die militärischen Erfolge wurden in allen europäischen Staaten hochgehalten und spielten eine bedeutende Rolle im jeweiligen Gedächtnis. Das galt für die Siege in den Koalitionskriegen, von der Überschreitung des Gotthard im Winter über Borodino und Leipzig für Russen bis Waterloo für Preußen und Austerlitz in Frankreich ; was in Preußen der Kult um Königin Luise nach Jena und Auerstedt - war in Russland der Kutusow-Kult, den Tolstoj später vertiefte. Uberall mythologisierte man nationalistische Guerilla, nicht nur in Spanien, sondern auch in Österreich mit Andreas Hofer, in Russland mit den Uberfällen auf die »Grande Armée« auf dem Rückzug und in Deutschland mit Lützows »Schwarzer Schar«. Die Sympathie für den kleinen Krieg wurde auf die christlichen Aufstände gegen das Osmanische Imperium übertragen und errang im Philhellenismus politische Bedeutung; allerdings setzte im Kontext der »Volkskriege« eine Tradition der Verrohung der militärischen Auseinandersetzungen ein, die in Südosteuropa und Ostanatolien Massaker fast zur Regel werden ließ. In den großen Armeen wurde dagegen militaristische Begeisterung reglementiert und diszipliniert. Russland verherrlichte nach der Niederlage auf der Krim vor allem die Balkan-Feldzüge 1878; seine Regierung sehnte sich nach einem »kleinen erfolgreichen Krieg« - nur verlor es eben den gegen Japan. Wenig zu feiern hatte an sich Osterreich, also behalf man sich mit den Siegen Radetzkys gegen Savoyen und die Mailänder 1848/1849. Die größten Erfolge hatten die Preußen: Siege gegen Däne72 Nolte, Tradition ; zu Russland im späten 19. Jahrhundert Dietrich Geyer (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln 1975 ; Ders., Der russische Imperialismus, Göttingen 1977. 73 Peer Vries, A World of Surprising Surprising Differences, erscheint Leiden 2009.
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Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
mark, Österreich und Frankreich - »Düppeler« Schanzen und »Sedan« gehörten zum festen Geschichtsbild des neuen Deutschland. Die Flottenbegeisterung zeigte, wie sehr die Kontinentalmächte das Beispiel England nachahmten. Sofort nachdem Russland die Niederlage Frankreichs 1871 zur Aufhebung der 1856 beschlossenen Neutralisierung des Schwarzen Meers genutzt hatte, ging es an den Aufbau der Schwarzmeerflotte. In Deutschland, wo nur die Flotte »kaiserlich« war und die Armeen »königlich« (preußisch, sächsisch etc.) blieben, begeisterte sich die bürgerliche Öffentlichkeit für »Deutschlands Zukunft« auf dem Wasser, und selbst in Österreich gab es eine Flottenbegeisterung. Da keines der drei christlichen Imperien einen offenen Zugang zu den Weltmeeren besaß, war der strategische Wert aller dieser Flotten mehr als zweifelhaft, festigte aber das Misstrauen des britischen Hegemons, der die Vernichtung zweier russischer Flotten 1905 (Pazifik- und Ostsee-Geschwader) mit Genugtuung aufnahm und 1914 über Deutschland eine Seeblockade verhängte, die von der kaiserlichen Flotte bis Kriegsende nicht aufgebrochen werden konnte. Der virtuelle Militarismus, der sich im Flottenbau, aber auch in den Schlieffen'schen Träumen von der Vernichtungsschlacht im Westen74 spiegelte, kennzeichnete dann bald die Kriegführung der Imperien im Ersten Weltkrieg und ihre mangelnde Fähigkeit zum rationalen Umgang mit dem Militär. Keines der Imperien war in der Lage, Ziele und Mittel in ein angemessenes Verhältnis zu bringen ; Österreich-Ungarn ließ sich von serbischen Terroristen in den großen Krieg ziehen, Deutschland zum »Griff nach der Weltmacht« verleiten. Russland konnte nach dem Februar 1917 nicht auf die Hoffnung verzichten, doch noch irgendwie aus dem Schwarzen Meer ans Mittelmeer zu gelangen, und Deutschland in Brest-Litowsk nicht auf die Absicht, den Osten Europas bis zum russischen Montanrevier Donbas unter seine Kontrolle zu bringen. Am Ende stand der Sieg der Nationalstaaten von Finnland bis Jugoslawien. Der Pazifismus, der in Österreich und Russland mit Bertha von Suttner, geb. Gräfin Kinsky, und Graf Lev Tolstoj manche Unterstützung auch in der Oberschicht gefunden hatte, führte bei den Militärs nur zu trotzigen Reaktionen wie des Grafen Moltke »Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner« und hatte auf die Regierungen wenig Einfluss. Allerdings gehörten die Zaren zu den Förderern der Bemühungen um nichtkriegerische Mittel der Konfliktbewältigung und der Konferenzen in Den Haag 1899 und 1907, die immerhin zur Verabschiedung der Haager Landkriegsordnung und zur Einrichtung eines Schiedsgerichts führten.75 74 Heinrich Nolte, Vom Cannae-Mythos, Güttingen 1991 (vgl. Anm. 168). 75 Arthur Eyffinger, Die Haager Tradition, in: Karin Fischer, Susan Zimmermann (Hg.), Internationalismen, Wien 2008, S. 39-60. Zitat nach Büchmann.
Imperien, N a t i o n e n und Imperialismus
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Imperien, Nationen und Imperialismus Wieso kam es 1911-1918 zum Ende der Imperien? Historisch werden eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Staaten Imperium 76 genannt, von einem korporativen Staatswesen mit regionalen und sogar lokalen Autonomien wie dem »Heiligen Römischen Reich« bis zum chinesischen Imperium mit seiner Tradition von Zentralverwaltung und nach gesamtstaatlichen Regeln ausgebildeter Bürokratie (wi, S. 55-70). Im 20. Jahrhundert behielt einerseits Deutschland auch nach 1918 den Titel »Reich« bei und wurde andererseits die U D S S R in der Literatur gern als »Imperium« bezeichnet, obgleich sie selbst diesen Titel ablehnte. Der Begriff Imperium meint also unterschiedliche Staatsbildungen, und darüber hinaus gibt es, ζ. B. bei Herfried Münkler, eine Anwendimg des Begriffs auf Staaten, die selbst nicht so genannt werden möchten.77 Der Historiker arbeitet hier mit zwei Sorten von Begriffen: ι. quellenimmanenten78 und 2. historisch-systematischen. Darüber hinaus bezeichnen Übersetzungen oft nicht genau die unterschiedlichen Bedeutungsfelder. So entspricht das deutsche »Reich« nicht dem englischen »Empire«, weil zuerst die vom verbreiteten europäischen Verständnis abweichende Realität des »Heiligen Römischen Reichs«, später die Reichsromantik und schließlich die Ideologisierung des Begriffs durch den Nationalsozialismus den deutschen Terminus vielfältig in andere Konnotationen verwickelt hat. In der Ubersetzung von »Deutsches Reich« mit »German Empire« lag mehr Vorstellung von Weltherrschaft als im deutschen »Reich« mit seinen begrifflichen Erinnerungen an die sehr kleinräumige und selten stabile »imperiale« Tradition des Mittelalters. 79 Historisch waren die Imperien, wie Jürgen Osterhammel ausführt, oft »schwache Staaten«, sie konnten die Untertanen weniger prägen und weniger Steuern (Abgaben) von ihnen einziehen als kleinere Königreiche oder eben Nationen (wi, S. 298).80 76 Hans-Heinrich Nolte, 1., 2., 3. Reich? in: Nolte, Imperien, S. 5-18. 77 Münkler, Imperien. Vgl. GG Bd. 3 und Zeithistorische Forschungen 3 (2006)1 mit dem Thema Imperien im 20. Jahrhundert und der Einführung von Jürgen Osterhammel. 78 Selbstverständlich wird man vom Heiligen Römischen Reich sprechen, obgleich es weder eine umfangreiche Bürokratie hatte noch Steuern zentral einzog. 79 Zum Zusatz »Deutscher Nation« vgl. Nolte, Imperien, S. 18, Anm. 40. 80 Für China vgl. Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft, München 1989, S. 69-85 ; Arno Buschmann, Heiliges Römisches Reich, in Becker, Staatlichkeit, S. 9-39, nennt das Reich einen »Rah-
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Sieg und Aporie des europäischen Weltsystems
Nationen sind definiert durch räumliche Begrenztheit und mehr Partizipation der Bevölkerung an der Macht. Im Zentrum des europäischen Systems wird die bessere Repräsentation zum Instrument fur Integration und Herrschaftsverdichtung. Nationen entstanden als Glieder des europäischen Systems und befanden sich von Anfang an in bestimmten Konfigurationen - , sie sind etwas Neues (wi, S. 287-308). Die Imperien, die in dieses System einbezogen waren, wurden zunehmend zwischen dem Anspruch nach dichterer Herrschaft und dem nach imperialem Gestus, der mit der Gewährung autonomer Räume einhergeht, hin- und hergerissen. Die Begriffsunklarheiten fuhren zu konzeptionellen Fehlern : Andrea Komlosy hat darauf verwiesen, dass bei Vergleichen falsche Analyseeinheiten gebildet werden, wenn bei landbezogenen »Empires« wie Osterreich der ganze Staat und bei seebezogenen nur das »Mutterland« herangezogen werden.81 Es kommt tatsächlich nicht auf die Seereise an, sondern darauf, ob ein Gebiet des Imperiums als Nation abgegrenzt wurde. Da aber die Nationen selbst im 19. Jahrhundert keineswegs auf imperialen Glanz verzichteten - Großbritannien etwa erklärte 1876 die Königin von England zur Kaiserin von Indien82 - , wurde der Kampf um die Aufteilung der Erde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert »Imperialismus«.83 Die Inanspruchnahme des Titels »Königin von England« sowie die Herausbildung des Konzepts Imperialismus zeigen eine weitere Stufe intellektueller Verfügbarkeit über Begriffe, die von ihren tradierten Inhalten gelöst und in neuen Kontexten mit anderen oder doch gewendeten Inhalten neu eingesetzt werden. Ab 1878 wurden die nationalen Expansionen zum »Hoch-Imperialismus« gesteigert.84 Die alten Imperien unterlagen aber am Anfang des 20. Jahrhunderts den Nationen, welche immer mehr den Kern des Mächtesystems bilden. Im 20. Jahrhundert haben menstaat«; vgl. T h o m a s Schwarze, Die unterschiedlichen Bewertungen und Wahrnehmungen der komplexen Staatsstruktur des Heiligen Römischen Reiches, in: Nolte, Peripherien
3,
S.
Heinrich Nolte, Autonomien im >vorpetrinischen< Russland, in: Becker, Staatlichkeit, S.
65-80;
Hans-
109-140.
81 Andrea Komlosy, Habsburgermonarchie, Osmanisches Reiche und Britisches Empire, in: ZWG 10.I (2009), S. 9 - 6 2 .
82 Mann, Indien, S.
79-86.
83 James S. Olson (Hg.), Historical Dictionary of European Imperialism, N e w York 1991 (Stichworte von Acadia bis Zululand). 84 Diese Phase wirkte begriffsbildend, einführende Texte in Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Imperialismus, Köln 1970; W. J . M o m m s e n (Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, vgl. jetzt Christian Lekon, Die Briten und Amerikaner im Irak: Imperium, Imperialismus und/oder Hegemonie, in: Nolte, Imperien, S.
79-96.
theorien, Wien
Eine Sammlung klassischer Positionen, in: Stefan Bollinger (Hg.), Imperialismus-
2004.
N a c h wie vor interessant ist der Versuch, den Begriff Hilferdings »organisierter
Kapitalismus« ins Spiel zu bringen: Heinrich August Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974.
Imperien, Nationen und Imperialismus
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sich die Bedingungen von Imperien im klassischen Sinn durch die neue Welle der Globalisierung weiter geändert.85 Meinungskämpfe, Welthandel, Unterhaltung, Arbeitsmärkte - sie alle haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen globalen Charakter. Man kann also nicht mehr einen Teil des Globus als reale »Welt« zusammenfassen, wie man das ζ. B. für China bis ins 18. Jahrhundert hinein konnte. Ein Imperium müsste heute den Globus umfassen. Immer mehr Nationalbewegungen sehen ihre politische Option auch deshalb in der Loslösung vom Imperium oder einer Nation, in der sie eine Minderheit bilden, weil sie auch nach einer Sezession Souveränität an Unionen oder die UN abtreten müssen. Welche anderen Optionen gab es 1 9 1 4 - 1 9 1 8 ? Die Sozialdemokratie war noch nicht geteilt, auch wenn die Auseinandersetzungen um die Rollen der Parlamente und der inneren Demokratie in den Parteiorganisationen schon begonnen hatten : Man kämpfte überall für die Revolution und die Umwälzung der Produktionsverhältnisse. In Russland spielten die Sozialdemokraten nur die zweite Rolle nach den Sozialrevolutionären, die für einen russischen Weg zum Sozialismus plädierten, der von den Umteilungsgemeinden ausgehen sollte. In Deutschland und Österreich entstanden christliche Parteien, welche für eine das gesamte »Volk« umfassende Sozialpolitik plädierten. Liberale Parteien konnten nirgendwo in Osteuropa über kleine Gruppen von Professoren und Kaufleuten hinauskommen.86 Welche politischen Optionen gab es für die herrschenden Eliten? Die Demokratisierung Deutschlands hatte, trotz des preußischen Militarismus und der dem Reichstag nicht zugänglichen Sonderbereiche wie der Bestellung von Offizieren und höheren Beamten, seit 1871 Fortschritte gemacht. Die Hoffnungen der Sozialdemokratie auf eine Mehrheit im Reichstag mochten unangemessen sein, aber sie waren nicht unbegründet. Nationale Minderheiten wie Polen, Elsässer und Dänen hätten selbst dann nicht die deutsche Nation infrage stellen können, wenn sie aus dem Reich ausgeschieden wären. Aber die preußischen Eliten waren bereit, für ein noch größeres Ziel als die deutsche Einheit ein noch höheres Risiko einzugehen, als sie 1866/1870 eingegangen waren - und damit erneut die demokratische Bewegung in einem Siegestaumel ertrinken zu lassen, diesmal in dem Taumel, mit »Mitteleuropa« werde der Durchbruch zur Weltmacht gelingen (obgleich die USA schon etwa 1895 in der In85 Fässler, Globalisierung; Findlay/O'Rourke; Eine eindringliche soziologische Kritik: Bernd H a m m , Die soziale Struktur der Globalisierung. Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft, Berlin 2006. 86 Das Interesse an vergleichender Parteiengeschichte kommt vielleicht erst wieder, z.B. kein Stichwort in Roth a.a.O. (Anm. 68); vgl. also Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt (1965), Neuaufl. 1970; Peter Scheibert (Hg.), Die Russischen Politischen Parteien von 1905 bis 1917, Darmstadt 1972; Jurij Pivovarov, D e r ungeliebte Liberalismus, in: Leonid Luks, Donald O'Sullivan (Hg.), Russland und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln usw. 2001, S. 93-108.
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dustrieproduktion die erste Stelle erreicht hatten, die Führung Deutschlands also nur kurz gewesen war - falls sie nicht direkt von Großbritannien nach Ubersee gegangen war). Österreich-Ungarn dagegen war im Angesicht der Nationalbewegungen in Bewegungslosigkeit erstarrt. Deutsch-österreichische und ungarische Eliten fürchteten Tschechen und Slowaken, Kroaten und Rumänen, und sie fürchteten die Sozialdemokratie. Eine föderative Lösung wäre wohl noch lange möglich gewesen, vielleicht sogar noch während des Ersten Weltkriegs. Aber wer wollte sie in Wien? Im Osmanischen Imperium hatten Demokratisierung und Nationalisierung 1 9 1 1 zum Verlust des europäischen Teils des Landes und zu entsetzlichen Massakern geführt - nicht nur an Griechen und Mazedoniern, sondern auch an muslimischen Reichsbürgern. Auf dem Balkan waren fünf Kleinstaaten entstanden, welche sich gegen eine Großmacht nicht selbstständig verteidigen konnten - ob allerdings Italien, das Libyen und den Dodekanes besetzt hatte, diese Rolle ausfüllen könne, war noch unsicher. Russland hatte die Chance, die sich aus der Revolution von 1905 ergeben hatte - doch noch ein Ubergang zur konstitutionellen Demokratie, zu einer kapitalismuskonformen Agrarverfassung und zur Integration des Bürgertums - in einem »Scheinkonstitutionalismus« vertan.87 Die imperiumsfeindlichen Nationalbewegungen, allen voran die der Polen, wurden nicht eingebunden - allerdings verpassten dann auch die Mittelmächte die Chance, dem besetzten Polen eine Alternative anzubieten. Die Bauern forderten die Einbeziehimg der Güter von Adel und Zar in die Umverteilung, und nicht nur große Teile der Arbeiterschaft, sondern auch der Intelligenz waren gegen den Zarismus. Gewiss : All dies hätte nicht zur Katastrophe geführt, wenn wirklich ein »kleiner erfolgreicher Krieg« gelungen wäre. Wie die deutschen Freiheitskämpfer von 1848 der preußischen Reichsgründung von oben 1871 zujubelten, so hätten vermutlich die russischen Konstitutionellen Demokraten dem Zaren zugejubelt, wenn endlich »russische Pferde aus der Moldau getrunken« oder doch der Doppeladler auf der Hagia Sophia geglänzt hätten. Nur gelang der Sieg nicht - weder der russische gegen die Mittelmächte noch - der Sieg der Mittelmächte gegen die Entente. Deutschland selbst gab durch die Erklärung des unbegrenzten U-Boot-Kriegs den USA den Anlass, in den Ersten Weltkrieg einzugreifen, und es gelang Washington, in 87 Max Weber, Russlands Ubergang zum Scheinkonstitutionalismus (1906), Nachdruck o. O. 1998.
Internationale Beziehungen und Diplomatie
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dem etwas über einem Jahr seiner Kriegführung mit 17,1 Milliarden Dollar für fast genau so hohe Kosten militärische Machtmittel ins Feld zu bringen wie Deutschland mit 19,9 Milliarden Dollar in vier Jahren. Die USA blieben auch nur wenig unter der Summe des Britischen Empire mit 23,0 Milliarden Dollar. Russland mit 5,4 und Österreich-Ungarn mit 4,7 lagen deutlich eine Stufe darunter.88 Die angelsächsischen Nationen entschieden den Krieg; dass die deutschen Eliten es fertigbrachten, sich und andere mit der Dolchstoßlegende über die Rolle der USA dabei hinwegzutäuschen,89 ist dann schon ein Teil der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs.
88 Kennedy, Rise, S. 274. Zu den Wirtschaftsdaten der Periode bis 1914 besonders Hugo Ott, Hermann Schäfer (Hg.) : Wirtschaftsploetz, Freiburg 1984, S. 145 ff. 89 Gerhard Weinberg, Deutschland und die Vereinigten Staaten, in: Z W G 4 . 1 ( 2 0 0 3 ) , S. 6 7 - 7 6 , hier S. 6 9 .
2. Ende der Expansionen und Verlust des Gleichgewichts
Das Zwanzigste Jahrhundert als Periode
Begriffe, die eine Zeitspanne zum Signum einer Periode machen, sind Hilfskonstruktionen. Aber kann man ζ. B. die Periode zwischen 1917 und 1991 Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus nennen ? Das würde die Rolle der faschistischen Bewegungen unterschätzen, aber auch die der neuen Formen des Kriegs oder der Kommunikation. Kann man die Zeit zwischen 1918 und 2008 Periode der Demokratisierung nennen? Das würde die letzten zwanzig Jahre mit sehr vielen Erwartungen belasten. Kann man sie Periode der Menschenrechte nennen? Trotz Auschwitz, dem GULAG und den Massenvertreibungen und Massakern z. B. bei der Teilung Indiens ? Nimmt man den Anfang des 19. Jahrhunderts als Termin der Durchsetzung der europäisch bestimmten Welt gegenüber den bis dahin weitgehend selbstbestimmten Reichen Asiens und Afrikas 90 und das Ende des 20. Jahrhunderts als Anfang einer neuen Periode, in welcher eine globale politische Struktur für die Welt eingerichtet wird (sei sie nun föderal oder imperial), kann man vielleicht einen Terminus der japanischen Geschichte übernehmen und von einer zwei Jahrhunderte dauernden Periode der »kämpfenden Provinzen« sprechen, in welcher die Provinzen Afrika und Islam, Indien und China zuerst von der Provinz Europa unterworfen wurden, um dann aber ihre Autonomie zurückzugewinnen. Auch hier ist die praktische Lösung einfacher als die theoretische - dieses Buch reicht bis zu seiner Fertigstellung 2008, und wir folgen der Behelfslösung »langes Zwanzigstes Jahrhundert«, das mindestens in die Periode des Imperialismus zurückreicht. Schon viele Historiker sind dieser Konzeptualisierung gefolgt und haben fortlaufend Quelleneditionen wie das Archiv der Gegenwart (AdG), Hilfsmittel wie Atlanten,91 chronologische Listenwerke92 und Lexika93 sowie eine bebilderte 9 0 Helmut Bley, Periodisierung, globale in: en. 91 Andrew Boyd, Joshua Comenetz (Hg.), An Atlas of World Affairs (1957) 11. Auflage, London 2007. 92 Helmuth K. G. Rönnefarth, Heinrich Euler, Konferenzen und Verträge (Vertrags-Ploetz) Teil II, 4. Bd. 1914-19J9, Würzburg 1959; 5. Bd. 1963-1970, Würzburg 1975. 93 Peter Teed (Hg.), A Dictionary of Twentieth Century History 1914-1990, Oxford 1992 (von Aborigines
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Ende der Expansionen und Verlust des Gleichgewichts
»Chronik« 94 veröffentlicht. Ein Schritt enger ist die Kennzeichnung als das »kurze Zwanzigste Jahrhundert« zwischen 1914 und 1989, in welcher das ökonomische, politische und kulturelle Potenzial die USA zum Hegemon prädestinierte, in welcher diese Hegemonie aber nicht vollständig durchgesetzt wurde. Auf dem Welttheater wurden nach dem Rückzug der USA auf den amerikanischen Kontinent 1920 der mit irrationalen Argumenten arbeitende fundamentalistische Angriffskrieg der »Habenichtse« Deutschland und Japan (vgl. Kapitel 4) aufgeführt und nach 1945 der mit rationaler Kritik am Kapitalismus begründete sozialistische Widerstand, der zum »Kalten Krieg« führte.95 Diese Phase ist durch ein Lexikon gut erschlossen.96 Die Überlegenheit der USA wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, wie gering die Zeiträume waren, welche sie benötigten, um Deutschland zu besiegen (1917/18 noch nicht einmal zwei Jahre und 1941 bis 1945 noch nicht einmal vier), und wie deutlich die U D S S R sich überforderte, als die sowjetische Führung es zu ihrer Aufgabe machte, den USA militärische »Parität« abzuringen. Der Zeitraum zwischen den Epochenjahren 191 j 9 7 und 198998 bildet demnach eine eigene Periode, an deren Ende der Sieg der amerikanischen Form des Kapitalismus und globalen Kapitals steht, die »neue Weltordnung« (Kapitel 7). Trotz der Widerstände war es ein amerikanisches Jahrhundert - oder anders ausgedrückt: Auch die Gegner waren auf die USA bezogen, mussten mit ihr rechnen, und wenn sie das nicht taten, dann zum eigenen Schaden. Die neuerliche Krise des Kapitalismus 2008 könnte das Ende dieser Periode bedeuten, das ist aber heute noch nicht absehbar.
A l l e r l e t z t e isolierte Kulturen
Im Frühling des Jahres 1930 fand ein australischer Goldsucher auf dem Weg in die Hochebenen Papuas einige zehntausend Bauern, Papua, die seit etwa 9.000 Jahren auf und Abortion zu Transkei und Transsylvanien) ; M i n Lee (Hg.), Larousse. Dictionary of Twentieth C e n tury History, Edinburgh usw. 1994. 94 Brigitte Beier u. a. (Redaktion), C h r o n i k des 20. J a h r h u n d e r t s , 14. Aufl., Augsburg 1996 (globalhistorisch und eurozentrisch, Uberblicke in der F o r m kleiner Zeitungsartikel). Ahnlich H a n s Dollinger, Weltgeschichte auf einen Blick, Freiburg 1989 - in sechs Spalten geordnet, mit kleinen Bildern. 95 Peter Calroussi, World Politics since 1945 (1968), 6. Auflage L o n d o n 1991. 96 T h o m a s S. Arms, Encyclopedia of the Cold War, N e w York 1994. 97 Von H a n s Rothfels mit d e m Eintritt der USA in den Weltkrieg und der Revolution in Russland als W e n d e begründet: H a n s Rothfels, Sinn und Aufgabe der Zeitgeschichte, in: Ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959, S. 9-16. Vgl. H a n s H ü r t e r (Hg.), H a n s Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, M ü n c h e n 2005. 98 Als der Rückzug der UDSSR aus Mitteleuropa das E n d e des Widerstands auf globaler Ebene besiegelt.
Ende der Expansionen
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diesem Hochland siedelten, Schweine züchteten und Wurzeln anbauten. Sie waren schon lange vor ihrer »Entdeckung« europäischen Mächten bzw. Australien zugeteilt worden und wurden nun »erschlossen« - durch Mission, Kolonialverwaltung und Bergbau vor allem auf Gold, später auch durch den Krieg im Pazifik. Dies war die letzte größere Kultur, die bis dahin noch nicht in die globalen Beziehungen einbezogen war." Bei aller Romantik für Sangri Lah und andere vergessene Bergtäler - die zunehmende Fliegerei bestätigte, dass es keine größeren isolierten Siedlungen mehr gab und auch die letzten Kulturflüchtlinge wieder eingebunden waren. Die »Welt war fortgegeben«.
Ende der Expansionen
Nach der Eroberung fast der gesamten Welt fand die Expansion des europäischen Mächtekonzerts in die Peripherien ihr notwendiges Ende. Die Expansionen hatten bis dahin dazu beigetragen, Aggressionen nach außen zu lenken und so das Gleichgewicht zu erhalten. Nun wandte sich die Aggression ausschließlich gegen strukturell gleiche Mitglieder des Konzerts - Deutschland nach Osteuropa und besonders Russland, Italien auf den Balkan, Japan gegen China. Im Verlauf der Expansionen des europäischen Weltsystems war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast der gesamte Globus von europäischen Mächten sowie den USA direkt unterworfen oder indirekt einbezogen worden (wi, S. 183-200). Es waren mehrere Arten von Kolonien gegründet worden - Stützpunkte, wohlhabende Länder, die man ausbeuten konnte, Siedlungskolonien.100 Der australische Historiker Day legte eine Weltgeschichte der »Überwältigungen« von Gesellschaften vor, 101 womit er vor allem die Gründung von Siedlungskolonien meint, und gliederte die Eroberung fremder Gesellschaften in zehn Schritte : einen legalen Anspruch schaffen - Kartieren Namen geben - die Wilden ersetzen - Erobern - Verteidigen - Gründungsmythen schaffen - den Boden bearbeiten - der genozidale Imperativ - das Land bevölkern. Eroberung von Gesellschaften ist für Day immer erst abgeschlossen, wenn ein Land neu bevölkert ist. Es kann durch neue Bevölkerung also auch neu erobert werden. Als Beispiele wählt er die Neubevölkerung des Südens der USA durch Hispano-Amerikaner und die Einwanderung von Asiaten nach Australien, nachdem diese Länder sich zuvor gegen Einwanderungen verschlossen hatten. Australien ist übrigens in den zwanziger 99 McNeill/McNeill, S. 268. 100 Vgl. Osterhammel, Kolonialismus, S. î j î . 101 Day, Conquest; vgl. meine Rezension in: http://geschichte-transnational.clio-online.de.
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Jahren den Einwanderungsgesetzen der USA auch darin gefolgt, dass Südeuropäern die Einwanderung erschwert wurde, wogegen Mussolini protestierte. Die Invasion der Türkei auf Zypern 1974 und die Besiedlung des von der Türkei eroberten Landes durch 60.000 Bauern aus Anatolien hat nicht zur Annexion geführt : »Während die Türken den Anschluss der Insel an Griechenland verhindert haben, bedeutete ihr Versagen bei einer zahlenmäßig ausreichenden Besiedlung des Landes, dass die Türkei, trotz ihrer militärischen Macht, nicht hoffen durfte, die Insel zu annektieren.«102 Day beschreibt den »genozidalen Imperativ« kolonialer (oder möchte-gern-kolonialer) Siedlung - vom »Removal-Act« des υ s-Kongresses von 1830, dem Hererokrieg, der deutschen Polenpolitik im »Warthegau« und dem Vordringen von Tschuktschen in Nordostasien bis zu jüdischer Siedlung in Palästina oder eben türkischer in Zypern. Aber die Expansionen des europäischen Systems sind 1914 an ein Ende gelangt, weil nur noch solche dicht besiedelten Gebiete nicht erobert waren, deren Bevölkerung den Europäern oder Japanern nicht weit unterlegen war. Wer jetzt noch expandieren wollte, musste einen neuen Grad von Radikalität und Rücksichtslosigkeit einsetzen. Da der Nationalsozialismus genau dies tat, schloss die Weltgesellschaft 1947 die Genozidkonvention, welche Völkermord rechtlich bindend verbietet. Genozid nach 1947 unterscheidet sich deswegen grundsätzlich von allem, was vorangegangen ist (vgl. Kapitel 18).
Verlust d e s G l e i c h g e w i c h t s
Im Verlauf der Expansion des europäischen Systems waren mehrere Imperien 103 in das System einbezogen worden. Sie waren zu Imperien zweiter Ordnung geworden, die nicht mehr in der Vorstellung lebten, die »Mitte der Welt« darzustellen, sondern akzeptierten, dass sie kontinuierlich und auf Dauer mit anderen Mächten zu rechnen hatten. Bis zum Ersten Weltkrieg bezogen die europäischen Imperien einen Teil ihrer Legitimität daraus, dass sie das Gleichgewicht der Kräfte, das politische System mit aufrechterhielten. Ohne das russische Imperium wäre Napoleon nicht besiegt worden, ohne Österreich-Ungarn wäre der Friede von Wien nicht zustande gekommen, der dem Kontinent ein Jahrhundert ohne Weltkrieg bescherte - bei britischer Vorherrschaft. Ein Friede, der die zweitwichtigste Macht der Zeit, Frankreich, stabilisierte und ihr sogar jene Eroberungen ließ, die es vor der Revolution gemacht hatte. 102 Day, Conquest, S. 218. 103 Vgl. Nolte, in: Nolte, Imperien.
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Der Anstieg des Machtpotenzials der Mitglieder des Konzerts hatte jedoch im 19. Jahrhundert zu einer Vermehrung der Konkurrenz gefuhrt, welche die britische Hegemonie zunehmend einschränkte. Zwar gelang es zeitweise, die Konkurrenz durch Beschlüsse des Konzerts einzudämmen (Berliner Kongress), und vor dem zunehmenden Wohlstand sowie vielfältigen Gleichklängen in der kulturellen Entwicklung der Länder Europas schien es, als ob Frieden in Europa selbstverständlich sei, auch wenn man in kolonialen Peripherien gegen Indianer und Afrikaner, Chinesen und Malaien Bataillen schlug. Der Kriegsausbruch 1914 bedeutete deshalb den »Zusammenbruch der (westlichen) Zivilisation des 19. Jahrhunderts« und öffnete den Weg in eine Periode der Katastrophen, eben das 20. Jahrhundert der »Extreme«. 104 Der Erste Weltkrieg wurde durch die Intervention der USA entschieden, welche die völkerrechtswidrige Hungerblockade Deutschlands durch England für weniger verwerflich hielten als den ebenfalls völkerrechtswidrigen unbeschränkten U-BootKrieg. 105 Die USA besaßen 19x8 das größte ökonomische und militärische Potenzial, aber sie konnten ihr Kriegsziel, das in den 14 Punkten Wilsons zum Ausdruck gebracht worden war - eine in Nationalstaaten gegliederte Welt mit einer Weltregierung, die das Recht zur Intervention besaß - , nicht durchsetzen, und der Senat verweigerte schließlich die Mitgliedschaft der USA sogar im Völkerbund. Die Macht, welche den Krieg entschieden und den doch überraschenden Zusammenbruch zweier Imperien106 sowie die Niederlage Deutschlands letztlich verursacht hatte, entzog sich der Nachkriegsordnung. Zugleich wurde Deutschland die Selbstbestimmung verweigert - weder die Österreicher, die damals für einen Anschluss stimmten, so weit sie stimmen durften, noch die Sudetendeutschen, die geschlossen jenseits der Grenze lebten, durften dem neuen Deutschland beitreten. Den siegreichen Alliierten gelang es jedoch nicht, einen Frieden in Europa zu schließen, der ein neues Mächtegleichgewicht ermöglicht hätte. »Trotz der Universalisierung der Diskurse von Nationalismus und Liberalismus, Leninismus und Faschismus fällt insgesamt die außerordentliche Heterogenität der Staatenwelt in der Zwischenkriegszeit ins Auge ... Der Erste Weltkrieg hatte das europäische Mächtesystem zerstört, ohne ein globales Mächtesystem oder gar eine Weltregierung an seine Stelle zu setzen.«107 Der Frieden von Versailles108 hat eine Vielzahl von »Revisionsforderungen« hervorgebracht. Da das österreichisch-ungarische Imperium aufgelöst war und die USA
104 Eric Hobsbawm, The Age of Extremes, New York 1995, Zitat S. 6. 105 Junker, USA, S. 43. 106 Der Ausgangspunkt fiirMotyl, Imperial Ends. 107 Osterhammel/Peterson, S. 79. 108 Kennan, Diplomacy, S. 6of.
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nicht am Völkerbund teilnahmen, konnte es keine neuen Fünferabsprachen nach dem Muster des »Konzerts« geben. Nach dem Zusammenbruch des russländischen Imperiums 1917 und der Vertreibung des osmanischen Imperiums aus Europa 1 9 1 1 wurde aber Ostmitteleuropa geschaffen, das in viele, teils mittlere und teils kleine, Staaten aufgeteilt war. Der Raum musste von den Versailler Mächten geschützt werden, wenn er nicht zum Expansionsobjekt der benachbarten Mächte Italien, Deutschland oder U D S S R werden sollte. Der Fehler des Friedensschlusses war nicht einfach, dass eine große Zahl neuer, machtmäßig kleiner Staaten geschaffen wurde, sondern dass die Folgen eines solchen Schritts nicht bedacht wurden : Er forderte, da das Gleichgewichtssystem aufgelöst war, eine zur Intervention fähige und berechtigte Institution. Die Instabilität wurde überdies gesteigert durch den Aufstieg Japans.
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Überblick Eine der Stärken Englands in den Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts hatte darin gelegen, dass das Land die besitzenden Männer in den politischen Prozess einbezog und ihnen sowohl Mitbestimmung im Parlament wie ein englisches Nationalgefuhl anbot. 109 England war nicht nur bei der Durchsetzung der Globalisierung führend, sondern auch und in demselben nur scheinbar in sich widersprüchlichen Vorgang bei der Herausbildung von Nationen. Sie wurden von vornherein als Teile des Systems geschaffen, entstanden von vornherein in Konfigurationen (wi, S. 287308). 110 Von Anfang an sieht sich England im Verhältnis zu Frankreich, sehen sich die USA im Verhältnis zu England, die lateinamerikanischen Staaten im Verhältnis zu den USA, Polen im Verhältnis zu Russland und Japan im Verhältnis zu China (und umgekehrt). Kennzeichnend für das 20. Jahrhundert ist der Sieg von Nationen über die Imperien. Die chinesischen Eliten, welche 1 9 1 1 das Mandschu-Imperium beendeten, erhofften sich davon eine größere Leistungsfähigkeit. »Imperium« wird im 20. Jahrhundert zum Kampfbegriff gegen eine Großmacht (wie die U D S S R oder die U S A ) oder zum Kennzeichen eines faschistischen Rückgriffe auf eine vorgestellte Vergangenheit (Italien, Deutschland, Japan). 111 Um dem vorandrängenden Globalisierungsprozess zu entsprechen, 112 wurden bald nach dem Zweiten Weltkrieg Unionen gebildet.
109 Zur Frage der Kontinuität zwischen »vormodernen« und modernen Nationen bis ins 20. Jahrhundert hinein Len Scales, Oliver Zimmer (Hg.), Power and the Nation in European History, Cambridge 2005. 1 1 0 Textsammlung: Michael Jeismann, Henning Ritter, Grenzfalle, Stuttgart 1993. Zusätzlich zu den hier zitierten Autoren Reinhard Wittram, Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954; Karl W. Deutsch, Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, Düsseldorf 1972 ; Isaiah Berlin, Nationalismus, dt. Frankfurt 1981 ; Theodor Schieder (Hg.), Nationalismus und Nationalstaat, Göttingen 1 9 9 1 ; Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation (1988), dt. Berlin 1990; Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, dt. Berlin 1991 ; John Dunn (Hg.), Contemporary Crisis of the Nation State? Oxford 1995. 111 Einführend Nolte, Imperien, mit kurzen Diskussionen der genannten Fälle. 112 Mike Featherstone (Hg.), Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity, London usw. 1990; Osterhammel/Peterson, S. 68-70.
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Typisch für nachholende Nationsbildung war, dass ein weithin spontaner Prozess wie in England und in den USA von Bildungseliten 113 mit dem Ziel des Einholens »transferiert« wird und in kurzer Zeit realisiert werden soll. Schon im 19. Jahrhundert wurden die deutsche und italienische Nation gegen Territorialmächte wie Neapel oder Hannover durchgesetzt, im 20. Jahrhundert dann die Nationen Ostmitteleuropas gegen die Imperien. Zu allen Nationsbildungen gehörte die Konstruktion von Feind- und Fremdbildern in den entsprechenden Konfigurationen; auch bei den neuen Nationen, wo die Feindbilder aber im 20. Jahrhundert in ein aggressiveres Umfeld kamen und entsprechend mit mehr Schärfe formuliert wurden. 114
Nationalbewegungen und neue Nationalstaaten Auch wenn das 19. Jahrhundert in Osteuropa mit einem universalistischen christlichen Ton begonnen hatte, hatten in seinem Verlauf die nationalen und nationalistischen Töne zugenommen. 115 Mittel- und Osteuropa übernahmen vom Westen, insbesondere vom napoleonischen Frankreich, das nationale Programm und wendeten es in konkurrierender Imitation zu ihren Zielen. Schon die Übertragung des Nationalismus auf Mitteleuropa durch Johann Gottfried Herder und die Betonung der Volkssprache als Kriterium argumentierten gegen die imperiale französische Ausprägung von Aufklärung. Mit seinem Votum für das Einzelne ließ sein Programm sich je länger desto deutlicher gegen die absolutistischen Imperien wenden, welche Mittel- und Osteuropa im 19. Jahrhundert beherrschten. Die Folgen des Nationalismus waren aber im Westen andere als im Osten : Gelang es Frankreich, die Flamen bei Dünkirchen oder die Katalanen der Roussillon kulturell und sprachlich weithin zu assimilieren, so scheiterte Russland schon deshalb (etwa bei den Russlanddeutschen), weil es mit der russischen Sprache nicht zugleich die Mitbestimmung im Parlament versprechen konnte. 116 Und dass Österreich-Ungarn und das osmanische Imperium dem nationalen Programm nicht nachkommen konnten, wurde schon daraus deutlich, dass die »herrschenden« Nationen nur Minderheiten bildeten. 113 Besonders dazu Anderson, Nation. 114 Johannes H o f f m a n n (Hg.), Stereotypen. Vorurteile. Völkerbilder in Ost ind West, Bibliographie, Wiesbaden 1986. 115 Vgl. allgemein Miroslav Hroch, Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985; Milos Retnik, Ivana Slezáková (Hg.), Nations - Identities. Historical Consciousness, Festschrift Miroslav Hroch, Praha 1997, sowie Hans-Heinrich Nolte, » S p o z n i o n e « narody w Europie srodkowej i wschodniej, in: Przegl^d Zachodni 51/1 1995/3, S· 35-52. 116 Kappeler, Vielvölkerreich; Nolte, Nationenbildung.
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Wo regionale oder ethnische Eliten sich in imperialer Macht nicht wiederfinden konnten, strebten sie oft Sezession und den Aufbau von Nationen an. Das traf zuerst für den polnischen und ungarischen Adel zu, in Machtausübung erfahrene Korporationen, die nach Wiederherstellung der Selbstständigkeit der beiden Königreiche strebten. Dann strebten tschechische Unternehmer und Professoren eine Wiederherstellung des Königreichs Böhmen an - tschechischer Adel war nach der Schlacht am Weißen Berge 1620 kaum noch im Lande. Serbische, bulgarische und griechische Bauern und Kaufleute kämpften gegen Grundbesitz von Muslimen und die Zugehörigkeit zum Osmanischen Imperium - , auch hier war einheimischer Adel mit der Eroberung verschwunden und durch muslimischen ersetzt worden. Nur in Bosnien und Albanien waren die großen Familien zum Islam übergetreten. Finnische, estnische, lettische, litauische und ukrainische Bauern und Handwerker kämpften für »neue« Nationen - gegen die ökonomische Vorherrschaft schwedischer, deutscher und polnischsprachiger Adeliger und gegen russische oder österreichische Bürokratie. Einige der Nationalbewegungen waren also strukturell »demokratisch«, weil es keinen nationalen Adel gab, andere knüpften an alte Traditionen an, ζ. B. auch die rumänische. Alle sahen es als Problem, wenn die Bürger nicht zur Nation gehörten, wenn die Städte schwedisch waren wie in Turku, deutsch wie in Riga und Hermannstadt, madjarisch wie in Kaschau und Klausenburg oder jüdisch wie in Thessaloniki, Wilna und Slonim. Für alle bildeten die Grenzen ein Problem : Sollte man sich für historische Grenzen jenes Staats entscheiden, in dessen Tradition man sich stellte also die Grenzen des Königreichs Böhmens, welche die Tschechen gegen die Deutschen in den Randgebieten forderten, die des mittelalterlichen Serbiens, welche die Serben gegen die Albaner im Kosovo verlangten, oder die der frühneuzeitlichen Adelsrepublik, womit die Polen ihren Anspruch auf Wilna begründeten. Oder sollte man sich für Grenzen zwischen den jeweiligen nationalen Mehrheiten entscheiden, ζ. B. zwischen Slowaken und Madjaren in »Oberungarn« - , und wo liefen die in einem Gebiet, in dem Schrift und Literatur gerade erst oder wieder entwickelt wurden? Auch die Instrumentarien waren unterschiedlich. Die polnische Nationalbewegung wählte immer wieder den Aufstand, wie die Muslime im Nordkaukasus, die Griechen oder die Balkanslawen. Die lutherisch geprägten Länder, Finn-, Est- und Lettland, wählten Protest und Fleißarbeit - im Lauf des Jahrhunderts kauften die baltischen Bauern den deutschen Gutsherren die Hälfte des Gutslandes ab, das diese bei der Emanzipation behalten hatten, und man sammelte Geld für Ubersetzungen in die Nationalsprache - Bücher von Marx bis Strindberg. Allerdings brannten die Bauern auch hier in der Revolution von 1905 die Gutshäuser nieder; Clodfelter gibt als Opferzahlen an, dass 3.611 Staatsbeamte einschließlich der Soldaten getötet, 15.000 Rebellen
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und Nichtbeteiligte erschossen, über 4.000 Juden von Rechten ermordet und 4.449 Rebellen offiziell zum Tode verurteilt wurden. 117 Vor besonderen Problemen standen die Nationalbewegungen von Ethnien, welche Imperien ihren Namen gaben. Sollte man die Minderheiten assimilieren? Das schien das Ziel der Schulpolitik Preußens, wobei allerdings das Deutsche Reich durch die Anerkennung der Reichsbürgerschaft den Minderheiten auch einklagbare Rechte zubilligte. Assimilierung schien das Ziel der großtürkischen Reformbewegung, die aber in Opposition zum Kalifen stand. Auch in Russland wurde unter Zar Alexander in. eine Politik der Russifizierung durchgesetzt, die allerdings einen eher bürokratischen Charakter hatte. Die politischen Alternativen für die Nationalbewegungen waren Teilung des Landes und Anerkennung neuer Staaten - oder Vertreibung, wenn nicht Massaker. Noch anders war die Lage der Juden. Sie bildeten in vielen Landstrichen zwischen Oder und Dnjepr den städtischen Sektor der Gesellschaft - zwar nicht in Verwaltung und Militär, aber doch in Handwerk und Kaufmannschaft. Aber sie bildeten in keinem Landstrich Mehrheiten, da die Bauern fast überall Christen waren (Kartenskizze KGR, S. 148). Ihr städtischer Habitus bedeutete für viele der neuen Berufe eine gute Voraussetzung, und Juden waren schnell unter den Akademikern überrepräsentiert, was Neid weckte. Außerdem machten Religion und Sprache sie fremd, und sie wurden zu Opfern eines Antisemitismus, der noch an den christlichen Antijudaismus anknüpfte, aber schon säkular und sogar rassistisch konnotiert war. Sollten die Juden alle in die USA auswandern? Sollten sie auf die Hoffnungen der Linken, auf eine gerechtere Gesellschaft setzen ? Oder auf den Aufbau eines jüdischen Nationalstaats? Neben den intellektuellen Antirationalismus trat früh die Ausgrenzung von Gruppen. Am Anfang wurden die Ausgrenzungen entlang der Sprache durchgesetzt. Ein nationales »Wesen« wurde postuliert, das man politisch durchsetzen und rein erhalten oder auch wieder finden musste/sollte. Bei dem Superintendenten Johann Gottlieb Herder aus Weimar war dies Konzept durchaus friedlich, je weniger allerdings solche essenzialistischen Suchen nach dem Eigentlichen mit der Politik der Mächte übereinzubringen waren : Je stumpfer die Mächtigen an ihren Privilegien festhielten, desto mehr schufen die Romantiker sich Sonderräume, in denen nur ihre eigenen Regeln galten - das mochten Freundschaftsbünde sein oder Sänger- und Liederfeste, die schon durch die Sprache jene ausschlossen, welche diese nicht beherrschten. Aber es mochten eben auch revolutionäre Zirkel sein, welche nationale Ziele über alles andere stellten - die Einheit Deutschlands als Erfüllung der Schöpfung, wodurch jeder 117 Clodfelter, Warfare, S. 61 if.
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Gegner der Einheit die Menschenwürde verletzte, wie ein viel gelesener Zeitgenosse es 1863 formulierte. 118 Die Nationalisten glaubten sich vielfältig billiger und naheliegender Überlegungen enthoben, ζ. B. wenn tschechische Nationalisten gegen Ungarn sprachliche und gegen Deutschland historische Grenzen forderten, obgleich ein so kluger und überlegter Mann wie Tomás G. Masaryk die innere Widersprüchlichkeit dieses radikalen Nationalismus eigentlich kaum übersehen konnte. 119 Die deutschsprachigen Länder bildeten dann einen neuen Staat mit »zu viel« aus der k.u.k. Monarchie ererbter Beamtenschaft, »zu viel« Intelligenz und einer zu großen Hauptstadt.120 Ökonomisch folgte etwa aus der Freiheit für Lettland, dass die Hafenfunktion Rigas infrage gestellt wurde und Deutsche, Juden und Russen zur Minderheit wurden. Estland entwickelte ein vorzügliches System des Minderheitenschutzes ; in Lettland wurde ein ähnliches nach der autoritären Machtergreifung wieder abgeschafft. Mit besonderer Härte wurde der Krieg zwischen Nationalisten und internationalistischen Bolschewiki, Weißen und Roten in Finnland entschieden - während in den Gefechten auf beiden Seiten über 5.000 Mann fielen, ließen die Nationalisten nach ihrem Sieg 3.000 Rote erschießen und 9.500 Mann in Kriegsgefangenenlagern verhungern. 121 Die Probleme der neuen Nationen waren umfangreich und vielfaltig. Oft gab es keine nationalen Eliten, die brauchbare Entscheidungsprozesse erarbeitet hatten, fehlte eine zuverlässige Beamtenschaft. Viele versuchten, neue Nationalökonomien zu schaffen, sodass alte Märkte zerschnitten wurden. Fast überall gab es große Minderheiten, von denen einige sich eher dem Nachbarstaat zugehörig fühlten und andere reine Diasporagruppen waren, wie Juden, Roma oder Aromunen. Viele berücksichtigten in ihrer Außenpolitik nicht die Erfordernisse politischer Macht im System, sodass keine effektiven Militärbündnisse geschlossen wurden.122 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erfolgreichere Lösungen größerer Minderheitenkonflikte. Bei solchen Lösungen war es für den Frieden entscheidend, dass einige 118 (Friedrich) von Frankenberg-Ludwigsdorff, Schilderung denkwürdiger deutscher Zustände, Göttingen 1 8 6 3 ' , S. 53of. 119 Tomás G. Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt ( 1 9 2 2 ) , Nachdruck Osnabrück 1 9 7 6 , S. 102 : »was ist richtiger - daß mehr als 9 Millionen Tschechen und Slowaken unter der Herrschaft der Deutschen, oder daß 3 Millionen Deutsche unter der Herrschaft der Tschechoslowaken seien?« Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Die demokratische Nation als Mythos, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Mythen in Geschichte und Geschichtsschreibung, Münster 1996, S. 172-182. 120 Helmut Konrad, Wolfgang Maderbauer (Hg.),... der Rest ist Österreich, 2 Bde. Wien 2 0 0 8 . 121 Clodfelter, Warfare, S. 6 1 8 . Die Weissen wurden von Deutschland, die Roten von der R S F S R unterstützt. 122 Aldcroft/Morewood, S. 1 - 8 5 ; Lampe, Balkans, S. 6 3 - 1 4 0 .
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kleine Sprachgemeinschaften akzeptierten, als Minderheiten in größeren Staaten zu leben, und dass einige große Sprachgemeinschaften nicht zu einem Staat zusammengefasst wurden; dass also unterschiedliche Lösungen gefanden wurden. Die kulturelle Bedeutung der Sprachen wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass einige auf mehrere Staaten verteilt sind. Ein Beispiel bietet Südtirol. Dem Nationalismus des Ersten Weltkriegs folgend hatte Italien 1918 gegen Osterreich eine »geografische« Grenze weit nördlich der Sprachgrenze durchgesetzt und ein von kulturellem Hochmut geprägtes Programm der Italianisierung begonnen. Die deutschsprachigen Südtiroler hatten aber das »Glück«, dass Hitler und Mussolini sich auf die Aussiedlung einigten, worauf nach 1945 niemand wirklich bestehen wollte. Nach einigen Schwierigkeiten einigte man sich auf eine Autonomie in dem Gebiet, in dem Deutsch und Ladinisch die Mehrheitssprachen sind. Heute erleichtern die gemeinsame Zugehörigkeit Österreichs und Italiens zur EU und die Konjunktur als Fremdenverkehrsregion vieles; vor allem aber war es der Wille der Beteiligten zu einem Kompromiss, der Buon Giorno, Grüß Gott und Bun Di friedlich nebeneinander zu hören erlaubt.123 Nationsbildungen wurden in der Dekolonialisierung fortgesetzt, wobei in Afrika nicht ethnisch homogene Gebiete Nationen wurden, sondern Kolonien, die meist auf dem Reißbrett des Berliner Kongresses zusammengezeichnet worden waren. Auch Nationsbildungen in Indien und Indonesien sowie den anderen Kolonien in Asien gingen oft von den Territorien der Kolonialmächte aus. So umfasste der neue Staat Indonesien sowohl das von den Holländern erst im 19. Jahrhundert unterworfene muslimische Handelsfiirstentum Aceh als auch das weithin animistische, in kleinen bäuerlichen Gemeinden besiedelte und gerade erst unterworfene Westpapua, jedoch nicht die alte portugiesische und katholische Kolonie Osttimor. Viele mehrheitlich calvinistische Einwohner des Amboine-Archipels emigrierten nach der Entkolonialisierung nach Holland. Die nächste Welle der Nationsbildungen nach dem Zusammenbruch des Monopolsozialismus verlief in territorialer Hinsicht nach ähnlichen Regeln, Republiken der UDSSR und Jugoslawiens wurden Nationen, ganz gleich ob die im Monopolsozialismus gezogenen Grenzen Sprachmehrheiten wiedergaben oder nicht. Das entsprach den Interessen der internationalen Gemeinschaft an verlässlichen Grenzen, mutete den Minderheiten aber Unterordnung zu, die nicht immer akzeptiert und auch nicht immer von den neuen Staatsnationen durch Autonomien gemildert wurde. Woher kommt der Erfolg des Konzepts Nation ? Vor allem wohl daher, dass der erfolgreiche Westen dieses Modell vorgab und die als integrativer Nationalstaat (ohne sprachgebundene Autonomie etwa für die »Hispanics«) organisierten USA viele Un123 Dolomiten, 6. 8. 2008, S. 18.
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abhängigkeitsbewegungen mit Sympathie oder mehr unterstützen, wobei sie jedoch davon ausgehen, dass zumindest kleinere Nationen Teile ihrer dann neuen Souveränität an Unionen abtreten. Nationalstaaten bieten Identität, Ordnungskapazität, Schutz und Einkommenssicherung.124 Im sowjetischen oder russischen Fall ermöglichte die nationale Verfassung des internationalen Systems die Bildung einer russischen Sektion der globalen Superreichen: Sie konnten die auf Kosten des sowjetischen Staatsvermögens gemachten Höchstgewinne auf dem internationalen Geldmarkt investieren und waren nun gegen Forderungen des nationalen Fiskus geschützt. Wo einige doch wegen Steuerhinterziehung im russischen Staat verurteilt wurden, wurden sie mit internationaler Sympathie bedacht - vor allem wahrscheinlich von anderen Steuerflüchtlingen, welche die nationale Souveränität der Schweiz, der Cayman-Inseln oder Liechtensteins benutzen, um den Fiskus von Deutschland und den usa oder von Nigerien und den Philippinen zu betrügen.125 Wie weit wird die Nationalisierung im 21. Jahrhundert gehen? Dass die eu und der Westen die Souveränität des Kosovo gegen Serbien unterstützt und nun auch anerkannt haben, erhöht die Hoffnungen vieler weiterer Nationalbewegungen auf einen neuen Nationalstaat - von Tschetschenien bis Tatarstan, vom Baskenland bis Abchasien, vom Staat der Tamilen in Sri Lanka sowie der Karen und der Schan in Birma, von Tibet bis Sinkiang, vom Staat der Navajo bis zur Unabhängigkeit Kaliforniens, sobald die Hispanics die Mehrheit haben, von der Teilung Boliviens bis zur Teilung Italiens etc.; - die Teilung Belgiens ist fast schon vollzogen. Sind das die Konflikte, die aktuell sind ? Oder wird gerade die Vielzahl und Kleinheit der möglicherweise kommenden Nationalstaaten die Unionen immer notwendiger machen? Man rechnet mit 3.000 bis 4.000 Ethnien auf der Welt, wenn alle einen eigenen Nationalstaat erhalten (und vielleicht auch Teile von bisherigen ethnischen Gruppen ein eigenes Nationalbewusstsein entwickeln), würden das ebenso viele Mitglieder der un werden. 126 Welcher Weg verspricht die geringsten Konflikte, die wenigsten Opfer? 127 Jedenfalls sollte die Weltgesellschaft sich frühzeitig auf eine in sich konsistente
124 Karl Deutsch 1966, a.a.O., S. 213; » D a s Einkommen ist unter der Weltbevölkerung ungleicher verteilt als innerhalb der Länder mit der größten Ungleichverteilung« - Gini-Index Welt o,66; Brasilien 0,61, HDi 2003, in: http://hdr.undp.0rg/reports/global/2oo3/other_languages.html, S. 49. 125 Nolte, Nationenbildung; Simon/Simon; Khans-Kheinrikh Nol'te: Novyj mirovoj porjadok i budushee 'nacional'nogo gosudarstva', in: J u . N . Davydov (Hg.), Novoe i staroe ν teoreticheskoj sociologii, M o s k v a 2006, S . 1 0 4 - 1 1 7 ; KGR S. 429.
126 Narody Mira, S. 5 ; vgl. A. P. Sadokhin, T. G . Grushevickaja, Etnologija, Moskva 2000, und den umfangreichen und detaillierten Atlas : S. I. Bruk, V. S. Apechenko (Hg.), Atlas narodov mira, Moskva 1964, zum Stand um die Mitte des 20. Jahrhunderts. 127 Vgl. Scherrer, Ethnonationalismus.
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Politik einigen, welche die Möglichkeiten fremder Mächte, Nationalkonflikte in ihren Interessen zu manipulieren, einschränkt. Letztendlich kann eine solche Lösung wohl nur dem klassischen Satz von Ernest Renan folgen, dass »das Dasein einer Nation ... ein täglicher Plebiszit« ist.128 Wenn dann die Serben des nördlichen Bosnien oder die Albaner des Kosovo sich Serbien bzw. Albanien anschließen und die angesprochenen Staaten sie aufnehmen wollen, dann sollte die Weltgesellschaft das als Angebot zu einer Reduktion wenigstens der damit zusammenhängenden Probleme gern annehmen. Auch dann werden Minderheiten bleiben, und die Weltgesellschaft muss auf Toleranz zu ihren Gunsten bestehen. Die Zahl der Probleme, die auf diesen international niederen Ebenen nicht lösbar sind, wird zunehmen - und damit auch die Notwendigkeit für übernationale Unionen.
Unionen und Bündnisse Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren drei Varianten für die Bestimmung des Verhältnisses von Nation und Welt im Gespräch: 129 ι. das liberale Weltordnungsmodell, das Woodrow Wilson vortrug: Die Welt soll aus kapitalistischen Nationalstaaten bestehen, die in einer globalen Organisation zusammengefasst sind; 2. das kommunistische Weltordnungsmodell, das mit dem Namen Wladimir Iljitsch Lenin verbunden ist: Die Welt soll eine Union sozialistischer Gesellschaften werden, und 3. ÁZS faschistische Weltordnungsmodell, wie es Benito Mussolini und Adolf Hitler formulierten, nach dem die Welt von einer oder mehreren diktatorisch geführten Nationen beherrscht werden sollte. Die faschistische Bewegung wurde besiegt, die U D S S R scheiterte 1991. Man kann also zusammenfassen, dass die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts nach dem Modell des Präsidenten der USA strukturiert ist. Dem Polyzentrismus des europäischen Konzerts wurden globale Unionen entgegengesetzt, die von den USA dominiert sind. Der Dualismus der Periode des Kalten Krieges ging 1991 zu Ende.
128 Ernest Renan, Was ist eine Nation, in : Jeismann/Ritter, S. 290-311, Zitat S. 309. 129 Vgl. Kremb, Weltordnungsmodelle; die Beiträge von Christian Geulen, Erez Mandela und Cemil Aydin in : Conrad/Sachsenmaier, sowie Gerhard Weinberg, Acht Vorstellungen über die Grenzen der Welt, in: Z W G 3.1, S. 9 9 - 1 1 2 .
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Vom Polyzentrismus des Europäischen Konzerts (1939) zum Dualismus der Nachkriegszeit (1955)
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Legende: ANZUS = Australien-Neuseeland-usA-Pakt (1951); BR = Bundesrepublik Deutschland; CENTO = Zentrale Pakt-Organisation (1959 wurde der 1955 gegründete Bagdad-Pakt in CENTO umbenannt); DR = Deutsches Reich; GB = Großbritannien; IT = Italien; NATO = Nordatlantik-Pakt-Organisation (1949); OAS = Organisation Amerikanischer Staaten (1948); RF = Republik Frankreich; Sp = Spanien; SEATO = Südostasien-Pakt-Organisation (1948); su = Sowjetunion; WPO = Warschauer-Pakt-Organisation (1955, Vorläufer in zweiseitigen Militärpakten). In der CENTO hatten die USA offiziell nur Beobachterstatus.
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Unionen sind von Anfang an ein struktureller Teil der Geschichte des Systems. Im Mittelalter leistete die Kirche diese Aufgabe, nach der Säkularisierung Gesandtenkongresse, der »immerwährende Reichstag« in Regensburg oder das Konzert der Mächte (wi, S. 1 1 3 - 1 4 0 , 287-308). Die EU hatte gerade als Gegenbewegung zum Nationalstaat Erfolg, trotz der damit entstehenden Abgrenzungsprobleme.130
NATO Das wichtigste Bündnis der Nachkriegszeit war die North-Atlantic-Treaty-Organization ( N A T O ) . Sie vereinte neben den U S A auch die europäischen Großmächte Großbritannien und Frankreich sowie ab 1954 die Bundesrepublik Deutschland. Die Mitglieder waren sich in einigen Punkten einig: - Gegnerschaft zu Nationalsozialismus und Drittem Reich (Einbindung Deutschlands), - Konsens und Grundlagenentscheidungen für Demokratie und Marktwirtschaft, - Eindämmung der U D S S R , - Handelsliberalisierung. Die N A T O wurde 1949 gegründet, um, »wie wir alle wissen, die stückweise Unterwerfung der atlantischen Gemeinschaft - Land nach Land - durch den internationalen Kommunismus zu stoppen«, so eine Propagandaschrift von 1961. 1 3 1 Sie wurde also geschaffen, weil der Westen es als Aggression verstand, dass in den von der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg eroberten Ländern von 1944 an der Kommunismus durchgesetzt wurde. Der Gründungsvertrag von 1949 sieht neben und nach dem militärischen Bündnis auch vor, »innere Festigkeit und Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern«. 132 Oberstes Organ ist der Rat, der sich aus den Außenministern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt; weiter gibt es Ausschüsse für militärische Fragen, Finanzen und Rüstung. Die N A T O einigte sich von Anfang an auf eine integrierte Verteidigung und entschloss sich 1950 zu einer »vorgeschobenen Strategie«, mit welcher der aus dem Osten erwartete Angriff so weit vorne wie möglich gestoppt werden sollte. 1954 schei-
130 Karl Krüger hat 1953 für die »Schaffung Europas« im Osten bis zum Bug und im Süden einschließlich des gesamten Mittelmeerraums plädiert: Krüger, Länderkunde S. 98-214, Karte S. 130. 131 Aspects of NATO : Military Development, Paris 1961, ohne Seitenzählung. 132 NATO-Handbuch 9. Auflage, Paris 1962, S. 10-21, hier S. 11.
wvo
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terte der Versuch, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu bilden, am französischen Parlament, aber Deutschland wurde nun unmittelbar Mitglied der N A T O , um die erwünschte konventionelle Truppenstärke zu erreichen. Den Oberbefehlshaber ( S A C E U R ) schlägt der Präsident der U S A vor, er ist stets ein Amerikaner. 1966 zog Frankreich sich aus der Integration des Bündnisses zurück - für Paris wurde die N A T O also wieder zu einer klassischen Allianz, bei der im Friedensfall keine Truppen der Alliierten im Lande stehen. Das Hauptquartier wurde daraufhin nach Brüssel verlegt. Übrigens haben die USA meist nur einen Bruchteil ihrer weltweit verfügbaren Truppen der N A T O unterstellt, und auch England unterhält Verbände, die ihr nicht unterstehen, so wie selbstverständlich Frankreich. 133 Mit dem Zusammenbruch der U D S S R entfiel die Legitimation des Bündnisses. Aber »nothing is as successigli as success«, und das Bündnis wurde ausgeweitet. Zuerst wurde die ehemalige DDR bei der deutschen Wiedervereinigung sein Teil, danach führten die Eliten Ostmitteleuropas ihre Länder nach einer Ubergangsfrist der N A T O zu. Damit war das Ziel von 1949, Verteidigung gegenüber der su, realiter zum »Roll back« geworden. Mit dem 1. Januar 2009 und der Aufnahme Kroatiens und Albaniens hat die N A T O 2 8 Mitglieder und mit Georgien und der Ukraine zwei weitere Kandidaten an den Grenzen Russlands. Während einerseits - aus der Schweiz - vorgeschlagen wird, sich um »Moskauer Neurosen« nicht weiter zu kümmern, plädiert Hans-Dietrich Genscher für einen »intensiven Dialog mit Russland«. 134 Vor allem aber wurde die N A T O zum Instrument humanitär begründeter Einsätze, die zunehmend auch Gebiete jenseits des Nordatlantiks betrafen. Das Bündnis steigerte seine Interventionsbereitschaft von der logistischen Teilnahme am Irakkrieg 1991 über die Erfüllung des UN-Mandats in Bosnien 1995 bis zur Intervention im Kosovo ohne UN-Mandat 1998/1999. 135 2001 erklärte die N A T O nach den terroristischen Angriffen auf die USA am 1 1 . September den Verteidigungsfall und folgte den USA bei der Eroberung und Besetzung Afghanistans.
WVO Die Warschauer Vertrags-Organisation (wvo), das Gegenbündnis der U D S S R mit den monopolsozialistischen Staaten Europas (Jugoslawien wurde nicht Mitglied), wurde
133 NATO F a c t s a n d F i g u r e s , Brüssel 1 9 8 1 , b e s . S. 2 5 - 8 5 .
134 Parlament 2009 1/2, Zitate S. 2 und S. 7. 135 Karl-Heinz Kamp, Das neue strategische Konzept der NATO ; August Predetto, Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht, in: APuZ 12. 3. 1999, S. 19-38.
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Nationsbildungen und Unionen
1955 geschlossen. Es bedeutete anfangs vor allem eine Systematisierung bestehender zweiseitiger Verträge und begann erst i960 eine Phase der Integration durch gemeinsame Manöver, Vereinheitlichung der Bewaffnung etc. Da im Bündnis mit der UDSSR eine Supermacht und eine Reihe kleiner und mittlerer Mächte zusammengeschlossen waren, war das Übergewicht der Führungsmacht erdrückender als in der NATO, in der mit England und Frankreich immerhin neben den USA auch zwei Großmächte und mit der Bundesrepublik ein konventionell und zudem wirtschaftlich starker Partner Mitglieder waren. Trotzdem trat ein Mitglied der wvo, Albanien, 1968 aus. Sitz des Oberkommandos war Moskau, und auch in der wvo war der Rat der Außenminister das oberste Gremium. »Kraft und Unbesiegbarkeit des Militärbundes der sozialistischen Staaten besteht vor allem darin, dass er auf der Grundlage theoretischer und wirtschaftlicher Nähe beruht, die in ihrer Gesamtheit objektive Faktoren für Einheit und Macht des Bundes der Länder des Sozialismus bilden.« - W e wenig hinter solchen offiziellen Formeln steckte, wurde deutlich, als die wvo 1990 aufgelöst wurde und ein großer Teil der ehemaligen Mitglieder Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO stellte.136
EU Die Idee der europäischen Einheit ist alt. Die Menschen des Kontinents begriffen sich im Mittelalter eher als Christenheit, aber mit zunehmender Säkularisierung wurde das Konzept Europa wichtiger. Im 19. Jahrhundert propagierte z. B. Giuseppe Mazzini Europa als eine »Föderation von Völkern«, und am Anfang des 20. wollte Graf Coudenhove-Kalergi die Völker Europas gegen Russland einigen, sein Buch »Paneuropa« erschien 1923. 137 Nach dem Zweiten Weltkrieg griffen besonders christdemokratische Parteien die Idee der Einigung Europas wieder auf. Die Einigung wurde von den USA gefördert - wenn auch manchmal etwas ambivalent, da sie die wirtschafdiche Abstimmung zwischen den am Marshallplan beteiligten Staaten Europas einschließlich des Abbaus der Handelsschranken und einer Verbesserung des Zahlungsverkehrs forderten und dafür eigene Handelsnachteile in Kauf nahmen. 1948 wurde die »Organization for 136 Stephan Tiedtke, Die Warschauer Vertragsorganisation, München 1978 ; A. A. Epishev (Hg.), Pardja i Armija, 2 Moskva 1980, S. 336-349, Zitat S. 341 ; Tanja Sprangala, Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, in: APuZ 12. 3. 1999, S. 3 9 - 4 J . 137 Federico Chabod, Der Europagedanke von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I., dt. Stuttgart 1963 ; Alexander Tschubarjan, Europakonzepte von Napoleon bis zur Gegenwart, dt. Berlin 1992 ; vgl. auch Schmale, Europa.
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EU
European Economic Cooperation« ( O E E C ) mit Sitz in Paris gegründet, die zwar keine Eingriffe in die Wirtschaftspolitik der Staaten durchführen konnte, aber doch durch Programme und statistisches Material vielfältig Einfluss nahm. Für die Bundesrepublik Deutschland waren die Annäherung an die westeuropäischen Nachbarn und insbesondere die Freundschaft mit Frankreich auch ein Weg in die Normalität. 1951 schuf die »Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl« einen gemeinsamen Markt von Frankreich, Italien, Deutschland und den Beneluxstaaten für die Montanindustrie, über die hinaus 1957 in den »Römischen Verträgen« die Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaften (EWG und EAG) mit zugeordnetem Parlament gegründet wurden. Bis 1970 fielen im »karolingischen Europa« die Zollgrenzen. 1967 wurde die politische Komponente durch die Einführung einer gemeinsamen Kommission und des Rates gestärkt, und ein umfassendes Europäisches Parlament entstand.138 Mehrere andere europäische Staaten hatten unter der Führung Großbritanniens 1958 die Europäische Freihandels-Assoziation ( E F T A ) gegründet, die aber bei Weitem nicht die Dynamik der EU entwickelte. 1973 trat Großbritannien der EU bei, ihm folgten Irland und Dänemark. 1979 wählten die Bürger zum ersten Mal direkt nach einem Schlüssel, der die kleinen Mitgliedsländer etwas bevorzugte, aber doch die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen widerspiegelte. 1984 beschloss das Europäische Parlament den Übergang zur Europäischen Union (EU), was mit einer Stärkung der Wirtschaftspolitik zusammenging; ein innerer Kreis einigte sich 1998 auf eine gemeinsame Währung, den »Euro«. Außerdem wurde für Staaten, die beitreten wollten und wollen, beschlossen, dass sie in jedem Fall dem ε υ-Binnenmarktrecht, dem acquis communitaire, zustimmen müssen. Bis 2008 traten 27 europäische Staaten der EU bei. 139 Es bestand nach dem Ende der U D S S R durchaus die Gefahr, dass ein neuer Nationalismus alte Streitfragen wieder aufreißen, alte Feindbilder aktivieren oder Deutschland eine erdrückende Überlegenheit gegenüber Ostmitteleuropa erhalten könnte.140 Schrittweise wurden die Staaten bis zum Bug in die westlichen Bündnisse aufgenommen - zu den von der N A T O bzw. der EU festgelegten Bedingungen. Ostmitteleuropa wurde zu einer Peripherie Westeuropas - zu einer inneren Periphe-
138 Gehler, Europa (mit Glossarium, Chronologie, ausführlicher Bibliographie, Internetadressen); Katenhusen/Lamping; Stemplowski, EU; Schmale, Europa, S. 233-248. 139 Uberblick Gehler, Europa, S. 299. 140 André Gerrits, Nanci Adler (Hg.), Vampires Unstaked. National Images, Stereotypes and Myths in East Central Europe, Amsterdam 1995 ; Margareta Mommsen (Hg.), Nationalismus in Osteuropa, München 1992 ; Hanson/Spohn (Hg.), Can Europe work? Seattle 1995.
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Nationsbildungen und Unionen
rie der
EU.141
Allerdings erhielten die neuen Mitgliedsländer aus den verschiedenen
Fördertöpfen, besonders dem Regionalfonds, auch beträchtliche Zuschüsse, die z. B. im polnischen Fall dazu führten, dass zwar ein Braindrain, aber doch auch ein wirtschafdicher Aufschwung eintrat. 142 Gleichwohl blieb fraglich, wie die Bürger sich an der Politik dieser großen und immer weiter wachsenden Institution beteiligen sollten. Ein neues Politikmodell definierte mehrere Stufen : ι. Kommune, 2. Land, Bundesstaat, 3. Nation, 4. Großregion, Kontinent (hier: EU), 5.
UNO.
W o einzelne Stufen nicht realisiert sind (etwa bei der Länderebene in zentralistischen Staaten) können sie übersprungen werden. Mit Kommissionen und Ministerien in unterschiedlichen Politikfeldern ergibt dies ein zwar kompliziertes und nicht selten schwerfälliges System, das aber bis in einige Nähe zum Bürger reicht (der dennoch oft wenig Interesse an der EU-Politik zeigt).143 (Zur Außenpolitik nach 1991 vgl. Kapitel 7.)
RGW Den »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe«
(RGW)
gründeten die
UDSSR,
Polen, die
Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien 1949 als Gegengewicht zum Marshallplan; 1950 trat die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bei. Allerdings verfügte die
UDSSR
nie über die Mittel, um eine der amerikanischen ähnliche U n -
terstützungsaktion zu starten, und der RGW blieb lange wenig aktiv. 1969 wurde eine Debatte über sozialistische ökonomische Integration eingeleitet, und man beschloss
141 Hannes Hofbauer, Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2003.
142 Dariusz Adamczyk, Vom Kommunismus zur EU-Integration, in: Nolte, Transformationen, S. 13-22 ; zum Regionalfonds Dieter Eissel, Alexander Grasse, Regionalpolitik in der Europäischen Union, in : Nolte, Innere Peripherien m , S.
33-50.
des Sozialstaats in Europa, München
Zur Sozialpolitik der
EU
Eberhard Eichenhofer, Geschichte
2007.
143 Thomas König, Elmar Rieger, Hermann Schmitt (Hg.), Das europäische Mehrebenensystem, Frankfurt usw. 1996; vgl. auch Michael Gehler, Wolfram Kaiser, Brigitte Leucht (Hg.), Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem, erscheint Wien
2009.
59
Überblick
die Entwicklung zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Allerdings konnten die Teilnehmerländer sich nicht auf einen errechneten Preis für ihre Waren einigen, insbesondere nicht auf einen Preis für die Erdöl- und Erdgaslieferungen aus der U D S S R - und beschlossen schließlich eine zeitlich versetzte Übernahme der Weltmarktpreise. Der RGW blieb eine zwischenstaatliche, nicht übernationale Organisation und hatte viel weniger Einfluss auf die einzelnen nationalen Ökonomien, als Kapital und Markt, aber auch die Verwaltung in Brüssel auf die Nationalwirtschaften der EU ausübten. Die Arbeitsteilung innerhalb des RGW war weit weniger ausgeprägt als im Westen, was zur geringeren Rentabilität im Osten beitrug. 1990 wurde der RGW aufgelöst; die ostmitteleuropäischen Mitgliedsländer einschließlich der baltischen Republiken sind 2008 alle Mitglieder der E U . 1 4 4
OAU Schon früh bildete die EU auch ein Vorbild für andere Großregionen der Welt. 145 1963 wurde die »Organisation für Afrikanische Einheit« (OAU) gegründet, der heute fast alle afrikanischen Staaten angehören, die aber wenig Integrationskraft entfaltete. So beschloss ein Symposion der OAU am 16. Februar 1979 in Monrovia einen Plan, wie Afrika im Jahr 2000 aussehen solle - es solle dann eine selbstversorgende und unabhängige Wirtschaft haben, welche ganz Afrika integriere. Im Einzelnen wolle man in der Nahrungsmittelproduktion Selbstversorgung erreichen, regionale Industrieentwicklungen voranbringen, bei der Ausbeutung der Rohstoffe zusammenarbeiten, einheimische Unternehmer und Techniker fördern und dabei die Umwelt schützen, kurz : »eine schnelle sozioökonomische Transformation unserer Staaten« erzielen. »Wir halten an der Ansicht fest, dass diese Verpflichtungen auf nationaler, subregionaler und regionaler Ebene zu einer dynamischen, wechselseitig verbundenen afrikanischen Wirtschaft führen werden, die schließlich zu einem gemeinsamen afrikanischen Markt und dann zu einer Afrikanischen Wirtschafts-Union fuhren werden.« 140 Von den 1977 21 ärmsten Ländern der Welt, die weniger als 250 $ BSP je Kopf hatten, befanden sich elf in Afrika - die anderen in Südasien.147 Während es gelang, die Süd144 Werner Gumpel, Jens Hacker, Comecon und Warschauer Pakt, Bonn 1966; Gernot Gutmann, Karl C. Thalheim, Wilhelm Wöhlke (Hg.), Integration im RGW, Marburg 1982 ; Heinrich A. Machowski, Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, Düsseldorf 1987; Paul J . J . Weifens, Die Europäische Union und die mittelosteuropäischen Länder, in: A P u Z 22. 9 . 1 9 9 5 , S. 2 2 - 3 1 .
145 Vgl. Claudia Derichs, Europa als Counterpart des Orient, erscheint in: Gehler/Vietta. 146 Organization of African Unity (Hg.), What kind of Africa by the year 2000? Genf 198Ο2, S. 135. 147
FR 2 3 .
vin.
1980,
S.
5.
60
Nationsbildungen und Unionen
ostasiatische Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen und zusammenzuhalten, misslangen alle Versuche eines großen Zusammenschlusses afrikanischer Staaten. Noch heute gehören die Länder des Kontinents wie schon vor dreißig Jahren zu den ärmsten der Welt. 2002 wurde die OAU in die Afrikanische Union (AU) überfährt; sobald es gelingt, eine Freihandelszone zu realisieren, wird diese eine der größeren werden.
OAS 1948 wurde unter beherrschendem Einfluss der USA die »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS) geschaffen, die schließlich formulierte, dass jede kommunistische Herrschaft auf amerikanischem Boden jeden anderen amerikanischen Staat gefährde. Mehrfach haben die USA in den 60er- und 7oer-Jahren gegen linke Reformregierungen Militärdiktatoren eingesetzt oder gestützt,148 aber die Länder, die sie unter Kontrolle hielten, wurden nicht politisch stabil, sodass der amerikanische Präsident Jimmy Carter ab 1977 Demokratien förderte.
NAFTA 1994 schlossen die USA, Kanada und Mexiko das North American Free Trade Agreement mit einem Markt von 376 Millionen Menschen. Allerdings umfasste der Vertrag nur die freie Beweglichkeit von Waren, nicht von Menschen, und die USA behielten sich vor, gegen »Dumping-Preise« vorzugehen. Zeitweise entstand an der Grenze zwischen Mexiko und den USA eine eigene Zulieferindustrie als »ausgelagerte Werkbank«, allerdings hat die chinesische Konkurrenz diese im 21. Jahrhundert wieder schrumpfen lassen.149
Arabische Liga Politische Form für den (Wieder-)Aufstieg Asiens sind verschiedene überregionale Organisationen.150 Die schon 1945 gegründete Arabische Liga erreichte kaum je politische Stärke, weil die Mitglieder zwischen reichen Olstaaten und armen Vettern, zwi148 Zu Chile und anderen Staaten dieser Periode zuletzt Klein, Schockkapitalismus, S. 75-168; vgl. Kapitel 9. 149 Stiglitz, Work, S. 61-70. 150 Claudia Derichs, Europa als Counterpart des Orient, a.a.O.
OIC
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sehen Monarchien und Militärregierungen und auch Demokratien zu unterschiedlich waren und die nationale Bindung an das Arabische auch gegenüber der Gründung und dem Machtanstieg Israels in der Region fur eine gemeinsame Linie in der Außenpolitik nicht ausreichte. Sitz ist Kairo.
APEC Die Asia Pacific Economic Cooperation wurde 1989 in Canberra von Australien, Japan, den USA und Neuseeland gegründet. Inzwischen sind fast alle Anrainer des Pazifiks Mitglieder, einschließlich ζ. B. der Mitglieder von A S E A N und Russland. Es ist ein Club von Regierungschefs, der nur Konsensbeschlüsse kennt. Themen der Gespräche sind neben dem Terrorismus Probleme der Kapitalmärkte, fur 2010/2020 ist eine Freihandelszone geplant.
OPEC Das Kartell von (im Jahr 2008) 14 Erdöl exportierenden Staaten wurde i960 gegründet, hat seinen Sitz in Wien. Das Kartell versucht, durch Vereinbarung von Förderquoten den Preis des Erdöls zu erhöhen oder in einer Periode der Baisse hoch zu halten, und hat wechselnden, aber insgesamt beachtlichen Einfluss auf die Weltkonjunktur.
GCC Der Golf Kooperationsrat wurde 1981 gegründet; Mitglieder sind die arabischen Staaten an der Südseite des Golfs (ohne Irak und Iran). Der GCC gewinnt des Rohstoffreichtums der beteiligten kleinen Staaten wegen an Bedeutung. Die Staaten haben eine Zollunion beschlossen und streben eine gemeinsame Währung an; Sitz ist Riad.
OIC Die 1969 gegründete Organization of Islamic Conferences hat viele Jahrzehnte hindurch wenig Bedeutung gehabt, seit den neunziger Jahren gewinnt sie kontinuierlich. 2007 waren 56 Staaten Mitglieder, Sitz ist Djidda (auf dem Weg nach Mekka). Länder
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mit muslimischen Minderheiten wie Russland, Indien und Bosnien suchen gute Beziehungen zum oic ; er forderte 2006 ein weltweites Verbot von Diffamierungen der Religion.
SAARC Die 1985 gegründete South Asian Association for Regional Cooperation - Indien, Pakistan, Nepal, Bhutan, Sri Lanka, Malediven, 2007 wurde Afghanistan Mitglied wurde nicht zu einem erfolgreichen Bündnis, weil die Feindschaft zwischen Indien und Pakistan eine tiefer gehende Zusammenarbeit hinderte. Vor allem wird der kulturelle Austausch gefördert; Sitz ist Kathmandu.
ASEAN Die Südostasien-Assoziation ( A S E A N ) wurde 1967 von Thailand, Indonesien, Malaysia, den Philippinen und Singapur gegründet. Sie hat kontinuierlich expandiert und heute zehn Mitglieder - es wird sogar davon gesprochen, dass China, Japan, Südkorea und Indien Mitglied werden könnten. Der größte Erfolg ist die funktionierende Freihandelszone, mit fast 600 Millionen Einwohnern einer der volkreichsten Märkte der Welt. Australien und Neuseeland werden zu den Sitzungen eingeladen. Die A S E A N entwickelt auch Formen der Rüstungskooperation. Anders als die E U geht sie vom Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten aus; sie hält also an der Souveränität der Nationen fest. Die USA wurden nicht zu Treffen eingeladen, allerdings bleiben ihr andere Möglichkeiten, z. B. in zweiseitigen Abkommen, wie sie mit Japan seit Langem bestehen und mit Indien begonnen wurden. Sitz ist Jakarta.
SCO 1996 trafen sich Vertreter von China, Russland, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisistan in Schanghai und verabredeten vertrauensbildende Maßnahmen. Die 2001 offiziell gegründete »Shanghai Corporation Organization« (sco) vereint China, Russland und die zentralasiatischen Staaten und erleichtert den Zugriff Chinas auf die Rohstoffe Zentralasiens, betrifft aber auch das Verhältnis zwischen Russland und der amerikanischen Supermacht. In der Folge kamen Usbekistan, die Mongolei, Indien
SCO
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und Pakistan hinzu; gemeinsame Militärmanöver wurden abgehalten und 2007 ein »Energieclub« eingerichtet.151 Das Sekretariat ist in Peking. Der Iran ist kooperierendes Mitglied in der sco und in der GCC. Dem iranischen außenpolitischen Einfluss liegt auch zugrunde, dass die Mehrheiten der Bevölkerungen der Golfstaaten schiitisch, die Fürstenhäuser jedoch sunnitisch sind. Gewiss kann das Bündnis der Fürsten mit den usa diesen zu (wenn auch vielleicht gekaufter) militärischer Macht verhelfen, aber das Bündnis einer Demokratie mit absolutistischen und monarchischen Regierungen bleibt schwer zu legitimieren. Außerdem begeben sich die usa in Konfrontation mit Mehrheiten in den jeweiligen Ländern, die den amerikanischen Interessen oft feindlich gegenüberstehen, weil sie keine Anhänger von Demokratien im westlichen Sinn sind, aber auch, weil sie nicht wollen, dass die jetzige Kontrolle des Erdöls durch angelsächsische Firmen bruchlos andauert - , sie suchen einen größeren Anteil an den Einnahmen. Ägypten ist Mitglied der au, des 01c, der Arabischen Liga und neuerdings auch der Union pour la Méditerranée, deren Sitz Barcelona ist. 152 Die Mitgliedschaften überschneiden sich also, was bei Plänen für Freihandelszonen nur umfassende Lösungen übrig lässt.
151 Olaf Kirchner, Russland zwischen China und der EU, erscheint in: Adamczyk, Asiatische Mächte. 152 Jean Quatremer, L'Union pour la Méditerranée, in : Liberation 5. 11. 2008, nach Revue de la Presse Janvier 2008. Vgl. Stefanie Steinbichler, T h e Barcelona Process, Phil. Diss. Wien 2009.
4. Fundamentalistische Angriffe
Begriff
»Fundamentalismus« ist ein neues Wort aus dem Englischen, das unter »fundamentalism« jene Protestanten zusammenfasst, welche die Bibel für wörtlich wahr halten. Dieser Begriff ist auf andere Bewegungen übertragen worden und hat den alten Begriff »Radikalismus« weithin abgelöst.153 Fundamentalismus meint also die Bedingungslosigkeit eines Glaubens, der sich allein auf Glaubenssätze bezieht und keine Argumente aus dem Alltag, aus den Umständen gelten lassen will. Er hat zwar eine innere Bandbreite, fundamentalistische Aussagen sind aber jenseits der Ränder nicht verhandelbar.
Religionen
Die wichtigsten Fundamentalismen der Frühen Neuzeit gingen von Religionen aus, welche angesichts des zunehmenden Machiavellismus in der Politik und des Wohllebens der Reichen Grundregeln setzten. In solchen religiösen, sozialen oder politischen Krisen entschieden sich einige Gruppen, bestimmte Lehrsätze oder Texte ihrer Religionen für allein verbindlich zu erklären und sie damit aller Diskussion zu entziehen. Beispiele bieten die Frühphase der Reformation, das russische Altgläubigentum, der Wahabitismus (wi, S. 263-267) und jene afrikanischen Dschihads, die von »von Gott rechtgeleiteten« Befreiern gegen die »Herrschaft des Unrechts« geführt wurden und ζ. B. zur Gründung jenes Sultanats Sokoto führten, das 1903 von den Briten erobert wurde. Die Grenze zwischen fundamentalistischen Bewegungen und rationaler Politik blieb dabei immer fließend, und zwar in beide Richtungen. So wie der Protestantismus »eingestaatet« wurde, so eben auch der Wahabitismus. Die rein textbezogene Definition des Begriffs reicht auch deshalb nicht aus, weil es in aller
153 Johannes Hoffmeister, Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Hamburg 1955, und Stuart Holroyd, Wörterbuch der neuen Perspektiven, Frankfurt 1991, kennen es nicht, wohl aber Webster's New Riverside University Dictionary, Auflage Boston 1988. Zu »Radikalismus« das von Peter Wende verfasste Lemma in: GG.
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Fundamentalistische Angriffe
Regel nur Teile des Kanons sind, auf die man sich bezieht; ζ. B. übertreten islamische Fundamentalisten oft das eindeutige Verbot des Selbstmords im Islam.154 In Buchreligionen entstehen besonders leicht Fundamentalismen, weil die Texte vorliegen und als Steinbrüche für Argumente dienen können. Viele solcher Bewegungen haben lange Traditionen und wurden einfach dadurch eingestaatet, dass sie bei scharfen Außengrenzen als kleine Gruppen isoliert wurden. So etwa die Mennoniten, welche aus Texttreue zur Bibel ζ. B. den Eid und Kriegsdienst ablehnten und damit aus vielen Gesellschaften hinausfielen, aber doch ihre Form von Gemeinschaft erhielten und sogar in einer globalen Diaspora ausweiteten. In den USA erhielten sich viele kleine Kirchen, die - besonders im »bible-belt« der agrarisch bestimmten Bundesstaaten westlich des Mississippi - die Politik auf regionaler Ebene bestimmen und dafür Sorge tragen, dass Darwins Lehren nicht an die Schulen gelangen, an manchen Krankenhäusern keine Abtreibungen vorgenommen werden und Arzte, die an Abtreibungskliniken arbeiten, sogar ermordet wurden. Der amerikanische Fundamentalismus blieb aber in ein Netz von verschiedenen Religionen und Ideologien eingebunden. Wie in Deutschland oder Frankreich, reagierten einige Gruppen auf die schwindende Bedeutung alter sinnstiftender Kollektive wie Familie, Religion oder Klassenzugehörigkeit mit einer »Politik der Identitäten«, aber es konnten und können Feminismus oder Homosexualität sein, welche zum Bekenntnis wurden. 155 Auch moderne islamische Fundamentalismen gingen von der Kritik des Westens aus und stellten »Werteverfall, moralische Dekadenz und übertriebenen Individualismus« als Kennzeichen heraus. Wichtiger Gründungsautor wurde der Ägypter Çayyid Qutb, der einige Jahre auf einer offiziellen Bildungsreise die USA besuchte und nach seiner Rückkehr in seinem Hauptwerk »Wegzeichen« (1964) Amerika als Musterbeispiel westlichen Materialismus und sexueller Promiskuität angriff, außerdem als wichtigsten Bundesgenossen Israels. Er wurde 1966 wegen eines Mordanschlags auf Nasser zum Tode verurteilt und bezeichnete sich selbst deswegen als Märtyrer. 156 Die iranische Revolution 1979 ging mit einer Welle von radikalem Islamismus auch in der sunnitischen Welt zusammen, ζ. B. der Besetzung der großen Moschee in Mekka, um ein Zeichen gegen die Saudis und ihr Bündnis mit den USA ZU setzen. Im selben Jahr intervenierte die UDSSR in Afghanistan, um eine säkulare Regierung
154 Roman Loimeier, Die islamischen Revolutionen in Westafrika, in: Grau, Afrika, S. 5 3 - 7 4 ; Lewis, Crisis, S. 1 3 0 - 1 3 2 . 155 Heller, N e w Imperialism, S. 242. 156 Perthes, Gärten, S. 1 5 5 - 1 6 7 , Zitat S. 157; Lewis, Crisis s.o. bes. S. 55—69; Fotos in Lawrence Wright, Der Tod wird Euch finden, dt. München 2008, S. 320; Burleigh, Sacred Causes, S. 450-484.
Säkulare Fundamentalismen
67
zu unterstützen, in der auch Kommunisten aktiv waren. Der islamische Widerstand wurde von Saudi-Arabien, den USA und anderen Staaten finanziert und war 1987 erfolgreich: Die sowjetischen Truppen wurden abgezogen. Inzwischen hatten sich Teile des Widerstands als radikal-islamisch formiert; und diese »Taliban« eroberten fast das gesamte Land gegen die regionalen Clan- und Stammesführer. 1991 gründete der Sohn eines saudischen Bauunternehmers, Osama bin Laden, eine geheime Organisation namens Al Qaida, die sich die Reinigung des Islam von Halbherzigen und die Durchsetzung der Herrschaft Gottes auf Erden zum Ziel setzte und den Märtyrertod zu diesem Zweck für legitim erklärte.157 Es ist keine Frage, dass dieser islamistische Fundamentalismus eine aktuelle Gefährdung westlicher Zentren und gemäßigter Muslime bildet (vgl. Kapitel 17).
Säkulare Fundamentalismen
Neben die traditionellen religiösen Fundamentalismen treten vom 18. Jahrhundert an säkulare. Oft übernehmen sie Riten oder auch Texte aus den Religionen und werden deshalb manchmal auch als Religionen dargestellt.158 Allerdings bleibt der Unterschied wichtig, dass die Texte in den Religionen, auch wenn sie nicht geoffenbart wurden, kanonisch gesammelt, geordnet und begrenzt sind und also den Fundamentalisten nicht ohne Grenzen zur Verfügung stehen. Dagegen sind die Texte, auf welche ζ. B. die Marxisten sich beziehen, nicht nur durch die Auswahl für (und dann wieder aus) den Marx-Engels-Werken (MEW) ergänzt und verändert (das würde Bibel- oder Koranauslegungen entsprechen), sondern auch ständig erweitert worden: durch die ebenfalls kanonischen Werke aller Generalsekretäre bis hin zu Gorbatschow.159 Säkulare Ideologien sind deutlich verfügbarer als Religionen, und sie treten nicht mit dem Anspruch der Offenbarung auf, sondern dem der Wissenschaftlichkeit - oder der bewussten Wendung »an diejenigen Anhänger der Bewegung, die mit dem Herzen zu ihr gehören«160, also mit dem Anspruch der Gefolgschaft. 157 Wright a. a. O., Ziele S. 405, Fotos S. 320 und 321. 158 Etwa Christian-Ekkehard Barsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 2002; Sven Reichardt, >Märtyrer< der Nation, in: Jörg Echtenkamp, Sven Oliver Müller (Hg.), Deutscher Nationalismus, München 2 0 0 2 , S. 1 7 3 - 2 0 1 , oder die häufige Bezeichnung des Sowjetmarxismus als Religion. 159 Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.), M. S. Gorbachev, Izbrannye rechi i stat'i, torn 1-7, Moskva 1 9 8 7 - 1 9 9 0 (bis 1 9 8 9 ) . 160 Adolf Hitler, Mein Kampf, Neuauflage München 1938, Vorwort S. χχνπ.
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Fundamentalistische Angriffe
Nicht nur Fundamentalismus wurde säkularisiert, sondern auch der Chiliasmus, also die Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich und die Wiederkehr des Herren nach der Apokalypse. 161 Auf eine revolutionäre Umwälzung, ein nahes Ende der jeweils »alten« Welt oder ein »Ende der Geschichte« zielende Konzepte hatten sowohl im Marxismus als auch im Nationalismus und Liberalismus einen Ort. Alle drei hofften auf die Reinigung durch die Krise. Insofern zeigen sich in den Hoffnungen auf allgemeinen Massenkonsum nach dem Fall aller Einschränkungen freien Handels, auf eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen erhalten wird nach dem Ende der Klassenkämpfe und ein tausendjähriges Deutsches Reich nach dem Sieg in den Kriegen um Rasse und Raum bei allen inhaltlichen Gegensätzen, doch auch Ähnlichkeiten der chiliastischen Denkstruktur.
Liberalismus und Sozialismus
Der klassische säkulare Fundamentalismus im Westen ist eine bedingungslose Uberzeugung von liberalem Fortschritt. Nach der Säkularisierung der biblischen Lichtsymbolik durch die Aufklärung 162 wurden im Westen Licht und Dunkelheit, Aufklärung und Obskurantismus, Kultur und Barbarei mit einer Radikalität gegenübergestellt, welche Diskursivität ausschloss. Was nicht hineinpasste, wurde in einen Abgrund jenseits des Randes geworfen. Für das Zentrum erdachte Lösungen wurden als Ergebnisse von Aufklärung und Wissenschaft überall angewandt, und wo die Realität nicht dazuzupassen schien, wurde sie passend gemacht.163 Was sich widersetzte oder auch nur aus einer eigenen Struktur heraus widerständig war, wurde als archaisch ausgesondert, ohne seine eigenen Geschichten auch nur zur Kenntnis zu nehmen aus Clans, Stämmen oder auch alten Imperien wurden »Völker ohne Geschichte.«164 Der jüngste Fundamentalismus, der vom Westen ausging, war der Neoliberalismus Chicagoer Schule. Alles und jedes sollte nun den Regeln des Marktes unterworfen werden, dann würde alles besser. Diese utopische Hoffnung schien sogar »Schockbehandlungen« zu legitimieren, wie in Chile 1973 oder in der U D S S R 1991, obgleich solche Schocks viele Millionen persönliche Katastrophen - Arbeitslosigkeit und Ar161 Sowohl christliche wie säkulare Beispiele in: Joachim Hosier, Wolfgang Kessler (Hg.), Finis mundi - Endzeiten und Weltenenden im östlichen Europa, Festschrift Hans Lemberg, Stuttgart 1998; vgl. Norman Cohen, The pursuit of the Millennium, New York 1961. 162 Klassisch in der Gleichsetzung von Logos und Licht im Evangelium des Johannes 1.1-9, vgl. aber Apostelgeschichte 9.3. 163 Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, dt. Berlin 2007. 164 Eric Wolf, Europe and the People without History, Berkeley/Cal. 1982.
Nationalismus
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mut von Mitmenschen - bedeuten. 165 Der Neoliberalismus ist jedoch von den Banken und Kapitaleignern selbst für gescheitert erklärt worden, als sie in der Bankenkrise des Jahres 2008 vom Staat ungeheure Bürgschaften für Kapitalgeschäfte forderten. Wie der Liberalismus ist der Sozialismus ein säkulares Konzept, in dem vielfältige Ansätze zur Veränderung der vorgefundenen Realität diskutiert, an ihren Erfolgen gemessen und entsprechend gefördert oder bekämpft werden. Ein Teil der sozialistischen Bewegung wurde fundamentalistisch (vgl. Kapitel 5), indem er sich auf Texte von Marx, Engels oder anderen bezog und diese unter Hintanstellung sachlicher Einwände zu Handlungsanweisungen erklärte. Der krasseste Fall ist vielleicht die stalinistische Zerstörung der russischen Agrarstruktur 1928 entsprechend Lenins Analysen von 1898. 166
Nationalismus Gerade weil Nationsbildung eine so erfolgreiche Tendenz bildete, war es in der säkularen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts an erster Stelle der Nationalismus, welcher zum Ausgangspunkt von Fundamentalismen wurde. Die Grenze zwischen einer angemessenen Identifizierung des Individuums mit seiner Nation, die auch andere Zugehörigkeiten und Bindungen berücksichtigt, und einem Fundamentalismus, in dem ausschließlich die Nation den Bezugspunkt bildet, ist dabei schwer zu ziehen. Etienne Balibar folgend kann man sagen, dass die Nationen im Rahmen der Weltgesellschaft »imaginäre Gemeinschaften« sind, die jedoch real, also durch Institutionen wie Schule, politisches System und öffentliche Meinung, reproduziert werden. 167 Sie wenden sich dann in einen Fundamentalismus, wenn sie über den Regeln der Konstitution der Gemeinschaften die Zugehörigkeit zur Weltgesellschaft verleugnen. Aus den USA stammt die klassische Formulierung eines nationalistischen Fundamentalismus : »right or wrong - my country !« 168 - , die nahelegt, dass die moralischen Grundsätze notfalls dem nationalen Interesse untergeordnet werden sollen. Die USA bieten auch in der Gegenwart Beispiele für einen radikalen Nationalismus (vgl. Kapitel 6).
165 Klein, Schockkapitalismus. 166 Hans-Heinrich Nolte, Stalinism as Total Social War, in: Chickering, Total War, Bd. 4, S. 295-312. 167 Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, dt. Berlin 1990, hier S. 1 1 5 . 168 G e o r g Büchmann, Geflügelte Worte, 39. Auflage Frankfurt 1993, S. 399; der Toast des Kommodore Decatur lautete hiernach genau: » O u r country! In her intercourse with foreign nations, may she always be in the right, but Our country, right or wrong!«
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Fundamentalistische A n g r i f f e
Großbritannien, die erste moderne Nation, war den usa ein entschiedener Lehrmeister im Nationalismus dieser Art, der Zurückstellung von Rechtsbedenken gegenüber dem Nationalinteresse - etwa in der Einäscherung der amerikanischen Hauptstadt Washington am 24. August 1814. 1807 hatten die Briten das neutrale Dänemark durch eine viertägige Beschießung der Stadt Kopenhagen gezwungen, seine Flotte auszuliefern, und 1940 vernichteten sie die vor Oran liegende Flotte des zwar geschlagenen, aber nicht im Kriegszustand mit der Insel befindlichen Frankreich, damit sie nicht den Deutschen in die Hände fiele. Eine letzte Entscheidung dieser Art war die zum Area-Bombing im Zweiten Weltkrieg - sie widersprach eindeutig der Genfer Konvention, da sie sich vor allem gegen Zivilbevölkerung richtete. Allerdings wird man der alten Beobachtung von Hans Kohn zustimmen, dass solche Beispiele für einen radikalen Nationalismus im Zentrum des Systems seltener waren als in den halbperipheren und schließlich peripheren Ländern. 169
Rassismus
Wo allerdings die Ausgegrenzten oder Auszugrenzenden die jeweilige Nationalsprache lernten (oder mitbrachten), suchten manche nach anderen Kriterien, z. B. körperlichen Eigenschaften wie Hautfarbe oder Haar. Man nannte das »Rasse«, obgleich der biologische Rassebegriff nirgendwo zutrifft (alle heutigen Menschen stammen vom Cromagnon-Menschen ab).170 Der Rassismus diente allgemein dazu, den Uberlegenheitsdünkel der Europäer zu kitzeln, und konkret, Herrschaft zu sichern oder zu erobern - sei es gegen Afrikaner, Sinti und Roma oder Juden (vgl. Kapitel 18). In den Kolonien wurde der zunehmende Rassismus konkret, denn auch wenn die einheimischen Eliten sich bemühten: Die obersten Positionen - in der Verwaltung, aber auch in Schulen und Kirchen - blieben weiß. 171 Da die usa bis 1914 nicht nur zur ersten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen waren, sondern auch weltweit die Rolle eines Vorreiters der Menschenrechte in Anspruch nahmen und Studenten aus aller Welt ausbildeten, war der amerikanische Rassismus von globaler Wirkung. Diesem Rassismus ging es um Reichtümer und Posten. Erst 1924 erhielten alle Indianer die Staatsbürgerschaft der u s a , 1 7 2 und die Afrikaner wurden mit terroristischen Mitteln unterdrückt - viele Tausende fielen den Lynch-
169 170 171 172
Hans Kohn, Die Idee des Nationalismus (1944), dt. Frankfurt 1962, S. 556-559. Wanderungsgeschichte Chanda, Bound together, S. 1-33. Farias/Barber, S. iff. Werner Arens, Hans-Martin Braun, Die Indianer Nordamerikas, München 2004, S. 114.
Faschismus
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morden des Ku-Klux-Klan zum Opfer. 173 Der Weltöffentlichkeit wurde der amerikanische Rassismus durch die Einwanderungsquoten bestätigt, mit denen die Immigration aus Nordwesteuropa gefördert, die aus Osteuropa (nicht zuletzt wegen des hohen jüdischen Anteils) eingeschränkt und die aus Asien verboten wurde. Der junge Hitler sah die konsequent rassistische Politik der USA als Vorbild für Europa. 174 Der rassistische Fundamentalismus fand in Staaten die meiste Unterstützung, deren Eliten sich als zu kurz gekommen fühlten: Türkei, Italien, Deutschland, Spanien, Argentinien u. a. Auch im chinesischen Nationalismus war die Strömung weit verbreitet, welche China - gegen den von der Mandschu-Dynastie vertretenen dynastischen Patriotismus - als biologische Abstammungsgemeinschaft verstand. Sun Yatsen betonte in den »drei Volksprinzipien« 1924 die Bedeutung erstens der ethnisch und rassisch einheitlichen Nation (Volkstum), zweitens eines starken Staats (Volksherrschaft) und drittens einer sozial ausgeglichenen Gesellschaft (Volkswohlfahrt). Zur Durchsetzung hielt er als vorbereitende Schritte zu einer konstitutionellen Regierung eine Abfolge von militärischer Diktatur und >Vormundschaftsregierung< für ratsam.175
Faschismus
Als Benito Mussolini, Chefredakteur der sozialistischen Zeitschrift »Avanti«, im Oktober 1 9 1 4 für die Intervention Italiens auf der Seite der Entente im Weltkrieg eintrat, verlor er nicht nur seinen Job, sondern gründete auch die ersten »fasci« (Kampfbünde). Der Mensch erschien Mussolini grundsätzlich als »kriegerisches Lebewesen«, das am »unaufhebbaren Streit der Völker« teilnehmen wolle und müsse, um das eigene Interesse zu wahren - also solle Italien den Vertrag mit den Mittelmächten brechen und um die Irredenta und eine Großmachtrolle kämpfen. Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Italien »nur« Südtirol, Istrien und kleine Teile Dalmatiens erhielt und eine sozialistische Mehrheit im Lande vielfältig Kooperativen gründete, terrorisierten faschistische »Aktionsgruppen« sozialistische Gemeinden: »die Gewaltsamkeit gekränkter und in Gefahr gebrachter höherer 173 Vgl. George M. Frederickson, The Comparative Imagination. On the History of Racism, Nationalism and Social Movements, Berkeley/Cal. 1997; Eric John Dingwall, Racial Pride and Prejudice, London 1946, besonders zur »colour bar« in den USA. 174 Gerhard Weinberg (Hg.), Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, 1961, S. 125: Europa könne das »Gesetz des Handelns« an die USA verlieren. »Die Gefahr ist besonders groß, seit bei vollkommener Gleichgültigkeit unsererseits die amerikanische Union selbst, angeregt durch die Lehren eigner Rasseforscher, besondere Maßstäbe für die Einwanderung aufgestellt hat.« 175 K l e i n C h i n a , S . 7 9 - 8 4 .
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Fundamentalistische Angriffe
Schichten«. 176 1922 ergriff Mussolini die Macht in Italien und gründete einen in Korporationen verfassten Staat, der auf den Führer, den »Duce«, ausgerichtet war. Der Faschismus war und ist durchaus eine Form »bürgerlicher Herrschaft«, aber keineswegs alle bürgerlichen Gesellschaften sind faschistisch geworden, sondern vor allem solche, welche sich erst im 19. und 20. Jahrhundert zu Nationen entwickelt hatten. Starke faschistische Bewegungen gab es zwischen Argentinien und Lettland, Italien, Rumänien und der Ukraine in mehreren Staaten; schwache fast überall. Gemeinsames Credo ist der Kampf um die nationale Souveränität, die Vorbereitung des für ewig gehaltenen Kriegs, die Durchsetzung von allgemeiner »Gesundheit« nicht nur im physischen, sondern auch im intellektuellen Sinn. Politische Grundforderung ist die diktatorische Struktur einer Führerbewegung, in welcher der/die Einzelne als Gefolgschaftsmitglied sich unterzuordnen hat. Zu den technischen Voraussetzungen gehörte ein glänzender Einsatz der Medien, ins Riesige verdrehte Verkehrsbauten und die Pflege mythischer Weltsichten von der Heroisierung Spartas, in dem so wenige so viele unterdrückten, bis zur Götterdämmerung. Da Feinde stets mit Gewalt niederzuhalten sind, gehören auch Opfer zum Bild. 177 Trotz der Niederlagen Italiens und Deutschlands sind faschistische Bewegungen ubiquitär, von Indien bis Nebraska und von Russland über Deutschland nach Frankreich. In Italien existiert noch eine größere Partei. 178 Das Gedenken an die Opfer hat in Deutschland eine breite Verankerung in der Gesellschaft erreicht, in anderen Ländern beginnt es erst.179 Globalgeschichtlich ist der Faschismus wichtig, weil er bewusst und explizit an die Stelle der Vernunft und des Nachdenkens die »Tat« setzt, weil er den Krieg für eine ewige Konstante menschlicher Existenz hält, und weil er die Souveränität der Nationen über alles setzt - wenn auch oft in der Fassung, dass man erst mal viel erobern 176 Nolte, Faschismus, Zitate S. 226, 259; Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen, Göttingen 2008; Rez. Sven Reichhardt, sz 23.1. 2009. 177 Reinhard Kiihnl, F o r m e n bürgerlicher Herrschaft, Reinbek 1971 ; Helga Grebing, Aktuelle T h e o r i e n über Faschismus und Konservativismus, Eine Kritik, Stuttgart 1974; Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich, Frankfurt 1983. 178 Roger Griffin, W e r n e r Loh, Andreas Umland (Hg.), Fascism Past and Present, West and East. N a c h wort Walter Laqueur, Stuttgart 2006. Wolfgang W i p p e r m a n n hat »Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute« angekündigt. 179 Alexander Boroznjak, E r i n n e r u n g für M o r g e n . Deutschlands U m g a n g mit der ns-Vergangenheit aus der Sicht eines russischen Historikers = Z u r Kritik der Geschichtsschreibung Bd. 10, Gleichen 2006; Natalia J u n q u e r a , Las familias de desaparecidos de la G u e r r a Civil piden una disculpa, aus El Pais 23. 9. 2008 nach Revista de la Prensa 2008.11, S. ι . »Verschwunden« sind im spanischen Bürgerkrieg nur Republikaner, Faschisten und Konservative wurden gefeiert und ihrer wird ggfs. im Valle de Caídos gedacht.
Deutschland zum Beispiel
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muss, wenn man wirklich unabhängig sein will, mindestens ein »mare nostro« und einen »Ostraum«.
Deutschland zum Beispiel
Vielleicht ist das eigene Land, ist also Deutschland ein gutes Beispiel dafür, dass die globale Sicht auf die Geschichte nicht die einzige ist, dass aber im Rahmen einer Globalgeschichte versucht werden muss, die beiden Stränge zusammenzuwinden. Die deutsche Geschichte 180 ist eine eigene Erzählung. Vielleicht beginnt sie doch, trotz der Einwände, mit dem Widerstand germanischer Stämme gegen die Einbeziehung ins Römische Reich. Im Mittelalter gehörte Deutschland dann zum »neuen Europa« nördlich des alten Limes, in dem Stämme, große Familien und die Kirche bis zur Rus' hin christliche Staaten aufbauten. Aber es lag weit genug im Westen, um zusammen mit dem späteren Frankreich die Erneuerung des römischen Imperiums im Westen zu beginnen. Aus diesen Selbstüberforderungen entstand das europäische Weltsystem (wi, S. I i 3-140), da das »Heilige Römische Reich« nie auf Dauer die Territorien »imperial« regieren konnte und auch Deutschland selbst durch föderale Strukturen geprägt war. Dass es diese in den Aufbau der EU eingebracht hat, war vielleicht seine wichtigste globalgeschichtliche Leistung nach 1945. Vor allem nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gelang es einigen Deutschen, aus dem Rassismus einen Fundamentalismus zu machen. Nationalismus und Rassismus wurden zur völkischen Bewegung zusammengefasst und von der Nationalsozialistischen Partei organisiert. Ihr gelang 1933 die Eroberung der Macht; dem demokratischen Prinzip des abgewogenen Kompromisses wurde das Führersystem entgegengesetzt. Ein System von Rassenbeschreibung wurde entwickelt, das »Arier«, »Halb-Arier« und »Viertel-Arier« unterschied. Entgegen der Terminologie kündete sich hier eine Religionsverfolgung an, denn die Feststellung solchen »Ariertums« geschah nach den Kirchenbüchern - mit anderen Worten danach, ob jemand bzw. seine Eltern und Groß180 Einfiibrend: Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, Neuauflage München 2008; Quellensammlung: Wilfried Hartmann u. a. (Hg.), Deutsche Geschichte und Darstellung, Bd. 1-12, Ditzingen 1995-2006. Hilfsmittel: Dieter Hein, Deutsche Geschichte in Daten, München 200J ; Wilhelm Wagner von Bassermann (Hg.), Bildatlas der deutschen Geschichte, München 2008. Handbuch: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 1-24, Hg. Alfred Haverkamp, Wolfgang Reinhard, Jürgen Kocka, Wolfgang Benz, Stuttgart 2001. Darstellungen : Joachim Leuschner (Hg.), Deutsche Geschichte, Bd. 1-10, Göttingen 1983-1993 ; Friedrich Prinz u. a., Neue deutsche Geschichte, Bd. 1-10, München 1993 ff.; Ulf Hirlemeier, Andreas Gestrich, Ulrich Herrmann u. a., Kleine deutsche Geschichte, Neuauflage Stuttgart 2007. Vgl. Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, München 1996.
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Fundamentalistische Angriffe
eitern getauft waren. Die Nationalsozialisten begannen eine Politik zur Exklusion all jener, die man zuvor hinausdefiniert hatte - und Genozid wurde vorbereitet. Dass die fundamentalistische deutsche Politik in die Katastrophe führte, wurde von vielen gesehen. Am deutlichsten hat es vielleicht der britische Botschafter Neville Henderson im Abschlussbericht seiner Botschaftertätigkeit in Berlin nach London gemeldet: »Zwei der weniger schönen Eigenschaften des Deutschen sind seine Unfähigkeit, irgendeine Frage anders zu sehen, als von seinem eigenen Standpunkt aus, und sein Unverständnis füir die Worte >Maß und ZeitWer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier ?< Kommentierte Wiederveröffentlichung der Erstpublikation von Adolf Hitlers Geheimrede am 22. August 1939, in: ZWG 9.2 (2008), S . 1 1 5 - 1 3 2 , Z i t a t e S. 1 2 7 .
184 Vgl. 16 sorgfaltig recherchierte Beispiele in: Wette/Ueberschär, S. 113-326. Zum Ostfeldzug insgesamt Nolte, Überfall; Ueberschär/Wette; der neueste Forschungsstand in Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär: Hitler's War in the East, 3 New York 2009. 185 Nolte, Überfall, Nr. 6; Jürgen Förster, Verbrecherische Befehles in: Ueberschär/Wette, S. 137-151.
Kritik und Einordnung
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In Deutschland, dem klassischen Land der Romantik, wussten einige mit den wichtigen und in vielen Punkten richtigen Einwänden gegen das lineare Fortschrittsdenken der angelsächsischen Welt nicht umzugehen und wendeten begründete Kritik in einen fundamentalistischen Gegenentwurf. Die deutschen Eliten haben es ermöglicht, ideologische Konstrukte wie Lebensraum und Rassereinheit zu realisieren und den größten und systematischsten Genozid zu verüben, den die Moderne kennt. »Der Albtraum der Philosophen hatte sich erfüllt: die Träger der Zivilisation waren die Wilden geworden - oder schlimmer.«186 Fritz Stern hat dafür den treffenden Begriff »verspielte Größe« gefunden.187 Peter Watson sieht die Periode zwischen 1848 und 1933 durch einen »Triumph deutscher Ideen«188 gekennzeichnet - der Absturz folgte. Nach der Niederlage verlor nationalistischer und rassistischer Fundamentalismus in Deutschland an Bedeutung - beide beziehen sich bekanntlich auf säkulare Kollektive. Die amerikanische Verheißung, dass jeder das Recht auf Glück habe, wurde zur entscheidenden Lehre der Konsumgesellschaft, die letztlich individualistisch argumentiert, auch wenn sie die Nation als politische Form fördert.
Kritik und Einordnung
Die Grundfigur des (modernen) Fundamentalismus ist, dass seine Anhänger sich gegen Veränderungen der Moderne und insbesondere Wandel in allgemeinen Sitten und Sexualverhalten wenden und sich dazu auf eine oder mehrere Schriften oder Glaubenssätze berufen, die tradiert sind - oder auch neu geschrieben werden. Sie lassen an diesen keine Kritik zu. Für ein solches Verfahren bieten sich geoffenbarte Schriften an, es können aber auch nicht geoffenbarte, ideologisch konstruierte Glaubenssätze sein wie der von der Notwendigkeit, auf Rassereinheit zu achten. Die Fundamentalismen knüpfen in aller Regel an gebrochenen Versprechen der Moderne an. Der inhaltliche, rationale Anspruch der Französischen Revolution, dass Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit die Welt bestimmen sollten, wurde von den afrikanischen Sklaven Frankreichs auf Haiti fast sofort als verlogen bloßgestellt: De186 Headley, Europeanization, S. 205; vgl. zu diesem Topos auch die Beiträge in: Frank Bajohr, Werner Johe, Uwe Lohalm (Hg.), Zivilisadon und Barbarei, Detlev Peuckert zum Gedenken, Hamburg 1991. 187 Fritz Stern, Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 19982; vgl. zur Einschätzung auch Norbert Elias, Studien über die Deutschen, Frankfurt 19942; John Ardagh, Germany and the Germans, Neuaufl. London 1991 ; B. Bonvech, Ju. Galaktionov (Hg.), Istorija Germanii 1-3, Kemerovo 2005. 188 Watson, Ideen I, S. 1047.
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Fundamentalistische Angriffe
mokraten maßen mit zweierlei Maß. 189 Deutsche und Italiener erfuhren dies doppelte Maß als Untertanen des »Empire«, das schließlich bis Lübeck an der Ostsee reichte.190 Das doppelte Maß ist auch heute einer der wichtigen Antriebe der Kritik am Westen, etwa in Russland:191 Die NATO darf ein mehrheitlich muslimisches (z. T. muslimisch gemachtes) Land unabhängig werden lassen, Russland nicht; 192 die USA dürfen einen Staat angreifen, der sogar weit von ihrer Grenze entfernt ist, Russland nicht. Träger von Fundamentalismen sind in aller Regel, von den protestantischen Radikalen am Beginn des 16. bis zu den islamischen am Ende des 20. Jahrhunderts, studierte Leute, meist aus Mittelschichten. Es entsteht ein intellektueller Habitus, welcher den Rausch der Bekenntnisse keiner Vernunft und oft nicht einmal mehr der Textkritik unterwerfen will. Es werden keine Rücksichten mehr genommen, weder auf Texte, die nicht ins Bild passen, noch auf Andersdenkende. Für die nationalsozialistischen Eliten, die zunehmend die wichtigen Entscheidungen treffen, aber wird dieser Fundamentalismus schon wieder verfügbar. Sie bauen ihn in ihre Karrieren ein.193 Es ist sicher kein Zufall, dass auf die Katastrophe, die aus der sozialistischen Uberschätzung rationaler Planung (vgl. unten) entstand, so schnell die Katastrophe der Utopie des reinen Marktes folgte. Zurück bleibt wie bei allen Fundamentalismen die Ernüchterung: Es bleibt immer nur, mit gesundem Menschenverstand die Utopie einer gerechteren Welt zu verfolgen, ohne sich in Einseitigkeit treiben zu lassen.
189 Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004, S. 1 5 7 - 1 8 4 . 190 Einführend und mit weiterführender Literatur Helmut Stubbe da Luz, Ein »gescheitertes Imperium« ? Napoleons Weltreich in spe von seiner norddeutschen Peripherie her betrachtet, in: Nolte, Imperien. 191 So auch Boris Reitschuster, Putins Demokratur, Berlin 2007, S. 75, der allerdings urteilt, dass der Vorwurf der Doppelmoral gegen den Westen unbegründet sei. 192 Abchasien und Kosovo sind vielfaltig ähnlich; in beiden Ländern wurde orthodoxe Bevölkerung vertrieben, die muslimischen Eliten beider Völker behaupten, von einem Genozid bedroht zu sein, so wie die orthodoxen Gegeneliten behaupten, dass der Genozid in Wirklichkeit ihnen drohe. 193 Gerhard Hirschfeld, Tobias Jersak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2004; Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul (Hg.), Karrieren der Gewalt, Darmstadt 2005 2 .
5. Sozialismusversuche
Zum Verein freier Menschen
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde unübersehbar, dass die demokratische Bewegung aus ihrem ursprünglichen Versprechen - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nur die erste realisierte, sich zwar von der Herrschaft der Könige befreite oder doch diese durch Konstitutionen einband, aber weder Gleichheit noch Brüderlichkeit brachte. Durch die Zensuswahlrechte wurde auch verfassungsmäßig gefasst, dass -
alle Frauen, alle, die nicht Grundbesitz oder Steuereinkommen nachweisen konnten, alle Dienstboten, alle Menschen unter 25 Jahren
von der parlamentarischen Mitbestimmung ausgeschlossen waren. Allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht wurde zur Forderung. Zugleich verschärften sich in der Periode der Industrialisierung die sozialen Unterschiede - wohl nicht im Sinne von Friedrich Engels, dass die Reallöhne sanken, aber doch in dem Sinne, dass die Kluft zwischen Reich und Arm immer schärfer gesehen wurde, weil man in den neuen Städten nebeneinander wohnte und der Anteil der Waren im Leben stieg. Hinzu kam, dass an die Stelle eines vielleicht ärmlichen, aber in der Abfolge der jahreszeitlichen Arbeiten auf dem Lande auch sicher scheinenden Lebens eines trat, das im täglichen Leben von Wirtschaftskonjunkturen abhängig machte - ob man hungerte oder neue Kleider kaufen konnte, hing immer weniger vom Wetter und immer mehr von der Börse ab. Auf diese Abhängigkeit antwortete die sozialistische Kritik, besonders Karl Marx. Der Kern der Kritik von Marx am Kapitalismus war, dass die Akteure ihre Entscheidungen nicht nach rationalen Kriterien treffen, sondern nach der »unsichtbaren Hand« des Marktes. Sie setzen ihre eigene Entscheidung sozusagen aus sich heraus, um sie dann in einer Art göttlichem Scherbengericht oder auch Lotteriegewinn wieder zurückzubekommen. Diese Entfremdung des Menschen von sich selbst hielt Marx für einen Skandal, der durch Sozialismus beendet werden würde. Zwar hatte die Bour-
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Sozialismusversuche
geoisie den Klassenkampf gegen die Feudalen gewonnen, aber wirkliche Handlungsfreiheit hatte sie nicht erreicht. Dazu war der kommende Klassenkampf des Proletariats notwendig, der mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die Macht des Abstraktums Kapital über das Handeln beenden und die Voraussetzungen bieten werde, die Gesellschaft als »Verein freier Menschen« zu organisieren. 194
Russland und nachholende Entwicklung Russland 195 ist seit einem halben Jahrtausend durch eine »nachholende Entwicklung« gekennzeichnet. Mit dem Begriff ist hier nicht eine theoretische Einordnung, sondern eine Generalisierung aus den Quellen gemeint: Die russischen Eliten waren vom 15. Jahrhundert an der Auffassung, dass es notwendig sei, wichtige Verfahren von Westeuropa zu lernen. Die Industrielle Revolution verschärfte den Machtunterschied zwischen den Westmächten und Russland derart, dass Erstere das Imperium im Krimkrieg auf seinem eigenen Boden besiegten. Die Eliten entschieden sich nun zu einem Programm der Förderung der Montan- und Rüstungsindustrie, das den privaten Konsum belastete, aber durch den Einsatz französischen, belgischen und englischen Kapitals zum Aufbau eines »russischen Ruhrgebiets«, des Doneckij Bassejn (Donbas), führte. 1 9 6 Im 19. Jahrhundert schufen der durch den Wiener Kongress gesicherte Frieden, die erfolgreiche Eindämmung von Seuchen, die unter westlichem Einfluss durchgeführte Bauernemanzipation sowie die Verbesserung der Verkehrs- und Nachrichtenverbingungen (Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Telegraf) Bedingungen für eine »Explosion« der Bevölkerung, ohne dass jedoch eine allgemeine Vermehrung der Produktivität der Landwirtschaft und/oder der relativen Zahlen der industriellen Arbeitsplätze erreicht wurde. Da außerdem die Bauern durch die Gemeinden auf dem Land gehalten wur194 Die Marxismusrezeption beruht auf Iring Fetscher (Hg.), Der Marxismus, Seine Geschichte in Dokumenten, München 1967, sowie Ders. (Hg.), Marx-Engels Studienausgabe, Bd. 1-4 (1966), Frankfurt 1970. Manches wurde nachgelesen in MEW. Vgl. als Ubersicht Joachim Becker, Rudy Weissenbacher (Hg.), Sozialismen, Wien 2009. 195 Überblick: KGR; Wärterbücher·. Hans-Joachim Torke (Hg.), Lexikon der Geschichte Russlands, München 1985 ; Ders. (Hg.), Historisches Lexikon der Sowjetunion, München 1993 ; Studienbuch: Thomas Bohn, Dietmar Neutatz (Hg.), Studienhandbuch Ostliches Europa, Bd. 2, Köln usw. 2002 ; Handbuch: Manfred Hellmann u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1-5, Stuttgart 1 9 8 1 - 2 0 0 3 ; Darstellungen: Heiko Haumann, Geschichte Russlands, München 1996; Kappeler, Vielvölkerreich ; Geoffrey Hosking, Russland, dt. Berlin 2003; Carsten Goehrke, Russischer Alltag, 3 Bde. Zürich 2001-2003. 196 Andrea Komlosy, Wirtschaftliche Entwicklungswege im Ostseeraum, in: Kromlosy, Ostsee, S. 1 4 8 173 ; Nolte, Tradition.
S o w j e t i s c h e Industrialisierung
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den, entstand eine ländliche Uberbevölkerung; Bauern, die zu wenig Land hatten, um selbst bei veralteten Techniken der Dreifelderwirtschaft ihr Tagwerk mit Landarbeit zu vollbringen. 197
Sowjetische Industrialisierung Durch die beiden Revolutionen des Jahres 1 9 1 7 kann eine relativ kleine Fraktion der russischen Sozialdemokratie, die sich 1 9 1 8 Kommunistische Partei der Bolschewiki nannte, gestützt auf die Rätebewegung (Sowjets), die Macht ergreifen. 198 Dabei war den Revolutionären bewusst, dass Russland kein voll industrialisiertes Land war, in dem eine Mehrheit aus Proletariern eine sozialistische Diktatur errichtete - wie das dem Marx'schen Modell entsprochen hätte. Die Partei vertraute aber der Analyse ihres Anführers Lenin, dass Russland so eng in das kapitalistische System integriert sei, dass es bei einer Revolution zum Zusammenbruch des Imperialismus kommen werde: »Natürlich, der endgültige Sieg des Sozialismus in einem Lande ist unmöglich«, bestätigte er auf dem 3. Gesamtrussischen Kongress der Sowjets 1 9 1 8 , aber er hoffte auf die Revolution in anderen Ländern: »Der Russe hat begonnen, der Deutsche, der Franzose, der Engländer werden vollenden, und der Sozialismus wird siegen.« 199 Als die Revolution in anderen Ländern aber ausblieb, »musste« die neue Elite die Aufgabe auf sich nehmen, Russland bzw. ab 1 9 2 2 die U D S S R 2 0 0 nachholend zu entwickeln, sie zu industrialisieren. Die Kommunistische Partei wurde, je weiter die Weltrevolution hinter den Horizont der Geschichte rückte, desto mehr in die Rolle der bisherigen Eliten gedrängt, in denen der Adel zwar den Ton angegeben hatte, zu denen aber auch viele Beamte und manche Kaufleute gehörten. In der KP war ein Kreis studierter Personen unterschiedlicher Herkunft führend. Menschen proletarischer Herkunft waren in der Führung eher selten, stellten aber 1 9 1 7 die Mehrheit der Mitglieder. 197 Jürgen Nötzold, Wirtschaftspolitische Alternativen der Entwicklung Russlands in der Ära Witte und Stolypin, Berlin 1967. 198 Debatte und Dokumentation: Wladislaw Hedeler u. a. (Hg.), Die Russische Revolution 1917, Berlin 1997; Darstellungen Bernd Bonwetsch, Die russische Revolution 1917, Darmstadt 1991 ; Heiko Haumann (Hg.), Die russische Revolution 1917, Köln usw. 2007. 199 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPDSU (Hg.), W. I. Lenin, Ausgewählte Werke in drei Bänden, dt. Berlin 1970-72, hier Bd. 2, S. 627 und 629. 200 Dokumentation Helmut Altrichter (Hg.), Die Sowjetunion, 2 Bde. München 1986; Uberblick Ders., Kleine Geschichte der Sowjetunion, München 2001 2 ; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, München 1998. Sowjetmarxistische Sicht: I. B. Berchin, Geschichte der UDSSR 1917-1920, dt. Berlin 1971.
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Sozialismusversuche
1952 nahm die Partei den Namen »Kommunistische Partei der Sowjetunion« = KPDSU an. Die KP hatte im Januar 1 9 1 7 24.000, im Oktober aber schon 300.000 und 1921 585.000 Mitglieder. Häufige, vor allem mit moralischen Verfehlungen, aber auch mit politischen Differenzen begründete »Säuberungen« wechselten mit Werbekampagnen ab - 1933 gab es 3,1 Millionen, nach der großen Säuberung 1938 nur noch 1,9 Millionen Mitglieder. Die Partei bildete eine Aufstiegsorganisation, sodass immer mehr zu Angestellten wurden, welche in den späten dreißiger Jahren die Mehrheit bildeten. Bauern waren niemals ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend vertreten, die KP war eine städtische Partei. Das politische Ziel, einen Arbeiter- und Bauernstaat zu schaffen, wurde also von der linken städtischen Intelligenz für die Bauern entworfen. Es gab wenig Frauen in der Partei (1922 7,8 %), aber viel Jugend - noch im Bürgerkrieg 1 9 1 8 - 1 9 2 1 waren 90 % unter 40 Jahre. Die größten Prozentsätze je Ethnie hatten Juden, Balten und Russen, während eine bäuerliche Ethnie wie die Russlanddeutschen stets unterrepräsentiert war. Die Partei war zentralistisch, von oben nach unten organisiert, die Zentralverwaltung war eine große Behörde. Das Zentralkomitee (ζκ) wurde auf dem Parteitag gewählt, die Wahl der Delegierten aber oft »von oben« vorgegeben.201 Die Lehre der Partei, nach der die neuen Mitglieder unterrichtet wurden, war in den zwanziger Jahren ein Marxismus, der sich als »Bolschewismus« von anderen Marxismusformen selbst abhob. Der Terminus »Marxismus-Leninismus« wurde 1926 eingeführt. Welche Voraussetzungen brachte die Partei mit, um zum Akteur der nachholenden Industrialisierung in der U D S S R zu werden?202 Begeisterung, Disziplin und Hass auf die Reichen sowie die Alten. Hinzu kamen der Wille, die großen Lehren der Theoretiker wirklich zu lernen, und eine Vorstellung davon, was eine industrielle Gesellschaft auszeichnete - Fabriken, schnelle Züge, bessere Straßen und vor allem : Elektrifizierung des ganzen Landes. Für die Leitung der Partei und die Regierung kam die Möglichkeit hinzu, relativ leicht zu polizeilichen Maßnahmen zu greifen, um Widerstand zu brechen, da es kein unabhängiges Rechtssystem gab - Lenin hatte an der Räteverfassung gerade die Aufhebung der Gewaltenteilung gelobt. Von den späten zwanziger Jahren an gingen diese Polizeimaßnahmen in Staatsterrorismus über.
201 Stefan Plaggenborg, Die Organisadon des Sowjetstaates, in: Gottfried Schramm (Hg.), Handbuch der G e s c h i c h t e R u s s l a n d s , B d . 1 1 1 . 2 , S t u t t g a r t 1 9 9 2 , S . 1 4 1 4 - 1 5 2 7 . K l a s s i s c h z u r G e s c h i c h t e d e r KPDSU
Leonard Schapiro, The Communist Party of the Soviet Union (1963) Neuaufl. London 1974. 202 Andrea Komlosy, Hannes Hofbauer: Osteuropa - Sozialismus als Versuch nachholender Entwicklung, i n : E n g l e r t / G r a u , S. 2 1 3 - 2 3 9 .
Landwirtschaft
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Dass Russland eine nachholende Industrialisierung durchführen müsse, war in der Partei nicht strittig; wie diese erreicht werden solle, desto mehr. Sollte sie auf Kosten der Bauern gehen ? Im Dezember 1925 entschlossen sich Regierung und Partei unter Stalins Leitung, die Diskussion zu beenden. Der Parteitag beauftragte die Regierung, wirtschaftliche Selbstständigkeit der U D S S R , Mechanisierung der Landwirtschaft und Kollektivierung voranzubringen. Dass Industrialisierung bei gleichzeitiger Befriedigung der Interessen der Bauern möglich war, wurde zu einer Sache des Glaubens gemacht, und Kritik mit »Kapitulantentum« gleichgesetzt.203 Als Quelle der Akkumulation nannte die Partei das Budget und den Außenhandel; dass die Akkumulation auf Kosten des Dorfes gehen würde, wurde kategorisch bestritten.204 Tatsächlich kam ein sehr großer Teil der Mittel für die Industrialisierung aus den Staatsbudgets.205 Die Budgetfinanzierung war ein Ergebnis der Steuerleistungen aller Bürger, eine erzwungene allgemeine Sparrate. Die Investitionen in der »Abteilung A«, der Investitionsgüterindustrie, wurden bevorzugt, da man ein Ubergewicht der Abteilung A für die Voraussetzung von Wachstum hielt. Planer wurde zu einem Beruf.
Landwirtschaft
Seit dem 18. Jahrhundert hatte die Umteilungsgemeinde, der »Mir«, in festen Abständen die Neuverteilung des Ackerlands unter alle Einwohner eines jeden Weilers beschlossen. Auch ein Bauer mit vielen Geräten und viel Vieh konnte also keinen Boden akkumulieren und nicht im westlichen Sinn Großbauer werden. Die Bauern entschieden alle Fragen in direkter Demokratie bei einem Zusammenkommen (s-khod). Man konnte das als eine Art ländlichen Sozialismus auffassen.206 Viele Weiler zusammen bildeten ein Dorf, das von einem Dorfsowjet regiert wurde und bis zur Religionsverfolgung 1928 auch Kirchdorf war. In der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik ( R S F S R ) kamen ζ. B. im Schnitt neun Weiler auf einen Dorfsowjet, in Belorussland 27 und in der Ukraine fünf; in Belorussland lebten durchschnittlich 1 1 0 und in der Ukraine 440 Menschen in einem Weiler und einem »Mir«. 207 203 M. P. Kim (Hg.), Indus trializacija SSSR, Dokumenty i materialy, Bd. 1 - 5 Moskva 1969, Bd. 1, S. 23, S. 34 u. a. 2 0 4 Industrializacija i, S. 25, 4off. 205 Industrializacija 2, S. 80, S. 26. 206 Alexander Tschajanow, Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft, Neuauflage Frankfurt 1987; HansHeinrich Nolte, Was waren Bauern? Erinnerungen an einen westöstlichen Diskurs und eine (begriffsgeschichtlich) einsetzende Katastrophe, in: ZWG 8.2 (2007), S. 33-58. 207 Donald J. Male, Russian Peasant Organization before Collectivization, Cambridge 1971.
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Sozialismusversuche
Die Bauern lebten im ersten Jahrzehnt nach der Revolution verhältnismäßig gut, denn die Gutsbesitzer waren fort. Aber sie besaßen wenig, was man für eine ursprüngliche Akkumulation hätte nutzen können - abgesehen davon, dass sie Kartoffeln und Roggen für die Städter produzierten. Die Bauern blieben ohne Elektrizität und wochenlang ohne Zeitung. In der »rasputica« - wegelose Zeit während der ersten Regenfälle im Herbst und dem Schneetau im Frühjahr - hatten sie fast keine Kontakte zur Außenwelt. Insgesamt lebten sie mit wenig Geld, und wenn der Staat als Monopolist der Industrie für die städtischen Waren zu hohe Preise verlangte, zogen manche Bauern mit ihren Kartoffeln lieber ein Schwein mehr groß. Die ökonomische Rationalität dieser Bauern war an den Familien orientiert und nicht an Produktivität von Boden oder Rentabilität von Inventar - lohnt es sich, einen in der Familie Holzlöffel zum Verkauf schnitzen zu lassen, weil wir ihn auf dem Feld nicht brauchen? Wie konnte die KP mit dieser riesigen Mehrheit der Bevölkerung umgehen, die in ihren Umverteilungsgemeinden lebte? Sie plante eine flächendeckende Durchsetzung von Kollektivwirtschaften (Kolchosen). Die Regierung setzte das gesamte Land, auch die Dörfer, unter einen ungeheuren Steuerdruck, wobei die Einzelwirtschaften viel höher besteuert wurden als jene, die dem Kolchos beigetreten waren.208 Einen Durchbruch erreichte die Partei aber erst, als sie 1930 erlaubte, bei einem Beschluss des Dorfsowjets für die Kollektivierung die »Kulaken« auszusiedeln, aber ihr Inventar zu behalten, also den Raub des Vermögens der »bourgeoisen« Kulaken legitimierte.209 Die zu Kulaken erklärt wurden, wurden in Kategorien eingeteilt und aktive Gegner. Etwa 400.000 Kulakenfamilien wurden aus dem Zentrum des Landes in die Peripherien im Norden deportiert, etwa ebenso viele wurden innerhalb der Bezirke umgesiedelt; da diese Familien überdurchschnittlich viele Kinder hatten, waren das 3,6 Millionen Menschen. 210 Die neuen Kolchosen organisierten die gemeinsame Feldarbeit auf großen, zusammenhängenden Schlägen. Die Arbeit der Kolchosniki auf diesem Land wurde in »Tagwerken« entlohnt, die sich nach Gewinn und Verlust der Kolchose richteten, und diese mussten nun nach dem zentralen Plan produzieren, verkaufen und kaufen - ζ. B. die Traktoren. Außerdem erhielt jeder Hof ein Stück eigenes Land, auf dem die Familie frei wirtschaften konnte und das oft die Grundlage der Ernährung bildete, vor allem durch Kuh und Kartoffeln.
208 Theodor Shanin, T h e Awkward Class, Oxford 1972 ; M. Ja. Zalesskij, Nalogovaja politika sovetskogo gosudarstva ν derevne, Moskva 1940. 209 Goehrke, Alltag, Bd. 3, S. 30f. 210 So die Zahl bei Bernd Bonwetsch, Der GULAG und die Frage des Völkermords, in: Baberowski, Moderne Zeiten, S. 111-144, hier S. 117.
Zwangsarbeit
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Die Kollektivierung ermöglichte vor allem mehr Kontrolle. Das Land lieferte Getreide - und nahm ab, was immer die Stadt produzierte. Dass diese Agrarverfassung viel produktiver war als die alte, gibt selbst die sowjetische Statistik nicht an. Außerdem kam während der Kollektivierung viel Vieh um, das nicht angemessen versorgt wurde. Der Mangel an Großvieh führte zu einem Mangel an Dünger, da es chemischen Dünger kaum gab. 1932/33 verhungerten sieben bis acht Millionen Menschen vor allem in Getreideanbaugebieten - der Ukraine, an der Wolga und im Kaukasus. Regierung und Partei hielten die niedrigen Ernten für Sabotage und bestanden auf den hoch festgelegten Abgaben. 1933 fehlte dann sogar das Saatgut. 211
Zwangsarbeit Im Einklang mit der Tradition der meisten europäischen Staaten hat auch das zaristische Russland Zwangsarbeit als Strafe verhängt, und viele bolschewistische Führer hatten sie am eigenen Leibe erlebt. Nach der Oktoberrevolution wurde das hier zugrunde liegende Prinzip »Besserung durch Arbeit« weitergeführt; 212 nicht nur die Justiz, sondern auch der Staatssicherheitsdienst (OGPU, ab 1934 N K W D ) konnten Verurteilte in »Arbeitsbesserungslager« (ITL) schicken, auch um neue »Gebiete zu kolonisieren und die Ausbeutung ihrer Naturschätze durch Zwangsarbeit zu ermöglichen«. 213 Mit der Einrichtung des Kommissariats des Innern ( N K W D ) auf der Ebene der Union 1934 (bis dahin gab es nur N K W D S der Republiken) und der Organisation einer zentralen Verwaltung der Lager in diesem >Ministerium< entstand der » G U L A G « im geläufigen Sinn. Zu den Verurteilten kamen die Deportierten hinzu, anfangs also vor allem Kulaken. 214 Nach den heute zugänglichen Statistiken stieg die Belegung der Lager zwischen 1930 und 1938 von 0,2 auf über 2, sank dann bis 1943 auf 1,2 und erreichte 1948 ihre höchste Zahl mit 3,5 Millionen. Die Sterblichkeit in den Lagern lag meist bei 2 bis 5 % im Jahr, eine für Männer mittleren Alters, die hauptsächlichen Insassen, sehr
211 Vgl. Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 1 9 9 4 , S. 1 9 7 - 2 0 3 ; KGR S. 2 3 4 . 212 Viktor Funk u. a., Zwangsarbeit im Gulag, in ZWG 3 . 2 ( 2 0 0 2 ) S. 2 5 - 4 6 ; M. B. Smirnov Hg., Sistema IspravitePno trudovykh lageraj Ν SSSR 1 9 2 3 - 1 9 6 0 , Moskva 1 9 9 8 . 213 Α. I. Kokurin, Ν. V. Petrov (Hg.), GULAG, Moskva 2 0 0 0 , Nr. 1 6 . S. 6 4 . 214 Eindrucksvolle Beschreibung in Anne Applebaum, Gulag ( 2 0 0 3 ) , London 2 0 0 4 , S. 4 0 - 5 8 , mit Kartenskizze des Archipels; Ubersicht Ralf Stettner, >Archipel G U L A G C Stalins Zwangsarbeitslager, Paderborn 1996. Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Solovecki, in: Martin Stöber, Karl H. Schneider, Olaf Grohmann (Hg.), Insel-Reflexionen, Carl-Hans Hauptmeyer zum 6 0 . Geburtstag, Hannover 2 0 0 8 , S. 6 5 - 7 0 ; Poljan, migracii, S. 6 2 - 8 4 .
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Sozialismusversuche
hohe Todesrate. 1933 stieg sie auf 15 % und in den Kriegsjahren 1942 und 1943 auf 25 % bzw. 22 % ; 215 in den Jahren der Hungersnot 216 gehörten die Häftlinge (ähnlich den Alten und den Kindern) zu den sozial Schwächsten, die am ehesten nicht mehr versorgt wurden.217 Quantitativ hat die Zwangsarbeit beim Holzeinschlag, bei Verkehrsbauten und beim Abbau einiger Rohstoffe (Steinkohle von Workuta, Gold in Sibirien) sicher Bedeutung besessen, aber volkswirtschaftlich war sie nicht effektiv, nicht nur wegen der hohen Verluste an Arbeitskraft: Die Produktivität lag fast immer unter dem Soll. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Zahl der Häftlinge durch die wegen Kollaboration verurteilten Menschen noch einmal anstieg, wurden zwar die Ernährung verbessert und Lohn gezahlt, um die Motivation zu erhöhen, 218 aber trotzdem wurden 1953 die Lager aus der Zuständigkeit des Staatssicherheitsdienstes genommen und den jeweiligen Fachministerien übergeben, der G U L A G als Wirtschafts- und Machtinstitution aufgelöst. Am Prinzip, Verbrecher, aber auch Oppositionelle durch Arbeit zu »bessern«, hielt die sowjetische Justiz aber fest.
Verlauf
Nach den Angaben des Statistischen Zentralamtes der Union von 1972 wuchs die Volkswirtschaft der U D S S R folgendermaßen:219 1940
1950
1960
Nationaleinkommen
1922
11
19
50
1970 99
Industrie
23
41
123
279
Abteilung A
45
92
299
715
Abteilung Β
13
13
44
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Landwirtschaft
2,2
2,2
3,5
4,8
215
Nr. 1 0 3 S. 4 4 1 ; Grafiken bei Funk a.a.O., S. 3 9 - 4 1 ; eindrucksvolle Fotos Thomas Kizny, G U dt. Hamburg 2 0 0 4 . 216 In Deutschland wird oft übersehen, dass die von der deutschen Führung für Russland geplante Hungersnot im Zweiten Weltkrieg wirklich stattgefunden hat. Vgl. Kapitel 18. 217 Wigbert Benz, Das Hungervorhaben, erscheint in : Kremb, Weltordnungsmodelle. 218 Elena S. Tjurina, Die Rolle der Zwangsarbeit in der Wirtschaft der UdSSR, in : Dittmar Dahlmann, Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation, Essen 1 9 9 9 , S. 2 6 7 - 2 7 8 . 219 Central'noe statisticheskoe Upravenie (Hg.), Narodnoe Khozjajstvo SSSR, Moskva 1972, S. 47. GULAG LAG,
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Verlauf
Es ist davon auszugehen, dass die Daten geschönt sind, dass die u d s s r bis zum Jahr 1940 einen industriellen Aufbau erreicht hat,220 wird von der internationalen Forschung jedoch nicht bestritten. Auch wenn es 1926 keine kapitalistische Macht gab, welche unmittelbar die Eroberung der u d s s r plante, wird man die äußere Bedrohung nicht bloß als vorgetäuschtes Argument verstehen; eine Territorialmacht konnte schwerlich damit anfangen, Montanindustrie aufzubauen, wenn ein Gegner an der Grenze stand. Jedenfalls hätte die u d s s r ohne das Kuzbas - das vom 2. Fünfjahresplan an aufgebaute Kuzneckij Bassejn, das die Kohle für die neuen Hütten des Ural lieferte - den Zweiten Weltkrieg kaum überstanden. So konnte sie im ersten Halbjahr 1942 mehr Waffen produzieren als im zweiten Halbjahr 1941. 2 2 1 Auch dass die positive Entwicklung der Gesamtwirtschaft nach den enormen Verlusten während des Zweiten Weltkriegs bis in die 7oer-Jahre weiterging, ist nicht strittig. Der Wiederaufbau führte seit den sechziger Jahren zu einem wachsenden, wenn auch bescheidenen Wohlstand der sowjetischen Bürger - zur Linderung der Wohnungsnot durch den Bau von Hochhäusern und zu erster Verbreitung von Kühlschrank und Fernsehen:222 1964, je 1.000 E
Pkw
Kühlschränke
Waschmaschinen
USA
362
284
207
BRD
143
166
tie
4
20
36
UDSSR
Man kann dahin zusammenfassen, dass die nachholende Industrialisierung in der Sowjetunion funktioniert hat - trotz der Zwangskollektivierung, - trotz der Zwangsarbeit, - obgleich die Finanzierung nicht aus irgendwelchem ausländischen Kapital kam, sondern aus dem Budget. Die nachholende Industrialisierung hat keineswegs dazu geführt, dass die u d s s r die fortgeschrittensten Industrieländer »einholt und überholt«, wie Stalin gehofft hatte. Aber der geringere Wohlstand wuchs ziemlich gleichmäßig. Bei meinem ersten Be-
220 Tabelle KGR, S. 234, Kartenskizze, S. 238. 221 Nolte, Überfall, S. 1 7 1 . 222 KGR, S. 287, Vergleich der Angaben verschiedener westlicher Institutionen ebenda, S. 330; Fischer Weltalmanach 1966, S. 309.
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Sozialismusversuche
such 1966 wurde in den neuen Hochhäusern, auf die man stolz war, fiiir vier Wohneinheiten eine Sanitäreinheit geplant, in den letzten Jahren der sowjetischen Gesellschaft hatte nicht nur jede Wohnung ihr eigenes Bad, sondern überall wuchsen auch die Garagenstädtchen, weil immer mehr Sowjetbürger genug Geld für ein kleines Auto hatten. Der Gürtel der Datschen wuchs vor den Städten her immer weiter ins Land hinein. Trotz solcher Fortschritte ist die U D S S R 1989/91 gescheitert. Woran?
Erfolge und Grenzen
ι. Das wichtigste Instrument zur Gestaltung der sowjetischen Wirtschaft war der Plan. Er wurde in einem sehr differenzierten Verfahren erarbeitet, bei dem viele Werke und Gremien ihre Meinungen einbringen konnten, letztlich entschieden wurden die einzelnen Positionen aber von der zentralen Planbehörde Gosplan und der K P D s u , 2 2 3 die behaupteten, dass der Plan allein auf wissenschaftlichen Daten beruhe, man also nicht über ihn abstimmen könne. Aber warum kostete 1988 Erdöl in der U D S S R nicht einmal ein Drittel des Weltmarktpreises, Weizen aber mehr als das Doppelte und pes mehr als das Sechzigfache (KGR, S. 364)? De facto waren in die Angaben im Gosplan eine Menge vorwissenschaftlicher Setzungen eingegangen. 2. Die Stärke parlamentarischer Systeme liegt darin, dass in ihrem Rahmen (unter Umständen) verschiedene Gruppen ihre Interessen deutlich machen und zu einem politischen Kompromiss finden ; das Risiko darin, dass dieser auf Kosten derer geht, die nicht vertreten sind. Interessengruppen im Sozialismus224 konnten keine Diskussion über Richtungsentscheidungen führen, also blieben Differenzen unentschieden. Wichtiger als berufliche225 waren die verschiedenen nationalen Gruppen,226 die oft in den Kulturverwaltungen der Republiken organisatorische Schwerpunkte hatten. Immer größere Teile der Eliten wandten sich von dem sozialistischen Modell ab. Diese
223 Heiko Haumann, Grundlagen der sowjetischen Wirtschaftsverfassung, Meisenheim 1977. 224 H. Gordon Skilling, Franklyn Griffiths (Hg.), Pressure Groups in der Sowjetunion, dt. W i e n 1974 (im englischen Titel : Interestgroups) ; Boris Meissner, Georg Brunner (Hg.), Gruppeninteressen und Entscheidungsprozess in der Sowjetunion, Köln 1975 ; kurz Hans-Heinrich Nolte, Gruppeninteressen in der Sowjetunion, in: Gegenwartskunde 26.2 (1977), S. 1 4 5 - 1 5 4 ; jetzt Derichs/Heberer, S. i4f. 225 Hans-Heinrich Nolte, Gruppeninteressen und Außenpolitik. Die Sowjetunion in der Geschichte internationaler Beziehungen, Göttingen 1979. 226 Hélène Carrère d'Encausse, Risse im Roten Imperium, dt. W i e n 1979; vgl. kurz Nolte, Gruppeninteressen, a.a.O., S. 203-210; grundlegend Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986.
Erfolge und Grenzen
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nationalen Eliten (allen voran die russischen) haben die Union schließlich 1991 gesprengt; in Russland stammen 77 % der neuen Staatselite aus der kommunistischen Nomenklatur.227 3 . Durch die Teilhabe am Sieg über Deutschland wurde die u d s s r verleitet, ihre Macht weithin mit Waffengewalt bis zur Werra und ihr sozialökonomisches Modell auf Länder oder Landesteile auszudehnen, welche zum Kern des kapitalistischen Weltsystems gehörten und für die keine nachholende Industrialisierung denkbar war.228 Unpassendes Entwicklungsmodell und Fremdherrschaft förderten grundlegende Kritiken - ζ. B. 1968 in den Reformentwürfen der tschechischen Reformer. In den 7oer-Jahren glaubte die sowjetische Führung trotzdem, die kapitalistischen Zentrumsmächte in deren Hinterhof, in Afrika, herausfordern und 1979 in Afghanistan intervenieren zu sollen. Man verstand »Parität« mit dem Westen militärisch, und die u d s s r gab folglich einen viel zu hohen Anteil ihres b s p für Rüstung aus; Schätzungen gehen bis zu 20 %, aber auch wenn es nur 15 % waren, war das dreimal so viel wie in den usa.229
4. Mit dem Ubergang zur Fertigung von Industriewaren mit und durch Computer ging ein weltweiter Einkommensverlust der Arbeiterschaft zusammen, während zugleich die Wohlhabenden höhere Einkommen erzielten. Eine Politik der Reallohnminderung war im sowjetischen System jedoch nicht durchsetzbar, weil es (wenn auch oft nur formale) Vollbeschäftigung gab und die sowjetischen Arbeiter weder Lohndrückerei noch Produktionsbeschleunigungen zuließen.230 Im Rahmen des Plansystems hatten sie mit Langsamarbeit ein starkes Mittel in der Hand, und sie arbeiteten nur schnell, wenn Konsumgüter angeboten wurden, die sie kaufen konnten. 5. Per definitionem ist nachholende Industrialisierung ein Vorgang, der hinter dem Ursprungsvorgang »hinterher rennt«. Gewiss ist es einige Male passiert, dass ein Land nachholender Industrialisierung das Ursprungsland überholt, so vielleicht mit Deutschland und jedenfalls mit den usa gegenüber Großbritannien. Die Regel ist aber, dass das Land weiterhin hinterherläuft, und zwar einfach, um in der Reihe der
227 Boris Reitschuster, Putins Demokratur, Berlin 20072, S. 43. 228 Jan Foitzik, Sowjetische Hegemonie; Ulrich Mahlert, Schauprozesse, in: APuZ 6. 9. 1996, S. 29-46. 229 Christopher Davis, Interdependenz des Verteidigungssektors und des Zivilsektors, in: Ders. u. a. (Hg.), Rüstung, Modernisierung, Reform, Köln 1990, S. 61-90. 230 Wolfram Schrettl, Konsum und Arbeitsproduktivität, in: Barbara Dietz (Hg.), Zukunftsperspektiven der Sowjetunion, München 1984, S. 42-64.
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Sozialismusversuche
nachholenden Länder zu bleiben: »you got to run to stay in place.« 231 Die Sowjetunion hätte auch den Ubergang zur computergesteuerten Produktion nachholen können, trotz des amerikanischen Verbots des Exports von Computern und Teilen davon über die CoCom-Liste. Für diese weitere nachholende Industrialisierung hätte die sowjetische Führung aber aus der Rüstung oder dem Konsum Mittel abziehen müssen. 6. Ein Vergleich mit anderen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts232 ergibt, dass die sowjetischen zu den größten gehören. Sie erschrecken deswegen besonders, weil sie im Namen einer um Aufklärung bemühten Theorie begangen wurden. Diese Verbrechen, hatte man sie einmal zugegeben, erforderten eine radikale Änderung der politischen Verfassung. Das von Lenin propagierte Prinzip der Aufhebung der Gewaltenteilung war diskreditiert, weil es die Massenverbrechen nicht behindert, sondern eher gefördert hatte. Der Aufbau eines unabhängigen Rechtssystems war unabweislich - und damit die Zurücknahme eines der Verfassungskonzepte des Rätestaats.
Die Linke im Westen
Die U D S S R oder zumindest die stalinische Führung setzte nach 1945 auf die europaweite Kritik am Kapitalismus und den Glauben an die Überlegenheit des eigenen Systems. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete der Kommunismus in West- und Südeuropa eine breite Bewegung. In Frankreich war die KPF 1946 die größte Partei mit einem Viertel aller Stimmen, in Italien erhielt die KPI bis zu einem Drittel. In Griechenland führte die KP die Nationale Befreiungsfront im Guerillakampf gegen die Wehrmacht an. Nur durch britische militärische Intervention gelang es, die Monarchie in den wichtigen Städten durchzusetzen - das flache Land blieb noch unter der Kontrolle der Befreiungsfront, bis die USA, die 1946 eine permanente Flotte im Mittelmeer einrichteten, 1947 bei der Unterstützung der Monarchie an die Stelle Großbritanniens traten. In Deutschland und Großbritannien vertraten demokratische Parteien sozialistische Positionen : die Sozialdemokratie, aber auch Gruppen der Christlichen Union sowie Labour. Die USA verboten als Besatzungsmacht eine Sozialisierungsklausel für Grundstoffindustrien und Banken in Hessen und nutzten die wirtschaftliche Uberfor-
231 Das Zitat stammt aus Alice : Behind the looking-glass. 232 Hans-Heinrich Nolte, Pavel Poljan, Massenverbrechen in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland, in: ZWG 2.1 (2001), S. 125-148. Baberowski, Terror; Karl Schlögel, Terror und Traum, Moskau 1937, Berlin 2008; Bernd Bonwetsch: Der >Große Terror< 70 Jahre danach, in: ZWG 9 . 1 (2008), S. 1 2 5 - 1 4 5 .
Die Linke im Westen
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derung Großbritanniens, um die Zustimmung zur marktwirtschaftlich verfassten »BiZone« aus englischen und amerikanischen Besatzungszonen durchzusetzen. Nationalisierungen wie in England führten aber nicht zum wirtschaftlichen Erfolg - anders als das Programm der European Recovery unter amerikanischer Führung. In Japan 233 haben die USA nach dem Sieg anfangs die Entstehung von Gewerkschaften gefördert, als diese aber dem ökonomischen Wiederaufstieg im Weg zu stehen schienen, sie auch wieder eingeschränkt. Auch das Programm der Entflechtung der zehn japanischen Konzerne (zaibatsu), welche 90 % der Wirtschaft kontrollierten, wurde 1947 aufgegeben. Mit dem Beginn des Koreakriegs und der Konjunktur verloren die Kommunisten ihre nur kurzzeitig wichtige Position. Sozialismus als Alternative in seinen verschiedenen und einander feindlichen Formen verlor in den erfolgreich industrialisierten Ländern insgesamt an Bedeutung. Die Sozialdemokraten zogen daraus die Konsequenz, sich von Sozialisierungsplänen zu verabschieden - an erster Stelle die SPD 1959. Aber trotz der Konjunktur gab es genügend Punkte der Kritik am Kapitalismus. Die USA intervenierten vornehmlich in Lateinamerika, aber auch darüber hinaus in fast allen Weltregionen, oft unmittelbar auf Wunsch von großen Firmen. Insbesondere die Intervention in Vietnam führte zu Protesten. Die kapitalistische Supermacht hatte so viele Fehler gemacht, dass 1968 zum Jahr des Umbruchs wurde. Viele Amerikaner verweigerten dem amerikanischen Krieg die Gefolgschaft, junge Leute desertierten und verbrannten ihre Militärpässe. Die Demokratisierung der Hochschulen hatte viele Studenten an die Hochschulen gebracht, die nicht aus der alten Bourgeoisie stammten. Die Vereinigung »Students for a Democratic Society« (sos) forderte mehr Partizipation und unterstützte die Vietnamesen. Erst nach dem amerikanischen Rückzug aus Vietnam »ebbten die revolutionären Massenbewegungen ... im Angesicht von Militär- und Polizei-Repression, von Widerstand der Bürokratien und zäher Feindschaft von Oberschichten-Macht ab«.234 Hinzu kam die Unterdrückung der Afrikaner in den USA. Seit 1955 hatten Afroamerikaner im Süden der USA begonnen, bewusst die Regeln der Rassentrennung zu durchbrechen. Neben die Führung durch auf Gewaltlosigkeit drängende Pastoren wie Martin Luther King (vgl. Kapitel 16) traten Anhänger einer gewaltsamen Befreiung wie Malcolm X, der 1965 ermordet wurde. Um den auf den Mord folgenden Rassenaufstand von Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, niederzuwerfen, musste Kalifornien 16.000 Mann Polizei und Nationalgarde zusammenrufen. 1967 trat auch King gegen den Vietnamkrieg auf - am 4. April 1968 wurde er ermordet.235 233 Heller, Cold War, S. 52-56. 234 Heller, Cold War, S. 193. 235 Martin Luther King Jr., Why we can't wait (1963), Neuausg. New York 1968.
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Sozialismusversuche
Die Krise Amerikas wurde in der westeuropäischen Linken als Bestätigung marxistischer Positionen verstanden - in einer an der »Frankfurter Schule« orientierten Form, die sich auf den ζ. B. für Pressefreiheit kämpfenden »jungen Marx« bezog und für Räte, für Mitwirkung am Arbeitsplatz plädierte. Wie in den USA war auch in Frankreich die Zahl der Studenten außerordentlich angestiegen. Amerikanische Geschäfte wurden angegriffen, zuerst der Campus von Nanterre, dann die Sorbonne besetzt. Die Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Studenten, und Mitte Mai 1968 befand sich ganz Frankreich im Streik. Aber nach Verbesserungen im Arbeitsrecht ließ sich die Bewegung abfangen; wo Räte in Unternehmen gegründet worden waren, wurden sie aufgelöst.236 Die Revolte von 1968 hat im Westen vor allem eine Veränderung des intellektuellen Klimas und des Habitus bewirkt - hin zu einer stärker partizipatorischen Demokratie, zu Kritik von »big business«, zu freundlicheren und weniger auf Hierarchie bedachten Umgangsformen sowie Aufweichung der Abgrenzungen der alten Eliten nach unten. Diese Veränderungen waren so grundlegend, dass ein konservativer Aufsteiger des 21. Jahrhunderts, der französische Präsident Sarkozy, zum Jahrestag 2008 immerhin vorschlagen konnte, die Revolte »ein für alle Mal zu vergessen« - wer oben angekommen ist, lässt sich ungern fragen, ob er ohne 1968 als Nichtabsolvent einer der französischen Eliteschulen denn eine Chance gehabt hätte, Präsident zu werden.237 In Deutschland wäre es ohne 1968 wohl nicht möglich gewesen, die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen offen und bis zu einem gewissen Grad der »Bewältigung« zu treiben.238 Der Westen wurde liberaler. Aber ein strukturell abweichendes Modell von Gesellschaft wurde nicht realisiert: Was an marxistischen oder auch syndikalistischen Alternativmodellen zeitweise viele Anhänger fand, zerrieb sich entweder nach einigen Jahrzehnten am alltäglichen Widerstand einer kapitalistischen Umwelt, in der es vielen recht gut ging, oder führte einige in die Isolation des Terrorismus.
Rohstoffkonjunktur und Aufstieg der U d S S R
Im Gegensatz zu den radikaldemokratischen Zielen der »68er« blieb die U D S S R eine Diktatur, in welcher das Parlament der Sowjets - auf Zeit und von einem Distrikt,
2 3 6 Texte: Angelika Ebbinghaus (Hg.), Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, W i e n 2008. 237 Aujurd'hui en France 2 9 . 4 . 2008, zitiert nach Revue de la Presse 55.6 Quin 2008), S. 1. 2 3 8 Alexander Boroznjak, Erinnerung für Morgen. Deutschlands U m g a n g mit der ν s-Vergangenheit aus der Sicht eines russischen Historikers, dt. Gleichen 2006.
Rohstoffkonjunktur und Aufstieg der U d S S R
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aber nach Einheitsliste gewählt - wenig zu sagen hatte und die K P D S U alle wichtigen Entscheidungen traf. Im Zentrum der Partei regierte ein Zirkel von immer älter werdenden Männern unter der Führung von Leonid Breschnew. Die kritische Theorie des Marxismus war im Sowjetmarxismus zu einer affirmativen Ideologie geworden.239 Die Aufarbeitung der Geschichte musste in literarischer Form geschehen, und obgleich Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Ivan Denisovich« in der U D S S R erschien, konnte sein »Archipel Gulag« nur im Ausland publiziert werden. Im Lande war der Roman nur in Abschriften des »Samizdat« bekannt. Weil immer mehr Sowjetbürger Universitäten und Hochschulen besuchten, weil Gesellschaft und Wirtschaft immer komplexer wurden und weil die Umwelt der U D S S R sich veränderte, wurde jedoch das Informationsmonopol durchlöchert, der zunehmende Austausch mit dem Westen240 stellte das Bild vom »absterbenden Kapitalismus« infrage, und der Moskauer Vertrag 1970 zwischen der Bundesrepublik und der U D S S R ließ sich mit dem Feindbild des drohenden »deutschen Revanchismus« schlecht vereinen.241 Die zentrale Planung hatte nicht nur den Nachkriegsaufbau bewältigt, sondern auch in den Jahrzehnten zwischen 1951 und 1985 (nach den Berechnungen der CIA) stetige Zuwachsraten erreicht, die allerdings von 5,1 % auf 1,8% jährlich sanken.242 Neue Industriezweige wurden aufgebaut, wie die Atomindustrie, die Pkw-Fertigung und die Erdgasindustrie. Das Land wurde mit einem Netz von Pipelines überzogen, die Staatslinie Aeroflot flog preiswert auch in den letzten Winkel, der U D S S R kam der Boom der Brennstoffpreise seit den 7oer-Jahren zugute. Die U D S S R musste sich nur wenig auf den internationalen Finanzmärkten verschulden, sondern konnte den Mitgliedern des RGW Subventionen geben, indem die Preise für Brennstoffe nur langsam an die Weltmarktpreise angeglichen wurden.243 Allerdings: Gerade wenn man diese »normalen« Fortschritte einer auf Rohstoffexporte spezialisierten, halbperipheren Ökonomie betont, muss man festhalten, dass sie mit dem Pathos der Selbstdarstellung - man führe die Welt zum Sozialismus - nicht vereinbar war. Es gab durchaus Bereiche, in denen die U D S S R wirklich solidarischer war als manches Land im Westen, z. B. hatten alle Firmen und Institutionen Kinderkrippen, und das Bildungssystem förderte als koedukative Stufenschule auch die schwachen Schüler. Frauenarbeit war normal, und Frauen stellten an den Universi-
239 Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln 1967. 240 Yale Richmond, Kultureller Austausch und Kalter Krieg, in: ZWG 6.2 (2005), S. 83-94. 241 Hans-Heinrich Nolte, Gruppeninteressen und Außenpolitik, Göttingen 1979. 242 R. Stuart, P. A. Gregory, T h e Russian Economy, N e w York 1995, S. 36. 243 Dies, ebenda, S. 102.
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Sozialismusversuche
täten und Hochschulen gut die Hälfte der Absolventen, selbst in Berufen wie Ingenieur, die im Westen Männerdomänen geblieben sind. Allerdings schlug nach dem Examen und nach einer Mutterschaft die sozialistische Form der Doppelbelastung voll zu : Karriere machten die Männer. Auf die eine oder andere Weise waren eben alle jenen Enttäuschungen ausgesetzt, die sich aus der Differenz zwischen den riesigen Ansprüchen und dem Alltag ergaben.244 Gläubige Menschen konnten in dieser Gesellschaft keine Karriere machen, weil das Bekenntnis zum Atheismus dafür Voraussetzung war,245 und kritische Intelligenz war unerwünscht. Wer den Gegensatz zwischen der Gleichheit betonenden Ideologie und Privilegien der Funktionäre hervorhob, wer sich nicht damit abfand, dass die Verbrechen der Vergangenheit unter den Teppich gekehrt wurden, wer die Unzuverlässigkeit der Informationen über das eigene Land und den Rest der Welt hasste, wer gar bestimmte konkrete Informationen über Fehler des Systems verbreitete (etwa über das große Unglück mit atomarem Müll im Ural), der konnte verurteilt werden und wurde isoliert.
Polen
Die sozialistische Macht in Polen246 stand von Anfang an auf wackeligen Füßen, da die Kommunisten im Land nur wenige Anhänger hatten und auch durch ihre Vereinigung mit den Sozialdemokraten zur »Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei« ( P V A P ) 1948 nicht die Masse der Bevölkerung hinter sich bringen konnten. Da nach einer Einheitsliste gewählt wurde, konnte die beherrschende Stellung der katholischen Kirche nur durch Demonstrationen deutlich gemacht werden - wie durch die Wallfahrt von über einer Million Menschen zur Muttergottes von Tschenstochau 1956. Die Wahl des Erzbischofs von Krakau, Karol Wojtyla, zum Papst 1978 stärkte die polnische Kirche weiter und verschaffte ihr internationalen Einfluss. Die säkulare Intelligenz in Polen besaß wegen des Patts zwischen politischer Macht und Kirche mehr intellektuelle Freiheit als anderswo, sodass Jacek Kuron und Karol Modzelewski hier 1964 die erste kritisch-marxistische Analyse des real existierenden Sozialismus »von innen« vorlegen konnten : Da eine kleine bürokratische Schicht über die Produktionsmittel verfügte, bestimmten sie das sowjetische und polnische 244 Goehrke, Alltag, S. 3. 245 Hans-Heinrich Nolte, Religiosität und Unterschicht in der sowjetischen Gesellschaft, in: Gegenwartskunde 1981, 2, S. 177-186. 246 Darstellungen : Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003 ; J ö r g K . Hoensch, G e schichte Polens, München 1998 3 ; aus sowjetpolnischer Sicht Wladyslaw Gòra, Volksrepublik Polen, dt. Berlin 1979; heute Wojciech Roszkowski, Historia Polski 1914-1990, Warszawa 1991.
Polen
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Modell als Monopolsozialismus.247 Wirtschaftlich hatte Polen, nach dem Anfangsschwung, der durch die Integration der neuen Westgebiete erreicht worden war, auch deshalb Probleme, weil der wichtigste im Land geförderte Rohstoff Kohle international an Wettbewerbsfähigkeit verlor. Die Landwirtschaft in den altpolnischen Gebieten blieb durch ländliche Uberbevölkerung gekennzeichnet - zu viele Bauern hatten zu kleine Wirtschaftsflächen. Die Arbeitsproduktivität sowohl in der Landwirtschaft als auch in den neuen Industrien blieb gering, Lebensmittel mussten eingeführt werden, und als die polnische Regierung die Preise fur Lebensmittel erhöhen wollte, kam es zum Streik - schon 1956, aber dann auch 1970. Die neue Regierung unter Edward Gierek versuchte, mit Anleihen im Westen leistungsfähigere Industrieanlagen zu finanzieren, die dann durch Exporte in den Westen die Schulden abbezahlen sollten. Polen versuchte also, sich durch billigere Löhne bei vergleichbarer Technik auf der »verlängerten Werkbank« der Weltwirtschaft zu etablieren. Polnische Produkte konnten aber in dem geplanten Umfang im Westen nicht verkauft werden, und nach der Wirtschaftskrise 1973 explodierten die polnischen Schulden. 1988 war das Land für 38,9 Milliarden us $ verschuldet, sodass auf jeden der damals 37,8 Millionen Einwohner etwa 1.000 $ Staatsschulden kamen. In der Politik wurde die wirtschaftliche Krise des Monopolsozialismus zur Voraussetzung für die regierungskritische polnische Arbeiterbewegung, welche, gestützt auf die Kirche, die Schwäche der PVAP manifest machte. Die staatsfreie Gewerkschaft »Solidarität« (Solidarnosc) führte 1980 angesichts einer neuen Preiserhöhung, von Gdansk ausgehend, die Bevölkerung erneut in einen Streik. Die Reaktion der Partei, welche Polizei einsetzte und schließlich 1981 zum Instrument der Militärdiktatur griff, konnte die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft in Polen nicht mildern, und nach neuen Streiks wurde am 24. August 1989 Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten seit dem Krieg gewählt. Wenig später erklärte die PVAP selbst den Sozialismus für gescheitert.248 Der »auf Negierungen beruhende vorübergehende Scheinkonsens«249 der polnischen Gesellschaft gegenüber dem Kommunismus brach nach dessen Niederlage fast sofort auseinander. Wohin sollte Polen gehen ? Das Crash-Programm des Ubergangs zur Marktwirtschaft in kurzer Zeit konnte Rezession, Hyperinflation und den Zusammenbruch der Staatsfinanzen nicht verhindern. Das Land konnte auf dem Weltmarkt vor allem seine Arbeitskraft anbieten. Durch Emigration hatten schon seit den
247 Jacek Kuron, Karol Modzelewski, Monopolsozialismus, dt. Hamburg 1969. 248 Melanie Tatur, Solidarnosc als Modernisierungsbewegung, Frankfurt 1989. Vgl. Judt, Postwar, S. 559— 608. 249 Jerzy Holzer, Polen, in: Weidenfeld, Marktwirtschaft, S. 129-142, Zitat S. 137.
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Sozialismusversuche
i98oer-Jahren Hunderttausende von Ingenieuren, Architekten etc. das Land verlassen, jetzt zogen Saisonarbeiter in den Westen. Durch die Aufnahme in die EU verbesserten sich die Chancen Polens, aus dem Zusammenbruch hinauszukommen; nicht nur, weil Brüssel einen beträchtlichen Teil der Infrastrukturkosten übernahm, sondern auch, weil die Arbeitskräftewanderung auf weniger Hindernisse stößt. Die jährlichen Zuwachsraten der polnischen Wirtschaft stiegen auf 5 %. 250 Außenpolitisch machte sich Polen zum festen Bundesgenossen der USA, womit es zugleich Hoffnungen auf eine Einigung Europas gegenüber dem Hegemon unterlief - es folgte Amerika im Irakkrieg und trug durch den Vertrag zur Aufstellung amerikanischer Raketen in Polen zur Verschärfung der Abgrenzung gegenüber Russland bei.
Prager Frühling
Die Hoffnung, trotz der Begrenzungen der Ergebnisse im Westen werde »1968« ein Signal für eine Erneuerung des Sozialismus werden, wurde vor allem nach dem Prager Frühling begraben. Die Tschechoslowakei ( C S S R ) war neben der D D R das einzige hoch industrialisierte Land, das 1945/47 z u r Volksdemokratie geworden war. Es gab eine alte und auch zahlenmäßig starke linke Intelligenz. Sie sah, dass die tschechische Wirtschaft hinter dem Westen zurückblieb, und forderte mehr marktwirtschafdiche Elemente, mehr politische Demokratie und mehr Freiheit der Information. Januar 1968 wurde der Slowake Alexander Dubcek zum 1 . Sekretär der KP (CSSR) gewählt, der dieses Programm realisieren wollte. 20./21. August besetzten Truppen der U D S S R das Land, dessen Bevölkerung verbissen zivilen Widerstand leistete (vgl. Kapitel 16), ohne das Ende des Versuchs verhindern zu können, einen demokratischen Sozialismus zu begründen.251
China
Wenn es noch eines weiteren Beweises für die Krise des Sozialismus bedurft hätte, dann lieferte ihn China (vgl. Kapitel 8). 1949 hatte die Kommunistische Partei Chinas (KPCH) die Guomindang besiegt und die soziale Umgestaltung begonnen. 1950 wurden die
250 Dariusz Adamczyk, EU-Osterweiterung versus Rekolonialisierung, in: ZWG 6.2 (2006), S. 1 1 5 - 1 2 4 ; kritisch Hofbauer, Osterweiterung. 251 Einfuhrend Jiri Kosta, Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei, Frankfurt 1978; grundlegend H . Gordon Skilling, Czecholovakia's Interrupted Revolution, Princeton/NJ. 1978.
China
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Gleichstellung der Frau beschlossen und die Landreform auf das ganze Land ausgedehnt, wodurch die Zahl der Kleinbauern erhöht wurde, bald aber mit der Kollektivierung begonnen. Der Besitz an Produktionsmitteln wurde abgeschafft und 1953 der erste Fünfjahresplan angegangen, der nach dem sowjetischen Modell hohe Zuwachsraten in den Grundindustrien brachte. Der Vorsitzende der K P C H , Mao Zedong,252 ergriff 1958 die Initiative zum »Großen Sprung nach vorn«: Die 750.000 Kollektivfarmen wurden in 24.000 Volkskommunen zusammengefasst, die bis zu 5.000 Haushalte umfassten und ihre Energie der Erzeugung von Stahl in lokalen Hochöfen zuwandten, in denen allerdings oft nur mit niedriger Qualität produziert wurde. Es kam zu einer großen Hungersnot in China, der 20 bis 40 Millionen Menschen zum Opfer fielen.253 Orthodoxe Kommunisten reorganisierten das Land und setzten Fachleute wieder in ihre Stellen ein. Mao zog sich aus der Politik zurück, initiierte 1965 mit seiner Frau und den Bundesgenossen der »Viererbande« die »Kulturrevolution«. Hunderttausende »Rote Garden« stellten Direktoren oder Professoren bloß, weil sie die Kultur des Kommunismus nicht in sich aufgenommen hätten. Ausgestattet waren sie mit dem »Roten Buch«, einer Sammlung von Mao-Sprüchen zu vielen Gelegenheiten, etwa: »Für die Volksmassen ist die revolutionäre Kultur eine mächtige Waffe.« 254 Da Kultur unmittelbar als Ausdruck von Klassenbewusstsein galt, wurden Museen und Büchereien zerstört, Archive und Tempel geplündert und vor allem »Reaktionäre« gedemütigt und geschlagen. Man schätzt, dass es 400.000 Tote gab.255 Ab 1968 griff die Zentralregierung wieder durch, und mehr als 16 Millionen Jugendliche der Garden wurden aufs Land verbannt - eine verlorene Generation.256 Der pragmatische Ubergang zu kapitalistischen Formen in der Wirtschaft unter Beibehaltung der autokratischen Führung der Partei (vgl. Kapitel 8) zeigte regionalgeschichtlich, dass China nicht so tief mit dem Sozialismusversuch verbunden war wie Russland. Globalgeschichtlich wurde deutlich, dass der Monopolsozialismus zwar für nachholende Industrialisierung in einer Anfangsphase brauchbar war, aber kein auf Dauer überzeugendes Gegenmodell zur Marktwirtschaft bot.257 252 Eine aus der Ubersetzung vom Russischen ins Deutsche übertragene Auswahl seiner Schriften : Mao Tse Tung, Ausgewählte Werke, Bde. 1-4, Berlin 1956. Die Sammlung von Leitsätzen für alle: Tilemann Grimm (Hg.), Das Rote Buch, dt. Frankfurt 1967. 253 Klein, China, S. 50f; Wim Schmitz (Hg.), China, Köln o. J. (2006), S. 180; Gerd Koenen, Alte Reiche, neue Reiche, in: Baberowski, Moderne Zeiten, S. 174-201, hier S. 187. 254 Tilemann Grimm (Hg.), Das Rote Buch. Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, deutsch Frankfurt. Ausgabe 1969, S. 133. 255 Heller, Cold War, S. 191. 256 Klein, China, S. 59. 257 Kritischer Rüdiger Frank, Der Sozialismus als alternative Modernisierungsstrategie in der Volksrepublik China und in Nordkorea, in: Linhart, Ostasien II, S. 115-132.
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D a s Scheitern d e s Monopolsozialismus
Der strukturelle Grund für das Scheitern des Monopolsozialismus war seine Unfähigkeit, jene Datenmenge zu verarbeiten, welche zur Planung einer modernen Volkswirtschaft notwendig ist. J e mehr die sowjetische und später die chinesische Wirtschaft sich differenzierten, desto mehr vielfältige und vielgestaltige Informationen hätte die Planung berücksichtigen müssen. Es gelang aber oft schon nicht, die realen Kosten ζ. B. einer Fabrik angemessen zu berechnen, geschweige denn die der Verkehrsströme und Arbeitskraftmigrationen. Kritische Stimmen in der su haben in den i97oer-Jahren, den tschechischen Reformern folgend, betont, dass der weltweite Bedeutungsanstieg der Informationsverarbeitung für die Leitung von Gesellschaften und die Produktion das sowjetische System in Schwierigkeiten bringen werde, weil dieses so weitgehend auf dem Informationsmonopol beruhte. In der Politik sei die Demokratie, in der Wirtschaft der Markt besser geeignet, um die neue Vielfalt der Informationen zu verarbeiten, als Monopole. Die 3. Industrielle Revolution trug so im Westen wie im Osten zur Krise bei, aber wo die westlichen Eliten mit der Schwächung der Arbeiterbewegung reagierten, sparten die sowjetischen an Investitionen.258 Die 1970er- und içSoer-Jahre erwiesen sich jedoch als Stagnationsperiode, es gab kaum Fortschritte in der Demokratisierung, und das wirtschaftliche Wachstum sank. Stattdessen steckte die sowjetische Führung Ressourcen in Rüstung und schließlich 1979 in die Einmischung im afghanischen Bürgerkrieg.259 Am Anfang der »Perestroika« ging es nicht so sehr um »Umbau« als um »Uskorenie«, um »Beschleunigung«.260 Gorbatschow agierte nüchtern - nicht aus dem Bewusstsein der aktuellen Krise heraus, sondern aus der Vorstellung unzureichender Geschwindigkeit erfolgreicher Entwicklung einer stabilen Gesellschaft.261 Gorbatschow 258 Roy Medwedjew, Sowjet-Bürger in Opposition. Plädoyer für eine sozialistische Demokratie, dt. Hamburg 1973, S. 195-228; Wolfram Schrettl, Konsum und Arbeitsproduktivität, in Barbara Dietz (Hg.), Zukunftsperspektiven der Sowjetunion, München 1984, S. 42-64. 259 Manfred Sapper, Die Auswirkungen der Afghanistanpolitik auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 58-75 i Piere Allan, Dieter Kläy, Bürokratie und Ideologie. Entscheidungsprozesse in Moskaus Außenpolitik, Bern 1999. 260 Etwa Vadim Nikitovic Kiricenko (Red.), Uskorenie social'no-ekonomicheskogo razvitija i perspektivnoe planirovanie, Moskva 1987; Abel Aganbeyan, Timor Tomofeyev, The New Stage of Perestroika, New York 1988. 261 Yegor Gaidar, Karl Otto Pohl, Russian Reform - International Money, Cambridge/Mass. 1995, S. 4. Die Debatte der Fachzeitschriften um die Vermehrung der Marktelemente im Sozialismus gewann erst 1988 an Bedeutung, vgl. Anthony Jones, William Moskoff (Hg.), The Great Market Debate in Soviet Economics, Armonk 1991.
Das Scheitern des Monopolsozialismus
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hoffte, durch Kampagnen gegen Korruption und Alkoholismus sowie mit langsamen Schritten in eine gelenkte Demokratie die Unterstützung der Intelligenz zurückzugewinnen und durch größere Selbstständigkeit der Unternehmen das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. Viele Subventionen - vor allem von Lebensmitteln - wurden abgebaut, aber als 1988 Kohlearbeiter streikten, konnte die Regierung ihnen nicht schnell genug entgegenkommen. 1991 explodierten die Konsumgüterpreise auf etwa 700% von 1985, ohne dass die Löhne entsprechend anstiegen, und es kam zu ersten Arbeitslosen - für die es keine Arbeitslosenversicherung gab, da die U D S S R offiziell keine Arbeitslosigkeit kannte. Außenpolitisch fand Gorbatschow den Mut zum Rückzug. Die U D S S R intervenierte nicht bei Polens Ubergang zur Demokratie und zog ihre Armeen aus Deutschland ab. Mit der Abrüstung begann Gorbatschow jedoch erst 1988 - zu spät, um für den schon in die Krise geratenen Prozess des Umbaus noch Ressourcen freizumachen.262 Inzwischen stellten die ostmitteleuropäischen Staaten die sowjetische Vorherrschaft infrage - Polen, Ungarn und die DDR. »Der deutsche Aufstand von 1989 war wohl die einzige wirklich von Massen getragene Revolution des Jahres 1989 (und in der Tat die einzige erfolgreiche Volksrevolution in der deutschen Geschichte)«, fasst Tony Judt den deutschen Anteil zusammen.263 Am 9. November 1989 wurde die Mauer in Berlin geöffnet, und am 3. Oktober 1990 war Deutschland wieder vereint. Aber wie weit sollte der sowjetische Rückzug gehen? IMF und Weltbank hatten 1990 in einem Gutachten einen radikalen, nicht mehr umkehrbaren Reformschritt gefordert und die Freigabe der Preise zur wichtigsten einzelnen Forderung gemacht,264 waren aber gerade beim Punkt Hilfen zurückhaltend geblieben. »Die ideologische Konzeption einer reinen Marktgesellschaft wurde von den postsowjetischen Eliten genau deshalb begeistert begrüßt, weil sie ein alternatives Utopia bot« - so formulierte Stephen Hanson.265 Ein Sprung in eine reine Marktwirtschaft ging nicht nur an den Möglichkeiten Russlands vorbei. In diese unsichere Lage kam am 19. August 1991 ein Putsch der konservativen Kräfte, der von den Reformern unter dem Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, genutzt wurde, um nicht nur Gorbatschow zu entmachten, sondern auch die Union aufzulösen vmd am 8. 1 2 . 1 9 9 1 die »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« (GUS) an deren 262 Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Perestrojka und Internationales System: Zur Rolle der Rüstung, in: Das A r g u m e n t 1 8 3 (Sept./Okt. 1990), S. 7 5 9 - 7 6 8 .
263 Judt, Postwar, S. 585-633, Zitat S. 616. 264 International Monetary Fund, T h e World Banc u. a. (Hg.), T h e Economy of the USSR; Summary and Recommendations, Washington/DC 1990, S. 2, 24,47-49. 265 Stephen E . Hanson, T h e Utopia of Market-Society in the Post-Soviet Context, in: Hanson/Spohn, S. 2 0 6 - 2 3 0 , Zitat S. 226.
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Stelle zu setzen. Da einerseits mehr als 25 Millionen Russen außerhalb der neuen Russländischen Föderation (RF) lebten (davon viele im Baltikum) und andererseits fast 18 Millionen Nichtrussen in der RF, wählte man den Begriff »Rossisjskij« (russländisch) und nicht »Russkij« (russisch). Die RF bekam eine Verfassung nach amerikanischem Vorbild, allerdings ohne Direktwahl der Parlamentarier, sodass die Stellung des Präsidenten gegenüber dem Parlament noch stärker ist als in den USA (Schaubild K G R , S. 421).
Das neue - alte Russland Jelzin machte anfangs einen radikalen Anhänger des Marktes zum Regierungschef, später einen der Erdölindustrie nahestehenden Mann. Nach der Freigabe der Verbraucherpreise wurde das Bruttosozialprodukt halbiert, und die Inflation stieg ins Unermessliche. Zugleich privatisierte die Regierung das Staatsvermögen, indem sie an die Bevölkerung Vouchers ausgab, welche die meisten jedoch aus Geldmangel sofort verkaufen mussten und die nur solche Personen aufkaufen konnten, welche aus früher angesammelten Beständen, aus dem Ausland oder aus Verbrechen wie Frauen- und Drogenhandel über Geld verfugten. Sie brachten das schnell erworbene Vermögen ins Ausland - zwischen 1992 und 1998 etwa 140 Milliarden us $. Die neuen Reichen steckten das Geld also keineswegs in die russische Industrie, die dringend Kapital brauchte, sondern in den Aufbau ihrer Position als neue Teilhaber der globalen Schicht von Superreichen. Im Lande selbst dagegen stieg der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze von 1991 an schnell auf etwa ein Drittel - und ging auch in der Folgezeit nur langsam auf ein Viertel zurück (Daten KGR, S. 429). Für die Bürger Russlands ist Demokratisierung also mit einer Erfahrung von Massenverarmung verbunden; dass Parlamentarismuskritik breiten Nährboden findet, liegt auf der Hand. 1999 unterstützte Jelzin als seinen Nachfolger Wladimir Putin, der ihm und seiner Familie Straffreiheit für vorangegangene Korruptionsaffären zusagte. Die russische Wirtschaft fing sich wieder, nicht zuletzt, weil der neue Präsident verhinderte, dass die russischen Erdöl- und Erdgasreserven in ausländische Hand kamen. Das trug ihm zwar die Kritik insbesondere amerikanischer Politiker ein, wird von vielen Russen aber als Voraussetzung ihrer neuen Stellung als globaler Rohstoffexporteur verstanden. 4 4 % der Erdöl- und 6 0 % der Erdgasimporte der EU stammen aus oder kommen über Russland, so wie über die Hälfte der Importe Russlands aus der EU stammen.266 266 Zentralasienstudien N r . 6, S. 9, www.laender-analyse.de/zentralasien.
Was wird aus Osteuropa?
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Die Demokratisierung wurde vor allem dadurch verlangsamt, dass die Medien teilweise von der Regierung aufgekauft, teilweise durch nicht aufgeklärte Morde an Journalisten mundtot gemacht wurden. Die Rechtssicherheit im Lande ist gering, Klientelismus und mafiose Organisationen spielen eine große Rolle.267 Die Russländische Föderation fand auch keinen Weg, mit der tschetschenischen Teilrepublik ein Auskommen zu finden, wo eine nationale und islamistische Bewegung zeitweise die Scharia in Kraft gesetzt hatte. Die militärische Unterwerfung setzte Russland ins Unrecht, nicht zuletzt durch die Ubergriffe russischer Soldateska,268 und beförderte die Entwicklung des Terrorismus. Das politische Interesse Russlands, sich gegenüber der Expansion von N A T O und EU zu behaupten, führte in die Kooperation mit China in der Schanghai-Organisation.269 Hinzu kommt, dass Russland sich von ehemaligen Mitgliedern von rgw oder wvo leicht zu militaristischem Gehabe provozieren lässt. Russland will ein eigenständiger Mitspieler in dem als polyzentrisch verstandenen Weltsystem sein und ist sich nicht nur mit China in dem Wunsch einig, die muslimische Welt, die weit nach Zentralasien hineinreicht, zu befrieden; die wirtschaftliche Dynamik Chinas bereitet jedoch auch Russland Sorgen.270 Die hohen Zuwachsraten der russischen Wirtschaft unter Putin kann man nicht in die Zukunft fortschreiben. Vielmehr bleibt das Land von der Weltkonjunktur in Energierohstoffen abhängig und ist weiterhin halbperipher - 2006 machten Bodenschätze 69 % des Wertes der russischen Exporte aus. In diesen Auseinandersetzungen geht es für Russland darum, an möglichst viele Kunden mit möglichst wenig Zwischenhändlern verkaufen zu können, während es für die EU interessant ist, ein Käufermonopol zu errichten.271
Was wird aus Osteuropa? Für die ostmitteleuropäischen Staaten hatte die Zugehörigkeit zum Ostblock eine Fremdbestimmung bedeutet, und seit den 8oer-Jahren hatte die damals noch emig267 Carsten Goehrke, Kontinuität und Wandel, in: Nolte, Transformationen, S. 7 3 - 8 2 . 268 Anna Politkovskaja, Tschetschenien, dt. Köln 2003. 269 Olaf Kirchner, Russland zwischen China und EU, erscheint in: Adamczyk, Asiatische Mächte. 270 Hans Henning Schröder, Medvedev ante portas, in: Russland Analysen 166 (13. 6. 2008) - http://www. laender-analysen.de/russland. 271 Roland Goetz, Russland - eine wirtschaftliche Großmacht? In Russland Analysen 166, a. a. O . Zu den sozialökonomischen Daten vgl. die Tabellen in Nolte, Transformationen. Skizze der Gaspipelines in: Komlosy, Ostsee, S. 2 7 3 ; vgl. Martin Winter, Jeanne Reubner, Die Kunst, an einem Strang zu ziehen, in sz 17./18. ι. 2008, S. 8.
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rierte Opposition das Konzept »Ostmitteleuropa« erneuert, das nun (wieder) allgemein wurde.272 Die ostmitteleuropäischen Staaten wollten im Augenblick des sowjetischen Rückzugs ihre Freiheit sichern und traten so schnell wie möglich N A T O und EU bei - auch wo ehemalige Kommunisten an die Macht kamen. Schrittweise wurden die Staaten bis zum Bug in die westlichen Bündnisse aufgenommen. Im Ergebnis entstand bis 2001 eine Ostgrenze der EU und der N A T O , welche großenteils der Grenze des »Cordon sanitaire« von 1918/20 entsprach. Alte nationale Stereotype werden erneuert. Und es gibt nicht nur ein offizielles Beitrittsgesuch der Türkei, sondern auch der Ukraine, Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans, aber kein russisches. Wo soll die Ostgrenze der EU verlaufen?273 Durch das Scheitern des Monopolsozialismus hat Osteuropa insgesamt an intellektueller Aufmerksamkeit verloren. Durch die Teilung hat es an politischem Gewicht eingebüßt - der Westen des Ostens gehört heute zur eu und besitzt dort nur mäßigen Einfluss, dem Osten droht die Isolierung. Russland trägt zwar noch einige Insignien der Weltmacht, ist aber keine mehr. Über meinen Vorschlag, den europäisch-islamischen Raum aufzuteilen und der EU eine eurasiatische Union gegenüberzustellen, welche in globalen Nord-Süd-Konflikten vielleicht eher vermitteln könnte,274 ist die Zeit hinweggegangen. Julia Tymoshenko, Premierministerin der Ukraine, hat dafür plädiert, Russland und die Ukraine über eine Gemeinschaft für Erdöl und Erdgas nach dem Muster der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl an die EU heranzuführen.275 Das böte vielleicht eine Alternative zur Isolation des Landes.
272 1995 wurde in Leipzig das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) eröffnet, vgl. www.uni-leipzig.de/gwzo. 273 Andre Gerrits, Nancy Adler (Hg.), Vampires Unstaked, Amsterdam 1995 ; vgl. Hans-Heinrich Nolte, Osteuropäische Welten, erscheint in EN. 2 7 4 Hans-Heinrich Nolte, Wohin mit Osteuropa in: APuZ 22. 9. 1995, S. 3 - 1 1 ; Nachdruck in: Deutscher Hochschulverband Almanach 1995, S. 1 3 3 - 1 4 4 . 275 Yulia Tymoshenko, An Answer to the Russian Question, in: T h e Economist 2009, S. 49.
6. Globale Nation und Kalter Krieg
Die USA als Sieger der beiden Weltkriege
Die U S A 2 7 6 sind seit ihrer Gründung dem Konzept des individuellen Glücks im Rahmen der Nation verschrieben. Sie opponierten gegen die Regelung der internationalen Beziehungen durch das Konzert der Mächte und traten auf, als sei jede Nation unabhängig von Bevölkerungszahl und Macht tatsächlich gleich. Daraus ergab sich eine Vorstellung von Außenpolitik als Handeln in einem anarchischen Umfeld, in dem jede Nation ihre Interessen oder Ziele durchsetzt. Zu diesen Zielen gehörte immer auch die globale Förderung der Demokratie, zu der die USA sich besonders berufen, wenn nicht auserwählt fühlten - von Truman bis Ronald Reagan und ζ. B. in der Rede Jimmy Carters vor den Vereinten Nationen am 17. März 1977. 277 Zum »Rest der Welt« sieht man sich in einem Spannungsverhältnis zwischen der Souveränität der Nationen einerseits und einem Anspruch auf die weltweite Durchsetzung bestimmter Normen andererseits. Gefordert werden freie Information, demokratische Verfassung und freie Beweglichkeit von Waren und Kapital. Weiter treten die USA fur freie Auswanderung aus anderen Ländern ein, wollen die Einwanderung in ihr eigenes aber unter Kontrolle halten. Auch innerhalb der USA gibt es beträchtliche Spannen zwischen Differenzierung und Gleichheit - Reich und Arm, »African« und »Caucasian«, urban und ländlich um drei zu nennen. Das politische System ist auf Konkurrenz angelegt; durch »checks and balances« soll erreicht werden, dass Parlament, Regierung und Justiz sich kontrollieren. Es gibt aber einen weit reichenden politisch-sozialen Konsens, der zeitweise im McCarthyismus ein breites Spektrum amerikanischer Intellektueller ausschloss. Das Wirtschaftssystem profitiert von Fruchtbarkeit und Ressourcenreichtum mancher Landesteile, von den erfahrenen und vermögenden herrschenden Gruppen sowie 276 Einführung·. Nolte, USA; Lexikon·. Udo Sautter, Lexikon der amerikanischen Geschichte, München 199J; Atlas: Helen Hornbeck Tanner (Hg.), The Settling of North America; Quellen : Irwin Unger, Robert R. lomes (Hg.), American Issues, 2 Bde. Upper Saddle River 2 0 0 0 5 , auch in: Nolte, U S A , S. i o i 1 2 3 ; Darstellungen: Willy Paul Adams, Die U S A , 2 Bde. München 2 0 0 0 ; Jürgen Heideking, Geschichte der U S A , Tübingen 1 9 9 9 2 ; Junker, U S A . 277 Text in: Kremb, Weltordnungsvorstellung.
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Globale Nation und Kalter Krieg
Schichtungen der Arbeiter nach Herkunft - Afrikaner und Latinos sind oft bereit, zu geringen Löhnen zu »jobben«. Die USA haben den Ersten Weltkrieg entschieden,278 aber sie konnten Präsident Wilsons Lösungsvorschlag für die Welt 1918 - viele, auch kleine Nationalstaaten mit einer Weltregierung, die zur Intervention berechtigt ist - in Versailles nicht durchsetzen, zogen sich aus Europa zurück und traten auch dem Völkerbund nicht bei. 1941 hat Japan die USA überfallen und Deutschland den Staaten den Krieg erklärt. Damit wurde deren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg forciert. Vater und Sohn McNeill haben die amerikanische Wirtschaftsleistung zusammengefasst: »Die USA schufen in einem Jahr, 1942, einen riesigen Militärisch-industriellen Komplex. Schon 1942 schlugen sie die Achsenmächte bei Rüstungsmaterialien in einem Verhältnis von 2:1. 1944 stellte Ford in einem Fließband von einer Meile Länge außerhalb von Detroit alle 63 Minuten einen B-24-Bomber zusammen; Ford allein überbot Italien in der Produktion im Krieg. Die Werften an der pazifischen Küste ... bauten in acht Tagen ein Frachtschiff. Die U S A bauten sechzehn Kriegsschiffe fiir eines in Japan. Die U D S S R schlug Deutschland in jedem Jahr des Krieges in der Produktion, trotz der viel umständlicheren Arbeitsorganisation und den Folgen des Verlusts von Territorien .. .Körperspracheweiße< Badeanstalt), »kneel-ins« (kniend eine >weiße< Kirche betreten). Die Verteidigung der Tschechoslowakei mit Mitteln des Massenprotests, der Irreführung und Boykotten hielt die Besatzer hin und hinderte sie, unmittelbar die Kontrolle zu übernehmen. Die Proteste gegen Atomkraftwerke in Deutschland mobilisierten eine große Öffentlichkeit und entwickelten mit gemeinsamen Siedlungen und Blockaden in vielen Formen ebenfalls neue Formen des Protests.860 Theodor Ebert hatte 1968 die Frage aufgeworfen, ob nicht gewaltfreier Protest überhaupt die moderne Form des Widerstands sei.861 Die Zerstörungskapazität atomarer Waffen mache die alte Form der Verteidigung zunehmend obsolet, und die Militärstrategien des Kalten Kriegs setzten Vergeltung an die Stelle der Verteidigung. Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob nicht auch ohne atomare Waffen die Zerstörungskraft militärischer Mittel so groß und die Vernetzung der modernen Welt so dicht sei, dass man im modernen Krieg kaum noch von Verteidigung sprechen kann 856 857 858 859 860 861
Barbara Müller, Passiver Widerstand im Ruhrkampf, Münster 1995. Nolte/Nolte, S. 88-95, vgl. György Konrad u. a., Gewaltfrei gegen Hitler? Karlsruhe 2007. Nolte/Nolte, S. 96-103. Nolte/Nolte, S. 104-115. Ulfried Kleinen (Hg.), Gewaltfrei widerstehen, Reinbek 1981. Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand, Freiburg 1968 ff.
Gewaltlosigkeit
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- in der Tat sind regelmäßig mehr Zivilisten als Soldaten in den Kriegen der letzten Jahrzehnte gestorben. Es wurden vielfältig Zwischenlösungen entwickelt, ζ. B. territorial begrenzte »Autonome Abwehr«862 oder »Defensive Verteidigung«.863 Eine sehr informative Sammlung solcher Entwürfe in Mitteleuropa wurde 1990 von Carl Friedrich von Weizsäcker herausgegeben.864 Nach dem Ende der U D S S R und dem Rückzug der sowjetischen/russischen Truppen hinter den Bug brach das Interesse an diesen Forschungen allerdings ab und wurde wieder belebt, als sich erwies, dass man mit zivilen Mitteln autoritäre Regierungen wirklich in Schwierigkeiten bringen kann, ζ. B. in der Ukraine 2004.865 Da man mit militärischen Mitteln selten das erreicht, was man zum Ziel erklärt hat, ist es kein Einwand gegen gewaltlosen Widerstand, dass er nicht immer zum Ziel führt. Dass er gegen Verbrecher, welche Völkermord oder Vertreibimg planen oder erwägen, keinen ausreichenden Schutz bietet, muss man im Kopf behalten. Insbesondere lässt sich zeigen, dass gewaltloser Widerstand dort erfolgreich war, wo er Öffentlichkeit davon überzeugen konnte, dass man für eine richtige und wichtige Sache kämpfte.
862 Dietrich Fischer, Wilhelm Nolte, Jan Œberg: Frieden Gewinnen, Freiburg 1987; Nolte/Nolte, S. 141-283. 863 Horst Afheldt, Defensive Verteidigung, Reinbek 1983. 864 Carl Friedrich von Weizsäcker (Hg.), Die Zukunft des Friedens in Europa, Festschrift fur Horst Afheldt, München usw. 1990. 865 Gerhard Simon, Die Orangene Revolution, in: Nolte, Transformationen, S. 41-58.
17. Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
Militär und Militarismus A m Ende des Mittelalters (wi, S. 183-196) erlangten Fußsoldaten die Kapazität, einem Reiterangriff zu widerstehen und Schlachten zu gewinnen. 866 Damit verloren feudale, aus Lehen finanzierte Ritter an Bedeutung, die Staaten mussten vielmehr in die Lage kommen, Infanterie zu finanzieren. D e r Mechanisierungsgrad wuchs im 19. Jahrhundert, und die europäischen Mächte besiegten die noch bestehenden außereuropäischen Staaten und unterwarfen die Welt. Es gelang Japan, das neue Militär rechtzeitig einzuführen (vgl. Kapitel 8), und den Jungtürken, aus der Niederlage des osmanischen Imperiums zu lernen und - gerade mit den Instrumenten modernen Militärs - einen Nationalstaat zu schaffen. Da das moderne Militär eine zentralisierte Institution mit vielen Mitgliedern ist, die auf Staatskosten unterhalten wird, konnte es den aus dem Mittelalter stammenden Korpsgeist feudaler Gruppen gut weitertragen und an die neuen Verhältnisse anpassen. Z u dieser Gruppe traten jene Unternehmer hinzu, die an den Aufträgen verdienten. Kulturelles Kennzeichen des neuen Militärs wurde die Uniform, welche bei aller Differenzierung der Ränge die Gemeinsamkeit aller Kameraden vor Augen führte. In den halbperipheren Staaten Deutschlands, Osteuropas oder Iberiens trugen bis zum Ersten Weltkrieg sogar die Könige Uniformen. Militärische und zivile Gesellschaft wurden getrennt, wobei das Militär sich oft auf der Seite der Monarchen gegen die zivile Gesellschaft einsetzen ließ und die Grenze damit politisch und scharf wurde. Die politische Form des Militarismus 867 war die Unterordnung der politischen Entscheidungen unter militärische Bedürfnisse, wie sie am deutschen Bruch der Neutralität Belgiens 1914 oft diskutiert worden ist. Die soziale und ökonomische Basis für einen Militarismus wird geschaffen, indem das Militär einen unangemessenen 866 Michael Howard, Der Krieg in der europäischen Geschichte, dt. München 1981 ; Victor Davies Hanson, Carnage and Culture, New York 2001. Allgemein zu den Verlusten Clodfelter, Warfare - zu allen Konfliktparteien, besonders ausführlich zu den USA. 867 Vgl. die Beispiele bei Volker R. Berghahn (Hg.), Militarismus, Köln 1975 ; Asbjorn Eide, Marek Thee (Hg.), Problems of Contemporary Militarism, New York 1980; Wilfried von Bredow, Moderner Militarismus, Stuttgart 1983 ; Volker Berghahn, Militarismus, dt. Hamburg 1986.
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Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
gesellschaftlichen Rang erhält und die Rüstungsquote über das Maß ansteigt. Das ist für viele Gesellschaften überzeugend dargestellt worden - Deutschland, Japan, die USA, die UDSSR, lateinamerikanische und andere periphere Länder. Hier gilt auch oft ein Entwicklungsmilitarismus - das Militär wird zum Akteur einer Modernisierung. Das Konzept »Militärisch-industrieller Komplex« (μικ) betont die größere Bedeutung und aktive Gestaltungskraft der Wirtschaft für das Militär des 20. Jahrhunderts. Dieser Zusammenhang wurde mit der Imperialismuskritik der Linken herausgestellt und in Schlagworten wie Krupp und Kaiser verdeutlicht. Die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Industrie war in den USA aber nicht nur erfolgreicher, sondern auch viel umfangreicher als in den »alten« imperialistischen Ländern auf dem europäischen Kontinent; Ford produzierte im Zweiten Weltkrieg mehr Rüstungsgüter als Italien, und die »Liberty-Schiffe« wurden in den gesamten USA von verschiedenen Werften nach demselben Plan gebaut.868 Nach einer kurzen Abrüstungsphase wurde der MIK in den USA auch für Friedenszeiten etabliert, und seit den 5oer-Jahren ist der MIR ein fester Teil des amerikanischen politischen Systems. Der sowjetische Militarismus869 ging nach einer ebenfalls nur kurzen Abrüstungsphase in den russischen über, der ζ. B. 2008 in der Reaktion auf den Versuch Georgiens deutlich wird, die Unabhängigkeit Südossetiens militärisch zu beenden : weit überzogenes Vorrücken klassischer Panzereinheiten, deren Soldaten sich nicht ohne Plünderungen und sinnlose Zerstörungen wieder zurückzogen.870
Die neuen Massenheere
Die Industrielle Revolution erweiterte die Möglichkeit der Staaten, große Volksheere aufzustellen, mit immer leistungsfähigeren Fernwaffen auszustatten sowie Nachschub auch in ferne Gebiete zu bringen. Da die Stahlproduktion nach der Erfindung der Verhüttung von Eisen mit Steinkohle explodierte, konnten auch immer mehr und immer weiter tragende Geschütze gebaut werden. Eisenbahn und Dampfschiff erweiterten den Bereich, in dem Armeen eingesetzt werden konnten, entscheidend; die neuen Fernmeldemittel ermöglichten Befehle über Kontinente hinweg. Insbesondere nach der Erfindung des Maschinengewehrs konnten auch kleine europäische Truppen in das Innere nichteuropäischer Staaten vordringen. Vor allem aber konnten immer
868 McNeill/McNeill, S. 297T 869 Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Militarismus in der sowjetischen Gesellschaft und internationaler Rüstungswettlauf, in: Das Argument 1982, S. 75-90. 8 7 0 FAZ, 1 3 . 8. 2 0 0 8 ; N z z , 1 2 . 8. 2 0 0 8 .
Totaler Krieg
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größere Truppenverbände jenseits der eigenen Grenzen eingesetzt werden, und die Regierungen förderten den Nationalismus, um die Massen zu motivieren; die Bedienung der Waffen wurde diffiziler und erforderte selbstständige Akteure. Das Militär lernte schnell. Die preußische Armee war stolz darauf, dass sie in den Einigungskriegen einen effektiveren Gebrauch von der Eisenbahn gemacht hatte als die Gegner. 871 Der Schlieffenplan setzte voraus, dass es möglich sein würde, mithilfe der Eisenbahn schnell in Richtung auf Paris vorzustoßen und die französischen Armeen im Rücken ihrer eigenen Festungen in einem riesigen »Cannae« zu vernichten.872 Aber Maschinen des britischen »Royal Flying Corps« bestätigten das Auseinanderklaffen der deutschen Armeen an der Marne. 873 Und nun gelang es, mithilfe eines weiteren Produkts der Verkehrsrevolution, des Automobils, beide deutsche Armeen zu einem schnellen Rückzug zu zwingen. Mit dem Ubergang zum Grabenkrieg begann eine neue Form des Abnützungskrieges, der jetzt so geführt wurde, dass massiver Einsatz industriell hergestellter Waffen auf den kleinen Raum der beiden Gräben einwirkte und derjenige einige Meter oder auch Kilometer vorrückte, der die größte Menge effektivster Geschosse oder neue Waffen wie Giftgas oder Panzer einsetzte. Die Zahl der Gefallenen schoss in eine Höhe, »die in der Geschichte ohne Vorläufer war« : 65 Millionen Mann wurden mobilisiert, 8 Millionen sind gefallen, und 21 Millionen wurden verwundet. In einer neuen Größenordnung bewegte sich auch die Zahl der zivilen Opfer: insgesamt 6,5 Millionen. 874
Totaler Krieg Durch die technischen Entwicklungen und die Notwendigkeit, die Soldaten zu motivieren, entstand, zuerst im amerikanischen Bürgerkrieg, eine Tendenz zum »totalen Krieg« 875 - die Grenzen zwischen Militär und Zivil wurden aufgeweicht und schließlich aufgehoben. Die Zivilbevölkerung konnte von den Truppen an der Front oft nicht mehr geschützt werden und wurde hart, oft härter getroffen als diese. Außerdem 871 Edgar G r a f von Matuschka, Organisationsgeschichte des Heeres 1 8 9 0 - 1 9 1 8 , in: Deutsche Militärgeschichte in 6 Bänden, 1648-1939, Bd. 3, S. 1 5 7 - 2 8 2 , hier S. 1 8 1 . 872 Heinrich Nolte, Vom Cannae-Mythos, Göttingen 1991, S. 4 1 - 6 3 . 873 Jean Roeder, Bombenflugzeuge und Aufklärer, Koblenz 1990, S. 22. 874 Clodfelter, Warfare, Bd. 2, S. 7 8 1 t 875 Chickering, Total War; Peter Gleichmann, T h o m a s Kühne (Hg.), Massenhaftes Töten, Essen 2004. » K r i e g und Bürgerkrieg waren Zwillinge geworden« - Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution (1938), Neuaufl. Providence/Rii 1993,8. 18.
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Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
wurde sie in der »Heimatfront« zur Arbeit, aber dann auch zur Brandbekämpfung militärisch organisiert. Das galt im Zweiten Weltkrieg für die Frauen in Großbritannien und der UDSSR früher als in Deutschland. Die Entwicklung der Luftwaffe beflügelte die Theoretiker zwischen den Weltkriegen, die voraussahen, dass Bombardements aus der Luft den kommenden Krieg entscheiden und dabei keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen würden. In den militärischen Journalen diskutierte man, ob der Panzer oder das Flugzeug den kommenden Krieg entscheiden und die großen Zahlen von Verwundeten und Veteranen die soziale Realität verändern würden. Die Intellektuellen sahen voraus, dass die Propaganda eine große Rolle spielen werde und alternative Meinungen marginalisiert werden würden. Kolonialkriege876 bildeten oft einen Ubergang vom klassischen und kontrollierten zum totalen Krieg, weil die Machtsituation asymmetrisch war und die Kolonialherren oft glaubten, hier ohne Kontrolle auch neue oder verbotene Waffen einsetzen zu können. Im Burenkrieg richteten die Briten Konzentrationslager für Frauen und Kinder ihrer Gegner ein, und die deutschen Kolonialkriege im heutigen Namibia und Tansania wurden an der Grenze zum Genozid geführt. Die japanische Armee hat die eroberte Hauptstadt Chinas, Nanking, zur Plünderung freigegeben - die Schätzungen der Zahlen der Ermordeten schwanken zwischen 50.000 und 300.000. Die Angriffe der japanischen Bomber auf chinesische Städte wurden gemäß den Regeln der Genfer Konvention als Angriffe auf Zivilisten vom Völkerbund und von den USA verurteilt - leider in dem Sinn, dass Großbritannien und die USA nun begannen, selbst die rüstungstechnischen Voraussetzungen für Massenbombardements von Städten herzustellen. Die meisten Toten verursachten jedoch die Nationalchinesen selbst, als sie die Deiche des Hoangho sprengen ließen, um den japanischen Vormarsch zu stoppen.877 Die Achsenmächte begannen den Zweiten Weltkrieg in der Erwartung, in einem schnellen Bewegungskrieg ließen sich die Machtverhältnisse zwischen den Blöcken so durchgreifend verändern, dass Deutschland, Japan und Italien eine Chance auf den Sieg haben würden, obgleich das militärische Potenzial zwischen Alliierten und Achsenmächten 1937 etwa in einem Verhältnis von 7 : 2 war.878 Mit zwei strategischen Innovationen - dem Stoß mit Panzerverbänden hinter die Linien des Gegners und der Unterbrechung seines Nachschubs879 sowie der Verwendung von Schiffen als Flug-
876 Klein/Schumacher. 877 Reinhard Zöllner, Japan in China. Ein ostasiatischer Holocaust? In: Klein/Schumacher, S. 291-328. 878 Kennedy, Rise, S. 332. 879 Vgl. Nolte, Uberfall, S. 36-40; zum Krieg allgemein Gerhard Weinberg, Eine Welt in Waffen, dt. Darmstadt 1995.
Totaler Krieg
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zeugträger - gelangen im Jahr 1941 auch wichtige und große Anfangserfolge, die aber nicht ausreichten, um das Potenzial des Gegners auszuschalten. In dem Moment allerdings, in dem dies nicht gelang, war der Sieg der Alliierten kaum abzuwenden; einen Frieden suchte die Achse trotzdem nicht. Im Gegenteil: Zugleich mit dem Angriff auf die u d s s r verbrannte Deutschland die Schiffe, die eine klügere Führung zum Rückzug wohl bereitgehalten hätte, indem es neben dem militärischen einen Vernichtungskrieg gegen unbewaffhete ethno-religiöse, rassistisch abgegrenzte Gruppen (Juden und Roma) führte und andere Gruppen aussiedelte, nachdem die Wehrmacht die Wehrmachtsgerichtsbarkeit außer Kraft gesetzt hatte.880 Die Wehrmacht nahm aber auch selbst zu einem großen Teil an Völkerrechtsverbrechen teil, ließ Kriegsgefangene verhungern, stellte beim Genozid Mittäter und verwüstete Gebiete, welche als Partisanengebiete verdächtig waren oder auch wirklich Partisanen beherbergten. Weiter beteiligte sie sich an der Verschleppung von Einwohnern zur Zwangsarbeit. 881 Die alliierten Luftwaffen führten systematischen Bombenkrieg gegen Zivilbevölkerung. Propaganda und Informationsmonopole wurden übermächtig, und wer in Deutschland etwa doch bbc hörte, musste mit harten Strafen rechnen. Michael Clodfelter rechnet vor, dass 72,6 Millionen mobilisiert wurden, 16,8 Millionen gefallen sind sowie etwa 40 Millionen Zivilisten im Krieg umgebracht wurden oder umkamen - »Opfer des Holocaust, im Widerstand, durch die Terror-Bombardements, durch Hunger, Krankheit und Entbehrungen ...Roten Armee< auf den Flughafen in Tel Aviv oder das des palästinensischen >Schwarzen September auf israelische Sportler in München 1972. Terrorismus wurde ubiquitär, hinzu kommen z. B. die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland 1977, rechtsextreme Uberfalle in Bologna und London sowie der Uberfall tschetschenischer Rebellen auf eine Schule in Beslan 2004.905 Der Terror der Peripherien drang in das Zentrum vor, allerdings erst, nachdem die beiden Supermächte abweichende Konzepte von Gesellschaft sowie nationalen Widerstand mit der Überlegenheit moderner Armeen niederzuwalzen versucht hatten. Im Kampf gegen nationale und kommunistische Bewegungen hatten die Briten in Malaysia und die Amerikaner auf den Philippinen das Konzept entwickelt, die Bevölkerung ganzer Landstriche umzusiedeln, um den Partisanen den Nachschub aus der Bevölkerung abzuschneiden. Der angelsächsische Krieg gegen Partisanen ging von
902 Allgemein John A. Armstrong (Hg.), Soviet Partisans in World War II, Madison/Wisconsin 1964; Bernd Bonwetsch, Sowjetische Partisanen, in : Gerhard Schulz (Hg.), Partisanen und Volkskrieg, Göttingen 1985, S. 92-124; Hans-Heinrich Nolte, Partisanenkrieg ohne Partisanen: ein Konstrukt, in: Nolte, Auseinandersetzungen, S. 171-176; Ders., Partisan War in Belo-Russia, in: Chickering, Total War 5, S. 261-276. 903 Reinhard Zöllner, Japan in China. Ein ostasiatischer Holocaust, in: Klein/Schumacher, S. 291-J28. 904 Michael Gehler, René Ortner (Hg.), Von Sarajewo zum 11. September, Innsbruck 2007. 905 Greiner, Vietnam; vgl. Georg Wagner-Kyora, Vom Terror gegen Grenzen zum Terror ohne Grenzen, in: Ders., Jens Wilczek, Friedrich Huneke (Hg.), Transkulturelle Geschichtsdidaktik, Schwalbach 2008, S. 107-125, mit neuer deutschsprachiger Literatur.
Neuer Terrorismus
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hoher technischer Überlegenheit der modernen Massenarmeen aus und nahm Umsiedlung als normales Instrument in Anspruch. Während der amerikanischen Intervention in Vietnam wurde konsequent nicht nur mit Massenumsiedlungen in »Wehrdörfer«, sondern sogar mit Vernichtung von Waldgebieten durch Gift (Agent Orange) gearbeitet.906 Die USA nahmen also für sich in Anspruch, in einem anderen Land nicht nur die Bevölkerung verschieben, sondern auch Regionen unbewohnbar machen zu dürfen, was man wohl als staatlichen Terrorismus kennzeichnen muss. Frankreich hat auch nach der Niederlage im Algerienkrieg terroristische Aktionen seines Geheimdienstes für legitim gehalten. Fast im selben Moment, in dem Frankreich von Libyen die Herausgabe von Terroristen verlangte, ließ es durch den Geheimdienst in einem neuseeländischen Hafen die »Rainbow-Warrior« versenken, mit dem Greenpeace gegen die französischen Atomtests auf Mururoa protestieren wollte. Dabei wurde ein Mann ermordet. Als Neuseeland nicht aufhörte, das Verbrechen aufklären zu wollen, verhinderte Frankreich neuseeländische Agrarexporte in die EU. Trotz dieses und anderer großer und kleiner Kriege in den Peripherien 907 war es der Afghanistan-Krieg, welcher das Tor zum Massenterrorismus auch gegen die Zentren öffnete - vielleicht, weil nun in den Peripherien und besonders in den muslimisch geprägten Ländern deutlich wurde, dass es hier nicht nur um die Politik der USA ging, sondern um den Anspruch aller (auch der scheinbar alternativen) Mächte europäischer Tradition, notfalls mit Waffengewalt bestimmen zu dürfen, welche Verfassungen andere Völker wählen sollen. In Afghanistan908 hatte eine aus städtischen Intellektuellen und Offizieren gebildete kleine kommunistische und noch dazu in sich gespaltene Gruppe 1978 versucht, eine Modernisierungsdiktatur einzurichten und ζ. B. gleiche Rechte für Frauen und eine Landreform durchzusetzen. Nach Putsch und Gegenputsch ließ die sowjetische Führung sich 1979 zur Intervention überreden - auch, weil man bei einem Scheitern der Linken die Ausbreitung islamistischen Denkens in Zentralasien fürchtete. Trotz der militärischen Überlegenheit gelang es der U D S S R nicht, das Land zu befrieden, und zunehmend gewannen von Saudi-Arabien und den USA unterstützte Rebellen an Boden. 1988 entschloss sich die U D S S R zum Rückzug.909 Nach kurzer Zeit überwältigten die islamistischen Gruppen unter der Führung der »Taliban« andere Widerstands906 Zu Vietnam: Neil Sheehan, Hedrick Smith, E. W. Kenworthy, Fox Butterfield, The Pentagon Papers as Published by the New York Times, New York 1971. 907 Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006.
908 Vgl. Martin Ewans, Afghanistan. A New History, Richmond 2001. 909 K G R , S. 3 2 4 - 3 2 6 , Literatur S. 4 8 9 .
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Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
kämpfer, bestimmten die Armee in ihrem Sinn und richteten einen an der Scharia orientierten Staat ein, der ζ. B. die Vollverschleierung der Frau durchsetzte und den Schulbesuch von Mädchen einschränkte. In diesem Staat konnten auch andere islamistische Gruppen ungestört arbeiten, so die Al Qaida. Im Ereignisschatten von 9/11 eroberte die NATO unter der Führung der USA 2001 das Land und trieb die Taliban in den Status einer Partisanenbewegung zurück. Gefangene brachte die USA in ein eigenes Lager in dem amerikanischen Stützpunkt auf Kuba, ohne ihnen einen Prozess zu machen; und sie legitimierten die Folter als Verhörmethode.910 Die NATO förderte eine dem Westen freundliche Regierung und unterstützte sie kontinuierlich mit Truppen und Waffenlieferungen. Trotzdem war diese Regierung (bis 2008) nicht in der Lage, das Land zu befrieden; stattdessen drohen die Taliban, ihre Stützpunkte in Pakistan auszubauen und auch dort um die Herrschaft zu kämpfen - im Kreis Swat in der North-Western Province haben sie 130 Mädchenschulen niedergebrannt und belagerten im Herbst 2008 die Kreisstadt. 911 In der westlichen Presse wird zunehmend argumentiert, dass es Zeit sei, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Hat der »Kleine Krieg« afghanischer Stämme und der islamistischen Bewegung der Taliban auch die NATO besiegt?912 Der Punkt ist eher, dass auch die NATO, so wie die UDSSR (und so viele Mächte vor ihnen, von Alexander angefangen), Afghanistan nicht pazifizieren konnte und dass es deshalb seinen Sinn verliert, dort Truppen zu unterhalten. Die Vorstellung allerdings, man könne sich, nachdem man einmal interveniert hat, wieder zurückziehen und doch die dem Westen freundliche Regierung an der Macht halten, erscheint nur wenig realistisch. Niederlagen sind Niederlagen, und die Sieger werden sie ausnützen. Wie auch immer dieser Krieg ausgeht: Terroristen haben ein weiteres Mal gezeigt, dass die Schritte zur Partisanenbewegung und zur Guerilla gangbar sind und Erfolge haben können. Islamistische Bewegungen haben auch in anderen Ländern gegnerische Politiker ermordet, Uberfälle organisiert oder auch fast reguläre Truppen aufgestellt. In Ägypten hat islamistisch-fundamentalistische Guerilla nicht nur Präsident Sadat ermordet, sondern auch säkulare Intellektuelle und einfach Gegner: In den Auseinandersetzungen mit der Polizei kamen 1993-1995 etwa 900 Menschen ums Leben. In Algerien gewann die »Front Islamique« 1990 die Kommunalwahlen, woraufhin das Militär eingriff, die Front verbot und mehr als 10.000 Mitglieder internierte. In dem folgenden Bürgerkrieg kamen bis zu 100.000 Menschen ums Leben, und etwa
910 HAZ, 19.6.2008, S. j. 911 Economist, 20. 9. 2008, S. 57f. 2009 stimmte Pakistan zu, dass in diesem Landesteil die Scharia gilt. 912 Ulrich Ladurnier, Der abstrakte Krieg, in: Z E I T , 9. 10. 2008; vgl. http://news.bbc.c0.Uk/2/hi/uk_ news/76531 ió.stm, Zugriff 5. 10. 2008.
Al Qaida und Verwandte
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eine halbe Million Menschen wurde aus ihren Dörfern vertrieben. 1997 gelang dem Militär mit solchen Mitteln der Sieg; die überlebenden Aufständischen gingen in die Berge und wurden zu Terroristen. Auch hier war es das Olgeschäft, das die Mittel für den Sieg gab - , seit 1996 verbindet eine Gas-Pipeline Algerien mit Spanien.913
Al Qaida und Verwandte Am I i . 9. 2001 - in Amerika kurz nine/eleven oder 9/11 bezeichnet - verübten islamistische Terroristen den bis dahin größten Anschlag in den USA und vernichteten die beiden Hochhaustürme des World-Trade-Center, wobei es fast 3.000 Opfer gab. Der Anschlag wurde von der Gruppe Al Qaida914 durchgeführt, deren Anführer Osama bin Laden ist - ein saudi-arabischer Multimillionär, dessen Familie im Bau- und Olgeschäft ist und beste Beziehungen sowohl zur Familie Bush in den USA wie zum saudischen Königshaus hat. Bin Laden hatte sich im Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan einen Namen gemacht. Er erklärte 1996 Amerika den Krieg, weil amerikanische Truppen in Kernarabien stehen, wo dem Koran nach nur Muslime wohnen sollen. Der Lehrer dieser Bewegung, Çayyid Qutb, wurde als Anführer einer Verschwörung gegen Nasser 1966 zum Tode verurteilt und damit zum Märtyrer der islamistischen Bewegung (vgl. Kapitel 4). Diese fand beim Anschlag auf die große Moschee in Mekka 1979 einen ersten Höhepunkt; da im selben Jahr aber die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, boten sie einen Feind, den man nicht gegen, sondern mit der Hilfe der Saudis (und sogar der USA) angreifen konnte. Die Saudis und der pakistanische Geheimdienst machten aus den undisziplinierten afghanischen Partisanen eine Armee. Die Araber, die nach Afghanistan kamen, entstammten als Unternehmersöhne oder Studenten einer ganz anderen Welt als die Afghanen. Sie bauten ihre Lager in Höhlen eines Grenzgebiets zwischen Afghanistan und Pakistan und nahmen nur selten an Gefechten teil. Als der Rückzug der Sowjets begann, gründeten die Araber 1988 die »Basis« (qaida) für die Fortsetzung des Kampfes um eine gerechte islamische Gesellschaft. Sie zählten damals 15 Brüder und wählten Osama zum Anführer, zum Emir - auch auf Druck der Saudis hin, welche glaubten, ihn besser kontrollieren zu können als einen Palästinenser. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 und der Rückkehr nach Saudi-Arabien geriet bin Laden jedoch über die Anwesenheit amerikanischer Truppen während des Ersten Golfkriegs mit dem Königshaus in Streit und lebte einige Jahre 913 Perthes, Gärten, S. i86f., 402-413. 914 Lawrence Wright, Der Tod wird euch finden (2006) dt. München 2008 ; mit vielen Fotos.
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Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
im Sudan. Beim CIA in »Counterinsurgency« ausgebildete Doppelagenten brachten derweil Al Qaida-Mitgliedern unkonventionelle Kampfmethoden wie Kidnappen, Attentate und Flugzeugentführungen bei. Nach einem Anschlag auf den ägyptischen Präsidenten Mubarak musste bin Laden 1996 den Sudan verlassen, nachdem dessen Regierung sein Vermögen konfisziert hatte. Nur Afghanistan nahm den Flüchtling auf - genauer die Taliban, die gerade dabei waren, das Land zu erobern, und eine extrem puritanische Herrschaft errichteten, ζ. B. den Frauen die Arbeit verboten und ihnen vorschrieben, außer Haus stets Schleier zu tragen. Bin Laden kam in Afghanistan wieder zu Geld, weil er vom pakistanischen Geheimdienst den Auftrag erhielt, muslimische Kämpfer für die Befreiung Kaschmirs auszubilden. In den Trainingscamps lernten die künftigen Terroristen drei Punkte als Ziele der Organisation:915 ι. Durchsetzung der Herrschaft Gottes auf Erden, 2. Märtyrertod für die Sache Gottes, 3. Reinigung aller Schichten des Islam von der Verdorbenheit. 1998 ließ bin Laden seiner Kriegserklärung an die USA Taten folgen; Al Qaida sprengte die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salam mit Hunderten von Toten - vor allem Frauen und Kinder, denn die Anschläge waren auf halb elf vormittags angesetzt. Von nun an plante al Qaida die Anschläge in den USA; Anfang 2000 flogen die künftigen Attentäter in die USA, um dort ihre Flugscheine zu machen, ohne die sie die anderthalb Jahre später zu kapernden Maschinen nicht würden fliegen können. Mord und Selbstmord sind auch im Islam schwere Sünden. Die Welt muss also darauf hoffen, dass es den muslimischen Meinungsführern gelingt, den Glanz von diesen Verbrechen zu nehmen und die Mitgliedschaften auszutrocknen. Die Verrohung des an sich schon inhumanen Kampfes der Terroristen hat schnell auch andere Terrorgruppen erreicht. Denn es gab und gibt in der Welt nach wie vor auch anarchistische, nationalistische oder auch maoistische Terroristen. 2005 wurden 14.605 Menschen in terroristischen Anschlägen umgebracht, 8.299 im Irak und 1.357 in Indien. Die meisten Tätergruppen sind unbekannt, die zweitgrößte Tätergruppe waren sunnitische, die drittgrößte säkulare und anarchistische Extremisten.916 Dieser Terror war insofern »neu«, als er mit großen finanziellen Mitteln weltweit agierte und dabei zivile Flugzeuge als Waffe einsetzte, weil die Anschläge von einge915 Wright, Tod, a.a.O., S. 405. 916 Globale Trends 2007, S. 1 0 5 - 1 2 2 .
Kritik und Einschätzung
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reisten Fremden durchgeführt wurden und das Instrument des Selbstmordanschlags aus den palästinensischen Kämpfen gegen Israel über den Ozean trugen, vor allem aber darin, dass keine Versuche unternommen wurden, das Leben von Frauen und Kindern zu schonen (was der Koran vorschreibt). Ein Unterschied zum »alten« Terrorismus liegt vor allem in den großen Opferzahlen und der Brutalität des Vorgehens, bei dem zivile Verluste nicht nur in Kauf genommen, sondern angestrebt wurden. Der islamistische Terrorismus gehört zu den Entwicklungshindernissen der Region. Mit dem Ubergreifen nach Indien, besonders dem Finanzzentrum Mumbai/Bombay, auf das zwischen 2001 und 2008 jährlich Angriffe durchgeführt wurden, deren Opferzahlen stiegen917 - verschärfen die »Dekkan Mujahedin« die Front gegen den Hinduismus und greifen eine Metropolis par excellence einschließlich Medienrummel »Bollywood« an.
Kritik und Einschätzung
Guerilla und Terrorismus hat es zwar schon lange gegeben, aber im 19. und im 20. Jahrhundert wurden beide immer häufiger als Massenbewegungen organisiert - in den Partisanenbewegungen des Zweiten Weltkriegs, den nationalen Befreiungskriegen in immer mehr Territorien und nicht zuletzt im antiwestlichen Terrorismus islamischer Gruppen. Mit der Einbeziehung sehr großer Zahlen auch »unterhalb« des Schrittes zur regulären Armee eines Staates oder eines abtrünnigen Teils ging eine Globalisierung zusammen. Es gibt eigentlich keinen Staat, in dem Terroristen nicht zuschlagen könnten - vom Nigerdelta bis Omaha, von Madrid und London bis Delhi, Bali und Luxor. Und nicht selten schlagen Terroristen in einem anderen Land zu als dort, wo sie ihre Rekrutierungs- oder Nachschubbasis haben. Mohssen Massarat hat unmittelbar nach dem Anschlag von 9/11 den islamistischen Terrorismus mit der Behandlung der Palästinenser durch Israel verbunden.918 Aber war der Anschlag, der eher von Saudis und Ägyptern geplant wurde, wirklich durch Palästina begründet? Walter Laqueur, 1977 Autor eines inzwischen klassischen Buches über den Terrorismus, hat zurecht darauf verwiesen, dass es wenig völlig Neues im Terrorismus gibt; z. B. wurde Alexander II. 1881 umgebracht, indem der Attentäter ein Fläschchen reines Nitroglyzerin zwischen sich und dem Zaren auf den Boden warf. Laqueur macht den »neuen Terrorismus« mehr an der Verfügbarkeit von Mas917 Siehe http://news.bbc.co.Uk/2/hi/south_asia/7752173.stm. 918 Mohssen Massarat, Der 11. September: Neues Feindbild Islam? In: A P u Z 18. 1. 2002, S. 3-6, Zitat
S.J.
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Massenarmeen, Cyber-Krieg und Terrorismus
senvernichtungsmitteln und dem religiösen Fanatismus fest. Jonathan Fox verweist auf den antiwestlichen Kulturkonflikt und von Osama bin Laden hochgeputschte muslimische Herrschaftsansprüche.919 Terrorismus mit sozialen und ökonomischen Notfällen zu erklären macht im Einzelnen oft Sinn, ist aber als allgemeine Erklärung nur wenig plausibel, weil er sowohl bei Armen wie Reichen vorkommt. Lässt sich ein Ansteigen des Terrorismus mit Krisen von Hegemonie erklären? Das passt für den islamistischen schlecht, da er in einer Periode der Hegemonie begann. Und gewiss wird man auf die ehemals sowjetischen Waffenbestände verweisen können, um die erhöhte Vernichtungskapazität zu erklären - nur dass vermutlich die amerikanischen Waffenlieferungen nach Afghanistan auch für ein Chaos reichten.920 Mahatma Gandhi hat 1921 die terroristische Wende der indischen Nationalbewegung als ineffektiv und selbst böse gekennzeichnet: »Die Methoden der Gewalt haben nicht nur ihren Zweck nicht erreicht, sondern sogar das Gegenteil bewirkt. Denn wenn eine physische Gewalt die Szene betritt, ruft sie überlegene physische Gewalt hervor, welche sie für einige Zeit unterwirft. Dann wird mehr Gewalt angewandt und die Kette der Gewalttätigkeiten wird länger und länger ...Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?< in: ZWG 9.2 (2008), S. 1 1 5 - 1 3 2 .
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Exklusionen und Genozide
hat die Kriegssituation, in welcher Armenier für einen eigenen Staat gegen das Imperium kämpften, die osmanische Armeefuhrung zu Massenverbrechen verleitet. Die Nationalsozialisten planten von Anfang an durch Vertreibungen und Genozide einen dann leeren Raum für deutsche Bauernsiedlung. Vertuschten oder leugneten die einen ihr Verbrechen, so planten die N S D A P und ihre Wissenschaftler eine bewusste Umdrehung der Werte mit dem sozialdarwinistischen Anspruch, dass ein solcher Kampf um Raum der Natur des Menschen entspräche.962 Die sowjetischen Massenverbrechen mit dem Höhepunkt des »Großen Terror« (vgl. Kapitel 5) entsprachen dagegen weniger einer sozialdarwinistischen als einer jakobinischen Logik und stehen in der Reihe des Kampfes revolutionärer Garden gegen die Bauern der Vendeé. Auch hier gab es aber Fälle, die zumindest einer genozidalen neben einer Klassenlogik folgten, am eindeutigsten in dem Massenmord an polnischen Offizieren in Katyn.
Antisemitismus
Die intolerante Grundstruktur der christlichen Staaten des Mittelalters hatte nur die Duldung einer einzigen anderen Religion zugelassen, nämlich des Judentums. Aber auch die Juden wurden nur - unterbrochen von immer neuen Verfolgungen, mehrfach (England, Frankreich, Spanien) vollständiger Vertreibung und vielfältigen Massakern - »toleriert«.963 Im 18. Jahrhundert akzeptierte die Aufklärung die Juden als Menschen wie andere auch, bestritt die volksverhetzenden Legenden und forderte die rechtliche Gleichstellung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhielten die Juden in vielen Staaten Bürgerrechte, meist blieben ihnen jedoch Beamtenberufe wie Offizier, Richter oder Staatsbürokratie zumindest de facto verschlossen; auch die Gleichberechtigung christlicher Bürger in diesen staatsnahen Berufen machte nur langsame Fortschritte. Da die Schriftlichkeit der religiösen Kultur und auch die Mobilität ein Teil der Moderne sind, waren viele Juden trotzdem in ihren Berufen besonders erfolgreich - als Anwälte und Arzte, Banker und Journalisten. Ein großer Teil der Juden in Westeuropa verstand die Toleranz als Angebot zur Eingliederung und assimilierte sich in Sprache 962 Zum Generalplan Ost vgl. Kapitel 19. 963 Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, Bde. 1 - 2 , 2 Darmstadt 2000; Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990 u.ö.; Bernd Martin, Ernst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981. Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 1-8, deutsch Worms 1979, Frankfurt 1988; kurz Roberto Finzi, Anti-Semitism, F r o m its European Roots to the Holocaust, englisch Moreton on Marsh 1999.
Antisemitismus
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und Habitus - sephardische Juden begannen niederländisch oder englisch zu reden und aschkenasische hochdeutsch oder russisch. Da Religion auch für Christen an konkreter Lebensbedeutung verlor, schien eine Integration absehbar. Allerdings wurden die antijüdischen Argumente der Christenheit in einer säkularen Öffentlichkeit nun ohne Betonung der religiösen Komponenten gegen die neue Mittel- und Oberschicht gewendet. Man unterfütterte alte Vorurteile und neuen Neid mit rassistischen Argumenten zum Antisemitismus. In Frankreich wandte sich jedoch eine humanistische Öffentlichkeit gegen die Verurteilung eines jüdischen Offiziers namens Dreyfus, und auch im deutschen Sprachraum konnten antisemitische Parteien kaum Stimmen gewinnen ; allerdings verbreiteten Antisemiten wie Richard Wagner oder der Wiener Bürgermeister Lueger Stimmungen und Legenden, etwa dass Juden nicht kreativ seien. In Russland wurden einerseits die antisemitischen »Schwarzhundertschaften« oft von der Staatsbürokratie, wenn nicht vom Zaren gedeckt, andererseits aber standen nicht nur in den sozialistischen, sondern auch in den liberalen Parteien Juden an vorderster Stelle. Typisch für den Antisemitismus war der »Pogrom« - ein Uberfall auf die jüdische Gemeinde mit Mord, Raub und Vergewaltigung. In Russland entstand sowohl die wichtigste antisemitische Propagandaschrift - die sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«, in denen den Juden der Plan unterstellt wurde, durch Zersetzung der moralischen Normen bei den Nichtjuden die Weltherrschaft zu erreichen, als auch der erste rassistisch argumentierende Antisemitismus, nachdem alle Nachfahren von Juden - auch die, welche zum Christentum übergetreten waren zu einer anderen, schlechteren »Rasse« gehörten. 964 Glaubt man Syndromen wie »Reinheit der Rasse«, dann folgte aus dieser Ideologie, dass alle Juden aus dem Land zu entfernen oder umzubringen waren. Die ersten rassistischen Massenmorde wurden von ukrainischen Nationalisten im Bürgerkrieg verübt: Die jüdische Bevölkerung ganzer Dörfer wurde vollständig erschossen, nachdem sie gezwungen worden war, Gräben auszuheben.965 Erst der Sieg der Bolschewiki beendete diesen Genozid. Im österreichischen und deutschen Antisemitismus wurden nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg viele Bestandteile des osteuropäischen übernommen, nicht zuletzt brachten einige antibolschewistische Flüchtlinge die Idee mit, dass der Bolschewismus ein Instrument des Weltjudentums zur Unterwerfung der nichtjüdischen Welt sei, wie 964 Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie, Hamburg 1978; Zvi Gitelman, A Century of Ambivalence, The Jews in Russia and the Soviet Union 1881 to the Present, New York 1988, S. 1 - 3 7 . 965 Gitelman, S. 96-108; Hans-Heinrich Nolte, Inwieweit sind russisch-sowjetische und deutsche Massenmorde vergleichbar? In: Dietmar Storch (Hg.), Von der Verdrängung zur Bagatellisierung, Hannover 1988, S. 49-58, hier S. 50.
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Exklusionen und Genozide
in den »Protokollen« angekündigt. Daraus schloss Adolf Hitler in »Mein Kampf« (1925/27), dass die Sowjetunion nicht nur als Vertreter von Weltbolschewismus und Weltjudentum der wichtigste Feind des Deutschen Reiches, sondern auch, dass Russland reif für die Eroberung sei : Da die Juden die alte Elite vernichtet hätten, die aus germanischen Quellen entstanden sei, die Juden selbst aber kein Imperium erhalten könnten, »sondern ein Ferment der Dekomposition« seien, sei »das Riesenreich im Osten reif zum Zusammenbruch« und biete »der emsigen Arbeit des deutschen Pfluges, dem das Schwert nur den Boden zu geben hat«, die besten Chancen.966
Holocaust, S h o a h
Der Nationalsozialismus hat 1933 nicht wegen seines Antisemitismus eine so große Zahl der Deutschen überzeugt, aber der Antisemitismus war ein unlösbarer Bestandteil des »Dritten Reiches«, der schnell zur Verfolgung und Vertreibung von Juden und schließlich zum Massenmord führte.967 In den ersten Jahren wurden die Juden aus den Beamtenberufen gedrängt. In den Nürnberger Gesetzen 1935 wurden die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der deutschen Juden aufgehoben (sie wurden zu »Schutzbefohlenen«) und das Konnubium untersagt (Sexualverkehr zwischen Juden und Nichtjuden). Auch wenn z. T. neue, aggressivere Begriffe benutzt wurden, wie »Blutschande«, ist nicht zu übersehen, dass vormoderne Rechtsformen wieder eingeführt wurden. Das wurde auch daran deutlich, dass - da die These einer jüdischen Rasse so unsinnig war, dass man sie zur Identifizierung nicht benutzen konnte - die Definition des »Ariers« nach dem Kirchenbuch erfolgte, also danach, ob alle vier Großeltern getauft waren oder nicht. In der Folgezeit und insbesondere nach dem Pogrom 9./10. November 1938 wurden die deutschen Juden gedrängt, das Land zu verlassen - möglichst, nachdem man sie vorher auf amtlichem Wege ihrer Vermögen beraubt hatte.968 Nach Kriegsbeginn hörten die Möglichkeiten zur Auswanderung auf. Einige Pläne sahen vor, die Juden im deutschen Machtbereich in Territorien zusammenzuführen wie bei Lublin oder in Madagaskar. Nachdem der Versuch, die Eroberung Polens mit einem Genozid an 966 Adolf Hitler, Mein Kampf, Neuauflage München 1938, S. 743. 967 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, dt. Frankfurt 1982 ; Peter Longerich, Politik der Vernichtung, München 1998; Omar Bartov(Hg.), The Holocaust, London 1000; Dieter Pohl, Holocaust, Freiburg 2000; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bde. 1-2, München 2006. Ein unentbehrliches Hilfsmittel: Martin Gilbert, Endlösung. Ein Atlas, deutsch Reinbek 1982. 968 Vgl. Claus Füllberg-Stolberg, >Wie mir bekannt geworden ist, beabsichtigen Sie auszuwandern·«, in : Carl Hans Hauptmeyer u. a. (Hg.), Die Welt querdenken, Frankfurt 2003, S. 219-234.
Holocaust, Shoah
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den dortigen Juden zu verbinden, wegen Protesten der Wehrmacht zeitweise zurückgestellt worden war,969 einigten sich der Oberbefehlshaber des Heeres und die Polizei/s s darauf, die Kriegsgerichtsbarkeit für den Russlandfeldzug fur Verbrechen von Deutschen an Einheimischen aufzuheben, was eindeutig völkerrechtswidrig war. Der Russlandfeldzug entwickelte sich deshalb in einer schnellen Steigerung zum systematischen Mord nicht nur an Kommunisten, sondern auch an Juden - , und je weiter man nach Osten kam, desto weniger wurden Frauen und Kinder geschont.970 Von etwa 5,75 bis 6 Millionen Opfern des Massenmordes an den Juden insgesamt wurden knapp die Hälfte jenseits des Bug durch Hunger und »Aktionen« und die andere Hälfte in den Vernichtungs-Kz im ehemaligen Polen ermordet.971 Wer waren die Täter? Im Russlandfeldzug waren es die Einsatzgruppen und andere Verbände der ss, Polizei- und Wehrmachtseinheiten sowie schließlich auch das »Gefolge« von Parteigrößen. In den Vernichtungslagern waren es s s-Angehörige, denen die Polizei zuarbeitete. Weiter oben gehörten viele hohe Beamte, Professoren und leitende Presseleute zu diesen Verbrechern.972 Dieser Massenmord wird meist mit den »Vernichtungs-κζ« Auschwitz, Majdanek, Sobibor und Treblinka verbunden, wo die Opfer vergast und ihre Leichname anschließend verbrannt wurden. Die Mordform des Vergasens wird oft als Zeichen für die Moderne des Holocaust interpretiert, auch weil die Gaskammern z. B. in Auschwitz so gebaut waren, dass die Mörder ihre Opfer nicht anzusehen brauchten, die Morde also den zunehmenden Distanzwünschen unserer Zeit entsprachen. Die Leichen wurden anschließend verbrannt. Fraglos hat die industrielle Form des Mordens etwas außerordentlich Erschreckendes. Wahrscheinlich wurden in Auschwitz etwa 1,2 Millionen Menschen ermordet, drei Viertel von ihnen Juden. 973 Durch die un-
969 Helmut Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, Neuaufl. Frankfurt 1993, S. 77-88. 970 Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord, Hamburg 1998, bes. S. 11-79; Peter Longerich, Der Russlandfeldzug als rassistischer Vernichtungskrieg, in: Hans-Heinrich Nolte (Hg.), Der Mensch gegen den Menschen, Hannover 1992, S. 78-94. 971 Al'fred Kokh, Pavel Poljan, Otricanie otricanija, ili Bitva pod Aushvicem. Debaty o demografii i geopolitike Kholokausta (Leugnung der Leugnung, oder die Schlacht um Auschwitz. Debatten zur Demografie und Geopolitik des Holocaust) Moskva 2008, S. 259-282, 298, 254. 972 Gerhard Hirschfeld, Tobias Jerzak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2004; Klaus Michael Mallmann, Gerhard Paul (Hg.), Karrieren der Gewalt, Darmstadt 20052; Wigbert Benz, Paul Carell, Berlin 2005 ; sowie Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung (1991), Neuaufl. Frankfurt 1997; vgl. schon Max Weinreich, Hitler's Professors (1946) Neuaufl. New Haven/Conn. 1999. 973 Irmtraud Wojak (Hg.), Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, Album zur Ausstellung »Auschwitz-Uberlebende. Zeugen im Prozeß«, Frankfurt 2004 u. ö., hier Joachim Pereis, Die Strafsache gegen Mulka und andere, S. 124-147.
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Exklusionen und Genozide
geheuerliche Zahl der Morde an einem Ort, durch die intellektuelle Arbeit so vieler Betroffener und nicht zuletzt durch Prozesse und Gedenken ist Auschwitz deshalb zum »Symbol fur die Ermordung von mehr als fünf Millionen jüdischer Menschen geworden.«974 Aus Auschwitz gab es auch schon früh Fotos, welche s s-Fotografen gemacht hatten.975 Die andere Hälfte des Holocaust östlich des Bug ist vor allem durch Erschießen und Verhungern verübt worden. Am 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Angriffs auf die U D S S R , lebten etwa fünf Millionen in den damals sowjetischen Territorien (einschließlich jener Gebiete, welche die U D S S R in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts annektiert hatte, und einschließlich von Flüchtlingen aus dem deutsch besetzten Teil Polens). Uber eine Million wohnte östlich der Front; etwa eine Million entkam durch Evakuierung oder Flucht, und 300.000 waren Soldaten in der Roten Armee. Von ungefähr 2,9 Millionen sowjetischer Juden, die in deutsche Gewalt gebracht wurden, haben etwa 100.000 überlebt - in Partisaneneinheiten und Familienlagern in den Wäldern.976 Verhungern sollte man als aktives Wort benutzen - wie verderben oder verbrennen: Deutsche verhungerten Juden. Bei uns ist für diesen Vorgang ein Euphemismus geläufig geworden, der die bewusste Tat in ein Abstraktum verwandelt, für das niemand so ganz genau verantwortlich ist: Deutsche gaben Juden dem Hungertod preis. Das geschah in Konzentrationslagern wie Bergen-Belsen oder Buchenwald, in Ghettos in Polen, Weißrussland und in der Ukraine, wie auf den Transporten, in denen fast niemals alle und manchmal niemand überlebten. Deutsche verhungerten im Zweiten Weltkrieg Russen, Weißrussen und Ukrainer in den besetzten Gebieten der ehemaligen U D S S R und eben auch - vor anderen - Juden. Westlich wie östlich des Bug ging der Holocaust mit Beraubimg zusammen. Aber was sich in Deutschland mit »Arisierung« und »Reichsfluchtsteuer«, mit Sonderabgaben und Devisenbewirtschaftung sowie der Begrenzimg der ausführbaren Währung auf 10 R M über Jahre hinzog, wurde östlich des Bug in ein Jahr zusammengepresst. In den ersten Monaten wurden zum Teil riesige Kontributionen aus den Ghettos herausgezogen: In Lwow verlangte 1941 der Chef der Einsatzgruppe 20 Millionen Rubel in Gold, dann verlangte man Pelze, und im Juli 1942 nochmals 10 Millionen, diesmal in Zloty. Die Gold- und Silbergegenstände, die man in Odessa beschlagnahmte, wurden auf über 1 1 Millionen Rubel geschätzt, und eine kleine Stadt wie Slonim musste doch 974 Hans Mommsen, Auschwitz, in: Wojak(Hg.), Prozeß, S. 9 1 - 1 1 0 , Zitat S. 9 1 . 975 Peter Hellman, Lili Meier u. a., T h e Auschwitz Album, N e w York 1981. 976 Il'ja Al'tman, Opfer des Hasses. Der Holocaust in den besetzten Territorien der UDSSR 1 9 4 1 - 1 9 4 5 , dt. Gleichen 2008 = Zur Kritik der Geschichtsschreibung Bd. 11 ; vgl. Ljuba I. Abramowitsch, HansHeinrich Nolte, Die Leere in Slonim, Dortmund 2005; Patrick Desbois, Der vergessene Holocaust, Die Ermordung der ukrainischen Juden, dt. Berlin 2009.
Holocaust, Shoah
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zwei Millionen aufbringen. Jüdische Häuser und Geschäfte wurden konfisziert, die Stadtverwaltungen finanzierten sich teilweise aus den Mieten für die den Juden abgenommenen Häuser. Noch kurz vor der Ermordung wurden die Menschen ihrer persönlichen Wertsachen (Ringe etc.) sowie schließlich auch der Kleider beraubt. Nach den Massakern wurde alles unter den Mördern aufgeteilt. Der Genozid begann in der U D S S R mit Massakern: damit, dass die eigens aufgestellten Einsatzgruppen der ss, Polizeieinheiten, aber auch einige Wehrmachtseinheiten beim Vormarsch in vielen jüdischen Dörfern und Städtchen auf dem Land Kommunisten und Juden erschossen. Die Alliierten, genauer der britische Geheimdienst, war über diese Massaker von Anfang an genau informiert, weil er die Erfolgsmeldungen abhörte, welche die Polizeieinheiten nach Berlin sandten.977 Z. B. informierten die Einsatzgruppen Berlin über ein Massaker in Babyj Jar bei Kiew.978 Vor den Einsatzgruppen flohen die Land-Juden in die Städte, die sicherer schienen. Dort wurden sie zusammen mit den Stadt-Juden in Ghettos gesperrt, die von Anfang an zu wenig Lebensmittel erhielten und kontinuierlich durch Massaker terrorisiert und dezimiert wurden. In dem Städtchen Slonim zum Beispiel,979 etwa auf halbem Weg zwischen Bialystok und Minsk und bis 1939 polnisch, gab es von Juli 1941 an mehrere »Aktionen«, also Massenmorde. Am 14. September wurden z. B. etwa 10.000 Menschen ermordet. Im Dezember 1941 wurde das Ghetto mit Stacheldraht umzäunt. Schon im Herbst 1941 hatte der jüdische Widerstand Kontakt mit den Partisanen aufgenommen, ab Mai 1942 gingen Juden aber selbstständig in den Wald, mit Waffen und Munition, und gründeten eine jüdische Einheit in einer sowjetischen Partisanenbrigade. Außerdem entstanden im Wald »Familienlager« - Lager von Alten und Kindern. Auch verteidigte sich das Ghetto, als es aufgelöst wurde - wie das Warschauer und viele andere Ghettos.980 Ist der Holocaust einzigartig?981 Selbstverständlich, es gibt keine Wiederholungen in der Geschichte. Im Verhältnis zu anderen Genoziden war der Holocaust nicht nur durch die spezifischen Täter und Opfer und durch Zeit und Ort unterschieden, sondern auch durch die große Zahl der Opfer und die industriellen Mordmethoden in einem Teil des Verbrechens, weiter durch die zentrale Organisation und Institutionen 977 Nachweis in: Hans-Heinrich Nolte, Partisanenkrieg ohne Partisanen? Ein Konstrukt, in: Nolte, Auseinandersetzungen, S. 171-176. 978 Peter Longerich (Hg.), Die Ermordung der europäischen Juden (Dokumentation) München 1989, Nr. 33. 979 Abramowitsch, Die Leere in Slonim, a. a. O. 980 Z u m jüdischen Widerstand vgl. Shalom Cholawsky, T h e Jews of Bielorussia during W o r l d W a r II, Amsterdam 1998. 981 Alan S. Rosenbaum, Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder/Col. 1996.
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Exklusionen und Genozide
des Staats als amtliche Organisatoren gekennzeichnet. Das alles zusammen gibt es bei keinem der anderen Fälle. Wenn »Einzigartigkeit des Holocaust« jedoch eigentlich aussagen soll, dass es überhaupt nichts Vergleichbares gebe, ist die Aussage nicht richtig. Die Genozide an Indianern in Kalifornien, an Armeniern im Osmanischen Reich, an Tutsis in Ruanda sind ähnliche Massenmorde an ethnisch fremden Menschen, wie im Kontext des Zweiten Weltkriegs ζ. B. der Massenmord an den Roma und Sinti. Auch in der deutschen Partisanenbekämpfung wurden genozidale Verfahren angewandt.982 Die Massenmorde im Stalinismus haben - obgleich ihre Hauptstoßrichtung nicht ethnisch, sondern politisch-sozial bestimmt war, s. o. - ähnliche Größenordnungen erreicht und werden in Ostmitteleuropa als »Holocaust« bzw. in der Ukraine in Anspielung auf diesen Begriff »Holodomor« bezeichnet.983 Außerdem wurde der Holocaust zum Grund dafür, dass Genozid zu einer internationalen Straftat wurde (vgl. Kapitel 24). Die Souveränität der Nationen wurde durch die Genozidkonvention empfindlich eingeschränkt. Das ist einer der Gründe, aus denen der Holocaust von der internationalen Rechten immer wieder bestritten wird. Weiter wurde der Holocaust als Begründung für den neuen Staat Israel herangezogen, sodass Palästinenser und ihre Verbündeten ihn gern für nicht real halten würden. Wer die deutschen Akten und die englischen Funkmitschnitte liest, die Orte des Verbrechens besucht und mit Überlebenden redet, kann aber keinen Zweifel an der Realität dieses Massenverbrechens haben.984 Auch an der besonderen deutschen historischen Verantwortung besteht kein Zweifel, selbst wenn es in manchen Ländern durchaus einheimische Antisemiten gab, die sich an dem Mord beteiligten.985 An der historischen Verantwortung ändert es auch nichts, dass wirklich nicht alle Deutschen davon wussten - offiziell blieb das Verbrechen geheim - und erst recht nicht alle daran beteiligt waren. Es gab auch deutsche »Retter« - aber durchaus in begrenzter Zahl.986 Es war eine deutsche Regierung, wel982 U. M. Mikhnjuk, Njamecka-fashysclri genacid na Belarusi, Minsk 1995 ; vgl. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front, Düsseldorf 1998; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, bes. S. 859-1054. 983 Hans-Heinrich Nolte, Pavel Poljan, Massenverbrechen in der Sowjetunion und im national-sozialistischen Deutschland. Zum Vergleich der Diktaturen, in: ZWG 2,1. (2001), S. 1 2 5 - 1 4 8 ; Hans-Heinrich Nolte, Töten in Belorussland 1936-1944, in: Peter Gleichmann, Thomas Kühne (Hg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert = Beiträge zur Historischen Friedensforschung 2, Essen 2004, S.
143-157.
984 Vgl. Deborah Lipstadt, Denying the Holocaust, London 1993 ; Kokh/Poljan. 985 Keineswegs in allen; siehe den Vergleich zwischen Dänemark und Litauen bei Wolfram Wette, Juden, Holocaust und Widerstand im Ostseeraum, in: Komlosy, Ostsee, S. 237-252. 986 Frank Bajohr, Dieter Pohl, Massenmord und schlechtes Gewissen, Frankfurt 2006, zur Frage der Kenntnisse und Verantwortlichkeiten; zu den »Rettern« S. A. Madievskij, Drugie nemcy, Moskva
Weitere Genozide
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che das Verbrechen leitete, und es waren Deutsche, welche es verübten. Der Holocaust ist unauslöschbar Teil der deutschen Geschichte.
Weitere Genozide
Rudolph Rummel rechnet Polen zu den »Megamurderes«, weil es bei der Vertreibung der deutschen Bevölkerung der Ostgebiete weit über eine Million Opfer gegeben hat, übrigens auch an den wenigen überlebenden Juden.987 Hier ist jedoch eine genauere Aufschlüsselung der Todesfälle notwendig. Jedenfalls hat die Erschütterung der Weltöffentlichkeit durch den Holocaust auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verhindern können, dass weitere geplante Genozide begangen wurden.988 Die Weltöffentlichkeit hat am meisten von denen Kenntnis genommen, die beim Ende Jugoslawiens989 verübt wurden. Als Regel für die Aufteilung des 1918 geschaffenen Landes galt, dass die Teilrepubliken souverän werden konnten, wenn sie das wünschten, und 1991/92 stimmten Muslime und Kroaten für die Selbstständigkeit Bosniens, während die Serben für den Verbleib in Jugoslawien eintraten. Zugleich begannen sie mit dem Aufbau eigener Staatsstrukturen einschließlich einer eigenen Armee. In dem folgenden Krieg versuchten die Serben, einen zusammenhängenden Streifen Landes bis zur Krajina, einen mehrheitlich von Serben besiedelten Teil des neuen Staates Kroatien zu schaffen. Schon 1992 wurde klar, dass Vertreibungen nicht eine Folge, sondern das Ziel der Kriegshandlungen waren, da alle Beteiligten für ein zukünftiges Referendum homogene Territorien schaffen wollten. Bis Sommer 1993 waren über vier Millionen Men-
2006;
z.T. deutsch Ders., Andere Deutsche. Der Rettungswiderstand im Dritten Reich, in:
(2006), S.
ZWG 7.2
109-120.
987 Rummel, Statistics, S. 1 3 3 - 1 3 9 mit den Tabellen. Vgl. Naimark Fires, S. I24f.; zu den von Polen ermordeten überlebenden Juden die Erinnerungen von Ignatz Bubis, Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Köln 1 9 9 3 , S. 3 9 - 4 8 , 6 5 - 6 8 . Judt, Postwar, gibt S. 4 3 an, dass bis April 1 9 4 6 1 . 2 0 0 Juden in Polen ermordet wurden, weil man sie der Sympathie mit der UDSSR verdächtigte. 988 Rummel, Statistics, widmet zehn »Magamurderers« eigene Abschnitte, also zusätzlich zu den erwähnten noch sechs: Vietnam, Khmer Rouge, Japan im Zweiten Weltkrieg, Pakistan, Nordkorea, Mexiko in der Revolutionszeit und Russland. 989 Einführend Peter Bartl, Grundzüge der jugoslawischen Geschichte, Darmstadt 1985; Holm Sundhaussen, Experiment Jugoslawien, Mannheim usw. 1993. Grundlegend hier Marie-Janine Calie, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt 1995. Betonung der Rolle Deutschlands bei der Teilung Peter Hubert, Minenfeld Balkan, in: Andrea Komlosy, Hannes Hofbauer, Jürgen Elsässer (Hg.), Krisenherd Europa, Göttingen 1994, S. 85-110; Nikolaus Jarek Korczynski, Deutschland und die Auflösung Jugoslawiens = Studien zur internationalen Politik 1, Hamburg 2 0 0 5 .
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Exklusionen und Genozide
sehen auf der Flucht - Kroaten von der Save, Serben aus der Krajina, vor allem aber Muslime aus von Serben gehaltenen Gebieten. Die UN setzten Friedenstruppen ein, die aber kein militärisches Mandat hatten. Als die strategische Position der Serben sich 1995 durch gemeinsame Aktionen von Kroaten und Muslimen verschlechterte, stürmte die bosnisch-serbische Armee die ostbosnischen Muslimenklaven Srebrenica und Zepa, die von den UN ZU sicheren Zonen erklärt worden waren, aber nicht verteidigt wurden. Etwa 7.000 muslimische Männer wurden ermordet. Auch wenn es eine ethnobiologische Interpretation dieses Genozids gibt, wird man den Kern religionsgeschichtlich zu interpretieren haben : Orthodoxe gegen Muslime, und das im Kontext einer sehr kleinräumigen ethnoreligiösen Nationalstaatsgründung.990 Die bosnisch-serbische Armee hatte in Srebrenica die UN vorgeführt. Serbien, das diese Armee kontinuierlich unterstützt hatte, durfte sich nicht wundern, wenn es parteilich beurteilt wurde. Jedenfalls intervenierte der Westen im Unabhängigkeitskrieg der albanischen Untergrundbewegung uçk in der serbischen autonomen Provinz Kosovo. Selbst ein deutscher Minister verkündete wilde Gerüchte über xoo.ooo von Serben ermordete Kosovaren und einen »Hufeisenplan« zur Vertreibung der muslimischen Bevölkerimg. Die N A T O bombardierte Serbien und besetzte den Kosovo, wobei sich zeigte, dass es 3.000 tatsächliche Opfer gab, die aber auch aus den Kämpfen zwischen UÇK und serbischer Armee stammen konnten. War nur die Ermordung von Albanern in Racak Genozid, nicht aber die von Serben in Gracko ? Jedenfalls hatte die N A T O den Kosovo besetzt, aus dem nun viele Serben, Roma und Juden vertrieben wurden und der 2008 seine Unabhängigkeit erklärte.991 April/Mai 1994 wurde in Ruanda mehr als eine halbe Million Menschen ermordet, die meisten von ihnen gehörten der Minderheit der Tutsi an. »Der Völkermord war das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, getroffen von einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Hass und Angst den Machterhalt zu sichern suchte.«992 Der jüngste Genozid ist der im Darfur, wo arabische Reitermilizen seit 1993 die eingesessene afrikanische Bevölkerung vertreiben, um deren Land in Besitz zu nehmen. Sie werden von der Regierung des Sudan gedeckt, da diese dann leichter an Ölvorkommen in der Region zu gelangen hofft. Nach einigen Angaben zwei, nach anderen bis zu 4,5 Millionen Menschen wurden vertrieben und leben in Lagern im 990 Vgl. Holm Sundhaussen, Staatsbildung und ethnisch-nationale Gegensätze in Südosteuropa, in: APuZ, 3. 3. 2003, S. 3-9. 991 Bundesministerium für Verteidigung (Hg.), Der Kosovo-Konflikt, Stand 11. 6. 1999, hier S. 1 4 ; HAZ, 20. 7. 1999; APuZ, 20. 8. 1999; Guardian Weekly 24. 8. 2000, S. 4; vgl. August Pradetto, ΝΑτο-Intervention im Kosovo? In: Internationale Politik 9.98; kritisch Hannes Hofbauer, Kosovo, Wien 2009. 992 Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda (1999), deutsch H a m b u r g 2002, Zitat S. 16.
Weitere G e n o z i d e
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Lande selbst, etwa 200.000 flohen über die Grenze, genau so viele wurden ermordet andere sprechen von 400.000 Ermordeten. Die USA haben beantragt, den Völkermord juristisch auf Weltebene zu verfolgen, werden aber durch das Veto Chinas gehindert, das im Sudan Ölquellen erschlossen hat.993 Allerdings bleibt die Frage, ob es sich hier um einen Genozid im Sinne der Konvention handelt (vgl. Kapitel 24) oder um eine organisierte Vertreibung. Ist es also das Ziel der Regierung in Khartoum, die Afrikaner zu vertreiben, um das Land selbst in Besitz zu nehmen ? Ist es ihr Ziel, einen Sperrgürtel loyaler Bürger gegen den afrikanischen Südsudan einzurichten, in dem sie den Kampf um die Vorherrschaft verloren haben? Oder ist es ihr Ziel, im Darfur die Afrikaner umzubringen ?994 Die bloße Frage macht deutlich, dass die Rechtslage, welche 1947 geschaffen und in den folgenden Jahren bestätigt worden ist, an den Kompromissen krankt, welche damals eingegangen wurden: Die Sowjets wollten nicht wegen Massenmorden an der eigenen Bevölkerung und die Angelsachsen nicht wegen Zwangsumsiedlungen vor Gericht gezogen werden. Da die technischen Möglichkeiten von Kommunikationen und Tötungen gestiegen sind, ohne dass die Moral gestärkt wurde, nahmen Genozide im 20. Jahrhundert zu. Bisher hat die Konvention von 1947 daran noch wenig geändert.
993 FR, 25. χι. 2008, S. 25f., Atlas der Globalisierung, S. I48F.; Das Parlament, 22. 9. 2008, S. 3.
994 Vgl. Gérard Prunier, Darfur. Der >uneindeutige< Genozid, deutsch Hamburg 2006.
19. Migrationen und Vertreibungen
Überblick
Migrationsgeschichte ist ein relativ neues Feld der Geschichtsschreibung, aber doch durch Patrick Mannings Ubersichtswerk schon gut erschlossen.995 Für den europäischen Kontinent liegt außerdem ein sehr umfangreiches Lexikon mit einer Vielfalt von Stichworten vor, das die grundlegenden Arbeiten von Klaus Bade krönt. Speziell zu deutschen Migrationen liegt ein Sammelband vor, außerdem gibt es viele Einzelstudien. Migration kennzeichnet den Anfang der menschlichen Geschichte und war und ist schon früh global.996 Die klassische »Völkerwanderung« jagender oder Vieh züchtender Nomaden in Gebiete sesshafter Bevölkerung wurde meist im 19. Jahrhundert beendet (wi, S. 4of., 13çf.) - übrigens oft durch Zwang vonseiten der sesshaften Gesellschaften. So erging es den Indianern in den USA im 19. Jahrhundert und den Kasachen in der Zwangskollektivierung in der U D S S R 1928. Die Migrationen von Bauern und Viehzüchtern waren historisch nur eine Form der Migration neben der von Kaufleuten, Missionaren, Kriegern und Handwerkern sowie schon im 16. Jahrhundert auch von Saisonarbeitern.997 Vom 17. Jahrhundert an wurde Migration beschleunigt. Die Zwangsmigrationen von Sklaven und von umgesetzten hörigen Bauern dauerten bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, daneben traten immer mehr Migrationen, die freiwilligen Charakter hatten (auch wenn manchmal die Not Zwang ausübte). Am Ende des 19. Jahrhunderts, spätestens 1940, waren die Möglichkeiten, auf Kosten nomadischer Gesellschaften zu expandieren, erschöpft - russische Sied-
995 Manning, Migration; vgl. Dirk Hoerder, http://geschichte-transnational.clio-online.net/rezensionen/ type=rezbuecher&id=9ii5, Zugriff 27. 5. 2008. 996 Enzyklopädie: Bade, Migration; vgl. Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung (Aufsatzsammlung) (Hg.), Michael Bommes, Jochen Oltmer, Göttingen 2004; Nolte, Deutsche Migrationen; Liebig, Migration ; Parnreiter/Husa. 997 Chanda, Bound Together reiht »Traders, Preachers, Adventurers and Warriors« und bietet S. 3 2 2 330 eine eindrucksvolle synchronistische Tabelle solcher Wanderungen von ca. 50.000 vor u. Z.: »Ancestors walk out of Africa« bis 2007 nach: »international travel arrivals reach 806 million«. Vgl. Herman Diedriks und Franz Bölsker-Schlicht zu deutscher Saisonarbeit und Migration in die Niederlande in: Nolte, Deutsche Migrationen, S. 41-66.
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Migrationen und Vertreibungen
hingen in Sibirien und chinesische in der Mandschurei bildeten die letzten Fälle. Wer jetzt noch bäuerliche Expansion suchte, musste das auf Kosten anderer Bauern tun. Arbeiter zogen im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert über immer größere Strecken und ließen Industriestädte entstehen wie Birmingham, Lüttich und Gelsenkirchen, Chicago und New York. In China bildeten die Vertragshäfen die wichtigsten Anziehungspunkte für die Migranten; Schanghai wuchs von 250.000 in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1920 auf 2,5 Millionen.998 Manning schätzt, dass zwischen 1700 und 1940 über 150 Millionen Menschen migrierten.999 Fernwanderungen in Millionen Menschen, 1 7 0 0 - 1 9 4 0
Herkunftsgebiete Europa 56 China 51 Indien 30 Afrika 17
Zielgebiete Nordamerika
Südamerika
37
10
M 7
Westasien
Nordasien
Mandschurei
Südostasien
Sonstige
7
1
2 30
19 29
4
5
1 1
Nach den Flüchtlingsströmen der Nachkriegszeit (s. u.) bestimmen seit den 50erJahren Arbeitsmigrationen alle Länder des Zentrums außer Japan und zunehmend auch alle halbperipheren und peripheren Länder; nach dem Zusammenbruch des Monopolsozialismus auch die Osteuropas und Kontinentalasiens. Entscheidend für die politische Seite ist, wer diese Migration an- und abstellen kann ; die Industrieländer möchten sie entsprechend dem Arbeitskräftebedarf sowohl quantitativ wie qualitativ kontrollieren, die Menschen der peripheren Länder kommen, um Hunger oder Unruhen zu entkommen. In diesem Sinn ist nun die gesamte Welt zum »labour supplysystem« der Industrieländer geworden.1000
Fachleute
Alle Imperien haben Fachleute in die Peripherien entsandt - römische Beamte nach Syrien oder Köln, chinesische nach Tibet. 1001 Umgekehrt haben Könige und Kaiser Fach998 Klein, China, S. 255. 999 Manning, Migration, S. i32Íf., 146. 1000 Christof Parnreiter, Migration in: Kraler/Husa, S. 54-70; v gl· Christof Parnreiter, Migration und Arbeitsteilung. Ausländerinnenbeschäftigung in der Weltwirtschaftskrise, Wien 1994. 1001 Vgl. Auszüge aus dem Bericht des chinesischen Statthalters 1798 in: Nolte, Imperien, S. 11 if.
Abenteurer und Touristen
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leute aus manchmal fernen Ländern eingeladen, wie etwa Zar Peter I. oder der Meiji-Kaiser. In Europa waren die Wanderungen von Fachleuten, im Mittelalter aus dem Süden in den Norden und in der Neuzeit aus dem Westen in den Osten vielfältig - Missionare und Architekten, Offiziere und Ingenieure. Die Wanderungen der Fachleute von Westen nach Osten im 19. Jahrhundert werden vielleicht an Jusovka, dem heutigen Doneck besonders deudich, wo die britischen Ingenieure in einer eigenen kleinen Stadt lebten. Für England, Frankreich und Portugal waren die kolonialen Dienste klassische Institutionen, welche Fachleute ins Ausland vermittelten; entsprechend wanderten russische Kolonialbeamte nach Taschkent (der Hauptstadt der Provinz Turkestan) oder nach Tiflis. Übrigens war der Anteil der Rückwanderer unter den Fachleuten meist besonders hoch. Auch Priester und Missionare gehören in diese Rubrik. Im 17. Jahrhundert besuchten lamaistische Missionare Russland; die Gesamtgeschichte dieser Mission ist noch weithin unerforscht. Welches war die Gesamtzahl der christlichen Missionare etwa nur des 19. Jahrhunderts? Nayan Chanda führt seine Reihe über die »Preacher« in der Weltgeschichte mit den Aktivisten für Human Rights oder Umweltfragen fort; etwa: 1961 - Peter Benenson gründet Amnesty International.1002 Hierhin gehören die Geschichten von Mitgliedern solcher Institutionen wie des WWF - World Wildlife Fund oder der Terre des Hommes. Wohl noch häufiger als die Wanderungen von Fachleuten für Technik und Geschäft oder den Umgang mit der Transzendenz sind die von Fachleuten für Krieg. Das gilt für die Mitglieder der Armeen : Napoleon brachte seine Leute bis Ägypten und Moskau, Hitler immerhin bis El Alamein und Stalingrad. Die amerikanische Marine wirbt mit dem Spruch »Join the Navy, see the World«, und es gibt wirklich keinen Winkel der sieben Meere, an dem die Navy nicht ggfs. auftaucht. Hinzu kommen die Söldner und Condottieri. Polen und Russland nahmen im 16. Jahrhundert Tataren als Fachleute für Kriegführung auf, Frankreich gründete die Fremdenlegion, und, um den Eintrag von Nayan Chanda für »2000-2007« zu zitieren: »Pentagon recruits 35.000 foreigners to serve in Iraq«.1003 Die Firma Blackwater wurde dann weltbekannt.
Abenteurer und Touristen
Nayan Chanda führt die Abenteurer in einer eigenen Kategorie, von den afrikanischen Expeditionen der Königin Hatschepsut über den Marokkaner Ibn Battuta, der 1002 Chanda, Bound Together S. 329; Benenson ist noch nicht aufgenommen, in: Lang, Lexikon, vgl. Wikipedia, www.wikipedia.de, Zugriff 12. 9. 2008. 1003 Chanda, Bound Together S. 330.
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Migrationen und Vertreibungen
bis China kam, und die ersten asiatischen Migrationen von den Philippinen nach Mexiko im 18. Jahrhundert bis zum modernen Massenverkehr: 1950 sind 25 Millionen touristische Reisen belegt, 1990 441 Millionen und 2007 806 Millionen. 1004 Ob man mittelalterliche, frühneuzeitliche oder gegenwärtige Wallfahrten als Tourismus einordnen will, mag wegen der religiösen Kontexte dahingestellt bleiben ; Wallfahrten sind jedenfalls in vielen Religionen üblich oder sogar gefordert, nach Mekka oder Tenochtitlán, Rom oder Santiago de Compostela. Im Westen nehmen englische säkulare Touristen, die neugierig auf jeden Harem sind, oder lernwillige bzw. vergnügungssüchtige Fürsten, die von Moskau nach London oder Hannover nach Venedig reisten, ab dem 17. Jahrhundert zu. Im 18. Jahrhundert gibt es dann schon alles, von der historisierenden Rheinreise bis zum Südseemythos und der Besteigung des Gotthard. Im 19. muss es das Matterhorn sein und im 20. der Mount Everest - der Alpenverein wird eine Trekking- und Wirtschaftsorganisation. In Thailand kamen 2004 11,65 Millionen Touristen ins Land, die meisten aus Japan und Malaysia, und 1999 brachte der Tourismus dort 13,2 % des BSP ein.1005 Tourismusdaten aus neun Ländern, um 20001006
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